Auf der Suche nach der verlorenen Nation: Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan, 1945-1960 9783666357985, 9783647357980, 3525357982, 9783525357989

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Auf der Suche nach der verlorenen Nation: Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan, 1945-1960
 9783666357985, 9783647357980, 3525357982, 9783525357989

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler

Band 134 Sebastian C onrad Auf der Suche nach der verlorenen Nation

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

Auf der Suche nach der verlorenen Nation Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan, 1945-1960

von

Sebastian C onrad

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

Umschlagbild:

99. 47642

vergnügungen im Haus des Opperhoofd auf Dejima Japan, nach 1828 Collection N e t h e r l a n d s M a r i t i m e M u s e u m Amsterdam. Signatur A. 2762 (5)

Für Antje

Die Deutsche Bibliothek - C IP-Einheitsaufnahme Conrad, Sebastian: Auf der Suche nach der verlorenen Nation : Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan, 1945 - 1960/von Sebastian C onrad. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 134) Zugl.: Dissertation Freie Universität Berlin, Fachbereich Geschichtswissenschaften, 1999. ISBN 3-525-35798-2 Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Gerda Henkel Stiftung, der Fazit-Stiftung, der Axel Springer Stiftung und dem Förderverein japanisch-deutscher Kulturbeziehungen JaDe.

© 1999, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.

Bayerische Staatsbibliothek © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Munctien ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

Inhalt

Vorwort

9

Einleitung

I.

II.

11

1. Nation, Vergangenheit und Historiographie

11

2. Aspekte eines transnationalen Vergleichs

22

3. Der Diskurs der Geschichte

27

Positionsbestimmung. Moderne Geschichtsschreibung in Deutschland und Japan - ein vergleichender Überblick

35

1. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Die Geschichtswissenschaft der fünfziger Jahre

35

2. Die deutsche Geschichtsschreibung

37

3. Die japanische Geschichtsschreibung

45

4. Schluß

56

Der Ursprung der Nation. Bismarck, Meiji Ishin und das Subjekt der Geschichte

59

1. Die Bismarck-Kontroverse als Suche nach dem Ort der Nation a) Kontinuitätsfrage b) Das national-konservative Geschichtsbild c) Das ›katholische‹ Geschichtsbild d) Das Ausnahmejahrhundert e) Gerhard Ritter Revisited f) Die Einheit des Diskurses g) Kontinuitäten

62 63 64 67 75 80 81 85

2. Die Debatte über die Meiji-Restauration a) Institutionelle Entwicklungen b) Die marxistischen Deutungen der Meiji-Restauration c) Die Meiji-Restauration als nationale Revolution

88 88 96 114 5

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3. Schluß a) Kontinuitätsthese b) Der Ort der Nation

III. Die Nation als Opfer. Historiographie des Nationalsozialismus und des japanischen Faschismus 1. Die »klare Fernsicht«: Die Historiker als Subjekt der Geschichtsschreibung a) Distanzierung b) Entnazifizierung und >Säuberungen‹ c) Die ›Große Täuschung‹ d) Die Aufgaben des Historikers e) Objektivität 2. Der Nationalsozialismus und der japanische Faschismus als Gegenstand der Forschung a) Die Katastrophe b) Das Kulturparadigma c) Opfer und Widerstand d) Der Zweite Weltkrieg in der deutschen Geschichtsschreibung e) »Ein wertvolles nationales Erbe«: Der Zweite Weltkrieg in der japanischen Geschichtsschreibung

125 125 126

133 136 137 141 146 149 153 159 161 165 177 186 192

Exkurs Die Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft: Schulbücher

205

3. Schluß

213

IV Die ›Erfindung‹ der Zeitgeschichte 1. Die a) b) c)

deutsche Zeitgeschichte Zeitgeschichte als Periode Die Institutionalisierung der Zeitgeschichte »Miterleben und Miterleiden«: Zeitgeschichte als Methode d) Zeitgeschichte als Thema e) Die strukturgeschichtliche Erweiterung der Zeitgeschichte

Exkurs: Der Strukturbegriff der Strukturgeschichte 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

219 220 220 229 239 246 255 268

V

2. Die japanische Zeitgeschichte a) Die ›Erfindung› der Zeitgeschichte b) Die Kontroverse um das Buch ›Shôwashi› (Shôwashi ronsô) 3. Schluß a) Debatten über ›Struktur› b) Zeitgeschichte

282 282 286 298 298 301

Die ›Temporalisierung des Raumes›. Deutschland und Japan zwischen West und Ost

305

1. Westen a) Der Westen› in der japanischen Geschichtsschreibung b) Die japanische Begegnung mit dem ›Westen› c) Amerikanische Besatzung und die westdeutsche Geschichtswissenschaft d) Die Westintegration der deutschen Geschichtsschreibung .. e) Japan als Teil des Westens

310 310 323

2. Osten a) Japans Orient b) Deutschlands europäische Aufgabe im Osten 3. Schluß

366 366 382 398

VI. Zusammenfassung 1. Die Vergangenheit ›bewältigen› 2. Jenseits des Primats der Methodologie 3. Auf der Suche nach der verlorenen Nation

335 349 362

403 404 407 409

Abkürzungen

415

Literaturverzeichnis

417

Register

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Vorwort

Dies ist die überarbeitete Fassung einer Arbeit, die 1999 unter gleichem Titel am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen wurde. Ich danke in erster Linie und ganz besonders den Betreuern und Gutachtern meiner Arbeit, Prof. Dr. Jürgen Kocka, Prof. Dr. Irmela Hijiya-Kirschnereit und Prof. Dr. Etienne François, die in den unter­ schiedlichen Phasen das Projekt unterstützt und gefördert haben. Die ausge­ wogene und anregende Mischung aus Zuspruch und Kritik, aber nicht zuletzt auch das zugrundeliegende Vertrauen haben mir dabei sehr geholfen. Ich danke den Herausgebern der »Kritischen Studien« für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe. Die Publikation ist von der Gerda Henkel Stiftung (Düs­ seldorf), der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissen­ schaften (Ingelheim), dem Förderverein japanisch-deutscher Kulturbeziehun­ gen JaDe (Köln), der Fazit-Stiftung (Frankfurt) und der Axel Springer Stiftung (Berlin) in großzügiger Weise gefördert worden. Bei dieser Arbeit habe ich sehr von der stimulierenden Atmosphäre zweier ganz unterschiedlicher intellektueller Lebenswelten profitiert. Auch hier böte sich, bei Gelegenheit, einmal eine vergleichende Studie an. In Berlin hatte ich das Glück, zunächst an der Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsge­ schichte und dann am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas eine Art wissenschaftlicher Heimat zu finden. Die Gespräche und Kolloquien dort ha­ ben zur Konturierung meines Ansatzes erheblich beigetragen. Ich bin den Mit­ arbeitern und Teilnehmern für ihre Hinweise und Anregungen dankbar; insbe­ sondere Jakob Vogel hat in der Schlußphase der Disssertation eingegriffen, wo es nötig schien. Fünf Semester lang war ich zudem Mitglied des interdisziplinä­ ren Graduiertenkollegs »Gesellschaftsvergleich«; hier haben mir vor allem Ga­ briele Lingelbach und Sven Reichardt mit ihren Kommentaren sehr geholfen. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit Jörg Döring und Andrew Johnston hat über disziplinäre Grenzen hinweg diese Arbeit in ihren verschiedenen Stadien nachhaltig beeinflußt. Schließlich möchte ich mich bei meinen Eltern herzlich bedanken, die das Unterfangen seit den ersten Vorüberlegungen konstruktiv begleitet haben und auch zu den ersten wohlwollend-kritischen Lesern des Manuskriptes gehörten. Der einjährige Aufenthalt an der Universität Tokyo wurde durch ein Stipen­ dium der Japan Foundation möglich gemacht. Am dortigen Institut für Sozial­ wissenschaften (Shaken), dessen gastfreundliche Atmosphäre ich ein Jahr lang 9

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kennenlernen durfte, danke ich vor allem Prof. Dr. Bannô Junji sowie den Mitgliedern der PhD-Kenkyükai. Außerdem habe ich in Gesprächen mit Prof Dr. Kimura Seiji (Tokyo), Prof. Dr. Amino Yoshihiko (Kanagawa), Prof. Dr. Hayashima Akira (Osaka), Prof. Dr. Okamoto Kôichi (Tokyo) und Prof. Dr. Matsumoto Akira (Niigata) vielfache Anregung erfahren. Eine wichtige Station war auch der regelmäßige Kolloquiumsmarathon der Diskussionsgruppe W I N C um Prof Dr. Yamanouchi Yasushi, Prof. Dr. Narita Ryüichi und Prof. Dr. Iwasaki Minoru. Daß der Forschungsaufenthalt in Tokyo nicht nur ein kulturelles, sondern auch ein intellektuelles Abenteuer wurde, verdanke ich insbesondere Narita Ryüichi. Ohne ihn wäre die Arbeit nicht in dieser Form entstanden. Entscheidenden Anteil an der Genese dieser Arbeit haben auch Prof. Dr. Carol Gluck und Christopher L. Hill von der Columbia-Universität in New York. Auch wenn ihre Interventionen nicht in jeder Fußnote dokumentiert sind, haben sie mein Verständnis von Japan und von Geschichte doch in maß­ geblicher Weise beeinflußt. Potsdam, im August 1999

Sebastian C onrad

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Einleitung

1. Nation, Vergangenheit u n d Historiographie »Es kann kein Zweifel daran bestehen«, so versicherte der Göttinger Historiker Hermann Heimpel 1959, »daß die Zeit einer ausschließlich nationalstaatlichen Geschichtsbetrachtung vorbei ist. Die Geschichtswissenschaft muß den Sprung in die planetarische Zukunft wagen, auch in der Erfassung der Vergan­ genheit.« 1 Die Epoche, in der Nation und Nationalstaat geradezu selbstver­ ständlich das privilegierte Thema historischer Untersuchungen waren, schien endgültig vorüber. In dieser Einschätzung wußte sich Heimpel mit der Mehr­ heit seiner Fachkollegen einig. Das Ende des Dritten Reiches, die militärische Niederlage und schließlich die deutsche Teilung hatten, so schien es, den Ver­ weis auf die ›Nation‹ als Kategorie historischer Analyse obsolet gemacht. Eine nationalstaatliche Perspektive in der Geschichtsschreibung war, so lautete der Konsens der Zunft, spätestens »seit der Explosion der ersten Atombombe ... gegenstandslos geworden«. 2 In der westdeutschen Geschichtswissenschaft hat­ te nach 1945 die Einordnung der deutschen Vergangenheit in den größeren Zusammenhang der abendländischen oder europäischen Geschichte unbe­ streitbar Konjunktur. Und auch in der japanischen Geschichtsschreibung schien nach dem Zweiten Weltkrieg die Nation allmählich aus dem Blick zu geraten. Nach der Kapitulation im August 1945 hatte die Bezugnahme auf die Nation in Japan »ihre Jungfräulichkeit verloren«, 3 wie etwa Maruyama Masao beobachtete. 4 Dies galt sowohl für die öffentlich geführten Debatten als auch für den akademischen Diskurs. In den Nachkriegsjahren wurde, wie Takeuchi Yoshimi 1951 beschrieb, »das Problem der Nation (minzoku)... als Gegenstand der Wissenschaft bewußt vermieden.... Schon die Existenz der Nation als sol­ che galt als vom Schicksal auferlegtes Übel«. Als Reaktion auf den aggressiven

1 Heimpel, Über Geschichte und Geschichtswissenschaft, S. 22. 2 C onze, Die deutsche Nation, S. 156. 3 Maruyama Masao, Nashonarizumu, S. 59. Die Zitate von japanischen Historikern werden im folgenden immer ins Deutsche übersetzt (auch dann, wenn der Text in einer westlichen Sprache veröffentlicht wurde). 4 Japanische Namen werden im folgenden nach der in Japan üblichen Konvention wiedergege­ ben, nach der der Familienname vorangestellt wird. Die Umschrift von Namen und Begriffen aus dem Japanischen erfolgt nach dem Hepburn-System.

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Nationalismus der Kriegszeit war nun die Neigung vorherrschend, »von der Kategorie der Nation gänzlich zu abstrahieren«.5 Diese programmatische Distanzierung von einer nationalen Orientierung war ein gemeinsames Kennzeichen der japanischen und westdeutschen Ge­ schichtsschreibung in der Zeit zwischen 1945 und 1960. Nach der militäri­ schen Niederlage und der Überwindung der Diktatur war in beiden Ländern die Tendenz groß, »die Nation zu marginalisieren beziehungsweise regelrecht aus dem Diskurs auszuschließen«. 6 Japan und Westdeutschland sahen sich einer alliierten Besatzung ausgesetzt, die das vorläufige Ende nationaler Souveränität auf sehr plastische Weise demonstrierte. Die Parolen eines engen Nationalis­ mus, der Deutschland und Japan in den Krieg und die Niederlage gestürzt hatte, schienen daher zugunsten der Eingliederung in die erdumspannenden Lager des Kalten Krieges überwunden. Aber ungeachtet dieser dezidierten Abwendung von nationalen Perspekti­ ven, und das ist zunächst ein paradoxer Befund, blieb eine intensive Beschäft­ igung mit der Nation das Kennzeichen der Geschichtsschreibung. In der west­ deutschen und japanischen Nachkriegszeit fungierte die Nation auch weiter­ hin als geheimes Zentrum der Historiographie. Als Ergebnis der spezifischen Situation nach 1945 (Niederlage und Besatzung) blieb diese Renaissance natio­ naler Topoi häufig unter der Oberfläche des Diskurses. Aber entgegen der pro­ klamierten Absage an nationale Modelle und des Rückgriffs auf europäische, abendländische oder globale Kategorien blieb die Geschichtsschreibung der Logik des nationalen Bezugsrahmens verpflichtet. Diese anhaltende Priorität der Nation äußerte sich dabei auf zwei Ebenen: zum einen war die Nation nach wie vor der privilegierte Gegenstand der Geschichtsschreibung. Für die Mehr­ zahl der Fachvertreter schien weder eine lokalgeschichtliche Parzellierung noch andererseits die Integration in überregionale Zusammenhänge, sondern nur die nationale Perspektive in der Lage zu sein, historischen Sinn zu garantie­ ren: »Kein Stand in Deutschland ... kann stärker an der Einheit Deutschlands interessiert sein als gerade unsere Zunft; denn die deutsche Geschichte kann nur als ein Ganzes verstanden und geschrieben werden.« 7 Zum anderen wurde die Nation nach wie vor als Subjekt der Geschichte, als Motor des Geschehens betrachtet. Ungeachtet des explanatorischen Rückgriffs auf Ideen und Zeit­ geist, auf Motive ›großer‹ Persönlichkeiten oder Klassengegensätze galt die Nation in letzter Instanz als Trägerin historischer Entwicklung. Eine Beschäftigung mit der westdeutschen und japanischen Geschichtsschrei­ bung in der Zeit zwischen 1945 und 1960 gestattet Zugriff auf drei Themen5 Takeuchi, Kindaishugi, S. 261-263. 6 Takeuchi, Kindaishugi, S. 265. 7 Gerhard Ritter, Die deutschen Historikertage, S. 518.

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komplexe, die sich an dieser Stelle überlagern. Die Interpretationen der Vergan­ genheit leisteten einen Beitrag zur Konstitution eines nationalen Selbstver­ ständnisses, aber auch zur ›Vergangenheitsbewältigung‹ nach dem Krieg sowie schließlich in einem engeren Sinne zur Entwicklung der deutschen und japani­ schen Historiographie. Eine Untersuchung der Schnittstellen dieser drei Pro­ blemfelder ermöglicht Einblicke in die Dynamik übergreifender Prozesse wie die Formation kollektiver Geschichtsbilder, aber auch spezifische Erkenntnisse über den politischen und kulturellen Charakter der westdeutschen und japani­ schen Nachkriegsgesellschaft. Denn erstens war die Historiographie und ihre Interpretation der Geschichte ein wesentliches Element der Konstruktion nationaler Identitäten. Im Nationsbildungsprozeß, aber auch in der weiteren Entwicklung national verfaßter Ge­ meinschaften spielten affektive Bindungen und das Nationalgefühl eine ent­ scheidende Rolle. Nachdem die Forschung sich lange Zeit auf die politischen und institutionellen Aspekte der Nationsbildung konzentriert hatte, ist in den letzten Jahren diese kulturgeschichtliche Dimension zunehmend in den Blick geraten. 8 Besondere Aufmerksamkeit hat die Forschung dabei der Frage der kulturellen Erinnerung gewidmet, also der Tradierung geteilter Auffassungen und Mythen von der Geschichte, welche die Gemeinsamkeit der Wir-Gruppe zu garantieren versprechen.9 Die kollektive Verständigung über Vorgeschichte und Werden der Nation sowie über die Sinnhaftigkeit der Vergangenheit, kurz: die »Arbeit am nationalen Gedächtnis«10, leistete seit der Etablierung des mo­ dernen Nationalstaates einen unverzichtbaren Beitrag zur inneren Kohäsion der Nation. Diese Perspektive hat gleichzeitig eine ältere Tradition, die noch mit einem substantialistischen Nationskonzept operierte, abgelöst und stattdessen den konstrukthaften C harakter nationaler Identität und Zugehörigkeit in den Vor­ dergrund gerückt. Dieser Paradigmenwechsel kennzeichnet auch die deutsche und japanische Nationsforschung. In beiden Ländern kulminierte der Nati­ onsbildungsprozeß in einer Reichseinigung um das Jahr 1870, und die zahlrei­ chen institutionellen Anleihen, die Japan beim deutschen Kaiserreich tätigte, trugen zusätzlich zu der Ähnlichkeit der nationalen Entwicklung bei. 11 Verglei­ che zwischen beiden Ländern betonten in der Regel die strukturellen Parallelen zweier verspäteter Nationen‹ (Helmuth Plessner). Dabei wurde zumeist auf die Vorstellung eines bereits angelegten nationalen Kerns, dem im Rahmen der Nationsbildung lediglich Gestalt gegeben werden mußte, zurückgegriffen. 12 In Absetzung davon hat sich seit den 1980er Jahren die Auffassung von der natio8 9 10 11 12

Vgl. etwa den Literaturüberblick von Francois u.a., Einleitung, mit weiteren Angaben. Vgl. etwa Jan Assmann, Gedächtnis; Nora, Lieux. Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Vgl. Martin, Japan and Germany, S. 17-78, mit zahlreichen Angaben. Vgl. etwa Moore, Ursprünge; Martin, Japans Weg; Mochida, Futatsu no kindai;Jäfckel, Eintritt.

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nalen Identität als Ergebnis einer kulturellen Schöpfung durchgesetzt. Die Nation wurde fortan nicht mehr als in der Natur und der Geschichte angelegte Gemeinschaft betrachtet, sondern als soziale Konstruktion; nationale Gemein­ samkeiten und Traditionen galten nicht mehr nur als ›vorgefunden‹, sondern vielmehr als ›erfunden‹. 13 Auch in Deutschland und Japan stand seitdem die Entstehung der vorgestellten Gemeinschaft‹ der Nation im Mittelpunkt der (häufig von der Kulturanthropologie angeregten) historischen Forschung. Na­ tionale Mythen und Symbole, aber auch Denkmäler oder Rituale zählten nun zu den bevorzugten Themen der Historiographie der Nationsbildung. 14 Bei dieser symbolischen Repräsentation der Nation spielten die kollektiven Geschichtsbilder und der Rückgriff auf die historische Tradition eine entschei­ dende Rolle. In diesem Zusammenhang leistete auch die wissenschaftliche Historiographie einen Beitrag zur Nationsbildung. Zwar war die Formierung von Geschichtsbildern gewiß nicht allein eine Angelegenheit der wissenschaft­ lichen Eliten; auch in der populären Erinnerung manifestierte sich die kollek­ tive Aneignung der Geschichte. Dennoch kam den professionalisierten Deu­ tern der Vergangenheit, den akademischen Historikern, eine wichtige Aufgabe zu. Die Einrichtung von Lehrstühlen zur nationalen Geschichte an den deut­ schen und japanischen Universitäten etwa unterstrich die gesteigerte Bedeu­ tung, die das Verständnis der Geschichte für das nationale Selbstwertgefühl besaß. In Japan war das Bildungs- und Erziehungswesen eng mit den Anforde­ rungen des Nationalstaates verknüpft, und auch die Institutionalisierung der Geschichtsschreibung vollzog sich zunächst im Dienste des Staates. 15 Und auch in Deutschland beruhte der gesellschaftliche Status, der den Historikern lange Zeit eingeräumt worden war, nicht zuletzt auf der nationalen Relevanz der wissenschaftlichen Interpretation der Vergangenheit. Noch in einem Vor­ trag an der neugegründeten Freien Universität Berlin im April 1949 betonte der Historiker Peter Rassow diese identitätspolitische Aufgabe der Historiogra­ phie: »Nun ist Nationalbewußtsein seinem einfachen Wortsinne nach das hohe Bewußtsein, einer Nation anzugehören. Gewiß sind Muttersprache, Vätersitte, Familien- und Sippenrecht und in diesem Rahmen auch eine durch Connubi­ um abgeschirmte biologische Grundsubstanz ... das primitive Substrat alles Volkseins wie auch aller Art von Nation. Was Volk zur Nation macht, das - so sollte einmal terminologisch festgelegt werden - ist das Bewußtsein einer Jahr­ hunderte alten Geschichts- und Erlebnisgemeinschaft, ist der gemeinsam emp­ fundene Stolz auf die Taten der Vorfahren und die gemeinsam empfundene 13 Vgl. den einflußreichen Aufsatz von Hobsbawm, Erfinden oder auch Nora , Lieux. 14 Vgl. Anderson, Erfindung. Aus der umfangreichen deutschen Nationsforschung vgl. etwa Link u. Wülfing, Nationale Mythen; Ackermann, Nationale Totenfeiern; Vogel, Nationen; François u.a., Nation. Beispiele der jüngeren japanischen Nationsforschung sind etwa Asukai, Kokumin bunka; Taki, Tennô; Fuiitani Takashi, Inventine; Yasumaru, Kindai tennôzô. 15 Vgl. Horio, Educational Thought; Mehl, Vergangenheit.

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Last ihrer Leiden.« 16 Damit soll nicht suggeriert werden, die Aufgabe wissen­ schaftlicher Geschichtsschreibung erschöpfe sich in ihrem Beitrag zur Heraus­ bildung einer nationalen Identität. Dennoch läßt sich auch die Historiographie, die explizit oder implizit stets ein Bild von der Vergangenheit der eigenen Na­ tion transportierte, unter dieser Fragestellung analysieren. 17 In der spezifischen Situation der westdeutschen und japanischen Nachkriegs­ zeit war die Geschichtsschreibung aber auch, zweitens, Teil der »Vergangenheits­ politik« (Norbert Frei), also der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des Faschis­ mus. Die ähnliche Lage, in der sich beide Gesellschaften nach 1945 befanden, brachte auch ähnliche Probleme im Umgang mit der jüngsten Vergangenheit mit sich. In dreifacher Hinsicht wies die besondere Konstellation Japans und Westdeutschlands Gemeinsamkeiten auf. a) Als erstes wäre hier der verlorene Krieg zu nennen, die bedingungslose Kapitulation, die mit einem Verlust der bisherigen nationalen Einheit einherging und als vorläufiger Endpunkt der modernen Geschichte interpretiert wurde, b) Die militärische Niederlage zog eine alliierte Besatzung nach sich, bei der jeweils die Vereinigten Staaten die prägende Rolle spielten und in den besetzten Gebieten eine umfassende politi­ sche Umerziehung institutionalisierten. Die Besatzung markierte das Ende der autoritären Regierungsform in Deutschland und Japan und signalisierte den Übergang zu einer demokratischen Verfassung. c) Zugleich hatte die Besatzungspolitik aber auch Konsequenzen für das Geschichtsbild in beiden Ländern. Die Kriegsverbrecherprozesse, die Entnazi­ fizierung und die gesellschaftlichen Reformmaßnahmen beruhten jeweils auf einer Interpretation der deutschen bzw. japanischen Geschichte, die überdies mit der Autorität der Siegermächte assoziiert wurde. Insofern leistete die Besat­ zungszeit auch einen Beitrag zur Stigmatisierung derjüngsten Vergangenheit in beiden Ländern. Diese Sicht war allerdings nicht nur ein alliierter Oktroi, son­ dern entsprach ebenso dem Selbstverständnis der japanischen und westdeut­ schen Nachkriegsgesellschaft. In beiden Ländern war nach 1945 die politische und moralische Diskreditierung der Zeit von Faschismus und Nationalsozia­ lismus das Fundament jeder Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Vor diesem Hintergrund muß auch die »Vergangenheitspolitik« eingeordnet wer­ den, die es beiden Nachkriegsgesellschaften ermöglichte, sich mit ihrer jüng­ sten Geschichte zu arrangieren - wenn nicht gar die erfolgreiche ›Bewältigung‹ dieser Vergangenheit zur Grundlage einer eigenen Identität zu machen. Diese Auseinandersetzung mit der Geschichte der 30er und frühen 40er Jah­ re konnte unterschiedliche Formen annehmen. Die Kriegsverbrecherprozesse 16 Rassow, Krise, S. 6. 17 Vgl. Hardtwig, Geschichtskultur; Füssmann, Faszination.

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markierten den Beginn derjuristischen Aufarbeitung, die in der Bundesrepublik (anders als in Japan) in den fünfziger Jahren durch eine Reihe von Nachfolge­ prozessen fortgesetzt wurde. Bis heute beschäftigt die juristische Bewertung dieser Periode (etwa die Aufhebung der Urteile gegen Widerstandskämpfer bzw. die Forderungen ehemaliger Zwangsprostituierter) die Gerichte beider Länder.18 Daneben gab es eine Reihe von politischen Maßnahmen, die die soziale und vor allem außenpolitische Reintegration der Nachkriegsgesellschaften ge­ währleisten sollten. Dazu zählten etwa die Wiedergutmachungsprogramme für Verfolgte des Unrechtsregimes, aber auch finanzielle Aufwendungen, die bei­ spielsweise an Israel oder (von Japan) an Korea gezahlt wurden. 19 Schließlich wäre der Bereich der öffentlichen Erinnerungsarbeit zu nennen, also der öffent­ lich geführte Diskurs, der durch Reden und Gedenkstunden, mediale Bericht­ erstattung und symbolische Akte diepublu memory, das gesellschaftliche Vergan­ genheitsbewußtsein konstituierte. 20 In der Bewertung dieser Vergangenheitspolitik ist sich die Forschung weitge­ hend einig. Die öffentliche Konfrontation mit der Zeit des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik war, so lautet der Konsens in der Literatur, deutlich intensiver und kritischer als die Beschäftigung mit der Kriegszeit in der japa­ nischen Gesellschaft. Dieser Unterschied ließe sich auf unterschiedlichen Feldern dokumentieren. Vor allem aber das Eingeständnis einer kollektiven Schuld, das deutsche Regierungen und das Parlament gegenüber dem Ausland formuliert haben, und die begleitenden offiziellen Entschuldigungen an die Adresse der Opfer haben in Japan in dieser Form keine Entsprechung gefun­ den. Noch heute dient die offizielle Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik oppositionellen Kreisen in Japan als nachahmenswertes Vorbild.21 Richtet man den Blick aber spezifischer auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die fünfziger Jahre, so ergibt sich ein sehr viel weniger eindeutiges Bild. Denn in den ersten Nachkriegsjahren war die jüngste Vergangenheit in Japan keineswegs tabuisiert. Vielmehr wurden unter japanischen Intellektuellen und 18 Vgl. Brochhagen, Vergangenheitsbewältigung; Frei, Vergangenheitspolitik; Hoffmann, Stun­ den Null?; Steinbach, Gewaltverbrechen; Streim, Juristische Aufarbeitung; Pritchard, Overview; Tsurumi Shunsuke, War Trials; Awaya, Shadows; ders., Tokyo saibanron. 19 Vgl. etwa Benz, Umgang; Danyel, Geteilte Vergangenheit; Frei, NS-Vergangenheit; Goschler, Wiedergutmachung; Herz, Dictatorship sowie Awaya, Sensô sekinin; Park, Japanese Reparations Policies. 20 Vgl. aus der umfangreichen Literatur etwa Bergmann u.a., Schwieriges Erbe; Eberan, Luther?; Moeller, War Stories; Peitsch, Gedächtnis, sowie für Japan Chimoto, Tennôsei; Fujiwara u.Arai, Gen­ daishi; Gluck, Ende; dies., The ›Long Postwar‹; dies., Idea of Shôwa; Hicks, War Memories; Hijiya­ Kirschnereit, »Kriegsschuld, Nachkriegsschuld‹; Ienaga, Sensô sekinin; Inoue Kiyoshi, Tennô; Ônuma Yasuaki, Tokyo saiban; Seraphim, Der Zweite Weltkrieg; Yoshida, Nihonjin. 21 Vgl. vor allem Buruma, Wages of Guilt als Beispiel einer vergleichenden Auseinandersetzung mit der deutschen und japanischen ›Vergangenheitsbewältigung‹. Vgl. auch den komparativ ange­ legten Sammelband von Awaya, Sensô sekinin sowie Fuhrt, Bundesrepublik.

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in allen großen Kulturzeitschriften intensive Debatten zur Frage der Verant­ wortung für den Krieg (sensô sekinin) geführt. In diesen Diskussionen ging es nicht nur um die Zuweisung individueller oder kollektiver Schuld, sondern ebenso um eine kritische Abrechnung mit der autoritären Herrschaftsform der Vorkriegszeit und die Vision einer zukünftigen Gesellschaft.22 Im Gegensatz zu dieser politisierten Atmosphäre unter japanischen Intellektuellen 23 war die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit in Westdeutschland zu­ nächst von einer »gewissen Stille« gekennzeichnet. 24 Ralph Giordano hat für das Versäumnis einer Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der frühen Bundes­ republik sogar den Begriff der »Zweiten Schuld« eingeführt. 25 Dieser Sicht hat sich die Forschung im großen und ganzen angeschlossen. 26 Die fünfziger Jahre gelten in der Literatur üblicherweise als Phase der ›Verdrängung‹ der Geschich­ te des Dritten Reiches. Angesichts dieser widersprüchlichen Befunde könnte eine Untersuchung der Geschichtsschreibung der ersten Nachkriegsjahre in Deutschland und Ja­ pan weitere Aufschlüsse liefern. Denn auch der historiographische Umgang mit der modernen Geschichte, der das Thema dieser Arbeit ist, war Teil des kom­ plexen Feldes der »Vergangenheitspolitik« der westdeutschen und japanischen Gesellschaft nach 1945. Angesichts des zentralen Stellenwertes, den die Aus­ einandersetzung mit der Vergangenheit für das Selbstverständnis beider Länder nach wie vor besitzt, verspricht eine Analyse der Geschichtsbilder auch interes­ sante Rückschlüsse auf die Geschichte der frühen Bundesrepublik und der ja­ panischen Nachkriegsdemokratie. Die in einer Gesellschaft kursierenden Geschichtsbilder konnten unter­ schiedliche Perspektiven und divergierende Standpunkte reflektieren. Die un­ terschiedlichen sozialen Akteure der Vergangenheits- und Identitätspolitik repräsentierten häufig konkurrierende Auffassungen von der nationalen Ge­ schichte. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung, auf die sich diese Arbeit beschränkt, deckte nur einen Ausschnitt aus diesem breiten Spektrum histori­ scher Deutungen ab, auf die eine Gesellschaft Zugriff hat. Wie beispielsweise der Erfolg der Fernsehserie »Holocaust« in der Bundesrepublik demonstriert hat, haben zudem nichtwissenschaftliche Interpretationsangebote nicht selten größere Aussichten auf allgemeine Akzeptanz. Dem wissenschaftlichen Dis­ kurs ist nur selten eine breite öffentliche Resonanz beschieden, und seine Dis­ kussionen bleiben häufig innerhalb der Grenzen universitärer Strukturen. 27 22 Vgl. etwa Hosaka, Haisen; Ônuma, Tokyo saiban kara sengo sekinin no shisô e; Seraphim, Debate. 23 Vgl. etwa auch die vergleichenden Überlegungen in Schlant u. Rimer, Legacies. 24 Lübbe, Nationalsozialismus, S. 334. 25 Giordano, Die zweite Schuld. 2 6 Zu den wenigen Kritikern dieser herrschenden Meinung zählen Kittel, Legende; Gram/, Auseinandersetzung; Steinbach, Gewaltverbrechen. 27 Die Grenzen zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Diskursen sind

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Dennoch hatte die akademische Geschichtsschreibung ihre eigene gesell­ schaftliche Relevanz. Die wissenschaftliche Interpretation der Vergangenheit war Teil eines institutionalisierten Diskurses, der Regeln und methodischen Prinzipien folgte und, so das Selbstverständnis der Historikerzunft, auf ein objektives Verstehen der Geschichte zielte. Auf das wissenschaftliche Prestige dieses Unternehmens gründete sich auch die Autorität der Historiker, die ih­ nen in der Öffentlichkeit zuteil wurde. Die Gutachtertätigkeit deutscher Zeit­ historiker bei den Gerichtsprozessen, in denen die nationalsozialistische Zeit juristisch aufgearbeitet wurde, war ein Beispiel für das gesellschaftliche Ver­ trauen in die Objektivität wissenschaftlicher Interpretation. Die Beschränkung des breiten Spektrums der Geschichtsbilder auf die wissen­ schaftliche Geschichtsschreibung situiert diese Arbeit, und das ist der dritte Themenkomplex, auch im Zusammenhang einer Geschichte der Geschichts­ wissenschaft. Denn es geht im folgenden nicht nur um die Reaktionen der Historiker auf die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit sowie um erste Deu­ tungsangebote zur Geschichte des Dritten Reiches und der japanischen Kriegs­ zeit, sondern in erster Linie um eine Untersuchung zur Historiographie der modernen deutschen und japanischen Geschichte.28 Damit soll hier also nicht nur zur Formierung kollektiver Identitäten und zur ›Vergangenheitsbewälti­ gung‹, sondern ebenso zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in der Bun­ desrepublik und in Japan in der frühen Nachkriegszeit ein Beitrag geleistet werden. In vergleichenden Studien zur Geschichtsschreibung wird üblicherweise auf ein allgemeines Modell historiographischer Entwicklung zurückgegriffen. 29 nicht unveränderlich fixiert. Viele Historiker publizierten auch in großen Publikumszeitschriften oder nahmen Anregungen und Kritik von außerhalb der Zunft auf (besonders in Japan), wie unten wiederholt deutlich werden wird. Daher gilt die Aufmerksamkeit dieser Arbeit u.a. auch den Stra­ tegien, mit denen Historiker die Autorität ihrer Aussagen - als objektiv, wissenschaftlich, ›wahr‹ zu garantieren suchten. 28 Bei den hier untersuchten historiographischen Arbeiten handelt es sich um Werke zur mo­ dernen deutschen und japanischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert, im Wesentlichen seit der modernen ›Reichsgründung‹ (in Deutschland 1871, in Japan 1868). Diese (zeitliche und geogra­ phische) Eingrenzung dient aber nur der pragmatischen Einengung der Stofïfiille und stellt keine absolute Grenze dar (vor allem im fünften Kapitel wird die Beschränkung auf die Geschichte des eigenen Landes aufgehoben). Die umfangreiche Geschichtsschreibung zur antiken und mittelal­ terlichen Geschichte bleibt hier weitgehend unberücksichtigt. Trotz der relativen Bedeutung, die vor allem der Mittelalter-Historiographie in beiden Ländern zukam, spielt sie im Rahmen unserer Fragestellung keine zentrale Rolle. Denn die Verunsicherung im Blick auf den Stellenwert der Nation in der eigenen Geschichte, die nach 1945 die Historiker zur Revision der Geschichtsbilder motivierte, betraf in erster Linie die moderne Geschichte: die Irritation resultierte aus der Möglich­ keit kausaler Beziehungen zwischen moderner Geschichte und Faschismus/Nationalsozialismus, und sie betraf die (moderne) nationalstaatliche Verfaßtheit der Nation. 29 Vgl. etwa Rüsen, Some Theoretical Approaches.

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Das zugrundeliegende Konzept der ›Modernisierung‹ der Geschichtswissen­ schaft erlaubt auch die Einordnung der Geschichtsschreibung der fünfziger Jahre in Westdeutschland und Japan in den Gang der Historiographiegeschich­ te. Dieses Modell geht in Korrelation mit der sozialen Modernisierung und der Durchsetzung einer demokratischen Gesellschaftsform auch von der Ablösung einer zumeist konservativen, an den Taten ›großer‹ Persönlichkeiten orientier­ ten Politikgeschichte durch eine kritische, die gesellschaftliche Realität in ihrer Totalität erfassende sozialwissenschaftliche Geschichtsschreibung aus. Vor dem Hintergrund dieses Verlaufsmusters wird die Nachkriegshistoriographie in Deutschland und Japan vornehmlich unter der Frage nach einem Paradigmen­ wechsel zu einer sozialwissenschaftlichen Geschichtsschreibung in den Blick genommen. 30 Für die westdeutsche Geschichtswissenschaft hat Winfried Schulze die bis­ lang einzige Monographie zur Entwicklung in den fünfziger Jahren vorgelegt. Neben Untersuchungen zur Organisation der Historikerschaft, die einen brei­ ten Raum einnehmen, liegt der Schwerpunkt seiner Studie auf der Frage, ob der politische Einschnitt des Jahres 1945 auch zu einer methodischen Neuori­ entierung der Geschichtsschreibung geführt habe. Schulze bemängelt in die­ sem Zusammenhang, daß in den Nachkriegsjahren »die Kritik der herkömmli­ chen Geschichtswissenschaft auf inhaltliche Fragen beschränkt blieb und keine methodischen Folgewirkungen« gezeitigt habe.31 Die Mehrzahl der meist über­ blickartig gehaltenen Aufsätze, die sich ebenfalls mit der westdeutschen Histo­ riographie der fünfziger Jahre befassen, teilt diese Einschätzung. 32 Und auch die japanische Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit wird vornehmlich unter methodologiegeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht. Auch hier gibt es bislang erst eine monographische Studie; Tôyama Shigekis »Geschichts­ wissenschaft und Geschichtsbewußtsein der Nachkriegszeit« stammt aus dem Jahre 1968 und ist dezidiert aus der Perspektive der marxistischen Geschichts­ schreibung verfaßt.33 Dabei steht wie auch in anderen Beiträgen die methodi­ sche Entwicklung der Geschichtswissenschaft seit 1945 im Mittelpunkt. 34 Der genaue Stellenwert, der vor diesem Hintergrund der deutschen und japani-

30 Vgl. Blanke, Historiographiegeschichte; Schäfer, Modernisierung; Schleier, Epochen; Wehler, Lage; Nagahara, Rekishigaku josetsu; Tôyama, Sengo no rekishigaku. 31 Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 80. 32 Zu den wichtigsten Beiträgen zählen Blanke, Historiographiegeschichte; Faulenbach, Histo­ rístische Tradition;Iggers, Geschichtswissenschaft; H. Mommsen, Haupttendenzen; ders., Betrach­ tungen; Lehmann u. Mellon, Paths of Continuity; Schulin, Geschichtswissenschaft. 33 Tôyama, Sengo no rekishigaku. Das Werk ist stark aus dem Blickwinkel der marxistischen Hístorikerorganisation Rekishigaku kenkyükai geschrieben; Tôyamas Periodisierung der Ge­ schichtsschreibung etwa bezieht sich in erster Linie auf die Jahrestagungen dieses Verbandes 34 Vgl. etwa Inumaru, Sengo Nihon; Kan Takayuki, Sengo seishin; Nagahara, Rekishigaku j o ­ setsu ; Naruse Osamu, Sekaishi no ishiki to riron; Nishikawa, Rekishigaku to ›kinda‹.

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sehen Geschichtsschreibung der Zeit zwischen 1945 und 1960 üblicherweise eingeräumt wird, soll in Kapitel I ausführlich erörtert werden. Schon ein erster Blick auf die Forschungsliteratur demonstriert jedoch, daß bei der Beschäfti­ gung mit der Geschichtsschreibung der fünfziger Jahre - möglicherweise noch stärker als für andere Epochen - die Frage nach ihrer methodischen Moderni­ sierung die leitende Perspektive darstellt. Diese herrschende Sicht tendiert allerdings dazu, die Entwicklung der Hi­ storiographie auf die Geschichte ihrer Methodologie zu reduzieren. 35 Dies mag bisweilen eine sinnvolle Perspektive sein, gegen deren Privilegierung aber hier ein dreifacher Einwand erhoben werden soll: a) zum einen marginalisiert die Beschränkung auf die Fragen von Methode und Historik andere relevante Aspekte, die sich ebenfalls zur Systematisierung eignen könnten. So ließe sich, um nur ein Beispiel zu nennen, die Geschichte der japanischen Geschichts­ schreibung auch als Abfolge unterschiedlicher Konzeptionen von Asien und dem ›Westen‹ und der entsprechenden japanischen Positionierung in diesem Koordinatensystem interpretieren. 36 b) Zudem zeigt die Fixierung auf die Me­ thodologie eine Neigung zur retrospektiven Erfolgsgeschichte, zu einer »Whig history of history«, wie C harles Maier diese Tendenz einmal bezeichnet hat.37 Der Historiographiehistoriker scheint dann von den Höhen des wissenschaft­ lichen Fortschritts zurückzublicken und nach Vorfahren, nach Vermächtnissen und Durchbrüchen, aber auch nach retardierenden Momenten und Verspä­ tungen‹ zu suchen. Aus dieser ideologischen Perspektive können dann Vorläu­ fen, Stagnationen oder Irrwege gekennzeichnet werden. So wird etwa die Ge­ schichtsschreibung der frühen Bundesrepublik um bei unserem Beispiel zu bleiben, in der Regel vor allem mit der Frage untersucht, warum sich eine sozi­ algeschichtliche Richtung ›noch nicht‹ durchsetzen konnte, welche Hindernis­ se dem methodischen Fortschritt im Wege standen. Auf diese Weise wird die bisherige Forschung in eine langfristige Modernisierung der historischen Me­ thode eingereiht, die disparate Tendenzen einer zielgerichteten Entwicklung unterordnet.38 c) Schließlich beruht diese Genealogie des methodischen Fort35 Vgl. beispielhaft etwa Jaeger u. Rüsen, Historismus oder auch Blanke, Historiographiege­ schichte. Hier wird die Geschichte der Geschichtsschreibung bewußt auf die Entwicklung der Historik reduziert. Die konkrete Geschichtsschreibung, also die historiographische Praxis, wird auf diese Weile gänzlich ausgeblendet. 36 Ansätze zu einer Emanzipation vom methodologiegeschichtlichen Paradigma gibt es bei­ spielsweise bei Faulenbach, der die Sonderwegsideologie in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Republik untersucht (Faulenbach, Ideologie), sowie bei Kano Masanao, dessen Über­ legungen sich von der Chronologie lösen und unterschiedliche Themen (etwa das Verständnis der ›Nachkriegszeit‹ (sengo ishiki) oder von ›Kultur‹) in den Vordergrund rücken (Kano, ›Torishima‹). 37 Maier, Comment, S. 394. 38 Typisch für diese Sichtweise ist Schulze, Geschichtswissenschaft, bes. S. 77-80. Vgl. aber auch Iggers, Geschichtswissenschaft; H. Mommsen, Betrachtungen; Faulenbach, Historistische Tra­ dition; Blanke, Historiographiegeschichte. Oder Wehler, Lage, S. 23: »Nach 1945 wäre es auch in Westdeutschland an der Zeit gewesen, in diesem Sinne zahlreiche Klischees des überlieferten Ge-

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schritts auf einem epistemologischen Fundament, das in letzter Zeit zuneh­ mend ins Wanken geraten ist. Die Präokkupation mit Fragen der Methodologie basierte auf der Vorstellung von einer feststehenden, vom Forscher gänzlich unabhängigen Realität, die dennoch von ihm prinzipiell erfahrbar war. Die hi­ storische Methode erschien dann als das nach und nach verfeinerte Instrument, sich dieser Realität in immer neuen Versuchen anzunähern. In den letzten Jah­ ren ist jedoch der konstitutive Anteil der Tätigkeit des Historikers, der die zu untersuchende Realität immer auch partiell miterzeugt, zunehmend in den Blick geraten. Insbesondere die Rolle der historiographischen Darstellung, die eine äußere Wirklichkeit nicht lediglich abbilde, sondern sie im Prozeß der Narrativierung mitkonstituiere, hat große Aufmerksamkeit erfahren. In diesem Zusammenhang erscheint nun die historische Methode nicht mehr ausschließ­ lich als möglichst neutrales Medium des unparteilichen Zugriffs auf die Reali­ tät, sondern auch als Element einer historische Kohärenz überhaupt erst her­ vorbringenden, gleichsam ›poetischen‹ Operation.39 Vor dem Hintergrund dieses dreifachen Zweifels an der Prärogative der Methodologie soll in dieser Arbeit eine alternative Perspektive eingenommen werden, die vor allem die konkreten politischen und diskursiven Bedingungen der Geschichtsschreibung in den Vordergrund stellt. Damit wird eine Beschäf­ tigung mit methodischen Fragen nicht ausgeklammert (vgl. etwa Kapitel IV), aber ihre Thematisierung soll jeweils an die soziopolitischen und institutionel­ len Entwicklungen rückgekoppelt werden. Während also in der Forschung die Arbeiten der Historiker häufig in letzter Instanz als Symptom behandelt wer­ den, als Trägersubstanzen, die lediglich den methodischen Fortschritt oder ideologische ›Standpunkte‹ reflektieren, soll hier auch die inhaltliche Dimensi­ on der Historiographie stärkere Berücksichtigung finden. Auf diese Weise wird der Historiographie der fünfziger Jahre auch etwas von ihrer (räumlichen und zeitlichen) Spezifik zurückerstattet, die ihr im Zuge der Fixierung auf die Me­ thodologie verloren zu gehen droht. Das Hauptaugenmerk liegt daher auf den interpretativen Strategien, den Deutungsmustern und argumentativen Struk­ turen, die die Geschichtsschreibung der frühen Nachkriegszeit durchziehen. Diese Perspektive öffnet den Blick, das wurde eingangs bereits angedeutet, auf die zentrale Rolle der Nation im historiographischen Diskurs der Jahre nach 1945. Sowohl in Japan als auch in der Bundesrepublik figurierte die natio­ nale Selbstvergewisserung als prominenter Topos in der öffentlichen und wis­ senschaftlichen Debatte. Für Gerhard Ritter etwa war die »Historie ... immer und überall eng verknüpft mit dem Bedürfnis politischer Gemeinschaften, schichtsbildes kritisch aufzulösen, die Einseitigkeit zählebiger Deutungsmuster endlich aufzuge­ ben.« 39 Vgl. aus der umfangreichen Literatur etwa C arrard, Poetics; Megill, Recounting; Rancière, Names; Rigney, Rhetoric; White, Metahistory; den., Klio; dm., Bedeutung.

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über sich selbst, über ihr Daseinsrecht, ihr Verhältnis zu anderen und ihre Zu­ kunftschancen ins klare zu kommen. Sie stellt also immer ein Stück nationaler Selbstbesinnung dar.«40 Dies war keine neue Entwicklung; bereits seit dem 19. Jahrhundert gehörte die Stiftung nationaler Identität zu den zentralen Aufga­ ben auch der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. 41 Nach 1945, nach dem Verlust der nationalen Souveränität, der territorialen Integrität und in Deutschland zudem der staatlichen Teilung, war dieses nationale Selbstbe­ wußtsein zunehmend unterminiert worden und instabil geworden. Wie ließ sich nun der Ort der Nation bestimmen, der prekär und unsicher geworden war? Wie ließ sich die Einheit der Nation historisch begründen, die im Begriff war, in übergeordneten Strukturen aufzugehen? Wie ließ sich die Kontinuität der nationalen Geschichte retten, die durch die stigmatisierte jüngste Ge­ schichte abgerissen schien? Wie ließ sich mit der Geschichte der jüngsten Ver­ gangenheit überhaupt umgehen, deren verbrecherischer C harakter die Legiti­ mität der nationalen Geschichte grundsätzlich in Zweifel zu ziehen drohte? Wie ließ sich die eigene Nation in der veränderten Weltordnung, in der Wirk­ lichkeit des Kalten Krieges positionieren? Dies waren einige der Fragen, die sich den westdeutschen und japanischen Historikern in der Nachkriegszeit stellten und die auch die folgenden Kapitel leitmotivisch durchziehen.

2. Aspekte eines transnationalen Vergleichs Diesen Fragen, die sich mit der Rolle der Nation bei der Rekonstruktion der Vergangenheit auseinandersetzen, soll hier im Rahmen eines (west-)deutsch­ japanischen Vergleiches nachgegangen werden. Die komparative Perspektive verspricht, über die Betrachtung zweier Einzelfälle hinaus Interpretationsmu­ ster zu konturieren, die generelle Schlußfolgerungen über die westdeutsche und japanische Nachkriegsgesellschaft und ihre Historiographie zulassen. 42 Die japanischen und westdeutschen Historiker sahen sich nach 1945 mit einer in mehrfacher Hinsicht vergleichbaren Ausgangslage konfrontiert, die einen Vergleich dieser Länder plausibel macht und besonders fruchtbar erscheinen läßt. Die wesentlichen Punkte sind oben bereits angedeutet worden. Sowohl Japan als auch Deutschland hatten 1945 den Krieg verloren, der Kapitulation und das Ende der bisherigen (autoritären) Regierungsform nach sich zog. Beide 40 Gerhard Riller, Geschichtswissenschaft, S. 81. 41 Jaeger u. Rüsen, Historismus, S. 5lf.; Berger, Search. 42 Zu C hancen und Schwierigkeiten des Vergleichs vgl. Braembussǽe, Historical Explanation; Haupt u. Kocka, Geschichte und Vergleich; Kocka, Comparative Historical Research; Matthes, Ope­ ration; Triebet, Pragmatik; Welskopp, Stolpersteine.

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Länder standen vor einer langjährigen und einschneidenden Besatzungszeit durch alliierte (in Japan amerikanische, in Westdeutschland auch englische und französische) Truppen.43 Und auch die Überzeugung, eine ›schlimme Vergan­ genheit‹ überstanden zu haben, die nun neu interpretiert oder gar ›bewältigt‹ werden mußte, war in beiden Gesellschaften weit verbreitet. Daneben ist hier noch an eine weitere Parallele zu erinnern, deren historio­ graphische Implikationen nicht zu unterschätzen waren. Denn die unüberseh­ bare Präsenz der westlichen Alliierten in Westdeutschland und in Japan beein­ flußte auch das Verständnis von Gegenwart und Zukunft - und damit die Perspektive für eine Reevaluierung der eigenen Geschichte. Eine Vision von der Zukunft ist ein integraler Bestandteil jeder Interpretation der Vergangen­ heit - wie etwa der Göttinger Historiker Hermann Heimpel hervorgehoben hat. Nur ein Verständnis der jeweiligen Gegenwart des Historikers ermögliche eine sinnvolle Rekonstruktion der Geschichte; diese wiederum »ist von der Zukunft bedingt, weil das Bild der Gegenwart sich formt aus dem Plan, den sie in die Zukunft wirft, weil alle Geschichte zugleich kausalen und finalen C ha­ rakter hat.« Erst durch den Verweis auf ein Ziel, das in der Gegenwart oder gar der Zukunft des Historikers liege, sei der Vergangenheit historischer Sinn ab­ zuringen. »Man sieht wieder, daß zur Bestimmung des Punktes in der Vergan­ genheit ... die Zukunft gehört, nicht allein der Bereich des Erkennens, sondern auch der Bereich des Willens.« 44 Vor diesem epistemologischen Hintergrund kam der politischen Zukunft, in die sich die westdeutsche und japanische Nachkriegsgesellschaft gestellt sahen, eine für die Historiographie entschei­ dende Bedeutung zu. Die Etablierung einer bürgerlich-kapitalistischen Demo­ kratie sowie die Einordnung in den globalen Gegensatz des Kalten Krieges waren - darüber herrschte nach 1945 weithin Konsens - Teil der Zukunft der westdeutschen und japanischen Nachkriegsgesellschaft. Diese Gewißheit hatte nicht unerhebliche Auswirkungen auf die Historiographie. Denn die Demo­ kratie (und die Einordnung in das westliche Lager) waren so gewissermaßen das telos, das Niederlage und Besatzungsreformen der modernen Geschichte vor­ geschrieben hatten. Diese vielfache Parallelität der soziopolitischen Entstehungsbedingungen von Geschichtsschreibung - deren Koordinaten durch die Niederlage, die Be­ satzung, das Wissen um eine ›schlimme Vergangenheit‹ und die Integration in eine amerikanisch dominierte Nachkriegsordnung markiert waren - zeichnete die westdeutsche und japanische Nachkriegssituation aus. Ungeachtet aller dennoch bestehenden Unterschiede lassen diese Ähnlichkeiten der Ausgangs43 Vgl. zur amerikanischen Besatzung die frühen komparativen Studien von Montgomery, Forced to be Free; Wolfe, Americans sowie die vergleichenden Überlegungen in Tsuchimochi, Edu­ cation Reform. 44 Heimpel, Mensch, S. 11, 13.

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läge einen Vergleich der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in West­ deutschland und Japan besonders vielversprechend erscheinen. 45 Dabei geht diese Arbeit von der grundlegenden Annahme aus, daß die Geschichtswissen­ schaft in der Bundesrepublik und in Japan nach 1945 durch vergleichbare me­ thodische und institutionelle Standards gekennzeichnet ist. Die Geschichts­ forschung war in beiden Ländern universitär verankert, arbeitete mit einer rationalen, quellenkritischen Methode und war gleichermaßen säkularisiert, sodaß man von einem ähnlichen Grad der Verwissenschaftlichung sprechen konnte. Auch die öffentliche Rolle, die die akademische Geschichtsschreibung spielte, und die gesellschaftlichen Erwartungen an diese Form der Auseinan­ dersetzung mit der Vergangenheit unterschieden sich in Westdeutschland und Japan nach 1945 nicht wesentlich. 46 Nicht zuletzt war dies eine Folge des gro­ ßen Einflusses des europäischen Modells bei der Einrichtung einer modernen Geschichtswissenschaft in Japan (vgl. Kapitel I). Der hier behandelte Zeitraum umfaßt die Periode zwischen 1945 und 1960. Das Jahr 1945, das in beiden Ländern als »Stunde Null« galt, markierte sowohl

45 Diese Arbeit beschränkt sich auf einen Vergleich der Geschichtsschreibung in Japan und Westdeutschland. Die Historiographie der DDR wird dagegen nur eine marginale Rolle spielen, vor allem als kontrastierender Pol, von dem sich die westdeutschen Historiker distanzierten. Zwar haben Vergleiche zwischen der Bundesrepublik und der DDR durchaus ihre Berechtigung, bei­ spielsweise im Hinblick auf die relative Wirkung von Amerikanisierung und Sowjetisierung. Im Zusammenhang der hier untersuchten Fragestellungjedoch erscheint eine Berücksichtigung der DDR-Historiographie als wenig sinnvoll. Vor allem die Bedeutungder amerikanischen Besatzung und ihre (institutionellen, inhaltlichen und perspektivischen) Auswirkungen für die Geschichts­ wissenschaft unterstreicht die Kluft zwischen der Situation in der Bundesrepublik Deutschland und Japan einerseits sowie der DDR andererseits. Entscheidende Bedeutung kam in diesem Zu­ sammenhang nicht zuletzt der Perspektive und Problematik zu, die der Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan durch die spezifische Nachkriegssituation gleichsam vorgegeben wa­ ren. Denn der Vorgriff auf die gewiß erscheinende (demokratische und ›westliche‹) Zukunft prä­ figurierte auch in der Geschichtsschreibung die zentralen Fragestellungen und Schwerpunkte. Die Deutung der Zukunft stellte der Historiographie Parameter zur Interpretation der Vergangenheit zur Verfügung. In dieser Hinsicht, die für die Bewertung der deutschen und japanischen Nation in der Geschichte eine zentrale Rolle spielte, unterschieden sich die Voraussetzungen für die DDRHistoriographie signifikant von den Bedingungen in Japan und der Bundesrepublik. Ein weiterer Umstand sollte nicht übersehen werden: die starke marxistische Geschichtsschrei­ bung in Japan scheint zunächst einen Vergleich mit der DDR herauszufordern; aber in Japan etablierte sich der Historische Materialismus im Rahmen des freien Spiels der wissenschaftlichen Kräfte; die Hegemonie marxistischer Erklärungsansätze gehorchte nicht einer autoritär verfügten (und d.h. auf einer anderen Ebene determinierten) Entwicklung. 46 Die (in letzter Instanz kulturessentialistische) Vorstellung von einer Sonderrolle der »nippo­ nischen Wissenschaft», wie sie etwa Johan Galtung entworfen hat, ist dieser Arbeit daher fremd (Galtung, Struktur). Die folgenden Kapitel werden demonstrieren, daß beispielsweise die von Gal­ tung postulierte Kontroversenarmut der japanischen Wissenschaft jedenfalls auf die Entwicklung der Historiographie keineswegs zutrifft. Dessenungeachtet sollen im folgenden aber auch die Spe­ zifika der japanischen Wissenschaftskultur (vgl. dazu etwa Hijiya-Kirsǽnereit, Wissenschaft) Be­ rücksichtigung finden.

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einen politischen Richtungswechsel als auch (durch die programmatische Ab­ kehr von der nationalistischen Geschichtsschreibung und in Japan überdies durch den Einfluß des Historischen Materialismus) einen historiographischen Einschnitt. Trotz der veränderten politischen und diskursiven Bedingungen aber, das werden die folgenden Kapitel immer wieder zeigen, war das Jahr 1945 für die Geschichtsschreibung keine absolute Zäsur. Neben der personellen Kontinuität lebte eine Reihe interpretativer Muster und argumentativer Strate­ gien fort, wenn diese auch den sich verändernden Regeln des wissenschaftli­ chen Diskurses angepaßt werden mußten. Auch mit dem Jahr 1960, auf der anderen Seite, werden in der Bundesrepublik und in Japan geschichtswissen­ schaftliche Einschnitte assoziiert. In Deutschland sollte die 1961 einsetzende Fischer-Kontroverse das historiographische Spektrum nachhaltig verändern; und auch in Japan setzte um 1960 - dem Jahr umfangreicher Bürgerproteste gegen den Sicherheitsvertrag mit den Vereinigten Staaten - das Ende der Domi­ nanz des herrschenden (hier: marxistischen) Paradigmas in der Geschichtswis­ senschaft ein. Bei allen Vorbehalten gegenüber diesen in der Literatur üblichen Einteilungen erscheinen die ersten anderthalb Dekaden der Nachkriegszeit somit als eine geeignete Periode, um die Reaktionen der professionalisierten Geschichtsschreibung auf Krieg, Niederlage und Besatzung zu untersuchen. Ein deutsch-japanischer Vergleich überschreitet nicht nur die Beschränkungen national verfaßter Gesellschaften, sondern auch kulturelle Grenzen. Diese Operation bringt eine Reihe besonderer Schwierigkeiten mit sich. Neben den sprachlichen und terminologischen Hürden zählt dazu etwa die bisweilen ähn­ liche kulturelle Bedeutung divergent erscheinender Phänomene - oder um­ gekehrt: scheinbar äquivalente Institutionen können in unterschiedlichen Kulturen ganz unterschiedliche Aufgaben übernehmen. 47 Ein transkultureller Vergleich wird daher die unterschiedliche kulturelle Einbettung des Untersu­ chungsgegenstandes ausloten und die spezifischen Kontexte ernst nehmen

47 Ein Beispiel hierfür wäre etwa die unterschiedliche Rolle der Dissertation im Kontext der westdeutschen und japanischen Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit. In der Bundesrepu­ blik war eine Doktorarbeit die Voraussetzung für eine erste akademische Stelle und stand somit am Beginn einer wissenschaftlichen Laufbahn. In Japan hingegen war der Doktortitel nicht das Ein­ trittsbillet in den inneren Kreis der Wissenschaft, sondern war eher eine Anerkennung für ein Lebenswerk. Die Empfänger eines Doktorgrades waren in der Regel mindestens 40 Jahre alt. In den Geisteswissenschaften besaß daher nur etwa die Hälfte aller Professoren einen Doktortitel. Erst seit den 1960er Jahren nahm die Anzahl der Dissertationen zu; aber erst seit den 1990er Jahren setzte sich allmählich die Dissertation als Voraussetzung für die Berufung auf eine Assistentenstelle (jos­ hu) durch. Vgl. dazu den Überblick von Ushiogi, Graduate Education. Dieses Beispiel mag andeu­ ten, daß nicht nur eine begriffsgeschichtliche Klärung, sondern auch eine genaue Kenntnis der spezifischen kulturellen Bedeutung einer Institution zu den unabdingbaren Voraussetzungen ei­ nes transkulturellen Vergleiches zählt.

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müssen.48 Auf der anderen Seite gilt es zu vermeiden, die divergierenden kultu­ rellen Rahmenbedingungen zu verabsolutieren und so einen Beitrag zu einer Ideologie nationaler Einzigartigkeit zu leisten. Insbesondere in der japanischen Literatur gibt es starke Tendenzen, jeden differentiellen Befund zu einem Sym­ ptom der Sonderrolle der japanischen Kultur zu stilisieren. Diese Mythen na­ tionaler Besonderheit finden ihr Pendant in dem exotisierenden Blick, der für einen großen Teil der westlichen Auseinandersetzung mit Japan kennzeich­ nend ist.49 In Absetzung von diesen Tendenzen will diese Arbeit nicht nur transkultu­ rell, sondern auch transnational vergleichen; unterschiedliche Kulturen wer­ den nicht als hermetisch begrenzte Einheiten aufgefaßt, sondern die bezie­ hungsgeschichtliche Komponente und die gemeinsamen Abhängigkeiten sollen in den Vordergrund gerückt werden. Diese Perspektive unterscheidet sich zugleich von dem Unternehmen, das in der Literatur üblicherweise unter dem Begriff des ›systematischen Vergleichs‹ firmiert. Damit wird eine Konstel­ lation bezeichnet, in der zwei voneinander unabhängige Fälle im Hinblick auf eine generalisierte Fragestellung verglichen werden. Die vorliegende Studie geht von der gegenteiligen Annahme aus: die beiden Vergleichsgrößen werden gerade nicht als autonome Entitäten behandelt; vielmehr soll ihre Verankerung in überregionalen Machtverhältnissen ernst genommen werden. Die Ver­ gleichbarkeit der beiden Situationen wird somit nicht aus einem universalen Modernisierungsprozeß deduziert, sondern als das Ergebnis transnationaler Beziehungen und Interdependenzen behandelt. Auch wenn direkte Beziehun­ gen zwischen der westdeutschen und japanischen Historiographie in der Nachkriegszeit kaum eine Rolle spielten, bestanden dennoch grundlegende Gemeinsamkeiten: einerseits als Folge amerikanischer Interventionen in der Nachkriegszeit, die auch die Geschichtsbilder beider Ländern beeinflußten, und andererseits als Ergebnis der Dynamik einer institutionalisierten Ge­ schichtswissenschaft, die auf eine gemeinsame Genealogie zurückblicken konnte. Diese historisch bedingten Ähnlichkeiten stehen auch im Vordergrund der vorliegenden Arbeit. Üblicherweise interessieren sich vergleichende Studien mehr für die nationalen Unterschiede, während Ähnlichkeiten von einem modernisierungstheoretischen Entwicklungsmodell gewissermaßen vorausge­ setzt werden. Die Fragestellung kreist dann häufig um das Problem, warum - in Bezug auf einen prinzipiell gemeinsamen Weg in die Moderne - die Entwick­ lung eines Landes schneller oder langsamer, fortschrittlich oder rückständig

48 Vgl. Matthes, Zwischen den Kulturen? und Osterhammel, Transkulturell, mit weiterer Litera­ tur. 49 Vgl. dazu etwa Dale, Myth; Mouer u. Sugímoto, Images; Yoshino, Cultural Nationalism.

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war.50 Im Gegensatz dazu wird in den folgenden Kapiteln das Augenmerk vor allem auf den Parallelen der historiographischen Entwicklung beider Länder liegen. Das heißt nicht, daß die durchaus vorhandenen Differenzen eingeebnet würden; im Gegenteil: sie werden uns auf Schritt und Tritt begegnen; und im ersten Kapitel werden die grundlegenden methodischen Unterschiede, die die westdeutsche und die japanische Historiographie der fünfziger Jahre kenn­ zeichneten, bereits sehr deutlich werden. Aber angesichts der großen geogra­ phischen, politischen, sozialen und kulturellen Distanz zwischen beiden Län­ dern ist ein gewisses Maß an Unterschieden ohnehin zu vermuten, umso mehr, als es hier um die Aufarbeitung der selbst wieder ganz unterschiedlichen histo­ rischen Entwicklung in Deutschland und Japan geht. Lohnender scheint es daher, den - wenn man so will: ›verblüffenden‹ - Ähnlichkeiten einige Auf­ merksamkeit zu schenken. Diese Perspektive istjedoch nicht das Ergebnis einer arbiträren Vorentscheidung, sondern reflektiert die Gemeinsamkeiten struktu­ reller Entwicklung, die sich seit Verbreitung des nationalstaatlichen Modells und der Insignien der westlichen Moderne spätestens seit dem 19. Jahrhundert beobachten lassen.51

3. Der Diskurs der Geschichte Nachdem die Historiographiegeschichtsschreibung lange Zeit rein geistesge­ schichtlich ausgerichtet war, hat seit den 1970er Jahren eine sozialgeschichtli­ che Perspektivenänderung die Einseitigkeiten bisheriger Betrachtungen korri­ giert. Die Werke von Historikern wurden fortan nicht mehr textimmanent im Hinblick auf die ihnen zugrundeliegenden Ideen untersucht, sondern analy­ tisch an die Bedingungen ihrer Entstehung rückgebunden. Auf diese Weise gerieten die institutionellen Strukturen sowie die gesellschaftliche Entwick­ lung als Kontext der Historiographie stärker in den Blick. Die Geschichts­ schreibung wurde nicht mehr unabhängig von den sozialen und politischen Prozessen betrachtet, sondern galt vielmehr als Ausdruck gesellschaftlicher 50 Diese Perspektive kennzeichnet etwa die im Anschluß an Max Webers Protestantismusthese unternommenen Studien sowie die zahlreichen Ländervergleiche, die unter dem Einfluß der Modernisierungstheorie durchgeführt worden sind (inklusive der deutschen Sonderwegsdebatte) 51 Vergleiche, die vor allem auf die Ermittlung von Ähnlichkeiten zielen, sind durchaus keine Seltenheit (vgl. die Differenzierung bei Haupt u. Kocka, Historischer Vergleich). Zumeist werden diese Ähnlichkeiten allerdings von einem modernisierungstheoretischen Modell vorausgesetzt und in den einzelnen Gesellschaften nur noch ›angetroffen‹; so wenn beispielsweise die zuneh­ mende Rationalisierung der Geschichtsschreibung in unterschiedlichen Kulturen untersucht wird (vgl. etwa Rüsen, Some Theoretical Approaches). In dieser Arbeit werden diese Ähnlichkeiten nicht von einer Entwicklungslogik deduziert, sondern als konkretes Ergebnis des transnationalen C ha­ rakters der modernen Geschichte betrachtet.

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Realitäten. Diese Perspektive soll in der vorliegenden Arbeit durch Anleihen bei diskursgeschichtlichen Ansätzen der letzten Jahre ergänzt werden. 52 Damit sollen keinesfalls die sozialen und politischen Hintergründe ausgeblendet wer­ den; eine Rückkehr zur Ideologie von der Autonomie des historiographischen Textes ist damit nicht intendiert. Vielmehr soll die Geschichtsschreibung stets in den gesellschaftlichen Kontext ihrer Entstehung eingeordnet werden. Dabei liegt den folgenden Kapiteln eine Vorstellung von der Wirklichkeit als sozialer Realität zugrunde, deren Bedeutung nicht ein für allemal fixiert ist und daher nur im Rahmen einer diskursiven Aneignung zugänglich ist. Es gilt daher, den Mechanismen gegenseitiger Bedingung Aufmerksamkeit zu schenken, die die Geschichtsschreibung mit anderen Diskursfeldern verbinden. Die universitär verankerte Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit, der Gegenstand dieser Arbeit, konnte als institutionell abgesicherter Diskurs gel­ ten, dessen Stabilität durch ein komplexes Set von Regeln gestützt wurde. Be­ reits die Anbindung an akademische Institutionen legte der historischen For­ schung eine Reihe von Beschränkungen auf; die administrativen Strukturen (etwa das Konkurrenzverhältnis zwischen Universitäten oder die Abgrenzung von Abteilungen und Lehrstühlen) blieben nicht ohne Einfluß auf die Interpre­ tation der Geschichte. Daneben garantierte ein umfangreicher Regelkorpus den Zusammenhalt des geschichtswissenschaftlichen Diskurses. Die historio­ graphische Darstellung gehorchte formalen Prinzipien (Verwendung von Fuß­ noten; Anschluß an die Fachliteratur etc.), die als Bedingungen ihrer Wissen­ schaftlichkeit anerkannt wurden. Vor allem aber stellten implizit gehaltene Regelmäßigkeiten die Kohärenz des wissenschaftlichen Diskurses sicher. Die Grenzen dessen, was wissenschaftliche Legitimität beanspruchen und im Kon­ text der Fachdiskussionen also als ›sagbar‹ gelten konnte, waren durch Konven­ tionen und die diskursive Praxis festgelegt. Im folgenden wird immer wieder deutlich werden, wie Argumente diesen regelhaften diskursiven Strukturen ›eingeschrieben‹ werden mußten, um wissenschaftlich ernst genommen zu werden. Nur eine Interpretation, die diesen Anforderungen der wissenschaft­ lichen Rede gerecht wurde, konnte den Anspruch erheben, die historische Wahrheit‹ zu repräsentieren. Durch diese Regelmäßigkeiten wissenschaftlicher Produktion wurden auch Grenzen zu anderen Diskursen festgeschrieben bzw. leicht verändert und je neu fixiert. Gleichzeitig fanden die historiographischen Debatten nicht in einem abgeschlossenen Raum statt, sondern in Konkurrenz und in osmotischer Beziehung zu anderen Diskursen. Auf diese Weise wurden andere soziale Realitäten in die Sphäre der Geschichtsschreibung transformiert und inkorporiert.53 52 Zur Geschichte der Geschichtsschreibung bis zu dieser diskursiven Wende vgl. etwa Iggers, Geschichtswissenschaft; Küttler u.a., Geschichtsdiskurs. 53 Vgl. zum Projekt einer Diskursgeschichte u.a.: Foucault, Archäologie, bes. S. 113-190; Fou­ cault, Ordnung; Sarasin, Subjekte; Schattier, Sozialgeschichtliches Paradigma; den., Angst.

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Eine Rekonstruktion des historiographischen Diskurses in Japan und West­ deutschland nach 1945 interessiert sich für diese Regelmäßigkeiten von Argu­ mentation und Darstellung. Eine Analyse der Geschichtsschreibung könnte Elemente des ›Archivs‹ dieses Diskurses zutage fördern, also gewissermaßen eine Matrix der Aussagen, die zu einem spezifischen Zeitpunkt wissenschaft­ lich ›möglich‹ schienen. Die Grundlage dieses ›Archivs‹ könnte man als eine Serie von binären Oppositionen beschreiben, die die Logik der historischen Deutung strukturierten. Innerhalb dieses Feldes grundlegender Dichotomien wurde ein geschichtliches Phänomen situiert und ihm historischer Sinn zuge­ wiesen.54 Die Interpretation rekurrierte zumeist auf ein Set von polaren Gegen­ sätzen, auf deren Grundlage die Bedeutung einzelner Ereignisse konstituiert wurde. Diese Gegensätze begrenzten das Spektrum, innerhalb dessen (häufig vermittelnd, gradualisierend) die historischen Deutungen oszillierten; zu­ gleich geraten auf diese Weise die prinzipiellen Annahmen in den Blick, die jenseits der polaren Gegenbegriffe - gemeinhin nicht hinterfragt wurden. Eine Untersuchung dieser Dichotomien - wie etwa Täter vs. Opfer, Okzident vs. Orient oder fortschrittlich vs. rückständig, um nur ein paar Beispiele zu nennen - verspricht also Aufschlüsse über die Beschaffenheit des deutschen und japa­ nischen historiographischen Diskurses in der frühen Nachkriegszeit.55 Das Interesse an der Regelhaftigkeit der wissenschaftlichen Geschichts­ schreibung hat auch Konsequenzen für die Auswahl der Quellen und die Art und Weise ihrer Behandlung. Denn eine Rekonstruktion des Diskurses interes­ siert sich hauptsächlich für diejenigen Äußerungen, die unter den Bedingun­ gen der institutionalisierten Wissenschaft getätigt wurden. Welche öffentlich zugänglichen, mit dem Anspruch der Nachprüfbarkeit und Wissenschaftlich­ keit auftretenden Aussagen konnten von Historikern der Bundesrepublik und Japans getroffen werden? Welche Auffassungen waren konsensfáhig, welche Interpretationen schienen unangemessen, welche Ansätze wurden ausge­ grenzt? 56 Durch diese Fragestellung werden eine Reihe anderer (ebenso denk54 Vgl. bereits Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik. 55 Vgl. etwa die methodischen Überlegungen von Fredric Jameson zur heuristischen Verwen­ dung eines ›semiotischen Rechtecks‹, also einer Matrix binärer Gegensätze »as it maps the limits of a specific ideological consciousness and marks the conceptual points beyond which that conscious­ ness cannot go, and between which it is condemned to oscillate« (jameson, Political Unconscious, S. 47. Vgl. auch ebenda, S. 1651-169,253-257). Oppositionen wie etwa Reich-Nationalstaat oder kleindeutsch-großdeutsch (vgl. Kapitel 2) strukturierten also den diskursiven Raum und stellten die Pole dar, zwischen denen konkurrierende Interpretationen sich positionierten. Zugleich er­ möglicht eine Analyse dieser Dichotomien auch Aussagen über die gemeinsamen Prämissen, die ungeachtet aller Differenzen - sämtlichen Stellungnahmen zugrundelagen und im Rahmen dieses Diskurses nicht transzendiert wurden. Der Bezug aufjamesons Interpretation diskursiver Struktu­ ren erfolgt hier ohne Rekurs auf die bei ihm zugrundeliegenden Annahmen über den C harakter der historischen Wirklichkeit. 56 Dabei interessiert aus der hier beibehaltenen diskurstheoretischen Perspektive vor allem, ob eine Interpretation im zeitgenössischen Diskurs konsensfáhig und somit ›wahr‹ erschien. Eine Bewer-

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barer) Fragen tendenziell in den Hintergrund gedrängt. So ließe sich auch über die inneren Absichten und geheimen Intentionen einzelner Historiker speku­ lieren; auch die Frage des Gesinnungswandels von Fachvertretern, die sich in den Jahren vor Kriegsende politisch kompromittiert hatten, ließe sich mit gu­ tem Recht debattieren. In dieser Arbeit hingegen soll die Geschichtsschreibung der frühen Nachkriegsjahre untersucht und nicht individuelle Verstrickung evaluiert werden; das Schwergewicht liegt mithin auf den diskursiven Mustern und Regelmäßigkeiten wissenschaftlicher Historiographie. Dieser Ansatz schließt jedoch eine kritische Perspektive keinesweg aus. Die folgenden Kapitel beschränkten sich nicht auf eine bloße Rekonstruktion diskursiver Formatio­ nen. Die fundierenden Annahmen, die den konkurrierenden Interpretationen zugrundeliegen konnten, werden vielmehr auf ihre politischen Implikationen kritisch hinterfragt. Anders als in der ideologiekritischen Literatur liegt das Augenmerkjedoch nicht auf den handlungsleitenden Absichten von Individu­ en oder soziopolitischen Kollektiven; die Historiographie wird im folgenden nicht als Instrument betrachtet, das im Dienste gesellschaftlicher Interessen ein­ gesetzt werden könnte, sondern als diese Interessen erst ermöglichender und artikulierender Diskurs. Daher stützt sich diese Arbeit nur in Ausnahmefällen auf private Korrespon­ denzen, Tagebücher und archivalische Bestände.57 In der Hauptsache aber die­ nen die der Öffentlichkeit übergebenen wissenschaftlichen Texte, die nicht als individuelle Bekenntnisse, sondern mit dem Anspruch allgemeiner Geltung auftraten, als Quellengrundlage. Die materielle Basis der folgenden Kapitel besteht also im Prinzip aus dem gesamten Korpus wissenschaftlicher Produkti­ on der universitär verankerten Historikerschaft.58 Diese beinahe unübersehbatung der Forschungsergebnisse aus den fünfziger Jahren vor dem Hintergrund des heutigen Kennt­ nisstandes ist damit nicht intendiert, auch wenn dieser Kenntnisstand die Auswahl und bisweilen auch die Bewertung der behandelten Texte natürlich beeinflussen wird. Aber interessanter als eine ›Benotung‹ konkurrierender Positionen scheint es, gerade den divergierenden oder sich wandeln­ den Interpretationen derselben Ereignisse einige Aufmerksamkeit zu widmen; auf diese Weise geraten die diskursiven Bedingungen, die zur Plausibilität dieser Deutungen beitrugen, in den Blick. Nicht die behandelte historische Wirklichkeit (etwa der Bismarckzeit), sondern ihre histo­ riographische Aneignung in den fünfziger Jahren ist der Gegenstand dieser Arbeit. 57 Zu den Ausnahmen zählen Dokumente der amerikanischen Besatzungsbehörden in Japan, die jeweils in den Fußnoten nachgewiesen sind. 58 Dazu zählen Monographien, Aufsätze in Zeitschriften, Beiträge zu Festschriften, Vorträge und Rezensionen. Dafür wurden die betreffenden Jahrgänge der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften systematisch gesichtet (in Westdeutschland: GWU, HZ, NPL, Saeculum, VfD, VfZ, VSWG, Die Welt als Geschichte (vgl. Sigelliste im Literaturverzeichnis); in Japan: Nihon rekishi, Rekishi hyôron, Rekishigaku kenkyü, Shigaku zasshi sowie die Kulturzeitschriften C hüô kôron, Sekai, Shisô). Zudem wurden die Vorlesungsverzeichnisse ausgewählter Universitäten (FU Ber­ lin, Heidelberg, Tübingen) ausgewertet (die japanischen Vorlesungsverzeichnisse der fünfziger Jahre (bungakubu gakusei binran) waren zu unspezifisch und lassen daher kaum Schlußfolgerungen auf Lehrinhalte zu). Die Beschränkung auf Universitätshistoriker stellt im folgenden übrigens keine absolute Grenze dar. Insbesondere Arbeiten von Historikern, die zwar im Zuge der ›Säube-

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re Stofïïïille wird dadurch handhabbar gemacht, daß auf relatives Gewicht und Repräsentativität der untersuchten Texte geachtet wird; 59 vor allem aber stellen die systematischen Fragen, die in den folgenden Kapiteln behandelt werden sollen, die Kriterien zur Verfügung, eine geeignete Textauswahl zu treffen. Die weitgehende Beschränkung auf gedrucktes Material deutet bereits an, daß es dabei nicht so sehr um die Ermittlung dessen geht, was einzelne Historiker ›wirklich( dachten; vielmehr soll untersucht werden, wie politische Bewertun­ gen, die in jede Interpretation der Vergangenheit Eingang fanden, in der Sprache der Wissenschaß formuliert wurden. Das Charakteristische dieser Texte bestand schließlich darin, daß persönliche Absichten und Überzeugungen nicht unge­ filtert geäußert wurden; stattdessen hatten Werturteile nur dann Aussicht auf wissenschaftliche Legitimation, wenn sie in die Form methodischer, objekti­ vierbarer Argumente gegossen wurden. Jenseits individueller Intentionen soll daher in dieser Arbeit das Schwergewicht auf der Frage liegen, wie ein abstrakt­ allgemeines Regelwerk bestimmte Strategien ermöglichte und zugleich her­ vorbrachte.60 Dieses Interesse legt auch nahe, nicht einen kryptobiographi­ schen Ansatz zu verfolgen, wie er in der Historiographiegeschichte noch immer typisch ist. Der Werdegang und die persönlichen Hintergründe einzel­ ner Historiker spielen hier nur insofern eine Rolle, als sie für die Konturierung des wissenschaftlichen Feldes aussagekräftig sind. Der Fokus liegt vielmehr auf der Korrelierung diverser Aussagen unterschiedlicher Provenienz, die eine Re­ konstruktion der diskursiven Formation ›Geschichtsschreibung‹ ermöglicht. Die folgenden fünf Kapitel sind jeweils vergleichend angelegt und umfassen den gesamten Untersuchungszeitraum (1945-1960). Sowohl die komparative Perspektive als auch die Diachronie ist somit in die einzelnen Kapitel verlagert. Überdies werden jeweils auch Kontinuitäten zur Zeit vor 1945 sichtbar, die demonstrieren, daß das Kriegsende (wie auch das Jahr 1960) keine absolute

rungsmaßnahmen‹ nach 1945 die Universität verlassen mußten, aber dennoch weiterhin in den Fachzeitschriften publizierten, wurden berücksichtigt; dies gilt auch für Beiträge von Nicht-Fach­ historikern wie Karl Dietrich Bracher oder Ueyama Shumpei, die dennoch in der Historikerzunft breit rezipiert wurden. 59 Hierfür wurden Zitierhäufigkeit, Auflagenhöhe (soweit zugänglich) oder Rezensionen als Gradmesser herangezogen. Werken wie etwa Friedrich Meineckes »Katastrophe», Karl Dietrich Brachers »Auflösung« oder Tôyama Shigekis »Meiji Ishin« wird daher besondere Aufmerksamkeit zuteil. Für die japanische Historiographie wurde zudem auf den jährlich in der Zeitschrift Shigaku zasshi veröffentlichten Literaturbericht (kaiko to tenbô), das alle fünf Jahre (erstmals 1949) erschei­ nende Handbuch zur Geschichtswissenschaft (Nihonshi kenkytì nytìmon) sowie die Forschungs­ berichte der Rekishigaku kenkyükai (Rekishigaku no seika to kadai) zurückgegriffen; vgl. auch die Bibliographie in Komentâru, Mô hitotsu no sengo e. 60 Der Begriff der ›Strategie‹ wird hier im Foucaultschen Sinne gebraucht, d.h. nicht als Aus­ druck der Absichten eines autonomen Subjektes, sondern als Produkt eines vorgängig gedachten Diskurses.

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Zäsur der westdeutschen und japanischen Geschichtsschreibung darstellte. Das erste Kapitel hat Einfuhrungscharakter. Die kurze Skizze der Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaft in Deutschland und Japan soll als Kon­ text der Beschäftigung mit der Nachkriegshistoriographie dienen. Dabei soll auch deutlich werden, welcher Stellenwert der (westdeutschen bzw. japani­ schen) Geschichtsschreibung der fünfziger Jahre in der Historiographiege­ schichte üblicherweise eingeräumt wird. Vor diesem Hintergrund nähern sich die vier Hauptteile einer Rekonstruktion argumentativer Strategien und dis­ kursiver Muster der Geschichtsschreibung in der frühen Nachkriegszeit. Alle vier Kapitel umkreisen das zentrale Thema dieser Arbeit, die historiographische »Suche nach der verlorenen Nation«. Die Kapitel 2-4 greifen dabei Diskussionen auf, die unter westdeutschen bzw. japanischen Historikern nach dem Krieg geführt wurden, und sind daher thematisch ausgerichtet. Das zweite Kapitel ist den konkurrierenden Deutungen der modernen Reichsgründung gewidmet, die sowohl in der Bundesrepublik als auch in Japan zu heftigen Auseinandersetzungen führten. In beiden Ländern handelte es sich hierbei um die ersten größeren wissenschaftlichen Kontrover­ sen in der Zunft nach 1945, an denen sich daher die Ansätze einer Reinterpre­ tation der nationalen Geschichte paradigmatisch illustrieren lassen. Sowohl die Bismarck-Kontroverse als auch die Debatten über den Stellenwert der Meiji­ Restauration kreisten dabei um die Bestimmung des Ortes der Nation, die auf ganz unterschiedliche Weise geleistet werden konnte. Im dritten Kapitel steht die Beschäftigung mit derjüngsten Vergangenheit im Mittelpunkt. Der verbreche­ rische C harakter des japanischen Faschismus und des Nationalsozialismus, deren Politik jeweils zu Krieg und Niederlage geführt hatte, schien die eigene Geschichte als Ressource nationaler Selbstbestimmung nachhaltig diskreditiert zu haben. Dennoch war die Geschichtsschreibung in beiden Ländern bemüht, auch das ›dunkle Tal‹ (kurai tanitna) der 1930er und 40er Jahre zu rehabilitieren. Dabei wurde die deutsche und japanische Nation als unschuldiges Opfer von Repression und Schmach präsentiert, denen Faschismus und Nationalsozialis­ mus äußerlich geblieben waren. Der ›wahre Kern‹ der Nation schien auf diese Weise aus den Trümmern der »Katastrophe« weitgehend unbeschadet geborgen werden zu können. Während somit im dritten Kapitel unterschiedliche Deu­ tungsmuster der zurückliegenden Epoche zur Sprache kommen, soll im vierten Kapitel die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Faschismus unter methodischen Gesichtspunkten behandelt werden. In diesem Zusammenhang steht die »Erfindung der Zeitgeschichte«, also die Entwicklung spezifischer Anforderungen an eine Geschichtsschreibung der jüngsten Vergangenheit. Hier soll deutlich werden, daß der besondere C harakter dieser Vergangenheit eine Reihe von thematischen, institutionellen und methodischen Konsequen­ zen erforderlich zu machen schien. Die auf diese Weise definierte ›Zeitge­ schichte‹ sollte unter anderem eine Ausgrenzung und ›Pazifizierung‹ der beun32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

ruhigenden jüngsten Vergangenheit im Kontext einer Spezialdisziplin ermögli­ chen und dadurch eine globale Kontaminierung der nationalen Tradition ver­ hindern. Während bisher vor allem die interne Entwicklung der nationalen Geschich­ te thematisch war, steht imfünften Kapitel die Abgrenzung der Nation nach außen im Vordergrund der Betrachtung. Denn nicht nur die Vergewisserung des ›Eigenen‹, sondern auch die Bestimmung und Abgrenzung des ›Anderen‹ war eine Voraussetzung jeder Konstruktion nationaler Identität. Hier folgt die Analyse auch nicht mehr den zeitgenössischen Kontroversen innerhalb der hi­ storischen Zunft, sondern beleuchtet wie in einem Querschnitt die diskursiven Konstruktionen von ›Ost‹ und ›West‹, die der nationalen Selbstvergewisserung als Referenzpunkte dienten. Zugleich ermöglichten sie die Anbindung an die Realität des Kalten Krieges, dessen Dichotomie von Ost und West nicht selten auch die Interpretation der Vergangenheit strukturierte. Auch diese Operation war Bestandteil der Reformulierung nationaler Identität in der westdeutschen und japanischen Geschichtsschreibung nach 1945. In einem knappen Schlußka­ pitel sollen einzelne Thesen der vier Hauptkapitel noch einmal aufgenommen und zusammenfassend gewürdigt werden.

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I. Positionsbestimmung. Moderne Geschichtsschreibung in Deutschland und Japan - ein vergleichender Überblick

1. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Die Geschichtswissenschaft der fünfziger Jahre Die Entwicklung der westdeutschen und japanischen Geschichtsschreibung in den 1950er Jahren ist nur selten Gegenstand eigener Untersuchungen gewor­ den; dennoch herrscht in der Forschung über ihren Stellenwert breiter Kon­ sens. Und dieser Stellenwert in der jeweiligen Geschichte der Disziplin könnte unterschiedlicher kaum sein. In der Bundesrepublik wird die Geschichts­ schreibung der fünfziger Jahre zumeist als Wurmfortsatz behandelt, als gleich­ sam letzte Ehrenrunde eines historiographiegeschichtlichen Auslaufmodells. Die mittlerweile brüchig gewordenen Traditionen des Historismus seien ledig­ lich fortgeführt worden, ohne daß ihnen neues Leben eingehaucht worden wäre: die Hegemonie der Politikgeschichte blieb unangetastet, staatsorientiert und dem Dogma vom Primat der Außenpolitik unterworfen. Daneben gab es in der Nachfolge Meineckes eine geistesgeschichtliche Tradition sowie einige wenige Ansätze zu einer (häufig an Jacob Burckhardt orientierten) Kultur­ geschichte. Gesellschaftliche Themen und Problemfelder hingegen blieben genauso wie die Subdisziplin der Wirtschaftsgeschichte marginalisiert. Die Ge­ schichtswissenschaft habe sich, darüber herrscht Einigkeit, auf die Thematisie­ rung ausgewählter Wirklichkeitsbereiche und bei der Darstellung auf eine un­ begriffliche Sprache beschränkt und sei im Ganzen politisch wie methodisch konservativ geblieben. Für die Geschichte der Geschichtswissenschaft waren die Nachkriegsjahre bis 1960 mithin, im gleichlautenden Urteil der Historiker, eine Zeit der Stagna­ tion, der Windstille, und im besten Fall eine Art Vorbereitungszeit; die Rede war von einer »eigentümlichen Inkubationsphase von 15 Jahren«, 1 die lediglich als Vor- oder Nachgeschichte begriffen wurde. Die Historiographie der fünfziger Jahre wurde daher in der Literatur nur wenig behandelt. Das Augenmerk lag auf der Beschäftigung mit der historistischen Geschichtsschreibung vor dem Er1 WehUr, Lage, S. 23.

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sten Weltkrieg. Von der neueren Historiographie hat vor allem der takeoff der Sozialgeschichte seit der Fischer-Kontroverse oder spätestens seit Ende der sechziger Jahre sowie seit kurzem auch die Geschichtsschreibung im Dritten Reich Aufmerksamkeit gefunden. Die Entwicklung der Disziplin in den fünf­ ziger Jahren hingegen blieb - abgesehen von Winfried Schulzes Grundlagen­ studie - im Windschatten, ein Stiefkind der Historiographiegeschichts­ schreibung. 2 In Japan hingegen wird die Geschichtsschreibung der Nachkriegsdekade als Ablösung eines im Dienste des Staates stehenden, nicht selten nationalistisch gefärbten Paradigmas gefeiert, als Überwindung eines zunehmend in positivistischem Empirismus erstarrenden Historismus. An dessen Stelle sei eine sozi­ alwissenschaftlich informierte, auf Analyse und Erklärung zielende, zudem politisch kritische Geschichtsschreibung getreten. Denn nach der Kapitulation 1945 hatte sich die marxistische Historiographie rasch durchgesetzt und war zum dominierenden Deutungsmuster und zur maßgeblichen Methode der Geschichtswissenschaft geworden. Zwar überlebte an vielen Universitäten die traditionelle (und das hieß: historistische) Form der Geschichtsschreibung, aber sie büßte ihren Status als Leitbild der Disziplin und der Deutung der japa­ nischen Geschichte fast vollständig ein. Der Historische Materialismus war gleichsam über Nacht zur stärksten Kraft geworden, und die historistische Po­ litikgeschichte führte nur mehr eine Nischenexistenz. Nicht selten wurde die­ ser Paradigmenwechsel auch zur Schwelle zwischen einem vorwissenschaftli­ chen Umgang mit der Vergangenheit und einer objektiven Wissenschaft von der Geschichte stilisiert. 3 In Japan hatte sich, mit anderen Worten, nach 1945 der Paradigmenwechsel vollzogen, dessen Ausbleiben in der Bundesrepublik (aus sozialgeschichtlicher Perspektive) beklagt wurde. Die japanische Variante der Sozialgeschichte in den fünfziger Jahren war allerdings stark marxistisch geprägt und stand sogar in enger Verbindung zur Kommunistischen Partei. In dieser Hinsicht unterschied sie sich deutlich von der (späteren) westdeutschen Sozialgeschichte, die sich ja ihrerseits vom Marxismus ostdeutscher Provenienz distanzierte. Aber wenn man von diesen gewiß nicht zu unterschätzenden Differenzen einmal abstra­ hiert: die Struktur- und sozialgeschichtliche Ausrichtung der Geschichtsschrei­ bung, die kritische Perspektive auf die eigene Geschichte, die Betonung des politischen Standortes des Historikers, die Ablösung des historistischen Verste2 Schulze, Geschichtswissenschaft. Ausführlichere Behandlung erfahrt die Geschichtsschrei­ bung der fünfziger Jahre auch bei Blanke, Historiographiegeschichte; Faulenbach, Historistische Tradition; Iggers, Geschichtswissenschaft; H. Mommsen, Haupttendenzen; ders., Betrachtungen; Lehmann u. Melton, Paths of Continuity; Schulin, Geschichtswissenschaft. 3 Vgl. Tòyama, Sengo no rekishigaku; Inumaru, Sengo Nihon; Kan Takayuki, Sengo seishin; Nagahara, Rekishigakujosetsu; Naruse Osamu, Sekaishi no ishiki to riron; Nishikawa, Rekishigaku to ›kindai‹; Kano, ›Torishima‹.

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hens- durch ein sozialwissenschaftliches Erklärungsparadigma und schießlich auch die Konzeptualisierung der eigenen Geschichte als ›Sonderweg‹: das wa­ ren gemeinsame Charakteristika einer sozialhistorischen Wende, die sich in der Bundesrepublik in den späten sechziger Jahren, in Japan hingegen bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit vollzogen hatte. 4 Diese knappe Skizze illustriert bereits die gewaltigen Unterschiede, die zwi­ schen der bundesdeutschen und der japanischen Geschichtsschreibung der fünfziger Jahre bestanden. In methodischer und thematischer Hinsicht, in Be­ zug auf die Rolle der Nachbarwissenschaften, aber auch politisch handelte es sich um zwei konkurrierende, ja gegensätzliche Paradigmen der Geschichts­ wissenschaft. Die folgenden Kapitel werden allerdings demonstrieren, daß un­ geachtet dieser eklatanten Unterschiede eine Reihe von parallelen Themen, Interpretationsmustern und diskursiven Strategien ausgemacht werden kön­ nen, die gleichsam noch ›hinter‹ den politischen und methodischen Differen­ zen lagen. Zudem darf nicht übersehen werden, daß der Begriff des Paradigmas dazu tendiert, die inneren Gegensätze einer Disziplin zu nivellieren. Zwar ließ sich die Vorherrschaft einer späthistoristischen Politikgeschichte in der Bun­ desrepublik und einer marxistischen Sozialgeschichte in Japan in den fünfziger Jahren schwerlich bestreiten; aber daneben gab es in beiden Ländern konkur­ rierende Ansätze, wenn diese sich auch zumeist an die Peripherie des Faches gedrängt sahen. Diese alternativen Konzepte sollen in den folgenden Kapiteln ebenfalls Berücksichtigung finden. Hier aber soll nun zunächst ein kurzer Überblick verdeutlichen, wie die Geschichtsschreibung der Nachkriegsjahre in der deutschen und japanischen Historiographiegeschichte eingeordnet wird.

2. Die deutsche Geschichtsschreibung Die Geschichte der deutschen Historiographie wird in der Regel in ein Phasen­ modell gekleidet, demzufolge der Dreischritt von Aufklärungshistorie, Histo­ rismus und schließlich Historischer Sozialwissenschaft einen säkularen M o ­ dernisierungsprozeß der Geschichtsschreibung darstellte. Diese Sicht, die vor allem von Georg Iggers und Jörn Rüsen (und dessen Schülern, etwa Horst 4 In der westlichen Literatur ist der tiefgreifende Einschnitt in der Entwicklung der japanischen Historiographie bisweilen völlig unbemerkt geblieben. Vgl. etwa das Japan-Kapitel bei Bosworth, Explaining Auschwitz and Hiroshima. Nachdem Bosworth die kritische, sozialgeschichtliche ›Wende‹ der Nachkriegsgeschichtsschreibung in Frankreich, England, Italien, der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland beschrieben hat, kommentiert er die Entwicklung der japa­ nischen Geschichtswissenschaft wie folgt: »Japanese contemporary history does, as a consequence, have one Special characteristic: the paradigm shift, described in this book as occurring in all the other... societies, has never happened in Japan« (Ebenda, S. 186). Vgl. dazu die kritische Rezension von Tanaka Yuki.

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Walter Blanke) propagiert wird, hat inzwischen beinahe kanonischen Status erhalten. 5 Diese drei Entwicklungsphasen werden im übrigen auch in der Historiographie anderer europäischer Länder beobachtet. Dabei gilt es als Be­ sonderheit, daß in Deutschland eine historistische Geschichtsschreibung weit länger ihre methodische Vorrangstellung halten konnte als beispielsweise in England oder Frankreich. Der Historismus wird dabei als Gegenprogramm zur Geschichtsschreibung der Aufklärungszeit begriffen, die durch ein Entwicklungs- und Fortschritts­ denken sowie durch naturrechtliche Konzeptionen gekennzeichnet war. Das historistische Geschichtsverständnis hingegen richtete sich gegen die Suche nach Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Fortschritts und betonte stattdes­ sen die Individualität alles historischen Geschehens. 6 Die Ablösung der Aufklä­ rungshistorie durch den Historismus ging Hand in Hand mit dem Prozeß der Institutionalisierung der Geschichtsschreibung alsGeschichtsuississenchaftin der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Einrichtung historischer Fakultäten, spezialisierter Lehrstühle sowie die Veröffentlichung von Handbüchern und methodischen Einfuhrungswerken ermöglichte die »Verwissenschaftlichung« der Geschichte als Disziplin. Zugleich stabilisierte diese Institutionalisierung das historistische Paradigma und ermöglichte seine lange Persistenz: nach der gängigen Periodisierung währte die Epoche des Historismus bis in die 1960er Jahre, unterteilt in eine Blütezeit im 19. Jahrhundert und eine Phase der lang­ samen (zumindest: methodischen) Agonie seit den 1880er Jahren. 7 Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen haben die »disziplinäre Matrix« des Historismus be­ schrieben, die folgende Elemente enthielt: a) das Vertrauen auf eine wissen­ schaftliche Objektivität, die aber erst durch den Rückgriff auf einen Standpunkt in der Gegenwart des Historikers ermöglicht werde; b) eine idealistische Ge­ schichtskonzeption, die Ideen als Träger des historischen Geschehens betrach­ te; c) die historistische Methode, die die in den Ereignissen der Vergangenheit verborgene Kontinuität rekonstruiere; d) die epische Erzählung als narrative Form; e) und schließlich das Ziel der Konstruktion nationaler Identität, in dem sich der politische Gehalt der Geschichtsschreibung ausgedrückt habe. 8 Seit den 1890er Jahren, auch darüber herrscht Konsens, habe die ›Krise des Historismus‹ heftige Methodendiskussionen ausgelöst und das Selbstverständ­ nis des Faches unterminiert. Als die größte dieser Herausforderungen wird ge­ meinhin die Kulturgeschichtsschreibung von Karl Lamprecht angesehen, der 5 Vgl. etwa Iggers, Geschichtswissenschaft; Jaçger u. Rüsen, Historismus; Blanke, Historiogra­ phiegeschichte. 6 Die Gegenüberstellung von Aufklärungshistorie und Historismus ist jedoch nicht absolut. Vgl. etwajaeger u. Rüsen, Historismus, S. 20. 7 Vgl. etwa Blanke, Historiographiegeschichte, S. 668. 8 Jaeger u. Rüsen, Historismus, S. 41-52. Zum Begriff der »disziplinären Matrix« siehe Rüsen, Historische Vernunft.

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durch das Aufgreifen sozialhistorischer Probleme und die Suche nach histori­ schen Gesetzmäßigkeiten und kausalen Verknüpfungen die Geschichtsschrei­ bung in eine Gesetzeswissenschaft verwandeln wollte. Der erbitterte Wider­ stand der Zunft verhinderte, daß der kulturgeschichtliche Ansatz sich zu einer Alternative des herrschenden historistischen Paradigmas entwickelte. 9 Nach der Abwehr dieses methodischen Reformprojektes habe die Vorherrschaft der historistischen Politikgeschichte bis in die 1960er Jahre hinein beinahe unver­ ändert fortbestanden. Zwar hatte es immer wieder ›Querdenker‹ gegeben, die methodische oder politische Alternativen zum Konservativismus der Zunft formulierten. Otto Hintze gehörte dazu, aber auch Veit Valentin, Gustav Mayer oder Eckart Kehr. Aber ihre Anregungen blieben doch Positionen von »Außen­ seitern«, die die Bastionen des herrschenden Paradigmas nicht zu durchbre­ chen vermochten. Die Geburt der Sozialgeschichte, so lautet die gängige Auf­ fassung, kündigte sich in diesen ›Vorboten‹ an, aber sie wurde noch nicht eingeleitet. 10 Auch die beiden politischen Einschnitte von 1933 und 1945 veränderten die historiographische Landschaft, wenn man dem herrschenden Deutungsmuster folgt, nicht wesentlich. Das Dritte Reich etwa wurde lange Zeit nicht als Ein­ schnitt in der Geschichte der Disziplin betrachtet. Diese Einschätzung ent­ sprach nicht zuletzt dem Selbstverständnis der Beteiligten. Gerhard Ritter etwa war sich 1950 sicher, daß »heute im Ausland die Tiefe der Einwirkung national­ sozialistischer Gewaltpolitik und Propaganda auf die deutsche Geschichtswis­ senschaft überschätzt« wird. Das Objektivitätspostulat habe die Mehrheit der Historiker vor ideologischer Verblendung und der Zunft ihren wissenschaftli­ chen Charakter bewahrt. 11 Zwar mußte man bei bestimmten Themen eine er­ höhte Sensibilität für die politischen Implikationen der Geschichtsschreibung an den Tag legen. Der Bauernkrieg oder etwa die Rolle Karls des Großen waren neuralgische Punkte, deren Thematisierung kaum ohne politische Rücksicht­ nahme geschehen konnte. 12 Zudem waren Einschränkungen und Gängelun­ gen sowie Eingriffe in die organisatorische Struktur der Geschichtswissen­ schaft hinzunehmen. So sah sich Friedrich Meinecke 1935 gezwungen, die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift an das Parteimitglied Klaus

9 Vgl. etwa Haas, Kulturforschung; C hickering, Lamprecht; Schorn-Schütte, Lamprecht. 10 Vgl. etwa das Kapitel »Die Außenseiter des Historismus« inJaeger u. Rüsen, Historismus, S. 113-140. Vgl. auch Iggers, Geschichtswissenschaft. Auch die neunbändige Reihe über Deutsche Historiker, hg. von Hans-Ulrich Wehler, ist diesem Geschichtsbild verpflichtet. Über die Beto­ nung der Außenseiterpositionen darf aber auch die innere Diversifizierung des Historismus nicht übersehen werden; als ein wichtiges Beispiel wäre die Ideengeschichte Friedrich Meineckes zu nennen; vgl. Wehler, Lage, S. l5f. 11 Gerhard Ritter, Geschichtswissenschaft, S. 133. Vgl. etwa auch Rothfels, Geschichtswissen­ schaft. 12 Vgl. Schönwälder, Historiker und Politik, S. 75ff.

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Alexander von Müller abzugeben. Und die Umwandlung der Historischen Reichskommission in das von Walter Frank geleitete »Reichsinstitut für Ge­ schichte des neuen Deutschland« stellte den ambitioniertesten Versuch dar, die Zunft im Sinne eines nationalsozialistischen Geschichtsbildes zu reformie­ ren. 13 Von der breiten Mehrheit der Historiker, so lautete lange Zeit die übliche Einschätzung, wurden diese Interventionen jedoch mit großer Skepsis aufge­ nommen. Die Anpassung an das politische System habe nur selten den Grad geringfügiger und an der Oberfläche bleibender Adaption überschritten. Insbe­ sondere für die vorherrschende historistische Ausrichtung der Geschichtswis­ senschaft habe der Nationalsozialismus somit keine ernste Herausforderung dargestellt. 14 Im Gegenteil: die gewaltsame Vertreibung der jüdischen Histori­ ker von den deutschen Universitäten habe noch dazu beigetragen, die Homo­ genität der Zunft zu erhöhen. Denn viele der nun Vertriebenen gehörten zu jenen ›Außenseitern‹, die den politischen und methodischen Konsens in Frage gestellt hatten. Ihre erzwungene Emigration eliminierte zugleich ein Erneue­ rungspotential und stabilisierte dadurch die andauernde Vorherrschaft des hi¬ storistischen Paradigmas. 15 Unter dem Blickwinkel einer vornehmlich an der Rekonstruktion methodi­ schen ›Fortschritts‹ interessierten Fragestellung erschien die Geschichtsschrei­ bung im Dritten Reich somit als Produkt der späthistoristischen Ausrichtung des Faches und wurde nur wenig untersucht. Anstelle einer Einordnung der Historiographie in den politischen Kontext der Zeit und der Überschneidun­ gen von wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Diskurs stand vielmehr die Frage im Vordergrund, ob der historistischen Methode der deutschen Ge­ schichtswissenschaft eine Mitschuld an der mangelnden Immunität der deut­ schen Gesellschaft gegenüber dem Nationalsozialismus nachzuweisen sei. Vor allem Georg Iggers hat den Zusammenhang der methodischen Prämissen des Historismus und der Durchsetzung eines diktatorischen Regierungssystems in Deutschland in den Mittelpunkt seiner Analysen gestellt.16 Erst seit Ende der 1980er Jahre ist neben den Implikationen der Methode auch die politische Verstrickung der deutschen Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in den Blick der Forschung geraten. Dabei wird nun die enge Verbindung von Geschichtsschreibung und Ideologie, ja von Geschichtsschrei13 Vgl. Heiber, Walter Frank. 14 Vgl. etwa Franz, Geschichtsbild, S. 107 (»Die Geschichtswissenschaft ist durch den Natio­ nalsozialismus und sein Geschichtsbild kaum beeinflußt worden.«); Breisach, Historiography, S. 382; Eruksen, Kontinuitäten, S. 222; Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 37f. 15 So etwa Heinz Wolf, Deutsch-jüdische Emigrationshistoriker. 16 Iggers sah in der Auffassung vom Staat als Selbstzweck, im Wertrelativismus und in der Ablehnung des begrifflichen Denkens die entscheidenden Grundannahmen der historistischen Methode. Vgl. Iggers, Geschichtswissenschaft, S. 13-18. Vgl. dazu auch die partielle Exkulpation des Historismus durchjaeger u. Rüsen, Historismus, S. 95-112.

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bung und der nationalsozialistischen Politik in den Vordergrund gerückt. Zwi­ schen der machtstaatlichen Fokussierung der historistischen Geschichtsschrei­ bung und der nationalsozialistischen (vor allem: Außen-) Politik habe es eine Reihe von Ansatzpunkten für Zustimmung und Unterstützung gegeben. 17 Vor allem aber in der florierenden Ost- und Westforschung sei die Übereinstim­ mung mit den politischen Zielen des Regimes häufig weitergegangen und habe kooperierenden, legitimierenden C harakter besessen. Die Historiker erschie­ nen aus dieser Perspektive nicht als distanzierte Bewohner eines akademischen Elfenbeinturmes, sondern bisweilen geradezu als »Vordenker« der nationalso­ zialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik. 18 Peter Schöttler etwa spricht von der »Sprache des Völkermords«, die manches Werk der Ost- und Westforschung durchzog; aber auch Arbeiten von Historikern wie etwa Ger­ hard Ritter müßten einem breiten Korpus von »Einmarschhistorie« zugerech­ net werden, die die nationalsozialistische Expansionspolitik nicht nur begrüßt, sondern ihr auch intellektuell den Boden bereitet habe.19 Ungeachtet aller politischen Einschnitte hatte das historistische Geschichts­ verständnis jedoch auch nach 1945 seine Gültigkeit nicht verloren. Bis in die sechziger Jahre hinein blieb die Politik- und Ereignisgeschichte die vorherr­ schende Form der universitären Geschichtsschreibung. Zumeist wird die seit Anfang der sechziger Jahre einsetzende Fischer-Kontroverse, die sich an den Thesen von der deutschen Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Welt­ krieges entzündete, als Wendepunkt betrachtet. Zwar ging Fischers Argumen­ tation methodisch nicht wesentlich über die etablierten Konventionen der Zunft hinaus; in Bezug auf die säkulare Interpretation der modernen deutschen Geschichte aber stellte die Fischer-Kontroverse einen tiefen Einschnitt dar, der das überlieferte Geschichtsbild der Fachhistoriker erschütterte. Selbst wenn also die Debatte über Fischers Buch »Griff nach der Weltmacht« noch weitge­ hend innerhalb herkömmlicher Bahnen verlief, so herrscht doch Einigkeit, daß sie den Grundstein für einen Paradigmenwechsel legte, der in die zweite Hälfte der sechziger Jahre fiel. Im Zuge der mit der Expansion der Universitäten ein­ setzenden rapiden Stellenvermehrung und des begleitenden generationellen Wandels der Historikerschaft, begünstigt aber auch durch den veränderten po­ litischen Kontext am Ende der sechziger Jahre, setzte sich nun eine sich als

17 Vgl. Schönwälder, Historiker und Politik; Volkmann, Deutsche Historiker; Werner, Das N S Geschichtsbild; Faulenbach, Die ›nationale Revolution‹; Ursula Wolf, Litteris et Patriae. 18 Vgì.Aly u. Heim, Vordenker; Oberkrome, Volksgeschichte; Burleigh, Germany; Roth, Heyd­ richs Professor; Schöttler, ›Westforschung‹; Haar, Historiker im NS-Regime. 19 Schöttler, ›Westforschung‹, S. 229, 231. Der politische Einschnitt von 1945 hat dann eine allgemeine Distanzierung, wenn nicht gar Leugnung, dieser ideologischen Tendenzen nach sich gezogen. Inwiefern ein imperialistisches Element aber auch in einigen Texten der Nachkriegs­ historiographie noch anzutreffen war, wird unten wiederholt zur Sprache kommen.

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Historische Sozialwissenschaft verstehende Geschichtsschreibung durch, die die Dominanz des ereignisgeschichtlichen Historismus beendete. 20 Auch an dieser Vorstellung einer »irreversiblen Zäsur«, ' die auf den Anfang der sechziger Jahre zu datieren sei, sind jedoch durch die Forschung der zurückliegenden Dekade, beginnend mit Winfried Schulzes grundlegender Studie über die »Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945«, vorsichtige Korrekturen angebracht worden. Vor allem die »Volksgeschichte«, die mögli­ cherweise bereits »essentielle Grundlagen einer späteren Sozialgeschichte anti­ zipiert« hatte, stand im Mittelpunkt einer Debatte über den Status methodi­ scher Innovationen während des Dritten Reiches und der historiographischen Kontinuitäten zur Historischen Sozialwissenschaft der sechziger Jahre. 22 Die Volksgeschichte hatte bereits ein Gegenprogramm zur vorherrschenden histo­ ristischen Politikgeschichte entworfen und dabei auch methodische Anleihen bei den systematischen Nachbarwissenschaften - der Soziologie, der Volkskun­ de, der Demographie, aber auch der Landesgeschichte - gemacht. Auf diese Weise versuchten Historiker wie Hermann Aubin, Otto Brunner oder Werner Conze Engpässe historistischer Ereignisgeschichte zu überwinden; trotz dieser methodischen Neuansätze war jedoch die politische Grundhaltung der mei­ sten Volkshistoriker (im Gegensatz zu den späteren Sozialhistorikern) von ei­ ner tiefen Modernitätsskepsis geprägt.23 Unabhängig von der Beurteilung im einzelnen ist dabei deutlich geworden, daß die Sozialgeschichte nicht als ein voraussetzungsloses Produkt der sechziger Jahre zu betrachten ist und der Fra­ ge, ob sie nicht auch in der Volksgeschichte der dreißiger Jahre eine ihrer Wur­ zeln hatte, nicht ausweichen kann.24 In der sowjetischen Zone und dann in der DDR, das nur in Parenthese, wurde spätestens seit 1948 auf massiven staatlichen Druck die Geschichtswis­ senschaft auf Methode und Forschungsagenda des Historischen Materialismus eingeschworen. Die meisten Vertreter der traditionellen ›bürgerlichen‹ Ge­ schichtsschreibungverließen (mehr oder weniger freiwillig) die Universitäten und wurden bisweilen durch Parteifunktionäre ohne fachwissenschaftliche Ausbildung ersetzt. Auf diese Weise wurde nicht nur dem ›imperialistischen 20 Vgl. Berghahn, ›Fischer-Kontroverse‹; Bosworth, Explaining Auschwitz and Hiroshima, S. 53f.; Geiss, Fischer-Kontroverse; Iggers, New Directions; Jäger, Historische Forschung; Moses, Poli­ tics; Gerhard A. Ritter, Sozialgeschichte; Schäfer, Modernisierung der Vergangenheit; Wehler, Lage. 21 Wehler, Lage, S. 13. 22 Oberkrome, Geschichte, Volk und Theorie, S. 111. Vgl. zur Frage der »Innovation« auch Verf., Review Schöttler. 23 Vgl. Oberkrome, Volksgeschichte; den., Reformansätze ;Kixfea, Werner Conze;ders., Ideologi­ sche Regression; Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 281-301. 24 Darüber hinaus wäre einmal eingehend zu untersuchen, in welchem Umfang die sozialge­ schichtlichen Anregungen durch die deutschen Emigrationshistoriker wie etwa Hans Rosenberg, die üblicherweise als Destillat »amerikanischen Erfahrungen behandelt werden, bereits in der deut­ schen Geschichtswissenschaft der späten Weimarer Republik angelegt waren.

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Geschichtsbild‹ der Bundesrepublik eine kritische Sicht auf die deutsche Ge­ schichte gegenübergestellt, sondern auch die historistische Politikgeschichte durch eine marxistische Sozialgeschichte substituiert. Durch die seit 1953 pu­ blizierte »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« und spätestens seit der Grün­ dung einer separaten ›Deutschen Historiker-Gesellschaft‹ 1958 hatte sich die DDR-Historiographie auch institutionell verfestigt und von der westdeut­ schen Geschichtsschreibung emanzipiert. Allerdings war der Paradigmen­ wechsel hier nicht allein das Resultat fachinterner Auseinandersetzungen, son­ dern - und das unterschied die Geschichtsschreibung der DDR von ihren Pendants in Japan und der Bundesrepublik - auch durch staatliche Repression verfügt und durchgesetzt. 25 Dieser notwendig skizzenhafte Überblick erklärt die relativ geringe Aufmerk­ samkeit, die der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der fünfziger Jahre in der Forschung zuteil geworden ist. Die Geschichtsschreibung der Nach­ kriegsjahre blieb auf den Status eines Appendix beschränkt und galt gleichsam als letzte Phase des historiographischen Ancien régime; selbst wenn der Para­ digmenwechsel zu einer sozialwissenschaftlichen Geschichtsschreibung (von einigen Autoren) früher - nämlich mit der Volksgeschichte der dreißiger Jahre - angesetzt wurde, erschienen die fünfziger Jahre lediglich als eine Epoche der Restauration. Zwar wurde das Jahr 1945 von den Zeitgenossen durchaus als (auch historiographischer) Bruch empfunden, wie die zahlreichen Forderun­ gen nach einer grundlegenden Revision des Geschichtsbildes unmittelbar nach der ›Katastrophe‹ unter Beweis stellen. Bald jedoch wichen diese Rufe nach methodischer und inhaltlicher Reform wieder einer Beschwörung der ruhm­ reichen Traditionen des Faches.26 Auch in der Nachkriegszeit blieb die Ausrich­ tung der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft historistisch. Dennoch handelte es sich bei der Geschichtsschreibung dieser Jahre nicht um einen monolithischen Block, der erst durch die Entwicklung seit der Fi­ scher-Kontroverse korrodiert wurde. Vielmehr war auch die historiographi­ sche Landschaft der fünfziger Jahre von widerstreitenden Positionen und kon­ kurrierenden Ansätzen geprägt. Die vorherrschende Richtung blieb nach wie vor ein politisch konservativer Historismus, wie er - in je unterschiedlicher Ausprägung-von Gerhard Ritter, Siegfried August Kaehler, Friedrich Meinek­ ke oder Hans Herzfeld vertreten wurde. Die thematische Ausrichtung konnte dabei durchaus variieren; eine am Nationalstaat orientierte Politikgeschichte, 25 Vgl. zur Geschichtswissenschaft der DDR etwa Fischer, Weg; ‹ders., Neubeginn; ders. u. Heydemann, Geschichtswissenschaft; Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 183-200; Dorpalen, Ger­ man History;Jarausch u. Middell, Erdbeben; Sabrow u. Walther, Forschung. 26 Diese Rückbesinnung auf traditionelle Positionen als Reaktion auf die Krise des Geschichts­ bewußtseins nach 1945 hat Jörn Rüsen am Beispiel der Arbeiten Theodor Schieders beschrieben; vgl. Rüsen, Kontinuität.

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wie sie Gerhard Ritter propagierte, war nicht mehr jedermanns Sache. Den­ noch repräsentierte diese (in sich heterogene) Gruppierung die Mehrheit der Historiker und blieb die mächtigste Fraktion in der Zunft. Diese Dominanz wurde durch Ritters Vorsitz im Historikerverband (1948-53) auch symbolisch unterstrichen. Als ihr stärkster Konkurrent trat in den frühen Nachkriegsjahren eine christlich (und häufig katholisch) inspirierte Geschichtsschreibung auf, die sich explizit gegen das borussisch-nationale Geschichtsbild von Leuten wie Ritter wandte. Franz Schnabel war zweifellos ihr bekanntester Vertreter, aber auch Alfred von Martin, Ulrich Noack, Franz Herre oder Hans und Karl Buch­ heim könnte man dieser Richtung zuordnen. Politisch und methodisch nicht weniger konservativ als ihre Opponenten auch, galt ihr süddeutsch-föderales Geschichtsbild dennoch eine Zeitlang als liberale Alternative zum machtstaatli­ chen Denken der traditionellen Geschichtswissenschaft. Jenseits dieses Gegensatzes gab es aber auch eine Reihe weiterer Ansätze mit jeweils eigener Agenda, von denen hier nur einige genannt seien: etwa die neue Disziplin der Zeitgeschichte, die in München auch in einer eigenen For­ schungseinrichtung institutionalisiert wurde; vor allem aber die Versuche, durch methodische Anleihen bei den systematischen Nachbarwissenschaften zu einem analytischeren Verständnis der modernen Gesellschaft zu gelangen. Hier müßte die politikwissenschaftliche Strukturgeschichte Karl Dietrich Bra­ chers genannt werden; oder dann, stärker von der Soziologie beeinflußt, die Sozial- und Strukturgeschichte, wie sie etwa Werner Conze in Heidelberg pro­ pagierte. Aber auch in Tübingen (Rudolf Stadelmann) oder Berlin (Hans Ro­ senberg, Otto Busch) gab es Ansätze eines neuen sozialgeschichtlichen Para­ digmas. Daneben gab es die landesgeschichtliche Tradition und die auf das Territorium der Bundesrepublik transferierte Ostforschung, die nun in Göttin­ gen und Marburg ihre Zentren hatte. Auch eine Reihe von Fachvertretern, die im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen nach dem Krieg von den Uni­ versitäten vertrieben worden waren (wie Erwin Hölzle, Heinrich von Srbik, Wilhelm Mommsen, Gustav Adolf Rein), gehörten weiterhin zum historiogra­ phischen Spektrum der frühen Bundesrepublik. An diese Vielfalt der Perspek­ tiven, die hier nur angedeutet ist, soll auch in den folgenden Abschnitten wie­ der erinnert werden. 27

27 Die hier angedeuteten Gruppierungen ließen sich allerdings nicht trennscharf unterteilen, sondern überschnitten sich häufig. Ein ›katholisches‹ Geschichtsbild sicherte nicht vor Entnazifi­ zierungsmaßnahmen (etwa Fritz Valjavec), und auch aus einer traditionell historistischen Position heraus konnte strukturgeschichtlich argumentiert werden (etwa Theodor Schieder). Die Bünde­ lung zu unterschiedlichen Fraktionen entsprach zwar bisweilen auch dem Selbstverständnis der Beteiligten, aber sie dient hier vor allem der Illustration der Heterogenität des disziplinären Feldes.

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3. Die japanische Geschichtsschreibung Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Japan wird die Entwicklung der modernen Geschichtsschreibung üblicherweise als Dreischritt beschrieben, und auch hier heißen die Etappen Aufklärungshistorie, Historismus und Hi­ storische Sozialwissenschaft. 28 Die Ähnlichkeiten dieses Verlaufsschemas, das sollte nicht übersehen werden, waren allerdings nur partiell auf eine gleichge­ richtete, der Geschichtswissenschaft inhärente Tendenz zur ›Modernisierung‹ zurückzuführen. 29 Folgt man dennoch einmal der gängigen Periodisierung der Historiographiegeschichte, so begann die moderne Geschichtsschreibung in Japan mit der aufklärerischen Historiographie in den 1870er und achtziger Jah­ ren, die dann im Rahmen der Institutionalisierung von einem konservativen, sich an Ranke anlehnenden Historismus abgelöst wurde. Die Vorherrschaft dieses politikgeschichtlich-empiristischen Paradigmas währte bis 1945, bevor sich die marxistische Sozialgeschichte auf breiter Front durchsetzte. Im folgen­ den sollen diese drei Phasen der modernen japanischen Geschichtsschreibung kurz in ihren Grundzügen skizziert werden. Í868-1887: Die Aufklärungshistorie (keimô shigaku) gilt auch in Japan als Beginn der modernen Geschichtsschreibung, und nicht anders als in Deutsch­ land betrachtete auch in Japan die sozialwissenschaftliche Geschichtsschrei­ bung der Nachkriegszeit das aufklärerische Fortschrittsdenken als Vorläufer einer ›kritischen‹ (und wiederum aufklärerischen) Gesellschaftsgeschichte. Der Historismus erschien so, aus der Perspektive seiner Überwindung, als ein Interregnum, dem die Geschichtswissenschaft ihre institutionelle Struktur und die Methode der Quellenkritik zu verdanken hatte. Allerdings war die Aufklä­ rungshistorie in den 1870/80er Jahren in Japan nur eines unter mehreren kon­ kurrierenden Paradigmata - wenn auch das einzige, das sich für eine Genealo­ gie der späteren Sozialgeschichte eignete - und seine Privilegierung ist somit 28 Über die vormoderne japanische Geschichtsschreibung informieren Beasley u. Pulleyblank, Historians; Brownlee, Traditions; Goch, Entstehung; Noguchi, Edo no rekishika; Matsumoto Yoshio, Nihon shigakushi; Ôkubo, Nihon kindai shigaku, S. 1-61; Sakamoto, Nihon no shüshi. 29 Die frappierenden Parallelen im säkularen Entwicklungsprozeß der Geschichtswissenschaft waren nicht nur das Ergebnis einer internen Rationalisierung des Umgangs mit der Vergangenheit. Die Ähnlichkeiten der Paradigmenfolge in der deutschen und japanischen Historiographie waren nicht nur das Produkt einer der Geschichtsschreibung (über alle kulturellen Grenzen hinweg) innewohnenden Logik. Zwei weitere Faktoren sind bei einer Bewertung dieser Gemeinsamkeiten zu berücksichtigen; zum einen sind die Parallelen der Historiographiegeschichte partiell von einem modernisierungstheoretischen Entwicklungsmodell der Geschichtsschreibung induziert. U n d zum anderen resultieren sie aus der Tatsache, daß die moderne Geschichtsschreibung kein autar­ kes nationales Unternehmen mehr ist. Es gibt sozusagen, um hier Lenins Formulierung einmal abzuwandeln, keine ›Geschichtswissenschaft in einem Land‹. Auch die moderne japanische Histo­ riographie stand im engen Austausch mit der europäischen Geschichtswissenschaft und war über­ dies, etwas überspitzt formuliert, ein Abkömmling des deutschen Historismus. Vgl. hierzu auch Verf., World History.

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bereits das Ergebnis einer ideologischen Sicht auf die Wissenschaftsgeschich­ te.30 In den 1870er und 1880er Jahren, also den beiden Dekaden zwischen der Gründung des Nationalstaates (1868) und der Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft an der Universität (seit 1887), lassen sich in der Haupt­ sache zwei Richtungen unterscheiden: einerseits die regierungsamtliche Geschichtsschreibung, die eine offizielle Geschichte Japans mit dem Schwer­ punkt auf der dynastischen Geschichte verfaßte; und im Kontrast dazu die op­ positionelle Aufklärungshistorie, die aus regierungskritischer Perspektive Bei­ träge zu einer Geschichte des zivilisatorischen Fortschritts des japanischen Volkes leistete. Dieser Gegensatz zwischen offizieller (kan) und kritischer (min) Geschichtsschreibung blieb auch für die weitere Entwicklung der Historiogra­ phie bestimmend. 31 Diese beiden Richtungen sollen hier kurz skizziert werden. a) Die regierungsamtliche Historiographie der Meijizeit griff auf die aus China übernommene Praxis der offiziellen Reichsgeschichtsschreibung im Auftrag des Herrschers zurück. Diese Tradition, die auch Quellensammlungen und Annalistik umfassen konnte, stellte das Modell für das Amt für Geschichts­ schreibung dar, das bald nach der Meiji-Restauration gegründet wurde, um die offizielle Lesart der Ereignisse zu etablieren und den neuen Staat durch die Einordnung in die dynastische Tradition zu legitimieren. 32 Innerhalb dieser offiziellen Geschichtsschreibung gab es allerdings unterschiedliche Strömun­ gen, deren Auseinandersetzungen auch die Entwicklung der Geschichtswis­ senschaft in Japan nicht unwesentlich beeinflußten: erstens die sinojapanische Geschichtsschreibung (kangaku), deren neokonfuzianisch geprägte Interpreta­ tion der Geschichte lange Zeit die dominierende Form des Umgangs mit der Vergangenheit gewesen war. In dieser Tradition, in der die Geschichte des Kai­ serhauses im Mittelpunkt stand, war die Geschichtsschreibung ein Beitrag zur moralischen Fundierung des Staates. Die Ereignisse der Vergangenheit wurden nach ethischen Gesichtspunkten mit Lob und Tadel versehen, und ihre Bewer­ tung diente als Handlungsanweisung für den Monarchen. 33 In Absetzung von dieser chinesisch-konfuzianischen Richtung hatte sich, zweitens, seit Ende des 18. Jahrhunderts eine nationale Schule (kokugaku) formiert, die die Befreiung von der Dominanz des chinesischen Kultureinflusses auf ihre Fahnen geschrie­ ben hatte. Sie propagierte eine Restauration der vorgeblich noch ›reinen‹ japa30 Dieses Phänomen ist nicht nur auf die japanische Historiographiegeschichte beschränkt. Vgl. etwa Ernst, Antiquarianismus. 31 Vgl. zu der Bedeutung dieses Gegensatzes von kan und min: Gluck, Japan's Modern Myths, S. 60-66. 32 Über Gründung und wechselhafte Entwicklung dieser Behörde informiert Mehl, Vergan­ genheit. 33 Vgl. Iwai, Nihon kindai shigaku, S. 64f.; Ôkubo, Nihon kindai shigaku; Koschman, Mito Ideology; Nakai, Tokugawa C onfucian Historiography.

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nischen Antike vor dem Import der chinesischen Religion und Kultur. In dieser Tradition entwickelte sich auch eine elaborierte Form der Quellenkritik, die Elemente eines autochthonen japanischen Erbes aus den historischen Doku­ menten herausfiltern sollte.34 Neben diesen beiden konkurrierenden Richtungen gab es, drittens, noch eine aus China importierte Form der Textkritik (kôshôgaku), deren Quellenpositivis­ mus sowohl von der sinojapanischen Strömung als auch von der nationalen Schule übernommen und adaptiert wurde. Dennoch wies diese Textkritik über den konfuzianistischen Moralismus der sinojapanischen Geschichtsschrei­ bung und das nationale Pathos der kokugaku hinaus und war in erster Linie an der kritischen Evaluierung der textlichen Überlieferung und der Ermittlung von Tatsachen bzw. der Aufdeckung von Fälschungen interessiert. Anders als die weltanschaulich geprägte Geschichtsschreibung chinesisch-konfuzianisti­ scher respektive japanisch-shintôistischer Provenienz stellten die Historiker der textkritischen Schule die philologische Prüfung der Dokumente und die Quellenkritik in den Vordergrund. 35 In dieser textkritischen Wende wird häufig der erste Schritt zur Verwissenschaftlichung der japanischen Geschichtsschrei­ bung gesehen, noch vor dem Einfluß einer europäischen Historik.36 Jedenfalls wird deutlich, daß vor dem Hintergrund der kôshogaku-Trüdition etwa die Ein­ führung einer Rankeschen Quellenkritik nicht als Fremdkörper wirken mußte. b) Gegen diese unterschiedlichen Strömungen staatstragender Historiogra­ phie wandte sich die Aufklärungshistorie (keimô shigaku), deren Vertreter nicht einer von der Regierung bestellten Historikerbürokratie angehörten, sondern zumeist unabhängig arbeitende Journalisten oder hommes des lettres waren. Sie distanzierten sich sowohl vom trockenen Quellenpositivismus der kôshôgaku-Textkritik als auch vom Tugenddiskurs der sinojapanischen und dem Nativismus der nationalen Schule. Und gegen die dynastische Perspektive die­ ser regierungsamtlichen Hofhistoriographie setzten sie eine oppositionelle Sicht von der Geschichte des japanischen Volkes. Die bekanntesten Vertreter dieser Richtung waren Fukuzawa Yukichi und Taguchi Ukichi, deren Werke stark von der europäischen Historiographie eines Henry Thomas Buckle oder Francois Guizot beeinflußt waren. Taguchis »Kurze Geschichte der japanischen Zivilisation« (Nihon kaika shôshi, 1877-82) war ein typisches Beispiel für diesen Ansatz, der die Geschichte nach den Gesetzmäßigkeiten der historischen Ent­ wicklung befragte. Die Ereignisse der Vergangenheit waren für die Aufklä34 Der bekannteste Vertreter der nationalen Schule (kokugaku) war Motoori Norinaga (17301801). Unter den Historikern der frühen Meijizeit, die in der Tradition dieser Schule standen, sind vor allem Hanawa Tadatsugu, Konakamura Kiyonori, Naitô Chisô und Mikami Sanji zu nennen. 35 Repräsentativ für die kôshôgaku-Tradition waren die Historiker Shigeno Yasutsugu, Kume Kunitake und Hoshino Hisashi; vgl. dazu etwiNumata, Shigeno Yasutsugu; Iwai, Shigeno Yasutsu­ gu; Iwai, Kume Kunitake; Ozawa Eiichi, Kindai Nihon shigakushi. 36 Siehe etwa Iwai, Nihon kindai shigaku no keisei, S. 64.

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rungshistorie nicht der Gegenstand moralischer Erbauung, sondern das Mate­ rial einer universalen Wissenschaft von der Geschichte. 37 Auf dieser geschichtsphilosophischen Grundlage zeichnete Taguchi das Bild der japanischen Geschichte als Triumphzug des Fortschritts. Die Meiji-Restau­ ration (1868) erschien so als der Höhepunkt der Befreiung des japanischen Volkes aus materieller Not und geistiger Unmündigkeit. Diese Revolution des gesellschaftlichen Lebens war für Taguchi weder das Ergebnis weiser Regie­ rungspolitik noch der Effekt westlichen Einflusses, sondern vom japanischen Volk selbst herbeigeführt. In den 1880er Jahren wich diese optimistische Per­ spektive der kritischeren Sicht eines Tokutomi Sohô oder Takegoshi Yosaburô, die allerdings das zugrundeliegende Geschichtsbild Taguchis übernahmen. Nur stand die Meiji-Restauration nun nicht mehr für gesellschaftliche Befrei­ ung, sondern lediglich für das Versprechen dieser Emanzipation, denn die Meiji-Restauration wurde inzwischen nicht mehr als geglückte, sondern als unvollendet gebliebene Revolution betrachtet. Die Umgestaltung der Gesell­ schaft schien diesen Historikern auf halbem Wege stehengeblieben zu sein, und in politischer und sozialer Hinsicht blieben die idealistischen Programme der Revolutionäre unausgeführt. Die Geschichte erschien zwar weiterhin als fort­ schrittlicher Prozeß, dessen Verwirklichung in Japan allerdings stagnierte; einer vollständigen Demokratisierung und sozialen Gleichheit stünden überkom­ mene Strukturen entgegen, die es zunächst zu überwinden gelte. 38 An diese Interpretation der japanischen Geschichte, aber auch an den ihr zugrundelie­ genden Fortschrittsglauben und den Rekurs auf historische Entwicklungsge­ setze, knüpfte seit den 1920er Jahren die marxistische Geschichtsschreibung wieder an. Am Ende des 19. Jahrhunderts aber blieb die Aufklärungshistorie noch eine oppositionelle Kraft, ohne Einfluß auf die Institutionalisierung der Disziplin. 1887-1945: Nach der Reorganisation des Hochschulwesens und der Begrün­ dung der Kaiserlichen Universität in Tokyo im Jahre 1886 wurde dort 1887 auch eine historische Fakultät eingerichtet. Die Institutionalisierung der Ge­ schichtswissenschaft fiel somit in die Zeit der inneren Stabilisierung des Meiji­ staates, die 1889 in der Verkündung der Verfassung kulminierte, und kann so37 Vgl. zur Aufklärungshistorie lenaga, Nihon no kindaishigaku; Ienaga, Keimô shigaku; Tsuka­ tani, Taguchi Ukichi; Iwai, Nihon kindai shigaku, S. 65-74; Izu, Nihon shigakushi, S. 55-92; Blacker, The Japanese Enlightenment. 38 In der Forschung wird bisweilen noch zwischen der Zivilisationsgeschichtsschreibung (bunmeishi) der 1870er Jahre (Fukuzawa, Taguchi) und der kritischen Perspektive auf die eigene Gesellschaft durch die sog. Min'yûsha Historiker (wie Tokutomi, Takegoshi oder Yamaji Aizan) unterschieden, die hier als Aufklärungshistorie zusammengefaßt sind. Vgl. Iwai, Nihon kindai shigaku, S. 65-80. Zur Min'yûsha-Historiographie vgl. Kano, Tokutomi Sohô; Shinkawa, Takego­ shiSansa;MatsushimaEiichi, Yamaji Aizan;S a t ôYoshimaru, Miyake Setsurei;Duus,Whig History.

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mit auch als Element der inneren Staatsgründung betrachtet werden. Bei der Gründung einer historischen Fakultät vergewisserte man sich der Expertise des jungen deutschen Historikers Ludwig Rieß (1861-1928), der als Schüler von Leopold von Ranke galt und so das Prestige der historistischen Geschichtswis­ senschaft symbolisch verkörperte. 39 Unter seiner Regie wurde zunächst eine historische Fakultät gegründet, die bald durch einen Historikerverband (Shi­ gakkai) und ein der deutschen Historischen Zeitschrift nachempfundenes Fachorgan (Shigaku zasshi) komplementiert wurde. Ähnlich wie in Frankreich, England oder den Vereinigten Staaten wurde somit auch in Japan im späten 19. Jahrhundert die Geschichtsschreibung als Wissenschaft institutionalisiert. Die Historiker, die in den folgenden Jahren an der Kaiserlichen Universität lehrten, kamen von der Vorgängerinstitution (der Tôkyô daigaku) oder vom staatlichen Amt für Geschichtsschreibung, das nun an die Universität verlegt wurde. Auf diese Weise fanden die unterschiedlichen Strömungen der regierungsamtli­ chen Historiographie Eingang in die neue historische Fakultät, während die Aufklärungshistorie auch institutionell in der Opposition blieb. Diese Genealogie führte dazu, daß die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Richtungen der offiziellen Historiographie zunächst auch an der Universität eine Fortsetzung fanden, wo sie allerdings nach und nach von der an Ranke orientierten historistischen Methode überformt wurden. Diese am europäischen Modell orientierte Geschichtswissenschaft setzte sich in einer Phase der japanischen Nationalstaatsbildung durch, in der die Über­ nahme westlicher Institutionen noch uneingeschränkt mit Fortschritt (und in­ ternationaler Anerkennung) in eins gesetzt wurde. 40 Ludwig Rieß, der zwischen 1887 und 1902 in Tôkyô lehrte, legte besonderes Augenmerk auf die Quellen­ kritik. In seinen auf Englisch gehaltenen Vorlesungen zur Methodologie griffer auf die Werke Droysens und Rankes zurück und widmete dabei den Hilfswis­ senschaften und Fragen der Behandlung von Primärquellen besondere Auf­ merksamkeit. 41 Und in einem programmatischen Aufsatz in der Zeitschrift Shigaku zasshi forderte er die Einstellung geschichtsphilosophischer Spekula­ tionen und die Konzentration auf die Zusammenstellung, die kritische Sich­ tung und Kommentierung von Quellenmaterial. Dieser Quellenpositivismus war mit der textkritischen Tradition der kôshôgaku durchaus vereinbar und ver­ drängte allmählich den Gegensatz zwischen chinesischer und nationaler Schu­ le. Als 1907 an der Kaiserlichen Universität in Kyôto eine zweite historische 39 Tatsächlich beschränkte sich seine Beziehung zu Ranke jedoch auf eine Kopistentätigkeit, die Rieß von 1883 bei dem schon greisen Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft ausübte. Für Rieß' Berufung nach Tôkyô waren vielmehr seine Englischkenntnisse (der Unterricht an der Universität Tôkyô erfolgte auf Englisch) und die Japankontakte seines Doktorvaters Hans Del­ brück ausschlaggebend. Vgl. dazu Bernd Martin, Geschichtswissenschaft. 40 Vgl. Westney, Imitation. 41 Vgl. Rieß, Methodology.

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Fakultät entstand, wurde diese mit Absolventen aus Tôkyô (u.a. mit Rieß' Schüler Uchida Ginzô) besetzt. Auch die Entstehung weiterer historischer Fa­ kultäten folgte diesem Muster, sodaß Geschichtsbild und Wissenschaftsver­ ständnis der universitären Geschichtsschreibung eine gewisse Homogenität entwickelten. 42 Die Vorherrschaft dieses an den deutschen Historismus angelehnten Para­ digmas hielt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges an.43 Die starke Betonung der Materialsammlung, der Textexegese und Quellenkritik resultierte aller­ dings nicht selten in einer bloß deskriptiven Faktenhuberei, die den historiogra­ phischen mainstream zu einem konservativen Positivismus (jisshô shugi) degra­ dierte. Zu den Eigenheiten der akademischen Geschichtsschreibung in Japan gehörte neben dieser Verabsolutierung quellenkritischer Methoden auch die mangelnde Emanzipation der Historiographie vom Staat. Die Kaiserlichen Universitäten standen ihrem Selbstverständnis nach in einer funktionalen Be­ ziehung zum Staat, und infolgedessen blieb auch die Autonomie der Ge­ schichtsschreibung begrenzt. Einige sensible Bereiche der Vergangenheit wa­ ren daher mit einem unausgesprochenen Tabu belegt, das sich vor allem auf die Geschichte der kaiserlichen Dynastie erstreckte. Wurden diese (weniger von der Staatsräson als von der Etikette diktierten) Grenzen überschritten, dann konnte das auch zur Entlassung aus dem Universitätsdienst führen.44 Ähnlich wie in Deutschland war aber auch in Japan das historiographische Spektrum nicht einheitlich, auch hier gab es ›Außenseiter‹-Positionen, auf die die Geschichtswissenschaft nach 1945 zurückgreifen konnte. Die vier einfluß­ reichsten Gruppierungen sollen hier kurz genannt werden. Dazu zählten erstens die sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansätze, die vor allem seit den zwan­ ziger Jahren, und vornehmlich an der Kaiserlichen Universität Kyôto, Fuß ge­ faßt hatten. Ihre Vorläufer waren Fukuda Tokuzô, der in Leipzig (bei Karl Bü­ cher) und dann bei Lujo Brentano in München studiert und unter dessen Anleitung 1900 eine Arbeit über »Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ent­ wicklung in Japan« veröffentlicht hatte, und der von William C unningham be­ einflußte Uchida Ginzô, der 1907 zu den Gründungsmitgliedern der histori42 Vgl. Iwai, Nihon kindai shigaku, S. 81-92; Kadowaki, Kangaku akademizumu;Tôkyôdaigaku hyakunenshi, S. 607f; Ôkubo, Nihon kindai shigaku; Mehl, Vergangenheit, S. 158-179; Schwentker, Weltaneignung, S. 344f. 43 Repräsentative Vertreter waren etwa Hagino Yoshiyuki, Mikami Sanji, Kuroita Katsumi, Tsuji Zennosuke oder Sakamoto Tarô. 44 Der eklatanteste Fall einer solchen politischen Intervention war die sogenannte Schulbuch­ Kontroverse im Jahre 1911, die über die Legitimität einer kaiserlichen Seitenlinie im 12. Jahrhun­ dert geführt wurde (nanbokuchô seijun ron), und als deren Resultat mehrere Historiker an der Kaiser­ lichen Universität Tôkyô ihr Lehramt aufgeben mußten. Vgl. ôkubo, Nihon kindai shigaku, S. 153-166; Murata Masashi, Zokuzoku nanbokuchô shiron; Mehl, Vergangenheit, S. 235-251; Uyenaka, Textbook Controversy. Vgl. allgemein zur Frage der Hochschulautonomie Marshall, Aca­ demic Freedom.

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schen Fakultät an der Universität Kyôto gehörte. Diese dezidiert nicht-marxi­ stische Tradition hatte Honjo Eijirô (1888-1973) an der Universität Kyôto fort­ gesetzt. Auch Hiranuma Toshirô (Waseda Universität), Takimoto Seiichi (Keiô Universität) oder Tsuchiya Takao (Universität Tôkyô) können dieser wirt­ schaftsgeschichtlichen Tradition zugerechnet werden, die an den Philosophi­ schen Fakultäten allerdings auf wenig Resonanz stieß.45 Als zweites wäre die kulturgeschichtliche Richtung zu nennen, der im Ver­ hältnis zur henschenden Politikgeschichte ebenfalls eine Außenseiterrolle zu­ fiel. Dazu zählte in erster Linie Tsuda Sôkichi (1873-1961), der von 1918 bis 1940 an der Waseda-Universität in Tôkyô lehrte. In seinen Studien versuchte er, das alltägliche Leben des Volkes nachzuzeichnen und so die Entwicklung der japanischen Kultur zu rekonstruieren. Dabei unterwarf er die offiziellen Reichsannalen der japanischen Frühzeit einer rigiden Quellenkritik, die ihn in der nationalistischen Atmosphäre der 1930er Jahre zunehmend in Gegensatz zur herrschenden Ideologie und 1940 schließlich auch um seinen Lehrstuhl brachte.46 Eine wichtige Rolle spielte auch Yanagita Kunio (1875-1962), der seit den zwanziger Jahren eine ›Geschichte von unten‹, die sich für die Geschicke des ›einfachen Volkes‹ (jômin) interessierte, populär machte. Ähnlich wie die volkskundliche Geschichtsschreibung in Deutschland konnte auch Yanagita der Gefahr nicht immer entrinnen, mit einem nationalistischen Volksbegriffzu operieren. Dennoch knüpfte auch die kritische Alltagsgeschichte der sechziger Jahre (minshûshi) an Yanagitas Werk wieder an.47 Die ultranationalistische Ideologie der Kriegszeit (1931—45) stellte gewisser­ maßen eine dritte Herausforderung an die positivistische Politikgeschichts­ schreibung dar, der sie einen essentialistischen Volks- und Kulturbegriff entge­ genstellte. 48 In dieser intellektuellen Atmosphäre entwickelte sich eine japanistische Geschichtsschreibung (kôkoku shikan), die eine Version der japani­ schen Geschichte aus der Sicht des Kaierhauses, dem das Volk in Loyalität erge45 Diese Tradition der Wirtschaftsgeschichte wird in der Historiographiegeschichte bisweilen vernachlässigt. Dennoch spielte Honjo eine entscheidende Rolle bei der Institutionalisierung einer sich von der herrschenden Politikgeschichte absetzenden Richtung in der Geschichtswissenschaft in den 1920er Jahren, deren Einfluß auch in der Nachkriegszeit spürbar war. Zu seinen Schülern gehörte etwa Horie Yasuzô, der dann zahlreiche Wirtschaftshistoriker (aber selbst Historiker wie Shibahara Takuji oder Yasumaru Yoshio, die eher geistes- bzw. mentalitäts- und alltagsgeschicht­ lich arbeiteten) beeinflußte. Siehe Aoki, Honjô Eijirô mit weiterer Literatur; vgl. auch Kitayama, Nihon kindaishigaku, S. 115-118; Burton, Modern Japanese Economic Historians. 46 Vgl. Ienaga, Tsuda Sôkichi; Ueda, Hito to shisô; Masabuchi, Nihon no kindai shigakushi; Kadowaki, Tsuda Sôkichi. 47 Vgl. Kano, Yanagita Kunio; Wakamori, Yanagita Kunio; Kamishima, Yanagita Kunio kenkyû; Morse, Yanagita Kunio; Murai, Nantô ideorogî no hassei; Iwamoto, Yanagita Kunio o yominaosu; Amino, Rekishigaku to minzokugaku. 48 So etwa die Kulturgeschichtsschreibung der sog. Kyôto-Schule (Kyôto gakuha), etwa von Nishida Naojirô. Vgl. zu dieser Strömung Kitayama, Nihon kindai shigaku, S. 113-115; Fujitani Toshio, Nishida Naojirô; Naramoto, Bunka shigaku.

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ben sei, propagierte. Der bekannteste Vertreter dieses Geschichtsbildes war Hiraizumi Kiyoshi (1895-1985) an der Universität Tôkyô. Das ›Geschichtsbild des Kaiserreiches‹ (so lautet die wörtliche Übersetzung von kôkoku shikan) be­ ruhte auf einem Tennôzentrismus, auf dem shintôistischen Moralkodex und schließlich auf einer Vision eines japanischen Großreiches, die zu den intellek­ tuellen Grundlagen des Krieges in C hina und Südostasien (der zum ›Befrei­ ungskrieg‹ deklariert wurde) gezählt werden kann.49 Ähnlich wie in Deutsch­ land versuchte die Mehrzahl der Historiker, gegenüber den Auswüchsen dieser Politisierung die Distanz zu wahren und beharrte auf Objektivität und den methodischen Standards der Zunft. Allerdings gibt es nach wie vor keine Studie über die (nichtmarxistische) japanische Geschichtswissenschaft in der Kriegs­ zeit, so daß man für die Einzelheiten auf Vermutungen angewiesen bleibt.50 Nach 1945 war die kôkoku shikan-Historiographie zunächst völlig tabuisiert; in der revisionistischen Geschichtsschreibung seit Ende der fünfziger Jahre erleb­ te sie jedoch eine gewisse Renaissance. Die für die Entwicklung der Geschichtsschreibung nach 1945 folgenreichste Herausforderung an den rankeanisch-positivistischen Kanon der Zunft war jedoch, viertens, die Entstehung einer marxistischen Geschichtsschreibung in den 1920er Jahren. Schon in den Jahren nach der Jahrhundertwende hatte der Marxismus unter den japanischen Intellektuellen Fuß gefaßt und erlebte in den frühen zwanziger Jahren eine erste Konjunktur an den wirtschaftswissenschaft­ lichen Fakultäten. 1922 wurde auch eine Kommunistische Partei gegründet, die ungeachtet ihrer politischen Randstellung unter den Intellektuellen des Landes enorme Resonanz fand. Die theoriegeladenen akademischen Debatten und die Auseinandersetzungen um parteipolitische Strategie standen fortan in einem symbiotischen Verhältnis.51 Aus der Perspektive der historischen Fakultäten blieb der Historische Materialismus zwar eine Außenseiterposition, aber für die Entwicklung der Nachkriegshistoriographie spielten die Debatten, die in den dreißiger Jahren unter marxistischen Wirtschaftshistorikern geführt wurden, eine entscheidende Rolle. Dies galt im besonderen Maße für die sogenannte ›Kontroverse über den japanischen Kapitalismus‹ (Nihon shihonshugi ronsô), die sich an den Thesenpa­ pieren, in denen die Kommunistische Partei 1927 und 1932 ihre Deutung der Entwicklung der japanischen Gesellschaft mit den taktischen Erfordernissen eines Parteiprogramms verband, entzündete. Japan wurde dort als ein im Kern noch nicht moderner, von feudalistischen Überresten geprägter Staat gekenn­ zeichnet, der als Vorstufe zur Diktatur des Proletariats zunächst einmal eine 49 Vgl. Bilô, Kôkoku shikan; Nagahara, Kôkoku shikan. 50 Vgl. Sailô, Shôwa shigakushi nôto, S. 87-110. 51 Vgl. zur Geschichte der Kommunistischen Partei Beckmann u. Okubo, The Japanese C om­ munist Party; Scalapino, Democracy.

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bürgerliche Revolution nötig habe. Der Ausgangspunkt der Kontroverse war somit eine Augenblicksdiagnose derjapanischen Gesellschaft der dreißiger Jah­ re; argumentiert wurde jedoch mit Analysen der japanischen Vergangenheit, und das präferierte Feld der Auseinandersetzung war die Beurteilung der Meiji­ Restauration. Die spezifische Deutung der japanischen Geschichte, auf der die Parteistrategie basierte, wurde in den folgenden Jahren von einer Reihe von Wirtschaftshistorikern wissenschaftlich untermauert. 1932 veröffentlichte die­ se als kôzaha bekanntgewordene Gruppe unter der Führung Noro Eitarôs ein siebenbändiges Kompendium über die Entwicklung des Kapitalismus in Japan, das die politisch-taktische in eine im wesentlichen akademisch-theoretische Auseinandersetzung transformierte.52 Die Position der kôzaha korrespondierte mit der offiziellen Parteilinie, die in ihren Thesenpapieren die Interpretation der Kommunistischen Internationale übernommen hatte.53 Kôzaha-Marxisten wie Hattori Shisô, Hirano Yoshitarô, Noro Eitarô oder Yamada Moritarô beton­ ten die Rückständigkeit Japans und den autoritären C harakter seiner Transfor­ mation in die Moderne. Sowohl der agrarische Sektor der ökonomischen Basis als auch der vom Monarchismus des Tennô gekennzeichnete politische Über­ bau seien weiterhin feudalistisch strukturiert; die Restauration markiere daher keine bürgerliche Revolution, sondern lediglich den Übergang zum Absolutis­ mus. Gegen diese Sicht vom Nachholbedarf der japanischen Moderne wandte sich die Interpretation der rônôha-Gruppe, die sich 1927 von der Kommunisti­ schen Partei getrennt und die von der Parteidoktrin verschriebene Strategie der Revolution in zwei Phasen durch das Konzept der direkten proletarischen Re­ volution ersetzt hatte.54 In der Meiji-Restauration erblickten rônôha-Historiker wie Ôuchi Hyôe und Tsuchiya Takao den gelungenen Übergang zu einem modernen Staat. Die Land- und Steuerreformen und die Abschaffung feudaler Privilegien und Restriktionen in den ersten Jahren nach 1868 habe das unge52 Nihon shihonshugi hattatsu shi kôza (Symposium über die Geschichte der Entwicklung des japanischen Kapitalismus), Tôkyô 1932-33. Infolge der massiven Zensur war der Text von parti­ ellen Auslassungen durchzogen. Erst 1982 wurde in einem Nachdruck der Text erstmals vollstän­ dig publiziert. Der Titel des Symposiums gab der kôzaha ihren Namen. Vgl. auch Kojima Hinehisa, Nihon shihon shugi;Koyama, Nihon shihon shugi. 53 Sowohl die 1927er These als auch die 1932er These waren das Werk der sowjetisch domi­ nierten Komintern. Die Interpretation der kôzaha entsprach der 1932er These. Von ihren Gegnern wurde die kôzaha daher auch als Marionette der Sowjetunion denunziert. Vgl. die Bewertung bei Hoston, Marxism, S. 40-42. Distelrath betont den Einfluß der Sowjetunion sehr viel stärker und spricht von einem »Komintern-Diktat« (Distelrath, Produktionsweise). 54 Die Bezeichnung rônôha ging auf die Zeitschrift rônô (Arbeiter und Bauern) zurück, die von der Dissidentenfraktion im Dezember 1927 gegründet wurde, und bezog sich auf die Forderung nach einer Einheitsfront von Arbeitern und Bauern, welche die bisher als Avantgardepartei konzi­ pierte Kommunistische Partei ablösen sollte. Die Begriffe rônôha und kôzaha vereinten jeweils gra­ duell unterschiedliche Standpunkte, aber die Bezeichnungen strukturierten auch die zeitgenössi­ sche Debatte der konkurrierenden Lager und werden daher hier übernommen.

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heure industrielle Wachstum und den Aufstieg zu einer modernen Großmacht ermöglicht; und die imperialistische Außenpolitik seit der Jahrhundertwende, die funktionierende Verfassung, Parteienkabinette und das allgemeine Wahl­ recht seien weitere Beweise dafür, daß Japan keineswegs rückständig sei. Wäh­ rend also in der Sicht der kôzaha die japanische Gesellschaft auch nach 1870 noch feudalistische Überreste aufwies und daher als absolutistisch charakteri­ siert werden mußte, betonte die rônôha den modernen C harakter des japani­ schen Kapitalismus und beschrieb den Faschismus der dreißiger Jahre als logi­ sche Folge des von einem starken Bürgertum getragenen Imperialismus. 55 Der hier kurz skizzierte Gegensatz von kôzaha und rônôha blieb bis in die Nachkriegszeit hinein konstitutiv für die Dynamik der marxistischen Ausein­ andersetzungen über die moderne japanische Geschichte. Als Folge der massi­ ven staatlichen Repressionen gegen die Kommunistische Partei und sympathi­ sierende Intellektuelle erloschen diese Debatten aber zunächst um die Mitte der dreißiger Jahre. Viele der marxistischen Wirtschaftswissenschaftler kehrten erst nach der Kapitulation an die Universitäten zurück; der Außenseiterdiskurs wurde nun rasch zum herrschenden Paradigma, dem sich auch die übrigen Vertreter der Historikerzunft nicht länger verschließen konnten. 1945-1960: Das Kriegsende im Jahr 1945 markierte auch für die Geschichts­ wissenschaft einen wichtigen Einschnitt: nicht mehr die historistische Politik­ geschichte, sondern eine marxistisch ausgerichtete Sozialgeschichte war fortan das dominierende Paradigma der japanischen Geschichtsschreibung. Innerhalb kurzer Zeit avancierte die marxistische Historiographie zur herrschenden In­ terpretation der japanischen Geschichte. Noch stärker als beispielsweise in Frankreich dominierte der Marxismus den Diskurs der Intellektuellen in der ersten Nachkriegszeit. Die Gründung eigener Historikerverbände und Fach­ zeitschriften institutionalisierte die Vorherrschaft des Historischen Materialis­ mus, die bald auch auf die historischen Fakultäten übergriff Eine Reihe von Reformen des Universitätssystems sowie einschneidende Veränderungen der Diskursbedingungen, von denen noch zu handeln sein wird, trugen zu diesem Paradigmenwechsel bei. Bis in die sechziger Jahre hinein hielt die Hegemonie der marxistischen Geschichtsschreibung an, und selbst heute noch bleibt sie, in modifizierter Form, die einflußreichste Kraft in der japanischen Historiogra­ phie. Die Geschichtsschreibung zwischen 1945 und 1960 läßt sich überblickshaft in drei Phasen unterteilen: a) 1945-1948: Die ersten Jahre der Besatzungszeit 55 Repräsentative Werke der Debatte der dreißiger Jahre umfassen auf seiten der kôzaha die Nihon shihonshugi hattatsu shi kôza (siehe oben) sowie: Yamada Moritarô, Nihon shihon shugi bunseki; Hirano, Nihon shihon shugi shakai; und auf seiten der rônôha: Tsuchiya, Nihon shihon shugishi ronsô.

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waren eine Phase des optimistischen Vertrauens in den Fortschritt der Ge­ schichte. Die historische Analyse der marxistischen Geschichtsschreibung schien von der Wirklichkeit bestätigt worden zu sein. In dieser Zeit wurden zahlreiche Werke, die noch während der Repression der Kriegszeit entstanden waren, publiziert und demonstrierten die Attraktion des Historischen Materia­ lismus. Daneben entstand eine nichtmarxistische, stark an Max Weber orien­ tierte Sozialgeschichte um den Europahistoriker Ôtsuka Hisao, die zum herr­ schenden kôzaha-Marxismus in einer zugleich symbiotischen und agonalen Beziehung stand. Die konservative, traditionelle Historikerschaft hingegen hatte nach der ›Katastrophe‹ der Niederlage ihre Sprache noch nicht wiederge­ funden. b) 1948-1956: Nach der antikommunistischen Wende (reverse course) der amerikanischen Besatzungspolitik, und spätestens seit dem Ausbruch des Ko­ reakrieges im Jahre 1950, betrachteten sich die marxistischen Historiker nicht mehr als euphorische Kommentatoren der vor ihren Augen ablaufenden Revo­ lution, sondern als Kritiker der herrschenden Zustände, die sie inzwischen als politische Reaktion brandmarkten. Gleichzeitig entdeckte man die japanische Nation als Subjekt eines antiimperialistischen Widerstands. In dieser Zeit kon­ solidierte sich auch die konservative Zunft; dennoch hielt die Vorherrschaft der marxistischen Geschichtsschreibung, vor allem in der modernen Geschichte, unvermindert an. c) 1956-1960: Die Stalinkritik in der Sowjetunion löste in der Kommunisti­ schen Partei in Japan Selbstzweifel aus, die sich auch in methodischen Grund­ lagendebatten der marxistischen Geschichtsschreibung niederschlugen. In die Mitte der fünfziger Jahre fiel auch der Beginn des wirtschaftlichen Auf­ schwungs und der Vorherrschaft der konservativen Liberal-Demokratischen Partei. In dieser Atmosphäre wurde der kritische Konsens der Geschichts­ schreibung zunehmend unterminiert, und gegen Ende der fünfziger Jahre tra­ ten die ersen revisionistischen Deutungen auf, die das marxistische Paradigma herausforderten. Das Jahr 1960 gilt, ähnlich wie in der Bundesrepublik, als eine Zäsur in der Entwicklung der Geschichtswissenschaft nach dem Krieg. Das Scheitern der Proteste gegen die Verlängerung des Sicherheitsvertrages mit Amerika (anpo), an denen sich auch zahlreiche linke Historiker beteiligt hatten, signalisierte zugleich das Ende des Deutungsmonopols der kritischen, politi­ schen Geschichtsschreibung des kôzaha-Marxismus. Die aus Amerika impor­ tierte Modernisierungstheorie, die in Japan als konservative Lesart der Ge­ schichte rezipiert wurde, und die Alltagsgeschichte (minshûshi) als Konkurrenz gleichsam aus den eigenen Reihen waren fortan die Richtungen, die als Alter­ nativen zu dem zum mainstream gewordenen Marxismus auftraten.

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4. Schluß Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft ist sowohl in Deutschland als auch in Japan üblicherweise als Dreischritt von Aufklärungshistorie, historisti­ scher Politikgeschichte und schließlich Historischer Sozialwissenschaft be­ schrieben worden. Auch wenn dieses inzwischen kanonische Modell historio­ graphischer ›Modernisierung‹ dazu tendieren konnte, alternative Ansätze an die Peripherie der Disziplingeschichte zu drängen, so beschrieb es doch eine Reihe auffallender Gemeinsamkeiten in der Abfolge methodischer Paradigmata. Die skizzierten Parallelen waren vor allem Ausdruck des transnationalen C harak­ ters der Entwicklung der Geschichtswissenschaft. So fiel die Einführung einer modernenGeschichtswissenschaftin den meisten außereuropäischen Ländern in die Zeit der imperialistischen Expansion Europas und war Teil des - vom ›Westen‹ erzwungenen bzw. gegen ihn gerichteten - Prozesses der National­ staatsbildung. Die Institutionalisierung der Geschichtsschreibung an den in dieser Epoche gegründeten Universitäten dokumentierte somit nicht in erster Linie eine autochthone ›Modernisierung‹ historischen Denkens, sondern ge­ horchte im wesentlichen der Logik von Modell und Import. Auch die Gründung von Historischen Fakultäten an japanischen Universitä­ ten (und zuvor bereits die Einführung einer ›aufklärerischen‹ Geschichtsschrei­ bung) war Teil dieses Diffusionsprozesses. Das hieß nicht, daß lokale Traditio­ nen nicht fortlebten und zur Spezifik der japanischen Geschichtsschreibung beitrugen. Aber diese Traditionen erhielten hinfort nur durch Kohärenz mit der rankeanisch-positivistischen Methode wissenschaftliches Gewicht. Die Pro­ fessionalisierung der Historikerschaft und ihre Institutionalisierung im Zei­ chen des Historismus blieb prägend für die weitere Entwicklung der Disziplin. Aber auchjenseits der Gründungsphase der modernen Geschichtswissenschaft blieb die westliche Geschichtstheorie einflußreich für die Entwicklung der j a ­ panischen Historiographie. Die Neuansätze und Wendepunkte der europäi­ schen Geschichtsschreibung, über die auch in den Fachzeitschriften regelmä­ ßig berichtet wurde, waren auch für die Dynamik der methodischen Debatten in Japan relevant. Die Rezeption des Historischen Materialismus in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und die Konjunktur einer marxistischen Ge­ schichtsschreibung seit Ende der zwanziger Jahre können als ein Beispiel für diesen Mechanismus gelten. So war es auch kein Zufall, daß etwa die französi­ sche Annales-Schulc und die kôzaha-Historiographie in Japan beinahe zur sel­ ben Zeit entstanden.56

56 Ein weiteres Beispiel für den transnationalen Charakter der Theorieentwicklung ist die frap­ pierende Geschwindigkeit, mit der postmoderne Theorien in Japan Fuß faßten. Vgl. dazu Iuy, Critical Texts.

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Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die Gemeinsamkeiten der säkula­ ren Entwicklung deutscher und japanischer Geschichtsschreibung, die in der Regel als Abfolge von methodologischen Prinzipien beschrieben werden, plau­ sibel. Angesichts dieser grundsätzlichen Parallelität konstituierte lediglich der unterschiedliche Zeitpunkt der Paradigmenwechsel ein Element nationaler Spezifik. In der Bundesrepublik Deutschland fiel die sozialhistorische Wende erst in die 1960er Jahre, während in Japan sich eine Sozialgeschichte bereits 1945 auf breiter Front durchsetzte. In beiden Ländern, auch dies war eine Ge­ meinsamkeit, handelte es sich dabei nicht um einen radikalen Neubeginn, son­ dern um eine Fortsetzung älterer Ansätze; in mancherlei Hinsicht griff die So­ zialgeschichte der Nachkriegszeit aufdie Kontroverse zwischen rônôha und kôzaha (in Japan) und auf die Volksgeschichte bzw. kritische Ansätze emigrierter Historiker (in Deutschland) zurück. Der Paradigmenwechsel geschah somit jeweils unter Rückgriff auf Außenseiterpositionen der dreißiger Jahre. Trotz dieser Gleichzeitigkeit der Anbahnung läßt sich bei der Durchsetzung der Sozialgeschichte, also der Ablösung des lange vorherrschenden historisti­ schen Paradigmas, von einer Phasenverschiebung sprechen. In der Bundesre­ publik hielt die Dominanz der konservativen historistischen Politikgeschichte auch in den fünfziger Jahren an und wurde erst im Gefolge der Fischer-Kontro­ verse auf breiter Front abgelöst; in Japan hingegen setzte dieser Prozeß bereits 1945 ein. Daher geraten bei einem Vergleich der Historiographie in der Bun­ desrepublik und in Japan zwischen 1945 und 1960 zunächst vor allem die Dif­ ferenzen in den Blick: in der Bundesrepublik die andauernde Vorherrschaft des konservativen Historismus, in Japan bereits die Durchsetzung einer nachhisto­ ristischen, kritischen Sozialwissenschaft. Diese Betonung der deutsch-japani­ schen Unterschiede ist jedoch nicht zuletzt ein Ergebnis der vorherrschenden Tendenz, »Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte« zu betrei­ ben.57 Die Verabsolutierung dieser Perspektive birgt die Gefahr, die konkreten Bedingungen und die besonderen inhaltlich-politischen Anliegen der Ge­ schichtsschreibung aus dem Auge zu verlieren. In den folgenden Kapiteln sol­ len neben diesen Unterschieden daher auch die häufig ganz ähnlichen Proble­ me und Themen, die sich den Fachhistorikern beider Länder in dieser Zeit stellten, in Augenschein genommen werden. Denn einerseits engt die eindi­ mensionale Privilegierung der Historik die Analyse der Historiographie auf eine Weise ein, die bisweilen reduktionistisch anmutet. Und andererseits ver­ läuft selbst die Entwicklung methodologischer ›Paradigmen‹ nicht autonom, sondern läßt sich nur im Kontext des sozialen und diskursiven Feldes rekon­ struieren.

57 Küttler, Historiographiegeschichte.

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II. Der Ursprung der Nation. Bismarck, Meiji Ishin und das Subjekt der Geschichte

So long as one operates within the discourse of ›hi­ story‹ produced at the institutional site of the uni­ versity, it is not possible simply to walk out of the deep collusion between ›history‹ and the moderni­ zing narrative(s) of... the nation-state. ›History‹ as a knowledge-system is firmly embedded in institutio­ nal practices that invoke the nation-state at every step. Dipesh Chakrabarty'

Im Rückblick erscheint vielen Beobachtern die westdeutsche Geschichts­ schreibung der ersten Nachkriegsjahre (bis etwa 1960) als relativ homogenes und ereignisloses Feld. Öffentlich geführte Auseinandersetzungen über unter­ schiedliche Deutungen der deutschen Geschichte blieben äußerst rar. Diese »Kontroversenarmut« war geradezu ein Kennzeichen der Geschichtswissen­ schaft der fünfziger Jahre. 2 Selbst als sich beispielsweise die Revolution von 1848 einige Jahre nach Kriegsende zum hundertsten Mal jährte, führte dies nicht zu ausgedehnten Diskussionen über ihre Bewertung. In dieser Hinsicht war nur die Debatte um die Bismarcksche Reichseinigung eine Ausnahme, an der sich ein breiter Kreis von Historikern beteiligte und der überdies auch in der Öffentlichkeit eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil wurde. Für eine Analyse der westdeutschen Historikerschaft und ihrer unterschiedlichen Deutungs­ muster ist eine Untersuchung der Bismarck-Kontroverse daher besonders ge­ eignet. Im markanten Gegensatz zur Situation in Westdeutschland gab es in der japanischen Geschichtswissenschaft bereits in der frühen Nachkriegszeit eine ganze Reihe von Kontroversen, die über den engeren Kreis der Spezialisten hinaus Interesse bei den Fachkollegen weckten. 3 Aber auch in Japan besaßen die Auseinandersetzungen über die moderne Reichseinigung, die Meiji-Restaura-

1 C hakrabarty, Provincializing Europe, S. 350. 2 Schulin, Restauration, S. 139. 3 Als erster Überblick mag Band 9 des Handbuchs zur japanischen Geschichte (Kôza Ni­ honshi) dienen, das von den marxistischen Historikerverbänden Rekishigaku kenkyükai und Ni­ honshi kenkyükai 1971 publiziert wurde und den »Kontroversen in der japanischen Geschichts­ schreibung« (Nihon shigaku ronsô) gewidmet war.

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tion im Jahre 1868, einen besonderen Stellenwert, wie auch im vorangehenden Kapitel bereits angeklungen ist. Die Meiji-Restauration fungierte in der Histo­ riographie als eine Art Gradmesser für die Bewertung der gesamten modernen japanischen Geschichte. Sowohl in Westdeutschland als auch in Japan war so­ mit der Prozeß der modernen Staatsgründung ein privilegiertes Thema histo­ riographischer Auseinandersetzung nach 1945; ein Vergleich dieser Debatten verspricht daher auch aufschlußreiche Einblicke in den C harakter der west­ deutschen und japanischen Geschichtswissenschaft dieser Zeit. Die Bismarcksche Reichseinigung und die Meiji-Restauration (Meiji Ishin) waren nicht erst nach 1945, sondern bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhun­ dert gewissermaßen das thematische Herzstück der deutschen und japanischen Geschichtsschreibung. 4 Diese beiden historischen Momente waren der Gegenstand zahlreicher Werke der nationalen Geschichtsschreibung; die Er­ eignisse der Jahre 1871 bzw. 1868 erschienen hier in der Regel als logische Konsequenz und krönender Abschluß der Geschichte. Die moderne National­ staatsgründung war mithin ein zentraler Gegenstand der deutschen und japani­ schen Historiographie, und daher überrascht auch nicht, daß sich auch nach 1945 das Interesse der Historiker bald wieder diesem Thema zuwandte. Nach der Niederlage und der »Katastrophe« (Friedrich Meinecke) der jüngsten Ver­ gangenheit sahen sich viele Historiker in Deutschland und Japan mit der Frage konfrontiert, wie der Nationalsozialismus bzw. die Epoche des japanischen Fa­ schismus in den Kontext der nationalen Geschichte einzuordnen war. Ausge­ sprochen oder unausgesprochen lag der Beschäftigung mit der Epoche der Reichseinigung somit die Hypothese zugrunde, zwischen den Ursprüngen des modernen Nationalstaates und seiner Perversion im Faschismus könnten kau­ sale Beziehungen bestanden haben. Die Diskussionen über Bismarck und die Meiji-Restauration standen nach 1945 somit im Zeichen der Ursachenfor­ schung. Mithin hatte sich die Stoßrichtung der Diskussion verschoben: die jeweilige Reichseinigung wurde nun nicht mehr als Vollendung einer teleolo­ gisch darauf zusteuernden Vorgeschichte behandelt; die Einigung schien in­ zwischen selbst zum Praeludium geworden, das nur im Nachhinein, aus seinen Folgen (und nicht: aus seinen Ursprüngen) verstanden werden konnte. Die Einordnung von Nationalsozialismus und Faschismus wurde auf diese Weise in der Bismarck-Kontroverse der fünfziger Jahre ebenso wie in der Auseinander­ setzung um die Deutung der Meiji-Restauration immer mitverhandelt. Die Debatte über die kleindeutsche Einigung oder die Ablösung des Tokugawa­ Shogunats durch die Meijiregierung kann in dieser Hinsicht als Stellvertreter­ gefecht bezeichnet werden.

4 Vgl. etwa den Überblick von Fehrenbach, Reichsgründung; Faulenbach, Ideologie, S. 35-87 sowie Rekishigaku kenkyükai, Meiji Ishinshi; Tanaka Akira, Meiji Ishinkan.

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Neben der Kontinuitätsfrage waren diese Kontroversen jedoch noch von ei­ nem weiteren Erkenntnisinteresse geprägt, das den Diskussionen ihre beson­ dere Dynamik verlieh. Gewissermaßen unter der Oberfläche der Debatten stand die (nicht selten aber auch explizit thematisierte) Frage nach dem Wesen und dem Status der eigenen Nation. Das Bewußtsein nationaler Zugehörigkeit hatte mit dem Ende der staatlichen Souveränität 1945 einiges von seiner Selbst­ verständlichkeit verloren, und die Konstituierung der Identität unter veränder­ ten Vorzeichen entsprach somit einem gesellschaftlichen Bedürfnis. Die histo­ riographischen Debatten dieser Zeit bezeugen daher auch den zentralen Stellenwert, der den Beiträgen zu einer nationalen Selbstvergewisserung auch im Rahmen der akademischen Geschichtsschreibung zukam. Dabei wird deutlich werden, daß in der Historikerschaft ganz unterschiedli­ che Vorstellungen von der Nation und ihrer Vergangenheit nebeneinander be­ standen. Eine Analyse der Bismarck-Kontroverse und der Auseinandersetzun­ gen um die Deutung der Meiji-Restauration ist daher besonders geeignet, konkurrierende Richtungen und Fraktionen in der Historikerschaft beider Länder zu unterscheiden. Divergierende Interpretationen waren häufig mit ge­ gensätzlichen politischen, weltanschaulichen oder auch konfessionellen Posi­ tionen verbunden. Auf diese Weise ließ sich zwischen unterschiedlichen Grup­ pierungen differenzieren, die um die Deutung der nationalen Geschichte (aber auch um institutionellen Einfluß) im Konflikt lagen. Die Geschichtswissen­ schaft war weder in Westdeutschland noch in Japan ein homogenes Feld. Jenseits dieser Binnendifferenzierung und Fragmentierung der Historiker­ schaft waren die historiographischen Debatten jedoch von einer Reihe gemein­ samer argumentativer Strategien geprägt. Die Rekonstruktion des historiogra­ phischen Diskurses über die Reichseinigung in Deutschland und Japan wird einige dieser gemeinsamen Grundannahmen in den Vordergrund stellen. In beiden Ländern waren die Debatten von heftigen Gegensätzen gekennzeich­ net. Aber jenseits aller politischen und weltanschaulichen Gräben nahmen selbst konkurrierende und sich widersprechende Deutungen - das soll im fol­ genden gezeigt werden - häufig auf gemeinsame, zumeist unausgesprochene Prämissen Bezug. Diese zugrundeliegende Axiomatik charakterisierte jeweils den Diskurs der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, der sowohl in West­ deutschland als auch in Japan - das ist die These dieses Kapitels - im wesentli­ chen um eine Bestimmung des historischen Ortes der eigenen Nation kreiste.

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1. Die Bismarck-Kontroverse als Suche nach d e m Ort der Nation Die in der frühen Bundesrepublik geführte Kontroverse über Bismarck und seine Politik der Reichseinigung habe sich, darüber besteht heute in der For­ schung Konsens, »im Rahmen des Herkömmlichen« bewegt. 5 Die Debatte über Person und Werk Bismarcks wird dabei zumeist als »Nagelprobe der Re­ visionsbereitschaft« der Historiker verstanden und geradezu als Paradebeispiel für das Ausbleiben von Veränderungen in der deutschen Geschichtswissen­ schaft angeführt. Ihr Verlauf stelle unter Beweis, »wie schwer sich die deutschen Historiker mit einer Abwendung von der bisher sanktionierten Konstruktion der nationalen Geschichte taten«.6 Die Themen und Fragestellungen, die die Kontroverse bestimmten, seien nahezu unverändert aus der Forschung der Weimarer Zeit übernommen worden. 7 Bei genauerer Betrachtung der Dynamik der Auseinandersetzung wird j e ­ doch deutlich, daß sich die Problematik der Diskussion inzwischen signifikant verschoben hatte. Das zeigte sich etwa an der Haltung der Zunft zu der im Jahre 1944 veröffentlichten und ganz in der borussophilen Tradition verfaßten Bismarckdarstellung Arnold Oskar Meyers, die als krönender Abschluß jahr­ zehntelanger wissenschaftlicher Bemühungen gedacht war, die Leistung des Reichsgründers biographisch zu würdigen. Seit langem hatte eine moderne Bismarck-Biographie als Desiderat der Forschung gegolten. Arnold Oskar Meyer, der Bismarck als den herbeigesehnten Vollender der Reichseinigung glorifizierte, füllte nun diese Lücke. Nur wenige Jahre nach der Veröffentli­ chung jedoch schien dem Rezensenten Hans Rothfels Meyers Werk »schon in bestimmtem Sinne ›historisch‹« zu sein, da seine »Grundgedanken ... einer Linie des späten 19. Jahrhunderts« verhaftet blieben. 8 Diese Einschätzung galt nicht nur für Rothfels. Franz Schnabel etwa sprach spöttisch von einem »Prunkgemälde«. 9 In der ausführlichen Debatte über die Bewertung Bismarcks, die in den späten vierziger Jahren einsetzte, spielte Meyers Biographie daher nur eine Nebenrolle. Für die Fragen, die nun im Mittelpunkt der Auseinander­ setzung standen, schien sie von nur peripherer Bedeutung zu sein.10

5 H. Mommsen, Betrachtungen, S. 128. Ähnlich Gall, Einleitung. 6 Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 224, 226. 1 H. Mommsen, Haupttendenzen, S. 114. 8 Rothfels, Zum Geleit. 9 Schnabel, Bismarck und die Nationen, S. 91. 10 So hielt auch Gerhard Ritter die Positionen Meyers für »veraltet«; siehe: Ritter, Bismarckpro­ blem,S. 121.

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a) Kontinuitätsfrage

Denn anders als in Meyers Hagiographie war »das Werk... Bismarcks« nun zum »Problem der deutschen Geschichte« geworden, wie der Würzburger Histori­ ker Ulrich Noack 1948 in einer Universitätsrede formulierte. Noack sprach von seinem Eindruck, den »Sinn unserer ganzen Geschichte verloren« zu ha­ ben. Und da die Geschichte - zumindest »die Geschichte der abendländischen Völker« - »ein Kontinuum,... eine ... zusammenhängende Begebenheit« sei und man nun an den »Endpunkt eines großen Gesamtablaufs« gekommen sei, gelte es, nach dessen Ursprüngen zu fragen. Noack vertrat daher die »These, daß die Politik... Bismarcks für unsere Gesamtentwicklung verderblich gewesen sei«.11 Diese Kontinuitätsthese stand bald nach Kriegsende im Mittelpunkt der wis­ senschaftlichen Reevaluation der Vergangenheit. Ihr lag die Vermutung oder auch die Befürchtung zugrunde, daß der Nationalsozialismus nicht als zufälli­ ges Ereignis betrachtet werden könne, sondern vielmehr in der logischen Kon­ sequenz der deutschen Geschichte liege. Auch in der alliierten Propaganda der Kriegszeit war dies die gängige Erklärung des deutschen Faschismus gewesen, dem man einen von Luther über Friedrich und Bismarck zu Hitler reichenden Stammbaum konstruiert hatte.12 A.J.P Taylor verlieh dieser Sichtweise in sei­ nem 1945 erschienenen Werk »The C ourse of German History«, das unter deutschen Historikern heftige Reaktionen auslöste, wissenschaftlichen Aus­ druck. Für Taylor war es »no more a mistake for the German people to end up with Hitler than it is an accident when a river flows into the sea.«13 Auch in der öffentlichen Meinung und der Publizistik der frühen Nachkriegsjahre gewann diese Assoziationskette eine gewaltige Breitenwirkung. 14 Das Bild war jedoch schon älter, denn die Ahnenreihe großer Deutscher war schon während des Dritten Reiches in legitimatorischer Absicht beschworen worden. Selbst Hi­ storiker, die dem Regime distanziert gegenüberstanden, neigten mitunter zu Genealogien dieser Art.15 Nach 1945 wurde häufig auf die alte Bildersprache zurückgegriffen, die nun aber negativ konnotiert war. So konnte sich etwa ei­ nem erklärten Hitlergegner wie Alfred v. Martin, der nach 1933 auf seine Lehr­ tätigkeit in Göttingen verzichtet hatte, »die Überzeugung aufdrängen, wie sehr

11 Noack, Das Werk Friedrichs, S. 60. 12 Vgl. dazu Solchany, Comprendre, S. 5-24. 13 So faßte Taylor im Vorwort der zweiten Auflage 1961 die Intentionen seines Werkes zusam­ men. Zitiert nach Melton, Introduction, S. 12. 14 Vgl. Eberan, Luther?;Brelie-Lewien u. Launen, Kultur; Solchany, Comprendre; aufschlußreich ist auch die Polemik von Schrenck-Notzing, Charakterwäsche aus den sechziger Jahren. 15 Vgl. die Vorbemerkung Gerhard Ritters in seinem ›Friedrich der Große‹ aus dem Jahre 1936, in dem er Friedrich als »politische Führergestalt« präsentiert. Das Werk war »der unsicht­ baren Gemeinschaft von Trägern des echten Frontgeistes im Reiche deutscher Wissenschaft« ge­ widmet.

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Bismarck in die Geschichte der deutschen Katastrophe gehört - daß diese also lange vor Hitler begann«.16 Die große Mehrzahl der Historiker allerdings stand dieser »Pseudo- und Radikalinsky-Historie« eines deutschen Sonderweges ›Von Bismarck zu Hitler‹ skeptisch gegenüber.17 Der Göttinger Historiker Siegfried August Kaehler etwa verkündete im Dezember 1946: »Denn alles kommt darauf an, ... den Kern deutschen Geschichtsbewußtseins lebendig zu erhalten für die, welche nach uns kommen.« Worin für Kaehler dieser ›Kern‹ bestand, machte er im Verlauf seiner Ausführungen bald deutlich: es ging ihm darum, »die durch 1939 und seine Folgen zerstörte Glaubwürdigkeit von 1914 wiederherzustellen« - und damit dem Verdacht entgegenzuwirken, die Entwicklung des Reiches habe schon seit dem Ersten Weltkrieg, wenn nicht schon seit Bismarck oder Fried­ rich dem Großen, zielstrebig Kurs auf die ›Deutsche Katastrophe‹ genommen. 18

b) Das national-konservative Geschichtsbild Dies traf auch auf Gerhard Ritter zu, der als ein Vertreter derjenigen Historiker galt, für die »Bismarcks Name nun einmal untrennbar verbunden [war] mit der Epoche des glückhaftesten politischen und wirtschaftlichen Aufstieges, den die an Unglücksfällen so reiche deutsche Geschichte kennt«.19 Ritter hatte in Frei­ burg mit Kreisen in Kontakt gestanden, die am Widerstand des 20. Juli beteiligt waren, und er hatte im Anschluß an das Attentat auch einige Zeit in Haft ver­ bracht. Diese »entschiedene Opposition gegen das Hitlerregiment, die ihn selbst in die Kerker der Gestapo führte«,20 machte ihn nach 1945 in der Öffent­ lichkeit zu einem Repräsentanten des »guten Deutschland‹, der dann auch im ›Bereinigungsausschuß‹ der Freiburger Universität über die Weiterverwen­ dung seiner Kollegen mitbestimmte. 1949 wurde Ritter zum Vorsitzenden des neuen Historikerverbandes gewählt. Sein Eintreten gegen die Annahme lang­ fristiger, ins Dritte Reich führender Kontinuitätslinien in der deutschen Ge­ schichte wurde so mit der doppelten Autorität des Amtes und Ritters persönli­ cher Vorgeschichte assoziiert. Seine Äußerungen besaßen einen für eine national-konservative Majorität der Historiker repräsentativen Charakter, wes­ halb es auch angebracht scheint, sich ihnen hier etwas ausführlicher zu wid­ men.21 16 A. v. Martin, Bismarck, S. 158. 17 So Friedrich Meinecke, zitiert nach Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 50. 18 Kaehler, Vorurteile und Tatsachen, S. 7. 19 G. Ritter, Bismarckproblem, S. 119. 20 So Dr. Aengeneyndt, Redaktionsleiter im Wett-Verlag, der ein von Ritter redigiertes Schul­ buch publiziert hatte; in: Pour le roi de Prusse, Anlage zu GWU Bd. 4, Heft 11 (1953). 21 Zur Person Ritters vgl. Schumann, Gerhard Ritter; Zmarzlik, Lebendige Vergangenheit;

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Ritters Bismarck-Interpretation basierte auf einem Modell geschichtlicher Entwicklung, das geeignet schien, die Hypothese langfristiger Kontinuitäten in der deutschen Vergangenheit zu entkräften. Er unterschied in der modernen Geschichte zwei von einander getrennte Epochen, die Ära des europäischen Staatensystems und das etwa seit 1917 einsetzende »eiserne Zeitalter« der Welt­ politik. Bismarck, »der letzte große Kabinettspolitiker der europäischen Ge­ schichte«,22 stand für ihn somit »am Ende einer versunkenen, nicht am Anfang unserer Weltepoche«23 und sei daher aus seiner Zeit, nicht nach dem Maßstab der Erfahrungen der Gegenwart zu beurteilen. Denn die Epoche des europäi­ schen Staatensystems schreibe der Geschichte ihr eigenes Gesetz vor, dem man sich nicht entgegenstellen könne. Die deutsche Nationalbewegung sei daher als konkrete und »natürliche Reaktion«24 auf die Erfordernisse der Geschichte zu verstehen. In Ritters Diktion war es »der Gang des Jahrhunderts überhaupt, dieses Jahrhunderts der nationalen Einheitsbewegungen«, 25 den Bismarck durch die Gründung eines Nationalstaates lediglich implementiert habe. Damit sah Ritter nun aber gleichzeitig den Endpunkt eines geschichtlichen Abschnitts erreicht. »Weltgeschichtlich ... geht die Epoche des europäischen Staatensystems und der nationalen Einigungsbewegung, zu der Bismarck ge­ hörte, schon zu seinen Lebzeiten zu Ende.« Das europäische Staatensystem sei dann durch eine weltpolitische Ordnung abgelöst worden, deren Beginn Ritter auf das Jahr 1917 datierte. Das dazwischenliegende Zeitalter des Imperialismus galt ihm als Übergangsphase, in der der Nationalstaat zum Kolonialstaat dege­ neriert sei. Die Strömungen des Positivismus, des Materialismus und des Mar­ xismus, in denen Ritter ein Vermächtnis der Französischen Revolution erkann­ te, hätten nun dazu beigetragen, daß aus dem »vielfarbigen« Nationalismus des 19. Jahrhunderts ein kruder Biologismus wurde: der »Kampf ums Dasein« habe den hehren »Wettkampf moralischer Energien« ersetzt. Das Ende des Ersten Weltkrieges habe dann endgültig eine neue Epoche der Geschichte eingeleitet. »Der Schauplatz großer Politik erweitert sich ins Globale: vom System der eu­ ropäischen Pentarchie zum System der Weltmächte, von der Nationalpolitik zur Weltpolitik.«26

Schwabe, Der Weg in die Opposition; ders., Zur Einführung: Gerhard Ritter; ders., Change and Continuity. Nicht alle Kollegen waren jedoch mit der Klassifizierung Ritters als Widerstands­ kämpfen einverstanden. Für Wilhelm Mommsen etwa gehörte Ritter zu den »Persönlichkeiten..., die von der alten politischen Rechten kommen, und nur deshalb nicht formell belastet sind, weil der Nationalsozialismus sie für reaktionär hielt«. Zitiert nach Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 234. Vgl. etwa auch die Einschätzung von Scöhttier, ›Westforschung‹, S. 230f. 22 G. Ritter, Europa, S. 110, 84. 23 G. Ritter, Bismarckproblem, S. 136. 24 G. Ritter, Grossdeutsch und Kleindeutsch, S. 112. 25 G. Ritter, Europa, S. 89. 26 G. Ritter, Europa, S. 109, 110, 109.

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Auf diese Weise war schon in Ritters Geschichtsmodell eine Zäsur eingebaut, die das Bismarckreich und den Nationalsozialismus unterschiedlichen Peri­ oden zuordnete, zwischen denen keine Kontinuität herrschen könne. Der Na­ tionalsozialismus habe daher nicht den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts be­ erbt, sondern vielmehr den Marxismus, der der entstehenden Weltordnung den Wahn des »Kampfes um Lebensraum« injiziert habe. So war auf der M o ­ dellebene ein Befund schon präfiguriert, der dann auf der Ebene des empiri­ schen Nachweises unmittelbar plausibel wirkte. Bismarck und Hitler schienen so gar nicht in einer Kontinuitätslinie stehen zu können; sie gehörten verschie­ denen Epochen an. Und die Kluft zwischen diesen Epochen schien so tief, daß Ritter es für angebracht hielt, dies auch durch eine durchaus eigenwillige An­ passung der Chronologie zu manifestieren. Denn durch die weltgeschichtliche Zäsur waren in Ritters Deutung Bismarck und Hitler durch mittlerweile zwei volle Jahrhunderte voneinander getrennt. 27 Dennoch war es nicht so, daß die spätere ›Katastrophe‹ im Nationalsozialis­ mus keinerlei Schatten auf die Gründung des Nationalstaates fallen ließ. Auch für Ritter schoß etwa die »Theologie Bismarcks«, die der Schweizer Historiker Leonhard von Muralt betreibe, über das wünschenswerte Ziel hinaus. 28 Aber selbst Muralt hatte eingeräumt, daß »absolutistische Einrichtungen... im Deut­ schen Reiche von 1871 weiterleben konnten.« 29 Und auch Ritter sah die innen­ politischen Leistungen des Kaiserreiches zunehmend distanzierter und sprach Mitte der fünfziger Jahre offen von dessen »zweifellosen Strukturfehlern«. 30 Dieses Interpretationsmuster, das die außenpolitischen Leistungen Bismarcks pries und daneben Ungereimtheiten der inneren Verfassung des Reiches einge­ stand, war auch unter anderen nationalkonservativen Historikern verbreitet. Auch Wilhelm Mommsen oder Wilhelm Schüssler - beides Historiker, die im Rahmen der Entnazifizierung ihr Ordinariat hatten aufgeben müssen - konze­ dierten innenpolitische Fehler, die Bismarcks Leistungen ein Stück weit relati­ vierten. 31 Daß die Kritik nicht weiter ging, beruhte auch auf einem Argumenta­ tionsmuster, das als weitgehend unhinterfragtes methodisches Axiom der historistischen Geschichtsschreibung zugrundelag: denn die innere Struktur der Gesellschaft galt als determiniert von ihrer äußeren Politik. Wie alle Aspekte

27 C .Ritter, Europa, S. 114,86. Ritter schrieb dort: »Von hier aus wird am deutlichsten, welcher Abgrund die Erscheinung Bismarcks von der eines modernen Nationalisten und Abenteurers wie Adolf Hitler trennt. Es ist, von aller Unvergleichbarkeit des geistigen Rangs und der menschlichen Qualitäten abgesehen, der Abstand von zwei Jahrhunderten europäischer Geschichte.» 28 So Ritter in einem Brief an Hans Rothfels, in: Schwabe u. Rekhardt, S. 512. Die Übereinstim­ mung der Ziele stand jedoch nicht in Frage; Ritter befand es für »gut,... daß ein Schweizer sich in diesem Sinn vernehmen läßt.« Ebenda. 29 Muralt, Reichsgründung, S. 31 30 Ritter in Schwabe u. Reichhardt, S. 512. 31 W. Mommsen, Kampf um das Bismarckbild; Schüssler, Standort.

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der Innenpolitik erschienen somit auch die Konstruktionsmängel des Deut­ schen Reiches als Resultat des Primats der Außenpolitik, den »kein Staat unge­ straft [... wird] vernachlässigen dürfen.« 32 Und das gelte auch für den Histori­ ker. Daher habe in der Analyse das Hauptaugenmerk ebenfalls der Beurteilung der internationalen Situation zu gelten, in deren Rahmen die Frage der deut­ schen Einheit verhandelt worden sei. Das Ziel Bismarckscher Politik, die natio­ nale Einigung, schien so durch den »Gang des Jahrhunderts‹ bereits vorgegeben - und allenfalls über Bismarcks Methoden, über ›Blut und Eisen‹ ließe sich noch debattieren.33

c) Das ›katholische‹ Geschichtsbild

Ungeachtet der Kritik an Bismarcks Methoden wurde jedenfalls Ritters vehe­ menter Kreuzzug gegen die Kontinuitätsthese grundsätzlich von der Mehrheit der Historiker mitgetragen. Er richtete sich gegen Versuche einer kritischen Revision des Bismarckbildes, die in den ersten Nachkriegsjahren eine gewisse Konjunktur hatten. Diese knüpften häufig an die noch 1944 in der Schweizer Emigration publizierte kritische Bismarck-Biographie des Juristen Erich Eyck an, die aber erst in den Nachkriegsjahren von den Fachhistorikern rezipiert wurde. 34 Eyck hatte von linksliberaler Warte aus Kritik an Bismarcks Machtpo­ litik geübt, die zwar in keiner direkten Verbindung zu Hitler stehe, aber das Aufkommen des Nationalsozialismus doch erheblich begünstigt habe.35 Expli­ ziter noch hatte Robert Saitschick den Stammbaum des ›Dritten Reiches‹ bis zu Friedrich und Bismarck zurückverfolgt. 36

32 Murall, Reichsgründung, S. 31. 33 Schüssler etwa versicherte, die Würfel seien schon lange vor Bismarck gefallen; siehe Schüss­ ler, Standort, S. 103. Wahrend des Dritten Reiches war Schüssler ein Vertreter der Mitteleuropa­ und später auch der Reichsidee gewesen. Vgl. etwa Schüssler, Mitteleuropa sowie ders., Reich. Nach 1945 aber betonte er (im Anschluß an Gerhard Ritter) die Unausweichlichkeit der nationalen Einigung; dennoch blieb die Überzeugung, daß der kleindeutsche Nationalstaat zu schwach gewe­ sen sei und »daß also dieser Teil der deutschen Geschichte ein echtes Trauerspiel ist« (Schüssler, Standort, S. 179). 34 Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 224. 35 Eyck, Bismarck. Die liberale Kritik an Bismarck war nach 1945 ein wichtiges Element der Debatten über die Reichsgründung; sie konzentrierte sich in erster Linie auf innen- und verfas­ sungspolitische Fragen. Wenn im folgenden hingegen vornehmlich die Suche nach dem Ort der Nation im Vordergrund steht, so ist dies nicht zuletzt ein Ausdruck der Tatsache, daß die linkslibe­ rale Bismarckkritik unter den Fachhistorikern erst seit den 1960er Jahren eine entscheidende Rolle spielte. 36 Saitschick, Bismarck und das Schicksal des deutschen Volkes.

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Die großdeutsche Bismarck-Deutung Diese von außen an die akademische Geschichtsschreibung herangetragene Kritik wurde von dem Münchner Historiker Franz Schnabel aufgenommen, der während des Dritten Reiches seinen Lehrstuhl verloren hatte und in den ersten Nachkriegsjahren von vielen Historikern als Repräsentant einer Erneue­ rung der deutschen Geschichtswissenschaft angesehen wurde. 37 Schnabel - wie Ritter ein Schüler Hermann Onckens - stellte dabei Eycks Argument gewisser­ maßen auf den Kopf; seine Kritik richtete sich nicht gegen die Methoden - eine militaristische Machtpolitik-, sondern vielmehr gegen das Ziel Bismarckscher Politik, das Projekt der kleindeutschen Einigung. In diesem Ziel erkannte er das »Abreißen einer deutschen Tradition«, die in einer übernationalen staatlichen Ordnung bestanden habe. Durch die kleindeutsche Einigung sei diese Traditi­ on unterbrochen und Österreich aus Deutschland hinausgedrängt worden, mit nun deutlich übersehbaren Folgen: »Man kennt die Etappen, in denen sich dieses Verhängnis, wie wir es heute nennen müssen, vollzogen hat.«38 Damit hatte Schnabel der Kontinuitätsdebatte einen spezifischen Brenn­ punkt geschaffen. Die Kontinuität, die seiner Einschätzung nach in die ›Kata­ strophe‹ geführt hatte, lag für ihn in der Verengung der Politik auf nationale Kriterien.39 Damit formulierte Schnabel eine explizite Gegenposition zu dem national-konservativen Geschichtsbild der Mehrheit der westdeutschen Histo­ riker. Verhandelt wurde also nicht lediglich die Frage nach Einschnitten und Zäsuren, sondern nach der nationalstaatlichen Tradition der Deutschen. Im Gefolge von Niederlage und der Erfahrung des Nationalsozialismus drängte sich die Auseinandersetzung mit den Gefahren eines Nationalismus auf, der für Deutschlands ›Katastrophe‹ ursächlich gewesen schien. Die Kontroverse über die Anfänge des modernen Nationalstaates standen somit in direkter Verbin­ dung zur Suche nach den Ursachen des Krieges. Nationale Traditionen schie­ nen fragwürdig geworden, umso mehr, als nun auch geographisch-territorial die nationale Einheit Deutschlands nur noch eine vergangene oder vorgestellte war. Die Rolle des Nationalstaates in der deutschen Geschichte stand also für zahlreiche Historiker, die die Bismarcksche Politik der Reichseinigung am 37 Schnabel hatte an der Technischen Hoschschule in Karlsruhe gelehrt und mußte 1936 sei­ nen Lehrstuhl aufgeben. Zu Schnabel siehe Gall, Franz Schnabel; Schubert; Lönne, Franz Schnabel; ders., Heinrich Lutz und Franz Schnabel; Hertfelder, Franz Schnabel. 38 Schnabel, Das Problem Bismarck, S. 115. 39 Schnabel bemängelte, daß dieser Gesichtspunkt im bisherigen Verlauf der Bismarck-Kon­ troverse zu wenig Berücksichtigung gefunden habe: »In allen diesen Erörterungen und Diskussio­ nen ist das Werk Bismarcks, die Gründung eines in sich geschlossenen Nationalstaates im Herzen Europas, niemals der Diskussion unterworfen oder angezweifelt worden.« Schnabel, Bismarck und die Nationen, S. 93.

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Ende der vierziger Jahre erneut unter die wissenschaftliche Lupe nahmen, im Zentrum des Interesses. Das diskursive Feld wurde dabei von zwei gegensätz­ lichen Polen konstituiert, die Nation und Staat in unterschiedlicher Form mit­ einander korrelierten. Diese oppositionellen Konzepte lassen sich mit den Be­ griffen des Nationalstaates und der Reichsidee beschreiben. Im einen Fall erschien der Nationalstaat auf einheitlicher ethnischer und kultureller Grund­ lage als die Organisationsform, die nicht nur der modernen industrialisierten Welt angemessen war, sondern auch als Erfüllung des jahrhundertelangen Ein­ heitsstrebens der deutschen Nation betrachtet wurde. Aber auch die Reichs­ idee, die jenseits nationaler Beschränkungen auf eine überregionale Ordnung zielte, wurde mit dem Anspruch vertreten, die ›eigentlichen‹ Traditionen der deutschen Geschichte zu repräsentieren. Diese beiden Positionen strukturier­ ten das argumentative Reservoir, dessen sich die westdeutschen Historiker in der Beurteilung des Bismarckschen Werkes bedienten. Für Schnabel jedenfalls bestand das Problem in der Aufgabe der übernatio­ nalen, universalen Traditionen, wie sie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verkörpert habe, und in der Adaption einer volkstümlich-nationalen Ideologie. Das »Verhängnis« habe darin bestanden, »daß Mittel- und Osteuropa in lauter selbständige Nationalstaaten sich auflösten« und das unter preußischer Ägide geeinte Klein-Deutschland nicht an das transnationale Vermächtnis Österreich-Ungarns anschloß. 40 Mit dieser Ansicht stand Schnabel nicht allein. Auch sein Schüler Georg Smolka, seit 1954 Neuzeithistoriker in Speyer, sprach von der »abstrakten, dem deutschen geschichtlichen Leben fremden Einheits­ idee« und hielt den Bismarckschen Nationalstaat für ein verhängnisvolles Ok­ troi. Die Ablehnung der 1871 verwirklichten nationalen Ordnung begründete auch er, das entsprach dem in der Nachkriegszeit üblichen Argumentations­ muster, mit der These von einer unheilvollen Kontinuität. »Ob der... gewählte Weg zur Verwirklichung der deutschen Einheit der richtige war, wird man nach den Erfahrungen des Jahrhunderts, das uns von ihrem Versuch trennt, füglich bezweifeln. Der kleindeutsche Einheitsstaat unter Ausschluß Österreichs hat dem deutschen Volk und Europa wenig Segen gebracht.« Auch hier wird aber deutlich, daß mit der Frage nach der Kontinuität stets auch die Frage nach dem ›eigentlichen‹, alternativen Kurs der deutschen Ge­ schichte verbunden war. Smolka jedenfalls schien offensichtlich, »daß die kleindeutsche Lösung ... gegen den Geist der deutschen und europäischen Geschichte verstieß«. Der Weg von Bismarck zu Hitler, den Smolka als mehr oder weniger direkte Verbindung begriff, war in seinen Augen somit nicht nur verhängnisvoll gewesen, sondern widersprach überdies dem ›deutschen We­ sen‹. Auffallend ist nun, daß dieser nationale ›Kern‹, an den Schnabel oder Smolka erinnerten, nicht nur eine ideelle Größe war, sondern häufig auch geo40 Schnabel, Problem, S. 115.

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graphisch konnotiert war. Für Smolka etwa war ein »universal-abendländisches und national-deutsches Wesen und Wollen« nicht nur »anders als bei den Na­ tionen Westeuropas«, sondern ließ sich auch innerhalb Deutschlands lokalisie­ ren: »Beheimatet blieb es vornehmlich ... in Österreich, sowie in den Land­ schaften des deutschen Westens und Südwestens.«41 Auch Herbert Michaelis veröffentlichte 1952 »im Auftrag des Instituts für Politische Wissenschaft, Berlin-Dahlem« eine Studie über den Prozeß der deutschen Einigung unter kleindeutschen Vorzeichen.42 Seine Untersuchung erschien in der von Ernst Stier und Fritz Ernst herausgegebenen Zeitschrift »Die Welt als Geschichte«, die vielen katholischen Historikern als Forum dien­ te. Michaelis erblickte bereits im preußischen Sieg über Österreich 1866 »die eigentliche Reichsgründung«. »Königgrätz ... trägt das volle Gewicht der ge­ schichtlichen Wende, in der ein völlig neues Deutschland seinen historischen Lauf begann.« Der Charakter dieser Wende bestand auch für ihn darin, daß nun »das nationalstaatliche Ideal... über das Ideal der universalen Monarchie« ge­ siegt habe. »Mit einem Schlag begann ein völlig neues, bis dahin unbekanntes Deutschland seinen Lauf« Auch für Michaelis bestand im übrigen die »folgen­ reichste Veränderung« der deutschen Geschichte nicht zuletzt darin, daß Deutschlands »geographischer Begriff... verengert« worden sei.43 Dieses Interpretationsmuster, das gleich als Element eines katholischen Ge­ schichtsbildes charakterisiert werden soll, mußte auch als nachträgliche Ab­ rechnung mit der kleindeutschen Einigung verstanden werden, die diesen Hi­ storikern nun geradezu als dem ›Deutschen‹ wesensfremd erschien. Der Münchner Neuzeithistoriker Karl Buchheim bezeichnete die Bismarcksche Reichsgründung als unhistorisches Kunstprodukt, »das nicht die von Ge­ schichte und Natur nahegelegte deutsche Aufgabe im Südosten anerkannte«. Diese Einsicht erfordere auch eine Überprüfung der preußenlastigen, auf Bis­ marcks Einheitswerk fixierten deutschen Historiographie. »Der Kernpunkt der Revision scheint mir zu sein, zutreffend zu erkennen, wann der wahre ›Kairos‹ der Deutschen in der neueren Geschichte gewesen wäre und zu welchen Auf­ gaben er uns berufen hätte.« Buchheim hielt es nun für einen Fehler, zu glau­ ben, »das Kaiserreich von 1871 habe diese Stunde gebracht.« Stattdessen habe Deutschland in diesem Moment den gleichsam ›natürlichen‹, seinem Wesen‹ entsprechenden Weg verlassen. Nur auf der Basis einer großdeutschen Eini­ gung, »nur in Verbindung mit der alten Donaumonarchie wäre ein geschichtli41 Smolka, Revolution, S. 412, 413, 402. 42 Michaelis war ein Schüler von Erich Brandenburg; seit 1929 hatte er für die Historische Reichskommission, 1935-39 dann in Walter Franks »Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands« gearbeitet, wo er mit Akteneditionen zur Außenpolitik Preußens zwischen 1858 und 1871 beschäftigt war. Nach dem Krieg fand er 1951 eine Anstellung als Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule in Berlin. 43 Michaelis, Königgrätz, S. 178,180, 185, 184.

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cher Raum und ein geschichtliches Recht für die Politik des deutschen Gedan­ kens gegeben gewesen: keine Weltpolitik nach englischem Maßstab, aber doch eine große Politik mit weitem Horizont. Es ist Aufgabe künftiger deutscher Geschichtsschreibung, diesen Nachweis zu fuhren.«44 Mit der Umdeutungder Reichsgründung war mithin auch der Anspruch auf eine alternative deutsche Historiographie verbunden.

Elemente des ›katholischen‹ Diskurses Diese revisionistischen Deutungen, das ist nun mehrfach angeklungen, stan­ den ausgesprochen oder auch nur implizit im Zusammenhang einer Weltsicht, die als ›katholisches‹ Geschichtsbild bezeichnet werden kann. Der Würzburger Historiker Ulrich Noack etwa betrachtete es als Deutschlands Aufgabe (und darin sei es anders »als die westlichen Randvölker, als die Nationalstaaten am Atlantik«), den Schutz eines christlich-zivilisatorischen Abendlandes zu ge­ währleisten. 45 Diese Terminologie schloß seine Ausführungen an die Abend­ landsrhetorik an, die vor allem in katholischen Kreisen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges florierte. Und wenn Historiker wie Schnabel (Hochland) oder Smolka (Frankfurter Hefte) ihre Bismarck-Kritik in katholischen Kultur­ zeitschriften erscheinen ließen, dann rückte dies ihre Überlegungen in einen Diskussionszusammenhang, der auf das diskursive Repertoire des politischen Katholizismus zurückgriff. So beklagte Schnabel die Freisetzung des Individu­ ums aus seinen religiösen Verankerungen im 19. Jahrhundert und betonte, »der einzige Maßstab, nach dem Völker und Kulturen gemessen und unterschieden werden können,« sei die Frage, »ob in ihnen ein Glaube lebt an eine höhere Weltordnung«, die er wiederum mit der »Universalität der christlichen Weltan­ sicht« identifizierte.46 Die Rhetorik der Argumentation erinnerte an die These von der »Preisgabe Gottes«, wie sie Alfred v. Martin, ebenfalls in der Zeitschrift Hochland, als grundlegende Fehlentwicklung der Moderne diagnostiziert hat­ te.47 Von Martin, der nach dem Krieg als Honorarprofessor in München tätig war, griff ebenfalls in die Debatte über die Reichseinigung ein. Er bezeichnete Bismarck als »alte[n] Hexenmeister« und als »›bösen‹, weil ›prinzipienlosen‹ und von einem dämonischen Machtwillen getriebenen Mann« und nannte Bis­ mareks Regierungsübernahme im Jahre 1862 einen »historischen Schicksals­ moment«, der auch die spätere Katastrophe nach sich gezogen habe. Verant-

44 45 fen in 46 47

Karl Buchheim, Macht, S. 478, 479. Noack, Werk, S. 53. Vgl. auch Noacks Reaktion auf Schnabels Vortrag beim Historikertref­ Speyer 1949: Schnabel, Bismarck und die Nationen, S. 106. Schnabel, Bismarck und die Nationen, S. 118. A. Martin, Geistige Wegbereiter des deutschen Zusammenbruchs.

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wortlich für diesen Niedergang sei jedoch nicht nur die Person des ›eisernen Kanzlers( - v. Martin lehrte auch Soziologie und verwahrte sich entschieden gegen eine solche Personalisierung der Geschichte - , sondern die mangelnde Tiefe christlicher Überzeugungen im deutschen Volk. »Hätte es nicht sonst... Bismarcks skrupellosem Machiavellismus lebhafteren Widerstand entgegen­ setzen müssen?« 48 Schnabel, v. Martin, Noack, Smolka oder Karl Buchheim gehörten zu den westdeutschen Historikern, die eine Bismarckkritik formulierten, deren Argu­ mente in den Begriffen und Wendungen des politischen Katholizismus trans­ portiert wurden. Vorstellungen einer erneuten Verchristlichung eines auf sich selbst zurückgeworfenen Abendlandes waren in den Nachkriegsjahren weit verbreitet. In der öffentlichen Diskussion spielten etwa die zahlreichen katho­ lischen Kulturzeitschriften eine wichtige Rolle, in denen Autoren wie Walter Ferber, Walter Hagemann, Rudolf Degkwitz, Emil Franzel oder Eugen Kogon über die Zukunft Deutschlands und Europas aus christlicher Perspektive re­ flektierten.49 Diese Überlegungen basierten auf einer ›katholischen‹ Lesart der deutschen Geschichte, derzufolge mit Luther der Abfall von der Reichsidee begonnen habe, der in der deutschen Einigung unter kleindeutschen Vorzei­ chen seinen unheilvollen Abschluß gefunden habe. Vor diesem Hintergrund erschien die gesamte Epoche, in der Preußen maßgeblichen Einfluß auf die deutsche Geschichte ausgeübt hatte, als Fehlentwicklung, gekennzeichnet von einem »Mangel an lebendigem C hristentum«, wie beispielsweise der katholi­ sche Publizist Max Pribilla hervorhob. »Ein Irrweg von wenigstens zwei Jahr­ hunderten deutscher Erziehung und Geschichte hat heute in einer Sackgasse geendet.« 50 Elemente dieses katholischen Geschichtsbildes fanden sich auch in den Programmen zahlreicher politischer Gruppierungen, die mehrheitlich zur föderalistischen Bewegung gezählt werden konnten, aber etwa auch aus den Reihen der CD U und C S U ; diese politische Dimension unterstrich die Brei­ tenwirkung, die dieser weltanschaulich geprägte Diskurs in den ersten Nach­ kriegsjahren besaß.51 Vor diesem Hintergrund müssen auch die Ansätze zu ei48 A. Martin, Bismarck und wir. 49 Vgl. dazu Solchany, Comprendre, S. 115-134. 50 Pribilla, Deutschland, S. 76, 78. Auch hier fanden sich die Vorstellungen von einer deut­ schen Aufgabe in Europa, die für den katholischen Abendlanddiskurs typisch waren: »Wie Deutschland geographisch die Mitte Europas ist, so soll es auch das verbindende Zentrum eines freien und friedlichen Europas sein. Jedenfalls muß dies das Ziel sein, auf das es sein ganzes Sinnen und Trachten zu richten hat.« Ebenda, S. 115. 51 Vgl. Solchany, C omprendre, S. l23f; Lönne, Katholizismus 1945; Rauscher, Kirche; Lönne, Politischer Katholizismus. Elemente eines katholischen Geschichtsbildes fanden sich etwa auch in der auf Konrad Adenauer zurückgehenden Präambel des Programms der C D U der britischen Zone vom 1. März 1946. Dort hieß es unter anderem: »Die Epoche, in der die materialistische Weltanschauung in Deutschland die geistige Grundlage wurde, ... soll zu Ende sein. - Auch der Nationalsozialismus wurzelt in dieser Weltanschauung ... Wohin diese Entwicklung, die weit vor

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ner Revision des Geschichtsbildes seitens der katholischen Historikerschaft verstanden werden. Für Historiker wie etwa Karl Buchheim erschien daher »der Zusammenhang mit der christlichen Komponente« als maßgebliche Vor­ aussetzung historiographischer Interpretation. 52 Auch Historiker, die sich innerhalb dieses Rahmens bewegten, profitierten somit von der Plausibilität und der Deutungskompetenz einer ›katholischen‹ Position. Durch die Einrichtung von Lehrstühlen, die ausschließlich katholi­ schen Historikern vorbehalten blieben (sogenannte Konkordatslehrstühle), bestand bereits eine formale Grundlage einer ›katholischen‹ Lesart der deut­ schen Geschichte. So war für die entsprechenden Professuren an den Univer­ sitäten in Bonn, Freiburg, München, Münster, Tübingen und Würzburg die konfessionelle Gebundenheit des Bewerbers eine wesentliche Voraussetzung. 53 Über diese administrativen Strukturen hinaus betrachteten sich gerade in der Nachkriegszeit zahlreiche katholische Historiker einer eigenen scientific C om­ munity zugehörig, die sich explizit von der als protestantisch und national cha­ rakterisierten (Ritterschen) Hauptrichtung der deutschen Historikerschaft ab­ setzte. Es gab auch Versuche, diesen Zusammenhang zu institutionalisieren. Der ›Arbeitskreis christlicher Historiker‹, der in den späten vierziger Jahren in verschiedenen Teilen Deutschlands gegründet wurde, vereinte auf lose Weise Historiker, die die Möglichkeiten eines christlich inspirierten Geschichtsbildes ausloten wollten. Zwischen 1947 und 1951 fand vornehmlich im südwestdeut­ schen Raum eine Reihe von Tagungen statt, bei denen auch die Verbindung von Abendland, C hristentum und Geschichte thematisiert wurde. Und auch die Gründung des Mainzer »Instituts für Europäische Geschichte« im Jahre 1950 stand noch im Zusammenhang mit den Aktivitäten des »Arbeitskreises«. Eine der beiden Abteilungen des Mainzer Instituts war der Abendländischen Religi­ onsgeschichte gewidmet und von dem katholischen Kirchenhistoriker Joseph Lortz besetzt.54 Die Konfession allerdings implizierte nicht automatisch die Übernahme ei­ nes religiös bestimmten Bildes von der Vergangenheit. Der ›Arbeitskreis‹ rich­ tete seine Aufrufe auch an Historiker evangelischer Konfession und hatte die »tunlichste Annäherung der beiden christlichen Konfessionen« auf seine Fah-

dem Anfang dieses Jahrhunderts begann, geführt hat, sehen wir: ... Nur eine weltanschauliche Änderung des Volkes kann eine Besserung bringen. Eine sittliche Erneuerung ist notwendig... An die Stelle der materialistischen Weltanschauung muß wieder die christliche Weltanschauung treten ... « Zitiert nach Repgen, Erfahrung, S. 139. 52 Karl Buchheim, Macht, S. 483. 53 Vgl. Tilmann, Konkordatsprofessuren. Siehe auch Weber, Priester, S. 83—92. 54 Vgl. hierzu das informative Kapitel bei Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 266-280. Vgl. auch Lautenschläger, Lortz. Hinsichtlich der offiziellen Beschreibung der Aufgaben des Instituts wurde sogar der Vorschlag gemacht, dessen Ziele sollten »im Sinne der römisch-katholischen Kir­ che« festgelegt werden. Vgl. ebenda, S. 409.

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nen geschrieben. 55 Dennoch wurde in der Selbst- und Fremdwahrnehmung die Position dieser Historiker häufig als eine ›katholische‹ verstanden. Franz Herre etwa warf Gerhard Ritter vor, auf dem Historikertag 1949 in München »viel zu wenig vom Abendland und von der Notwendigkeit einer Revision der bisherigen Geschichtsbetrachtung aus christlich-abendländischem Verantwor­ tungsbewußtsein gesprochen« zu haben. 56 Diese Berufung auf ein christliches Abendland diente der Abgrenzung von der Mehrheit der deutschen Historiker, die man mit der Idealisierung des protestantisch-preußischen Nationalstaats identifizierte. Die wissenschaftliche Frontlinie wurde also häufig in weltan­ schaulich-religiösen Termini definiert, und auch auf der ›Gegenseite‹ (im »Rit­ ter-Club«) stilisierte man den interpretatorischen Gegensatz zu einer Differenz der konfessionellen Zuordnung. Wilhelm Schüssler etwa ironisierte genüßlich den »geschärften Blick der katholischen Weltanschauung«, mit dem Schnabel oder Buchheim die Auseinandersetzung mit Bismarcks Reichseinigung auf­ nahmen. U m dieser ›katholischen‹ Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, betonte Schüssler auch in seiner eigenen Intervention in der Kontroverse nach­ drücklich den christlichen C harakter Bismarcks und etablierte ihn als religiö­ sen europäischen Politiker.57 Diese katholisch-protestantischen Gegensätze bestimmten nicht nur die In­ terpretation der deutschen Geschichte, sondern sie grenzten auch zwei wichti­ ge Lager voneinander ab, in denen um die Reorganisation der professionalisier­ ten Historikerschaft gerungen wurde. Die wissenschaftspolitische Relevanz dieser Frontlinie läßt sich beispielsweise anhand der Gründung der Zeitschrift »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« illustrieren. Diese Zeitschrift, die an die Tradition der Vorkriegspublikation »Vergangenheit und Gegenwart« an­ knüpfte, war gleichermaßen an Geschichtslehrer und Universitätshistoriker gerichtet. Dementsprechend wurde die Herausgeberschaft gemeinsam von je einem Vertreter der beiden Zielgruppen übernommen. Zugleich aber sollten die Herausgeber die konfessionellen Gruppierungen repräsentieren, die um die Deutung der deutschen Geschichte konkurrierten (wobei wiederum auffällt, daß diese Geschichtsbilder auch eine geographische Komponente zu besitzen schienen). Gerhard Aengeneyndt vom Stuttgarter Klett-Verlag schrieb daher im Oktober 1949 an Karl Dietrich Erdmann: »Bei dem augenblicklichen Stand der Dinge wäre es erwünscht, wenn j e ein Norddeutscher und ein Süddeut­ scher und j e ein Katholik und ein Protestant sich in die Arbeit teilen würden.« 58 55 So in einem Antrag auf finanzielle Unterstützung durch die bayerische Staatsregierung; zitiert nach Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 269. 56 Zitiert nach Auerbach, Gründung, S. 543. 57 Schüssler, Der geschichtliche Standort Bismarcks, S. 173. 58 Zitiert nach Erdmann, Erinnerungen, S. 730. Der protestantische Kieler Historiker Erdmann teilte sich die Herausgeberschaft mit Felix Messerschmid, einem katholischen Oberstudienrat aus Calw.

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Und auch bei den Verhandlungen und Intrigen, die die Wiedergründung des Historikerverbandes begleiteten, waren konfessionelle Differenzen deutlich spürbar. Gerhard Ritters Vorhaben einer Neugründung unter seiner Führung stieß bei einer Reihe von katholischen Historikern auf starke Vorbehalte.59 Rit­ ter war auch bei der national-konservativen Mehrheit der Historiker alles ande­ re als unumstritten. Aber vor allem die Tatsache, daß »in katholischen Kreisen viel Opposition gegen Ritter ist«, wie der Göttinger Hermann Heimpel zu be­ richten wußte, erschwerte die reibungslose Inthronisation seines Projektes. Trotz aller Opposition drückte es die Machtverhältnisse in der deutschen Hi­ storikerschaft aus, daß Ritter dennoch auf dem Münchner Historikertag 1949 mit großer Mehrheit zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde. 60 In der Bismarck-Kontroverse spielten die mit einem katholischen Ge­ schichtsbild assoziierten Interpretationen eine wichtige Rolle und verliehen den Auseinandersetzungen erst ihre Brisanz. Doch auch hier blieben die ›ka­ tholischen‹ Historiker in der Minderheit, und ihre Versuche, retrospektiv einen alternativen Weg deutscher Geschichte zu entwerfen, wurden als »Mitteleuro­ paphantasien« abgestempelt. Nachdem ihre Hoffnungen auf eine grundlegen­ de Revision des Geschichtsbildes sich in den ersten Nachkriegsjahren zerschla­ gen hatten, ging der Einfluß dieser katholischen Fraktion mehr und mehr zurück; bereits am Ende der fünfziger Jahre waren konfessionell geprägte Stel­ lungnahmen in den Debatten der Zunft eine seltene Ausnahme.

d) Das Ausnahmejahrhundert Die Mehrzahl der Fachvertreter jedenfalls betrachteten wie Ritter den Natio­ nalstaat als das natürliche Ziel deutscher Politik im 19. Jahrhundert. Wilhelm Mommsen etwa betonte: »Bismarck selbst hat jede Außenpolitik abgelehnt, die ein übernationales Mitteleuropa anstrebte, und die schließlich in dem Marsch nach Prag 1939 endgültig die Katastrophe auslöste.«61 Der Großteil der west­ deutschen Historiker war sich daher auch einig, Bismarck aus der Kontinuität zum Dritten Reich herauszunehmen. »Bismarck gehörte zu... der Anti-Hitler­ Welt.«62 Diese Überzeugung beruhte zumeist auf der Annahme einer Zäsur zwischen 19. und 20. Jahrhundert und, damit einhergehend, auf einer strikten 59 Ritter bekannte sich explizit zum protestantischen Glauben und engagierte sich auch poli­ tisch im Interesse der Evangelischen Kirche. Auf Veranlassung der EKD verfaßte er etwa in den Jahren 1945-1949 sechs Denkschriften zur Welt-, Europa- und Deutschlandpolitik. Vgl. zu dieser Tätigkeit Nowak, Gerhard Ritter. 60 Zitat nach Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 165. Ausführlich zur Neugründung des Hi­ storikerverbandes ebenda, S. 159-182. 61 W. Mommsen, Der Kampf um das Bismarckbild, S. 168. 62 Rothfels, Probleme einer Bismarck-Biographie, S. 81.

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Trennung zwischen Bismarckscher Realpolitik und Hitlers Expansionismus. Vor diesem Hintergrund wurde dann, wie wir am Beispiel Gerhard Ritters ge­ sehen haben, die Nationalstaatsgründung von 1871 weiterhin als Höhepunkt der deutschen Geschichte betrachtet. Diese Schlußfolgerung war jedoch keine notwendige. Nicht jeder, der sich gegen die Kontinuitätsthese wandte und den »Brückenschlag zu einer besseren Vergangenheit« auf seine Fahnen geschrieben hatte, mußte auch mit dem Projekt des Nationalstaats konform gehen. Neben der Bismarck-Apologie der national-konservativen Mehrheit und der (eben­ falls konservativen) ›katholischen‹ Opposition ließ sich in der Bismarck-Kon­ troverse noch ein dritter Deutungsansatz ausmachen, dessen interpretative Stoßrichtung sich anhand des Vortrages, den Hans Rothfels auf dem ersten Historikertag der Nachkriegszeit 1949 in München hielt, illustrieren läßt. Rothfels (1891-1976) hatte in Freiburg bei Friedrich Meinecke studiert. 1926 erhielt Rothfels einen Ruf nach Königsberg, wo er acht Jahre lang unter­ richtete. Seiner jüdischen Herkunft wegen erhielt er 1935 Lehrverbot und mußte 1938 das Land verlassen. Er emigrierte in die Vereinigten Staaten, wo er an der Brown-Universität (nach 1945 dann in Chicago) eine Professur erhielt. Nach dem Krieg gehörte Rothfels zu den wenigen Emigranten, die die Mög­ lichkeit der Rückkehr nach Deutschland nutzten. 1951 wurde er Ordinarius in Tübingen und gehörte fortan zu den einflußreichsten Historikern der frühen Bundesrepublik. Das dokumentieren auch die häufigen Verweise auf Rothfels' Schriften, die sich bei anderen Historikern finden. Er hatte zahlreiche Schüler und gab wesentliche Impulse für die noch junge Zeitgeschichtsschreibung, die er auch als langjähriger Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte unterstützte.63 Rothfels hatte 1932 in Göttingen auf dem letzten Historikertag vor der Machtergreifung den Schlußvortrag gehalten, und so knüpfte sein Auftreten in München symbolisch an die ›guten Traditionen‹ eines ›besseren Deutschland‹ an. Er sprach nun betont in seiner Rolle als Exilant, die ihm nicht nur morali­ sches Kapital einbrachte, sondern auch methodisch Vorteile zu versprechen schien: Rothfels reklamierte einen Objektivitätsvorsprung für sich, da ihn die Erfahrung der Emigration in die Lage versetzt habe, aus der Distanz eine »uni­ versal-geschichtliche« und somit nicht lediglich »eine vereinzelnd nationalge­ schichtliche Sicht« auf die deutsche Geschichte zu werfen. 64 Dies qualifizierte ihn im übrigen auch in den Augen seiner in Deutschland verbliebenen Kolle­ gen dazu, den Vortrag in München zu übernehmen. Der konservative Emigrant Rothfels, der Bismarck ganz entschieden vor der Diskreditierung durch das Dritte Reich in Schutz nahm, schien am ehesten in der Lage, einer Rehabilita63 Zu Rothfels vgl. H. Mommsen, Geschichtsschreibung und Humanität; ders., Hans Rothfels; Klemperer, Hans Rothfels; Neugebauer, Hans Rothfels' Weg. 64 Rothfels, Bismarck und das 19. Jahrhundert, S. 85.

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tion der nationalen Geschichte moralisches und wissenschaftliches Gewicht zu verleihen. Aber obwohl Rothfels als ›Bismarckianer‹ galt, hielt er nun eine Neuinterpre­ tation des Bismarckschen Zeitalters für unumgänglich. Es gelte, das 19. Jahr­ hundert »in den geschichtlichen Gesamtgang« einzuordnen, womit gemeint war: diese Epoche weder als Ursprung (des Faschismus) noch als Endpunkt (der nationalen Entwicklung), als Ziel der Geschichte zu betrachten. Stattdes­ sen sei das 19. Jahrhundert »das am wenigsten universalgeschichtliche der Universalgeschichte«, ja es habe sich geradezu um ein »Zwischenjahrhundert« gehandelt, »das im Gesamtgang der Geschichte eher Seltenheitscharakter als normativen Charakter hat«.65 Denn die Entwicklung seit 1848, also den Sieges­ zug nationaler Strömungen und Bewegungen, betrachtete Rothfels als »anor­ mal«. Das Jahr 1848 galt ihm daher als »wahre Wasserscheide« und markiere den Übergang zu einer Periode der nationalen Ideologie und der Nationalstaaten, die erst 1917 durch den Auftritt der Vereinigten Staaten sowie der Sowjetunion auf der weltgeschichtlichen Bühne beendet worden sei.66 Diese übernationale Perspektive verdankte Rothfels jedoch nicht nur dem veränderten Blickwinkel des Emigranten, sondern sie war noch auf andere Weise mit seiner persönlichen Biographie verknüpft. Seine »ausdrücklich aus der Erfahrungswelt des deutschen Ostens«67 angestellten Überlegungen zum Charakter des Nationalstaates rekurrierten auf Eindrücke, die Rothfels in Kö­ nigsberg gewonnen hatte, wo er eine Zeit verlebt hatte, die er im Nachhinein als »Jahre stärkster Prägekraft« bezeichnete. 68 Auch nach seiner Rückkehr aus der amerikanischen Emigration blieb Rothfels mit seinen Königsberger Schü­ lern und Kollegen in engem Kontakt, und zahlreiche Ansprachen vor der deutsch-baltischen Landsmannschaft oder vor dem Göttinger Arbeitskreis zur baltischen Geschichte bezeugen seine Verbundenheit mit der ostpreußischen Region und Geschichte. Er erblickte in dem Nebeneinander verschiedener Völker, wie er es im Baltikum erlebt hatte, ein Modell für eine friedlich-toleran­ te, übernationale europäische Zukunft. Im Gegensatz zu der Homogenität Westeuropas nötige das »Durcheinander« in Ostmitteleuropa zum »ehrlichen Verzicht« auf den Nationalstaat. Rothfels propagierte stattdessen ein »Gemein­ wesen, ... das mehrere Völker umfaßt, alle gleichberechtigt und gleichwürdig« 69 - und dieses Modell könne einmal als Vorbild dienen für eine europäische Ei­ nigung, für das »Wunschbild einer ›zentral-europäischen Großschweiz‹«.70

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Rothfels, Rothfels, Rothfels, Rothfels, Rothfels, Rothfels,

Bismarck und das 19. Jahrhundert, S. 85, 87, 86, 89. Bismarck und das 19. Jahrhundert, S. 86. Grundsätzliches, S. 90. 700 Jahre, S. 19. Krise, S. 142. Grundsätzliches, S. 108.

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Rothfels' Verarbeitung seiner Königsberger Zeit kann somit als ein wesentli­ ches Ingredienz seiner Konzeption übernationaler Einheiten betrachtet wer­ den, und eine ähnliche Perspektive läßt sich auch bei einer Reihe von ehemali­ gen Königsberger Kollegen wie Reinhard Wittram, Theodor Schieder oder Werner Conze antreffen.71 Diese Vorstellungen vom Aufgehen Deutschlands in größeren, die nationalen Grenzen transzendierenden Organisationsformen knüpfte somit an Diskussionen an, die in der Aufbruchsstimmung der frühen dreißiger Jahre geführt wurden. 72 Insbesondere im Kontext der sogenannten ›Volksgeschichte‹, zu der auch die Königsberger Historiker zu zählen waren, waren Ansätze einer alternativen Geschichtsschreibung entwickelt worden, die die übliche nationalstaatliche Perspektive durch eine Privilegierung der Kate­ gorie des ›Volkes‹ ersetzen wollten. Volk und Staat wurden hier nicht als organi­ sche (bereits bestehende oder erst zu schaffende) Einheit betrachtet - im Ge­ genteil: der Nationalstaat galt den Historikern der Volksgeschichte als Hindernis bei der Erfüllung übernationaler Aufgaben, vor die sie das deutsche Volk gestellt sahen. Die Vorstellungen von der europäischen Mission des deutschen Volkes, die den meisten Werken der ›Volksgeschichte‹ zugrundelagen, waren dabei nicht immer von den Plänen für eine deutsche Vorherrschaft in Ostmitteleuropa zu trennen, die auch die nationalsozialistische Ostpolitik bestimmte. Rothfels' Traum von einer überstaatlichen Volksgemeinschaft von Bukarest bis Reval etwa mußte sich in den dreißiger Jahren nicht nur auf seine akademische Plau­ sibilität, sondern auch auf seine politischen Konnotationen befragen lassen. Trotz dieser Kontinuitäten jedoch - über die unten noch zu sprechen sein wird - kann Rothfels' Bismarckinterpretation der Nachkriegszeit nicht nur im Zu­ sammenhang der ›Volksgeschichte‹ der dreißiger Jahre verstanden werden. In den Interpretationen dieser Historiker nur unzeitgemäße Relikte einer dunklen Vergangenheit zu erblicken, die in verkleideter Form den unwahrscheinlichen Weg in die Gegenwart gefunden hatten, hieße, die Überdeterminiertheit dis­ kursiver Formationen zu ignorieren. Die genealogische Verbindung zu den Diskussionen der dreißiger Jahre war, mit anderen Worten, lediglich ein Aspekt

71 Die beiden ostdeutschen Historiker Gerhard Lozek und Horst Syrbe haben Anfang der sechziger Jahre die Historiker der »Rothfels-Gruppe« als Propagandisten eines revanchistischen Imperialismus bezeichnet. Zu dieser Gruppierung zählten sie neben C onze und Schieder unter anderem auch Karl Dietrich Erdmann, Theodor Eschenburg, Waldemar Besson, Helmut Kraus­ nick, Hans Mommsen, Wolfgang Mommsen, Hiller von Gaertringen, Hans Roos oder Dietrich Geyer. Diese Klassifizierung bezog sich aber in erster Linie auf politische und personale Affinitäten und nicht in allen Fällen auf ein gemeinsames Geschichtsbild. Vgl. Lozek u. Syrbe, Geschichts­ schreibung, S. 6. 72 Ansätze zu einer Revision des Bismarckbildes unter übernationalen Vorzeichen waren bei Rothfels bereits seit Mitte der zwanziger Jahre zu beobachten. Vgl. bereits 1925 Rothfels, Einleitung sowie den Vortrag auf dem Historikertag 1932 (Rothfels, Bismarck und der Osten).

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der Abwendung von einer nationalen Perspektive in der Nachkriegszeit. Denn gleichzeitig verwiesen diese Überlegungen auf die Debatten zur europäischen Integration, die in den frühen fünfziger Jahren geführt wurden und im geteil­ ten Deutschland eine besondere Bedeutung besaßen. In seinem Vortrag »Zur Krise des Nationalstaats«, den Hans Rothfels im November 1952 in Tübingen als Antrittsvorlesung hielt, stellte er seine Analyse ausdrücklich auch in den Zusammenhang der beginnenden westeuropäischen und nordatlantischen Ei­ nigung. In dieser konkreten historischen Situation, in der der deutsche Natio­ nalstaat aufgeteilt war und nationale Einheit nur im Rahmen größerer politi­ scher Gebilde vorstellbar schien, sei der Einsicht nicht mehr auszuweichen, »daß der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ... keine fortschrittliche, sondern eine überholte, ja reaktionäre Lebensform war«.73 Dieser Befund wies, bei genauerer Betrachtung, durchaus Ähnlichkeiten mit eigentlich konkurrierenden Deutungsansätzen auf. Auch wenn die Rhetorik ein wenig variierte, erinnerte der Kern von Rothfels' Überlegungen an die Stel­ lungnahmen, die oben als Teil eines ›katholischen‹ Geschichtsbildes identifi­ ziert worden sind. Die Logik der Rothfelsschen Argumentation unterschied sich nicht prinzipiell von dem Verweis auf die abendländische Aufgabe des deutschen Volkes, wie er sich in den Schriften Franz Schnabels oder Ulrich Noacks fand. In beiden Interpretationen schien die Nachkriegszeit die C hance zu bieten, die »besonderen und andersartigen politischen Lebensformen«74 zu verwirk­

lichen, die angeblich den ›Deutschen‹, dem ›Abendland‹ oder ›Mitteleuropa‹ vorbehalten waren. Die Plausibilität des Arguments konnte dabei auf ganz un­ terschiedliche Weise gewährleistet werden: entweder durch den Appell an ein »christliches Weltbild« (Schnabel), oder aber durch Überlegungen zur »Sozial­ struktur« (Rothfels) der untersuchten Gemeinwesen. Gemeinsam war beiden Deutungsansätzen jedoch die Bezugnahme auf eine (weltanschauliche bzw. sozialstrukturelle) Kategorie, die selbst unhinterfragt blieb und aus der eine politische Überzeugung - daß die nationale Organisationsform dem mitteleu­ ropäischen Raum nicht angemessen sei - abgeleitet wurde. Die Konsequenz war jeweils, das vergangene Jahrhundert im Zusammenhang der deutschen Geschichte als Ausnahme und Abweichung zu betrachten und das Konzept des Nationalstaates als historischen Irrweg zu brandmarken.

73 Rothfels, Krise, S. 131. 74 Noack, Werk, S. 52.

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e) Gerhard Ritter Revisited

Im Gegensatz zu Schnabel oder Noack, die sich offen auf die Seite der ›Feinde Bismarcks‹ stellten, war es aber das Anliegen des konvertierten Protestanten Rothfels, die Person Bismarcks, mit der er sich sein Leben hindurch wissen­ schaftlich beschäftigt hatte, aus der Kritik herauszunehmen. Er war dadurch zu einem argumentativen Spagat gezwungen bei seinem »Versuch, Bismarckschen Gedanken ... einen positiven Sinn abzugewinnen im Hinblick auf eine von der Mitte her gesehene Neuordnung deutscher sowohl wie europäischer Dinge, besonders derer im nationalgemischten Raum«. 75 Rothfels hoffte also parado­ xerweise, den Begründer des Nationalstaats zu einem wahren Europäer und die kleindeutsche Einigung zu einer Vorstufe auf dem Weg zu einer größeren Ein­ heit stilisieren zu können.76 In dieser Verteidigung des Reichsgründers sah sich Rothfels wiederum einig mit Gerhard Ritter. Auch diesem kam es darauf an, die »Unterscheidung zwi­ schen ... einer besseren Vergangenheit und einer durch ... 1933 tief verderbten Gegenwart« aufrecht zu erhalten und Bismarck vor den Kontinuitätsthesen der ›Vansittartisten‹ und der »radikal pazifistische [n] Emigranten« in Schutz zu neh­ men.77 Er beharrte daher auf dem Gewicht irreversibler Einschnitte in den Gang der Geschichte, die ihm zu garantieren schienen, daß Bismarck durch »eine ganze Welt« von Hitler getrennt war.78 An der Oberfläche der Ritterschen Argumentation schien durch diese Betonung einer unüberwindlichen Zäsur die Integrität der Tradition gerettet; gleichsam auf der Rückseite des Textes las­ sen sich jedoch auch in Ritters Interpretation Spuren einer langfristigen Konti­ nuität ausmachen, die alle Einschnitte in der geschichtlichen Entwicklung zu transzendieren schienen. Und hier werden Schnittstellen sichtbar, die Ritters Apotheose des Reichsgründers mit dem »positiven Sinn« in Beziehung setzen, den Rothfels dessen Werk abgewinnen wollte. Nun waren Ritters Apologie des Nationalstaates und Rothfels' Plädoyer für eine »universalgeschichtliche« Ver­ abschiedung von nationalen Organisationsformen unwahrscheinliche Bundes­ genossen. Dennoch erlaubte es auch die Dialektik von Ritters Argumentations75 Rothfels, Bismarck und das 19. Jahrhundert, S. 84. 76 In allen seinen Interpretationen der Reichsgründung betonte Rothfels die antinationale Komponente, die Bismarcks Politikja immer auch besaß: »Weder nach innen noch nach außen war der Nationalstaat, geschweige denn die ›nation une et indivisible›, für Bismarck so etwas wie eine verpflichtende Norm.« Vgl. Rothfels, Stellung Bismarcks, S. 214. 77 G Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 7. Lord Vansittart war bis 1941 diplomatischer Berater im englischen Foreign Office gewesen und personifizierte in Ritters Auffassung die Ten­ denz, die gesamte deutsche Geschichte im Lichte des Faschismus zu verdammen. Vgl. ders., Briefe, S. 450 über diese Stoßrichtung in Ritters Argumentation. Vgl. auch Radkau, Exil-Ideologie; zu Interpretationen der deutschen Geschichte in den alliierten Ländern vgl. Solchany, C omprendre, S. 5-24. 78 G. Ritter, Bismarckproblem, S. 130.

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führung, der kleindeutschen Lösung eine mitteleuropäische Komponente ab­ zugewinnen und Bismarck zu einem Vorläufer der europäischen Gemeinschaft zu stilisieren. Denn jenseits aller historischen Epochen betrachtete Ritter es als deutsche Aufgabe, Mitteleuropa »vor einem bedrohlichen Vorrücken des russi­ schen Kolosses«79 zu bewahren. Für dieses Ziel sei der Erste Weltkrieg ausge­ fochten worden, dem der Kriegsteilnehmer Ritter so zu einer nachträglichen Ehrenrettung verhalf. Und von hier führe auch eine direkte Linie bis zum nächsten außenpolitischen Engagement des Deutschen Reiches. Denn diesem boten sich nach 1918 »die besten C hancen, ... als friedliche Mitte Europas ... [den] natürlichen Rückhalt [der osteuropäischen Staaten] gegen den Bolsche­ wismus zu bilden. Diese Chance war 1938, nach dem Einmarsch in Wien, aufs höchste gesteigert.«80 So hoffte Ritter nach dem ›Anschluß‹ 1938 auf ein Europa mit Deutschland als starkem Kern; und auch 1950 hatte sich an Ritters Wunsch offenbar noch nicht viel geändert, als er seinen zwölf Jahre alten Vortrag, der dieser Hoffnung Ausdruck verlieh, erneut publizierte. Die nationale Einigung war so auch für Ritter klammheimlich zur evolutionären Vorstufe degradiert auf dem langfristigen, von weltgeschichtlichen Epochengrenzen gänzlich un­ bekümmerten Weg zur deutschen Hegemonie in Mitteleuropa. »Der Weg Bis­ marcks und der Kleindeutschen, der Weg einer stufenweisen Machtbildung, war dann glänzend gerechtfertigt - er war zuletzt nur ein Umweg, aber ein heilsamer, gewesen.« 81 Die scharfe weltgeschichtliche Zäsur von 1917 war nun also einer Linie ge­ wichen, die von 1866 bis 1938 und darüber hinaus reichte; die Apologie der Reichseinigung à la Bismarck war in den Hintergrund gedrängt von einer De­ finition der unveränderlichen Aufgaben, die die Geschichte an das Deutsche Reich stelle. Im Moment eines von Konservativen wie Ritter besonders schmerzlich empfundenen Verlustes der nationalen Einheit schien nur eine Besinnung auf die angeblichen historischen Aufgaben des deutschen Volkes so etwas wie nationale Identität sichern zu können. Für Ritter jedenfalls, ebenso wie für Rothfels, lagen diese Aufgaben im Osten, in einem jahrhundertelangen Ringen mit dem »russischen Koloß«.

f) Die Einheit des Diskurses An dieser Stelle wird der Blick frei auf frappierende Parallelen, die die Debatte um Bismarcks Reichseinigung und die Kontinuität des Nationalstaates durch­ ziehen. Damit sollen politisch-weltanschauliche Differenzen in der Histori79 C Ritter, Grossdeutsch, S. 121. 80 G.Ritter, Bismarckproblem, S. 124. 81 G Ritter, Grossdeutsch, S. 124.

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kerschaft keinesfalls eingeebnet werden. Die Verankerung der deutschen Ge­ schichte in einem katholisch-christlichen Abendland schien dessen Protagoni­ sten nur schwer vermittelbar mit dem preußisch-nationalen Geschichtsbild Gerhard Ritters, des bewußten Repräsentanten der evangelischen Kirche; letz­ teres wiederum schien nicht kompatibel mit den vehementen Plädoyers gegen die Idee des Nationalstaates, wie sie etwa von Hans Rothfels vorgetragen wur­ den. Aber jenseits dieser gegensätzlichen Standpunkte lassen sich Gemeinsam­ keiten erkennen, die quer durch alle politischen und konfessionellen Lager ein Einverständnis ermöglichten und als gemeinsamer diskursiver Hintergrund der Diskussion fungierten. Gestritten wurde über die Frage der Kontinuitäten zwischen Bismarck und Hitler und über die Konsequenzen einer nationalen Einigung nach kleindeutschem Rezept. Unhinterfragt und stillschweigender Konsens war bei den meisten Teilnehmern an der Debatte hingegen die Vorstel­ lung, daß jenseits des preußisch-deutschen Nationalstaats eine (auch räumlich) größere Zukunft des deutschen Volkes harre. Die kleindeutsche Einigung erschien auf diese Weise als Abweg, als Ausnah­ me - oder aber als notwendige Vorstufe auf dem Weg zu einer umfassenderen Form der staatlichen Organisation. Die Bezeichnungen für diese übernationale Einheit konnten variieren: das Abendland in der Nachfolge des Heiligen Römi­ schen Reiches, die europäische Einigung oder Mitteleuropa. Jede dieser Versio­ nen konnte aber auch ein Ausgreifen implizieren, ein Abstreifen nationaler Fesseln: Deutschlands historische Aufgabe schien den meisten Historikern größer als Deutschlands Grenzen. Und diese Aufgabe wurde nun in der Di­ chotomie zwischen West und Ost verankert, geradezu zwischen Gut und Böse, welche in der Rhetorik des Kalten Krieges zu einer häufig unhinterfragten, beinahe ahistorischen Realität geworden zu sein schien. Alfred von Martin etwa erblickte in der binären Struktur der globalen Nachkriegsordnung eine »Gren­ ze des christlichen Abendlandes gegenüber der Barbarei«, die »mitten ... durch [die] Deutschen« hindurchgehe. 82 Auch sein Würzburger Kollege Ulrich Noack beobachtete sorgenvoll die »Dynamik des östlichen Slawentums ... ins Abendland hinein - deren Höhepunkt wir heute erleben«. 83 Der Ursprung die­ ser Dynamik wurde häufig weit in die Geschichte zurückverlegt und diente als Folie, die der Gegenwart - und der Vergangenheit - historische Bedeutung zu verleihen schien. »Zwar wird gesagt, man dürfe Bismarck nicht messen an der Weltkonstellation von 1918 oder 1945, doch bleibt bestehen, daß diese Welt­ konstellation sich damals schon ganz klar abzeichnete.« 84 Formulierungen wie diese fanden sich über die konkurrierenden historiographischen Lager hinweg. In weniger abendländischer Terminologie konstatierte beispielsweise der Mar82 A. v. Martin, Bismarck, S. 161. 83 Noack, Werk, S. 55. 84 Schnabel, Bismarck und die Nationen, S. 105.

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burger Historiker Ludwig Dehio, daß »die Teilung in eine westliche und östli­ che Sphäre... sich seit dem 18. Jahrhundert vorbereitet« hatte.85 Die Kontrover­ se über die Bismarcksche Reichseinigung wurde somit unter den Auspizien des entstehenden Kalten Krieges geführt und war von dessen Metaphorik stark geprägt. Seit Mitte der fünfziger Jahre standen zudem auch Fragen der Remili­ tarisierung und der politischen Orientierung der jungen Bundesrepublik im Hintergrund der Debatte.86 Unter dem ideologischen Schirm des Ost-West-Gegensatzes fanden somit unterschiedliche historiographische Gruppierungen einen gemeinsamen Nen­ ner. Die meisten Historiker waren sich einig in der Definition übernationaler Aufgaben, vor die die Geschichte Deutschland gestellt habe. Keine Beschrän­ ung also auf den Nationalstaat - und das galt selbst für die Apologeten Bis­ marcks wie Gerhard Ritter; und auch Wilhelm Schüssler hatte aus den Ereig­ nissen der jüngsten Vergangenheit die Lehre gezogen, daß Kleindeutschland zu schwach sei und Constantin Frantz, der großdeutsche zeitgenössische Kritiker Bismarcks, doch recht behalten habe.87 In diesem Argument klang bereits die Überzeugung an, daß die ›Katastrophe‹ des Dritten Reiches vor allem in der militärischen Niederlage bestanden habe. Angesichts dieser verbreiteten Auf­ fassung wird dann verständlich, daß sich auch die Kritik am Nationalstaat Bis­ marckscher Prägung in erster Linie auf dessen mangelnde militärische Durch­ setzungsfáhigkeit bezog. Dabei lassen sich die expansionistischen Elemente dieses Argumentationsmusters schwerlich ignorieren. Das traf selbst auf die Interpretation Franz Schnabels zu, der als Gegenspieler Ritters vielen Histori­ kern nach 1945 als liberaler Hoffnungsträger galt. Auch Schnabel bezog sich auf Constantin Frantz, dessen pangermanische Position er zustimmend kommen­ tierte: »Rußlands Ziel in der Zukunft war unverkennbar, ein Weltreich zu grün­ den, das seine Grenzen haben würde an der Elbe und an der Linie Hamburg­ Triest: so sagte C onstantin Frantz 1859. ... Daß unter diesem Aspekt das kleindeutsche Projekt Unsinn sei, da ein solches Reich viel zu schwach sein würde um sich im Weltkampf der Zukunft zu behaupten, das ist seine These. Man muß sich darüber klar werden, so betont er, daß weder Preußen noch Österreich allein existieren können und daß überhaupt ganz Mitteleuropa zu­ sammengefaßt werden muß, wenn nicht ein neuer Balkan entstehen soll.«88 Diese Aufwertung der ›großdeutschen‹ Alternative unter Gesichtspunkten, die im wesentlichen als machtpolitische Überlegungen verstanden werden müs­ sen, war in den Nachkriegsjahren häufig anzutreffen. 89 85 Dehio, Gleichgewicht, S. 230. Vgl. etwa auch Rothfels, 1848, S. 60. 86 Gerhard Ritter etwa nahm explizit auf diesen Kontext Bezug in: Das politische Problem des Militarismus, S. 153, 182. 87 Schüssler, Standort, S. 174. 88 Schnabel, Bismarck und die Nationen, S. l03f. 89 Daß diese Argumentation nicht nur auf einen kleinen Kreis und auf die katholischen Kul-

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Dabei ging es jenseits der weltanschaulichen Debatten über die gesellschaft­ liche Ordnung (Nationalstaat oder Reich) in erster Linie um die deutsche Rolle in Mittel- und Osteuropa. Auch Herbert Michaelis beklagte an Bismarcks kleindeutscher Einigung die »Schrumpfung« des deutschen Einflusses, den »Verzicht auf die deutsche Oststellung..., das Eingeständnis des Verkümmerns der ›Reichs‹-Fähigkeit, gerade in volklichen Mischgebieten die Menschen zu führen«. Die besondere deutsche Aufgabe im Osten sei von Bismarck ohne Not aufgegeben worden. 90 Dieses Insistieren auf Deutschlands mitteleuropäischer Mission, das sich in vielen Beiträgen zur Bismarck-Kontroverse fand, war in gewisser Weise auch eine Reaktion auf das militärische Scheitern (im Zweiten Weltkrieg) der kleindeutschen Lösung; das Plädoyer für ein wehrhaftes Abend­ land fungierte dann gleichsam als nachträgliches Korrektiv für Stalingrad. Auch der Berliner Neuzeithistoriker Erwin Hölzle, der nach 1945 aus politischen Gründen entlassen wurde, pointierte seinen Beitrag zur Bismarck-Kontroverse in dieser Richtung. Für ihn war Constantin Frantz ein vorausschauender Kopf, »der die Gefahr für Mitteleuropa von Seiten Rußlands und seiner panslawisti­ schen Bestrebungen, auch die großen, dem Zeitalter innewohnenden Tenden­ zen zur Weltmachtbildung bereits in den fünfziger Jahren erkannte und eine mitteleuropäische Föderation forderte, die die slawische Bewegung auffangen und zwischen den aufkommenden Weltmächten eine ausgedehnte deutsche Machtbasis begründen sollte.«91 Wie inzwischen deutlich wurde, war also die Distanzierung vom Konzept des Nationalstaates nicht mit einem Verzicht auf nationale Aufgaben verbun­ den. Daher wurde ungeachtet aller transnationalen Rhetorik auch selten be­ zweifelt, daß die nationale Einheit des deutschen Volkes wenn nicht der maxi­ male, so doch der minimale Nenner staatlicher Organisation bleiben müsse. turzeitschriften beschränkt blieb, zeigte etwa eine 1953 in Göttingen (bei Reinhard Wittram) ent­ standene Dissertation von Hans Schaller über das Denken Paul de Lagardes und C onstantin Frantz' im Kontext des deutschen Nationalismus. Zusammenfassend hieß es dort: »Frantz' Kon­ zeption des Bundes europäischer Nationen ... ist die Aufgabe, vor die die Geschichte unserer Ge­ genwart die nationalen Bewegungen in ganz Europa zu stellen scheint.« (Schaller, Stellung, S. 224). 90 Michaelis, Königgrätz, S. 183-185. Diese expansionistische Perspektive auf die Auswirkun­ gen der Reíchseinigung von 1871 konnte, und das war nicht untypisch, auch von einer kritischen Bewertung ihrer innenpolitischen Konsequenzen begleitet sein. »Königgrätz bedeutete im inner­ deutschen Bereich den Sieg der Reaktion über die Freiheit für weitere zwei Generationen. Die bürgerliche Demokratie, die sich in Frankreich und England gegen die feudalen Mächte siegreich durchgesetzt hatte, war in Deutschland zum erneuten Male vom preußischen Feudalismus, von der Gegenrevolution überwältigt.« Ebenda, S. 191-192. Was zuerst als eine unwahrscheinliche alliance eines imperialistischen außenpolitischen Konzepts mit einer (beinahe marxistischen) Kritik an den ›feudalen Überresten‹ in der innenpolitischen Ordnung anmutet, läßt sich jedoch auf einen gemeinsamen Nenner bringen: die Kritik richtete sich in beiden Fällen gegen das Schwinden des Einflusses des deutschen Volkes - einerseits im östlichen Europa, und andererseits auf die deutsche Politik. 91 Hölzle, Reichsgründung, S. 132.

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Mit der Teilung in West- und Ostdeutschland fanden sich die westdeutschen Historiker nicht ab. Alle Plädoyers für ein Transzendieren nationaler Identitä­ ten und Staatsformen fanden an diesem Punkt ihre Grenze. Der Frankfurter Paul Kirn etwa beschloß seine »Politische Geschichte der deutschen Grenzen« mit dem Ergebnis: »So ist ... aus vielen Gründen nichts so dringend wie die Wiedervereinigung des zweigeteilten Deutschland.« 92 Das galt selbst für Hans Rothfels, in dessen Vokabular die Begriffe ›Nation‹ und ›Anomalie‹ beinahe zu Synonymen geworden waren. Wenn von der DDR die Rede war, sprach aber auch er von dem »natürliche [n] Einheitswunsch eines geschichtlichen Volkes«, dem man sich nicht widersetzen dürfe.93 Die Rede vom »Ende des National­ staates« ließ offenbar weiter gefaßte, nicht aber enger gezogene nationale Gren­ zen zu.94

g) Kontinuitäten Die unterschiedlichen Standpunkte in der Bismarck-Kontroverse waren so gleichsam durchtränkt von Ideologemen des beginnenden Kalten Krieges. Da­ bei war es nicht immer so, daß wissenschaftliche Befunde bewußt für politische Interessen instrumentalisiert wurden. 95 Es handelte sich also nicht notwendi­ gerweise um eine Geschichtsschreibung im Dienste des Antikommunismus, sondern eher um einen historiographischen Diskurs, der - unabhängig von den strategischen Intentionen einzelner Historiker - von den Gegensätzen des Kal­ ten Krieges geprägt war. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß Elemente dieses Diskurses durchaus an schon bekannte Argumentationsfiguren anschlie­ ßen konnten. Dazu gehörte in erster Linie das Mitteleuropakonzept, das Fried­ rich Naumann während des Ersten Weltkrieges entworfen hatte und in dem er eine Neuordnung Polens und Ostmitteleuropas - als Aufgabe für die deutsche Nation - gefordert hatte.96 Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es aber auch zeit­ lich näher liegende Anknüpfungspunkte; so sprach etwa auch der Wiener Hi­ storiker Heinrich von Srbik 1950 von der Ausstrahlungskraft eines übergreifen­ den Mitteleuropa, dessen »Ideen ... natürlichen Gegebenheiten ... entspringen« und in dessen Rahmen Deutschland »die übernationale Führungsaufgabe« zu­ komme. 97 Srbik war vor dem Krieg der bekannteste österreichische Historiker 92 Kirn, Politische Geschichte, S. 178. 93 Rothfels, Krise, S. 127. 94 Vgl. auch Heimpel, Gedanken, bes. S. 425. 95 Eine solche Reduktion historiographischer Argumente auf eine zugrundeliegende Strategie des Antikommunismus war typisch für die ostdeutsche Bewertung der westdeutschen Geschichts­ schreibung. Vgl. etwa Lozek u. Syrbe, Geschichtsschreibung. 96 Vgl. etwa LeRider, Mitteleuropa. 97 Srbik, Bismarckkontroverse, S. 148, 150.

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gewesen und galt nach seinem Eintritt in die NSDAP als Repräsentant einer gesamtdeutschen Geschichtskonzeption, die den klein/groß-deutschen Ge­ gensatz überwinden und durch eine neue völkische Einheit transzendieren wollte. 98 Das machte ihn noch nicht zu einem Vertreter nationalsozialistischer Geschichtsschreibung, die an Bismarcks Einigung vor allem das ›Reich als Tat‹ zelebrierte, 99 aber die Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie fürte nach dem Krieg zu seiner Entlassung aus dem Hochschuldienst. Srbiks dezidiert katholische Interpretation der abendländisch-mitteleuropäischen Geschich­ te100 verschwand daher nach 1945 von der Universität; in den Fachzeitschriften der Historikerzunft aber fand seine Stimme weiter Gehör.101 Eine große Kluft zu seinen früheren Stellungnahmen war nicht zu erkennen. Die Rhetorik aber, und das kann durchaus als repräsentativ gelten, war der veränderten Lage ange­ paßt, und Srbiks Mitteleuropavisionen wurden nun eingefügt in »die tiefernste Idee eines europäischen Völkerbundes«.102 Ähnliche Kontinuitäten zogen sich auch durch die Werke von Historikern, die nicht so stark mit dem Dritten Reich assoziiert wurden wie Heinrich von Srbik. Wenn etwa Gerhard Ritter die historische Aufgabe Deutschlands noch 1950 darin erblickte, einen »natürlichen Rückhalt gegen den Bolschewismus zu bilden«,103 dann war diese Vision für eine deutsche Außenpolitik mit Ritters früheren Einschätzungen durchaus kompatibel. So hatte er 1938 den ›An­ schluß‹ Österreichs noch als »die kühnste und glücklichste außenpolitische Tat unserer neuen Staatsführung« gepriesen, einer Führung, »der das deutsche Volk sein Schicksal und das seines Staates in restloser Hingabe und ohne Vorbehalt anvertraut hat.«104 Die außenpolitischen Erfolge Hitlers übten auf den erklärten Regimegegner Ritter offensichtlich eine Faszination aus, der er sich ebensowe­ nig entziehen konnte wie andere national-konservative Historiker. So schrieb auch Friedrich Meinecke ungeachtet aller inneren Distanz zum Dritten Reich im September 1939 an Siegfried August Kaehler: »Über den glänzenden Feld­ zug in Polen werden auch Sie sich gefreut haben ... aber über das Drum und Dran müßten wir uns jetzt gründlich unterhalten«. Diese Worte dokumentier­ ten die Genugtuung über das Transzendieren der für zu bescheiden befunde­ nen nationalen Grenzen - und gleichzeitig den zugrundeliegenden Antibol-

98 Vgl. vor allem: Srbik, Mitteleuropa. 99 Siehe vor allem Fehrenbach, Reichsgründung. 100 In seinem Aufsatz über die Bismarckkontroverse beispielsweise belegte er jeden Diskussi­ onsbeitrag mit einem konfessionellen Epitheton. 101 Vgl. die Würdigungen von Näf, Srbik und Droz, Srbik. Vgl. auch Fellner, Srbik 102 Srbik, Bismarckkontroverse, S. 143. 103 G. Ritter, Bismarckproblem, S. 124. 104 Zitiert nach Schwabe, Einführung, S. 81. Diese Passagen wurden in der Fassung von 1950 gestrichen.

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schewismus, der Meinecke den Hitler-Stalin-Pakt (»das Drum und Dran«) ab­ lehnen ließ.105 Wie diese Beispiele demonstriert haben, griffen auch die Deutungen, mit denen westdeutsche Historiker nach der Niederlage 1945 die deutsche Ge­ schichte reevaluierten, häufig auf Elemente zurück, die auch während des Na­ tionalsozialismus, aber auch schon davor, Bestandteile des Geschichtsbildes gewesen waren.' 06 Es waren dies vor allem ein offener oder latenter Antikom­ munismus sowie das Verlangen, eine deutsche Führungsaufgabe auch jenseits der als zu eng betrachteten nationalen Grenzen zu realisieren. Während andere Topoi nationaler Geschichtsschreibung (wie beispielsweise die Vorstellung von einem positiven deutschen ›Sonderweg‹) nach 1945 nur noch ein Schattenda­ sein fristeten, konnten diese beiden Elemente vor dem Hintergrund des Kalten Krieges im historiographischen Diskurs überleben. Das heißt nicht, daß diese Interpretamente gänzlich unverändert fortlebten; vielmehr wurden sie den dis­ kursiven Erfordernissen der Nachkriegszeit angepaßt. Der Antikommunismus etwa hatte angesichts des Eisernen Vorhangs eine besondere Relevanz erhalten; und die deutsche Teilung in Verbindung mit ersten Ansätzen zu einer westeu­ ropäischen Integration ließen die Auseinandersetzung mit einer post-national­ staatlichen Realität unausweichlich erscheinen. Das Konzept der Transnationa­ lität war nun, nach der bedingungslosen militärischen Kapitulation, aus der Defensive geboren. Daß damit aber die Verheißungen einer deutschen Mission noch nicht endgültig ad acta gelegt worden waren, zeigte die subtile Sinnstif­ tung, die der Marburger Ludwig Dehio am Ende seines opus magnum ›Gleich­ gewicht oder Hegemonie‹ 1948 vornahm. So wie das antike Rom die Griechen besiegt habe, um dann die griechische Kultur in der Welt zu verbreiten, könne nun auch der deutsch-christliche Kern des Abendlandes von den amerikani­ schen Siegern in alle Welt getragen werden: »Zu dieser Entwicklung, die Sieger und Besiegte in eine seelische Einheit verschmolz, haben sie beide Unentbehr­ liches beigetragen, die Sieger das weite Gefäß, die Besiegten aber aus der Tiefe ihres Leidens das Kostbarste seines Inhaltes.«107 Auf diese Weise hätten sich die 105 Meinecke an Kaehler, 26.9.1939, in: Meinecke, Briefwechsel, S. 357. Vgl. auch Volkmann, Deutsche Historiker, S. 867. 106 Diese Kontinuität basierte nicht zuletzt auf der andauernden Hegemonie einer konserva­ tiven Geschichtsschreibung, die nach 1945 auch das Ergebnis institutioneller Entwicklungen war: nur eine kleine Minderheit der Emigranten, von denen Anstöße zu einem Paradigmenwechsel am ehesten hätten erwartet werden können, kehrte nach dem Krieg an ihre ehemaligen Hochschulen zurück. Stattdessen kehrten zahlreiche Dozenten aus den ehemals deutschen Ostgebieten des Deutschen Reiches in die drei Westzonen zurück. Da zudem die Zahl der zur Verfügung stehen­ den Lehrstühle spürbar abnahm, konnte es an den westdeutschen Universitäten nach 1945 nicht zu einem Generationswechsel kommen. Zwischen 1944 und 1946 nahm die Zahl der historischen Ordinariate drastisch ab und erreichte das Niveau von 1880 (damals 74 Lehrstühle). Siehe Weber, Priester, S. 49. Diese Homogenität der Zunft kann man daher noch auf die ›Gleichschaltung‹ der Hochschulen im Dritten Reich zurückführen; siehe Wehler, Lage, S. 17. 107 Dehio, Gleichgewicht, S. 235.

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Traditionen der deutschen Geschichte dann doch als die wahren Sieger der globalen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts erwiesen.

2. Die Debatte über die Meiji-Restauration Wie in Westdeutschland stand auch in Japan die Geschichtswissenschaft nach 1945 ganz im Zeichen der Ursachenforschung. Ein großer Teil der historiogra­ phischen Werke nach dem Ende des Krieges zeugte von dem Bedürfnis, nach den Ursprüngen von Faschismus und Niederlage zu fragen und den vorläufi­ gen Endpunkt der modernen Geschichte aus der historischen Entwicklung heraus zu begreifen. Und auch in Japan konzentrierte sich die Suche nach Be­ gründungen für die jüngste Katastrophe auf den Beginn des modernen Natio­ nalstaates: in der Meiji-Restauration waren nach 1868 erstmals eine Vielzahl von Kleinstaaten zu einem modernen Nationalstaat vereint worden. In der hi­ storischen Forschung, die die Evaluierung dieser Übergangsepoche explizit vor dem Hintergrund der Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit in Angriff nahm, wurde somit die Meiji-Restauration jeweils unter den Auspizien einer vermuteten Kontinuität zum Faschismus interpretiert. Wie in Deutschland stand also auch in Japan die Diskussion über die moderne Reichsgründung im Zeichen der Frage nach einer verhängnisvollen historischen Kontinuität. Wäh­ rend aber in Deutschland die Annahme struktureller Zusammenhänge zwi­ schen Reichsgründung und Faschismus von einer konservativen Mehrheit der Historiker abgelehnt wurde, war diese Vorstellung in Japan eine weitgehend akzeptierte Prämisse der wissenschaftlichen Diskussion. Insbesondere in den ersten Jahren nach dem Krieg ging die Mehrheit der Interpretationen der Hi­ storiker von langfristigen Strukturfehlern des modernen japanischen Staates aus, die den Faschismus beinahe zwangsläufig hervorgebracht hätten.

a) Institutionelle Entwicklungen Paradigmenwechsel Diese kritische Sicht auf die eigene Geschichte war das Ergebnis einer umfas­ senden Richtungsänderung in der Geschichtswissenschaft, die in Kuhnscher Diktion als ›Paradigmenwechsel‹ bezeichnet werden kann. Die Historiographie der Nachkriegszeit war, wie oben bereits angedeutet wurde, von einer umfas­ senden Dominanz marxistischer Methoden und Interpretationen geprägt. Während in der Phase des Militarismus noch die Auguren des kokutai - der 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

metaphysisch verbrämten Ideologie der kaiserlichen Linie, die seit ihren mythi­ schen Anfängen die Essenz des japanischen Volkes verkörpere - während also vor 1945 diese Hofhistoriographie sich offiziellen Rückhaltes erfreuen durfte, verschwand sie nach dem Krieg völlig von der Bildfläche und der Historische Materialismus wurde zum quasi verbindlichen Analyseinstrument für die Deutung der japanischen Geschichte. Selbst wer sich nicht explizit als Marxist definierte, arbeitete mit marxistischen Begriffen.108 Diese grundlegende und nachhaltige Veränderung des historiographischen mainstream und die rasche Durchsetzung marxistischer Methoden und Deu­ tungsmuster ist nicht leicht zu erklären.109 Zunächst sei daran erinnert, daß sich eine starke marxistische Strömung bereits in den zwanziger Jahren entwickelt hatte und die breite Durchsetzung des Historischen Materialismus nach 1945 somit nicht ohne Ankündigung und Vorbereitung erfolgte. Darüber hinaus spielten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in Japan marxistische Ansätze in der Geschichtsschreibung eine große Rolle. Wenn man einmal von den Län­ dern abstrahiert, in denen der Historische Materialismus von einer kommuni­ stischen Regierung durchgesetzt oder doch zumindest privilegiert wurde, so waren etwa auch in der italienischen oder der englischen Historiographie nach 1945 marxistische Interpretationen nicht ohne Einfluß. Vor allem in Frankreich aber war der Marxismus nach dem Ende des Krieges unter Intellekteuellen stark en vogue und hielt auch Einzug in die Geschichtswissenschaften. Vor die­ sem Hintergrund erscheint die Hegemonie einer marxistischen Geschichts­ schreibung im Nachkriegsjapan nicht als weltgeschichtlicher Sonderfall; eine Sonderstellung scheint hier eher die Bundesrepublik einzunehmen, in der eine marxistische Historiographie lange Zeit gar keine Bedeutung hatte und im Rahmen des Systemkonfliktes in die DDR abgedrängt wurde. Fragt man aber dennoch einmal nach den internen Ursachen für einen dis­ ziplinären Paradigmenwechsel, so werden in der Forschung wissenschaftshi­ storische Zäsuren häufig in erster Linie auf institutionellen Wandel zurückge­ führt. Dieser Erklärungsansatz kann die Veränderung der historiographischen Landschaft in Japan nach Kriegsende jedoch nur bedingt plausibel machen, denn die historischen Fakultäten blieben nach 1945 in ihrem personalen Be­ stand weitgehend unverändert; die wenigen Amtsenthebungen hatten lediglich kosmetischen C harakter. Fast überall blieb die Vorkriegsgeneration im Amt, nur sporadisch ergänzt durch Wissenschaftler, die in den dreißiger Jahren den 108 Victor Koschmann beschreibt diesen Paradigmenwechsel wie folgt: »The defeat of Japane­ se militarism ... vindicated prewar Communist predictions and, by extension, the cogency of the historical materialist sciences of history and society. Marxism was immediately credited with a kind of superior gnosis that even its severest liberal critics tended to treat with respect.« Koschmann, The Japan C ommunist Party, S. 166. 109 Vgl. etwa die wenig überzeugenden Erklärungsversuche bei Distelrath, Produktionsweise, S. 93.

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nationalistischen Säuberungen zum Opfer gefallen waren. Dazu kamen noch Rückkehrer von den Kolonialuniversitäten, die in Taipeh, Shanghai und Seoul eingerichtet worden waren. Von einem Generationswechsel kann daher nicht gesprochen werden - und das selbst dann nicht, wenn man auch die umfassen­ den Universitätsreformen in Betracht zieht, die unter amerikanischer Ägide in den ersten Nachkriegsjahren die Bildungslandschaft in Japan von Grund auf veränderten. Die Reform des Bildungswesens gehörte zu den zentralen Anliegen der ame­ rikanischen Besatzer in den späten vierziger Jahren und war wesentliches Merkmal der Politik der Reeducation. Insbesondere die hierarchischen Struk­ turen des japanischen Hochschulsystems galten den Offizieren des CI&E (C i­ vil Information and Education Section) als Hindernis einer tiefgreifenden De­ mokratisierung. Das entscheidende Mittel zur Aufbrechung dieser Strukturen war die generelle Expansion des universitären Sektors durch die massive Auf­ wertung von tertiären Bildungsanstalten. An die Stelle von wenigen, in einer rigiden Prestigehierarchie stehenden Institutionen trat nun eine Vielzahl von Universitäten, die gleichberechtigt nebeneinander stehen sollten. Fast der ge­ samte nicht-universitäre Sektor mit seinen Akademien für Lehrerbildung, Fachhochschulen und Oberschulen wurde nun erweitert und zu Universitäten aufgewertet. Während es 1945 in Japan noch 49 Universitäten gegeben hatte, stieg diese Zahl als Resultat der beispiellosen Expansion des Hochschulwesens bis zum Ende der Besatzungszeit (1952) auf über 220. Nicht jede dieser Universitäten vertrat auch die Geisteswissenschaften und hatte eine historische Fakultät. Dennoch führte die Ausweitung zu einem enor­ men Bedarf an Historikern auf Universitätsebene und dadurch zu einer Aus­ weitung des Kreises der wissenschaftlich mit der Interpretation der Vergangen­ heit beschäftigten Personen. Die Explosion der Zahl der Hochschulen generierte jedoch keine neuen Rekrutierungsmuster. In aller Regel wurden nun diejenigen Historiker zu Professoren ernannt, die an der jeweiligen Vor­ gängerinstitution schon den Geschichtsunterricht bestritten hatten. Sie hatten zumeist an einer der prestigereichen kaiserlichen Universitäten studiert, aber den Sprung auf einen Lehrstuhl bislang verpaßt. In ihrer Ausbildung und sozia­ len Herkunft, aber auch in ihrer generationellen Zusammensetzung unter­ schied sich diese Gruppe kaum von der bisherigen Zunft der Historiker. Gewiß eröffnete die Expansion des Bildungssystems auch einigen jungen Absolventen eine unverhoffte C hance auf eine Professur. Dennoch war ein Generations­ wechsel - anders als etwa im Zusammenhang mit dem Ausbau des Bildungssy­ stems in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren - nicht das hervorstechen­ de Kennzeichen der Ausweitung der Historikerschaft.110 110 Zur Reform des Hochschulwesens siehe Möhwaldt, Reformen; Nishi Toshio, Democracy; Tekhkr, Geschichte und Struktur, bes. Kapitel 3; Luhmer, Schule; Takemura, Role; Blewett, Educa­ tion; Monbushô, Gakusei hyakunenshi.

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Tendenzen der Enthierarchisierung Die Folgen der unter dem Druck der Besatzungsmacht durchgeführten Uni­ versitätsreformen sowie Veränderungen in der personellen Zusammensetzung der Historikerschaft können somit die breite Durchsetzung einer marxisti­ schen Geschichtsschreibung allenfalls partiell erklären. Daher soll im folgen­ den einmal der Versuch gemacht werden, die Veränderung der Diskursbedin­ gungen der japanischen Nachkriegsgeschichtswissenschaft zu beschreiben, um so zu einem besseren Verständnis des historiographischen Wandels zu gelan­ gen. Auch wenn diese Beschreibung nicht den Anspruch hat, eine umfassende Erklärung bereitzustellen, kann sie doch dazu beitragen, den historiographi­ schen Paradigmenwechsel in seinem institutionellen Kontext zu situieren. Denn in diesen Jahren läßt sich eine auffallende Transformation der intradiszi­ plinären Bedingungen und ungeschriebenen Reglements, denen der Diskurs über Geschichte unterworfen war, beobachten. Diese Veränderungen hatten durchaus mit der Zunahme der Zahl der Universitäten zu tun, wenn sie auch aus ihr nicht linear ableitbar waren. Es war nicht zu übersehen, daß im Vergleich zur Vorkriegszeit die Autorität von wissenschaftlichen Äußerungen in den un­ mittelbaren Nachkriegsjahren in einer veränderten Umgebung konstituiert wurde. Diese Verschiebungen betrafen das Subjekt der Äußerung, aber auch ihren Ort, ihre bevorzugten Foren und Zielgruppen. Wessen Stimme Gewicht besaß, an wen sich Äußerungen richteten, die unter den legitimierenden Be­ dingungen der Wissenschaft gemacht wurden und selbst die Definition dessen, was als Wissenschaft von der Geschichte gelten konnte - diese ungeschriebe­ nen Gesetze der Zunft waren in Bewegung geraten. Denn während die Bil­ dungsreformen nicht verhindern konnten, daß sich an der vertikalen Struktur der Prestigepyramide kaum etwas änderte, war das Innenleben der Geschichts­ wissenschaft nach 1945 von einer Tendenz zur Enthierarchisierung der Spre­ cherpositionen charakterisiert. Diese Gewichtsverlagerung wurde begünstigt von der allgemein verbreite­ ten Überzeugung, mit Kriegsende in ein Zeitalter der Gleichheit und Demo­ kratie eingetreten zu sein.111 Dies schien nun Gruppierungen und Personen das Recht auf Teilnahme an der Diskussion zu verleihen, die bislang abseits gestan­ den hatten und nur als Opposition wahrgenommen worden waren (zaiya). 112 Infolgedessen standen Akteure und Positionen, die gleichsam ›von außen‹ ka­ men und als oppositionell und marginal galten, in den Jahren nach dem Krieg im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Diese Aufweichung bestehender 111 Vgl. etwa die Begeisterung über die Möglichkeit einer demokratischen, gleichberechtigten Geschichtsschreibung bei Hani, Nihon no gendaishi, S. 152. 112 Als zaiya werden im Japanischen politische oder wissenschaftliche Gruppen bezeichnet, die kein staatliches Amt versehen und stattdessen den oppositionellen ›Standpunkt des Volkes‹ reprä­ sentieren.

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Hierarchien und interner Grenzen innerhalb der Geschichtswissenschaft hatte unterschiedliche Komponenten. Erstens implizierte sie eine Unterminierung der privilegierten Stellung der ehemaligen Kaiserlichen Universitäten. Diese sieben Institutionen, mit Tôkyô und Kyôto als Gründungen aus dem 19. Jahrhundert an der Spitze, waren von der japanischen Regierung mit der expliziten Zielsetzung eingerichtet worden, den Bedürfnissen und Anforderungen des Nationalstaates zu entsprechen.113 Bürokratie und Wissenschaft rekrutierten ihren Nachwuchs im hohen Maße an den Kaiserlichen Universitäten. Die enge Bindung an den Staat schlug sich auch in einer Privilegierung bei der staatlichen Forschungsförderung nieder. Diese asymmetrischen Produktionsbedingungen von Wissenschaft begünstig­ ten ein Selbstverständnis, das dazu tendierte, die wissenschaftliche Diskussion über Geschichte zu einer geschlossenen Veranstaltung der Absolventen dieser Eliteinstitutionen zu deklarieren. Dies änderte sich nach dem Krieg, als die Kaiserlichen Universitäten nicht nur nominell ihrer imperialen Insignien ent­ kleidet wurden, sondern auch der Kreis der an historiographischen Debatten Beteiligten sich auf ehemals marginale Institutionen erweiterte. Zweitens erodierte auch das Deutungsmonopol einer als Geisteswissenschaft verstandenen Geschichtswissenschaft. Dadurch wurde nicht nur inhaltlich oder methodisch, sondern auch institutionell das Fundament der Profession in Frage gestellt. Die historischen Abteilungen -jeweils unterteilt in japanische, westliche und östliche Geschichte - waren an den Universitäten Bestandteil der philosophischen Fakultäten (bungakubu). In der Nachkriegszeit aber avan­ cierten Stellungnahmen aus anderen Fakultäten zur wichtigsten Anregung hi­ storiographischer Debatten. Der an der juristischen Fakultät etablierte Politolo­ ge Maruyama Masao etwa oder der Wirtschaftshistoriker Ôtsuka Hisao, beide an der Universität Tôkyô tätig, gaben einflußreiche Anstöße für eine Reevalu­ ierung der Vergangenheit, denen sich auch die etablierten Historiker nicht ent­ ziehen konnten.

113 Der Anspruch des Staates auf Funktionalisierung der Bildung wird in einer Äußerung des Erziehungsministers Mori Arinori Ende des 19. Jahrhunderts deutlich: »They [the universities] serve, after all, the purpose of the State. The goal of our educational administration is likewise purely and simply the Service of the State. In the case of the Imperial University [ = Universität Tôkyô], for instance, the question may arise as to whether learning is to be pursued for its own sake, or for the State. It is the State which must come first and receive top priority.« Zitiert nach I.P. Hall, Mori Arinori, S. 397. Diese Anforderungen des Staates wurden schon im 1. Artikel der Universitätsver­ ordnung von 1886 (teikoku daigaku rei) verankert, siehe Monbushô, Gakusei hyakunenshi, S. 152 (»teikoku daigaku wa kokka no shuyô ni ôsuru gakujutsu gigei o kyôju... suru o mote mokuteki to su«) . Zu den Kaiserlichen Universitäten gehörten neben Tôkyô (gegründet 1876) und Kyôto (1897) noch die Universitäten in Sendai (1907), Fukuoka (1910), Sapporo (1918), Ôsaka (1931) und Nagoya (1939). Daneben gab es bis 1945 noch zwei Kolonialuniversitäten in Seoul (Keijô daigaku 1924) und Taipeh (Taihoku daigaku 1928). Vgl. Nakayama, Teikoku daigaku.

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Diese Anstöße ›von außen‹ wurden, drittens, durch Organisationsformen in­ stitutionalisiert, die bewußt die bisherige Hierarchisierung von Sprecherposi­ tionen unterminieren sollten. Die scientific C ommunity der japanischen Ge­ schichtswissenschaft war bislang weitgehend identisch gewesen mit den historischen Fakultäten der Kaiserlichen Universitäten in Tôkyô und Kyôto. So war der wichtigste Historikerverband, die Shigakkai, noch auf Anregung des Ranke-Schülers Rieß in Tôkyô gegründet worden; und auch die autoritative Zeitschrift des Faches, die Shigaku zasshi (dem Einfluß nach durchaus mit der Historischen Zeitschrift vergleichbar, nach deren Muster sie 1889 entstanden war), war das Hausorgan der Abteilung für japanische Geschichte an der Universität Tôkyô. 114 In der Regel publizierten dort nur Historiker und Absolventen der Trägerinstitution; die wissenschaftliche Öffentlichkeit endete gewissermaßen am legendären roten Eingangstor (Akamon) der Universität Tôkyô. Gegen die­ ses Monopol richtete sich 1933 die Gründung der Rekishigaku kenkyükai (Ge­ sellschaft für historische Forschung) mit dem Ziel, den etablierten Strukturen ein Diskussionsforum entgegenzustellen, das an institutionellen Grenzen nicht haltmachte. 115 Dieser Historikerverband vereinte vornehmlich junge Wissen­ schaftler unterschiedlicher Provenienz unter seinem Dach und verstand sich zunächst als kritische Opposition gegenüber einer etablierten Geschichtswis­ senschaft, deren Ansätze als erstarrt und positivistisch galten sowie der nationa­ listischen Vereinnahmung gegenüber nicht immer immun geblieben waren. Seit 1939 aber entwickelte sich die Rekishigaku kenkyükai mehr und mehr zum Repräsentanten einer marxistisch inspirierten Historiographie. Schon im Janu­ ar 1946 war sie die erste Organisation der Zunft, die nach dem Krieg wiederge­ gründet wurde, und ihre Jahrestagungen waren in den kommenden Jahren das meistbeachtete Forum intensiver fachlicher Auseinandersetzung. Ihr Publika­ tionsorgan Rekishigaku kenkyü löste die Shigaku zasshi als wichtigste Zeitschrift der Zunft ab. 116 1946 wurde zudem mit der Nihonshi kenkyü ein Parallelorgan gegründet, das die Hegemonie des Historischen Materialismus auch in der Ôsaka-Kyôto-Gegend institutionalisierte.117 114 Daneben wäre noch das Fachblatt Shirin zu nennen, das von den Historikern der Univer­ sität Kyôto herausgegeben wurde. Darüber hinaus gab es zahlreiche weitere Zeitschriften, deren Einfluß jedoch gering war. Der von der Shigakkai herausgegebene Materialüberblick (Shigaku bun­ ken mokuroku) listet über 400 Zeitschriften, von denen jedoch viele über einen marginalen Status nicht hinauskamen. 115 Diesen überuniversitären Charakter betont etwa Takahashi Kôhachirô in Rekishigaku ken­ kyükai, Rekken hanseiki no ayumi, S. 182. 116 Der Einfluß der Rekishigaku kenkyü ging nach dem Krieg weit über den engen Kreis der akademischen Geschichtswissenschaft hinaus. Die monatlich erscheinende Zeitschrift erhielt 1948 den Kulturpreis der populären Tageszeitung Mainichi shinbun. Vgl. Inumaru, Sengo Nihon, S. 150. Die Mitgliedschaft in der konservativen Shigakkai dagegen sackte nach dem Krieg zunächst von 1500 auf rund 400 Mitglieder ab. Siehe Shigakkai, Shigakkai hyakunen koshi 1889-1989. 117 Die geographische Dichotomie zwischen Kantô- (um Tôkyô) und Kansai-Region (Kyôto-

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Diese dreifache Bewegung von Historikern, die ›von außen‹ in das Zentrum der Profession vorstießen, wurde gewissermaßen ergänzt durch eine Bewegung ›nach außen‹. Die (hauptsächlich marxistische) Geschichtswissenschaft hatte nach 1945 eine engere Anbindung an die Gesellschaft und das Verlassen des Elfenbeinturmes auf ihre Fahnen geschrieben. Dies schloß sowohl politische Aktivitäten als auch die Vermittlung wissenschaftlicher Befunde an breitere Gesellschaftsschichten ein. Die historiographischen Auseinandersetzungen wurden bewußt vor den Augen einer erweiterten Öffentlichkeit ausgetragen. Die Kooperation von Wissenschaft und Lehrerschaft wurde forciert und schlug sich auch institutionell nieder.118 Viele Historiker publizierten in den populären Kulturzeitschriften oder richteten sich gezielt an Gruppen, die bislang von den Diskussionen der Disziplin ausgeschlossen geblieben waren. 119 Selbst die stren­ gen wissenschaftlichen Konventionen verpflichtete Zeitschrift Rekishigaku ken­ kyü bemühte sich um eine Rezeption über die Fachgrenzen hinaus und steiger­ te ihre Auflage in den ersten Nachkriegsjahren auf rund 20 000 Exemplare.120

Grenzen der Enthierarchisierung Diese vielschichtige Inversion von ›Außen‹ und ›Innen‹, von Peripherie und Zentrum veränderte die Bedingungen des historiographischen Diskurses nachhaltig. Die wissenschaftliche Diskussion über die Geschichte expandierte nun über die Grenzen der etablierten Organisationsstrukturen, über die hu­ manwissenschaftlichen Fakultäten und die Kaiserlichen Universitäten hinaus und transzendierte zudem die Selbstbeschränkung der innerakademischen Konversation. Die Revolution der Diskursbedingungen stieß allerdings auf Grenzen. Die Ansätze zur Enthierarchisierung der Sprecherpositionen er­ schütterten die privilegierte Stellung der ehemals Kaiserlichen Universitäten nicht völlig. Denn auch Historiker an weniger prestigereichen Institutionen Osaka) blieb also bestehen; die Nihonshi kenkyükai war das Kansai-Gegenstück zur Rekishigaku kenkyükai und wurde in den ersten Jahren von Historikern um Naramoto Tatsuya und Hayashiya Tatsusaburô (Ritsumeikan-Universität in Kyôto) dominiert. Die 1946 gegründete Rekishi hyôron (um Hayashi Motoi, Tôma Seita, Ishimoda Shô, Matsumoto Shinpachirô) war ein etwas populärer gestaltetes Journal, das marxistische Geschichtsschreibung einer breiteren Öffendichkeit vermit­ teln wollte. Vgl. J . Hall, Japanese History. Zur Rekishigaku kenkyükai siehe vor allem Inumaru, Sengo Nihon (mit ausführlicher Darstellung der verwickelten Wiedergründung 1946); Rekishigaku kenkyükai, Rekken; dies., Sengo no rekken; dies., Sengo no rekishigaku. Vgl. aus kritischer Perspek­ tive auch Hayashi Kentarô, Shôwashi, S. l94f. 118 Vgl. Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 118-128. 119 Siehe etwa Hani, Nihon no gendaishi, zuerst veröffentlicht im Juni 1946 in der Zeitschrift Warera no kagaku (eine an die breite Öffentlichkeit gerichtete Zeitschrift der Minshushugi kagaku­ sha kyôkai (Vereinigung demokratischer Wissenschaftler)). Ein typisches Beispiel ist auch Ishimodas Aufsatz Mura no rekishi, kôjô no rekishi im Januar 1948. 120 Inumaru, Sengo Nihon, S. 150.

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waren in aller Regel an den Eliteuniversitäten ausgebildet worden. Die Auswei­ tung der Diskursteilnehmer über institutionelle und disziplinäre Grenzen hin­ aus änderte nichts daran, daß Wissenschaft das Metier von Absolventen einer kleinen Zahl von privilegierten Bildungsanstalten blieb. Damit blieb das Presti­ gegefälle, das sich seit Beginn des Jahrhunderts herausgebildet hatte, für die japanischen Universitäten weiterhin kennzeichnend. An der Spitze der Presti­ gepyramide standen weiterhin die sieben als Kaiserliche Universität gegründe­ ten Institutionen, die dieses Titels zwar 1945 verlustig gingen, aber ihr Renom­ mee sowie ihre Funktion als staatliche Ausbildungsstätten einer gehobenen Beamtenschaft aufrecht erhalten konnten. Daneben waren beinahe sämtliche japanischen Historiker akademische Produkte der beiden ältesten Universitä­ ten in Tôkyô und Kyôto. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten fast alle japanischen Historiker ihre Ausbildung an diesen beiden wichtigsten Institutionen erhal­ ten. Und auch nach 1945 änderte sich die Situation nur graduell. Noch 1959 waren sämtliche 62 Professoren, die an den historischen Seminaren der ehe­ mals Kaiserlichen Universitäten lehrten, Absolventen einer dieser sieben Elite­ institutionen - 59 von ihnen stammten sogar aus Tôkyô oder Kyôto.121 Neben den ehemals Kaiserlichen Universitäten gab es eine große Anzahl weiterer staatlicher Institutionen, die in der Mehrzahl auch eine eigenständige historische Fakultät besaßen. Unter den gut 300 Historikern an den staatlichen Universitäten hatten noch 1959 fast 70 Prozent eine der beiden privilegierten Institutionen in Tôkyô oder Kyôto besucht. Die Absolventen dieser beiden Universitäten dominierten selbst an den privaten Universitäten. Diese sich nur sehr allmählich ändernden Rekrutierungsmuster sorgten für eine institutionell gesicherte Hegemonie der historischen Fakultäten der beiden ältesten Univer­ sitäten Japans über die etwa 80 Fachbereiche an anderen Hochschulen. Der wissenschaftliche Nachwuchs des ganzen Landes wurde somit weitgehend an den beiden Eliteinstitutionen in Tôkyô und Kyôto ausgebildet. Die universitäre Prestigehierarchie, in deren Rahmen die historiographische Praxis situiert werden muß, wurde also selbst durch die inneren und äußeren Reformansätze nicht gänzlich erschüttert. Schließlich war selbst das Flaggschiff der methodischen und organisatorischen Neuansätze in der Geschichtswissen­ schaft, der oppositionelle Historikerverband Rekishigaku kenkyükai, aus der In­ itiative junger Historiker an der Universität Tôkyô entstanden. Auch die selek­ tive Förderungspraxis des Erziehungsministeriums hielt an; selbst nach 1945 wurden fast ausschließlich Projekte von Historikern der (nun: ehemaligen) Kaiserlichen Universitäten finanziert.122 Die universitäre Landschaft blieb in 121 Die Zahlen beziehen sich auch im folgenden auf Historiker an den Philosophischen Fakul­ täten (bungakubu) im Stichjahr 1959, nach Zenkoku daigaku shokuinroku. 122 Vgl. etwa die Aufstellung über die staatlichen Forschungsgelder (kagaku kenkyuhi) in der Zeitschrift Shigaku zasshi 61 (November 1952). Von den 18 geförderten Projekten in den Ge-

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Japan also hierarchisch gegliedert. Im Vergleich zur Vorkriegszeit fielen die Enthierarchisierungstendenzen, von denen die Rede war, dennoch stark ins Gewicht. Und diese Verschiebungen der Diskursbedingungen waren mit den Veränderungen der historiographischen Landschaft eng verbunden. Sie waren die Voraussetzung für die ungeheure Konjunktur des Marxismus in der Ge­ schichtswissenschaft nach dem Krieg - und gleichzeitig auch ihr Ergebnis. In den Sozialwissenschaften etwa hatten marxistische Ansätze früher Fuß gefaßt als in den historischen Fakultäten; daß sie nun auch bei Historikern Gehör fanden, war Resultat der veränderten Rahmenbedingungen - die aber wieder­ um erst im Prozeß des Austausches zwischen den Fakultäten transformiert wurden. Auf diese Weise wurden die Kontexte neu definiert, in denen Äuße­ rungen im Japan der Nachkriegszeit wissenschaftliche Relevanz zugesprochen wurde. Dadurch konnten Debatten, die vor 1945 esoterischen und peripheren Charakter besaßen, nun ins Zentrum der Disziplin gelangen.

b) Die marxistischen Deutungen der Meiji-Restauration Die wichtigste dieser Außenseiterdebatten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nun auch für die breite Mehrheit der Historiker relevant wurde, war die ›Kontroverse über den japanischen Kapitalismus‹ (Nihon shihon shugi ronsô). Die wissenschaftshistorische Bedeutung dieser Diskussionen ist im er­ sten Kapitel bereits angesprochen worden. Diese Kontroverse, die innerhalb der marxistischen Historikerschaft geführt wurde, drehte sich in der Hauptsa­ che um die Frage, ob im Rahmen der Meiji Restauration (1868) in Japan bereits eine bürgerliche Revolution (im Sinne des marxistischen Entwicklungsmo­ dells) stattgefunden habe. Die Vertreter der kôzaha-Fraktion (die der Kommu­ nistischen Partei nahestand) verneinten dies und betrachteten das japanische Kaiserreich seit 1868 als absolutistischen Staat. Die rônôha-Fraktion hingegen hielt die Meiji Ishin für eine - wenn auch unvollständige - demokratisch-bür­ gerliche Revolution. Unter dem zunehmenden staatlichen Druck, der in der Kriegszeit auch die Universitäten erreichte und zahlreiche Marxisten von den Hochschulen ver­ trieb, hatte die intensive Debatte Mitte der dreißiger Jahre ein vorläufiges Ende gefunden.123 Als nach 1945 die Auseinandersetzung erneut aufgenommen wurschichtswissenschaften im Jahr 1952 waren 17 von Historikern an staatlichen Universitäten bean­ tragt worden; zwölf dieser Historiker lehrten an ehemaligen Kaiserlichen Universitäten (teikoku daigaku), allein neun von ihnen an der Universität Tôkyô. 123 Zahlreiche Teilnehmer an der Kontroverse mußten in den dreißiger Jahren ihre Lehrstüh­ le räumen, wie Kawakami Hajime oder Ôuchi Hyôe. Die ›Säuberungsaktionen‹ an den Universi­ täten richteten sich vornehmlich, aber nicht ausschließlich gegen die akademische Linke: 1938 wurde etwa auch der Ultranationalist Hijikata Seibi von der Universität Tôkyô entlassen. Einen

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de, blieb die in der Kontroverse der Vorkriegszeit umkämpfte Frontlinie aber weiterhin konstitutiv für die unterschiedliche Evaluierung der Meiji-Restauration. Allerdings hatten sich auch hier die Rahmenbedingungen der Diskussion entscheidend verändert. Die militärische Niederlage und die nachfolgenden Reformen der Besatzungsmacht hatten ein intellektuelles Klima geschaffen, in dem die selbstbewußten Analysen der rônôha an Plausibilität verloren hatten. Die während der amerikanischen Besatzung durchgeführten Reformen basier­ ten auf der Überzeugung, traditionale Rückstände der Gesellschaftsordnung beseitigen zu müssen; die amerikanische Politik schien die wissenschaftliche Diagnose der kôzaha nun in die Praxis umzusetzen. Der Gang der Geschichte selbst schien somit einer der alternativen Interpretationen Autorität verliehen und die konkurrierende Deutung in das Feld der naiven Spekulation verwiesen zu haben.124 Spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre überlebte unter Marxisten die Deutung der Meiji-Restauration als bürgerliche Revolution nur noch als Auffassung einer kleinen Minorität. Im offiziellen japanischen Bericht zum Internationalen Historikertag in Stockholm 1960 bestritt der kôzaha-Historiker Inoue Kiyoshi der konkurrierenden rônôha-Deutung schließlich jedwede wis­ senschaftliche Relevanz: »Es gibt auch noch die Meinung, daß die Meiji-Regie­ rung nicht absolutistisch, sondern bürgerlich gewesen sei. Das ist allerdings lediglich eine Hypothese und basiert nicht auf konkreten politischen Tatsa­ chen.«125

Die Position der rônôha In den ersten Jahren nach Kriegsende aber prägte die Kontroverse zwischen rônôha und kôzaha noch die Diskussion über die Meiji-Restauration. Zahlreiche während des Krieges verfaßte oder konzipierte Werke konnten erst jetzt publi­ ziert werden, und daher wurden auch die Oppositionen der ›Kontroverse über den japanischen Kapitalismus‹ in die veränderte Nachkriegslandschaft impor­ tiert.126 Insbesondere in der ökonomischen Diskussion überlebte die Interpre­ tation der rônôha, die die indigenen Wurzeln des japanischen Kapitalismus und die Kontinuitäten der wirtschaftlichen Entwicklung über 1945 hinaus beton­ te.127 Aber auch in der Historiographie blieb die Deutung der Transition von guten Überblick über die Geschehnisse an der Kaiserlichen UniversitätTôkyôvermittelt Marshall, Academic Freedom. 124 Diese Auffassung war weit verbreitet und wird häufig selbst im Rückblick nicht hinter­ fragt; die Position der rônôha galt nach 1945 als Anachronismus. Vgl. etwa Inumaru, Sengo Nihon, S. 108. 125 C omitéjaponais, Le japon, S. 35. 126 Inumaru, Sengo Nihon Marukusushugi, S. 101-105. 127 Vgl. Oishi, Sengo kaikaku. Die einflußreichsten Beiträge zur Analyse und Theorie der öko-

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1868 als bürgerliche Revolution zunächst einflußreich. Im ersten Teil einer auf 13 Bände angelegten Reihe formulierten Kajinishi Mitsuhaya, Oshima Kiyoshi, Katô Toshihiko und Ôuchi Tsutomu 1954 noch einmal so etwas wie eine offi­ zielle Sicht der rônôha.12B Die Meiji-Restauration galt den Autoren als bürgerliche Revolution, die »vom niederen Kriegeradel (kakyû bushi) durchgeführt wurde.« In diesem Pro­ zeß sei das feudalistische Tokugawa-Shogunat durch einen modernen Natio­ nalstaat abgelöst worden. Die allgemeine Krise des Ancien régime habe bei der Zentralregierung (dem Shogunat) und in den zahlreichen Kleinstaaten zu einer spürbaren Finanznot geführt, »die mit der Verarmung des niederen Krieger­ adels in direkter Verbindung stand«. Im Kriegeradel (Samurai) sei so eine Span­ nung zwischen der konservativen, herrschenden Gruppierung und einer ambi­ tionierten niederen Schicht entstanden. In den meisten Einzelstaaten seien diese niederen Samurai in der Lage gewesen, sich gegen ihre Vorgesetzten durchzusetzen und eine Reihe von Reformen ins Werk zu setzen. Die Histori­ ker der rônôha erkannten in ihnen daher den Motor der historischen Verände­ rung: »Die niederen Samurai waren im Gegensatz zu der bisherigen, konserva­ tiven Führungsschicht eine revolutionäre Gruppierung und konnten daher, anders als die zeitgenössischen Bauern und das gemeine Volk, zum Repräsen­ tanten sozialrevolutionärer Ideen werden«. Als seit 1853 und der Landung ame­ rikanischer Schiffe in der Bucht von Uraga das Shogunat sich verstärkt ameri­ kanischem Druck ausgesetzt sah, wandten sich zahlreiche niedere Samurai gegen die Shogunatsregierung, die in ihren Augen nicht in der Lage war, sich diesem Druck zu widersetzen. Bei den Reformen in den Einzelstaaten, die schließlich auch zum Sturz der Zentralregierung führten, habe es sich jedoch zunächst um einen Versuch gehandelt, die bisherige feudale Ordnung zu ret­ ten; gegen ihre Absichten seien die niederen Samurai dadurch aber zu Agenten der Abschaffung des Feudalismus und der Durchsetzung der Moderne gewor­ den: »Auch wenn sie die Funktion der führenden Schicht im Verlauf der Meiji­ Restauration übernahmen, so hatte der größte Teil von ihnen nicht vorgehabt, im Verlauf dieser Revolution das Feudalsystem zu zerstören; vielmehr ist deut­ lich, daß es das Ziel der niederen Samurai war, anstelle des Tokugawa [-Shogu­ nats] nun selbst die feudale Ordnung zu restaurieren. Aber wie ihre subjektiven Intentionen aussahen, ist hier nicht von Belang.... In Wirklichkeit konnten sie auch nach der Meiji-Restauration nicht anders, als das Feudalsystem abzu­ schaffen. Denn dies entsprach der objektiven, historischen Notwendigkeit.«' 29 nomischen Entwicklung im Nachkriegsjapan kamen aus der Schule von Uno Kôzô; noch in den achtziger Jahren bezeichneten sich rund 200 Wirtschaftswissenschaftler als Uno-Schüler. Siehe Itoh, Value and C risis, S. 38; vgl. auch Albritton, A Japanese Reconstruction. 128 Kajinishi, Nihon shihon shugi. Das l3bändige Werk war das Produkt der Gruppe um Uno Kôzô. 129 Kajinishi, Nihon shihon shugi, S. 178,180, 181.

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Der aus der herrschenden Klasse hervorgegangenen Schicht der niederen Samurai sei also die Aufgabe zugefallen, die Funktion des Bürgertums zu über­ nehmen. Die Abwesenheit einer genuin bürgerlichen Schicht erforderte aber einen theoretischen Exkurs, der die Usurpation der historischen Aufgabe der Bourgeoisie durch den niederen Kriegeradel zu rechtfertigen hatte. Kajinishi und die anderen Autoren des Handbuches versicherten sich dazu der Lenin­ schen Erkenntnisse über »Die Aufgaben der russischen Sozialdemokratie« und »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der sozialdemokratischen Revolution« und wiesen nach, daß eine bürgerliche Revolution auch ohne bürgerliche Trä­ gerschicht sehr wohl möglich sei. Die Inkonsistenzen, die die konkret-empiri­ sche Entwicklung der japanischen Geschichte im Verhältnis zum marxistischen Entwicklungsmodell aufwies, schien durch diesen Rückgriff auf eine spezifi­ sche Lesart der russischen Geschichte ausgeglichen werden zu können. Als Ergebnis dieser Konstruktion könne man davon ausgehen, »daß die Meiji-Re­ stauration eine veritable bürgerliche Revolution in die Wege geleitet hat - auch wenn sie unter Führung des niederen Kriegeradels durchgeführt wurde und im Vergleich mit dem Modell einer bürgerlichen Revolution beträchtliche Verzer­ rungen aufwies.« Diese Abweichungen seien jedoch lediglich als Resultat un­ terschiedlicher äußerer Bedingungen zu betrachten. Zugegeben, die Ishin war »keine repräsentative bürgerliche Revolution«, sie trug »unvollständige« und »kompromißhafte« Züge. »Aber ihrer historischen Essenz nach war die MeijiRestauration eine bürgerliche Revolution.«130 Diese Position der rônôha war Mitte der fünfziger Jahre jedoch schon eine Verteidigungsstellung. Die Gegenthese, daß die Meiji-Restauration nur den Übergang zu einer absolutistischen Staatsform markiere, war weit verbreitet, wie die Autoren auch konzedierten.131 Insofern war die Heftigkeit der rhetori­ schen Attacken auf die herrschende Interpretation der kôzaha eine Reaktion auf den schwindenden tatsächlichen Einfluß der rônôha-Position: »Die ... Absolu­ tismus-These [der kôzaha] hat zu einer schwer aufzulösenden Verwirrung und zu Mißverständnissen geführt, wie nun ganz klar geworden sein dürfte. Wenn man das auf die Meiji-Restauration folgende Tennô-System als Absolutismus bezeichnet, verfehlt man nicht nur die japanische Realität, sondern ... errichtet man gewaltige Luftschlösser.«132

130 Kajinishi, Nihon shihon shugi, S. 244, 247. 131 Kajinishi, Nihon shihon shugi, S. 188. 132 Kajinishi, Nihon shihon shugi, S. 23lf.

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Tôyama Shigekis »Meiji Ishin« Einer der Architekten dieser Luftschlösser war Tôyama Shigeki, der in seinem inzwischen klassischen Werk Meiji Ishin im Jahre 1951 die Interpretation der kôzaha-Orthodoxie festschrieb.133 Tôyama, Jahrgang 1914, hatte 1938 sein Stu­ dium der japanischen Geschichte an der Universität Tôkyô beendet und war seitdem als Wissenschaftler am Quellenkundlichen Institut (shiryô hensanjo) sei­ ner Alma mater beschäftigt. Dort war er mit der Edition von Dokumenten zur Außenpolitik der späten Tokugawa-Zeit betraut. Tôyama griff daher nicht nur auf die Ergebnisse der ›Kontroverse über den japanischen Kapitalismus« zurück, sondern verfügte auch über eine umfassende Quellenkenntnis, und sein Werk unterschied sich so von den bisweilen stark theorielastigen Abhandlungen der dreißiger Jahre. Seinem Buch, dessen Thesen er in Grundzügen zwei Jahre zuvor schon als Vorlesung präsentiert hatte, war sofortiger Erfolg beschienen: die erste Auflage von 7000 Bänden wurde noch 1951 verkauft, die nächsten 10 000 Bände schon im Jahr darauf gedruckt, und eine Dekade später ging das Werk bereits in seine 17. Auflage. Dieser Erfolg auf dem Buchmarkt ist umso erstaunlicher, als Meiji Ishin mit seinem ausführlichen wissenschaftlichen An­ merkungsapparat, der am Marxismus orientierten abstrakten Begrifflichkeit und seinem hermetischen Stil kaum Zugeständnisse an populäre Leseerwar­ tungen machte. Dennoch wurde die Interpretation Tôyamas rasch kanonisch und stellt bis in die Gegenwart das Gerüst der Darstellung der Meiji-Restaura­ tion in den Lehrbüchern an japanischen Oberschulen. 134 Angesichts dieses Stellenwertes erscheint es sinnvoll, sich hier mit Tôyamas Interpretation etwas ausführlicher zu beschäftigen. Tôyamas Meiji Ishin war eine politische Geschichte der Restauration.135 Da­ mit entfernte er sich etwas von der bisweilen einseitig ökonomischen Argu­ mentation der ›Kontroverse über den japanischen Kapitalismus‹, aber eine Rückkehr zu den historistischen Traditionen der Politikgeschichte war damit nicht intendiert. Vielmehr beruhte seine politikgeschichtliche Synthese auf den Ergebnissen der sozialgeschichtlichen Forschung. Dies wurde schon in der Hauptthese des Buches deutlich, die der Meiji-Restauration ihren punktuellen Charakter nahm und sie nicht als Coup d'état des Jahres 1868, sondern als einen langjährigen gesellschaftlichen Prozeß auffaßte. »Die als historische Epochen­ schwelle verstandene Meiji-Restauration wird hier als 37jähriger Prozeß der Etablierung des Absolutismus betrachtet, der mit den politischen Reformen des Jahres 1841 begann und ... 1877 endete.«136 Für Tôyama markierte die 133 Kajinishi ging explizit auf die »fehlerhafte Interpretation« Tôyamas ein; Níhon shihon shu­ gi, S. 260. 134 Vgl.Jansen, Rezension. 135 Tôyama, Meiji Ishin, S. 19. 136 Tôyama, Meiji Ishin, S. 336.

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Meiji-Restauration somit die Übergangsperiode, die Japan aus einem feudalen in einen absolutistischen Staat verwandelt habe.137 Tôyama vertraute dabei auf das identische Modell universalhistorischer Entwicklung, das auch der Inter­ pretation der rônôha-Historiker zugrundelag. Die Beurteilung aber variierte: denn in der kôzaha-Interpretation war die Meiji-Restauration gerade kein ge­ glückter Übergang in die Moderne, sondern die Geschichte des Scheiterns der bürgerlichen Revolution. Tôyamas Darstellung begann mit einer Analyse der sog. Tempô-Reformen seit 1841, durch die die Zentralregierung ebenso wie zahlreiche Einzelstaaten der drängenden Finanznot Herr zu werden versuchten. 138 Tôyama erkannte in diesen feudalistischen Reformen nicht nur den Beginn einer gewaltigen gesell­ schaftlichen Umwälzung, sondern geradezu schon eine Meiji-Restauration in nuce: »Man kann behaupten, daß sich in der politischen Entwicklung der Tempô-Ära bereits die Grundformen des politischen Wesens der Meiji-Restau­ ration herausgebildet hatten.«139 Die grundlegenden Interessen- und Klassen­ gegensätze der folgenden Jahre sah Tôyama um 1840 schon angelegt. Die alte feudale Ordnung befand sich in einem Zustand der Auflösung und wurde von Finanzkrisen sowie von Bauernunruhen und Aufständen in den Städten heim­ gesucht. Die herrschende Schicht war aber in der Lage, die Aufstände niederzu­ schlagen und aus ihren Reihen eine Gruppierung hervorzubringen, die zu sy­ stemerhaltenden Reformen bereit war. Für Tôyama war bei der Beurteilung des Charakters der Veränderungen jedoch entscheidend, daß mit den Bauern­ aufständen die Kräfte einer Revolution ›von unten‹ unterdrückt und diese durch Reformen ›von oben‹ ersetzt worden seien, die einen Kompromiß mit der alten Ordnung darstellten. So habe sich in den 1840er Jahren der niedere Kriegeradel in den meisten Einzelstaaten durchsetzen können, indem er die Energien der Volksaufstände in seiner Auseinandersetzung mit dem herrschen­ den Hochadel instrumentalisierte. Die nach der Niederschlagung der Aufstän­ de nun von den Samurai durchgeführten Reformen allerdings hätten nicht mehr eine Veränderung der Eigentumsbedingungen auf dem Lande zum Ziel gehabt, sondern vielmehr den Fortbestand der feudalen Gesellschaftsordnung gesichert.110 137 Tôyamas Absolutismuskonzept folgte Hattori Shisô, der einer der repräsentativen kôzaha­ Theoretiker in der ›Kontroverse über den japanischen Kapitalismus‹ gewesen war; Hattori stützte sich auf Marx, Engels und Kautsky und beschrieb Absolutismus als Übergangsstadium zum Kapi­ talismus, in dem zwischen Feudaladel bzw. feudaler Grundbesitzerklasse auf der einen und der entstehenden Bourgeoisie auf der anderen Seite ein Gleichgewicht herrsche; keine der beiden Klassen sei daher in der Lage, die staatliche Macht ganz in ihre Verfügungsgewalt zu bringen. Siehe Tôyama, Meiji Ishin, S. 23f. 138 Die Reformen sind nach der Tempô-Ara (1830-1844), während der sie stattfanden, be­ nannt. 139 Tôyama, Meiji Ishin, S. 21. 140 Tôyama, Meiji Ishin, S. 33-39.

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Wie auch Kajinishi identifizierte Tôyama den niederen Kriegeradel (kakyû bushi) als treibende Kraft der Reformbewegung wie auch dann im weiteren Verlauf des C oup d'état von 1868. Aber anders als die rônôha-Historiographie maß er dieser sozialen Schicht nicht das Potential einer ›fortschrittlichen‹ Ge­ sellschaftsveränderung zu: »Anzunehmen, die Reformer im niederen Krieger­ adel hätten nur deshalb, weil ihre materielle Lage sich von der des Volkes (sho­ min) nur geringfügig unterschied, die Beschränkungen ihres Standes als herrschende feudale Schicht transzendiert und in irgendeiner Form die revolu­ tionäre Rolle der Vertreter der Interessen des Volkes ... übernommen, wäre ein vorschneller Irrtum.... Vielmehr... besaßen sie ausschließlich das Bewußtsein ihres feudalen Standes als herrschende Schicht, die auf der strengen Abrenzung vom Volk beharrte.«141 Nach der Ouvertüre der Tempô-Reformen setzte in Tôyamas Lesart mit der Landung der amerikanischen Schiffe im Jahre 1853 ein neuer Akt in der Ge­ schichte der Meiji-Restauration ein. Die Forderung nach Öffnung der japani­ schen Häfen und nach Verhandlungen über Handelsabkommen versetzten das seit rund 250 Jahren abgeschlossene Land in einen Zustand der politischen Erregung. Zahlreiche politische Aktivisten (shishi) unter den niederen Samurai agitierten gegen jegliche Zugeständnisse an die fremden Mächte und plädierten für eine gewaltsame Vertreibung der westlichen Barbaren‹ (jôi ron), denen die Shogunatsregierung 1854 die Benutzung einer Reihe von Häfen zugestanden hatte. Die xenophobe Ausrichtung dieses militanten Aktivismus implizierte zugleich auch eine Kritik am Shogunat, das mit den Großmächten in Verhand­ lungen stand und die Sicherheit der westlichen Diplomaten garantierte. In mehreren militärischen Strafexpeditionen, die sich vornehmlich gegen das Lehnsfürstentum C hôshû im Südwesten des Landes richteten, versuchte das Shogunat in den frühen 1860er Jahren, der aufgeheizten Atmosphäre Herr zu werden. Zudem demonstrierten auch englische und französische Kanonen­ boote in Kagoshima und Shimonoseki den Behauptungswillen der Westmächte sowie die militärische Schwäche der oppositionellen Kleinstaaten. Diese kom­ binierten Maßnahmen gegen die Stützpunkte der fremdenfeindlichen Opposi­ tion überzeugten die Aktivisten von der Überlegenheit westlicher Militärtech­ nik und führten zu einer Veränderung der politischen Stoßrichtung der Opposition. Von nun an galt das Shogunat als Hauptgegner, und der politisierte Teil des niederen Kriegeradels richtete seine Aktivitäten auf den Sturz der Zen­ tralregierung (tôbaku)}142 Nach Tôyamas Interpretation wiederholte sich nun im nationalen Maßstab, was sich in den 1840er Jahren im Rahmen der Tempô-Reformen schon ange­ kündigt hatte. Seit Mitte der 1860er Jahre nahm unvermittelt die Zahl der Bau141 Tôyama, Meiji Ishin, S. 38f. 142 Tôyama, Meiji Ishin, S. 81-95, 149.

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ernaufstände exponential zu; diese Unruhen demonstrierten für Tôyama die inneren Gegensätze des Feudalsystems. Die oppositionelle Schicht des niede­ ren Kriegeradels unterdrückte diese Aufstände, habe jedoch gleichzeitig die Energien des Volkes in ihrem Kampf gegen die zentrale Regierung des Shogun instrumentalisiert. Zudem bedienten sich die reformorientierten Samurai der Person des Tennô, in dessen Namen der Feldzug gegen das Shogunat geführt wurde, und erweckten somit den Eindruck eines tiefgreifenden politischen Wandels. In Wirklichkeit aber, so Tôyama, ging es nicht um die Durchsetzung der Moderne (die wahrhaft revolutionären Kräfte seien mit den Bauernaufstän­ den unterdrückt worden), sondern um den Erhalt der feudalen Ordnung in neuem Gewände. Genaugenommen habe es sich um »den universalen welthi­ storischen Prozeß der Durchsetzung des Absolutismus« gehandelt - der in Eu­ ropa von modernen Entwicklungen begleitet gewesen sei, in Japan aber »die überkommene Grundordnung beließ und nur das äußere Erscheinungsbild veränderte, während der Kern unangetastet blieb.« Die Bewegung der niederen Samurai habe sich »gegen den Zerfall der feudalen Macht [gerichtet]; im Ge­ genteil, sie zielte auf deren Konsolidierung.«143 Im Coup d'état von 1868 stürzte die Samurai-Opposition, die im Namen des Meiji-Tennôs handelte, die Shogunatsregierung und setzte sich dann in einem Bürgerkrieg (Boshin sensô) gegen die Streitkräfte der alten Ordnung durch. Aus den oppositionellen Samurai sei dann rasch eine absolutistische Bürokratie ge­ worden, die in den folgenden Jahren eine Reihe von Reformen durchführte und die Macht der neuen Regierung befestigte. Die Liste der Reformen umfaß­ te Veränderungen des politischen Systems, die Auflösung der einzelnen Lehns­ fürstentümer, eine Land- und Steuerreform, die Abschaffung des Kriegeradels sowie die Einführung von Schul- und Wehrpflicht. Da diese Maßnahmen aber nicht von einer bürgerlichen Klasse ›von unten‹ durchgesetzt, sondern ›von oben‹ verfügt worden seien, habe auch das in ihnen enthaltene Potential zur Durchsetzung moderner Strukturen nicht zum Tragen kommen können. Zu­ gestandene politische Partizipationsrechte etwa seien sogleich durch Versamm­ lungs- und Fraktionsbildungsverbote oder das Verbot des Christentums unter­ höhlt worden.144 Und auch durch die Grundsteuerreform habe sich für den Bauern gegenüber den Belastungen der Feudalzeit nur wenig geändert. 145 Re­ likte aus dem Feudalismus blieben in Tôyamas Deutung also prägend für die japanische Gesellschaft der Meijizeit. Während die Meiji-Restauration in der Interpretation der rônôha in einer bürgerlichen Revolution kulminierte, betrachtete Tôyama den Versuch der Durchsetzung der Bourgeoisie als gescheitert. Für ihn war die japanische Ge143 Tôyama, Meiji Ishin, S. 185, 186. 144 Tôyama, Meiji Ishin, S. 229. 145 Tôyama, Meiji Ishin, S. 283.

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Seilschaft der 1870er Jahre nicht bürgerlich, sondern absolutistisch. Dieser Be­ fund des Mißerfolgs implizierte jedoch nicht, daß das japanische Volk keinerlei revolutionäre Kräfte hervorgebracht hatte und auf Hilfe von außen angewiesen war. Aber anders als die rônôha lokalisierte Tôyama diese revolutionären Ener­ gien nicht im niederen Kriegeradel (kakyû bushi), sondern in den Bauernauf­ ständen des Jahres 1866. Diese Bauernaufstände seien zu einer Bewegung na­ tionalen Ausmaßes angewachsen und erreichten »beinahe das Stadium eines Bauernkrieges mit dem Ziel einer Agrarrevolution.« Diese indigenen Ansätze der Durchsetzung einer bürgerlichen Revolution seien jedoch von den Samu­ rai unterdrückt und durch systemstabilisierende Reformen von oben (die Meiji-Restauration) ersetzt worden. »Während die (bürgerlich-demokratische) Revolution von unten noch heranreifte, wurde das (absolutistische) System durch Reformen von oben in großer Geschwindigkeit etabliert.«146

Vergleichende Überlegungen Im Mittelpunkt der innermarxistischen Auseinandersetzungen zwischen rônôha und kôzaha über den C harakter der Meiji-Restauration stand also die Frage nach dem Gelingen der bürgerlichen Revolution in Japan. Diese Debatte war jedoch kein Selbstzweck, sondern Teil einer breiten Suche nach den Ur­ sprüngen der spätestens 1945 offenbar gewordenen Fehlentwicklung der japa­ nischen Gesellschaft. Diese Zielsetzung und die Auseinandersetzung mit der Kontinuitätshypothese hatten die Diskussionen über den Charakter der MeijiRestauration mit der Bismarckkontroverse in der Bundesrepublik gemein. Wie in Deutschland fiel der Blick dabei auf die Anfänge des modernen National­ staats, wobei entsprechend dem vorherrschenden wissenschaftlichen Paradig­ ma in Deutschland der Nationalstaat und in Japan Überlegungen zu dessen Modernität im Vordergrund standen. Dies zeigte sich auch daran, daß das Pro­ jekt der modernen Nationalstaatsbildung in der Bundesrepublik zum eigentli­ chen Gegenstand der Auseinandersetzung wurde, während in Japan die histo­ rische Notwendigkeit der Meiji-Restauration nicht in Frage gestellt wurde; lediglich die Form ihrer Verwirklichung - und damit auch das Urteil über ihr Scheitern oder Gelingen - stand zur historiographischen Disposition. In der Bundesrepublik übernahm daher auch eine Reihe von Historikern die Position der ›Feinde Bismarcks‹ und vertrat die nichtrealisierte katholisch-großdeutsche Alternative zu Bismarcks kleindeutschem Einigungswerk. Diese kontrafak­ tisch-hypothetische Interpretation konnte als nachträgliche Empörung gegen die Zäsur des Jahres 1866, gegen Königgrätz verstanden werden. In Japan hin­ gegen stand die historiographische Revision der militärischen Ergebnisse des 146 Tôyama, Meiji Ishin, S. 182, l86f.

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Einigungskrieges (Boshin sensô, 1869) nicht auf dem Programm. Die Ablösung des feudalen Tokugawa-Staates durch einen japanischen Nationalstaat schien den meisten Historikern historischer Notwendigkeit zu entspringen. Während sich also die katholische Bismarck-Kritik als ›Geschichtsschreibung der Verlie­ ren auf die Seite Österreichs und der süddeutschen Länder stellte, übernahm die kritische japanische Geschichtswissenschaft nicht die Perspektive des To­ kugawa-Shogunats oder der mit ihm verbündeten (im Einheitskrieg unterlege­ nen) Lehnsfürstentümer, sondern erhob nur die sozialen Verlierer der Meiji­ Restauration zu ihrem Subjekt.'47 Infolgedessen unterschied sich in beiden Ländern die Stoßrichtung der In­ terpretation. So ist deutlich geworden, daß die unterschiedlichen Deutungsan­ sätze zur deutschen Reichseinigung auch geographische Konnotationen besa­ ßen. Man könnte also sagen, daß in der westdeutschen Bismarckkontroverse die Bestimmung der Nation in erster Linie als Suche nach ihrem geographi­ schen Ort verhandelt wurde. In der historiographischen Debatte über die Ver­ ortung der Nation konkurrierten süddeutsch-katholische Traditionslinien mit dem preußisch-protestantischen Erbe; der Pragmatismus der kleindeutschen Einigung wurde gegen die Utopie der großdeutschen Lösung ausgespielt; und die Notwendigkeit der Gründung eines Nationalstaats wurde argumentativ verteidigt gegen Plädoyers zugunsten der übernationalen Tradition des Heili­ gen Römischen Reiches Deutscher Nation. In Japan hingegen wurde die Geographie der Nation nur am Rande proble­ matisiert. An die Stelle einer horizontalen Bestimmungjapans trat hier gleich­ sam seine vertikale Verortung. Nicht die äußeren Grenzen, sondern die innere Differenzierung der Nation avancierte zum Feld konkurrierender Interpreta­ tionen. Maruyama Masao hat dieser Stoßrichtung der japanischen Diskussion deutlichen Ausdruck verliehen: »Das Konzept der ›Nation‹, auf dem der mo­ derne Staat und insbesondere die moderne Bürger-Revolution basieren, be­ zieht sich nicht wahllos auf den Gesamtkörper aller Mitglieder des Staates, son­ dern bezeichnet im besonderen die soziale Schicht, die den modernen Staat 147 Das vorherrschende Geschichtsbild in Japan war das sogenannte Satchô shikan, das Ge­ schichtsbild aus der Perspektive von Satsuma und C hôshû. Diese beiden mächtigsten unter den oppositionellen Einzelstaaten am Ende der Tokugawa-Zeit führten den Kampf gegen die Zentral­ regierung an und bestimmten den Kurs der Meiji-Restauration sowie der folgenden Modernisie­ rung. Auch in der Geschichtswissenschaft figurierten sie als selbstverständliche Subjekte einer nationalen Geschichtsschreibung- insbesondere auch der marxistischen. Ein Gegenentwurf zum Satchô shikan wurde erst in den siebziger Jahren formuliert, etwa durch Sato Shigerô; auch die enorme Konjunktur der Landes- und Regionalgeschichte seit den siebziger Jahren läßt sich aus dieser Perspektive deuten. In den fünfziger Jahren gab es dazu schon vereinzelte populärwissen­ schaftliche Ansätze, die aber unter Historikern ohne Wirkung blieben. Ein typisches Beispiel ist die »Wahre Geschichte der Meiji-Restauration« des Politikers Ninagawa Arata, der das Shogunat als inhärent demokratisch und modern beschrieb und in einer scharfen Polemik alle Mißstände der Geschichte seit 1869 auf die Intervention von Satsuma und C hôshû zurückführte. Siehe Ninagawa, Ishin Seikan.

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aktiv unterstützt. Daher schließt es die herrschende Schicht des Ancien régime auch prinzipiell aus.« Für viele japanische Historiker bestand die Bestimmung der Nation in der Definition ihres sozialen Kerns.148 Dieses Erkenntnisinteresse strukturierte auch die Debatten über die Einord­ nung der Meiji-Restauration. In der traditionellen nationalen Geschichts­ schreibungwar die Meiji-Restauration als Werk eines Bündnisses von Hof-und Kriegeradel beschrieben worden, die sich im Namen der Einheit von Tennô und Volk zu einer nationalen Bürokratie entwickelten. In den marxistischen Interpretationen aber wurde dieses Bild von der Homogenität der Nation auf­ gebrochen und die gesellschaftlichen Schichten nach ihrer ›Fortschrittlichkeit‹ differenziert. Dabei stilisierten divergierende historiographische Ansätze auch unterschiedliche Gruppierungen zum Agens der geschichtlichen Entwicklung. In der Deutung der rônôha fungierte der niedere Kriegeradel (kakyû bushi) als Träger der Moderne. Die kôzaha hingegen sprach diesen Samurai die Progres­ sivität ab und denunzierte sie als feudalistisch-absolutistische Herrschafts­ schicht. Tôyama erkannte stattdessen in den Bauernaufständen des Jahres 1866 und dann in der Bewegung für Bürgerrechte (jiyûminken undô) der 1880er Jahre die zukunftsweisenden sozialen Kräfte. Aber auch innerhalb der kôzaha gab es heftige Debatten über die Bestimmung des Subjekts (shutai) der Veränderung. In der Nachfolge der noch in den 1930er Jahren vorgestellten These von Hat­ tori Shisô charakterisierten Historiker wie Naramoto Tatsuya oder Fujita Gorô eine Schicht wohlhabender Bauern (gônô) als kapitalistische Produzenten und damit als Motor gesellschaftlicher Veränderung.'49 Und auch Hani Gorô, der 1922-24 in Heidelberg studiert hatte und in den vierziger Jahren einer der ein­ flußreichsten japanischen Historiker war, betonte das revolutionäre Potential des japanischen Volkes (jinmin), das auch ohne den Druck der Westmächte von sich aus zur Triebkraft der Veränderung werden konnte.150 148 Maruyama, Senchû to sengo no aida,S. 291. Diese Gegenüberstellung bezieht sich auf den Schwerpunkt der jeweiligen Debatten; daneben konnte es vereinzelt auch andere Ansätze geben. So spielten bei einigen westdeutschen Historikern auch Überlegungen zur sozialstrukturellen Definition der Nation eine Rolle. Werner Conze etwa kritisierte in seinem Buch über »Die deut­ sche Nation« die übliche Gleichsetzung des Kaiserreichs mit dem Bürgertum und die damit ein­ hergehende Ausgrenzung der Sozialisten sowie der Arbeiterklasse. Dieser »Riß zwischen Bürgern und Proletariern, Nationalen und Sozialisten wirkte verhängnisvoll..., und nicht zuletzt hat Hitler von jener Spaltung der Nation erheblichen Vorteil gezogen.« C onze, Die deutsche Nation, S. 94. 149 Vgl. etwa Hattori Shisô, Ishin shi hôhôjô no shomondai; Hattoris Thesen standen im Ge­ gensatz zur Deutung der Restauration durch Yamada Moritarô und Hirano Yoshitarô, die den endogenen Ansätzen der Modernisierung nur geringes Gewicht beimaßen; siehe auch Hoston, Marxism, S. 120-24; Yamanouchi, Japan, S. 257f. Einen guten Überblick über die komplizierten Auseinandersetzung innerhalb der kôzaha und die Suche nach dem wahren revolutionären Subjekt leistet Iwai, Meiji Ishin. 150 Vgl. etwa Hani, Jinmin no rekishi. Hanis These, vorgelegt schon in seinem Buch Meiji Ishin im Jahre 1940, stieß in den frühen Nachkriegsjahren auf heftige Kritik. Von Historikern wie Hayashi Motoi, aber auch Hattori Shisô wurde ihm vorgeworfen, mit seiner subjektivistischen

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Von der Klasse zur Nation Diese Betonung der Ansätze einer indigenen, nicht auf die Intervention der Großmächte angewiesenen Modernisierung dokumentiert aber, daß das Ver­ hältnis von Innen und Außen immer auch im Hintergrund der Frage nach dem revolutionären Subjekt stand. Und im Laufe der fünfziger Jahre verschob sich allmählich die Stoßrichtung der Debatte von den klassenspezifischen zu den ›nationalen‹ Aspekten der Umwälzungen des 19. Jahrhunderts. Diese Schwer­ punktverlagerung, von der nun gehandelt werden soll, stand im Zusammen­ hang mit einer veränderten Beurteilung der internationalen Lage durch die ja­ panischen Marxisten. Nach der Kapitulation 1945 hatte die Kommunistische Partei die amerikanischen Besatzer noch als ›Befreier‹ begrüßt, und in der For­ schung der parteinahen kôzaha waren die Nachkriegsreformen als nachgeholte bürgerliche Revolution gefeiert worden. Dies änderte sich jedoch mit der Rich­ tungsänderung der amerikanischen Politik, die spätestens seit 1948 nicht mehr die innere Demokratisierung, sondern den wirtschaftlichen Wiederaufbau Ja­ pans in den Vordergrund ihrer Besatzungspolitik stellte. Und der Ausbruch des Koreakrieges 1950 überzeugte dann die Mehrheit der marxistischen Historiker, Zeuge einer imperialistischen Ausdehnung der Vereinigten Staaten zu sein, die auch Japan kolonisiere und in den Radius ihrer Expansion einschließe. Vor dem Hintergrund dieser Lagebeurteilung gab es auch in der Geschichtswissenschaft Ansätze, die Meiji-Restauration unter dem Gesichtspunkt der kolonialen Be­ drohung erneut zu evaluieren.151 Im selben Jahr wie Tôyamas Meiji Ishin, also ein Jahr nach Ausbruch des Krieges in Korea, erschien auch die Darstellung der Meiji-Restauration von Inoue Kiyoshi, einem der bekanntesten marxistischen Historiker der Nach­ kriegszeit. Inoues Buch war viel stärker als Tôyamas Werk, das auf zwei Jahre alten Vorlesungen beruhte, von den aktuellen politischen Geschehnissen und einer Reaktion auf die amerikanischen Aktivitäten in China und Korea geprägt. Daher interpretierte Inoue die Begründung des modernen Nationalstaates auch vor dem Hintergrund einer als koloniale Bedrohung erfahrenen Lage. In Betonung des Volkes (jinmin) eine überhistorische Instanz geschaffen zu haben und damit den Gegensatz der Produktionsbedingungen und Produktivkräfte zu vernachlässigen. Hani harte in Heidelberg bei Rickert studiert, aber der Deutsche Idealismus ließ ihn unbefriedigt; einflußreicher war sein Zusammentreffen mit den Marxisten Miki Kiyoshi und Ôuchi Hyôei, die er ebenfalls in Deutschland kennenlernte. Zur Person siehe Inumaru, Hani Gorô; ders., Kaisetsu. 151 Über die Veränderungen der amerikanischen Besatzungspolitik und den sogenannten ›re­ verse course‹ informiert Schonberger, Aftermath. Der Ausbruch des Koreakrieges verstärkte noch die antikommunistische Komponente der amerikanischen Japanpolitik. Diese Maßnahmen, die sich gegen die linken Gewerkschaften und die Kommunistische Partei richteten und zu zahlreichen Entlassungen von Parteimitgliedern aus dem öffentlichen Dienst führten, übten aufdie Intellektu­ ellen in Japan eine politisierende Wirkung aus. Die Reaktionen unter den Historikern beschreibt z.B. Tôyama, Sengo Nihon, S. 91-95.

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den Grundzügen der Beurteilung unterschied sich sein Buch allerdings nicht von der Einschätzung Tôyamas: die Meiji-Restauration wurde als unvollstän­ diger Übergang vom Feudalismus in die Moderne aufgefaßt, als gescheiterte bürgerliche Revolution und Durchsetzung des Absolutismus. Auch Inoues Buch vertraute also auf das Vokabular der kôzaha-Orthodoxie: die Epitheta zu Japans Moderne lauteten verzerrt, unvollständig, verspätet oder despotisch. In einem wesentlichen Punkt jedoch, in der Beurteilung des internationalen Kontextes der Restauration, wich Inoue von Tôyamas Auffassung ab: dieser hatte in dem Druck der westlichen Großmächte auf Japan seit der Mitte des 19. Jahrhunderts keine existentielle Bedrohung gesehen; die Gefahr der Kolonisie­ rung habe für Japan nicht bestanden. 152 Inoue jedoch stellte den Aspekt der Bedrohung ins Zentrum seiner Betrachtungen. Seine Deutung der Vergangen­ heit stand dabei ganz im Zeichen einer Gegenwartsanalyse. Denn für Inoue war nach fünf Jahren amerikanischer Besatzung der Zeitpunkt gekommen, »zu dem sich die japanische Nation energisch gegen den Imperialismus zur Wehr setzen muß«, gegen amerikanische Stützpunkte und die Instrumentalisierung im Kampf gegen den Kommunismus. 153 Dieses politische Anliegen blieb nicht ohne Konsequenzen bei der Analyse der Nationsbildung im 19. Jahrhundert: »Natürlich muß die Geschichtswissenschaft die Unzulänglichkeiten der MeijiRestauration kritisch begutachten, und auch ich halte sie für unvollständig. Aber heute ist es noch wichtiger, sich der positiven Bedeutung der Meiji-Re­ stauration zu vergewissern. Und diese Bedeutung liegt nicht... in der Etablie­ rung des Absolutismus, sondern darin, daß das japanische Volk (Nihon jinmin) den entscheidenden ersten Schritt auf dem Weg zu einem modernen National­ staat und der Erringung nationaler Unabhängigkeit getan hat. Unser Volk stand damals an der Spitze des Fortschritts der asiatischen Nationen. Auch wenn also unsere gegenwärtige Schande und unser Unglück mit den Unzulänglichkeiten der Meiji-Restauration zu tun haben, ist ihre positive Bedeutung doch ein hi­ storischer Ausgangspunkt für die Befreiung unseres nun gefangengehaltenen Vaterlandes und den Kampf für Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden sowie ein prosperierendes Japan.« 154 Inoue erkannte demnach in der Bewahrung der nationalen Unabhängigkeit das entscheidende Vermächtnis der Meiji-Restauration. Er betonte die äußere 152 Tôyama, Meiji Ishin, S. 45-63. Vgl. auch ders., Nihon no nashonarizumu, S. 105. Daneben unterschied sich Inoue auch in der Bewertung der jôi-Bewegung (in der er den modernen Natio­ nalismus schon angelegt sah; Tôyama hatte dagegen den xenophob-feudalistischen C harakter die­ ser Bewegung betont) und des Boshin-Krieges (Inoue betonte die modernisierende Kraft der Klas­ senbündnisse; Tôyama dagegen beschrieb den Krieg als Festigung der absolutistischen Macht) von Tôyama; hier soll aber die Diskussion des zentralen Punktes, der Bewertung der äußeren Bedro­ hung, im Vordergrund stehen. 153 Inoue, Meiji Ishin, S. 179. Vgl. auch 1-7. 154 Inoue, Meiji Ishin, S. 2-3.

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Bedrohung zwischen 1853 und 1871, die nicht nur wirtschaftliche Abhängig­ keit und politische Beeinflussung, sondern die tatsächliche Kolonisierung als realistische Gefahr erscheinen ließ. 155 Auch wenn also seine Bewertung der in­ nenpolitischen Entwicklung der Deutung Tôyamas noch weitgehend ent­ sprach, kündigte die Publikation von Inoues Werk eine entscheidende Schwer­ punktverlagerung in der Debatte über die Meiji-Restauration an; nicht mehr der Klassencharakter des neuen Staates stand nun im Vordergrund, sondern die Entstehung einer modernen Nation in der Abgrenzung nach außen. Diese Richtungsänderung der marxistischen Debatte spiegelte sich in den Beiträgen zur großen Jahrestagung der Rekishigaku kenkyûkai 1951 wider. Die Tagungen der beiden vorangegangenen Jahre hatten unter den Fragen nach »Fundamentalen Widersprüchen der jeweiligen gesellschaftlichen Formatio­ nen« und den »Stadien der Entwicklung staatlicher Macht« gestanden und da­ mit deutlich den Klassencharakter geschichtlicher Entwicklung in den Vorder­ grund gestellt. Nun hieß das Generalthema: »Das Problem der Nation in der Geschichte«. Die Perspektive auf die zeitliche Abfolge universalhistorischer Entwicklungsstadien wich nun also der Suche nach der geographisch konno­ tierten Kategorie der Nation. Und in diesem Prozeß wurde stillschweigend auch die nationale Identität umdefiniert. Unter dem Druck einer als imperiali­ stische Bedrohung erfahrenen äußeren Lage ersetzten auch zahlreiche marxi­ stische Historiker die Analyse der inneren Differenzierung durch die Betonung nationaler Homogenität und der Abgrenzung nach außen. In den erhitzten Diskussionen dieser Tagung stand die Auseinandersetzung mit den konträren Positionen Tôyamas und Inoues im Mittelpunkt, vor allem in der Sektion für neueste Geschichte. Tôyama wiederholte seine Auffassung in einem Vortrag über »Japanischen Nationalismus«, aber in der abschließenden Diskussion sah er sich heftigen Angriffen ausgesetzt. Die Mehrheit der Wissen­ schaftler war mit Inoue bereit, die internationale Lage als konstitutiven Faktor der Meiji-Restauration anzuerkennen und Tôyamas Modell der endogenen Entwicklung durch eine stärker an der Außenpolitik orientierte Lesart zu erset­ zen. Bei dieser Betonung der nationalen Resistenz gegenüber einer äußeren 155 Tôyama hatte die Gefahr einer faktischen Kolonisierung durch den Verweis auf die Verän­ derungen der englischen Politik zu entkräften gesucht. England habe seit der Mitte des 19. Jahr­ hunderts den Protektionismus zugunsten einer Politik des Freihandels aufgegeben und habe daher an Kolonien kein Interesse mehr gehabt. Nur wenn, so wie in China geschehen, fremdenfeindliche Ausschreitungen die Sicherheit des Handels bedrohten, sei England zu militärischen Eingriffen bereit gewesen. (Tôyama, Meiji Ishin, S. 51) Inoue ironisierte Tôyamas Argumentation mit folgen­ der Paraphrase: »Als also das chinesische Volk vom englischen und französischen Kapitalismus auf die rechte Wange geschlagen wurde und nicht artig auch noch die linke Wange hinhielt, sondern frecherweise zurückschlagen wollte, wurde ihm übel mitgespielt; nein, England und Frankreich wollten im Grunde auch die rechte Wange nicht schlagen, und alles wäre gut geworden, hätten sie nur am friedlichen Handel mit China verdienen können, aber da das chinesische Volk solch grau­ same Dinge tat, blieb ihnen nichts übrig, als zuzuschlagen!« (Inoue, Meiji Ishin, S. 178).

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Bedrohung wurde jedoch nicht immer der Gefahr widerstanden, die japani­ sche Nation als Kern dieses Widerstands zu einer unwandelbaren Essenz zu stilisieren. Vor allem unter Historikern der Antike und des Mittelalters war die Überzeugung verbreitet, schon in den Anfangen japanischer Geschichte die wesentlichen C harakteristika ›Japans‹ aufspüren zu können. Die Bestimmung grundlegender, vorgängiger Wesensmerkmale einer Nati­ on wurden in der Nachkriegszeit in Anlehnung an Überlegungen Stalins auch unter Marxisten hoffähig.156 Stalins in Japan breit rezipierte Aufsätze zur Sprachwissenschaft gipfelten in der These, die Untersuchung der Sprache er­ mögliche Aussagen über die überhistorischen und klassentranszendenten Merkmale eines Volkes jenseits aller Dialektik von Basis und Überbau. Auf einem Symposium, das sich mit dieser These auseinandersetzte, entdeckte ent­ sprechend auch Ishimoda Shô, der einflußreichste Mittelalterhistoriker der Zeit, eine Kontinuität von japanischer Folklore und Volkskultur jenseits aller sozialen und politischen Veränderungen.157 Und in seinem Buch »Geschichte und die Entdeckung der Nation«, das ebenfalls in der aufgeheizten Atmosphäre des Jahres 1951 veröffentlicht wurde und sogleich zu einem Bestseller wurde, beschwor Ishimoda das Gemeinschaftsgefühl des Volkes angesichts der impe­ rialistischen Bedrohung durch die Vereinigten Staaten und den Stolz einer un­ veränderlichen Nation.158 Ähnlich argumentierte im selben Jahr Toma Seita, sowohl in einer Monographie über die »Entstehung der japanischen Nation« als auch auf der Tagung der Rekishigaku kenkyükai. Er entdeckte von Anbeginn an, im Grunde also schon vor dem Beginn der Geschichte im marxistischen Sinne, eine einheitliche japanische Nation mit gemeinsamer Rasse, Sprache und Kul­ tur. Und das Wesen dieser Nation erkannte er in ihrer friedlichen Entwicklung - die jeweils nur infolge äußerer Bedrohung in Aggression umgeschlagen sei. Japans Militarismus und Expansionspolitik war aus dieser Perspektive das Re­ sultat äußerer Einmischung, die nun durch das amerikanische Insistieren auf Japans Wiederbewaffnung dessen immanenten Pazifismus erneut zu gefährden schien: »Dieses Buch handelt von fernen, alten Zeiten.... Aber ich glaube, daß dieser ... Bericht auch im Hinblick darauf, daß Japan heute im Begriff ist, den Friedensvertrag sowie den Sicherheitsvertrag mit Amerika abzuschließen, eine besondere Bedeutung haben kann.«159

156 Vgl. Stalin, Marxismus; Stalin interpretierte hier (in Anlehnung an Bemerkungen von Marx) die Sprache als Element des »Seins« des Menschen, das der Trennung in Basis und Überbau vorausgehe. Vgl. dazu auch Nolte, Deutschland, S. 341-342. 157 Vgl. Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 102-105. 158 Ishimoda, Rekishi to minzoku no hakken, S. l6f. Vgl. dazu und für das folgende Oguma, Wasurerareta. 159 Toma, Nihon minzoku, S. 2; vgl. ders., Kodai ni okeru minzoku; Oguma, Wasurerareta, S. 37f.

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Die Geschichtsschreibung hatte hier eine politische Komponente und rea­ gierte explizit auf den sich verschärfenden Kalten Krieg. In dieser Hinsicht unterschied sie sich nicht prinzipiell von ihrem Pendant in der Bundesrepublik. »Es gehört zu den wesenhaften Aufgaben politischer Historie, aus der Rück­ schau auf die Vergangenheit den geschichtlichen Standort der Gegenwart zu bestimmen und dadurch die Aufgabe des praktischen Politikers zu erleichtern; denn nur, wer den Boden einigermaßen kennt, auf dem er sich bewegt, vermag sichere Schritte in die Zukunft zu tun.« So hatte Gerhard Ritter auf dem Deut­ schen Historikertag 1953 diesen Zusammenhang formuliert. Ritter selbst, bei­ spielsweise, brachte im Kontext der sich verschärfenden Gegensätze zwischen Ost und West seine Untersuchungen bisweilen in ausdrücklichen Zusammen­ hang mit den Plänen für eine Wiederbewaffung der Bundesrepublik. Er war daher bemüht, in seinen historischen Analysen deutlich zu machen, daß der deutsche Militarismus der Vergangenheit angehöre und in der Gegenwart kei­ ne Gefahr mehr darstelle. Das Ende der militaristischen Traditionen schien Ritter 1918 endgültig besiegelt.160 In Japan hingegen ergriff die Mehrzahl der Historiker, die sich politisch äußerten, Partei gegen die schleichende Aushöh­ lung des Artikels 9 der Nachkriegsverfassung, der den Verzicht auf Streitkräfte vorschrieb. Und während Ritter von den Vereinigten Staaten Schutz vor dem Bolschewismus erhoffte, beschrieb Inoue Kiyoshi das japanische Verhältnis zur amerikanischen Schutzmacht wie folgt: »Bereits sechs Jahre lang wurde uns unsere Souveränität entrissen, wurden wir unter Besatzung fremder Streitkräf­ te gestellt; unser Vaterland wird Jahr für Jahr mehr zu einer Kolonie, und ganz Japan wird zu einem Militärstützpunkt einer fremden Macht.«161 Im globalen Kontext des Kalten Krieges standen Ritter und Inoue gewissermaßen auf entge­ gengesetzten Seiten. Aber beide Positionen waren den diskursiven Polaritäten des Ost-West-Gegensatzes verpflichtet und rekurrierten überdies auf die Nati­ on als unhintergehbares Subjekt der Geschichte. Auch unter marxistischen Historikern in Japan, um den Faden wieder aufzu­ nehmen, gewann die Nation als analytische Kategorie zunehmend an Rele­ vanz; im Einvernehmen mit den Stellungnahmen der Kommunistischen Partei betrachteten zahlreiche Historiker Japan seit 1950 als amerikanische Kolonie.162 Dabei wurde in der Regel die Nation nicht als homogene, einheitliche Entität aufgefaßt. Das Volk (jinmin), das die Grundlage der Nation (minzoku) bildete,

160 Bezeichnenderweise gehörte für Ritter somit schon das Dritte Reich der Epoche einer verantwortungsvollen Außenpolitik an. Daher erschien ihm auch die »Gleichstellung der deut­ schen Generalität von 1939 mit den Militaristen ... von 1914-1918 ... verhängnisvoll«. Vgl. G. Ritter, Das politische Problem des Militarismus, S. 153, 180. 161 Inoue, Meiji Ishin, S. 2f. 162 Vgl. zu den Parallelen mit dem Parteiprogramm der Kommmunistischen Partei aus dem Jahre 1951 Itoh, Value, S. 32f.

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wurde in der Geschichte zumeist als unterdrückte Masse einer despotisch herr­ schenden Schicht gegenübergestellt. Dennoch verlor bei der Bewertung der Meiji-Restauration die Analyse der Klassenbasis allmählich ihre methodische Priorität. Dies implizierte jedoch noch nicht die Aufgabe marxistischer Prämis­ sen. Nationen galten dieser Logik entsprechend nun selbst als Akteure im inter­ nationalen Klassenkampf, und die asiatischen Nationen erschienen so gewis­ sermaßen als Proletariat im Weltmaßstab. Das revolutionäre Potential ging also lediglich vom sozialen auf das nationale Subjekt über. Der Aufstieg der Nation zum Motor der Geschichte in der japanischen Ge­ schichtsschreibung der Nachkriegszeit brachte es mit sich, daß hinfort die Be­ stimmung und die räumliche Verortung dieser Nation ins Zentrum historio­ graphischer Aufmerksamkeit rückten. So wurden die Japaner bisweilen zu einem Volk des Friedens stilisiert, dessen inhärenter Pazifismus sich wahlweise gegen die interne Unterdrückung durch die Herrschenden oder gegen die kul­ turelle Überfrachtung von außen gerichtet habe.163 Aber auch die geographi­ sche Definition von ›Japan‹ wurde nun zum Feld der Auseinandersetzung. Denn die Niederlage und die einschneidende Verringerung der von Japan kon­ trollierten Territorien machten den bisherigen Konsens über den Ort der Nati­ on zum Anachronismus. Diese definitorische Instabilität führte, im Prinzip ähnlich wie in der Bundesrepublik, zu einer Diskussion, in der man sich der nationalen Grenzen unter veränderten politischen Bedingungen erneut versi­ cherte. So war vor 1945 noch das Dogma der ethnischen Vielschichtigkeit des japanischen Volkes die Grundlage der Staatsräson gewesen; im expansiven Aus­ greifen nach Ost- und Südostasien hatte diese Ideologie ihre politisch-militäri­ sche Entsprechung gefunden. Nach dem Krieg galt diese Vorstellungjedoch als imperialistisch und wich der Definition Japans als einheitlicher, ethnisch nicht zusammengesetzter Nation. Taiwan oder Korea galten nun eben nicht mehr als organische Bestandteile einer japanisch geführten ›Großasiatischen Wohl­ standssphäre‹. Aufgrund dieses Bruchs in der Selbstwahrnehmung wurde auch die ameri­ kanische Besatzung Okinawas und der Ryûkyû-Inseln von der Kommunisti­ schen Partei Japans zunächst als Befreiung der lokalen Urbevölkerung vom imperialistischen Joch japanischer Fremdherrschaft begrüßt. Bald aber er­ schien der Befreier selbst als Usurpator, und die KPJ forderte die Rückkehr des von den Vereinigten Staaten unterdrückten Okinawa unter ›wohlwollende‹ ja­ panische Fittiche. Dieser Forderung schlossen sich auch marxistische Histori­ ker an, die nun an die sprachlich-kulturelle Zugehörigkeit Okinawas zur japa­ nischen Nation erinnerten. Diese kulturellen Gemeinsamkeiten waren indes nicht Ausdruck einer ethnischen Grundlage, sondern das Resultat einer rigiden Assimilierungspolitik der japanischen Regierung seit 1872. Aber diese autoritä163 So etwa Ishimoda, Rekishi to minzoku no hakken; Toma, Nihon minzoku, S. 35.

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re Durchsetzung staatlicher Macht erschien vielen marxistischen Historikern in den fünfziger Jahren nicht mehr als Akt der Repression, sondern geradezu als Ausdruck historischer Gesetzmäßigkeit. Inoue Kiyoshi etwa verteidigte die Disziplinierung des Inselkönigreichs mit deutlichen Worten: »Die Bewohner der Ryûkyû sind ein Zweig der japanischen Rasse, sie sprechen einen japani­ schen Dialekt und schreiben mit japanischen Zeichen. Die Inseln sind geogra­ phisch die Verlängerung der japanischen Inselkette. Früher oder später hätte sich die historische Notwendigkeit ergeben, diese Inseln politisch mit der In­ selkette zu vereinen.« 164 Und auch Ishimoda Shô fand für die gewaltsame Durchsetzung eines modernen Nationalstaates in der frühen Meijizeit eine geschichtsphilosophisch abgestützte Rechtfertigung. Er pries die »fortschrittli­ che Bewegung, die nach der Meiji-Restauration... ein einheitliches japanisches Volk hervorbrachte« und charakterisierte die kulturelle Assimilierungspolitik als notwendiges Instrument dieses Fortschritts. Nur durch diese forcierte Poli­ tik könnten rückständige Gebiete den Segnungen der Moderne aufgeschlossen werden. 165 Auf diese Weise fügte sich die Kolonialisierung Okinawas sogar in den dezidiert antikolonialen Diskurs kritischer Historiker. Das marxistische Modell der Weltgeschichte konnte auch drakonische Maßnahmen, die von der historischen Notwendigkeit vorgezeichnet schienen, mit dem legitimierenden Index der Fortschrittlichkeit versehen.166 Jedenfalls: auch in Japan entwickelte sich die wissenschaftliche Kontroverse über den Status der Reichseinigung allmählich zu einer Debatte über den Ort der Nation, und im Laufe der fünfziger Jahre ergänzten zunehmend räumlich­ geographische Definitionen ›Japans‹ die Suche nach dem sozialen Träger des geschichtlichen Fortschritts. Die Meiji-Restauration, die diese Nationswer­ dung in Gang gesetzt hatte, wurde somit zunehmend als nationale Revolution verstanden, auch wenn die sozialen Versprechungen einer ›Revolution‹ nicht eingelöst schienen. Dieser Perspektivenwechsel führte zu einer Ausweitung der Deutungsansätze und auch der personalen Zusammensetzung der Debatte. Denn durch den Topos der ›nationalen Revolution‹ fanden nun auch konserva­ tive Historiker Anschluß an eine Diskussion, die in den ersten Nachkriegsjah­ ren vornehmlich innerhalb der Paradigmen des Historischen Materialismus 164 Inoue, Geschichte Japans, S. 344. 165 Ishimoda, Kotoba no mondai, S. 309. In diesem Aufsatz beschäftigte sich Ishimoda nicht mit Okinawa, sondern mit der nordjapanischen Tôhoku-Region, die in den 1870er Jahren ebenfalls Betätigungsfeld staatlicher Zentralisierungsbemühungen war. Ishimoda betrachtet die TôhokuGegend, aus der er selbst stammte, als Hort der feudalen Reaktion und befürwortete die Politik der forcierten Modernisierung. Vgl. auch Oguma, Wasurerareta. 166 Edward Said hat diesen Mechanismus der Unterdrückung vorgeblich ›rückstandiger‹ Ge­ biete als onentalistische Praktik bezeichnet und anhand der Marxschen Interpretation der briti­ schen Indienpolitik illustriert; vgl. Said, Orientalism, S. 153-156. Auch Ishimoda stützte sich bei seiner positiven Bewertung einer gewaltsamen Modernisierung explizit auf Marx. Vgl. Ishimoda, Kotoba no mondai.

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geführt worden war und traditionelle politikgeschichtliche Ansätze mit dem Stigma der Unwissenschaftlichkeit belegt hatte.

c) Die Meiji-Restauration als nationale Revolution Denn vor allem an den ehemals Kaiserlichen Universitäten war die neue mar­ xistische Orthodoxie zunächst auf hartnäckigen Widerstand gestoßen. Zwar gewann der Historische Materialismus in der Inkarnation der Rekishigaku ken­ kyükai unter den Studenten rasch eine breite Anhängerschar, aber die etablierte, konservative Historikerschaft stand den neuen Ansätzen äußerst skeptisch ge­ genüber. Mithin dominierte an den historischen Fakultäten der prestigereich­ sten Institutionen des Landes, die auch die Ausbildung des akademischen Nachwuchses monopolisierten, nach wie vor der positivistische Historismus, den man für das Vermächtnis Rankes hielt. Allerdings war die Mehrzahl dieser konservativen Historiker in den ersten Nachkriegsjahren kaum an den Debat­ ten über die Neuinterpretation der eigenen Geschichte beteiligt. In dieser Pha­ se der intellektuellen Hegemonie des Marxismus blieben die Vertreter der alten Garde zwar in ihren Ämtern, aber in ihrem Status reduziert auf die Rolle einer ›schweigenden Majorität‹.

Konservative Interpretationen In den fünfziger Jahren änderte sich dieses Bild jedoch allmählich. Die konser­ vative Yoshida-Regierung war fest im Amt; Wiederaufbau, Wirtschaftswachs­ tum und außenpolitische Souveränität - und nicht mehr die inneren Verände­ rungen durch Reform und Revolution - standen nun auf der politschen Agenda. Und auch die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft hatte sich, wie oben deutlich wurde, von der Analyse der Klassengegensätze auf die Selbst­ vergewisserung der Nation verlagert. Selbst in der Diskussion der kôzaha-Hi­ storiker hatte die Nation nun revolutionäres Potential erlangt. Daher schien auch die Beschreibung der Meiji-Restauration als ›nationale Revolution‹, wie sie dem konservativen Geschichtsverständnis entsprach, kompatibel mit einer bislang vor allem von Marxisten geführten Debatte. Auch diese von der kôzaha als ›Positivismus‹ oder offiziöse ›Akademie-Histo­ rie‹ diffamierte, dezidiert nicht-marxistische Geschichtsschreibung war jedoch keineswegs homogen. Vor dem Krieg war die Interpretation der Meiji-Restau­ ration noch weitgehend in den Bahnen der vom staatlichen ›Amt für die Quel­ lenedition zur Meiji-Restauration‹ vorgegebenen Deutungsmuster erfolgt. Die Meiji Ishin markierte in dieser Sicht die Rückgabe der legitimen Herrschaft an den Tennô, gleichsam die Rückkehr der staatlichen Macht an ihren Ursprung. 114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

Infolge der Mythologisierung dieser Interpretation und ihrer Verstrickung in die tennôzentrische, expansive Politik der Kriegszeit distanzierten sich nach 1945 die meisten Wissenschaftler von diesem Ansatz.167 Daneben gewann aber eine zweite Strömung der Vorkriegsforschung zunehmend an Gewicht, die die Bewahrung der nationalen Integrität gegenüber dem äußeren Druck in den Vordergrund ihrer Betrachtungen rückte. Zahlreiche nichtmarxistische Histo­ riker knüpften nach dem Krieg an diese Interpretation an.168 Nicht jeder Vertreter der These von der Meiji-Restauration als einer nationa­ len Revolution war dabei ein Apologet der alten Ordnung. Als Beispiel ließe sich auf den Historiker Oka Yoshitake verweisen, der in einem 1948 veröffent­ lichten Aufsatz über die »Besonderheit der modernen japanischen Politik« die Meiji-Restauration als »nationale Revolution« (minzoku kakumei) definierte. Dabei trug sein Text durchaus Spuren der intensiven Kontroversen zwischen rônôha und kôzaha, die in dieser Zeit das intellektuelle Klima bestimmten. Auch Oka übernahm die Interpretation der Meiji-Restauration als eines gescheiter­ ten Übergangs vom Feudalismus zur Moderne und sah die Meijizeit noch ge­ prägt durch Residuen feudaler Strukturen. Die entscheidende Schubkraft der Veränderung erkannte er jedoch nicht in den sozialen Gegensätzen, sondern in der Reaktion auf den äußeren Druck. Das Ziel der japanischen Politik bestand seiner Auffassung nach in der Erhaltung der Unabhängigkeit, die nur durch den Widerstand gegen den Westen‹ habe erreicht werden können. Sämtliche innenpolitischen und gesellschaftlichen Veränderungen standen, so Oka, unter der Prärogative der nationalen Behauptung. »Das Konzept der Umwandlung unseres Landes in einen modernen Staat stand unter der Prämisse der Landes­ verteidigung, also der Unabhängigkeit unseres Staates.« Dies gelte übrigens für Regierung und Opposition gleichermaßen. Während beispielsweise Tôyama den Gegensatz zwischen Regierung und der Bewegung für Bürgerrechte (jiyû minken undô) der 1880er Jahre zu einem Antagonismus zwischen Absolutismus und den Triebkräften einer bürgerlichen Revolution deklariert hatte, sah Oka alle gesellschaftlichen Gruppen in dem Streben nach Unabhängigkeit vereint. »Der Erhalt der nationalen Unabhängigkeit war tatsächlich das ... zentrale An­ liegen des gesamten Volkes und transzendierte ... den Gegensatz zwischen der feudalistischen C liquenwirtschaft der Regierung (hanbatsu) und den Advoka­ ten demokratischer Bürgerrechte.«169 167 Als prominenteste Beispiele dieser Forschungsrichtung können gelten: Ishin shiryô hensan jimukyoku, Gaikan Ishinshi (Überblick über die Geschichte der Meiji-Restauration), Tôkyô 1940; und nicht ganz so parteiisch: Osatake Takeshi, Meiji Ishin (Die Meiji-Restauration), Tôkyô 194249. Das vierbändige Werk Osatakes war eine quellengesättigte Studie, die sich auch der Hochschät­ zung durch marxistische Historiker erfreute; Tôyama Shigeki etwa bekannte, er habe viel daraus gelernt; vgl. Tôyama, Meiji Ishin, S. 345. 168 So etwa Inobe Shigeo, Ishin zenshi no kenkyü. Im Grunde gehörten auch die Werke des Marxisten Ishii Takashi zu dieser Richtung. Vgl. vor allem Ishii, Meiji Ishin no kokusaiteki kankyô. 169 Oka, Kindai Nihon seiji no tokuisei, S. 6, 7, 11.

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Diese Betonung der nationalen Geschlossenheit im jahrzehntelangen Rin­ gen mit dem Westen war in der nichtmarxistischen Forschung eine beliebte Figur. Dabei wurde nicht nur die Meiji-Restauration, sondern bisweilen auch das militärische Ausgreifen auf den Kontinent um die Jahrhundertwende als Bestandteil der Landesverteidigung interpretiert. Shimomura Fujio etwa, Hi­ storiker an der Universität Tôkyô, betrachtete auch die Kriege gegen C hina (1895) und Rußland (1905), die in der kôzaha- Geschichtsschreibung als Be­ standteil eines imperialistischen Expansionismus aufgefaßt wurden, als reine Defensivmaßnahmen.170 Neben diesem patriotischen Anknüpfen an die ›natio­ nale Revolution‹ gab es jedoch noch einen zweiten Diskussionsstrang, der an die Deutung der Meiji-Restauration als Widerstand gegen eine äußere Bedro­ hung anschloß. Und im Gegensatz zur Version der kôzaha, die den Übergang in die Moderne in Japan mit ›Scheitern‹, mit ›Unvollständigkeit‹ und ›Fehlschlag‹ assoziierte, wurde hier vor allem der Erfolg der nationalen Selbstbehauptung in den Vordergrund gerückt. Dies war dezidiert eine Position der nichtmarxisti­ schen Historiographie, aber unter den politischen Bedingungen der fünfziger Jahre konnte selbst aus kritisch-marxistischer Perspektive die Analyse bisweilen zur Hymne geraten: »Unter den asiatischen Nationen waren es allein unsere Vorfahren, die damals gegenüber dem Kapitalismus der Großmächte die Unab­ hängigkeit bewahrten«.171 Die japanische Geschichte als Erfolg und möglicher­ weise auch als Modell für andere unterdrückte asiatische Staaten - diese Neu­ bewertung stieß auch unter Historikern, vor allem seit Mitte der fünfziger Jahre, zunehmend auf Resonanz. Und spätestens mit dem Auftreten der Mo­ dernisierungstheorie in Japan wurde diese positive Bewertung der japanischen Vergangenheit zu einem konkurrierenden Paradigma geschichtswissenschaftli­ cher Interpretation.

Vorläufer der Modernisierungstheorie Die Modernisierungstheorie, darauf wird gleich zurückzukommen sein, war im wesentlichen ein Import aus den Vereinigten Staaten. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß sie auch mit einer Reihe von Ansätzen kompatibel war, die sich schon vorher in der japanischen Wissenschaftslandschaft herausgebil­ det hatten und ihre Rezeption erleichterten. Seit der Mitte der fünfziger Jahre waren zunehmend Stimmen zu vernehmen, die eine Befreiung der Interpreta170 Shimomura, Nichiro sensô no seikaku. In einer Überbietung dieser argumentativen Figur war es dann auch denkbar, das gesamte Jahrhundert seit der Landung amerikanischer Schiffe im Jahre 1853 zu einem hundertjährigen Krieg gegen die drohende westliche Vorherrschaft zu stilisie­ ren. An den historischen Fakultäten war diese Konstruktion nach 1945 jedoch nicht mehr salonfä­ hig und sah sich an die Peripherie der Disziplin abgedrängt. 171 Inoue, Meiji Ishin, S. 1.

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tion der Meiji-Restauration aus dem Prokrustesbett marxistischer Theorie und eine positivere Bewertung der japanischen Geschichte einforderten. Nachhal­ tige Anstöße zu dieser grundsätzlichen Diskussion kamen dabei weniger aus der Historikerschaft als vornehmlich aus den benachbarten Geisteswissen­ schaften, wo die Hegemonie des Marxismus früher nachgelassen hatte. Am Neujahrstag des Jahres 1956 veröffentlichte der Romanist Kuwabara Takeo sei­ ne Forderung nach einer »erneuten Wertschätzung für die Meiji-Zeit« in der auflagenstarken japanischen Tageszeitung Asahi Shinbun. Darin klangen die Thesen mehrheitlich schon an, die er in späteren Stellungnahmen mit größerer Prägnanz wiederholen sollte. »Ich glaube, wir müssen anerkennen, daß die ja­ panische Modernisierung in der Meiji-Restauration erfolgreich war.«172 Insbe­ sondere bewunderte er das Tempo der japanischen Aufholjagd, auch wenn die hohe Geschwindigkeit der Modernisierung mit sozialen Kosten verbunden war. »Es liegt nicht in meiner Absicht, all die Probleme zu ignorieren, die die Industrialisierung mit sich gebracht hat. Entscheidend ist aber, daß Japan in Asien eine rückständige Nation war und im Zeitraum von einhundert Jahren zu einer führenden Industriemacht geworden ist. Das ist eines der Wunder der Weltgeschichte.«173 Der Grund nun für diese beispiellose Parforcetour lag nicht so sehr in der imitierenden Adaption, sondern in der Besonderheit der japani­ schen Kultur. »Zu Beginn der Meijizeit war auch Japan ökonomisch und in anderer Hinsicht rückständig, aber es verfügte über eine einzigartige und relativ gut integrierte, hochstehende Kultur«, wie Kuwabara 1957 in einem Aufsatz über »Tradition und Moderne« formulierte, dessen Titel schon an die bald ubi­ quitäre Dichotomie der Modernisierungstheorie erinnerte.174 Kuwabara war zwar kein Historiker, aber seine Intervention zugunsten einer Neubewertung autochthoner Traditionen fand auch in der Geschichtswissen­ schaft breiten Widerhall. Kuwabara lehrte seit 1948 am Institut für Humanwis­ senschaften (Jinbun kagaku kenkyûjo) der Universität Kyôto, an dem unter seiner Führung auch eine Forschergruppe an einem interdisziplinären Projekt zur komparativen Einordnung der Französischen Revolution zusammenarbeitete. Einer seiner Kollegen dort war der Philosoph Ueyama Shumpei, der Ende 1956 ebenfalls mit einer Reevaluation der Meiji-Restauration an die Öffentlichkeit trat. Seine Kritik war direkt an die Adresse der kôzaha und ihr Dogma der un­ vollständigen, fehlgeschlagenen Revolution gerichtet. Ueyama deklarierte die Meiji-Restauration zu einer Übergangsphase, die in jedem Land bei der Über­ brückung der tiefen Kluft zwischen Absolutismus und Moderne auftrete. Wie

172 Kuwabara etal.,Zadankai,S. 176. Ähnlich im zitierten Aufsatz: Kuwabara, Meiji nosaihyô­ ka. 173 Kuwabara, Japan, S. 136. 174 Kuwabara, Tradition, S. 39. Der Aufsatz erschien im November 1957 als Dentô to kindaika in der Zeitschrift Gendai Shisô.

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man auch an der englischen respektive französischen Revolution beobachten könne, gelange in dieser Phase die bürgerliche Klasse noch nicht in den Besitz der ganzen Macht. Ein Restbestand feudalistischer Herrschaftsstrukturen im Anschluß an die soziale Umwälzung sei somit keine japanische Besonderheit, sondern im Grunde ein Bestandteil jeder bürgerlichen Revolution. Auch anhand einer Analyse der Klassenbeziehungen sei Japan nach 1889 dem Napo­ leonischen Frankreich gleichzusetzen. Im Anschluß skizzierte Ueyama den universalen Verlauf dieser Transitionsphase und suggerierte damit, »die Meiji­ Restauration [sei] eine Form der bürgerlichen Revolution.«175 Obwohl Kuwabara und Ueyama sich bei ihrer Argumentation marxistischer Rhetorik bedienten, richteten sich ihre Deutungsversuche doch gegen das Er­ klärungsmonopol des Historischen Materialismus. Beiden gemeinsam war die Tendenz, die Beurteilung der japanischen Moderne von dem erkenntnisleiten­ den »Minderwertigkeitsgefühl« zu befreien, das sie in der Geschichtswissen­ schaft der Nachkriegszeit am Werke sahen.176 Seit 1955 hatte Japan seine politi­ sche Souveränität wiedererlangt, und in den späten fünfziger Jahren war auch der wirtschaftliche Wiederaufschwung schon deutlich zu spüren. In der öffent­ lichen Debatte - und auch die revisionistischen Interventionen Kuwabaras und Ueyamas zirkulierten in Blättern mit Massenauflage - büßte daher die kôzahaGleichung von der Rückständigkeit und dem NachholbedarfJapans nach und nach an Plausibilität ein. Die theoretischen Prämissen der Geschichtswissen­ schaft mußten durch diese Akzentverschiebung nicht notwendigerweise unter­ miniert werden. Ueyama etwa präsentierte seine Neubewertung der Meiji­ Restauration als interne Korrektur im Rahmen des marxistischen Modells. Und häufig operierten die konkurrierenden Deutungsansätze auch mit identi­ schen empirischen Befunden. Aber Phänomene, die bisher als feudale Überre­ ste der Soll-Seite der nationalen Geschichte angekreidet wurden, verbuchte man nun als kulturelle Voraussetzungen einer eigenständigen Modernisierung. Vielen Japanern schien etwa seit Mitte der fünfziger Jahre die Geschichte wie­ der aus explizit patriotischer Perspektive geschrieben werden zu können. 177 Diese von außerhalb der historischen Fakultäten kommenden Ansätze zu einer Neubewertung der japanischen Moderne wurden auch in der Ge­ schichtswissenschaft rezipiert und stellten für das herrschende kôzaha-Paradig­ ma eine ernsthafte Herausforderung dar. Die Revisionisten aus Kyôto, die in 175 Ueyama, Meiji Ishinron no saikentô, S. 91. 176 Kuwabara, Meiji no saihyôka. 177 Kuwabara, Meiji no saihyôka. Dieser wiedererwachte Nationalstolz konnte auch an unver­ muteten Schauplätzen die Anzeichen japanischer Fortschrittlichkeit ausmachen; als Beweis für Japans Modernisierung dienten Kuwabara etwa die Statistiken der Tourismusindustrie: »Three times as many Japanese travel abroad at any one time as French or English, and they spend an average of $3,000 per trip. English travelers spend an average of about $130.« Kuwabara, Japan, S. 144.

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Anlehnung an die nationalistisch-kulturwissenschaftliche Gruppierung der Kriegszeit auch als ›Neue Kyôto-Schule‹ (Shirt Kyôto Gakuha) bezeichnet wur­ den, zielten mit ihren Plädoyers zugunsten einer Hochschätzung der Meiji­ Restauration auch auf die historiographische Hegemonie des Marxismus. 178 Die positive Bewertung der japanischen Kultur, Tradition und Geschichte stand im scharfen Gegensatz zu dessen Betonung der Widersprüche, der U n ­ terdrückung und der Rückständigkeit.

Der Import der Modernisierungstheorie Die amerikanische Modernisierungstheorie, die seit 1960 auch in Japan nach­ haltig Fuß faßte und die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der folgen­ den Jahre maßgeblich mitbestimmte, knüpfte an diese autochthonen Ansätze einer Aufwertung der japanischen Traditionen an. Als ›Geburtsort‹ der moder­ nisierungstheoretischen Japanforschung könnte man die Universität Michigan bezeichnen, wo noch während des Krieges Sprachprogramme der Armee ein­ gerichtet worden waren, in denen für militärische und später administrative Zwecke ›area experts‹ ausgebildet wurden. In den fünfziger Jahren entwickelte sich dann das Japanese Studies-Programm in Ann Arbour, das mit Regierungs­ stellen in traditionell enger Verbindung stand, zu einem der Zentren der mo­ dernisierungstheoretischen Japanforschung.179 1958 fand dort die erste »Confe­ rence on Modern Japan« statt, deren Ansätze in den folgenden Jahren auch die japanische Historiographie stark beeinflussen sollten. Die japanische Ge­ schichte wurde hier als Beispiel eines erfolgreichen Übergangs von einer feu­ dalistischen in eine moderne Gesellschaft vorgeführt und anderen asiatischen Nationen zur Nachahmung empfohlen. Diese Debatten blieben jedoch nicht auf amerikanische Historiker beschränkt, sondern wurden geradezu planmäßig nach Japan exportiert. Im August 1960 fand in Hakone, einem kleinen Kurort in der Nähe von Tôkyô, auf Initiative amerikanischer Wissenschaftler die erste einer ganzen Reihe von Konferenzen statt, auf denen der Versuch unternom178 Neben Kuwabara Takeo und Ueyama Shumpei gehörten vor allem noch der Kulturan­ thropologe Umesao Tadao (der die Fortschrittlichkeit der japanischen Moderne betonte) und der Historiker Kawano Kenji zu der Revisionistengruppe am Jinbun kagaku kenkyûjo der Universität Kyôto. Beeinflußt von Umesao war auch der Literaturwissenschaftler Katô Shûichi, dessen kultur­ nationalistísche Kritik an der These von der japanischen Rückständigkeit ebenfalls in dieselbe Richtung ging. Vgl. Katô, Nihon bunka. Siehe auch die Bewertung bei Tôyama, Sengo no rekishiga­ ku, S. 243-247; Naruse, Sekaishi, S. 176-204; Nagahara, Rekishigaku josetsu, S. 74-80. Die Histo­ riker der kôzaha reagierten jedoch nur sehr zögerlich auf diese Herausforderung. Eine Ausnahme war Hani Gorô, der sich mit Ueyama 1959 in einer Diskussionsrunde auseinandersetzte. Dies änderte sich erst nach dem von vielen Marxisten als Einschnitt empfundenen Scheitern des Prote­ stes gegen den Sicherheitsvertrag mit Amerika im Jahre 1960. 179 Vgl. Coburn, Asian Scholars.

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men wurde, die japanische Geschichte unter modernisierungstheoretischen Prämissen völlig neu zu bewerten. 180 Bei den anwesenden japanischen Wissen­ schaftlern, unter ihnen Tôyama Shigeki, stieß dieser wissenschaftspolitische Vorstoß zunächst auf scharfe Ablehnung. Die antimarxistische Stoßrichtung und die enge konzeptionelle Affinität zur amerikanischen Sicherheitspolitik diskreditierten die These von der erfolgreichen Modernisierung bei den Ver­ tretern der nach wie vor dominanten kôzaha-Historiographie. Aber vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs und des Eintritts in eine beina­ he mythisch verklärte Hochwachstumsphase (kôdo seidiô) erschien einer wach­ senden Anzahl von Historikern die Modernisierungstheorie als die zeitgemäße Lesart der japanischen Geschichte. Insbesondere unter den von den Marxisten regelmäßig als ›Positivisten‹ diffamierten, eher konservativ und proamerika­ nisch eingestellten Politikhistorikern gewann die Modernisierungstheorie rasch eine breite Anhängerschaft.181 Unter dem massiven Einfluß des amerikanischen Theorieimports gewann nun auch die Interpretation der Meiji-Restauration als nationale Revolution zusätzlich an wissenschaftlicher Dignität. Auch wenn dieser Topos in der kô­ zaha-internen Diskussion nach dem Ausbruch des Koreakrieges ebenfalls eine Rolle gespielt hatte, besaß er hier eine dezidiert antimarxistische Komponente. Dies wurde auch in dem Sammelband deutlich, in dem Sakata Yoshio 1962 erste Forschungsergebnisse herausgab, die unter dem Banner der Modernisie­ rungstheorie zustandegekommen waren. Seine Position definierte er dort durch eine Absetzbewegung: »In der Geschichtswissenschaft ist der Stand­ punkt verbreitet, man könne die Geschichte der Meiji-Restauration unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes erklären. ... Aber die ökonomische Ent­ wicklung war nur eine Bedingung der gesellschaftlichen Veränderung, nicht aber ihre Ursache.« Die entscheidende Ursache war für ihn in der »Gefahr der Invasion einer fremden Macht« zu suchen. Alle sozialen Veränderungen leitete er von der nationalen Auflehnung gegen die außenpolitische Gefahr ab. Sakata unterstrich diese Kausalkette noch durch die begriffliche und chronologische Trennung zwischen der Rückgabe der Macht an den Tennô (ôseifukkô) (185368) und der eigentlichen Meiji-Restauration (Meiji Ishin) (1869-73), gewisser-

180 Die Beiträge zu diesen Konferenzen wurden in sechs Bänden veröffentlicht, die für die westliche (aber auch japanische) Geschichtswissenschaft ungeheuer einflußreich wurden. Vgl. M. Jansen, Attitudes; Lockwood, State; Dore, Aspects; Ward, Development; Shively, Tradition; Morley, Dilemmas. 181 Die marxistische Kritik an der Modernisierungstheorie wurde zusammengefaßt von Kin­ bara, ›Nihon Kindaika‹ ron no rekishizô; Wada, ›Kindaikaron‹. Zu den frühen Adepten der Moder­ nisierungstheorie zählten jedoch auch eine Reihe enttäuschter Marxisten. Bekannte Beispiele wa­ ren Satô Seizaburô, Itô Takashi oder Banno Junji, die zwischen 1955 und 1958 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden waren und dann die Modernisierungstheorie bereitwillig aufgriffen.

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maßen zwischen nationaler und sozialer Revolution. Erst der Widerstand gegen den äußeren Druck habe die Aufrüstung erforderlich gemacht, die von der Ver­ besserung der Technik und einer umfassenden Industrialisierung abhing, und letztere wiederum habe gesellschaftliche Reformen vorausgesetzt. »Es war da­ her nicht eine Sozialrevolutionäre Bewegung, die politische Veränderungen durchführte, sondern es waren jene politischen Veränderungen, die die Forde­ rung nach einer gesellschaftlichen Umwälzung überhaupt erst hervorbrach­ ten.« Die Meiji-Restauration könne nicht als Resultat endogener sozialer Pro­ zesse bezeichnet werden, deren C harakter wiederum von ihrer Klassenbasis bestimmt wurde, sondern stelle die japanische Reaktion auf die Bedrohung von außen dar.182 Unter dem Dach der Modernisierungstheorie wurde so die von der kôzaha als fehlgeschlagene gesellschaftliche Umwälzung interpretierte Meiji-Restau­ ration zu einer erfolgreichen nationalen Revolution deklariert. Aus einer ge­ scheiterten, unvollendeten oder durch feudalistische Überreste kontaminier­ ten Vergangenheit wurde eine erfolgreiche, zur Nachahmung empfohlene Modernisierung. Diese Veränderung im Verständnis der eigenen Geschichte stand auch im Zusammenhang mit einer Neubewertung der überlieferten ja­ panischen Kultur, deren Spezifika der Modernisierungstheorie als Ressource eigenständiger Entwicklung galten. Tradition erschien mithin nicht mehr als Index für Rückständigkeit, sondern als Voraussetzung des Fortschritts. Dieser Rekurs auf die zukunftsträchtigen Impulse der (häufig als unveränderlich be­ trachteten) kulturellen Substanz sicherte der Umdeutung der japanischen Ge­ schichte unter modernisierungstheoretischen Prämissen große Resonanz im konservativeren Spektrum der Historikerschaft. Patriotische Plädoyers zugun­ sten der Einzigartigkeit der japanischen Kultur legten auf diese Weise ihren nationalistischen Stallgeruch ab, denn die kulturelle Tradition schien nun zu einer wesentlichen Energie auf dem universalen Pfad der historischen Ent­ wicklung geworden zu sein. Selbst kulturalistische Bekundungen japanischer Überlegenheit, die während des Krieges Konjunktur gehabt hatten, nach 1945 aber im akademischen Diskurs ohne Relevanz geblieben waren, erhielten bis­ weilen unter dem Signet der Modernisierungstheorie das wissenschaftliche Gütesiegel.

182 Sakata, Meiji Ishinshi no mondaiten, S. 10, 11, 26.

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Diskursive Gemeinsamkeiten Die Verfechter der Modernisierungstheorie waren in Japan als Antipoden einer mehrheitlich linken, marxistischen Historikerschaft aufgetreten. Beide Grup­ pierungen diffamierten sich gegenseitig als amerikanische respektive sowjeti­ sche Marionetten. Diese politische Kluft unterschied die japanische Adaption der Modernisierungstheorie im übrigen stark von ihrer Rezeption in der Bun­ desrepublik. Trotz gewichtiger Vorbehalte hatten hier Historiker, die sich als Pioniere einer ›kritischen Sozialgeschichte‹ verstanden, die Anstöße einer we­ berianisch-parsonsschen Geschichtstheorie in den sechziger Jahren aufgenom­ men und sie ihrem Angriff auf die konservative Politikgeschichte als methodi­ sche Leitvorstellung zugrundegelegt. »Man wird schwerlich umhin kommen zuzugeben«, so resümierte etwa Hans-Ulrich Wehler, »daß Alternativen zu ei­ ner historisch und theoretisch differenzierten Modernisierungstheorie gegen­ wärtig weder klar zu erkennen sind noch leicht zu entwickeln sein dürften.«183 In Japan dagegen war die Symbiose von amerikanisch induzierter Modernisie­ rungstheorie und kritischer Aufklärungshistoriographie wissenschaftspoliti­ sches Anathema. Jenseits der politisch-weltanschaulichen Gegensätze zwischen kôzaha-Hi­ storikern und Modernisierungstheoretikern basierten aber auch in Japan die konkurrierenden Interpretationen der Meiji-Restauration auf gemeinsamen Annahmen. Beiden Richtungen galt die Meiji Ishin als der historische Moment, an dem sich der Übergang von Feudalismus zur Moderne, der in den jeweiligen weltgeschichtlichen Modellen vorgesehen war, vollziehen sollte. Die Kriterien, die jeweils ›Moderne‹ konstituierten und über Erfolg bzw. Mißerfolg beim Überschreiten dieser welthistorischen Zäsur bestimmten, mochten unter­ schiedlich sein. Aber an der Wünschbarkeit der ›Moderne‹ - deren Definition zumeist implizit blieb und in der Regel eine Vorstellung von einer kapitali­ stisch-rational organisierten bürgerlichen Gesellschaft mit demokratischer Le­ gitimation enthielt - bestand für beide Richtungen wenig Zweifel. Zwar galt der marxistischen Geschichtswissenschaft die moderne Gesellschaft nur als Übergangsstadium - aber dieses Stadium schien eine notwendige Etappe auf dem Weg zur sozialistischen Utopie zu sein. In der Lesart des Historischen Materialismus war die bürgerliche Gesellschaft zwar mit einem hohen Maß an sozialer Ungleichheit verbunden - aber sie erschien dennoch als unumgängli­ che Durchgangsstation auf dem Weg zu einer egalitären Ordnung. Die Moder­ ne erschien gewissermaßen als notwendiges Übel - gleichsam als Gipfel der Ausbeutung, der dennoch herbeigesehnt wurde. In dieser Hinsicht waren die Vertreter einer marxistischen Geschichtsphilosophie hartnäckigere Moderni183 Wehler, Modernisierungstheorie, S. 51. Vgl. auch Mergel, Modernisierungstheorie sowie Welskopp, Sozialgeschichte.

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sten als selbst die Repräsentanten der Modernisierungstheorie. Während letzte­ re die emanzipatorischen Versprechen der Modernisierung bisweilen auch mit deren Kosten aufrechneten, entbehrte die marxistische Parteinahme für die Ablösung der traditionellen durch eine moderne Gesellschaftsordnung jegli­ cher Ambivalenz. Neben einer prinzipiellen Bejahung der ›Moderne‹ bestand eine weitere Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Deutungen der Meiji-Restauration dar­ in, daß es ihnen mehrheitlich um eine bestimmte Definition der japanischen Nation zu tun war. Ungeachtet der Differenzen im einzelnen schien beinahe allen Historikern, die sich an diesen Diskussionen beteiligten, eine Analyse der Meiji-Restauration auch Erkenntnisse über den historischen Status der eigenen Nation zu versprechen. Die Art und Weise, zu einer Bestimmung der Nation zu gelangen, konnte dabei variieren. In der marxistischen Geschichtsschrei­ bung stand zunächst die Identifikation der japanischen Nation mit derjenigen sozialen Klasse, die den gesellschaftlichen Fortschritt zu verkörpern schien, im Vordergrund. Die Kontroverse zwischen kôzaha und rônôha, aber auch die De­ batten innerhalb der kôzaha-Fraktion, standen im Zeichen einer Suche nach den sozialen Trägern der Nation. Diese Perspektive änderte sich im Laufe der fünfziger Jahre. Sowohl im marxistischen Diskurs, aber vor allem auch von seiten der nichtmarxistischen Historiographie geriet die außenpolitische Di­ mension der Meiji-Restauration zunehmend in den Blick. Die japanische Na­ tion wurde auf diese Weise nicht mit ihrer sozialen Trägerschicht identifiziert, sondern tendenziell als homogen betrachtet; an die Stelle einer inneren Diffe­ renzierung trat die Abgrenzung ›nach außen‹. Diese Verschiebung des erkennt­ nisleitenden Interesses ließe sich als Schwerpunktverlagerung von einer gleich­ sam ›vertikalen‹ zu einer sozusagen ›horizontalen‹ Verortung der Nation charakterisieren. Die Definition Japans durch die Bestimmung seines sozialen Kerns wich der geographischen Ein- und Abgrenzung des Landes gegenüber Asien und dem ›Westen‹. In je unterschiedlicher Weise stand somit in der Debatte über die Meiji­ Restauration zugleich eine Definition von ›Japan‹ zur Disposition. Diese Präokkupation der Geschichtsschreibung mit nationalen Fragen mutet zu­ nächst paradox an, denn gerade der Historische Materialismus und die Moder­ nisierungstheorie standen ja für den Versuch, sich von einer japanspezifischen Perspektive zu lösen. Beide Ansätze operierten mit einem universalen, welt­ geschichtlichen Modell und versprachen, den geschichtswissenschaftlichen Parochialismus zu überwinden. Dennoch blieb in der historiographischen Praxis die Analyse zumeist einem nationalen Rahmen verhaftet. Auch die mar­ xistische Historiographie offenbarte so eine Tendenz zur Nationalgeschichts­ schreibung. Sowohl in der ›Kontroverse über denjapanischen Kapitalismus« der dreißiger Jahre als auch in der einflußreichen Deutung der Meiji-Restauration von Tôyama Shigeki wurde die japanische Moderne im wesentlichen als Pro123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

dukt einer endogenen Entwicklung aufgefaßt. Der historische ›Fortschritt‹ schien somit den unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten der Weltgeschichte zu gehorchen, aber er entfaltete sich - das war jedenfalls der übliche Blickwinkel der japanischen Historiker - nicht im globalen Maßstab, sondern jeweils inner­ halb des vom Nationalstaat vorgegebenen Rahmens. 184 Der axiomatisch voraus­ gesetzte universale Verlauf der Geschichte wurde zumeist anhand der inter­ nen Entwicklung der japanischen Nation untersucht. Und daher galt bei den Analysen der Vergangenheit das Augenmerk auch nicht in erster Linie den ge­ setzmäßig-determinierten Aspekten, sondern der charakteristischen lokalen Färbung der japanischen Geschichte. Ursachen für eine relativ bemessene Fort- bzw. Rückschrittlichkeit wurden so nicht an den globalen Zusammen­ hängen der Weltgeschichte festgemacht, sondern an den Spezifika der eigenen Nation. Diese Fokussierung war häufig mit einer Rhetorik der Abweichung verbunden: die Verspätungen, Unvollkommenheiten und Überreste vergange­ ner Formationen wurden dann dem Ausnahmecharakter der japanischen Gesellschaft zugeschrieben. Nur diese Betonung nationaler Besonderheit (tokushusei) versprach, den Zickzackkurs der japanischen Moderne erklären zu können.185 Und auch im konservativen und seit der Mitte der fünfziger Jahre von mo­ dernisierungstheoretischen Ansätzen beeinflußten Spektrum der Geschichts­ wissenschaft löste sich die Interpretation nur selten von der Kategorie der Nation. So wurde die Meiji-Restauration zumeist zu einer nationalen Revolu­ tion deklariert, in der sich die japanische Nation durch den militärischen Widerstand gegen außen konstituiert habe. Dabei konnte dann etwa die ›Bewe­ gung zur Vertreibung der Barbaren‹ (jôi undô) der 1860er Jahre zur Inkarnation japanischen Behauptungswillens avancieren. Und auch jenseits der Frage nach den Repräsentanten der Nation verblieb die Analyse des Modernisierungspro­ zesses zumeist innerhalb der Grenzen des japanischen Staates. Der Logik der Modernisierungstheorie entsprechend wurden die Wurzeln gesellschaftlicher Modernisierung in der Regel im Vermächtnis autochthoner Traditionen gefun­ den, die einen gesellschaftlichen take offaus eigener Kraft zu ermöglichen schie­ nen. Schließlich hatte in Asien nur Japan der Kolonisierung widerstanden und eine (dem Westen‹ vergleichbare) rasante gesellschaftliche Entwicklung hin184 Zu den wenigen Ausbruchsversuchen aus diesem Paradigma gehörte die Weltgeschichts­ schreibung Uehara Senrokus oder auch, innerhalb der marxistischen Historiographie, die weltge­ schichtliche Perspektive eines Eguchi Bokurô. Vgl. beispielsweise Uehara, Rekishiteki seisatsu no shintaishô; Uehara, Sekaishizô. Vgl. dazu auch Yoshida, Sekaishi; ders., Sekai, Nihon, chiiki; Ozawa Hiroaki, Eguchi shigaku; Naruse, Sekaishi. 185 Diese Betonung einer japanischen Sonderstellung teilte die kôzaha übrigens auch, das hier nur am Rande, mit offen nationalistischen Strömungen in der Historiographie. Während unter marxistischen Vorzeichen jede Besonderheit als Abweichung vom universalen Entwicklungspfad mit einem Stigma belegt war, galten etwa den nipponistischen Historikern der Kriegszeit ebenjene Phänomene als Ausdruckjapanischer Überlegenheit.

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gelegt - und ureigene japanische Qualitäten schienen dafür verantwortlich zu sein. Unabhängig von den weltanschaulichen Differenzen zwischen rivalisieren­ den Gruppierungen trug die Historiographie der Meiji-Restauration in der Nachkriegszeit somit Anzeichen einer nationalen Geschichtsschreibung. Und auch die argumentativen Muster wiesen über alle interpretativen Unterschiede hinweg durchaus Ähnlichkeiten auf! Sowohl im marxistischen als auch im modernisierungstheoretischen oder im konservativ-nationalistischen Diskurs wurden die (allerdings unterschiedlich bewerteten) Spezifika der japanischen Traditionen für Erfolg oder Mißerfolg der Entwicklung verantwortlich ge­ macht. Der Verlauf der Modernisierung wurde ganz unterschiedlich beurteilt, aber in fast allen Deutungen erschien die moderne japanische Geschichte als welthistorischer ›Sonderweg(.

3. Schluß a) Kontinuitätsthese Sowohl in der Bundesrepublik als auch in Japan war die Epoche der modernen Nationalstaatsbildung ein zentraler Gegenstand der Geschichtsschreibung der ersten Nachkriegszeit. In beiden Ländern entwickelten sich heftige Debatten über den Stellenwert der Reichseinigung im Kontext der nationalen Geschich­ te. Zunächst standen diese Diskussionen, vor allem in Westdeutschland, im Zeichen der Kontinuitätshypothese, die die ›Katastrophe‹ der jüngsten Vergan­ genheit auf langfristig wirksame Ursachen zurückführte. Der Fragestellung, mit der sich die Historiker konfrontiert sahen, hat Karl Dietrich Erdmann stell­ vertretend Ausdruck verliehen: »Ist das Dritte Reich ein Bruch mit der deut­ schen Geschichte, das Aufkommen von etwas Wildem und Fremdem, das gar nicht erklärbar ist aus den geschichtlichen Entwicklungen und Gegebenheiten Deutschlands? Oder ist der Nationalsozialismus, wie die radikale Gegenthese lautet, vielleicht gar die Quintessenz, die Summe und der eigentliche Inhalt der deutschen Geschichte?«186 Dieses Erklärungsbedürfnis stand bei der Themati­ sierung der modernen deutschen Geschichte stets im Hintergrund. Und auch in Japan standen die Untersuchungen zur Meiji-Restauration im Kontext der Suche nach kausalen Verbindungen zwischen den japanischen Traditionen und dem Faschismus der dreißiger und vierziger Jahre. Trotz dieser parallelen Fra­ gestellungen war die Akzeptanz der Kontinuitätsthese in Westdeutschland viel geringer als in Japan. Im Großen und Ganzen stand unter japanischen Histori186 Erdmann, Das Dritte Reich im Zusammenhang der deutschen Geschichte, S. 411.

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kern diese Kontinuität kaum in Frage, unter ihren deutschen Kollegen hinge­ gen kaum zur Debatte. Jedenfalls in der bis in die späten fünfziger Jahre domi­ nierenden marxistischen Historiographie in Japan war der kausale Zusammen­ hang von Meiji-Restauration und Faschismus geradezu Prämisse, nicht Resultat der Forschung. In den Auseinandersetzungen zwischen rônôha und kôzaha etwa blieb die Suche nach den Wurzeln des Militarismus weitgehend nichtkombattiertes Terrain und die strukturelle Kontinuität von der Meiji-Re­ stauration bis zu Pearl Harbor unstrittiger Konsens. Konservativere Historiker, die im Militarismus der dreißiger Jahre - ganz ähnlich wie die große Mehrheit der Historiker in der Bundesrepublik - lediglich einen verhängnisvollen und die Größe der eigenen Vergangenheit nicht in Frage stellenden Abweg erken­ nen wollten, wurden durch die Vorherrschaft des marxistischen Paradigmas marginalisiert. Diese wissenschaftliche Hegemonie hing stark mit dem intel­ lektuellen Klima der japanischen Nachkriegsgesellschaft zusammen, so wie umgekehrt die Diskreditierung des Marxismus in der westdeutschen Historio­ graphie nicht nur in der Geschichte der Disziplin begründet lag, sondern auch durch die Systemkonkurrenz zur DDR verstärkt wurde. 187 Während also in Japan die These einer Kontinuität von Nationsgründung und Faschismus die herrschende Meinung war, blieb für die Mehrzahl der westdeutschen Histori­ ker der qualitative Hiatus zwischen Kaiserreich und Drittem Reich ein unhin­ terfragtes a priori.

b) Der Ort der Nation Dieses Kapitel hat aber auch deutlich gemacht, daß im Rahmen dieser Konti­ nuitätsdebatten - gewissermaßen als ihr Subtext - auch das Problem einer Be­ stimmung der Nation eine wesentliche Rolle spielte. In beiden Ländern kon­ kurrierten unterschiedliche historiographische ›Schulen‹ mit divergierenden Auffassungen über das, was als geschichtlicher ›Kern‹ der deutschen respektive japanischen Nation angesehen werden könne. Ungeachtet aller Differenzie­ rungen charakterisierte es dabei den Schwerpunkt dieser Diskussionen, daß in der Bundesrepublik die Vergewisserung der nationalen Identität vor allem die Form einer geographischen Ortsbestimmung annahm. Hier stritten ›süddeut­ sche‹, ›preußische‹, ›kleindeutsche‹ und ›großdeutsche‹ Geschichtsbilder um 187 Vgl. hierzu Heydemann, Diskussion. Gerhard Ritter etwa schrieb am 21.4.1954 an seinen Kölner Kollegen Theodor Schieder: »Man kann zwar die Auseinandersetzung mit den roten Gesel­ len nicht als ›freien Geisteskampfim Sinne gelehrter Diskussion auffassen; gleichwohl müssen wir uns rüsten, auch diesen Kampf zu bestehen, was freilich nicht in der Form geschehen kann, daß man sich auf irgendeine der vielen Albernheiten einläßt, welche diese Leute vorbringen, wohl aber so, daß man grundsätzlich die marxistische Verzerrung der historischen Wirklichkeit bekämpft.« G. Ritter, Briefe, S. 507.

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ihre Definition von ›Deutschland‹. Die Überlegungen von Peter Rassow zu einer räumlichen Bestimmung des erst noch zu gründenden neuen National­ staates mögen hier als Beispiel dienen: »Mit diesem Wort erhebt sich sogleich die Frage der Grenzen in Ost und West. Der Maßstab ... kann ... nicht mehr einfach die Sprache sein, sondern an die Stelle muß die Frage nach dem ge­ schichtlichen Selbstbewußtsein treten. Vor allem die Elsäßer und Lothringer... haben sich... als Bevölkerungsgruppen erwiesen, für die die jahrhundertelange Zugehörigkeit zum französischen Staat ein stärkeres Band zu Frankreich gewo­ ben hat, als das Band ist, das sie mit der deutschen Nation verbindet. Das mö­ gen wir bedauern, aber wir müssen es als ein Plebiszit anerkennen. Sie sind Franzosen deutscher Zunge. Das Gleiche läßt sich von den Saarländern nicht sagen.... Ganz anders liegen die Verhältnisse im deutschen Osten.... Hier rea­ giert unser Nationalbewußtsein als europäisches Kulturbewußtsein einfach, einhellig und stark: jene Provinzen sind während acht Jahrhunderten der euro­ päischen Geschichte Bestandteile des deutschen Kultur-Bereichs gewesen, auch dort, wo Deutsche polnischer Zunge Träger dieser Kultur gewesen sind.... Mit um so tieferer Begründung nehmen wir im Namen der erneuerten Natio­ nal-Idee die Provinzen östlich der Oder-Neiße-Linie für unseren Staat in An­ spruch.«188 In Japan hingegen bestanden die Versuche, den Ort der Nation näher zu bestimmen, vor allem in der Benennung seines sozialen Kerns. Vor allem inner­ halb der marxistischen Historikerschaft gab es lebhafte Debatten über die ei­ gentlichen Träger des gesellschaftlichen Fortschritts, in denen ganz unter­ schiedlichen Gruppierungen historische Relevanz zugemessen wurde. Im Laufe der fünfziger Jahre verschob sich auch in Japan der Fokus der Historio­ graphie von der Klassenanalyse zur Postulierung einer einheitlichen Nation. In beiden Ländern durchzog somit das Bemühen um nationale Vergewisserung beinahe sämtliche Beiträge in den Kontroversen um die jeweilige Reichseini­ gung. Dieser Befund ist nicht zuletzt deshalb überraschend, weil er dem Selbstver­ ständnis der Historiker in den fünfziger Jahren keineswegs entspricht. In Japan wollte die marxistische (oder später die modernisierungstheoretische) Ge­ schichtsschreibung eine nationalistische, ethnozentrische Historiographie durch eine universale Perspektive ersetzen. Und in der Bundesrepublik war in den fünfziger Jahren auch bei der Interpretation der Vergangenheit ein transna­ tionales Vokabular üblich geworden. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die Geschichtsschreibung aus der nationalstaatlichen Begrenzung zu lösen, war unter bundesdeutschen Historikern Konsens. Nicht eine Vergewisserung na­ tionaler Identität, sondern ein europäisches Geschichtsbild war das erklärte Ziel weiter Teile der westdeutschen Historikerschaft. 188 Rassow, Krise, S. l4f.

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Die Forderung nach einer europäischen Perspektive bei der Deutung der deutschen Geschichte wurde zumeist als logische, beinahe ›natürliche‹ Konse­ quenz des Endes des deutschen Nationalstaates präsentiert. Diese antinationale Rhetorik und die bewußte Einordnung in einen europäischen Kontext war kei­ ne Besonderheit des historiographischen Diskurses, sondern korrespondierte mit den soziopolitischen Entwicklungen der Nachkriegsjahre. Vor diesem Hintergrund erhielten die Plädoyers für eine Überwindung eines national­ staatlichen Geschichtsbildes erst die Plausibilität, die sie als selbstverständlich erscheinen ließen. In Westeuropa kam spätestens seit dem Marshallplan 1947 und der Einrichtung des Europarates 1949 eine öffentliche Debatte über eine europäische Einigungsbewegung in Gang, die auch die Subsumtion der natio­ nalen Geschichte unter dem Dach einer zugrundegelegten europäisch-abend­ ländischen Entwicklung als fruchtbares Konzept erscheinen ließ. Diese Ein­ ordnung in übernationale Zusammenhänge war für japanische Historiker hingegen keine tragfähige Option. Ein politischer Zusammenschluß in Ostasi­ en war nicht in Sichtweite. 189 Im Gegenteil, nationale Unabhängigkeitsbewe­ gungen suchten nach einer postkolonialen Identität und richteten sich insbe­ sondere auch gegen die Spuren vormaliger japanischer Hegemonie. Diese politischen Kontexte, die den Erfahrungsraum der Historiker struktu­ rierten, waren der Hintergrund, vor dem in der deutschen Historiographie eine übernationale, ›europäische‹ Betrachtungsweise zunehmend eingefordert wur­ de, während in Japan die Nation auch weiterhin der natürliche Gegenstand der Geschichtsschreibung zu sein schien. Eine solche nationale Perspektive schien vielen westdeutschen Historikern nach 1945 allein schon deshalb unmöglich, weil der Verlust der territorialen Einheit das Ende des Nationalstaates augenfäl­ lig gemacht zu haben schien. Allerdings läßt sich die Logik historiographischer Paradigmen nicht direkt aus der vermeintlichen Objektivität ›natürlicher‹ Umstände deduzieren. Denn die geopolitische Situation nach 1945 verpflichtete noch nicht zu einer be­ stimmten Deutung der nationalen Vergangenheit. Erst die Interpretation der äußeren Lage machte sie zu einem Faktor, der für die Deutung der nationalen Geschichte relevant wurde; die Deutungsmuster der Historiker waren daher auch das Produkt eines Diskurses, der nicht einfach als Reflex der geopoliti­ schen ›Gegebenheiten‹ betrachtet werden kann. So standen beispielsweise auch die Grenzen von Japan oder Deutschland nicht fest, bevor sie jeweils als solche definiert wurden. Dabei war jede dieser Definitionen bemüht, ihren arbiträren Mehrwert zu kaschieren und durch das Prädikat der ›Natürlichkeit‹ zu erset189 Dennoch gab es auch in Japan Ansätze zu einer Einordnung der Geschichte in einen ›asia­ tischen‹ Kontext. Die moderne japanische Geschichte wurde dann zu einem 100jährigen Befrei­ ungskrieg stilisiert, den Japan im Namen einer panasiatischen Gemeinschaft gegen den ›Westen‹ geführt habe. Vgl. dazu unten, S. 203-205.

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zen. An diesem Prozeß war auch die Geschichtsschreibung maßgeblich betei­ ligt.190 Denn die einschneidende Wirkung der deutschen Teilung, um ein Bei­ spiel zu nennen, war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Nationalge­ schichtsschreibung die kleindeutsche Einigung - vor gerade einmal 75 Jahren nicht als preußische Annexion charakterisiert hatte, sondern als die herbeige­ sehnte Erfüllung eines historischen telos. Und auch die Laudatio, die viele deut­ sche Historiker 1938 auf den ›Anschluß‹ hielten, als auch der ›Verzicht‹ auf Österreich eine Dekade später waren nicht lediglich der historiographische Ausdruck äußerer ›Gegebenheiten‹, sondern trugen zu dem gesellschaftlichen Bewußtsein von den deutschen Grenzen nicht unwesentlich bei. In dieser Hinsicht war die Lage in Japan nach 1945 von der deutschen Situa­ tion nicht kategorisch verschieden. Die Unversehrtheit japanischen Territori­ ums war keine Erkenntnis, die sich bei einem Blick auf die Landkarte von selbst einstellte. Die Gebiete in Korea, Taiwan, Okinawa oder der Mandschurei waren während des Krieges als japanische Provinzen behandelt worden; Taiwan etwa war schon seit 1895 Bestandteil des japanischen Reiches und war somit nur wenig später als die Insel Hokkaido (im Norden des heutigen Japan) vom ent­ stehenden japanischen Nationalstaat assimiliert worden. Wenn der Verlust die­ ser Territorien nicht als Bedrohung der staatlichen Integrität der Nation aufge­ faßt wurde, mußte er mit einem neuen Verständnis dessen, was nun mit Japan‹ zu assoziieren sei, einhergehen. Von diesem Bedürfnis zeugte beispielsweise die Debatte unter Historikern über die Zugehörigkeit Okinawas zum japani­ schen Mutterland. Und Oguma Eiji hat kürzlich gezeigt, wie der Diskurs über die ethnischen Grundlagen der Nation in dieser Hinsicht charakteristische Verschiebungen erfuhr. Während des Krieges galt gerade die ethnische Vielfäl­ tigkeit als das Spezifìkum des japanischen Volkes (kongo minzoku ron). Die Japa­ ner seien ein Amalgam aus süd- und nordasiatischen Völkern, das etwa auch die Urbewohner Taiwans oder Koreas mit einschließe. Ihre Vereinigung im japani­ schen Kaiserreich konnte daher als eine Heimkehr verstanden werden. Nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 hatte diese Perspektive aber jegliche Plausibilität verloren. In der wissenschaftlichen Literatur fand sich nun die Auffassung vom homogenen japanischen Volk (tan'itsu minzoku ron), das in eth­ nischer Abgeschiedenheit und Reinheit die friedliche Inselkette bewohne. Die­ se Auffassung spielt seitdem in der wissenschaftlichen und populären Selbst­ vergewisserung der japanischen Nation eine große Rolle. 191 Wie die Gewißheit 190 Damit soll keineswegs der Einfluß der Historiker überbetont werden. Die Geschichts­ schreibung wird hier vielmehr als Teil eines breiteren gesellschaftlichen Diskurses über die natio­ nale Vergangenheit betrachtet und nicht als autonomer Urheber dieses Geschichtsbildes. An dieser Stelle steht jedoch nicht die Vermessung von Einflußsphären im Vordergrund, sondern das allge­ meinere Phänomen der diskursiven Fixierung territorialer Grenzen. 191 Oguma, Tan'itsu minzoku. Die Vorstellung von der Homogenität des japanischen Volkes ist seitdem ein zentrales Element in den sogenannten Japandiskursen (Nihonjinron), in denen nach

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über die äußeren Grenzen ist aber auch diese Vorstellung vom ethnischen We­ sen Japans das Produkt einer konkreten historischen Situation.192 Die unterschiedliche Vorstellung von der Rolle der Nation war insofern nicht nur das natürliche Resultat geopolitischer Bedingungen, sondern ebenso Produkt der diskursiven Ausdeutung historisch-geographischer Zusammen­ hänge. Insofern war auch der Refrain vom Ende des Nationalstaates, der die kosmopolitischen Hymnen deutscher Historiker häufig beschloß, nicht ledig­ lich eine Reaktion auf den möglicherweise unwiederbringlichen Verlust natio­ naler Einheit. Ohnehin war die Rede vom Ende des Nationalstaates in der Bundesrepublik nur selten ein selbstgenügsamer Rückzug auf lokale, subna­ tionale Einheiten. Und im Grunde, das hat die Untersuchung der Beiträge zur Bismarck-Kontroverse demonstriert, war ein Verzicht auf nationale Einheit auch trotz aller Bemühungen um ein europäisches Geschichtsbild gar nicht intendiert. Im Gegenteil: die Spaltung in BRD und DDR wurde als Skandalon empfunden und als ›unnatürliche‹, ›unhistorische‹ Konstruktion an den wissen­ schaftlichen Pranger gestellt. Die Absage an die Nationalgeschichtsschreibung mündete nicht in eine Forderung nach einem bundesrepublikanischen, son­ dern in Plädoyers für ein europäisches Geschichtsbild. Der Kontext sollte über­ national, europäisch, abendländisch sein. Wie wir gesehen haben, war dieser Perspektivenwechsel zumeist damit verbunden, Ereignissen der deutschen Ge­ schichte einen »europäischen Sinn‹ abzugewinnen. Häufig war dies jedoch le­ diglich eine C hiffre für die Bewertung des deutschen Einflusses in Europa. Wenn also die Bismarcksche Reichseinigung unter ›europäischen‹ oder abend­ ländischen Gesichtspunkten reevaluiert wurde, dann war damit zumeist eine Absage an das Projekt der kleindeutschen Einigung verbunden. Unter dem Banner ›Europas‹ übte in den Nachkriegsjahren ein großdeutsches Geschichts­ bild noch einmal eine gewisse Attraktivität auf die Historikerschaft aus. Das 1871 gegründete Deutsche Reich hatte sich, dieser Interpretation zufolge, als zu klein, zu schwach erwiesen gegenüber dem (kommunistischen) Osten. So erhofften sich zahlreiche Historiker »in der Mitte Europas« eine Rolle für Deutschland als ›»Zentralmacht‹..., so stark, daß selbst Rußland und Frankreich zusammengenommen nichts dagegen vermöchten.«193 Selbst im Augenblick der Niederlage war das Geschichtsbild der meisten westdeutschen Historiker der Essenz und der Besonderheit Japans gefragt wird. Diese Literaturgattung hat seit den achtziger Jahren eine enorme Konjunktur und prägt sowohl die Vorstellung, die Japaner von ihrer Nation haben, als auch das westliche Japanbild. Einen guten Überblick vermitteln Dale, Myth sowie Mouer u. Sugimoto, Images und Heise, Nihonron. 192 1951 wurde dieses veränderte Selbstbild auchjuristisch fixiert. Im Friedensvertrag von San Franzisko verzichtete Japan auf alle territorialen Ansprüche in Korea, Taiwan und Südostasien. Die japanische Regierung behandelte vom Tag des Inkrafttretens dieses Vertrages an alle Koreaner und Taiwanesen, die bis dato noch japanische Staatsbürger gewesen waren, als Ausländer. Vgl. Park, Reparations Policies, S. 129. 193 Hölzle, Reichsgründung, S. 140.

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noch von einer tiefgreifenden Ambivalenz gepägt. Die Uberwindung einer na­ tionalen durch eine europäische Perspektive war nicht selten mit einer Bekräf­ tigung deutscher Ansprüche verbunden. Kosmopolitanismus und ein ausgrei­ fendes, im Grunde imperialistisches Geschichtsbild gingen mitunter Hand in Hand. Damit wird deutlich, daß die Plädoyers für eine übernationale Geschichts­ schreibung in den wenigsten Fällen mit einem Verzicht auf die Kategorie der Nation verbunden waren. Sowohl in der japanischen als auch in der westdeut­ schen Historiographie blieb die Nation der privilegierte Gegenstand der U n ­ tersuchungen und darüber hinaus auch der eigentliche Träger des Geschehens. Denn auch die dezidierte Kritik am Projekt des Nationalstaates, wie sie etwa von Hans Rothfels oder auch von den Vertretern eines ›katholischen‹ Ge­ schichtsbildes geübt wurde, blieb weiterhin einer nationalen Perspektive ver­ haftet. Die Staatsform mochte zur Disposition stehen: der Bismarcksche Na­ tionalstaat konkurrierte im Urteil der Historiker mit einem übernationalen Verbund in Ostmitteleuropa oder mit einer christlich-abendländischen Reichsidee. In allen diesen Fällen jedoch schien unstrittig, daß diese übergeord­ nete territoriale Einheit das Werk der Deutschen sein sollte. Auch eine europäi­ sche Einigung - in welcher Form auch immer - erschien so als Aufgabe der deutschen Nation. Auch nach dem häufig lamentierten ›Ende des Nationalstaates‹ blieb die Nation somit noch der Mittelpunkt der Deutung der Vergangenheit. Auch in einer Epoche, in der das Transzendieren nationaler Grenzen - thematisch und methodisch - in der Geschichtswissenschaft programmatisch eingefordert wurde, blieb die Historiographie im Grunde der Nationalgeschichtsschrei­ bung verhaftet.

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III. Die Nation als Opfer. Historiographie des Nationalsozialismus und des japanischen Faschismus

Im vorangehenden Kapitel standen die intensiven Kontroversen im Vorder­ grund, die in den fünfziger Jahren sowohl in der westdeutschen als auch in der japanischen Geschichtswissenschaft über die Gründung des modernen Natio­ nalstaates im 19. Jahrhundert geführt wurden. Im Vergleich mit diesen regen Debatten, die unterschiedliche Interpretationen und auch konkurrierende Fraktionen innerhalb der Historikerschaft klar zu Tage treten ließen, war die Auseinandersetzung mit der Geschichte der jüngsten Vergangenheit - beson­ ders in Westdeutschland - von einer »gewissen Stille« (Hermann Lübbe) ge­ kennzeichnet. Für viele deutsche Historiker hatten die bisherigen Deutungen der Geschichte an Plausibilität eingebüßt, und für die Bewertung der gerade zurückliegenden Ereignisse schien noch kein neuer Interpretationsrahmen verfügbar. Franz Schnabel hat dieser Verunsicherung bildhaft Ausdruck verlie­ hen: »In dem allgemeinen Ruin sind auch die alten Geschichtsbilder niederge­ brannt ... Wir halten Umschau auf dem Trümmerfelde.« 1 Und auch für die meisten japanischen Historiker stellte die Epoche des Faschismus in ganz ähn­ licher Weise ein historiographisches ›Problem‹ dar, das ›bewältigt‹ werden müs­ se und überdies dazu zwinge, die gesamte moderne Geschichte neu zu inter­ pretieren. 2

1 Franz Schnabel, zitiert nach: Fellner, Nationales und europäisch-atlantisches Geschichtsbild, S. 214. 2 Gewiß dürfen der japanische Faschismus und der Nationalsozialismus nicht einfach gleich­ gesetzt werden. Die auffallendsten Unterschiede bestanden in der Abwesenheit einer faschisti­ schen Massenbewegung in Japan sowie der Tatsache, daß in Japan keine Terrorpolitik mit Konzen­ trations- und Vernichtungslagern durchgeführt wurde. Vor allem in der westlichen Forschung ist die japanische Regierungsform der Kriegszeit daher häufig auch nicht als faschistisch sondern eher als autokratisch-militaristisch bezeichnet worden. Vgl. etwa Duus u. Okimolo, Fascism; Hayashi Kentarô, Japan and Germany; ß . Martin, Three Forms of Fascism; Miuhell, Thought C ontrol, S. 189; Tipton, Police State, S. 13. Dagegen ist jedoch bisweilen die Vermutung geäußert worden, daß der dabei zugrundegelegte Faschismusbegriff anhand der deutschen und italienischen Geschichte entwickelt wurde und nur in dieser Begriffsgeschichte der Grund für den angeblich ›nichtfaschisti­ schen‹ C harakter der japanischen Gesellschaft zu finden sei. Tatsächlich aber habe sich in den späten dreißiger Jahren auch in Japan ein auf Massenmobilisierung und ›Gleichschaltung‹ basieren­ des faschistisches Regime etabliert. Vgl. etwa Yamaguchi, Faschismus; Böttcher, Faschismus; Brooker,

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In den ersten Nachkriegsjahren war diese Irritation vor allem in West­ deutschland den Texten zahlreicher Historiker deutlich anzumerken. Insbe­ sondere eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reiches und eine wissenschaftliche Aufarbeitung deutscher Schuld, das ist heute weitgehend Konsens, ist daher nur in Ansätzen geleistet worden. In der Forschung wird daher in Bezug auf die Historiographie der fünfziger Jahre von einer ›Verdrängung‹ der nationalsozialistischen Zeit gesprochen.3 Und auch in Japan deuten die erst in den letzten Jahren in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gelangten Diskussionen über den verbrecherischen C harakter der Expansions­ politik seit den dreißiger Jahren (Nanking-Massaker; Zwangsprostitution; bak­ teriologische Kriegführung etc.) darauf hin, daß die Thematisierung der Kriegszeit selektiv geblieben war.4 Dieses Versäumnis eines kritisch-investigativen Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit sollte jedoch nicht suggerieren, daß Nationalsozialismus und der japanische Faschismus eine historiographische terra incognita blieben und ihre Thematisierung gänzlich vernachlässigt worden sei.5 Denn tatsächlich wurden die Jahre zwischen 1930 und 1945 in der historiographischen Praxis keinesweg ausgeblendet. Die Geschichtswissenschaft konnte sich, das war be­ reits in der unmittelbaren Nachkriegszeit weithin Konsens, der Aufgabe der Deutung der dunklen Flecken der Tradition nicht entziehen. Vielmehr müsse sie sich, wie der Kölner Historiker Peter Rassow ausdrücklich betonte, »mit der Grundtatsache beschäftigen, daß die deutsche Geschichte nicht eine Wande­ rung siegreichen Aufstiegs, nur selten gehemmten Fortschrittes ist, sondern daß ihr Weg führt durch Höhen und Tiefen einer unübersehbaren Landschaft. Faces. Vgl. zu diesen Debatten auch Lubasz, Fascism; Kasza, Fascism. Auch in der japanischen Geschichtsschreibung ist der Begriff umstritten; aber in der Forschung der fünfziger Jahre war der Begriff›Faschismusi (oder ›Tennôsystem-Faschismus‹) die übliche Bezeichnung für das politische System der Jahre 1931-1945; er wurde vor allem von marxistischen Historikern in die Debatte eingeführt und unterliegt somit den üblichen Vorbehalten, die gegenüber dem marxistischen Fa­ schismusbegriff angebracht sind. Dessenungeachtet entspricht es auch der Wahrnehmung der Zeitgenossen, wenn in dieser Arbeit der Nationalsozialismus und der japanische ›Faschismus‹ als vergleichbare Herausforderungen an die Historiographie der Nachkriegszeit behandelt werden. In diesem Kapitel soll nach den Reaktionen der Historikerschaft und der Geschichtsschreibung auf Krieg, Niederlage und das Ende der Diktaturen in beiden Ländern gefragt werden; es steht also die Nachkriegszeit (und nicht in erster Linie der jeweils thematisierte Ausschnitt der Vergangenheit) im Vordergrund. Daher beruhen die folgenden Abschnitte auf der Annahme, daß die jüngste Ver­ gangenheit in Deutschland und Japan für die Geschichtsschreibung ein ganz ähnliches Problem darstellte, das ›bewältigt‹ oder ›verdrängt‹ werden konnte, jedenfalls aber zu einer Revision bisheri­ ger Geschichtsbilder Anlaß gab. 3 Vgl. etwa Giordano, Zweite Schuld; Eberan, Luther?; Benz, Umgang. 4 Vgl. etwa Hijya-Kirxhnereit, ›Kriegsschuld, Nachkriegsschuldc 5 Das wird in der Literatur jedoch zumeist behauptet; der Vorwurf der ›Verdrängung‹ zielt nicht zuletzt auf Fragen der Quantität. Entweder heißt es, das Dritte Reich sei zu wenig behandelt worden - oder aber der Vorwurf der ›Verdrängung‹ wird anhand von ›erdrückendem‹ Zahlenma­ terial dementiert. Typisch für diese Argumentation sind etwa Bosworth, Auschwitz; Kittel, Legende.

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Die deutsche Geschichte kennt viele Höhepunkte, auf die wir stolz sind und stolz sein wollen, sie kennt viele dunkle Täler, durch die wir nur schwer wieder den Weg zur Höhe fanden. Aber auch auf diese schweren Zeiten muß ein gro­ ßes Kulturvolk stolz sein. Es ist uns nicht erlaubt, einen Teil unserer Geschichte zu rühmen und einen anderen Teil zu beklagen. Wie wir in dem Streben nach Wiedervereinigung rufen: Dasganze Deutschland soll es sein, so sagen wir auch bei historischer Besinnung mit allem Ernst: Dicganze deutsche Geschichte soll es sein.«6 Auch das Dritte Reich erschien aus dieser Perspektive also als ein wichtigei Teil des nationalen Erbes. Diese Sichtweise legte nahe, die zurückliegenden Ereignisse nicht in erster Linie unter der Frage nach Schuld und Verantwortung zu erforschen, sondern im Hinblick auf Kontinuität und Zusammenhang dei nationalen Geschichte. Der Befund der ›Verdrängung‹ bezieht sich somit bei genauerer Betrachtung nicht auf eine generelle Vernachlässigung, sondern auf ein selektives Problembewußtsein bei der Beschäftigung mit der jüngsten Ver­ gangenheit. Denn für die Mehrzahl der westdeutschen (und auch japanischen) Historiker, das soll im folgenden deutlich werden, stand die Rehabilitation dei eigenen Nation im Vordergrund ihrer Auseinandersetzung mit Drittem Reich und Faschismus. Vor dem Hintergrund der politischen Gegenwart (Besat­ zungsstatut, Verlust der Souveränität, territoriale Beschränkungen), die den Status der Nation in Frage zu stellen schien, durchzog das Bemühen um eine Vergewisserung nationaler Integrität einen großen Teil der Forschung zum Nationalsozialismus und zum japanischen Faschismus (Abschnitt 2). 7 Bevor jedoch diese Versuche zur Sprache kommen, die stigmatisierte Ver­ gangenheit so zu interpretieren, daß sie als ein organischer Bestandteil der na­ tionalen Geschichte behandelt werden konnte, soll die Aufmerksamkeit den Bedingungen gelten, solch einen Versuch überhaupt in Angriff zu nehmen

6 Rassow, Deutschland in Europa, S. 48. 7 Vor dem Hintergrund der neuesten Forschung zur Geschichte zwischen 1930 und 1945 erscheinen viele (aber nicht alle) Analysen und Bewertungen aus den fünfziger Jahren als reduktio­ nistisch oder unzureichend. Der heutige Kenntnisstand steht bei der Rekonstruktion des historio­ graphischen Diskurses der Nachkriegsjahre immer im Hintergrund und ermöglicht erst eine kri­ tische Distanznahme oder eine ironische Behandlung früherer Forschungen - oder etwa den Befund der Einseitigkeit oder Selektivität. Diese Form der Evaluation stehtjedoch nicht im Mittel­ punkt der folgenden Betrachtungen. Denn zunächst soll rekonstruiert werden, was die behandel­ ten Texte überhaupt aussagten oder vermitteln sollten. In einem zweiten Schritt gilt das Interesse dann den zugrundeliegenden Urteilen und Bewertungen, die zwar als wissenschaftliche Ergebnis­ se präsentiert wurden, die man aber auch als politische Stellungnahmen bezeichnen könnte (etwa über die Rolle Deutschlands in Europa). Die kritische Haltung gegenüber dieser Form der Extra­ polation beruht jedoch nicht in erster Linie darauf, daß die Vergangenheit in einigen Fällen ›falsch‹ oder nur einseitig interpretiert wurde - sondern richtet sich eher gegen die Annahme, daß zukünf­ tige Politik und eine gesellschaftliche Vision aus einer korrekten Analyse der Geschichte abgeleitet werden könnten.

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(Abschnitt 1). Den meisten westdeutschen und japanischen Historikern schien nach 1945 eine Interpretation der jüngsten Vergangenheit nur nach einer per­ sönlichen Distanzierung von Nationalsozialismus und Faschismus möglich. Nur die kritische Haltung gegenüber dieser Epoche schien zu gewährleisten, daß die historischen Analysen auch ernst genommen wurden. Unsere Auf­ merksamkeit gilt hier daher den (bewußten und unbewußten) Strategien, die nach 1945 nötig schienen, um die eigenen Interpretationen mit wissenschaftli­ cher Autorität auszustatten. Schließlich sei an dieser Stelle noch auf eine methodische Vorentscheidung aufmerksam gemacht, die die Perspektive der folgenden Abschnitte bestimmt. Im Unterschied zum vorangehenden Kapitel, in dem unterschiedliche Grup­ pierungen innerhalb der Historikerschaft mit ihren konkurrierenden Interpre­ tationen zur Sprache kamen, wird in diesem Kapitel vor allem nach den geteil­ ten Annahmen und konsensfähigen Positionen innerhalb des Diskurses über Nationalsozialismus und japanischen Faschismus gefragt. Dadurch sollen Dif­ ferenzen und Gegenpositionen keinesfalls eingeebnet werden; auch historio­ graphische Kontroversen finden durchaus Berücksichtigung - beispielsweise im Hinblick auf die Interpretation des Krieges in der japanischen Historiker­ schaft. Der Akzent liegt jedoch auf den zahlreichen Gemeinsamkeiten, die über weltanschauliche und politische Grenzen hinweg die Deutung der Geschichte der dreißiger und vierziger Jahre auszeichneten. Dadurch erscheint das Bild möglicherweise homogener, als es wirklich war - wobei auffällt, daß die Ge­ schichte der jüngsten Vergangenheit, insbesondere in Westdeutschland, auch tatsächlich weniger kontrovers diskutiert wurde als etwa die Epoche der Reichseinigung. Dennoch ist der Eindruck der Geschlossenheit auch partiell auf die spezifische komparative Perspektive zurückzuführen, die dieses Kapitel strukturiert. Der Vergleich ist hier nicht das Ergebnis einer Kontrastierung zweier in getrennten Abschnitten behandelter länderimmanenter Entwicklun­ gen; vielmehr soll durch eine immer wieder wechselnde Perspektive deutlich werden, daß japanische und westdeutsche Historiker sich nach 1945 mit ganz ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sahen, die sie nicht selten auch zu vergleichbaren Deutungsstrategien greifen ließen.

1. Die »klare Fernsicht«. Die Historiker als Subjekt der Geschichtsschreibung Die Texte zahlreicher Historiker in Deutschland und Japan in den Nachkriegs­ jahren zeugen von einer tiefen Verunsicherung und Irritation. Die Ungewiß­ heit bezog sich dabei nicht nur auf die Gültigkeit tradierter Geschichtsbilder, die nun zum großen Teil diskreditiert schienen. Darüber hinaus schien auch 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

der Anspruch der Historikerzunft, objektive und überparteiliche Interpretatio­ nen der Geschichte zu entwickeln, durch die jüngste Vergangenheit in Frage gestellt. Sowohl in Deutschland als auch in Japan war eine Reihe von Fachver­ tretern durch ihre Kooperation mit dem Regime der Jahre vor 1945 kompro­ mittiert - aber auch darüber hinaus war das Vertrauen, daß das bisherige Ge­ schichtsverständnis gegenüber nationalistischen Verirrungen immunisieren könnte, geschwunden. Daher galt vielen Historikern die Begründung ihres eigenen wissenschaftli­ chen Standpunktes als erste Voraussetzung einer Revision des Geschichtsbil­ des. Gerhard Ritter definierte 1950 im ersten Jahrgang der neugegründeten Zeitschrift »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« die Aufgaben der Geschichtswissenschaft wie folgt: »Gegenüber dem Hagelwetter zuerst natio­ nalistischer, nunmehr antinationalistischer Geschichtspropaganda, das über die deutsche Nation hereingebrochen ist, muß sie versuchen, einen eigenen, festen und höheren Standort zu gewinnen, von dem aus eine klare Fernsicht möglich ist, und einen stillen Diskussionsraum, in dem die ruhige Stimme wissen­ schaftlicher Vernunft (anstelle der politischen Lautsprecher) überhaupt ver­ nehmbar wird.« 8 Im folgenden soll daher gefragt werden, mit welchen Mitteln die deutschen und japanischen Historiker sich des Zugangs zu diesem »höhe­ ren Standort« vergewissern wollten. Zu den Elementen, die die Legitimität wissenschaftlicher Aussagen gewährleisten sollten, gehörte nach 1945 in beiden Ländern die kritische Distanz zu Nationalsozialismus und Faschismus.

a) Distanzierung Eine Verurteilung der Geschichte der jüngsten Vergangenheit setzte im Westen Deutschlands und in Japan unmittelbar nach Kriegsende ein und war der ge­ meinsame Ausgangspunkt beinahe jeder wissenschaftlichen Interpretation der Geschichte. Walther Hofer etwa sprach von der Rassenideologie des National­ sozialismus als einem »nicht für möglich gehaltene[n] Rückfall in eine Barba­ rei, die die gesamte abendländische Überlieferung und Gesittung leugnete«. 9 Und Friedrich Meinecke versicherte: »Die von uns heute erlebte Katastrophe übersteigt für unser Empfinden alle früheren Schicksale dieser Art.«10 Wenn man den öffentlich getätigten Äußerungen folgt, war die negative Bewertung der nationalsozialistischen Epoche unter den westdeutschen Historikern Kon­ sens, der häufig gar nicht mehr artikuliert werden mußte; lediglich die Ursa­ chen und tieferen Gründe für die ›Katastrophe‹ schienen strittig. Das hieß 8 G Ritter, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 136. 9 Hofer, Der Nationalsozialismus, S. 17. 10 Meinecke, Katastrophe, S. 5.

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nicht, daß es zwischen Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus nicht auch Affinitäten gegeben hatte. Nun aber schien es für Historiker nur zwei Möglichkeiten zu geben, damit umzugehen: entweder man ignorierte die eige­ ne Verstrickung, oder aber man bereute öffentlich. Reinhard Wittram etwa be­ kannte: »Der Verfasser will aber nicht ausweichen, wenn er daran erinnert wird, daß er vorher den Optimismus einer Jugend, die sich von national-idealisti­ schen Machthoffnungen leiten ließ, geteilt hat.«11 Jenseits dieser beiden Hal­ tungen - Ignoranz oder Konfession - aber schien es keine Alternative zu geben; Hymnen auf das Dritte Reich wurden von deutschen Historikern nicht gesun­ gen, selbst von denen nicht, die bis 1945 dazu geneigt gewesen sein mochten. Dies unterschied bisweilen den wissenschaftlichen vom öffentlichen Diskurs; die Regeln der wissenschaftlichen Rede konnten von der Stoßrichtung anderer Äußerungen durchaus differieren. Denn während »es vielen unserer Landsleu­ te noch schwerfällt einzusehen, daß die nationalsozialistische Herrschaft in unserer Geschichte eine Katastrophe war und welches Ausmaß diese Katastro­ phe hatte«, wie der Münchner Historiker Hans Buchheim noch 1960 zu be­ richten wußte, blieb eine positive oder gar verklärende Sicht des Nationalsozia­ lismus im wissenschaftlichen Diskurs Anathema.12 Stärker noch als in Deutschland prägte die dezidierte Verurteilung des Fa­ schismus die Stellungnahmen japanischer Historiker in der ersten Nachkriegs­ zeit. Bereits unmittelbar nach der japanischen Kapitulation wurden an einigen Universitäten regimekritische Wissenschaftler, die während des Krieges entlas­ sen worden waren, wieder eingestellt. Insbesondere die marxistischen Histori­ ker, die in den zurückliegenden Jahren staatlicherseits Repressionen ausgesetzt waren und nun mit einer ›reinen Weste‹ auftreten konnten, prägten rasch das veränderte Diskussionsklima. Wer nicht ebenso radikal und kritisch mit dem Militarismus der dreißiger und vierziger Jahre ins Gericht ging wie sie, übte sich in der ersten Nachkriegszeit in Abstinenz. Im wissenschaftlichen Diskurs war die Abwendung von den zurückliegenden 15 Jahren daher total. In Anleh­ nung an den ›Appell an das Volk‹ durch die Kommunistische Partei im Herbst 1945 begrüßten zahlreiche Historiker die amerikanische Besatzungsarmee als ›Befreier‹ und unterstrichen dadurch den verbrecherischen C harakter des überwundenen Regimes. 13 Diese Abwendung vom Faschismus war für die Mehrzahl der marxistischen Historiker auch mit einer politischen Ausrichtung ihrer wissenschaftlichen Arbeit verbunden. Dies zeigte sich etwa an der Haltung gegenüber dem Tennô, dessen Absetzung von der kritischen Historikerschaft gefordert wurde. Auf Betreiben von General MacArthur, dem Oberbefehlshaber der Besatzungs11 Wittram, Das Nationale, S. 7. 12 H. Buchheim, Die nationalsozialistische Zeit, S. 39. 13 Vgl. Koschmann, Revolution and Subjectivity, bes. S. 11-40.

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truppen, war der Tennô von einer Anklage im Rahmen des Kriegsverbrecher­ prozesses in Tôkyô ausgenommen worden. MacArthur hielt die Beibehaltung des Staatsoberhauptes für notwendig, um die Zustimmung des japanischen Volkes zu einer demokratischen Verfassung nicht zu gefährden. 14 Für die meisten marxistischen Historiker gehörte jedoch die Abschaffung der Monarchie zu den unerläßlichen Bedingungen einer Demokratisierung. U m dieser politischen Forderung auch wissenschaftliches Gewicht zu verlei­ hen, fand bereits im Januar 1946 (lange bevor sich in Westdeutschland etwa der ›Arbeitskreis christlicher Historiker‹ als oppositionelle Gruppierung zur tradi­ tionellen Historikerschaft konstituiert hatte) eine große Tagung statt, auf der die Funktion des Tennô in der japanischen Geschichte diskutiert wurde. Elf Vorträge und über 100 Teilnehmer setzten sich mit der Rolle der Monarchie in der Weltgeschichte auseinander. Die Beiträge umfaßten Analysen der monar­ chischen Tradition in England, Frankreich, Deutschland, Rußland und C hina, aber im Grunde standen sie alle im Zeichen einer wissenschaftlichen Kritik am japanischen Tennôsystem. 15 Im Hauptvortrag skizzierte Inoue Kiyoshi die Geschichte des Tennôsystems seit der Antike. Er betonte das demokratische Potential des japanischen Volkes, das unter der Herrschaft des Tennô jedoch unterdrückt worden sei - eine Einschätzung, die auch in den anderen Tagungs­ beiträgen zum Ausdruck kam.16 Mit dem Befund, das japanische Tennôsystem sei durch die Epochen hindurch ein Instrument der Repression gewesen, ver­ banden diese Historiker zugleich die Forderung, daß auch die monarchische Verfassung des japanischen Staates nun der Vergangenheit angehören müsse. Diese Beispiele demonstrieren, daß sich nach 1945 die marxistische Historio­ graphie in Japan explizit in Gegnerschaft zum faschistischen Regime konsti­ tuierte. Diese (wenn auch unterschiedlich akzentuierte) Distanzierung von Natio­ nalsozialismus und japanischem Faschismus prägte den historischen Diskurs der Nachkriegszeit. Man kann daher von einem diskursiven Bruch sprechen, der ein neues Arsenal von Begriffen, Bildern und Sprachregelungen hervor­ brachte, die reglementierten, wie legitimerweise die jüngste Vergangenheit in­ terpretiert werden konnte. Das mußte nicht in jedem Falle bedeuten, daß die kritische Haltung gegenüber Drittem Reich und Faschismus auch der tatsäch­ lichen Überzeugung der Historiker entsprach. Auffallend war jedoch, daß nach 1945 Zustimmung zur Politik der zurückliegenden Epoche kaum mehr geäu­ ßert wurde - und offenbar nicht geäußert werden konnte, wenn die histori14 Vgl. hierzu Bix, Inventing the ›Symbol Monarchyc 15 Diese Tatsache wird auch durch den Titel reflektiert, unter dem eine Auswahl der Beiträge von der Historikerorganisation Rekishigaku Kenkyûkai veröffentlicht wurden: Historiker beurtei­ len das Tennôsystem (Rekishika wa tennôsei o dô miru ka). Vgl. dazu auch Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 25-34. 16 Vgl. die Beiträge in Rekishigaku kenkyükai, Rekishika wa tennôsei o dô miru ka.

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schen Deutungen nicht als anachronistisch abgestempelt werden sollten. Diese Veränderungen geschahen jedoch in einem diskursiven Raum, dessen Grenzen von außen fixiert waren. Die bedingungslose Kapitulation 1945 zog in beiden Ländern eine militärische Besatzung nach sich, deren Maßnahmen in verschie­ dener Weise die Bandbreite möglicher Aussagen über die Vergangenheit von vornherein begrenzten. Diese Eingriffe, die das interpretatorische Reservoir der Geschichtswissenschaft gewissermaßen vorstrukturierten, nahmen drei Formen an. Zum einen beruhten die Kriegsverbrecherprozesse, die die Alliierten in Nürnberg und Tôkyô abhielten, auf einer bestimmten Deutung der deutschen respektive japanischen Geschichte. In diesen Prozessen wurden die Fragen nach der Vorgeschichte des Krieges, nach dem Charakter des autoritären Staa­ tes, nach den Wurzeln des Militarismus und nach dem Verhältnis von Volk und Regierung zumindest implizit mitverhandelt, wenn über die Verantwortung für Krieg und Verbrechen geurteilt wurde. Noch Jahrzehnte später galt (und gilt) dementsprechend japanischen Revisionisten die »Geschichtsschreibung des Tôkyôter Prozesses‹ als das Feindbild, dem sich eine nationale Historiogra­ phie zu widersetzen habe.17 Zweitens transportierten auch die Gesellschaftsreformen, die vor allem die Amerikaner in Westdeutschland und in Japan in Angriff nahmen und zum Teil auch durchführten, ein Bild von der jeweiligen Vergangenheit. Dies zeigte sich beispielsweise an den amerikanischen Interventionen im Prozeß der Erstellung einer demokratischen Verfassung in Japan (1946) und der Bundesrepublik (1949). Aber auch die sozialen Reformen beruhten (wie etwa der Versuch einer Landreform demonstrierte) auf einer spezifischen Lesart der deutschen und japanischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert, die diese Entwicklung als eine Form des ›Sonderwegs‹ interpretierte. Die alliierten Eingriffe im Bereich des Umgangs mit deutscher und japani­ scher Geschichte konnten aber auch, drittens, konkretere Formen annehmen und bestimmte Deutungen explizit aus dem Bereich der zulässigen Interpreta­ tionen verbannen. Neben der Zensur (und anderen, indirekteren Kontrollme­ chanismen wie etwa der Papierkontingentierung) reglementierten vor allem die Eingriffe in den Personalbestand der Historikerzunft das Spektrum legiti­ mer Geschichtsschreibung. Die Entnazifizierung beziehungsweise ›Säuberun­ gen‹ (tsuihô) an den Universitäten veränderten die Zusammensetzung der Hi­ storikerschaft und vermittelten dadurch gleichzeitig einen negativen Kanon von »unerwünschten Deutungen‹, der hinfort auch den Spielraum der Interpre­ tationsansätze limitierte.

17 Vgl. etwa Kojima Noboru, C ontributions.

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b) Entnazifizierung und ›Säuberungen‹ Sowohl in Westdeutschland als auch in Japan waren allerdings direkte ›Säube­ rungsmaßnahmen‹ seitens der Besatzungsmächte nur die Ausnahme. In den drei Westzonen Deutschlands gehörten der Heidelberger Willy Andreas und der Marburger Wilhelm Mommsen zu den wenigen Historikern, die durch eine amerikanische Verfügung ihres Amtes enthoben wurden. 18 In der Regel wurde das Auswahlverfahren - das je nach Land und Besatzungsmacht unter­ schiedlich ausfallen konnte - in die Kompetenz der jeweiligen Universitäten gestellt. Bisweilen hatten sich dort auch Ende 1945 bereits Selbstreinigungsgre­ mien gebildet, von denen die Gruppe um Karl Jaspers in Heidelberg die be­ kannteste war. Im Januar 1946 wurde (in der amerikanisch besetzten Zone) die Entnazifizierung auch offiziell den Universitäten übertragen, wobei die Besat­ zungsmacht - vor allem in Person der für die einzelnen Universitäten zustän­ digen Hochschuloffiziere - in dem Verfahren weiter präsent blieb. In den Aus­ schüssen, die an jeder Hochschule eingerichtet wurden, urteilten als unbelastet geltende Ordinarien über ihre Kollegen und unterbreiteten Vorschläge zur Entlassung, denen die Besatzungsbehörden in den meisten Fällen folgten.19 Das Ausmaß der Amtsenthebungen war von Institution zu Institution sehr unterschiedlich und folgte auch einer unterschiedlichen zeitlichen Dynamik. Vor allem in der amerikanischen Besatzungszone, vornehmlich in Bayern, wurden die Maßnahmen im Laufe des Jahres 1946 noch einmal verschärft, nachdem in der Öffentlichkeit der Eindruck einer wiedererstandenen ›brau­ nen‹ Universität aufgekommen war. Die Entnazifizierungsmaßnahmen betra­ fen in erster Linie diejenigen Historiker, die relativ eindeutig mit dem national­ sozialistischen Regime in Verbindung gebracht wurden. Freiwillige Rücktritte gab es kaum. Walter Frank, der seit 1935 Präsident des neugegründeten ›Reichs­ institutes für Geschichte des neuen Deutschlands‹ und Doyen der nationalso­ zialistischen Historikerschaft gewesen war, hatte bereits am 9. Mai 1945 Selbst­ mord begangen. Die ersten Amtsenthebungen nach 1945 trafen vor allem diejenigen Fachvertreter, die bereits vor 1933 NSDAP-Mitglieder gewesen waren, wie Erich Botzenhart, Heinrich Dannenbauer oder Gustav Adolf Rein, oder nach der ›Machtergreifung‹ in die Partei eingetreten waren wie Karl Alex­ ander von Müller (1935-44 Herausgeber der Historischen Zeitschrift), Erwin Hölzle oder Günther Franz (der auch der SS angehört hatte). Andererseits führte Parteigenossenschaft noch nicht automatisch zum Ausschluß von der Universität (so im Falle des Berliners Carl Hinrichs). Wenn man das zahlenmä18 Pfetsch, Neugründung, S. 367. 19 Vgl. vor allem Tent, Mission, S. 57-87; ders., Denazification; Bungenstab, Umerziehung; Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 121-130; vgl. zur französischen Zone Henke, Politische Säube­ rung.

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ßige Ausmaß der Amtsenthebungen mit den Entnazifizierungsmaßnahmen an Universitäten der sowjetisch besetzten Zone oder auch mit der ›Abwicklung‹ der DDR-Geschichtswissenschaft nach 1989 vergleicht, so kann man von einer nachsichtigen und oberflächlichen ›Säuberung‹ sprechen.20 Auf der Basis der Forschungen von Wolfgang Weber hat Winfried Schulze die Zahl der westdeut­ schen Hochschullehrer, »die nach 1945 ›aus politischen Gründen‹ zunächst entlassen wurden, ohne ihre spätere - v o n ihrem Lebensalter und anderen Fak­ toren abhängende - Wiederverwendung zu berücksichtigen«, auf lediglich 24 beziffert.21 Diese Zahl verringert sich weiter, wenn die verschiedenen Rehabilitierungs­ maßnahmen der folgenden Jahre in die Betrachtung miteinbezogen werden. Als Ergebnis des Personalmangels an den historischen Fakultäten sowie der nachlassenden Rigidität der Entnazifizierungspraxis setzte in den späten vierzi­ ger Jahren ein Rücklauf ein, der zunächst entlassenen Historikern die Weiter­ beschäftigung erlaubte. In einigen Fällen (so etwa Willy Andreas) war die Rück­ kehr mit der sofortigen Emeritierung verbunden und hatte vornehmlich rehabilitatorische und beamtenrechtliche Konsequenzen. Andere wurden wie­ der in ihre alten (wie Heinrich Dannenbauer in Tübingen oder Percy Ernst Schramm in Göttingen, beide 1949) oder auch in neue Stellungen (wie Egmont Zechlin 1948 in Hamburg oder Helmut Berve 1949 in Erlangen) eingesetzt. Und schließlich ermöglichte das 1951 beschlossene Gesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes die Wiederverwendung‹ aus politischen Gründen entlassener Professoren. Dieses Gesetz schuf die Basis für eine Wiederanstellung für alle Beamten, die nach 1945 aus unterschiedlichen Gründen ihre Stelle verloren hatten. Davon profitierten in erster Linie Personen, die in den nun abgetrenn­ ten Ostgebieten tätig gewesen waren, aber auch der Entnazifizierung zum Opfer gefallene Historiker wurden Nutznießer dieser Regelung. So kehrten etwa Günther Franz (Hohenheim 1957), Erich Maschke (Heidelberg 1956), Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode (München 1955), Fritz Valjavec (München 1958) und Ludwig Zimmermann (Erlangen 1954) im Laufe der fünfziger Jahre an die Universität zurück. Die Dynamik der ›Säuberungen‹ an den japanischen Hochschulen war der Entwicklung der Entnazifizierung in Westdeutschland in den Grundzügen ver­ gleichbar. An der Universität Tôkyô hatte Hiraizumi Kiyoshi, der wichtigste Repräsentant der nationalistischen Geschichtsschreibung der Kriegszeit und gewissermaßen das japanische Pendant zu Walter Frank, noch im September 20 Vgl. etwa den Vergleich von Ash, Geschichtswissenschaft. Jenseits des numerischen Befun­ des verstärkt sich dieser Eindruck, wenn sich am Einzelfall die Unzulänglickeit der getroffenen Auswahl nachweisen läßt. Vgl. etwa besonders kraß Roth, Heydrichs Professor. 21 Schulze, Geschichtswissenschaft, S. l26f.; vgl. auch Weher, Priester, S. 429f.

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1945 freiwillig sein Amt niedergelegt.22 Rücktritte aus freien Stücken gab es auch andernorts, vor allem unter der Lehrerschaft, aber darüber hinaus wurden an einigen Universitäten auch schon antizipierende Entlassungen ausgespro­ chen. Dadurch hoffte man, den in der Potsdamer Erklärung angekündigten Säuberungsmaßnahmen entgehen zu können. Diese Selbstschutzvorkehrun­ gen trafen vornehmlich Wissenschaftler, die sich in den dreißiger Jahren expo­ niert hatten und deren Äußerungen mit der Ideologie der großostasiatischen Wohlstandssphäre in Verbindung gebracht werden konnten. 23 Die direkten Eingriffe der amerikanischen Besatzungsmacht begannen be­ reits im Herbst 1945. Das erste Ziel war die christliche Rikkyô-Universität, an der die nationalistische Welle während des Krieges zur Einstellung des mit dem Westen assoziierten christlich-theologischen Unterrichts geführt hatte.24 Da­ nach richtete sich das Augenmerk der Besatzer vornehmlich auf religiös gebun­ dene Institutionen sowie auf die Universität Kyôto. Dort hatte sich in den drei­ ßiger Jahren um den Philosophen Nishida Kitarô die nationalistische Kyôto-Schule etabliert, deren Konzepte auch in den anderen Fakultäten nicht ohne Einfluß geblieben waren. Das Geschichtsbild der Kyôto-Schule postulier­ te eine alternative Weltgeschichte (sekaishi), die - in einer Adaptation Hegel­ scher Gedanken - eine neue ›asiatische‹ Ordnung der Welt zur Überwindung der europäischen Vorherrschaft begründen sollte. Die berühmt-berüchtigte Konferenz über die »Überwindung der Moderne« (kindai no chôkoku), die 1942 in Kyôto abgehalten wurde, machte dieses Programm einer breiteren Öffent­ lichkeit bekannt. Auch wenn die geforderte Ablösung der westlichen Moderne in erster Linie ein philosophisches Programm war, das sich von einem japani­ schen Kolonialkrieg distanzierte, gab es doch zahlreiche Überschneidungen zwischen der Geschichtsphilosophie der Kyôto-Schule und der Ideologie des ›Großostasiatischen Befreiungskrieges‹ der japanischen Armee. 25 Der Leiter der Civil Information and Education Section Nugent evaluierte Ende 1945 die Biographien von neun Professoren der Universität Kyôto und verfügte im Mai 1946 die Entlassung der drei Ökonomen Ishikawa Koji, Taniguchi Kichihiko und Shibata Kei, die an der Planung der Wirtschaftspolitik in den annektierten Gebieten beteiligt gewesen waren.26 22 Zu Hiraizumi vgl. Saitô, Shôwa shigakushi nôto, Kapitel 4. 23 An der ökonomischen Fakultät der Universität Tôkyô etwa wurden noch im Oktober 1945 fünf Professoren entlassen und durch Wissenschaftler ersetzt, die in den dreißiger Jahren durch politischen Druck von der Hochschule vertrieben worden waren. Vgl. Tôkyô Daigaku Hyaku­ nenshi, S. 1007. 24 Rikkyô gakuin l00nenshi, S. 391-394. 25 Vgl. zur Kyôto-Schule Heisìg u. Maraldo, Rude Awakenings; Ohashi, Philosophie; Bauer, Transmoderne. 26 Die Relegierung basierte in der Regel weniger auf einer Analyse der kritisierten ökonomi­ schen Theorien als auf der Isolierung vereinzelter Formulierungen. Die gesamte ökonomische Fakultät formulierte daraufhin selbstkritische Erklärungen und bot geschlossen ihren Rücktritt an. Vgl. Yamamoto, Senryôka, S. 44—49.

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Diese Form der direkten Eingriffe blieb aber die Ausnahme. 27 Statt dessen wurden 1946 an allen Universitäten Kommissionen eingesetzt, in denen ge­ trennt nach Fakultäten über die Eignung und Weiterbeschäftigung des gesam­ ten Lehrkörpers befunden wurde. 28 Wie in den deutschen Westzonen verhan­ delten hier als integer geltende Wissenschaftler über ihre Kollegen.29 Insgesamt wurden in diesen Verfahren 24 572 Professoren aller Fakultäten evaluiert. 86 von ihnen wurden schließlich als untauglich aus dem Universitätsdienst entlas­ sen.30 Dies entsprach einem Anteil von lediglich 0,3% aller Hochschullehrer; auch unter den Lehrern war übrigens der Anteil der aus politischen Gründen Entlassenen nicht höher.31 Zum Vergleich: In den deutschen Westzonen wur­ den zwischen 10% (in der englischen Zone; die Zahlen für die französische Zone lagen geringfügig höher) und über 35% (in der amerikanischen Zone) aller Dozenten im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen suspendiert.32 Allerdings müssen in Japan noch die zahlreicheren Rücktritte hinzugerechnet werden. 33 Häufig provozierte die Arbeit der Kommissionen freiwillige Amts­ niederlegungen, bevor die Evaluierung abgeschlossen war. Von den zehn Wis­ senschaftlern etwa, die an der ökonomischen Fakultät der Universität Tôkyô in dieser Zeit ihr Amt verloren, schieden nur zwei aufgrund des gutachterlichen Schiedsspruches aus dem Dienst.34 Generell läßt sich sagen, daß die prominen­ ten und prestigereichen Universitäten vor allem staatlicher Trägerschaft von den Entlassungen stärker betroffen waren als kleinere oder private Institutio­ nen. Die enge Anbindung der Kaiserlichen Universitäten an den Staat impli­ zierte auch eine größere Verstrickung ihrer exponierten Vertreter in die staatli­ che Expansionspolitik seit 1931. So wurde an der Universität Kyôto der Historiker Nishida Naojirô 1946 zum Rücktritt veranlaßt. Nishida war ein Spezialist für die Geschichte des vor­ modernen Japan und hatte während des Krieges eine nationalistisch ausgerich­ tete Kulturgeschichte betrieben, die sich an der Weltgeschichtsschreibung der 27 Vgl. das Dokument ›The Purge‹ mit einer knappen Synthese der amerikanischen Aktivitä­ ten: GHQ/SCAP Records, Box No. 3633, Sheet No. CIE (A) 03409. 28 Der Text der betreffenden kaiserlichen Anordnung (Imperial Ordinance Nr. 263 of 1946 »concerning exclusion, removal and reinstatement etc. of members of educational Service«) findet sich in: GHQ/SCAP Records, Box No. 5745, Sheet No. CIE (B) 06432. 29 Schon während des Krieges hatten die Amerikaner ein Archiv angelegt mit Namen von »liberal educators of Japan«. Ausschlaggebend war häufig, daß der betreffende Wissenschaftler »al­ ways advocated friendship with America«. Vgl. GHQ/SCAP Records, Sheet No. CIE (B) 0311037. 30 Yamamoto, Senryôka, S. 155-210, 358. 31 Nishi Toshio, Unconditional Democracy, S. 173. 32 Zahlen nach Rupieper, Wurzeln, S. 137. 33 Nishi Toshio berichtet etwa für die Lehrerschaft von 115 778 freiwilligen Rücktritten ge­ genüber lediglich 3151 zwangsweise aus dem Amt entfernten Lehrern. Vgl. Nishi Toshio, Uncon­ ditional Democracy, S. 173. 34 Tôkyô Daigaku Hyakunenshi, S. 1007-1009.

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Kyôto-Schule orientierte. Nishida hatte 1940 auch ein propagandistisches Sammelwerk herausgegeben, in dem dem Mythos der im selben Jahr pompös gefeierten 2600jährigen Gründung der Dynastie wissenschaftliche Legitimität verliehen werden sollte.35 Stärker noch war die Abteilung für Japanische Ge­ schichte an der Universität Tôkyô betroffen, an der nach der Amtsenthebung Itazawa Takeos und nach dem Rücktritt von Hiraizumi und Nakamura Kôya 1947 sämtliche Lehrstühle der Abteilung verwaist waren. Für die meisten Hi­ storiker bedeutete die Relegierung jedoch nicht ein endgültiges Ende der aka­ demischen Laufbahn. Wer nicht sofort an einer kleineren Institution, mögli­ cherweise in der Provinz, eine Stelle fand, konnte spätestens zu Beginn der fünfziger Jahre auf seine Wiedereinstellung spekulieren. So wie in der Bundes­ republik der Artikel 131 den Historikern die Rückkehr an die Universitäten erlaubte, sorgte auch in Japan die bildungspolitische Wende nach Ende der Besatzungszeit 1952 für die sukzessive Rücknahme amerikanischer Hoch­ schulreformen einschließlich ihrer personalpolitischen Entscheidungen. 36 Ita­ zawa Takeo beispielsweise wurde fünf Jahre nach seiner Entlassung an der Hôsei-Universität in Tôkyô wieder eingestellt. 37 Insgesamt läßt sich sagen, daß die Anzahl der aus politischen Gründen nach 1945 von ihren Lehrstühlen vertriebenen Historiker in Japan noch niedriger lag als in den deutschen Westzonen. Allerdings blieben die deutschen Historiker, auch wenn sie dauerhaft den Entnazifizierungsmaßnahmen zum Opfer fielen, dem Kern der Zunft auch weiterhin eng verbunden. In der Bundesrepublik führte der Stellenverlust durch Entnazifizierung nicht notwendig zum Aus­ schluß aus der wissenschaftlichen Diskussion und von den Publikationsforen der Disziplin. Wilhelm Mommsen, Fritz Valjavec, Erwin Hölzle, Wilhelm Schüssler oder Franz Petri beispielsweise veröffentlichten auch nach 1945 und ihrer aus politischen Gründen erfolgten Entlassung noch in den einschlägigen Fachzeitschriften oder waren an übergreifenden Projekten wie etwa der am Institut für Europäische Geschichte in Mainz entstandenen ›Historia Mundi‹ beteiligt. In Japan dagegen traf der Ausschluß zwar einen kleineren Personen­ kreis; die Abtrennung von den Tagungen und Diskussionsorganen der Zunft war aber möglicherweise rigider. Die nach dem Krieg stark gewordene mar­ xistische Richtung trug in Japan dazu bei, daß die Stimme diskreditierter natio­ nalistischer Historiker in den Jahren nach 1945 seltener Gehör fand und die großen wissenschaftlichen Organe ihnen weitgehend verschlossen blieben. 35 Vgl. Saitô, Shôwa shigakushi nôto, Kapitel 7; Kyôto Daigaku bungakubu 50nenshi, S. 42.1948 wurde auch Nishidas Kollege Nakamura entlassen. Beide lehrten nach ihrem Rücktritt an einer Oberschule. 1947 hatte auch der Europahistoriker Suzuki Shigetaka, der auch zur Kyôto-Schule zu rechnen war, die Universität verlassen müssen. Er fand später an der Sophia-Universität und der Waseda-Universität in Tôkyô Anstellung. Vgl. Bauer, Transmoderne, S. 64-66. 36 Vgl. Möhwald, Reformen, S. 26 f.; Kobayashi, Society, S. 60 ff. 37 Tôkyô Daigaku Hyakunenshi, S. 616-618.

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Häufig versammelten sich die ausgemusterten Historiker an kleineren Univer­ sitäten. Die zwangsweise Amtsenthebung versperrte nicht automatisch den Zugang zu allen anderen Institutionen; im Gegenteil, die erneute Anstellung an weniger exponierter Stelle war die Regel. An der shintôistischen Kokugakuin­ Universität in Tôkyô oder an der Militärhochschule (Bôei daigakkô) konnten sich so in den fünfziger Jahren zahlreiche Vertreter eines tennôistisch-ultrana­ tionalistischen Geschichtsbildes versammeln. Ihr Einfluß auf die Geschichts­ wissenschaft blieb allerdings marginal. 38

c) Die ›Grqße Täuschung‹

Auch wenn also die Entnazifizierungsmaßnahmen in den deutschen Westzo­ nen insbesondere in numerischer Hinsicht etwas rigider waren als die politi­ schen ›Säuberungen‹ (tsuihô) in Japan, kann man doch in beiden Fällen von kosmetischen Operationen sprechen, die die Personalstruktur der historischen Fakultäten nur an der Oberfläche veränderten. Vor allem im Zuge der Rehabi­ litierung »belasteten Lehrkräfte in den fünfziger Jahren wurden die Protagoni­ sten der nationalistischen Geschichtsschreibung der Kriegsjahre sukzessive reintegriert. Auch wenn also der personelle ›Ertrag‹ dieser Maßnahmen hinter den (meist retrospektiven) Erwartungen zurückblieb, waren als Folge der Dy­ namik von Aus- und Rückgliederung charakteristische Verschiebungen in den diskursiven Bedingungen der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit nicht zu ignorieren. Denn zunächst wurden diese personalpolitischen Maßnahmen, also die Zensur eines unerwünschten Geschichtsbildes durch die institutionel­ le Marginalisierung seiner Träger, von der Historikerschaft beider Länder be­ merkenswert rasch akzeptiert. Mitunter gab es zwar Proteste gegen konkrete Entscheidungen; diese richteten sich aber nur selten gegen das Projekt als sol­ ches, sondern zumeist lediglich gegen mutmaßliche Fehleinschätzungen in bestimmten Fällen. 39 Wenn es Widerstand gab, dann kam er in der Regel aus den Reihen der nun aus dem Amt Verdrängten.40 Das Schweigen der Zunft zur 38 Diese Gruppenbildungen erinnern etwa an die Ranke-Gesellschaft (an der Historiker wie Wilhelm Schüssler, Otto Becker, Erich Keyser, Karl A v. Müller, Heinrich v. Srbik, Harold Stein­ acker, Otto Brunner, Walter Peter Fuchs, Reinhard Wittram oder auch Hermann Aubin beteiligt waren) oder an den ›Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte« (u.a. Theodor Mayer, Willy Andreas, Erwin Hölzle). Anders als ähnliche Gruppierungen in der Bundesrepublik war aber in Japan die institutionelle Anbindung an einer kleineren und nicht im Rampenlicht stehenden Universität eher möglich. 1962 wurde auch die von den Besatzern im Dezember 1945 geschlosse­ ne Hochschule des Shintô-Schreins in Ise, die Kôgakkan-Universität, wiedereröffnet, an der unter dem Einfluß Tanaka Sugurus ultranationalistische Positionen ein Forum fanden. Siehe Hashikau›a, Kôgakkan daigaku. 39 Vgl. Yamamoto, Senryôka, S. 155-210. 40 Vgl. etwa Grabert, Hochschullehrer.

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Praxis der Selektion ließ allerdings noch nicht auf vorbehaltlose Zustimmung schließen. Im Zusammenhang der Fragebogenaktionen und universitären Ver­ fahren zeigten sich einige Historiker zu Schutzbehauptungen zugunsten der mit Ausschluß bedrohten Kollegen bereit, wie das Beispiel des Heidelberger Historikers Willy Andreas zeigt.41 Im wissenschaftlichen Diskurs aber hatte die Kritik an dem Verfahren keinen Platz. Die Distanzierung von einem nationali­ stisch kontaminierten Geschichtsbild, die auch dessen Protagonisten galt, war nicht nur dem Dekret der Besatzungsmächte geschuldet, sondern schien der Historikerschaft auch Voraussetzung ihrer eigenen wissenschaftlichen Glaub­ würdigkeit. Infolgedessen konzentrierten sich die Plädoyers für eine Revision des Ge­ schichtsbildes zuallererst auch auf die Forderung, von der nationalsozialisti­ schen Geschichtsklitterung bzw. der japanistischen Geschichtsinterpretation der Kriegsjahre (kôkoku shikan) Abstand zu gewinnen. Typischerweise geschah dies in Form eines Nachweises von Geschichtsfälschungen, die man im Na­ men eines erneuerten Objektivitätsideals überwinden müsse. So distanzierte sich Siegfried August Kaehler von der nationalsozialistischen »Vergewaltigung der Wahrheit«, denn »zu welch furchtbarer Gefahr solche Legendenbildung führen kann, das haben uns die Jahre der NS-Willkür im Bereich geschichtli­ cher Deutungen und Umdeutungen gezeigt.«42 Auch Paul Kluke beschrieb die Geschichtsschreibung des »totalen Regimes« als »Schweigen, Kaschieren, Ver­ fälschen. Die Legendenbildung trat an die Stelle des Wahren.« 43 Als erste Aufga­ be einer sich erneuernden Geschichtsschreibung galt es daher, »das lügenhaft verzerrte Geschichtsbild des Nationalsozialismus« zu überwinden. 44 In Japan gehörte Tsuda Sôkichi von der Waseda-Universität zu denjenigen, die gegen die mythische Überhöhung der Tennô-Dynastie ins Felde zogen, wie sie für die nationalistische Geschichtsschreibung der Kriegszeit repräsentativ gewesen war. Anhand einer positivistischen Evaluierung der antiken Reichsannalen wi­ derlegte er eine Reihe von historischen Legenden, die auf der unvoreingenom­ menen Behandlung dieser Annalen als Geschichtsquelle beruhten. Tsuda hatte seine quellenkritischen Arbeiten schon vor dem Krieg veröffentlicht; in den vierziger Jahren brachte ihn der subversive Charakter dieser Forschungen aber in Konflikt mit dem Regime, und er wurde sogar zu einigen Monaten Gefäng­ nis verurteilt (dann aber in der Berufungsverhandlung freigesprochen). Nach 1945 gehörten Tsudas Werke dann zu den Beispielen einer Demystifizierung der nationalistischen Geschichtsschreibung und der Rückgewinnung ihrer

41 Pfetsch, Neugründung, S. 366f. 42 Kaehler, Vorurteile und Tatsachen, S. 5. 43 Kluke, Aufgaben und Methoden, S. 7433. 44 Hofer, Der mißbrauchte Ranke, S. 543. Vgl. in diesem Sinne auch G. Ritter, Fälschung; ders., Deutsche Geschichtswissenschaft; Goetz, Geschichtsfálschungen; Kaehler, Geschichtslegenden.

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wissenschaftlichen Objektivität.45 Die japanistische Historiographie (kôkoku shikan) hingegen verschwand nach dem Krieg beinahe vollständig von der Bild­ fläche.46 Die Abkehr von einer Historiographie, die mit dem Nationalismus der drei­ ßiger und frühen vierziger Jahre assoziiert wurde, wurde so als die Dekuvrie­ rung eines Täuschungsmanövers inszeniert. Gemäß dieser Lesart hatte die nun diskreditierte Geschichtsschreibung nicht nur im Dienste eines verbrecheri­ schen Regimes gestanden, sondern vor allem die Wahrheit der Geschichte ver­ dreht. Die amerikanischen Besatzer hatten bereits im Herbst 1945 betont, daß »the misuse of power by the militarists« seinen negativen Höhepunkt nicht in verbrecherischen Handlungen oder einer aggressiven Kriegsführung gefunden habe, sondern in »their consistent suppression of the truth«. 47 »Verzerrte Ge­ schichte« nannte daher der konservative Historiker Okubo Toshiaki seinen Beitrag zu einer »Kurzen Geschichte der Unterdrückung der Wissenschaft«, die 1952 erschien.48 Vor allem in den nun zahlreichen Darstellungen der marxisti­ schen Historiker aber war die Distanzierung von der bisherigen Geschichts­ schreibung Allgemeingut (»Bis zum heutigen Tage wurde uns eine falsche japa­ nische Geschichte beigebracht«). 49 Die Verdrehung der Wahrheit und die Täuschung der Bevölkerung: so laute­ te das Sündenregister der kompromittierten Vertreter einer Geschichtswissen­ schaft, von der man glaubte, sich auf diese Weise leicht dissoziieren zu können. Gleichzeitig war für die Historiker in den ersten Nachkriegsjahren die ›Täu­ schung‹ aber auch ein hervorstechendes Insignium des Nationalsozialismus und des japanischen Faschismus, die - so schien es im Nachhinein - die Zeit­ genossen immer wieder hinters Licht geführt hatten. Für Paul Kluke etwa, von 1953 bis 1959 Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, blieb es »ein schwer erklärbares Phänomen, wie Hitler in den Folgejahren es verstanden hat, Anhänger und Gegner über seine wahren, starr festgehaltenen Absichten immer wieder zu täuschen.«50 Auch für Walther Hofer, der seit 1952 an der Freien Universität in Berlin lehrte, war es bemerkenswert, wie Hitler in der La­ ge war, »dem Volk Sand in die Augen zu streuen, indem er sich betont friedfer­ tig, vernünftig und staatsmännisch gab.«51 Und der Göttinger Siegfried August Kaehler schrieb noch im Mai 1945 an seinen Kölner Kollegen Peter Rassow: »Und das... Große ist die Befreiung von der seit 12 Jahren eingefressenen Lüge, 45 Zu Tsuda vgl. Kadowaki, Tsuda; Ienaga, Tsuda; Ueda, Hito to shisô; Tôyama, Tsuda. 46 Nagahara, Kôkoku shikan. 47 GHQ, Historical Articles, S. 1. 48 Òkubo, Yugamerareta rekishi. 49 Minshushugi Kagakusha Kyókai u. Rekishigaku kenkyükai, S. 3. Vgl. etwa auch Inoue, Kuni no ayumi hihan, S. 5; Hani, Nihonjinmin, S. 1. 50 Kluke, Nationalsozialistische Europaideologie, S. 243. 51 Hofer, Der Nationalsozialismus, S. 42.

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die alles Leben vergiftet hatte.«52 In Rassows Antwort hieß es: »Vor allem sind wii aus der Herrschaft der Lüge heraus. Alles andere ist leichter zu ertragen.«53 Der Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit beruhte also nach dem Ende der beiden diktatorischen Regimes häufig auf der Versicherung, selbst von de­ ren Propaganda nicht affiziert worden zu sein. Nur für den »Einsichtigen« sei »von Anfang an erkennbar« gewesen, daß die Dinge sich nicht zum Guten ent­ wickelten, was allerdings »für die Klarblickenden längst keinem Zweifel mehr« unterlegen habe.54 Die Katastrophe sei, wie der Münchner Hans Buchheim sich selbst offenbar einschließend - berichtete, »von all denen vorausgesehen worden, die nüchtern geblieben waren und sich die Fähigkeit zur Unterschei­ dung der Geister bewahrt hatten.«55 Zahlreiche Historiker nahmen so für sich in Anspruch, das Wesen des Regimes erkannt zu haben und nun der Wahrheit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, indem sie den Schleier der Täuschung wissenschaftlich lüfteten. So reklamierte auch Friedrich Meinecke einen Standpunkt außerhalb der propagandistischen Verzerrungen als Ausgangs­ punkt seiner Analyse der »Deutschen Katastrophe«: »Ich habe von vornherein die Machtergreifung Hitlers als den Beginn eines allergrößten Unglücks für Deutschland angesehen«. Darin bestehe die Voraussetzung, die Vergangenheit objektiv zu betrachten. »Wir und gerade wir, die wir von Anbeginn an den Na­ zismus verdammten«, stünden nun vor der Aufgabe, dessen Wahrheit ans Licht zu bringen. Nach einer Zeit der Täuschungen und Verzerrungen schien es den meisten Historikern notwendig, zunächst einmal wieder Boden unter den Fü­ ßen zu gewinnen, um ihre eigenen Wahrheitsansprüche zu legitimieren. Nur wer den Eindruck erwecken konnte, die Machenschaften der Nationalsoziali­ sten durchschaut zu haben, schien an historischer Objektivität teilhaben zu können. Wenn Friedrich Meinecke betonte: »Es ist das geistige und politische Gegenlager zu Hitler, das ... hier zu Worte kommt«, dann war die Betonung der eigenen Immunität gegenüber der ›großen Täuschung‹ nicht nur eine morali­ sche Rechtfertigung, sondern gleichzeitig eine epistemologische Operation, die historische Wahrheit überhaupt erst möglich zu machen schien.56

d) Die Aufgaben des Historikers Mit dieser kritischen Perspektive verbanden viele Historiker auch besondere Aufgaben, die sich ihrer Zunft stellten. Wer wie beispielsweise auch Gerhard Ritter in der nationalsozialistischen Zeit das Gefühl hatte, »indirekt opponie52 53 54 55 56

Kaehler, Briefe, S. 296. zitiert nach Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 66. Mau u. Krausnick, S. 44, 184. H. Buchheim, Das Dritte Reich, S. 87. Meinecke, Katastrophe, S. 7, 153, 7.

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ren« zu können, indem er »bei der nüchternen Wahrheit blieb und sich darin nicht beirren ließ«, der schien nicht nur einen privilegierten Zugang zu dieser Wahrheit zu besitzen, sondern dadurch auch gesellschaftliche Verpflichtungen einzugehen. Die Fähigkeit, sich den Verzerrungen der Propaganda zu widerset­ zen, bringe auch spezifische Aufgaben für den Historiker mit sich.57 So erschien es auch Friedrich Meinecke, der in seiner schon 1946 veröffentlichten Ausein­ andersetzung mit der »Deutschen Katastrophe« betonte, daß »man sich vor die­ ses Volk stellen muß, um es aus der Illusion in die Wahrheit zu führen«.58 Die wissenschaftliche Form der Auseinandersetzung mit der Geschichte hatte, so lautete das Selbstverständnis der Zunft, die Distanz zum Nationalsozialismus ermöglicht, und auch nach 1945 versetze sie den Historiker in die Lage, das allgemeine Geschichtsbewußtsein zu transzendieren. Die meisten Historiker betrachteten es als ihre Aufgabe, ein Geschichtsbild überhaupt erst zu stiften. Die Historiker schienen so gleichsam außerhalb des Diskurses zu stehen und stilisierten sich nicht selten als Urheber von Interpretation und Bedeutung. In diesem Sinne träumte jedenfalls auch Hermann Heimpel von einem neuen Überblickswerk für die »Deutsche Geschichte, zugleich tiefgreifend und leicht faßlich, aus der Erschütterung neu gedacht und doch plastisch, ein Buch, das dem Deutschen, der sich in die Geschichte verflochten weiß, ein unklares Bild klärt und somit dem deutschen Volk ein richtiges und ruhiges geschichtliches Bewußtsein bilden hilft«.59 Das auf diese Weise vorgeblich von der Geschichtsschreibung beinahe auto­ nom gestiftete Geschichtsbild war kein Selbstzweck, sondern sollte durchaus politische Wirkung zeitigen. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit wurde nicht mehr als antiquarische Tätigkeit angesehen, sondern versprach mögli­ cherweise auch zukünftige Abgründe zu verhindern. Diese Aufgabe, der Heimpel in »plastischen« Wendungen Ausdruck verlieh, bestand somit nicht im bloßen Versenken in Vergangenes, sondern in der Sorge um die Zukunft, einer Sorge, die nach seinem Verständnis nach 1945 überhaupt erst möglich gewor­ den war: »Wir befinden uns in der großen Kurve, die den Blick auf die Strecke freigibt. Den furchtbaren Rückblick aus der Kurve hatte der größte deutsche Historiker, hatte Ranke nicht. Denn bei aller Weisheit und bei aller Riesenweite des Blicks war er doch in konservativer Selbstberuhigung in die Kurve nicht eingebogen, und er verbindet mit den ›allerungeheuersten Kenntnissen‹ und dem tiefsten Blick in den Graben der Französischen Revolution eine merkwür­ dige Zukunftsblindheit... Die Kurve gibt aber den Blick nicht nur nach rück­ wärts, sondern auch nach vorwärts frei, einen verschobenen Blick - aber doch einen Blick. Es ist eine Binsenwahrheit, daß der Historiker kein Prophet sei... 57 G Ritler, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 132. 58 Meinecke, Katastrophe, S. 151. 59 Heimpel, Entwurf, S. 165.

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Sprechen wir also nicht von Erkenntnis der Zukunft, sprechen wir aber von der Zukunftsahnung, ohne die keine ›Theorie des gegenwärtigen Zeitalters‹ beste­ hen kann.« 60 Während diese Verantwortung der Geschichtsschreibung für das Kommen­ de in der deutschen Diskussion gelegentlich aufschien, war die Sorge der Hi­ storiker um die politische Zukunft in der japanischen Historiographie beinahe ubiquitär. In den zahlreichen Handbüchern, die in den späten vierziger Jahren erschienen und ein neues Geschichtsbild inaugurieren sollten, wurde diese Zukunftsorientierung der (nun vor allem marxistischen) Geschichtsschrei­ bung regelmäßig dokumentiert. »Die Geschichte ist keine Wissenschaft, die lediglich dazu dient, die Dinge der Vergangenheit zu erkennen. Vielmehr ist sie eine Wissenschaft, die es ermöglicht, die heutige Situation so genau wie mög­ lich zu erfassen und aus dieser Erkenntnis heraus den richtigen Weg in die Zukunft zu entdecken.«61 Die Historiker schrieben sich die Aufgabe und auch die Fähigkeit zu, Katastrophen wie die gerade überstandene in Zukunft zu ver­ meiden und auch den politischen Gang der Dinge zu beeinflussen. In einem anderen marxistischen Einführungswerk dieser Zeit, das sich an eine breitere Leserschaft richtete, verdeutlichte Tamaki Hajime noch einmal diese politische Stoßrichtung der Wissenschaft: »Ich entlasse dieses Buch in die Welt in der tiefen Hoffnung, daß die jungen Männer und Mädchen in den Dörfern, die arbeitenden Menschen und die Studenten in den Städten und die Frauen in den Heimen nun damit beginnen, die wahre japanische Geschichte zu lernen; und daß sie von nun an ohne zu irren den Weg wählen, den Japan einschlagen soll, und daß sie ein neues Japan hervorbringen, in dem alle bislang unterdrückten Menschen in der Lage sind, ein glückliches Leben zu führen.«62 Dieser Anspruch fand sich (wenn auch zumeist in weniger hymnischen For­ mulierungen) in beinahe allen Werken zur japanischen Geschichte, die in den ersten Jahren nach dem Krieg vorgelegt wurden. 63 Das Bild von der Zukunft, das die Geschichtsschreibung entwerfen solle, war zumeist genauer konturiert als Hermann Heimpels vage »Zukunftsahnung«. Für Inoue Kiyoshi etwa hing die Richtigkeit der Geschichtsschreibung davon ab, daß man einen Standpunkt einnehme, der es ermögliche, »aus der Gegenwart heraus die Zukunft (mirai) zu schaffen«.64 Diese Zukunft sei jedoch keine beliebige, sondern den Japanern »durch die Potsdamer Erklärung bereits vorgegeben.« Zur Demokratie gäbe es somit keine Alternative, und dieser Standpunkt müsse fortan auch die Grund­ lage jeder Geschichtsdeutung sein.65 Dieses Bild von der politischen Zukunft, 60 61 62 63 64 65

Heimpel, Geschichte, S. 6. Izu, Sekai rekishi, S. 109. Tamaki, Nihon rekishi jôkan, S. 3. Vgl. beispielsweise Ienaga, Shin Nihonshi, S. 3. Inoue, Kuni no ayumi hihan, S. 5. Inoue et aì., ›Kuni no ayumi‹ no kentô, S. 26.

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das sich in vielen der zahlreichen marxistisch inspirierten Werke dieser Jahre findet, harmonierte übrigens auch mit der Strategie der Kommunistischen Par­ tei, die unter ihrem Vorsitzenden Nosaka Sanzô eine allmähliche Durchset­ zung des Sozialismus mit parlamentarischen Mitteln anstrebte.66 Während somit der Zukunftsbegriff in der japanischen Debatte mit einer konkreten Vorstellung von einer demokratischen Gesellschaft aufgeladen war, war in Westdeutschland vor allem die Überzeugung verbreitet, eine Wiederho­ lung der Katastrophe verhindern zu müssen. Wie auch andere Historiker ver­ stand daher Friedrich Meinecke seine Geschichtsschreibung als eine Form der Warnung, »während das emotionale Denken des Laien nur zu geneigt ist, von einem Extrem in das andere zu fallen und heute zu verbrennen, was man ge­ stern angebetet hat. Da sehen wir nun den hohen Beruf der deutschen Historie in Zukunft darin, Liebe und Strenge zugleich für unsere Vergangenheit zu be­ weisen und voranzugehen in der Aufgabe, ihre wahren Werte zu erhalten, ihre Unwerte zu erkennen und, wenn es zum Handeln kommt, vor ihnen zu war­ nen.«67 Meinecke unterstrich hier noch einmal die tiefe Kluft zwischen dem Gelehrten und dem von ihm geführten Volk; und er betonte die Pflicht des Historikers, dieses Volk vor politischen Abgründen zu bewahren. Gleichzeitig galt es aber auch - und darin erblickten viele westdeutsche Hi­ storiker einen wesentlichen Aspekt ihrer Aufgabe - im Zuge der Diskreditie­ rung der jüngsten Vergangenheit nicht die gesamte Geschichte in toto über Bord zu werfen; die nationalen Traditionen, auf die man sich weiterhin berufen konnte, sollten nicht »verbrennen«, sondern in »Liebe« gepflegt werden. Das war die emotionale Gestimmtheit, die auch Hermann Heimpel angemessen schien: »Nur diese Liebe zu Deutschland läßt Deutschland definieren und er­ kennen: Deutschland ist das jetzt geliebte, in der Vergangenheit wiedergefun­ dene Land, es ist selbst die Vergangenheit, die das in der Gegenwart geliebte Land zu dem gemacht hat, was es ist.«68 Deutschland und seine nationalen Tra­ ditionen dürften also, bei aller rückblickenden Kritik und vorwärtsgewandten Warnung, nicht aufgegeben werden. Als Historiker müsse man, so formulierte Siegfried August Kaehler, »der Aufgabe genügen, welche uns noch unter der lastenden Wolke des Verhängnisses bleibt als eine große Erfüllung unseres gei­ stigen Bedürfens: durch wissenschaftliche Besinnung die wahren und unver­ gänglichen Werte deutschen Wesens zurückzugewinnen in dem Bemühen um die Lösung des dunklen Rätsels deutscher Geschichte.«69 Und im Abschlußka­ pitel seiner »Deutschen Katastrophe«, in dem er »Wege zur Erneuerung« betre­ ten wollte, skizzierte Friedrich Meinecke daher auch die bewahrenswerten 66 67 68 69

Koschmann, Revolution and Subjectivity, S. 32ff. Meinecke, Katastrophe, S. 159. Heimpel, Entwurf, S. 182. Kaehler, Vom dunklen Rätsel, S. 374.

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deutschen Errungenschaften, die er vor allem auf dem Feld der Kultur lokali­ sierte. »Was gibt es Individuelleres und Deutscheres als die große deutsche Musik von Bach bis Brahms?«70 Ein ähnlich vehementes Plädoyer zugunsten unbefleckt gebliebener natio­ naler Traditionen fand sich in den frühen Stellungnahmenjapanischer Histori­ ker nicht. Die offensive Betonung kultureller Leistungen war ein Phänomen, das erst seit Mitte der fünfziger Jahre wieder Einfluß auf die historiographi­ schen Debatten erhielt. Aber auch in den späten vierziger Jahren, in denen der marxistische Einfluß auf die Geschichtsschreibung auf seinem Höhepunkt war, galt das Augenmerk der Historiker den nationalen Besonderheiten der japani­ schen Geschichte. Maruyama Masao etwa konzentrierte seine Forschungen, wie er im Rückblick konstatierte, auf die »spezifischen Besonderheiten der ja­ panischen Politik und der kulturellen Muster, die ihr zugrundelagen«. Diese Spezifika bestanden jedoch nicht in den großartigen Errungenschaften einer unverwechselbaren japanischen Kultur, sondern vielmehr in ihren Mängeln und Unzulänglichkeiten. Maruyama sprach daher von seinem »obsessiven In­ teresse, das sich ausschließlich auf die pathologischen Aspekte meiner eigenen Gesellschaft« beziehe. Die Beschäftigung mit dem Einzigartigen, dem nationa­ len Wesen hatte also nicht nur in der westdeutschen, sondern auch in der japa­ nischen Historiographie der Nachkriegsjahre ihren Platz. Die Stoßrichtung aber konnte unterschiedlicher kaum sein. Maruyama verband den Befund von nationalen Besonderheiten mit dem Bemühen, die japanische Gesellschaft da­ von zu befreien. »Es wird deutlich werden, daß... meine bewußte Absicht darin bestand, mich selbst und das politische System meiner eigenen Gesellschaft einer eindringlichen Röntgenuntersuchung zu unterziehen und mit rück­ sichtslosem Skalpell jedes Anzeichen einer Krankheit zu eliminieren.« 71 Für Meinecke hingegen bestand die Aufgabe des Historikers nicht in der Ausmer­ zung, sondern in der Bewahrung. Er war, wie er das formulierte, auf der Suche nach dem »deutschen character indelebilis«.72

e) Objektivität Diese Suche nach bewahrenswerten Konstanten gestaltete sich jedoch als schwierig, nicht zuletzt, weil die Notwendigkeit einer umfassenden Neuinter­ pretation der Vergangenheit in der Geschichtswissenschaft der Jahre nach 1945 allgegenwärtig war. Auch für Friedrich Meinecke stellte sich die »Frage, was aus unseren geschichtlichen Traditionen überhaupt nun werden wird. ... Unser 70 Meinecke, Katastrophe, S. 171. 71 Maruyama Masao, Author's Introduction, S. xiv, xi, xii. 72 Meinecke, Katastrophe, S. 176.

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herkömmliches Geschichtsbild, mit dem wir groß geworden sind, bedarf jetzt allerdings einer gründlichen Revision, um die Werte und Unwerte unserer Geschichte klar voneinander zu unterscheiden.« 73 Formulierungen wie diese fanden sich in den Texten beinahe sämtlicher Historiker, die sich unmittelbar nach Kriegsende mit der Situation der Geschichtsschreibung auseinandersetz­ ten.74 Plädoyers für die grundlegende Erneuerung der Deutung der deutschen Geschichte hatten in den späten vierziger Jahren Konjunktur. Im Zuge der er­ neuten Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft, also dem Wieder­ erscheinen der ›Historischen Zeitschrift‹ und dem ersten Historikertag der Nachkriegszeit 1949 schwächte sich diese Forderung dann merklich ab.75 In Japan trafen sich bereits im November 1945 kritische Lehrer und Histori­ ker zu einem ersten Symposium zur »Revision des japanischen Geschichtsun­ terrichts« (kokushi kyôiku saikentô), auf dem der Beschluß gefaßt wurde, sich unabhängig von der Politik der Regierung um ein neues Geschichtsbild zu be­ mühen. 76 Vom Neubeginn, mit dem auch eine Reevaluation der eigenen Ver­ gangenheit einhergehen sollte, war im besetzten Japan vielfach die Rede. Die Besatzungspolitik sprach vom ›Neuen Japan‹, verbot den traditionellen Ge­ schichtsunterricht und verfügte die Herstellung neuer Lehrbücher mit dem Ziel, den Schülern die »fundamental truths about the world« zu vermitteln. 77 Auch das Erziehungsministerium (Monbushô) propagierte bereits im Herbst 1945 ein neues Geschichtsbild, in dem Japan zu einem Kulturstaat (bunka kok­ ka) umdefiniert wurde. 78 Für die kritische Geschichtswissenschaft marxisti­ scher Provenienz waren die Bemühungen um Revision untrennbar mit einer Wendung zur Demokratie verbunden. 79 Das alte Geschichtsbild jedenfalls müsse überwunden werden, und das impliziere vor allem auch, bisherige »un­ wissenschaftliche Ansichten« durch »objektive Forschung« zu ersetzen. 80 Der Verweis auf die Objektivität (kyakkansei), Wissenschaftlichkeit (kagaku­ sei) oder Richtigkeit (tadashisa) der eigenen Darstellung gehörte ebenfalls zu den immer wiederkehrenden rhetorischen Wendungen, durch die der Wahrheits­ anspruch von Geschichtsschreibung gesichert werden sollte. Die Betonung der 73 Meinecke, Katastrophe, S. 156. 74 Vgl. explizit auch Hofer, Über das Problem einer Revision des deutschen Geschichtsbildes. 75 Vgl. vor allem den betreffenden Abschnitt bei Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 207-227 mit einer Reihe weiterer Zitate. Schulzes Interesse gilt allerdings nicht in erster Linie den diskur­ siven Bedingungen, die solche Äußerungen mehr oder weniger wahrscheinlich machten, sondern er beklagt »eine nurmehr begrenzte Revisionsbereitschaft der Historiker«; vgl. ebenda, S. 214. 76 Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 28. 77 Darin bestand der Konsens der CI&E-Planung, die am 13.12.1945 General MacArthur vor­ getragen wurde. Zitiert nach Nishi Toshio, Unconditional Democracy, S. 178; vgl. auch Gluck, The ›Long Postwar‹. 78 Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 25f. 79 Vgl. etwa Yanaihara, History, S. 5. 80 Endô, Nihon no rekishi, hashigaki.

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Objektivität stand zumeist gleichsam stellvertretend für den Wunsch nach einer Revision des Geschichtsbildes. Die Veränderung der formalen Kriterien der Forschung schien bereits den qualitativen Wandel der Interpretation zu garan­ tieren. In einem 1949 von zwei marxistischen Historikerverbänden herausge­ gebenen »Handbuch für Japanische Geschichte« etwa wurden die methodi­ schen Anforderungen minutiös aufgeführt, die die neue Geschichtsschreibung von ihren traditionellen Vorläufern unterscheiden sollten.81 Allerdings ließ sich allein durch methodische Postulate eine bestimmte Deu­ tung der Geschichte noch nicht durchsetzen, wie sich an den Auseinanderset­ zungen um das Schulbuch »Der Weg der Nation« (kuni no ayumï) illustrieren läßt. Auf das amerikanische Verbot des Geschichtsunterrichts und sämtlicher Textbücher reagierte das japanische Erziehungsministerium (Monbushô) und beauftragte eine Gruppe von Historikern, ein neues Lehrbuch zu erstellen. Nach nur dreimonatiger Arbeit konnte im Oktober 1946 ein neues Überblicks­ werk der japanischen Geschichte präsentiert und der Lehrbetrieb nach neun­ monatiger Unterbrechung wiederaufgenommen werden. 82 Das Ministerium hatte für die Erstellung des Textes genaue Anweisungen ergehen lassen: Die Geschichte solle nun wissenschaftlich und objektiv dargestellt werden. Und auch die Perspektive müsse sich ändern: An die Stelle der Sicht des Adels solle nun eine Geschichte des Volkes treten, die nicht auf politische Ereignisse be­ schränkt sein dürfe, sondern in der auch andere gesellschaftliche Bereiche angemessen vertreten sein müßten. 83 Die Richtigkeit der Darstellung sollte demnach mit den selben Instrumenten sichergestellt werden, denen auch die ›fortschrittliche‹ marxistische Historiographie vertraute. Ungeachtet der Parallelität der methodischen Postulate unterschieden sich die Deutungen der japanischen Geschichte dennoch grundlegend. Die (vor­ nehmlich marxistische) Kritik, die Inoue Kiyoshi am prononciertesten vertre­ ten hat, konzentrierte sich vor allem auf die Interpretation der Rolle des Tennô. Inoue beanstandete, daß das Schulbuch eine tennôzentrische Geschichtsauf­ fassung verkörpere; die Schilderung des Krieges bleibe dagegen vage und ver­ schwommen und vermeide eine klare Zuweisung der Verantwortung.84 Für Inoue und andere marxistische Historiker setzte der Anspruch der Objektivität einen bestimmten politischen Standpunkt, den Standpunkt der Demokratie, voraus. Das Buch über den »Weg der Nation« aber bleibe einem absolutisti­ schen Gesellschaftsverständnis verhaftet. Es firmiere daher lediglich unter dem

81 Minshushugi kagakusha kyôkai u. Rekishigaku kenkyükai, Nihon no Rekishi, S. 1—4. 82 Das Schulbuch ist abgedruckt in Kaigp, Nihon kyôkasho taikei, S. 385-469. Die Autoren des Buches waren in der Regel Professoren der Universität Tokyo. Den umstrittenen Abschnitt über Moderne und Gegenwart hatte Ôkubo Toshiaki verfaßt. 83 Monbushô, Shiryô sengo nijunenshi, S. 128. 84 Inoue, Kuni no ayumi hihan, S. 10.

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Deckmantel der Objektivität, gegen die es de facto eklatant verstoße.85 Offen­ sichtlich differierte das Objektivitätsverständnis der marxistischen Geschichts­ wissenschaft von der Art und Weise, wie dieser methodischen Forderung in der traditionellen Historiographie entsprochen wurde. Allen Teilnehmern an der Debatte jedoch versprach die Betonung der Objektivität ihrer Darstellung be­ reits Distanz zur kontaminierten Vergangenheit und schien die erforderliche Revision des Geschichtsbildes sichern zu können.86 Daß ein erneutes Insistieren auf der historischen ›Wahrheit‹ schon eine geeig­ nete Grundlage darstellte, sich von einer verzerrten Geschichtsschreibung zu lösen, war auch unter westdeutschen Historikern eine verbreitete Vorstellung. Ja mehr noch, das Zurückgewinnen der Höhen Rankescher Objektivität schien selbst eine Katastrophe wie den Nationalsozialismus fortan verhindern zu kön­ nen. »Die Trübung, ja in manchen Fällen sogar die Zerstörung unseres Verhält­ nisses zur Wahrheit ist es also, die am Anfang des Entstehens jeder Art von Totalitarismus steht.«87 U m sich der Methoden zu versichern, die diese ge­ schichtliche Wahrheit wiederherzustellen in der Lage schienen, hatten Semina­ re und Vorlesungen zur Historiographiegeschichte in den späten vierziger Jah­ ren Konjunktur. Bis 1951 setzten sich zudem rund 40 Dissertationen mit der Geschichte der Geschichtswissenschaft auseinander. Die Beschäftigung mit Ranke stand dabei häufig im Vordergrund. 88 Auch in der Bundesrepublik war der Verweis auf die Objektivität des Stand­ punktes geeignet, ganz unterschiedlichen Interpretationen den Anschein der Legitimität zu verleihen. Paul Herres Rezension von Hans Kramers »Die Groß­ mächte und die Weltpolitik« für die Historische Zeitschrift mag als Illustration dieser Funktion des Objektivitätspostulats dienen. Der Verfasser habe nämlich, so heißt es dort, »zum Glück für die Darstellung der Versuchung widerstanden, unter dem Eindruck der großen Katastrophe von 1945 um jeden Preis neue Geschichtsbilder zu konstruieren.« Auf diese Weise sei »die erstrebte Objektivi­ tät ... weitgehend erreicht« worden - wobei deutlich wird, daß für Herre die Objektivität das Resultat eines bestimmten Geschichtsbildes war. »Es verdient hervorgehoben zu werden, daß er [Kramer] gegenüber den Einwendungen, die Mitarbeiter seines Manuskripts erhoben haben, an seiner Bismarck günstigen Auffassung festgehalten hat... und daß er selbst Hitler ohne eigentliches Res­ sentiment ruhig und sachlich würdigt, natürlich auch verurteilt. Auch die soge­ nannte Kriegsschuldfrage für den ersten Weltkrieg erfährt eine durchaus ge-

85 Vgl. lnoue et al., ›Kuni no ayumi‹ no kentô, bes. 29. 86 Ausfuhrlicher zu den japanischen Diskussionen um die historiographische ›Objektivitäti siehe Verf., Wahrheit. 87 H. Buchheim, Struktur, S. 180. 88 Blanke, Historiographiegeschichte, S. 650-653 nennt Vorlesungen, Aufsätze und Disserta­ tionen, die zwischen 1945 und 1951 die Geschichtsschreibung Rankes behandelten.

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rechte Beurteilung.« 89 In der Tatsache, daß die Interpretationen von drei neur­ algischen Momenten der deutschen Geschichte seine Zustimmung finden konnten, erblickte Herre bereits den Beweis für die Objektivität der Darstel­ lung. Von einer gänzlich anderen weltanschaulichen Warte aus wurde auch seitens der Ranke-Gesellschaft, einem Zusammenschluß von Historikern, denen eine gewisse Nähe zum Nationalsozialismus nachgesagt wurde und von denen eini­ ge der Entnazifizierung zum Opfer gefallen waren, die Forderung nach Objek­ tivität sehr vehement erhoben. Der Hamburger Ordinarius Gustav Adolf Rein hatte 1950 den Anstoß gegeben, eine »Gesellschaft für die Aufrechterhaltung der geschichtlichen Wahrheit« ins Leben zu rufen, der es nicht zuletzt darum gehen sollte, »die Ehre der deutschen Geschichte zu verteidigen«. 90 Die auf diese Initiative hin entstandene Ranke-Gesellschaft übernahm, in Reins Wor­ ten, »die Verpflichtung im Geiste des Altmeisters der deutschen Geschichtswis­ senschaft, einen Anstoß zu... einer wirklich sachlichen, wissenschaftlich wohl­ begründeten Behandlung« des Nationalsozialismus zu geben. 91 Seit 1953 gab die Ranke-Gesellschaft die Rezensionszeitschrift »Das Historisch-Politische Buch« heraus, die von dem ehemaligen SS-Mann Günther Franz geleitet wur­ de; dazu kam noch eine Reihe weiterer Publikationen, etwa die Jahrbücher der Ranke-Gesellschaft. Darin wurden bisweilen auch apologetisch-revisionisti­ sche Töne angeschlagen, wenn etwa Rein »die geschichtlich bisher unerhörte Mobilisierung der deutschen Volkskraft« als große Leistung des Nationalsozia­ lismus pries.92 Die methodische Grundlage eines revidierten deutschen Ge­ schichtsbildes bestand aber auch für Rein darin, »daß wir uns in der Erfor­ schung der Geschichte um die Wahrheit, um nichts als die Wahrheit abmühen«. 93 Unter den Historikerkollegen stieß dieser Versuch der Rehabili­ tierung belasteter Fachvertreter jedoch auf starke Vorbehalte.94 Zur Sicherung der wissenschaftlichen Objektivität entwickelten die Histori­ ker unterschiedliche Strategien. Auch um einem Revisionismus wie dem der Ranke-Gesellschaft vorzubauen, veröffentlichte der Schweizer Walther Hofer 1957 ein Kompendium mit dem Titel »Der Nationalsozialismus«, in dem in acht Kapiteln Dokumente zur Geschichte des Dritten Reiches versammelt waren, die Hofer jeweils kurz einleitete. Das Buch wurde gleich in einer Aufla­ ge von 50 000 Exemplaren gedruckt und entwickelte sich zum Verkaufsschla89 Herre, Rezension Kramer, S. 114. 90 Zitiert nach Asendorf, Was weiter wirkt, S. 31. 91 Rein, Einführung, S. 16. Vgl. auch die Forderung nach mehr Objektivität bei Rauschning, Thesen. 92 Rein, in: Jahrbuch der Ranke-Gesellschaft, S. 138. 93 Rein, Geschichte und Politik, S. 11. 94 Hofer, Der mißbrauchte Ranke, S. 547 nennt den »Beitrag der Ranke-Gesellschaft... völlig verfehlt«. Vgl. zur Ranke-Gesellschaft auch Asendorf, Was weiter wirkt; Buuck, Rolle; Schulze, Ge­ schichtswissenschaft, S. 201-206.

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ger; 1988 war dann sogar die Millionengrenze überschritten. Der Klappentext des Fischer-Verlages stellte vor allem den Wahrheitsgehalt der Sammlung in den Vordergrund: »Die Dokumente, die Walther Hofer ... zusammengestellt und kommentiert hat, sprechen eine beredte Sprache und sind unwiderlegbar.« Und auch Hofer, ein Schweizer Historiker, der seit 1952 an der Berliner Freien Universität lehrte, verstand seine Zusammenstellung in erster Linie als Beitrag zur Objektivität des Urteils über das Dritte Reich. »Die... Frage der Objektivi­ tät erledigt sich in den meisten Fällen ... von selbst. Wer den Gegenstand der Darstellung selbst dokumentarisch in Erscheinung treten oder zu Worte kom­ men läßt, der ist per definitionem objektiv.«95 Damit war der historische Maßstab entweder an die Autoren der Quellen selbst delegiert; der Nationalsozialismus schrieb dann seine eigene Geschichte. Oder aber die Objektivität erstreckte sich nur auf die Tatsachen, die Fakten; deren Verknüpfung zu einer kohärenten Geschichte blieb dann der Intuition des Historikers überlassen. Aber auch die Auswahl der Dokumente liefja be­ reits Gefahr, einseitig und subjektiv zu sein. Hermann Heimpel verwies in die­ ser Frage auf ein weiteres Kriterium, das die Zuverlässigkeit der Ergebnisse sichern sollte: die Narrativität der Geschichtsschreibung selbst schien ihm ein Instrument, das Wesentliche vom Irrelevanten zu scheiden. »Die Kunst der Erzählung, die viel geforderte und oft mißbrauchte literarische Kunst des Hi­ storikers, ist nichts anderes als die Fähigkeit, das Richtige zu erzählen, nämlich das Erzählenswerte auszufinden: mit ihr stellt sich die Schönheit der Sprache ein, während falsche Auswahl des Erzählten die Sprache ihren Dienst versagen läßt.«96 Heimpel, der sich hier einer Wortwahl bediente, die beinahe als frühe Variante eines ›linguistic turn‹ durchgehen könnte, hoffte so, die Geschichts­ wissenschaft wieder auf eine feste Grundlage zu stellen - ein Anliegen, das in der Nachkriegszeit im Mittelpunkt der methodologischen Anstrengungen der Historiker stand. Der vielstimmige Ruf nach Objektivität demonstrierte das verbreitete Be­ dürfnis, wieder einen »höheren Standort« (Gerhard Ritter) einzunehmen und jenseits politischer ›Vereinnahmung‹ der wissenschaftlichen Erkenntnis Gel­ tung zu verschaffen. Das Insistieren auf der ›Objektivität‹ der Geschichtsschrei­ bung war Teil des Versuches, die Glaubwürdigkeit der Disziplin durch metho­ dische Stringenz wieder auf ein sicheres Fundament zu stellen. Auf diese Weise hoffte man, nach Jahren der Geschichtsklitterung wieder zuverlässige Deutun­ gen der Vergangenheit gewinnen zu können. Die Heterogenität der nicht selten konkurrierenden Objektivitätsvorstellungen, die in den angeführten Beispie­ len zum Ausdruck kam, schwächte allerdings die Chance, mithilfe dieses Krite­ riums zu unangreifbaren Erkennmissen zu gelangen. Denn das Insistieren auf 95 Hofer, Der Nationalsozialismus, S. 7. Vgl. dazu auch die Rezension vonjäckel, Dokumente. 96 Heimpel, Entwurf, S. 180.

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Objektivität gehörte nicht selten selbst zu den Elementen, die der eigenen Deutung Autorität verschaffen sollten. Der bisweilen rhetorische C harakter dieser Appelle unterstrich, daß die Objektivität nicht immer nur die Vorausset­ zung der Interpretation war; der Effekt der Objektivität war vielmehr ein Pro­ dukt der historischen Repräsentation. Wie in den Worten Hermann Heimpels deutlich wurde, waren die methodischen Postulate, die die ›Richtigkeit‹ der Deutung gewährleisten sollten, häufig selbst ein Bestandteil der historiographi­ schen Darstellung. 97

2. Der Nationalsozialismus und der japanische Faschismus als Gegenstand der Forschung »Je tiefer und je radikaler das Nachdenken über die Geschichte ist,« so reflek­ tierte Hermann Heimpel im Bemühen um historische Objektivität, »je tiefer das Erlebnis der eigenen Erschütterung geht, desto bestimmter kann die Eini­ gung darüber gelingen, was von der deutschen Geschichte dem Streit der Mei­ nungen entzogen ist, was feststeht und etwa in die Geschichtsbücher der Kin­ der gehört.«98 Was gehörte also nun in die Geschichtsbücher (nicht nur die der Kinder)? Die deutschen Historiker waren sich am Ende der fünfziger Jahre einig, daß die Geschichte des Nationalsozialismus weitgehend erforscht war. »Es gibt vielleicht keinen Zeitraum der deutschen Geschichte, über den wir so viel wissen wie über die Jahre 1933 bis 1945. ... Gewiß mögen noch manche Einzelzüge korrigiert werden. Es gibt noch manche Figuren, über die wir gerne Genaueres wüßten. Aber was damals geschehen ist, steht doch in allem Wesent­ lichen fest.«99 So urteilte Karl Dietrich Erdmann, als er 1961 die Ergebnisse der Forschung Revue passieren ließ. In der Tat war die unmittelbar zurückliegende Epoche erstaunlich häufig von Historikern thematisiert worden. Das galt, mit Abstrichen, auch für die japanische Historiographie. In den folgenden Ab­ schnitten soll untersucht werden, wie die wissenschaftliche Auseinanderset­ zung mit Nationalsozialismus und Faschismus konkret aussah. Bereits bald nach Kriegsende setzten die ersten Versuche ein, die »Periode, die in unserem Geschichtsbewußtsein so quer liegt und sich so schwer in ein Gesamtbild unserer Vergangenheit einfügen will«, 100 wissenschaftlich zu be­ werten. Dabei wurden Fragen nach Sieg und Niederlage, nach Verbrechen und Widerstand, nach Tätern und Opfern, nach Ursachen und Folgen des Milita97 98 99 100

Vgl. dazuJelainch, Methode?; Novkk, Noble Dream. Heimpel, Entwurf, S. 186. Erdmann, Das Dritte Reich, S. 405. Erdmann, Das Dritte Reich, S. 405.

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rismus aufgeworfen. In der Zusammenschau der diversen Befunde entstand ein relativ kohärentes Bild, das erlaubte, den Nationalsozialismus und den japa­ nischen Faschismus in den Gesamtzusammenhang der nationalen Geschichte einzuordnen. U m 1960 konnte der Münchner Zeithistoriker Martin Broszat daher bereits einen vorläufigen Abschluß der Forschungen zum Dritten Reich verkünden: »Aus dem Abstand von 15 Jahren, die seit dem Ende der Hitlerzeit verflossen sind, hat es der Historiker von heute vergeichsweise einfach, über den C harakter und die Qualität des Nationalsozialismus verläßliche Aussagen zu machen. Die Geschichte selbst hat die Frage nach dem Wesen des National­ sozialismus durch massive und unumstößliche Fakten weitgehend beantwor­ tet. Einzelheiten mögen noch ungeklärt sein, das Gesamturteil wird sich da­ durch nicht wesentlich ändern.«101 Gerade in dieser Zeit aber, so lautet heute das Urteil der Forschung, sind wichtige Aspekte der Wirklichkeit des Dritten Reiches vernachlässigt worden. Die fünfziger Jahre gelten im Rückblick als Phase, in der eine kritische Aufar­ beitung der jüngsten Vergangenheit, insbesondere von Vernichtungspolitik und Genozid, versäumt worden sei.102 Diese Diskrepanz zwischen dem retro­ spektiven und dem zeitgenössischen Urteil ist der Ausgangspunkt der folgen­ den Betrachtungen. Eine Rekonstruktion des zeitgenössischen Diskurses soll dabei deutlich machen, daß nicht eine generelle Vernachlässigung der Ge­ schichte des Dritten Reiches, sondern eine besondere Schwerpunktsetzung zu der selektiven Analyse des Nationalsozialismus geführt hat, die im Nachhinein als ›Verdrängung‹ bezeichnet wurde. Die Auswahl der Themen und Untersuchungsfelder war dabei das Ergebnis einer Fragestellung, die mit einem gesellschaftlichen Bedürfnis korrespondier­ te und, so meine These, sich wie folgt zusammenfassen läßt: Wie ließ sich die als traumatisch erfahrene militärische Niederlage erklären und dabei gleichzeitig die Integrität der Nation bewahren, die von Verbrechen und Niederlage - das war zu zeigen - im Kern nicht affiziert war? Diese Ausgangsfrage diktierte so­ wohl Perspektiven als auch die Gegenstände der Forschung und ließ andere Themen als peripher und marginal erscheinen. Die folgenden Überlegungen zielen nicht darauf ab, die Geschichtsschreibung der fünfziger Jahre gegenüber der heute üblichen kritischen Bewertung zu rehabilitieren. U m jedoch nach­ vollziehen zu können, warum eine Behandlung sensibel erscheinender The­ men der damaligen Historikerschaft nicht so drängend erschien wie heute, er­ scheint eine Rekonstruktion des historiographischen Diskurses als geeigneter Zugang.

101 Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 5. 102 Vgl. Giordano, Zweite Schuld; Bosu›orth, Auschwitz; Iggers, Geschichtswissenschaft. Vgl. auch Kershaw, NS-Staat; Hildǽrand, Das Dritte Reich.

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a) Die Katastrophe Den westdeutschen Historikern, die sich in den ersten Jahren nach Kriegsende zur jüngsten Vergangenheit äußerten, erschien die Epoche des Nationalsozia­ lismus als ungeheure Katastrophe. Dieser Begriff der ›Katastrophe‹ erlebte in der Literatur, die sich mit dem Dritten Reich und seiner Stellung im Kontinu­ um der deutschen Geschichte befaßte, eine rasche Karriere.103 Das bekannteste und am häufigsten zitierte Beispiel dieser frühen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war sicherlich die Abhandlung über »Die deutsche Kata­ strophe«, die der nunmehr 84jährige und bereits seit 1932 emeritierte Friedrich Meinecke 1946 veröffentlichte. Das Buch wurde übrigens auch in Japan lebhaft rezipiert und lag bereits 1951 in einer Übersetzung vor.104 Für Meinecke war der Nationalsozialismus ein Produkt der »beiden Wellen des Zeitalters«, die er seit dem 19. Jahrhundert miteinander in Konkurrenz sah: die »Doppelrevoluti­ on«, also die französischen Ereignisse von 1789 und die Industrielle Revoluti­ on, hätten den Sozialismus und den Nationalismus als sich bekämpfende Ideo­ logien hervorgebracht; den Nationalsozialismus verstand Meinecke nun als den fehlgeschlagenen Versuch, diese grundlegende Dichotomie der Moderne zu überwinden. Damit erkannte er in der Genealogie des Dritten Reiches durchaus eine allgemeine, europäische Komponente. Gleichzeitig betonte Meinecke, in Deutschland hätten die beiden Wellen des 19. Jahrhunderts eine »ganz besondere Art gehabt«. Gemeint war der borussische Militarismus, der auch die bevorzugte Zielscheibe der populären und journalistischen Ursachen­ forschung war. Meinecke lokalisierte die Wurzeln des Dritten Reich also auch in der deutschen Vergangenheit. »Die Mitverantwortung und Schuld des deut­ schen Bürgertums an allem, was die Katastrophe und insbesondere das Empor­ kommen des Nationalsozialismus vorbereitet hat, ist nicht gering.« 105 Dieses Oszillieren zwischen einer europäisch-modernen und einer spezifisch deut­ schen Verortung des Nationalsozialismus markierte bereits die Grenzen, inner­ halb derer sich die Ätiologie des Dritten Reiches fortan bewegen sollte.

103 Vgl. etwa die von Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 47 genannten Titel. 104 In der Übersetzung von Yada Toshitaka hieß das Buch »Die deutsche Tragödie« (doitsu no higeki). Vgl. auch die Rezension von Kaneko Musashi 1952 in der Zeitschrift Shigaku zasshi (in der Meineckes Buch schon einmal 1949 rezensiert worden war). In diesem Flaggschiff der Disziplin, das auch nach 1945 vornehmlich konservativen Historikern als Forum diente, wurden regelmäßig Werke deutscher Historiker besprochen. In den ersten Nachkriegsjahren fanden sich etwa Rezen­ sionen vom Deutschen Historikertag in München (1951, Naruse Osamu) und von Werken Karl Griewanks (1951), Rudolf Stadelmanns (1952, Hayashi Kentarô), Gerhard Ritters (1953, Ni­ shimura Teiji), Friedrich Meineckes (1953 Kishida Tatsuya, 1954 Yada Toshitaka) sowie Über­ blicksdarstellungen zur westdeutschen Geschichtswissenschaft (1950 Shimada Yüjirô; 1953 und 1954 Hayashi Kentarô). 105 Meinecke, Katastrophe, S. 39.

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Auch in Japan war die Auffassung weit verbreitet, daß der Faschismus das Land in die Katastrophe gestürzt habe. Dies war auch die regierungsamtliche Lesart der Ereignisse. Die Regierung des Prinzen Higashikuni hatte am 28. August 1945, also zwei Wochen nach der Kapitulation, ein kollektives In-sichGehen der japanischen Bevölkerung eingefordert. Unter dem Motto einer »Gemeinsamen Beichte von 100 Millionen« (ichioku sôzange) sollte das japani­ sche Volk in seiner Gesamtheit die Verantwortung für Vergangenes auf sich laden - eine Verantwortung, von der lediglich der Tennô ausgenommen wur­ de. 106 Dieses Postulat unterschied sich diametral von den Forderungen der Opposition. Vor allem in der Frage der Schuldzuweisung waren die kritischen Historiker anderer Ansicht; nicht das Volk, sondern im Gegenteil der Tennô habe die Verantwortung für die Geschehnisse zu übernehmen. Einig waren sie sich mit der konservativen Übergangsregierung jedoch in der Einschätzung, daß die Periode zwischen 1931 und 1945 ein »dunkles Tal« (kurai tanima) in der Geschichte der Nation darstelle. 107 Unter den (zumeist marxistischen) japanischen Historikern, die sich zu ta­ gespolitischen Fragen äußerten, war allerdings die Bewertung der ›Katastrophe‹ nicht gleichermaßen von einer Rhetorik der Betroffenheit geprägt wie das in Deutschland der Fall war. Während etwa Gerhard Ritter und mit ihm die Mehrzahl der konservativen deutschen Historiker »das deutsche Volk am äu­ ßersten Tiefpunkt seines Schicksals angelangt« sah und die Aufgabe der Wissen­ schaft darin erblickte, dafür zu sorgen, daß dieses Volk »die Hoffnung nicht fahren lasse«,108 waren die Stellungnahmen japanischer Historiker in deutlich weniger pessimistischer Tonlage gehalten. Zwar stilisierten sich die Fachvertre­ ter in beiden Ländern zu Repräsentanten einer Opposition gegen das alte Re­ gime, die nun wieder frei zu Worte kommen könne. In Japan jedoch verbanden die marxistischen Historiker, die nun an die Universitäten zurückkehren konn­ ten und den historiographischen Diskurs bald beherrschten, ihre Kritik mit der Hoffnung auf eine tiefgreifende Reform der japanischen Gesellschaft. Aus die­ sem Grunde signalisierte das Ende des Krieges nicht nur ein Ende, sondern auch Befreiung und die Möglichkeit des Neuanfangs. Hani Gorô etwa inter­ pretierte das Kriegsende als den (mit internationaler Hilfe) erfolgreichen Ab­ schluß des 2000jährigen Kampfes, den die japanische Arbeiter- und Bauern­ schaft gegen die Unterdrückung geführt habe.109 In der Umbruchphase der unmittelbaren Nachkriegszeit, die von den sozialen Reformen der Besatzungs­ macht geprägt war, schien den marxistischen Historikern der Moment der re­ volutionären Umgestaltung gekommen. 106 107 108 109

Seraphim, Debate. Vgl. auch Gluck, Idea of Shôwa. G. Ritter, Europa, S. 7. Hani, Nihon jinmin no rekishi, S. 206.

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Diese euphorische Aufbruchsstimmung legte sich jedoch, als offenbar wur­ de, daß die Vorstellungen der amerikanischen Besatzungsstreitkräfte und der japanischen Marxisten nicht kongruent waren. Seit dem Verbot des General­ streiks im Februar 1947, spätestens aber seit den politischen ›Säuberungsmaß­ nahmen‹ gegen Kommunisten 1949 erschienen die Amerikaner nicht mehr als Befreier vom Joch des Faschismus, sondern als repressive Okkupationsarmee. Im Zuge des ›reuerse course‹ der Besatzungspolitik lag die Priorität seit Ende 1947 nicht mehr auf der demokratischen Umerziehung, sondern auf einer von An­ tikommunismus untermalten pragmatischen Wirtschaftspolitik. 110 Mit dem Ende des kurzen Flirts zwischen japanischen Kommunisten und amerikani­ schen Besatzern revidierten auch die marxistischen Historiker ihre Einschät­ zung des Kriegsendes. Als etwa die der Kommunistischen Partei nahestehende Historikerorganisation Rekishigaku kenkyükai 1953/54 - also bereits nach Aus­ bruch des Koreakrieges, der die antikommunistische Politik der USA noch ein­ mal unterstrich - eine fünfbändige Geschichte des Pazifischen Krieges vorlegte, hatte die Kapitulation von 1945 ihren befreienden C harakter schon weitgehend verloren. Die Niederlage wurde nun explizit als »Katastrophe« (hakyoku) und Japan als ein vom Feind besetztes Land bezeichnet - und diese Einschränkung der Freiheit mit den ›ungleichen Verträgen‹ kontrastiert, die Japan ein Jahrhun­ dert zuvor auf militärischen Druck mit Amerika hatte abschließen müssen. Hatte man im 19. Jahrhundert die territoriale Souveränität noch bewahren können, so erschien das Japan der Nachkriegszeit endgültig als amerikanische Kolonie: »Die schweren Lasten der Niederlage wurden sämtlich von der Masse des Volkes getragen. Die japanische Nation wurde wieder einmal zu einer un­ terdrückten Nation. Und diesmal ist die Unterdrückung nicht so sanft wie früher, sondern ist das Ergebnis der kolonialen Herrschaft des Imperialismus auf der höchsten Stufe. Statt Konsulargerichtsbarkeit nun die Unterdrückung durch Militärgerichtsbarkeit; statt begrenzten Niederlassungen nun die Unter­ drückung durch das ganze Land bedeckende Militärstützpunkte. Und zudem wird nicht mehr lediglich das Niveau der von Japan erhobenen Einfuhrzölle auf fünf Prozent limitiert, sondern die Unterdrückung besteht im vollständi­ gen Zugriff auf die gesamte Produktion und das Kapital.«111 Nicht nur in der traditionellen Nationalgeschichtsschreibung, sondern auch in der marxistischen Historiographie setzte sich im Laufe der fünfziger Jahre so die Interpretation durch, das Kriegsende 1945 habe in Japan eine Periode der Besatzung und Neokolonisation eingeläutet. Diese Vorstellung vom besetzten Land war auch unter westdeutschen Historikern -jedenfalls in den ersten Jah­ ren nach Ende des Dritten Reiches - durchaus präsent. Peter Rassow atmete auf, daß »wir den Uebergang von der Nazi-Besetzung zu der der Amerikaner 110 Siehe Schonberger, Aftermath; Ray Moore, Reflections. 111 Rekishigaku kenkyükai, Taiheiyô sensô shi, Bd. 1, S. 21.

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gut überstanden« haben. 112 Und auch Friedrich Meinecke hielt nun das »Zeit­ alter der äußeren Fremdherrschaft« für gekommen, dem ein »Zeitalter der in­ neren Fremdherrschaft« vorausgegangen sei. Allerdings war auch er für die Zukunft optimistisch, denn »wehrlos jetzt zu werden, heißt ... nicht für alle Zeiten wehrlos bleiben.«113 In diesen Formulierungen klingt bereits an, daß der Begriff der »Katastrophe« nicht in erster Linie das überwundene Gewaltregime und dessen menschenver­ achtende Verbrechen bezeichnete, sondern die militärische Niederlage und die Besetzung durch eine fremde Macht. So zählte für Hans Herzfeld nicht nur 1945, sondern ebenso 1918 zu den »Katastrophen der modernen deutschen Geschichte«.114 Auch Theodor Schieder sprach - mit charakteristischer Nuan­ cierung- über »die Ereignisse seit 1933 und die Katastrophe von 1945«.115 Und wenn Friedrich Meinecke über die »Aufgabe, Deutschland vor der größten Katastrophe seiner Geschichte zu bewahren«, räsonnierte, dann meinte er mit dieser »Katastrophe« explizit die Kapitulation vor den alliierten Streitkräften. Nachdem nun das Unvorstellbare eingetreten sei, sollten die Historiker »mit stolzer Trauer der Einheit und Macht gedenken, die es [ = Deutschland] vor­ dem genossen hat«.116 In Japan suggerierte bereits die gängige Periodisierung, daß erst 1945 mit der Kapitulation der Bruch mit den nationalen Traditionen eingetreten war. Diese Zäsur zwischen Vor- (senzen) und Nachkriegszeit (sengo) deklarierte alle Ereignisse vor dem 15.8.1945 zur Vorkriegszeit* und erhob so­ mit nicht den Beginn von Krieg oder Faschismus, sondern die erstmalige Beset­ zung des Landes zum Wendepunkt der japanischen Geschichte. Die meisten westdeutschen und japanischen Historiker waren sich also darin einig, daß es vor allem die eigene Nation war, die eine »Katastrophe« zu erdulden hatte. Die militärische Besetzung, die territorialen Einbußen oder auch der Verlust an nationaler Integrität motivierten die Bestürzung über die Ereignisse. Repräsen­ tativ für diese Perspektive waren die Worte, mit denen Walther Hofer seinen Dokumentarband über »Den Nationalsozialismus« beschloß: »Furchtbar ist in der Tat die geschichtliche Bilanz eines zwölfjährigen Wirkens nationalsoziali­ stischer Führung und Herrschaft. Nicht nur ganz Deutschland und halb Euro­ pa lagen in Trümmern, sondern das Erbe Bismarcks, die Einheit des Reiches wurde vertan, das Werk der preußischen Könige vernichtet, ja eine vielhundert­ jährige geschichtliche Entwicklung, nämlich die deutsche Kolonisation im Osten, rückgängig gemacht, die Soldaten der Sowjetunion stehen an der Elbe, und Europa sieht sich damit der größten Bedrohung seiner Geschichte ausge-

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Zitiert nach Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 66. Meinecke, Katastrophe, S. 151, 156. Ähnlich etwa auch Rothfels, Opposition, S. 22. Herzfeld, Deutschland und Europa, S. 191. Schieder, Die geschichtlichen Grundlagen, S. 164. Meinecke, Katastrophe, S. 147, 159.

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setzt. Der deutsche Name wurde mit den größten Verbrechen der Mensch­ heitseeschichte belastet und in ungeheurlicher Weise geschändet.« 117

b) Das Kuìturparadigma Zu den zentralen Aufgaben der Geschichtswissenschaft gehörte es fortan, diese ›Katastrophe‹ der eigenen Geschichte verständlich zu machen und ihre Ursa­ chen zu lokalisieren. In der Geschichtsschreibung wurde die gesamte Vergan­ genheit der Nation unter dieser Fragestellung neu evaluiert. Der Erklärungs­ modus, der sowohl in Westdeutschland als auch in Japan die weiteste Verbreitung fand, basierte auf einer Korrelation von nationalen Eigenschaften und Nationalsozialismus bzw. Faschismus. Die jüngste Vergangenheit erschien so als das Produkt einer kulturellen Substanz - oder aber als Kontaminierung dieser Substanz ›von außen‹. Aus dieser Perspektive war der Totalitarismus dann entweder in der deutschen bzw. japanischen Kultur bereits keimhaft angelegt, oder aber er war das Ergebnis eines kulturellen Imports: nur ein Rückgriff auf die ursprünglichen und reinen Traditionen der Nation versprach dann eine grundlegende ›Bewältigung‹ dieser Vergangenheit.

Maruyamas Faschismusanalyse In Japan waren die Bemühungen, zu einem Verständnis des Faschismus und seiner kulturellen Wurzeln zu gelangen, vor allem mit dem Werk Maruyama Masaos verbunden. Maruyama (1914-1996) hatte an der Juristischen Fakultät der Universität Tokyo studiert und war dort 1940 zum Assistenzprofessor avanciert. Während des Pazifischen Krieges war er in Hiroshima stationiert, wo er auch die Detonation der Atombombe miterlebte. Bei Kriegsende erst 31 Jahre alt, trat Maruyama in den folgenden Jahren mit einer Reihe von Aufsätzen an die Öffentlichkeit, in denen er eine tiefgreifende Analyse des japanischen Faschismus vorlegte. Die ungeheure Wirkung seiner Schriften machte ihn rasch zu einem der führenden Intellektuellen, die die Demokratisierung des Landes mit einer kritischen Aufarbeitung seiner Vergangenheit verbinden woll­ ten. Nach eigener Aussage waren seine Arbeiten »im Widerstand gegen eine Tendenz geschrieben, jene in den dreißiger und vierziger Jahren für jeden sicht­ baren krankhaften Phänomene als ›Unfall‹ oder Ausnahmeerscheinungen im Grab der Vergangenheit zu verschütten.« 118 Maruyamas Analysen richteten sich jedoch nicht nur gegen diese konservative Form der Apologetik, sondern setz117 Hofer, Der Nationalsozialismus, S. 367. 118 Zitiert nach Seifert u. Schamoni, Vorwort, S. 14.

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ten sich zugleich von der marxistischen Deutung des Faschismus ab, die in den ersten Nachkriegsjahren Konjunktur hatte.119 Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Frage, wie die Formation des Ultranationalismus (chôkokka shugi) zu verstehen sei, ohne einem sozioökono­ mischen Reduktionismus zu verfallen. »Es erweckt den Anschein, als beschäf­ tige man sich heute vorwiegend mit den sozialen und wirtschaftlichen Hinter­ gründen dieses Problems, während bisher eine Analyse der ideellen Struktur und der psychologischen Grundlagen des Ultranationalismus weder in Japan noch im Ausland ernsthaft in Angriff genommen wurde.« 120 In seinem einfluß­ reichen Aufsatz über die »Logik und Psyche des Ultranationalismus«, der im Mai 1946 in der Kulturzeitschrift Sekai erstmals erschien, unternahm Maruya­ ma daher eine Analyse der ideologischen Aspekte des Faschismus. Denn nur eine erfolgreiche Diagnose der Fehlentwicklung versprach eine nachhaltige Veränderung der japanischen Gesellschaft. »Diese Ideologie [ist] bis auf den heutigen Tag wie ein engmaschiges, unsichtbares Netz über unser Volk ausge­ breitet, und wir sind von diesem Trauma noch lange nicht erlöst.«121 Maruyama bezeichnete den Ultranationalismus der dreißiger und vierziger Jahre in der Regel als »Faschismus«, der sich dennoch von der analogen politi­ schen Formation in Europa deutlich unterschieden habe. Denn in Japan »brach sich der Faschismus, anders als in Italien oder Deutschland, nicht ›von unten‹ Bahn.«122 Statt dessen »wurde die faschistische Bewegung ›von unten‹ vollstän­ dig absorbiert von einer totalitären Formation ›von oben‹.« Diese besondere Form des Faschismus, die nicht auf eine revolutionäre Massenbewegung rekur­ rierte, sondern faschistische Energien in ein ›von oben‹ oktroyiertes autoritäres Regime inkorporiert habe, offenbarte in Maruyamas Augen den »vormodernen Charakter« des japanischen Faschismus. »Mit einem Wort, es war das Ausblei­ ben einer bürgerlichen Revolution, das diesen C harakter der faschistischen Bewegung bestimmte.«123 Das Ausbleiben einer bürgerlichen Revolution bestimmte für Maruyama also die spezifische ideologische Formation, die in Japan eine besondere Spiel­ art des Faschismus hervorgebracht habe. Maruyama betonte in seiner histori­ schen Tiefenanalyse, daß sich - anders als in Europa - eine Trennung in Öffent­ lichkeit und Privatsphäre in Japan nicht ausgebildet habe. Daher sei das 119 Zu Person und Werk Maruyamas vgl. etwa Renten, Democracy; Rudolf Müller, Japan; Ishida, Nihon no shakai kagaku. Vgl. auch das Sonderheft der Zeitschrift Gendai Shisô im Januar 1994 sowie Kasai, Maruyama. 120 Maruyama Masao, C hôkokka shugi, S. 17. Deutsche Übersetzung (auch im folgenden) zitiert nach Maruyama Masao, Logik, S. 38. 121 Maruyama Masao, Logik, S. 38. 122 Maruyama Masao, Ideology and Dynamics, S. 82 (zitiert nach einem vom Autor genehmig­ ten Zusatz in der englischen Übersetzung von Nihon fashizumu no shisô to undô). 123 Maruyama Masao, Nihon fashizumu no shisô to undô, S. 310, 319.

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verantwortungsvolle, freie Individuum der modernen Zivilgesellschaft in Ja­ pan nicht entstanden; stattdessen dominiere in allen gesellschaftlichen Berei­ chen eine Ideologie, die soziale Beziehungen als Elemente einer familialen Struktur definierte und sowohl die öffentliche als auch die private Sphäre über­ wölbe; Moral und Ethik hätten sich so nicht als eigenständige Normensysteme ausgebildet, sondern blieben an die hierarchische Gesellschaftsstruktur rückge­ bunden. Der japanischen Staatsdoktrin ermangele es somit »einer ... formalen Rechtmäßigkeit. ... Das staatliche Handeln [ist] keinerlei sittlichen, den Staat transzendierenden Normen unterworfen ..., weil es auf der Verkörperung sitt­ licher Werte im Souverän selber beruht«.124 Diese ideologische Struktur, die einer Ausdifferenzierung der Sphären von Macht und Recht im Wege stand, habe auch die Entstehung des modernen Individuums verhindert - und da­ durch auch die Möglichkeit, eine politische Bewegung revolutionär, ›von un­ ten‹ durchzusetzen. Im Gegensatz zu Deutschland, wo »der Führer Hitler nicht als Haupt einer Familie oder eines Clans betrachtet wurde, sondern als öffent­ liche Figur, kann das Beharren auf dem Familiensystem daher als besonderes Charakteristikum der japanischen faschistischen Ideologie bezeichnet werden. Und dadurch ist es auch verbunden mit dem Scheitern des japanischen Fa­ schismus als Massenbewegung.« 125 Diese Analyse, die einen welthistorischen Sonderweg (die ausgebliebene bürgerliche Revolution) dafür verantwortlich machte, daß sich Individuum und Subjektivität in Japan nicht hatten ausbilden können, war nach dem Krieg (und ist es noch heute) der einflußreichste Versuch, den Faschismus in Japan historisch zu verorten. Dabei wird deutlich, daß Maruyama den Faschismus als eine durchaus moderne Formation verstand, die ihrerseits das moderne Indivi­ duum, seine Selbständigkeit und Verantwortung, voraussetzt. In dieser Hin­ sicht traf sich Maruyamas Bewertung mit der marxistischen Orthodoxie, für die ja ebenfalls die moderne Gesellschaft eine Vorbedingung der Entstehung faschistischer Regimes darstellt. Von den zeitgenössischen Interpretationen aus marxistischer Sicht unterschied sich Maruyamas Werk jedoch durch die eklek­ tische Vielfältigkeit seines Ansatzes, der psychologische und sozialwissen­ schaftliche Erkenntnisse in seine Gesellschaftsanalyse integrierte. Das Beharren auf der Modernität des Faschismus hatte jedoch, bei genauerer Lektüre, bisweilen argumentative Kapriolen zur Folge, welche die weltge­ schichtliche Rückständigkeit als das vornehmlichste Objekt der Kritik erschei­ nen lassen. Schließlich war Japan ja, in Maruyamas Interpretation, nicht nur faschistisch geworden, weil es an der Moderne gescheitert war; sondern es war auch, gewissermaßen, am Projekt des Faschismus selbst gescheitert. Ein selbst124 Maruyama Masao, Logik, S. 45. 125 Maruyama Masao, Nihon fashizumu no shisô to undô, S. 275 (den Begriff »öffentlich« verwendet Maruyama auf deutsch).

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bewußtes, freies Individuum war ja für Maruyama die Bedingung einer faschi­ stischen Bewegung. Da diese Bedingung in Japan nicht erfüllt war, »war nur zu erwarten, daß die faschistische Ideologie in Japan ... qualitativ unterlegen und inhaltlich absurd (kôtô mukei) erscheint, wenn man sie mit Deutschland oder Italien vergleicht.«126 Maruyama lokalisierte in der japanischen, gleichermaßen fehlgeschlagenen Variante des Faschismus eine Irrationalität, die ihn von seinen europäischen Vorbildern absetzte. »Auch wenn der deutsche und japanische Faschismus die gleiche Spur der Zerstörung, des Chaos und Verfalls in der Welt hinterließen, gab es doch einen auffallenden Gegensatz: hier (in Deutschland) waren Denken und Handeln vollständig konsistent, und dort (in Japan) gab es zwischen beiden eine erstaunliche Kluft.«127 Nicht der verbrecherische C harakter des faschistischen Regimes (der ledig­ lich vorausgesetzt wurde) stand somit im Zentrum der Untersuchung, sondern der angebliche Modernitätsrückstand der japanischen Gesellschaft, der dazu geführt hatte, daß selbst der japanische Faschismus noch vormodern, irrational oder abgeleitet wirkte. Die Moderne in ihrer westeuropäischen Manifestation war hier offenbar der Maßstab der historischen Bewertung, aufgrund derer selbst die Periode des autoritären Militarismus in Japan noch als rückständig, gewissermaßen nicht modern genug erscheinen konnte. Wenn schon Faschis­ mus, dann richtig. Und aus dieser Perspektive waren die japanischen Militärs keine richtigen Faschisten: »Nimmt man den Militärs die Stütze durch die ... Autorität und reduziert sie auf ihre Person selbst, so verwandeln sie sich in schwächliche, geradezu mitleiderregende Kreaturen. Das ist der Grund, war­ um bei den Kriegsverbrecherprozessen Tsuchiya kreidebleich wurde und Fu­ rushima weinte, während Göring lauthals über seine Ankläger lachte. Wieviele der in Sugamo [in Tokyo] als Kriegsverbrecher angeklagten Männer von Rang und Würden mögen wohl ein ähnlich hochmütiges Wesen und dreistes Verhal­ ten zur Schau gestellt haben wie Hermann Göring?«128 Die vorbehaltlose Be­ wunderung der westlichen Moderne konnte so bisweilen bizarre Formen an­ nehmen. Dieser Operation lag ein Verständnis vom Westen‹ zugrunde, dessen theoretische Implikationen noch näher zu untersuchen sein werden. Jedenfalls konnte auf diese Weise Deutschland selbst nach 1945 noch als Muster dienen, das die Defizite der eigenen Kultur offenlegte. Selbst Hitlers Entscheidung zum Angriff auf Polen, die im September 1939 den Weltkrieg in Europa einlei126 Maruyama Masao, Nihon fashizumu no shisô to undô, S. 302. 127 Maruyama Masao, Gunkoku shihaisha no seishin keitai, S. 105. 128 Maruyama Masao, Logik, S. 48 (Tsuchiya und Furushima waren Kriegsverbrecher der Ka­ tegorie C, denen Übergriffe gegen alliierte Kriegsgefangene vorgeworfen worden waren). Ähnlich argumentiert Maruyama auch in dem Aufsatz Gunkoku shihaisha no seishin keitai, S. 113, wo er über die klaren Schuldbekenntnisse der nationalsozialistischen Führer schrieb: »Was für eine klare und deudiche Sprache! Das ist wahrhaftig die Klarheit eines Nihilisten, der bewußt den traditionel­ len europäischen Geist herausfordert.«

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tete, fungierte bei Maruyama noch als Maßstab, den japanischen Mangel an Subjektivität und Individualität zu demonstrieren: »Das Subjekt wird als aktiver und freier Akteur betrachtet, der sich nicht der Umwelt unterwerfen muß, sondern die bestehenden Umstände seinen eigenen Zielsetzungen unterwer­ fen kann. In diesem Sinne repräsentiert sie [die Entscheidung] einen deutli­ chen Ausdruck politischer Führungskraft. Der Einmarsch in Polen war somit eine überlegte Politik der Naziführung nach einem genauen Studium der stra­ tegischen Situation.« 129 Maruyamas Arbeiten richteten sich in erster Linie gegen ein ›Verdrängen‹ der jüngsten Geschichte und ihrer ideologischen Wurzeln. Gegenüber den Versu­ chen, durch ein Erinnern an die positiven Traditionen der japanischen Ge­ schichte den Faschismus auf den Status eines ›Unfalls‹ zu reduzieren, setzte Maruyama seine »Diagnosen des Mangels oder ... pathologische Analysen der japanischen geistigen Struktur bzw. Verhaltensformen«.130 Das kulturelle ›Erbe‹ war ihm kein Reservoir reiner und unverdorbener Eigenschaften des ›wahren‹ Japan, sondern selbst tief verstrickt in die ideologisch-sozialen Ursachen der jüngsten Katastrophe. Gegenüber Maruyamas einflußreicher Deutung, die die Besonderheit der japanischen Kultur in ihrem ›Mangel‹ erkannte, blieben die Bestrebungen, durch den Verweis auf die Tradition die innere Einheit der Na­ tion und einen festen Standpunkt wiederzugewinnen in der Minderheit; bis Mitte der fünfziger Jahre spielten sie in derjapanischen Geschichtswissenschaft so gut wie keine Rolle. 131

Kulturelle Tradition als Balsam In Westdeutschland dagegen war die Tendenz, die kulturellen Traditionen der Nation als ein Refugium zu betrachten, dem die Erschütterungen von Krieg und Nationalsozialismus nichts anhaben konnten, unter den konservativen 129 Maruyama Masao, Thought and Behaviour, S. 107 (zitiert nach einem vom Autor geneh­ migten Zusatz in der englischen Übersetzung von Gunkoku shihaisha no seishin keitai). 130 Zitiert nach Seifert u. Schamoni, Vorwort, S. 13. 131 Ein Beispiel für die konservative Strategie der Traditionssicherung war der Plan für eine »Bildungspolitik des Neuen Japan«, die das Erziehungsministerium bereits zwei Wochen nach der Kapitulation im September 1945 vorlegte. Dort wurde gefordert, Japan nun zu einem Kulturstaat zu machen und somit nach dem Scheitern der Machtpolitik sich auf das friedliche kulturelle Erbe zurückzuziehen (Vgl. Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 25). Ahnlich plädierte einige Jahre darauf der konservative Historiker Maruyama Jirô: »Wir müssen es als unsere ewigliche Mission und als unsere nationale Verantwortung betrachten, unsere nationale Kultur bekannt zu machen und da­ mit einen Beitrag zur Entwicklung der Welt zu leisten, und um unserer leuchtenden Zukunft willen die großen Errungenschaften unserer Vorfahren zu verbreiten.« (Maruyama Jirô, Nihon shiyôsetsu, S. 325).

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Historikern weit verbreitet. Für Friedrich Meinecke war nach 1945 die Besin­ nung auf die kulturellen Leistungen der Vergangenheit die einzige Möglichkeit der »Erneuerung«: »Die Orte, wo wir uns seelisch wieder anzusiedeln haben, sind uns gewiesen. Sie heißen Religion und Kultur des deutschen Geistes.« Die Wirkung der religiösen Sinnstiftung beobachtete Meinecke nach der Niederla­ ge in einer Kirche auf dem Lande: »Die Dorfbewohner drängten sich in ihr zusammen, und in den harten Arbeitstag des Bauern fiel wieder ein Schimmer von oben.« Daneben schien ihm aber auch eine kulturelle ›Erweckung‹ vonnö­ ten, und hier empfahl Meinecke, gleichsam unter Abzug der letzten 150 Jahre der modernen deutschen Geschichte, bei den deutschen Klassikern wieder an­ zuknüpfen. »Das Werk der Bismarckzeit ist uns durch eigenes Verschulden zer­ schlagen worden, und über seine Ruinen müssen wir die Pfade zur Goethezeit zurücksuchen.« 132 Auf diese Weise schien ihm der kulturelle Kern der Nation, der im Zuge der ›Katastrophe‹ zugrunde zu gehen drohe, bewahrt werden zu können: »In jeder deutschen Stadt und größeren Ortschaft wünschen wir uns also künftig eine Gemeinschaft gleichgerichteter Kulturfreunde, der ich am liebsten den Namen einer ›Goethegemeinde( geben möchte.«133 Auf dieser Grundlage erhoffte sich Meinecke die »Rettung des uns verbliebenen Restes deutscher Volk- und Kultursubstanz«. Schließlich sei die »tiefsinnige Gedan­ kendichtung von der Art der Goetheschen und Schillerschen ... vielleicht das Deutscheste vom Deutschen in unserem gesamten Schrifttum.«134 Diese nostalgische Sehnsucht nach kultureller Rückkehr, für die Meinecke nur ein prominentes Beispiel war, war in der Regel mit einer Suche nach den unbelasteten Ursprüngen der Nation verbunden.135 Dadurch schien sich be­ weisen zu lassen, daß ihre kulturelle Substanz dem Skandalon des Nationalso­ zialismus eigentlich diametral entgegenstand. Während also Maruyama den Faschismus der dreißiger Jahre ursächlich mit den kulturell-ideologischen Strukturen der japanischen Gesellschaft in Verbindung brachte, ließ sich bei der Mehrzahl der westdeutschen Historiker die entgegengesetzte Argumentation beobachten. Die deutsche Kultur wurde als heile Welt betrachtet, die mit der nationalsozialistischen Kontaminierung keinerlei Berührungspunkte aufweise. Diese Überzeugung schien dann nahezulegen, daß der Einbruch der Barbarei auf äußere Einflüsse zurückgeführt werden müsse. Für viele Historiker er­ schien die Französische Revolution als das historische Ereignis, das einen 132 Meineǽe, Kaustrophe, S. 164, 165, 168. 133 Auch die Schwierigkeiten, denen diese Form der nationalen Selbstvergewisserung begeg­ nen mochte, fanden bei Meinecke Berücksichtigung. »Aber wird das nicht, so mag man einwen­ den, als unerlaubter Wettbewerb mit der längst bestehenden, in Weimar beheimateten Goethege­ sellschaft ... aufgefaßt werden? Ich hoffe nein...«(Meinecke, Katastrophe, S. 174). Dieses Risiko war es aber offenbar wert. 134 Meineǽe, Katastrophe, S. 174, 8, 176. 135 Vgl. zuchMeinecke, Goethe und die Geschichte; W. Mommsen, Die politischen Anschauun­ gen Goethes; Teüenbaǽ, Goethes geschichtlicher Sinn.

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grundlegenden Traditionsbruch markiert habe und dessen Schockwellen auch in der deutschen Gesellschaft spürbar seien. »Es wird jedenfalls künftig einmal die Frage geklärt werden müssen, ob und wieweit die Beziehung zwischen die­ sen beiden historischen Phänomenen der französischen und der nationalsozia­ listischen Revolution nicht nur analogisch, sondern auch genealogisch zu ver­ stehen sei.«136 Schon Meinecke hatte in seiner »Deutschen Katastrophe« sowohl genuin deutsche als auch europäische Wurzeln des Totalitären freigelegt und damit die Grenzen der Debatte abgesteckt. Dies waren die beiden Pole, zwi­ schen denen die historische Argumentation in der Regel flottierte. Zumeist bedienten sich die Historiker beider Argumente, die keine absoluten Gegensät­ ze waren, sondern komplementär eingesetzt werden konnten. Die Fahndung nach den außerdeutschen Ursachen des Nationalsozialismus wurde besonders prononciert von Gerhard Ritter aufgenommen. »Alle Welt ist heute eifrig be­ müht, nach den ›Wurzeln des Nationalsozialismus‹ in der deutschen Geschich­ te zu fahnden. Ein höchst notwendiges Geschäft ... Aber es würde erfolglos bleiben, wollten wir bei dieser Suche unseren Gesichtskreis auf Deutschland beschränken. Nicht irgendein Ereignis der deutschen Geschichte, sondern die große französische Revolution hat den festen Boden politischer Traditionen Europas entscheidend aufgelockert.«137

Der Nationalsozialismus als Produkt der Moderne In den auch bei anderen Fachvertretern immer wiederkehrenden Verweisen auf die bürgerliche Revolution in Frankreich manifestierte sich jedoch nicht die Xenophobie, sondern die Modernitätsskepsis der konservativen deutschen Hi­ storiker. Denn wie Ritters Überlegungen illustrierten, schien der historische Ursprung des Nationalsozialismus nicht nur jenseits der deutschen Grenzen zu liegen, sondern auch mit dem Beginn der Moderne verknüpft zu sein. Der Rückgriff auf die ›äußeren Einflüsse‹ wurde so gewissermaßen durch ein zeitli­ ches Argument supplementiert. Die Französische Revolution stand somit nicht nur für eine ›fremde‹ Kultur, sondern auch für den Einfall der Moderne und all ihrer Begleiterscheinungen in die europäische Geschichte. Dazu zählten - etwa nach Auffassung Gerhard Ritters, der in seinem Buch über »Europa und die deutsche Frage« von 1948 diese Sichtweise paradigmatisch formulierte - einer­ seits der Prozeß der Säkularisierung und andererseits die demokratische Bewe­ gung als Ergebnis der Industriellen Revolution.138 Mit diesen beiden Entwick136 Erdmann, Anmerkungen, S. 91. 137 G. Ritter, Europa, S. 51. 138 Ahnlich hatte sich Friedrich Meinecke geäußert; auch für ihn waren die »beiden Wellen des Zeitalters« (Nationalismus und Sozialismus) das Resultat der französischen und der Industriellen

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lungen sind bereits die Elemente benannt, auf die fast jeder Versuch der konser­ vativen Ursachenforschung in Deutschland zurückgriff. »Mit der Umwand­ lung des alten Obrigkeitsstaates zum demokratischen Volksstaat und mit der Verdrängung der Kirchen aus dem Mittelpunkt des Lebens war grundsätzlich der Weg zum modernen Totalstaat eröffnet.«139 Innerhalb des konservativen Spektrums konnten die Akzente dabei unterschiedlich gesetzt werden. Die im Rahmen eines katholischen Weltbildes argumentierenden Historiker betonten vor allem die Folgen der Säkularisierung und machten das »Jahrhundert ohne Gott« für den Nationalsozialismus verantwortlich.140 Ritter hingegen legte das Schwergewicht seiner Argumentation auf die Durchsetzung einer demokrati­ schen Regierungsform. In der Demokratie sei der Volkswille souverän, unan­ fechtbar, und somit total; die Demokratie trage mithin den Keim des Totalita­ rismus bereits in sich. Im Liberalismus, der den ›Volksmassen‹ die Möglichkeit der politischen Partizipation einräumte, erkannte Ritter vor allem eine Gefahr. »In der Tat: was sollte das Massenmenschentum der modernen Industriegesell­ schaft mit den liberalen Freiheitsrechten anfangen...? Diese Arbeiter und Kleinbürger, Millionen abhängiger Existenzen,« seien jedenfalls nicht in der Lage gewesen, die faschistische Bedrohung zu erkennen.141 Diese Äußerungen gründeten auf ein tiefes Ressentiment gegenüber der Moderne, das als Kennzeichen der westdeutschen Historikerschaft der fünfzi­ ger Jahre betrachtet werden kann. Die Furcht vor den Folgen der technisch­ industriellen Revolution, die in Warnungen vor ›Vermassung‹ und Traditions­ verlust zum Ausdruck kam, war weit verbreitet.142 Gleichzeitig, und daraufhat Jean Solchany in einer Studie über die intellektuelle Atmosphäre der späten vierziger Jahre in Westdeutschland aufmerksam gemacht, versprach vielen Konservativen aber nach dem Krieg die Demokratie westlicher Provenienz der einzige wirksame Schutz gegenüber dem sowjetischen Totalitarismus zu sein. Im Angesicht der kommunistischen Bedrohung erschien die von den westli­ chen Alliierten garantierte demokratische Regierungsform als letzte Alternative zur unumschränkten Herrschaft des ›Massenmenschen‹. Die konservativ in­ terpretierte Demokratie fungierte so als Garantie gegenüber dem totalitären Potential, welches der Demokratie grundsätzlich innezuwohnen schien. Vor diesem Hintergrund muß auch die Konjunktur der Totalitarismustheorie in Revolution. Vgl. Meineǽe, Katastrophe, S. 9-17. Den Nationalismus beurteilte Ritter allerdings positiver als Meinecke. 139 G. Ritter, Europa, S. 43. 140 Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott. Alfred Müller-Armack (1901-78) lehrte als Nationalökonom und Soziologe an den Universitäten in Münster und Köln. Nach 1945 wurde er zu einem Meinungsfìihrer des deutschen Neoliberalismus (und prägte u.a. den Slogan ›Soziale Marktwirtschaft‹). 141 G. Ritter, Europa, S. 177. 142 Vgl. dazu Chun, Das Bild der Moderne.

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den fünfziger Jahren eingeordnet werden. Gewiß: der totalitarismustheoreti­ sche Ansatz diente immer auch der Relativierung der Monstrosität der natio­ nalsozialistischen Diktatur; die Gleichsetzung von Stalinismus und ›Hitleris­ mus‹ schien der ›schlimmen Vergangenheit‹ des Dritten Reiches einiges von ihrem Stachel zu nehmen. Auf der anderen Seite dokumentierte die Vorherr­ schaft der Totalitarismustheorie aber auch eine Versöhnung des Antimoder­ nismus der dreißiger Jahre mit der Demokratie der fünfziger Jahre. Die anti­ demokratische Komponente der Furcht vor der Moderne ließ sich auf die ›Ubertreibungen‹ des Prinzips der Volkssouveränität in der sozialistischen Welt projizieren. Auf diese Weise konnte sich auch eine modernitätsskeptische Grundhaltung mit der konservativen Demokratie der Adenauerära arrangie­ ren.143 Der Nationalsozialismus als Produkt der Moderne - das war also die Gegen­ position zu einer Deutung, die (wie etwa Maruyamas Analyse des japanischen Faschismus) die Diktatur als Resultat struktureller Defizite der eigenen Kultur interpretierte. Die Korrelation von Moderne mit totalitärer Herrschaft kom­ plementierte die Bemühungen von Meinecke und anderen, sich der positiven deutschen Traditionen zu versichern und so die »Katastrophe« zu überwinden. Die Durchsetzung der Totalitarismustheorie in den fünfziger Jahren markierte die vorläufige Abwendung von der Suche nach den spezifisch ›deutschen‹ Ur­ sachen des Nationalsozialismus. Dabei fällt auf, daß in der moderneskeptischen Perspektive zahlreicher deutscher Historiker die Durchsetzung der ›Moderne‹ nach wie vor in den Metaphern einer Invasion beschrieben wurde. Die Lokali­ sierung des Beginns der Moderne in der Französischen Revolution erschien auf diese Weise nicht nur als zeitlicher, sondern auch als ein geographischer Be­ fund. Wenn der Nationalsozialismus also als Produkt der Moderne anzusehen war, dann hieß das dieser Logik zufolge auch, daß seine Wurzeln definitiv au­ ßerhalb der deutschen Geschichte zu suchen wären. Gerhard Ritter etwa war daher bemüht, den europäischen (und das hieß nicht-deutschen) Charakter der Gefahren deutlich werden zu lassen, die die Moderne mit sich bringe. Auch die geistesgeschichtliche Entstehung von Antisemitismus und Rassismus suchte er in außerdeutschen Territorien zu verankern. Die Rassentheorie etwa sei »durch den Franzosen Gobineau« begründet worden; und selbst wenn Ritter »die pro­ phetische Gestalt Nietzsches« anführte, betonte er, daß dieser »sich selbst als Europäer, nicht als Deutscher empfand.« Und schließlich sei selbst Hitler ein Immigrant gewesen. Die Kontaminierung der deutschen politischen Kultur folgte für Ritter (und nicht nur ihn) der Logik des Imports. »Auch der Antise­ mitismus hat vor 1914 keine politisch bedeutende Rolle in Deutschland ge­ spielt ... Hitler hat ihn aus dem gärenden Völkerchaos des Donauraums nach

143 Solíhany, C omprendre, S. 298ff.

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Deutschland eingeschleppt«.144 Mit anderen Worten: das ideologische Funda­ ment der nationalsozialistischen Verbrechen liege nicht in Deutschland, son­ dern in Europa. »Im Kern seines Wesens« also, so lautete Ritters Schlußfolge­ rung, »ist der Nationalsozialismus gar kein originaldeutsches Gewächs.«145

Der japanische Faschismus als kultureller Import Das Eindringen einer fremden Kultur als Auslöser des moralischen Nieder­ gangs: dies war in der Bundesrepublik ein einflußreicher Erklärungsmodus. In Japan hingegen hatte, wie wir gesehen haben, Maruyamas Betonung der inter­ nen kulturellen Wurzeln des Faschismus die breiteste öffentliche Resonanz. Aber auch in der japanischen Historiographie gab es Ansätze, die negativen Aspekte der eigenen Geschichte als Folge des Einflusses von außen zu begrei­ fen. Einer der Vertreter dieser These vom importierten Militarismus war der konservative Historiker Tsuda Sôkichi (1873-1961). Tsudas Werk war der Re­ konstruktion der autochthonen japanischen Volkskultur gewidmet, die seiner Meinung nach auf der einheitlichen ethnischen Basis der Nation beruhte. Ja­ pan sei eben nicht, wie die imperialistische Ideologie der Kriegszeit verkündet hatte, ein Mischvolk (das daher auch legitime Ansprüche auf Gebiete in Korea oder China hegen dürfe), sondern von Anfang an eine einheitliche Nation ge­ wesen. Diese ethnische Homogenität sei auch der Grund dafür, daß die japani­ sche Geschichte nicht von Unterwerfung und repressiver Politik gekennzeich­ net, sondern inhärent friedlich verlaufen sei. Als Inselvolk (shimaguni) hätten die Japaner zudem nur eingeschränkte Beziehungen zu anderen Völkern unter­ halten und daher auch keine expansiven Absichten entwickelt. In der Figur des Tennô erblickte Tsuda die Inkarnation des friedlichen C harakters der japani­ schen Nation.146 Aus dieser Perspektive erschienen die aggressiven und imperialistischen Triebkräfte in der japanischen Geschichte als Ergebnis der jahrhundertelangen Anleihen bei der chinesischen Kultur. Der kriegerische C harakter, den Tsuda auch in der Expansionspolitik des Zweiten Weltkrieges am Werke sah, war für ihn somit ein Ergebnis des kulturellen Imports und mit dem japanischen Na­ tionalcharakter nicht vereinbar. Er sah in den übernommenen Elementen der chinesischen Kultur, etwa der Schrift oder dem Buddhismus, eine Form des 144 G. Ritter, Europa, S. 115-117. 145 G. Ritter, Carl Goerdeler, S. 90. Ähnlich ders., Geschichte als Bildungsmacht, S. 32. 146 Diese Argumentation brachte Tsuda viel Gegnerschaft ein. Während des Krieges galt seine Auffassung vom friedliebenden, rassisch einheitlichen japanischen Volk als oppositionelle Hal­ tung, die Tsuda für einige Zeit sogar ins Gefängnis brachte. Nach dem Krieg machte ihn sein Eintreten für die Beibehaltung des Tennôtums in der marxistischen Historikerschaft zur persona non grata. Vgl. Kadowaki, Tsuda Sôkichi, mit weiteren Angaben.

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Herrschaftswissens, das mit der Realität des japanischen Volkes nichts zu tun habe. Im Gegenteil: die chinesische Kultur sei geradezu ein Instrument der Unterdrückung des japanischen Volkes durch die sinisierte herrschende Schicht. Diese fremde Kultur werde unter anderem durch den Gebrauch der Schriftzeichen (kanji), die Japan seit dem 6. Jahrhundert von China übernom­ men hatte, transportiert. Tsuda postulierte daher, als Ausdruck seiner Sehn­ sucht nach dem ›reinen Japan‹, die Abschaffung der chinesischen Schriftzei­ chen.147 Die Abschaffung der chinesischen Schriftzeichen - das nur in Parenthese wurde auch von einigen marxistischen Historikern gefordert. In einem Aufsatz, den Hani Gorô im Januar 1946 in der akademischen Zeitung der Universität Tokyo veröffentlichte, wurde ebenfalls die Forderung nach Beendigung der graphischen chinesischen Vorherrschaft erhoben. Hani erkannte im Gebrauch der unzähligen komplizierten Schriftzeichen einen Überrest des Feudalismus, der das japanische Volk von einer genuinen Demokratisierung abhalte. Ganz ähnlich wie Tsuda diskreditierte auch Hani die chinesische Kultur als Herr­ schaftswissen: »Die Kultur ist ein Produkt zum Nutzen der herrschenden Schichten, und daher ist diese Kultur auch feudalistisch.... Die komplizierten chinesischen Schriftzeichen (kanji) dienen der feudalistischen Herrschaft und haben mit dem Volk nichts zu tun.«148 Ungeachtet dieser parallelen Argumen­ tation unterschied sich aber die Stoßrichtung der Traditionskritik. Auch wenn eine nationale Komponente dem Ansatz von Hani nicht ganz fremd war, so war sein Plädoyer gegen den chinesischen Einfluß vornehmlich eine Stellungnah­ me für die Moderne. Anders als für den nativistisch argumentierenden Tsuda waren für den Marxisten Hani die Schriftzeichen nicht so sehr fremd, sondern vor allem alt, und das hieß: rückständig. Und während Tsuda die kanji durch die genuin japanische Silbenschrift (hiragana) ersetzen wollte, favorisierte Hani die Übernahme des (in seinen Augen) universalen Ausdrucksmittels der Moderne, der lateinischen Schrift.149 Die Kontrastierung des friedliebenden japanischen Volkes mit einer aggressi­ ven, von ›außen‹ übernommenen (chinesischen) Kultur war jedoch nicht nur eine konservative Strategie, sondern sie gehörte auch zum Repertoire des mar­ xistischen Diskurses. Ungeachtet der internationalistischen Rhetorik des Hi­ storischen Materialismus blieb somit die Nation für die Geschichtsschreibung 147 Diese Überlegungen zeigen, wie viel Tsudas Arbeiten den Studien zur Folklore und Ge­ schichte des einfachen Volkes von Yanagita Kunio (1875-1962) verdanken. Vgl. Oguma, Tan'itsu, S. 271-296. 148 Hani, Zinmin no ho o muke!, S. 213. 149 Hani ging in seinem Aufsatz mit gutem Beispiel voran und veröffentlichte seine Polemik in lateinischen Buchstaben (rômaji). Zur Verschiebung der Argumentation-Ablehnung der Schrift­ zeichen nicht aufgrund ihrer ›Fremdheit‹, sondern aufgrund ihrer mangelnden Modernität - v g l . unten die Überlegungen zur ›Temporalisierung des Raumes«.

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ein positiver Referenzpunkt, und es schien zu den Aufgaben des Historikers zu gehören, ihren kulturellen Kern zu bestimmen. Vor allem nach der ›nationali­ stischen Wende‹ der kôzaha-Historiographie um 1950/51 gewann die These vom unterdrückten, neo-kolonialisierten japanischen Volk erneut an Bedeu­ tung. Vor dem Hintergrund des Koreakrieges und den Plänen einer Wiederbe­ waffnung suchten marxistische Historiker nach den friedlich-antimilitaristi­ schen Traditionen der japanischen Geschichte. Toma Seita etwa beschrieb in seiner Studie zur japanischen Antike ein einheitliches Volk, das sich friedlich entwickelt habe und aller expansiven Gelüste abhold gewesen sei. Erst unter dem Eindruck des Kulturimports aus China, der den Herrschenden als Instru­ ment zur Unterdrückung des Volkes gedient habe, sei auch in Japan eine mili­ taristische, ausgreifende Politik entwickelt worden. Nicht anders als bei Tsuda Sôkichi gehörte die verabsolutierte Kluft zwischen Volk und Herrschenden sowie zwischen Japan und C hina nach 1951 auch im marxistischen Diskurs bisweilen zu den Stützen einer Argumentation, die die kulturellen Wurzeln des Militarismus und des Zweiten Weltkrieges aus Japan heraus auf das chinesische Festland verlegte. 150 Auf der Suche nach den Ursachen des Nationalsozialismus und des japani­ schen Faschismus spielte das ›Kulturparadigma‹ eine wichtige Rolle und gehör­ te zu den zentralen Elementen des historiographischen Diskurses. Wie wir gesehen haben, ließ sich dieser Erklärungsmodus von Historikern unterschied­ licher politischer couleur auch in unterschiedlicher Art und Weise instrumenta­ lisieren. In der japanischen Geschichtsschreibung war die Vorstellung, daß die kulturellen Traditionen der eigenen Nation spezifische Defizite aufwiesen (etwa bei Maruyama Masao), die für den Faschismus verantwortlich zu machen seien, bis Mitte der fünfziger Jahre sehr viel weiter verbreitet als in der Bundes­ republik; viele konservative westdeutsche Historiker erblickten im Rückgriff auf die positiven Aspekte der nationalen Kultur vielmehr die Grundlage eines politischen Neuanfangs. Daneben konnte aber auch (zum Teil sogar komple­ mentär) die Überzeugung treten, erst äußere Einflüsse hätten die eigenen kul­ turellen Traditionen kontaminiert. Gemeinsam war allen diesen Erklärungs­ ansätzen die Annahme, daß die Geschichte als das Produkt der im Prinzip eigenständigen Entwicklung von Nationen aufzufassen sei, die wiederum in deren jeweiligen kulturellen C odes tendenziell bereits angelegt sei.

150 Toma, Nihon minzoku; ders., Kodai. Vgl. dazu auch Oguma, Wasurerareta.

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c) Opfer und Widerstand Verläßt man nun das Feld der Ursachenforschung und wendet sich den Analysen von Nationalsozialismus und Faschismus in den fünfziger Jahren zu, dann läßt sich hier ein Argumentationsmuster beobachten, das mit dem Kulturparadigma gut zu vereinbaren war (insbesondere mit der Deutung des Faschismus als Produkt eines fremden kulturellen Erbes). Denn im historiographischen Diskurs der frühen Nachkriegszeit war die Vorstellung beinahe allgegenwärtig, daß die eigene Nation als das eigentliche Opfer der gerade überwundenen totalitären Regierungsformen zu betrachten sei. In den Untersuchungen zur Zeitgeschichte spielte daher die Kluft zwischen Volk und Regierung eine große Rolle, die zu beweisen schien, daß die Integrität der Nation von den belastenden Erkenntnissen über den Charakter der jüngsten Vergangenheit im Grunde nicht affiziert war.

Deutschland und Japan als ›besetzte Länden Die Differenzierung zwischen arglosem Volk und einer verbrecherischen Clique von Militaristen - eine Dichotomie, die auch durch die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Tokyo zusätzlich festgeschrieben worden war - war in der deutschen und japanischen Geschichtswissenschaft der ersten Nachkriegsjahre über die unterschiedlichen Schulen und Fraktionen hinweg Allgemeingut. So beharrte etwa Gerhard Ritter auf der Unterscheidung »zwischen dem deutschen Volk und seiner nationalsozialistischen Führung, zwischen einer besseren Vergangenheit und einer durch die Revolution von 1933 tief verderbten Gegenwart«. 151 Und Friedrich Meinecke zog aus dieser Unterscheidung Kraft für eine nationale Renaissance. »So erschütternd und beschämend nun aber auch die Tatsache ist, daß es einem Verbrecherklub gelingen konnte, das deutsche Volk zwölf Jahre hindurch zu seiner Gefolgschaft zu zwingen und einem großen Teile dieses Volkes den Glauben beizubringen, einer großen ›Idee‹ zu folgen, so enthält doch gerade diese Tatsache auch noch ein Element von Beruhigung und Trost. Das deutsche Volk war nicht etwa von Grund aus an verbrecherischer Gesinnung erkrankt, sondern litt nur an einer einmaligen schweren Infektion durch ein ihm beigebrachtes Gift.«152 Ähnlich lautete die Argumentation in der japanischen Geschichtsschreibung. Schon in der offiziellen Diktion der amerikanischen Besatzungmacht war von »crimes committed by the militarists against the Japanese people« die Rede gewesen, deren größtes Opfer die Integrität der japanischen Nation ge151 G. Ritter, Europa, S. 7. 152 Meinecke, Katastrophe, S. 140. Ähnlich auch Hqfer, Nationalsozialismus, S. 81.

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wesen sei. »The crimes of the militarists have not only visited untold suffering and misery upon the Japanese people, but have succeeded in destroying the respect which Japan formerly enjoyed in the eyes of the world.«153 Diese Trennung zwischen zahlreichen Opfern und einigen wenigen Tätern war auch in der Geschichtswissenschaft, sowohl unter konservativen als auch unter kritischen Historikern, rasch Konsens. Gerade auch in der marxistischen Historiographie wurden die Japaner häufig zu einem unterdrückten Volk stilisiert, das somit auch als Triebkraft der zukünftigen Geschichte nicht diskreditiert war. In der »Geschichte des Pazifischen Krieges«, die vom marxistischen Historikerverband Rekishigaku kenkyûkai herausgegeben wurde, hieß es programmatisch: »Unter den Kriegen des modernen Japan war nicht ein einziger, der die aufrichtige Unterstützung des japanischen Volkes gewinnen konnte. Das Volk hat die Invasionskriege gehaßt und war gegen sie. Nur wurde es von den Herrschenden unterdrückt, und der Weg, diese Meinung politisch durchzusetzen, war ihm verschlossen.« 154 Das »gesamte japanische Volk« war, so sah es Inoue Kiyoshi, vom »militärischen Apparat... in ein großes Militärgefängnis gesperrt worden.«155 Diese Hypothese vom unterdrückten Volk gab sozusagen die Parameter vor, innerhalb derer sich die meisten Untersuchungen zu Nationalsozialismus und Faschismus bewegten. Die ›Machtergreifung‹ Hitlers sowie die Regierungsübernahme der japanischen Militaristen waren dieser Logik gemäß nicht auf die Preisgabe der Demokratie durch die Bevölkerung zurückzuführen, sondern wurden als Usurpation der Herrschaftsgewalt interpretiert. Nie, so lautete das Argument, habe sich der Faschismus in Deutschland oder Japan allgemeiner Zustimmung erfreuen können. »Es verdient festgehalten zu werden,« so insistierte Walther Hofer, »daß auch in dieser letzten, noch halbwegs freien Wahl [im März 1933] die Mehrheit des deutschen Volkes nicht bereit war, Hitler uneingeschränkte Vollmacht für die Lenkung der deutschen Geschichte zu geben.«156 Auch der marxistische Historiker Hani Gorô betonte, daß das japanische Volk bis zuletzt den Versuch unternommen habe, das parlamentarische System zu retten.157 Diesen im Kern also demokratischen Völkern sei, nach dieser Lesart, der Faschismus gegen ihren Willen aufgezwungen worden. 158 Bernhard Vollmer 153 GHQ, Historical Articles, S. 1, 2. 154 Rekishigaku kenkyûkai, Taiheiyô sensô shi (Band 1), S. 1. 155 Inoue, Bôkansha to giseisha, S. 897. 156 Hofer, Nationalsozialismus, S. 44. Ähnlich auch Rothfeh, Opposition, S. 23. 157 Hani, Nihon jinmin, S. 173. 158 Damit soll nicht behauptet werden, daß diese Perspektive jeglicher Logik entbehrte. Die Frage nach Opfern und Tätern wird bis auf den heutigen Tag kontrovers diskutiert, wie etwa die Goldhagen-Kontroverse oder die Debatten um die Wehrmachtausstellung kürzlich illustrierten. Diese Rekonstruktion des historiographischen Diskurses will jedoch deutlich machen, daß in den fünfziger Jahren die Opferperspektive so ubiquitär war, daß sie die Analyse der jüngsten Vergan-

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etwa sprach in einer von Hans Rothfels »in besonderem Maße« geförderten Untersuchung zur »Volksopposition« in den dreißiger Jahren vom Dritten Reich als einer Zeit »der ›inneren Besetzung‹ Deutschlands«. 159 Diese Überzeugung führte dazu, daß den Repressionsmechanismen des autoritären Staates in der Forschung besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Für die Bundesrepublik hieß das: wo der Nationalsozialismus nicht ganz auf die Person Hitlers reduziert wurde (»die überragende, zentrale Figur in jener Epoche deutscher Geschichte« 160 ), galt das Augenmerk der ›Gleichschaltung‹ sowie den exekutiven Gewalten des nationalsozialistischen Staates, vornehmlich der SS. In der Tat war die Beschäftigung mit den inneren Herrschaftsstrukturen des Dritten Reiches in den frühen fünfziger Jahren stark verbreitet. Diese Schwerpunktsetzung läßt sich beispielsweise anhand der Beiträge zu den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte nachweisen, in der seit 1953 die ersten quellengesättigten U n tersuchungen zu Einzelaspekten des Dritten Reiches erschienen. In den ersten Jahrgängen fanden sich vornehmlich Arbeiten zur inneren Struktur des Nationalsozialismus, also etwa über das Ermächtigungsgesetz*, den ›Röhm-Putsch‹ 1934, zur SS oder zur ›Gleichschaltung‹.161 Diese forschungsstrategische Fokussierung trug mit dazu bei, daß sich rasch ein Bild vom Nationalsozialismus verfestigte, das der Opferperspektive in die Hände spielte. Die Nation war demzufolge von einem hermetischen Machtapparat unterjocht worden, der wenig Raum zur eigenständigen Handlung gelassen habe - aber auch nicht auf Kooperation angewiesen schien. Auch in der japanischen Geschichtswissenschaft wurde in der FaschismusForschung die Nation zumeist als hilfloses Opfer einer militaristischen Oligarchie dargestellt. Dies galt auf der einen Seite für die konservative Geschichtsschreibung, die auch die Zivilregierung in ihre Exkulpation mit einbezog und lediglich einige wenige radikale Militärs mit der Verantwortung für Autoritarismus und den Expansionskrieg belegte. Aber auch die marxistischen Historiker zeichneten das Bild vom Staat als einer monolithischen Apparatur zur Untergenheit in den unterschiedlichsten Bereichen prägte - unabhängig davon, ob nach heutigen Gesichtspunkten und auf dem Boden der Erkenntnisse der Faschismusforschung diese Sichtweise noch plausibel scheinen mag. Wir werden im folgenden sehen, daß es zur Aufrechterhaltung dieses Deutungsmusters bisweilen argumentativer Kapriolen bedurfte, die heute nur noch schwer nachzuvollziehen sind, wenn man nicht den gesamten diskursiven Kontext der Zeit berücksichtigt. 159 Vollmer, Volksopposition, S. 7. Vollmers Arbeit war vom Münchner Institut für Zeitgeschichte unterstützt worden. Vollmer wandte sich hier explizit gegen die These vom ›Nazi-Volk‹: »Die propagandistische Fiktion der Partei und die Annahme des Auslands, daß das deutsche Volk in seinen breiten Massen von den Doktrinen des Nationalsozialismus erfaßt worden sei, wird hier für ein großes Gebiet als irrig erwiesen.« (Ebenda, S. 8). 160 Hofer, Nationalsozialismus, S. 10. 161 Schneider, Ermächtigungsgesetz;Mau, Die ›Zweite Revolutione Parte/, Die SS;H. Buchheim, Die SS; ders., Struktur; Baum, Die ›Reíchsreform‹; Bracher, Stufen. Vgl. auch die Sektion ›Dokumentatiom in den VfZ.

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drückung des Volkes. Im Unterschied zur westdeutschen Forschung blieben quellennahe Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Herrschaftssystems in Japan allerdings rar. Die japanischen Historiker interessierten sich vornehmlich für die Ursachen von Faschismus und Krieg (eine Frage, die wiederum in der deutschen Diskussion bis Mitte der fünfziger Jahre nur wenig behandelt wurde) und nicht so sehr für eine detailgetreue Analyse der autoritären Herrschaftsstrukturen der Kriegsjahre.

Der Tennôsystem-Faschismus Ohnehin blieb in Japan die Thematisierung der jüngsten Geschichte lange Zeit das Monopol der marxistischen Geschichtsschreibung. Für die konservative Zunft galt das unausgesprochene Dogma, sich der Geschichte nur aus gebührender Distanz zu nähern - und das hieß: nur die Ereignisse bis zur MeijiRestauration (1868) galten als Gegenstand einer seriösen, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Bis in die sechziger Jahre hinein gab es beispielsweise in der Abteilung für Japanische Geschichte an der Universität Tokyo keinen Lehrstuhl für Moderne Geschichte. Von den Studenten wurden Themen der modernen japanischen Geschichte zwar durchaus behandelt, selbst in den Abschlußarbeiten (sotsugyô ronbun). Einer akademischen Karriere war diese Spezialisierung aber nicht förderlich.162 Diese Vorbehalte gegenüber der Zeitgeschichte, die übrigens in abgeschwächter Form auch in der Bundesrepublik durchaus spürbar waren, überließen die Geschichte des 20. Jahrhunderts der marxistischen Historiographie. In der marxistischen Diskussion nun spielte, wie schon angedeutet, die minutiöse Rekonstruktion von Verfassung und politischer Kultur zunächst keine entscheidende Rolle. Das Augenmerk lag stattdessen auf der Ursachenforschung, also der Untersuchung langfristiger Entwicklungen und struktureller Prozesse sozioökonomischer Natur. In dieser Hinsicht war gewissermaßen jede Interpretation der MeijiRestauration bereits ein Beitrag zur japanischen Zeitgeschichte. Daneben stand die theoretische Klassifizierung der jüngsten Vergangenheit im Mittelpunkt der marxistischen Debatten. Dabei wurde vor allem die Klassifizierung der Jahre zwischen 1931 und 1945 innerhalb des marxistischen Entwicklungsmodells kontrovers diskutiert. Die Historiker der rÔMÔfa-Fraktion hielten den Begriff des Faschismus (im Leninschen Sinne) für angebracht. Da

162 Vgl. die Listen der Abschlußarbeiten, die regelmäßig in der Zeitschrift Shigaku zasshi abgedruckt wurden. Die Karriereverläufe von Historikern der modernen Geschichte (etwa Itô Takashi, Banno Junji) weisen daher Umwege auf: entweder man fand Anstellung am neugegründeten Sozialwissenschaftlichen Institut (Sfmken) der Universität Tokyo, das der Zeitgeschichte gegenüber aufgeschlossener war; oder aber man war auf kleinere, marginalisierte Universitäten angewiesen.

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sie die Meiji-Restauration als gelungene bürgerliche Revolution betrachteten, interpretierten sie die expansive Politik der dreißiger Jahre als Ausdruck der Krise des Monopolkapitalismus und bezeichneten die zugrundeliegende Gesellschaftsformation als faschistisch. Für die parteinahe kôzaha-Fraktion indes war dies schwieriger, da nach ihrer Deutung in Japan vor 1945 noch keine bürgerliche Revolution stattgefunden hatte und somit auch keine gesellschaftliche Basis des Faschismus vorhanden zu sein schien. Allerdings sah sich die kôzahaHistoriographie mit der Schwierigkeit konfrontiert, die absolutistischen Elemente des politischen Systems, die sie in den Vordergrund ihrer Analysen stellte, mit den unbestreitbar kapitalistischen Aspekten der japanischen Wirtschaft in Einklang zu bringen. In den fünfziger Jahren setzte sich daher die Kompromißformel des Tennôsystem-Faschismus (tennôseifashizumu) durch: demnach habe der absolutistische Staatsapparat die Aufgabe des Faschismus erfüllt. Mit dieser Konstruktion sollte der ungleichmäßigen Modernisierung der japanischen Gesellschaft - rasante ökonomische Entwicklung bei feudalen Überresten in der politischen Verfassung - Rechnung getragen werden. 163 Hinter dieser bisweilen scholastisch-sektenhafte Züge annehmenden theoretischen Auseinandersetzungen blieb die konkrete Erforschung der politischen, ideologischen und institutionellen Entwicklungen seit den dreißiger Jahren deutlich zurück. In der Regel wurde eine starre Dichotomie zwischen ›Herrschenden‹ und unterdrücktem Volk mehr postuliert als tatsächlich untersucht. Dieser Gegensatz wurde häufig in Form einer überaus schematischen Gegenüberstellung präsentiert: das semifeudale Monopolkapital habe zum Krieg gedrängt, das Volk sich dieser aggressiven Politik jedoch widersetzt. Das gesamte japanische Volk (Nihonjinmin) wurde so zum Hort der Resistenz stilisiert; dieser Widerstand wurde zumeist aber nur am Beispiel der winzigen Kommunistischen Partei exemplifiziert. Für die Historiker stellte dies kein entscheidendes Problem dar, denn »wer gegen die Kommunistische Partei ist, ist auch gegen die Demokratie«. 164 Die Partei erschien aìsparspro toto der gesamten unterdrückten Nation. Der theoretische Antagonismus von Marxismus und Faschismus machte so das gesamte japanische Volk zu einer breiten Front des Widerstands. 165

163 Vgl. zu der hier nur skizzenhaft wiedergegebenen Diskussion Ôishi, Sengo kaikaku; Hoston, Marxism, S. 256ff.; Böttcher, Faschismus. 164 Hani, Nihonjinmin, S. 175. 165 Daß das tatsächliche Verhältnis von Marxisten zur nationalistischen Politik der dreißiger Jahre weitaus ambivalenter war, zeigen die zahlreichen Fälle von ›Konversion‹ (tenkô). Vgl. dazu Steinhoff. Tenkô.

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Der deutsche Widerstand Der Begriff des Widerstands, der in dieser Deutung beinahe als Synonym für das japanische Volk gebraucht wurde, übernahm auch in der westdeutschen Geschichtswissenschaft eine wichtige Funktion bei der Rehabilitierung der Nation. Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime evozierte in der Sicht der meisten Historiker »das wahre und echte Deutschland« 166 und schien daher geeignet, der Wiederanknüpfung an die Traditionen der nationalen Geschichte als Grundlage zu dienen. Dieser Rekonstruktion einer Kontinuität von Weimar über den 20. Juli 1944 bis zur demokratischen Verfassung der Bundesrepublik stand zunächst jedoch der alliierte Vorbehalt gegen jede Beschäftigung mit dem deutschen Widerstand entgegen. Die Politik der Alliierten zielte nach 1945 vielmehr auf die Ausgrenzung der Erinnerung an den Widerstand aus dem öffentlichen Bewußtsein. Bis in die fünfziger Jahre hinein fanden daher etwa keine Gedenkfeiern zum 20. Juli statt, und auch die ersten Untersuchungen zur Geschichte des Widerstands erschienen nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz oder in den Vereinigten Staaten.167 Die erste größere Darstellung, die in Deutschland publiziert werden konnte, war 1949 Hans Rothfels' Studie zur »Deutschen Opposition gegen Hitler«, die im Jahr zuvor bereits in Chicago veröffentlicht worden war. Die amerikanischen Ressentiments gegen den als aristokratisch, undemokratisch und militaristisch gebrandmarkten Widerstand des 20. Juli waren auch die Folie, vor der Rothfels glaubte, seine Würdigung der Opposition gegen Hitler rechtfertigen zu müssen. In seiner Argumentation nahm er daher zu den diversen Vorwürfen, die in der amerikanischen Öffentlichkeit kursierten, Stellung. Rothfels betonte, daß es sich bei den Verschwörern nicht lediglich um eine kleine Gruppe gehandelt habe, sondern um eine weit verzweigte Bewegung; diese habe sich überdies nicht erst im Angesicht der Niederlage zusammengefunden, sondern habe schon lange vor dem Krieg Gestalt gewonnen. Zudem ließe sich die Gruppierung nicht auf eine gemeinsame soziale Lage reduzieren; die Diffamierung des Widerstands als ›aristokratisch‹ greife daher zu kurz, zumal Rothfels sich sicher war, den demokratischen und europäischen Charakter dieser Resistenzbewegung nachweisen zu können. In der Konsequenz implizierte diese Beweisführung nicht nur eine Rehabilitierung der Widerstandsbewegung, sondern auch eine Neubewertung der deutschen Nation. Für Rothfels führte seine Untersuchung »zu einem Ergebnis, das als ›Rechtfertigung‹ angesprochen werden mag«. Man gelange dadurch zu »einer Rechtfertigung des menschlichen Geistes ›in extremis‹«, daneben aber auch »zu einer 166 Schüssler, U m das Geschichtsbild, S. 81. 167 So etwa v. Hassel, Vom anderen Deutschland; v. Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler. Vgl. dazu Steinbach, Widerstand; siehe auch Rothfels, Opposition, S. 27f.

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Rechtfertigung, wie ich meine,... von beträchtlichen Teilen des deutschen Volkes«.168 Ebenfalls 1949 reichte Philipp Auerbach bei Anton Ernstberger in Erlangen eine ungedruckt gebliebene Dissertation ein, die als erste Auseinandersetzung der deutschen Geschichtswissenschaft mit der Problematik des Widerstandes bezeichnet werden kann. Auerbach unternahm hier eine Typisierung von Widerstandsformen, die er aber nicht soziologisch, sondern geistesgeschichtlich motivierte. ›Widerstand‹ galt ihm dabei als Oberbegriff, der in der ›Revolution‹ seinen besonderen Ausdruck finde; die Revolution wiederum bringe den totalitären Staat hervor. Als Ergebnis dieser zirkulären Argumentation schien dann Widerstand innerhalb eines totalitären Systems nicht denkbar zu sein; Auerbach meinte dann auch, die deutsche Nation als Ganzes von einer historischen Verantwortung freisprechen zu können: »Aus dem Ganzen heraus ist bewiesen, dass eine Widerstandsbewegung unmöglich ist und damit der Vorwurf einer Kollektivschuld bewusst grundlose Anschuldigung ist.«169 Während Rothfels' Rehabilitierung der deutschen Nation aus einer ›äußeren‹ Perspektive und vor dem Hintergrund der amerikanischen Debatten formuliert worden war170 und auch Auerbachs Argumentation sich an der alliierten Kollektivschuldthese orientierte, hatte die Diskussion in der frühen Bundesrepublik zunächst mit anderen Schwierigkeiten zu rechnen. Denn weithin lebte noch das Verdikt fort, mit dem die Nationalsozialisten die Gruppe des 20. Juli belegt hatten; der Widerstand galt in der Öffentlichkeit häufig noch als Landesverrat und schien als nationales Identifikationsobjekt nicht geeignet. Noch im Jahre 1954 bekannte der Göttinger Historiker Siegfried August Kaehler: »Es liegt wie ein Tabu über diesem Ereignis; man spricht nicht gern von diesem 20. Juli. Geschieht es aber, dann bricht der Gegensatz der Urteile mit aller Leidenschaft hervor.« Er konzedierte, daß »die sittliche Berechtigung des Attentates auf den Obersten Befelshaber unversöhnlicher Streit bleiben« könnte; dennoch repräsentierten für Kaehler die Männer des 20. Juli die Renaissance der Nation. »Hinter den abziehenden Schwaden der europäischen Feuersbrunst zeichnet sich langsam ab das Profil des anderen Deutschland, des anderen Deutschland, welches der Welt vor 1933 bekannt gewesen ist.«171 Auch Hermann Mau und Helmut Krausnick vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, die 1953 eine erste Überblicksdarstellung der »Deutschen Geschichte in der jüngsten Vergangenheit, 1933-1945« vorlegten, betonten in erster Linie, daß der Widerstand gegen den Obersten Befehlshaber Hitler kein Unrecht war. »Nichts wäre ungerechter und unhistorischer, als... [den Widerstand] nach den 168 169 170 171

Rothfels, Opposition, S. 13. Auerbach, Wesen, S. 72. Rothfels, Opposition, S. 10. Kaehler, Der 20. Juli 1944, S. 436, 443, 444.

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üblichen und gerechtfertigten Maßstäben normaler Rechts- und Staatsverhältnisse zu beurteilen - oder gar zu verurteilen.«172 Während die wissenschaftlich-politische Rehabilitierung den deutschen Widerstand gegen das Dritte Reich also zunächst vor dem Vorwurf des antinationalen ›Vaterlandsverrats‹ in Schutz nehmen mußte, galt er den Historikern bald schon - in einer Inversion dieser Frontstellung - geradezu als Inkarnation nationaler Werte, als »Aufstand einer geistigen und moralischen Elite der deutschen Nation gegen das verbrecherische Regime, in dessen Klauen das deutsche Volk sich begeben hat«.173 Dies war auch die Stoßrichtung von Gerhard Ritters umfangreicher Goerdeler-Biographie, die der Freiburger Historiker 1954 vorlegte. Im Widerstand sah er die »Ideale eines neuen besseren Deutschland und eines neuen, besseren Europa« verkörpert, und dessen Darstellung war ihm eine patriotische Aufgabe: »es gibt keine nationale Ehre, losgelöst von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse«.174 Über die Geschichte des Widerstands also schien sich die deutsche Nation neu definieren zu lassen; nicht das nationalsozialistische Verbrechen, sondern die Opposition dagegen verkörpere die wahren Traditionen des deutschen Volkes. Allerdings bediente sich auch Ritter bei der Identitätsstiftung gleichzeitig einer ausgrenzenden Operation. Denn »nicht alles, was aus irgendeinem Grunde unzufrieden war mit dem Hitlerregiment, daran Kritik übte und sich irgendwie zur Wehr setzte, kann zur ›deutschen Widerstandsbewegung‹ in dem hier gemeinten Sinn gerechnet werden.« Nicht jede Form der Opposition, mit anderen Worten, gehöre zum wahren Kern der deutschen Nation, den Ritter in seinem Werk rekonstituieren wollte. Insbesondere die sozialistische Resistenz gegen den Nationalsozialismus (»auch viel elementare Rauflust und Romantik der Geheimbündelei war dabei mit im Spiel«) verdiene nicht das Prädikat Widerstands Anhand seiner Bewertung der Gruppe »Rote Kapelle« machte Ritter deutlich, daß die sozialistische Opposition diesen hehren Gedanken nur pervertiert habe. »Aber mit )deutschem Widerstand‹ hatte diese Gruppe offenbar nichts zu tun; man sollte darüber keinen Zweifel lassen. Sie stand ganz eindeutig im Dienst des feindlichen Auslandes. Sie bemühte sich nicht nur, deutsche Soldaten zum Überlaufen zu bewegen, sondern verriet wichtige militärische Geheimnisse zum Verderben deutscher Truppen. Wer dazu als Deutscher imstande ist, mitten im Kampf auf Leben und Tod, hat sich von der Sache seines Vaterlandes losgelöst, er ist Landesverräter - nicht nur nach dem Buchstaben des Gesetzes.«175 Jenseits von moralischen Fragen stand für Ritter hier die Frage nach dem unwandelbar ›Deutschen‹ im Vordergrund, nach dem Wesen der Nation. Nicht 172 173 174 175

Mau u. Krausnick, Deutsche Geschichte, S. 174. Hofer, Nationalsozialismus, S. 317. G Ritter, Carl Goerdeler, S. 12, 11. G. Ritter, Carl Goerdeler, S. 101, 103.

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anders als in der japanischen Debatte wurde diese Nation mit dem Widerstand identifiziert und das verbrecherische Regime als Fremdkörper aus der nationalen Geschichte eliminiert. Der Begriff des ›Widerstandes‹ erlaubte zugleich die innere Differenzierung der Bevölkerung und eine soziale Definition der Nation. Daher stand in der bundesdeutschen Forschung der fünfziger Jahre auch der bürgerliche, militärische und kirchliche Widerstand im Vordergrund. Diese Gruppierungen wurden auf diese Weise als Vorläufer der bundesrepublikanischen Gesellschaft betrachtet. Dagegen wurden Oppositionsbewegungen aus den Kreisen der Arbeiterschaft, besonders der gewerkschaftliche und kommunistische Widerstand, der in der Widerstandsforschung der fünfziger Jahre keine Rolle spielte, vom mationalen Widerstand‹ ausgegrenzt.176 Diese Frontstellung wurde von der sich durchsetzenden Totalitarismustheorie diktiert, die überdies überraschende Koalitionen ermöglichte. So wurde Ende der fünfziger Jahre das Institut für Zeitgeschichte mit einem Gutachten zu der Frage betraut, ob die Zugehörigkeit zur ›Schwarzen Front( den Ausschluß von staatlichen Wiedergutmachtungsleistungen begründe. Diese Gruppierung ehemaliger Nationalsozialisten um Otto Strasser hatte sich vom Hitler-Regime entfernt und wurde schließlich während des Dritten Reiches verfolgt. Wolfgang Abendroth, der das Gutachten übernommen hatte, kam zu dem Ergebnis, daß diese Gruppe sich »eindeutig gegen den Nationalsozialismus... und gegen jeden Totalitarismus gerichtet« habe und daher ihr Beitrag zum Widerstand anzuerkennen sei.177 Schließlich symbolisierte die Fokussierung auf den Widerstand für viele Historiker die Kontinuität der deutschen und japanischen Geschichte und schien eine Historiographie aus der Perspektive der vom Widerstand repräsentierten Nation zu ermöglichen. Auf subtile Weise wurden so auch die ›dunklen Seiten‹ der Geschichte bisweilen noch als Dokumentation moralischer Überlegenheit interpretiert. Im Rahmen dieser Logik erschien etwa Gerhard Ritter die Geschichte des deutschen Volkes im Dritten Reich geradezu als Vorbild für andere Nationen: »Dennoch bleibt es ermutigend, daß es in unserem Volk einen solchen Aufstand des Gewissens gegeben hat - einen Aufstand aus echter, sittlicher Empörung gegen den Triumph der Macht - der Macht des Bösen, aber ohne

176 Typisch etwa die Bände Vollmacht des Gewissens. Vgl. dazu Ueberschär, Einzeltat; Steinbach, Widerstandsforschung; Müller u. Mommsen, Der deutsche Widerstand; Toyka-Seid, Widerstand. Siehe auch den frühen Überblick von Kìuke, Widerstand. 177 Abendroth, Problem. Abendroth soll hier nicht als Kronzeuge für einen konservativen Widerstandsbegriff diskreditiert werden; vielmehr zeigte er sich einer sozialen Ausweitung des Begriffs gegenüber offen. Am Marburger Institut für wissenschaftliche Politik leitete er eine Forschungsreihe über Probleme des deutschen Widerstandes gegen das Dritte Reich; dort entstand bereits 1957 die Dissertation von Kurt Kliem über den »sozialistischen Widerstand gegen das Dritte Reich«. Zur ›Schwarzen Front‹ vgl. Moreau, Nationalsozialismus von links.

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Rücksicht auf die sogenannten mationalen Interessent Gibt es in der neueren Geschichte Europas ein zweites Beispiel dieser Art?«178

d) Der Zweite Weltkrieg in der deutschen Geschichtsschreibung Kriegsgeschichte im Zeichen der Niederlage In der westdeutschen Geschichtswissenschaft wurde die jüngste Vergangenheit beinahe durchgängig als traumatische Erfahrung, als »Abgrund« beschrieben. Der Begriff der »deutschen Katastrophe« wurde allerdings in erster Linie mit der militärischen Niederlage 1945 und dem Ende der nationalen Integrität assoziiert. Aus diesem Grunde kann nicht überraschen, daß auch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges eine besondere Relevanz zukam. Die damit einhergehende Ausklammerung anderer Themen, vornehmlich des Holocaust und der Massentötungen ganzer Bevölkerungsgruppen, implizierte somit nicht automatisch ein systematisches Stillschweigen über die Geschichte des Dritten Reiches, sondern reflektierte vielmehr die eingeschränkte Fokussierung der Zunft in den fünfziger Jahren. In der Tat wurde die Zeitgeschichte auch von der universitären Geschichtswissenschaft nicht ignoriert; bei der Behandlung des Dritten Reiches standen aber die militärischen Ereignisse im Vordergrund, und insofern kann rückblickend von einer selektiven Thematisierung des Nationalsozialismus gesprochen werden. Neben der Untersuchung der inneren Herrschaftsstrukturen des nationalsozialistischen Staates, deren totalitärer Charakter‹ die Nation als Opfer der Repression erscheinen ließ, und der Widerstandsforschung mit ihrer Entdekkung des »anderen Deutschland« war daher die Behandlung des Zweiten Weltkrieges der dritte thematische Schwerpunkt der westdeutschen NS-Forschung der fünfziger Jahre. Diese Fokussierung war nicht nur Ausdruck eines immanenten Interesses einer späthistoristisch orientierten Zunft an der Kriegsgeschichte (gewissermaßen als Konsequenz des methodischen Primats der Außenpolitik), sondern war ebenso eine Reaktion auf eine öffentliche Debatte. Denn eine Stoßrichtung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg lag zunächst darin, einer revisionistischen Memoirenliteratur den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Laufe der fünfziger Jahre waren zahlreiche Erinnerungswerke erschienen, in denen führende Militärs mit ihrer Version des Krieges an die Öffentlichkeit traten, um ihren politisch-strategischen Entscheidungen auch nachträglich zu einer Rechtfertigung zu verhelfen. Die Geschichtswissenschaft war angesichts dieser apologetischen Literatur darum bemüht, dieser »Legen178 G. Ritter, Carl Goerdeler, S. 438.

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denbildung« 179 entgegenzutreten. So wetterte etwa der Göttinger Siegfried August Kaehler: »Wenn jetzt Männer aus der Gefolgschaft von Hitler und Himmler auftreten ... und behaupten, die phantastische und böswillige Europapolitik des Nationalsozialismus sei sinnvoll und berechtigt gewesen, dann muß man alles tun, um solche dreisten Behauptungen als das zu erweisen, was sie sind: Verfälschungen der Wahrheit.«180 Andererseits legte die Mehrzahl der westdeutschen Historiker auch Wert darauf, die Leistungen der Wehrmacht und der Masse der deutschen Soldaten (und damit des deutschen Volkes) nicht pauschal der Verdammung anheimfallen zu lassen - ein Motiv, das besonders vor dem Hintergrund der Debatten um die deutsche Wiederbewaffnung Mitte der fünfziger Jahre in den Vordergrund trat.181 Dieser Interessenkonflikt ließ sich am ehesten dadurch lösen, daß man die Aktivitäten der Wehrmacht analytisch von der nationalsozialistischen Politik trennte und auf einer Dichotomie zwischen ›sauberem‹ Heer und Hitlers verbrecherischem Expansionismus beharrte. Die ›gleichgeschaltete‹ Reichswehr schien dann beinahe als ein erstes Opfer von Hitlers Politik bezeichnet werden zu können; auch die Wehrmacht galt so nicht als nationalsozialistischer verband, sondern als im Grunde neutrales Instrument Hitlerscher Politik. Zumindest ließ sich, so Waldemar Besson, behaupten, »daß die Wehrmacht ein Faktor war, der ... nach ... vielen Anläufen nationalsozialistischer Durchdringung durchaus noch sein eigenes geistiges Gesicht zu bewahren suchte.«182 Als Ergebnis dieser Trennung beschränkte sich die Forschung in der Regel auf die rein militärgeschichtlichen Aspekte des Krieges und sah sich darin bestätigt, dessen ›nationalsozialistischen‹ Charakter zu ignorieren. Ohnehin lag das Schwergewicht der Untersuchungen zumeist nicht auf der Erforschung der Ursachen des Krieges, sondern auf der Analyse der Niederlage. Die Frage nach den langfristigen und möglicherweise strukturellen Ursachen des Krieges, die in Japan die Geschichtsschreibung des Krieges monopolisierte, wurde von den westdeutschen Historikern im Grunde kaum gestellt. Denn anders als der Erste Weltkrieg war der Krieg 1939 nicht ›ausgebrochen‹, sondern langfristig geplant worden. Der unter westdeutschen Historikern verbreitete Hitlerzentrismus (als Ausdruckeines methodischen Intentionalismus) stellte dementsprechend auch kein Hindernis dar, sowohl längerfristige Prozesse aus der Analyse auszublenden als auch die Verantwortung für den Krieg von den Schultern der deutschen Nation zu nehmen. Walther Hofer, dessen »Entfesselung des Zweiten Weltkrieges« von 1954 rasch zum Standardwerk

179 Krausnick, Leeenden, S. 239. Ähnlich auch H. Buchheim, Zu Kleists ›Auch Du warst dabei«. 180 Kaehler, Geschichtsbild, S. 338-339. Vgl. die Liste der Memoirenliteratur bei Lozek, Unbewältigte Vergangenheit, S. 348. 181 Vgl. z.B. G. Ritter, Die deutschen Soldaten. 182 Besson, Zur Geschichte, S. 79.

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avancierte, reduzierte die Frage nach den Ursachen auf das »Rätsel... der unglückseligen und furchtbaren Persönlichkeit Hitlers, ohne welche der zweite Weltkrieg undenkbar ist. Immer wieder verlieren sich bestimmte Entwicklungslinien, die der Historiker bis zu ihrem Ausgangspunkt zurück verfolgen möchte, in Entschlußfassungen und Lagebeurteilungen, die dem wirren Gehirn und dem krankhaften Gemüt des deutschen Diktators entsprungen sind. Immer wieder endet so die Suche nach dem Urgrund von entscheidenden und verhängnisvollen Entschlüssen notwendig in psychologischen, ja psychiatrischen Untersuchungen.« 183 Das Interesse der Historiker, die sich mit dem Weltkrieg beschäftigten, konzentrierte sich daher in klassischer politikgeschichtlicher Fragestellung auf die diplomatischen Beziehungen zu anderen Ländern bzw. auf die militärgeschichtliche Erklärung der Niederlage. Ein wichtiges Zentrum der Weltkriegs-Geschichtsschreibung war die Universität Göttingen, wo Percy Ernst Schramm, Richard Nürnberger (seit 1955) oder Walter Hubatsch (bis 1956) Zeitgeschichte in Form von Kriegsgeschichte betrieben. Zudem lag an der Forschungsstelle des Göttinger Instituts für Völkerrecht, an der Hans-Günther Seraphim den Korpus der Akten des Nürnberger Prozesse bearbeitete, ein Archivbestand vor, der die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Krieges ermöglichte. Vor diesem Hintergrund entstanden in Göttingen bereits in den fünfziger Jahren zahlreiche Dissertationen zur Frühphase des Zweiten Weltkrieges.184

Tapfere Soldaten versus verantwortungslose Führung Schramm hatte von 1943 an das Kriegstagebuch beim Oberkommando der Wehrmacht geführt und war dann in alliierte Gefangenschaft geraten. Nach einem Lehrverbot 1946-48 kehrte er nach Göttingen zurück und hielt dort unter anderem Vorlesungen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges. 185 Und auch der Kaehler-Schüler Walter Hubatsch, der im Dritten Reich Auftragsarbeiten für das ›Reichsinstitut‹ von Walter Frank ausgeführt hatte, legte eine 183 Hofer, Entfesselung, S. 11. 184 Im Laufe der fünfziger Jahre entstanden in Göttingen elf Dissertationen zur Außen- und Kriegspolitik des Dritten Reiches, vor allem bei Schramm, aber auch bei Kaehler, Conze und Nürnberger. Vgl. Ekhstädt, Anschluß; Rònnefarth, Deutschland und England; Hülgruber, Deutschland und Rumänien; Schiefer, Deutschland und die Tschechoslowakei; Breyer, Die deutsch-polnischen Beziehungen; Jacobsen, Planungen; Meiss, Die deutsch-jugoslawischen Beziehungen; Brausch, Deutschland-Ungarn; Meinck, Hitler und die deutsche Aufrüstung. Zum Historischen Seminar der Universität Göttingen vgl. Obenaus, Geschichtsstudium. 185 Schramm gab das von ihm bearbeitete Kriegstagebuch auch selbst heraus (unter Mitwirkung von Hans-Adolfjacobsen, Walther Hubatsch, Andreas Hülgruber), vgl. Schramm, Kriegstagebuch. Zu Schramm vgl. Grolle, Schramm; Kamp, Schramm; Heimpel, Königtum; Elze, Schramm.

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Reihe von Arbeiten zur Kriegsgeschichte vor.186 Bei der Begründung seines militärgeschichtlichen Interesses rekurrierte der Zinnsoldatensammler und Reserveoffizier Hubatsch auf »die berechtigte Frage nach dem Sinn dieser Opfer... Dies aber gilt heute wie zu allen Zeiten, daß solche Leistungen... nicht möglich sind ohne jene inneren Werte, die in sechs Jahren gelebt und mit dem Tode besiegelt wurden: Gehorsam, Treue, Disziplin, Kameradschaft, Pflichterfüllung bis zum Tode, Zurückstellung der eigenen Person und Hingabe für die Gemeinschaft. Sollen alle diese Werte mit unseren Toten begraben sein?«187 Hubatschs Arbeiten waren daher ein einziges Loblied auf die strategischen Leistungen der militärischen Operationen und auf den Opfermut der Soldaten. »Der bewunderswerte todesverachtende Einsatz deutscher Soldaten aller Wehrmachtteile, der kämpfenden Truppe und Nachschubeinheiten, ... das kühne Planen und die angestrengte Arbeit der Truppenführung,... die Leistung an einer ebenso schwierigen wie gelungenen gemeinsamen Aufgabe«188 erhielt somit eine historiographische Rechtfertigung, die auch nach der »Katastrophe« des Nationalsozialismus bestand haben sollte. Auf der Suche nach einer Erklärung der Niederlage bemühte Hubatsch eine Figur, die sich auch sonst in der Literatur häufiger antreffen ließ: die Trennung von politischer Führung und der »kämpfenden Truppe«, die wir in anderem Zusammenhang als Dichotomie zwischen Nationalsozialismus und deutscher Nation bereits kennengelernt haben. Denn der heroische Wille der Soldaten konnte in Hubatschs Deutung nur deshalb gebrochen werden, weil eine fahrlässige (nationalsozialistische) Politik alle strategischen und militärischen Erfolge verspielt habe. 189 In einer vorsichtigen Variante einer wiederbelebten ›Dolchstoßlegende‹ erschien so auch im Zweiten Weltkrieg der deutsche Soldat im Felde unbesiegt. »Der deutsche Soldat des Zweiten Weltkrieges, zäh selbst in sinnlosem Einsatz und hoffnungslosen Lagen - das wird ihm niemand abstreiten - hätte eine verantwortungsvollere Führung verdient!« 190 Für Hubatsch, dessen Interpretation ganz explizit aus der Sicht der deutschen Armee verfaßt war (was zu Kapitelüberschriften wie »Die militärische Lage beim Gegner« füh186 Zu Hubatsch vgl. Salewski u. Schröder, Walter Hubatsch. 187 Hubatsch, Infanterie-Division, S. 149. Ein weiters Beispiel für die Aufarbeitung der Kriegserlebnisse durch einen Historiker war Conze, Die Geschichte der 291. Infanterie-Division. 188 Hubatsch, Deutsche Besetzung, S. 260. 189 Diese Erklärung der ›Katastrophe‹ als Ergebnis taktischer Fehlleistungen war nicht nur im rechten politischen Spektrum der Historikerschaft verbreitet, zu dem Hubatsch zu zählen war. Auch der emigrierte, linksliberale Historiker Veit Valentin etwa erkannte auf dem Gebiet der militärischen Strategie eine für Deutschland »verhängnisvolle Schwäche«: »Man weiß: wenn man schon das Glück hatte, einen Pakt mit Rußland im Sommer 1939 zustande zu bringen, dann mußte man die Westmächte aufs Haupt schlagen können. Wenn man imstande war, Frankreich im Sommer 1940 zu besiegen, dann mußte man sich gegen England wenden, statt der vergeblichen Werbung um britische Hilfe gegen den Bolschewismus.« (Valentin, Geschichte, S. 629). 190 Hubatsch, Kriegswende, S. 151.

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ren konnte), erschienen daher das deutsche Heer und die deutsche Nation als die eigentlichen Leidtragenden des Krieges. Nicht nur die besetzten Völker, sondern »das gesamte deutsche Volk hat in allen seinen Stämmen und Schichten die schwersten Opfer tragen müssen.«191 Diese Opposition zwischen unschuldigem Volk und verbrecherischen Nationalsozialisten, die wir als fundamentale Opposition des gesamten Diskurses über die Geschichte des Dritten Reiches bezeichnen können, strukturierte also auch die Bewertung des Krieges - mithin eines Gegenstandes, der sich dieser Dichotomie (und der Charakterisierung der Wehrmacht als ›Opfer‹) zunächst zu sperren schien.192 Auch Josef Matl, Professor für europäische Geschichte in Graz, rekurrierte auf einer Tagung des Instituts für Zeitgeschichte auf diesen Gegensatz: »Da ist einmal der beispiellose Heroismus und die Einsatzbereitschaft der Soldaten, vor allem der deutschen, die in ihrem Gros gar keine Nazis waren, aber auch der mit ihnen kämpfenden landeseigenen Verbände. Ferner die beispiellose Opferbereitschaft der Heimat. Es ist aber ebenso eine beispiellose Dummheit des politischen Handelns der politischen Naziführung und ihrer Politik in den besetzten und beherrschten Ländern festzustellen. Ich glaube, der alte Bismarck und Metternich hätten sich im Grabe umgedreht, wenn sie gesehen hätten, was da an Unfähigkeit zur konstruktiven Neuordnung der europäischen Völker durch Hitler und Mussolini zutage trat, an Unfähigkeit, die eigene Machtfülle den anderen Völkern erträglich zu gestalten.«193 In diesen letzten Sätzen schwangen noch einmal Hoffnungen mit, die an die Überwindung des )kleindeutschen Geschichtsbildes‹ im Lichte der Niederlage 1945 erinnerten. So wie »die tiefernste Idee eines europäischen Völkerbundes« (v. Srbik) die großdeutschen Mitteleuropa-Pläne legitimieren sollte, schienen sich auch die territorialen Eroberungen des deutschen Heeres unter dem europäischen Banner rechtfertigen zu lassen. Der expansive Gestus, mit dem noch in den fünfziger Jahren die »konstruktive Neuordnung der europäischen Völker« eingefordert wurde, ermöglichte die Appropriation der Geschichte des Nationalsozialismus im Diskurs eines ›demokratischen Antikommunismus‹ und seiner Abendlands- und Europarhetorik. Diese Operation wird etwa anhand der Überlegungen deutlich, mit denen Paul Kluke die Möglichkeit eines deutsch geführten Europa nach dem Sieg über Frankreich diskutierte. Kluke, der bei Hermann Oncken promoviert und nach dem Krieg an der neugegründeten Freien Universität in Berlin gelehrt hatte, war von 1953 bis 1958 Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Auf einer von diesem Institut veranstalteten Tagung über »Das Dritte Reich und Europa« betonte Kluke, daß im 191 Hubatsch, Kriegswende, S. 155. 192 Vgl. etwa auch Hans Rothfels' Loblied auf »das opferreiche Anringen, das mit soldatischer Pflichterfüllung bis zuletzt geleistet wurde« (Rothfels, Zehn Jahre, S. 72). 193 Institutflir Zeitgeschichte, Das Dritte Reich und Europa, S. 155.

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Sommer 1940 die »Aufgabe, eine neue Ordnung zu schaffen«, sich als »drängendes Anliegen an die Zeit« gestellt habe. Bezeichnenderweise hielt Kluke den Zeitpunkt einer Reorganisation ausgerechnet im Moment der französischen Niederlage für gekommen, als die »Neuordnung unter einer Hegemonialmacht nicht durch eine großmächtliche Rivalität wie etwa Frankreich« verhindert werden konnte. »So dürfen wir... vielleicht... bei diesem Moment verweilen, um uns die ... Möglichkeiten einer Neuorientierung der europäischen Völkerfamilie zu vergegenwärtigen«. 194

Das deutsche Volk als Opfer des Krieges In der historischen Forschung der fünfziger Jahre war also der Zweite Weltkrieg ein zentrales Thema. Zwei Gedanken strukturierten dabei die Interpretation: einerseits der Gegensatz von Volk und militaristischer Führung, der in der Konsequenz selbst noch die Wehrmacht in die Nähe der Opfer des Nationalsozialismus rückte. Und andererseits, um ein bereits zitiertes Diktum von Hans Rothfels ein wenig abzuwandeln, der Versuch, nicht nur Bismarckschen, sondern ebenso Hitlers »Gedanken... einen positiven Sinn abzugewinnen im Hinblick auf eine von der Mitte her gesehene Neuordnung deutscher sowohl wie europäischer Dinge«. 195 Vor diesem Hintergrund gerieten andere Themen wie die Juden- und Vernichtungspolitik die einer späteren Generation zentral erscheinen mußten, aus dem Blick. Der Holocaust war in den fünfziger Jahren kein bevorzugtes Thema der westdeutschen Geschichtswissenschaft.196 Erste Ansätze zur Erforschung des Völkermords gab es aber doch. Das Organ des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, die »Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte«, dokumentierten schon in ihrem ersten Jahrgang 1953 den )GersteinBericht‹ eines Augenzeugen der Massenvergasungen. In den nächsten Jahren wurde die Aufklärung des Genozids allerdings nur sporadisch fortgesetzt.197 Auch Eugen Kogons Werk über den »SS-Staat« erschien bereits 1947. Der Schwerpunkt seiner Untersuchung lag auf den Konzentrationslagern, nicht aber den Vernichtungslagern; der Umgang mit politischen Häftlingen und nicht der Holocaust stand hier im Vordergrund.198 Diese Perspektive änderte sich erst gegen Ende der fünfziger Jahre und vor allem in den sechziger Jahren. Durch die Eichmann- und Auschwitzprozesse war der Genozid erneut ins 194 Institutfiir Zeitgeschichte, Das Dritte Reich und Europa, S. 115, 120, 118. Vgl. auch Kluke, Nationalsozialistische Europaideologie, bes. 253. 195 Rothfels, Bismarck und das 19. Jahrhundert, S. 84. 196 Vgl. dazu Kwiet, Behandlung; Kulka, Geschichtsschreibung; Herbert, Holocaust; Broszat, »Holocaust‹. 197 Augenzeugenbericht; Denkschrift Himmlers; Heiber, Generalplan Ost. 198 Kogon, SS-Staat.

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Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit gelangt, was sich auch in einer Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu Fragen der Rassen- und Vernichtungspolitik niederschlug. Wolfgang Schefïler publizierte seinen Überblick über die Judenverfolgung 1960. Und das Institut für Zeitgeschichte entfaltete im Zusammenhang mit den Gerichtsprozessen eine rege Gutachtertätigkeit; vor allem Martin Broszat, Hans Buchheim und Helmut Krausnick erarbeiteten ein detailliertes Bild von den organisatorischen und funktionalen Zusammenhängen der Vernichtungspolitik, das auch in zwei Sammelbänden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. 199 Die enge Verzahnung mit der juristischen Aufarbeitung führte allerdings dazu, daß auch in der historischen Forschung die Täter im Mittelpunkt standen und die Opfer nur als marginales Objekt der Geschichtsschreibung in Erscheinung traten. Auch die Kategorie der Täter allerdings wurde implizit zumeist auf eine kleine, im Verborgenen operierende Gruppierung von ›Unmenschen‹ begrenzt; dem deutschen Volk in seiner Gesamtheit wurde nur selten kollektive Verantwortung zugemutet. Im Gegenteil, die deutsche Nation erschien bisweilen selbst als ein Opfer, dem durch den Genozid Ungeheuerliches angetan worden sei. Walther Hofer etwa schloß 1957 sein Kapitel über »Judenverfolgung und Judenausrottung« mit den Worten: »Der deutsche Name wurde dank der maßlosen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes geschändet und verachtet, wie es nie einer anderen Nation zuvor widerfahren war.«200

e) »Ein wertvolles nationales Erbe«: Der Zweite Weltkrieg in derjapanischen Geschichtsschreibung Terminologische Auseinandersetzungen Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Japan war der Krieg ein bevorzugtes Terrain historiographischer Auseinandersetzungen. Dabei zielte die Debatte nicht in erster Linie auf die Erkenntnis militärgeschichtlicher und diplomatischer Zusammenhänge. Vielmehr stand zur Disposition, welche historische Bedeutung diesem Krieg zukam - und wie die Deutung der modernenjapanischen Geschichte von der Bewertung des Krieges affiziert war. Selbst Unterschiede des wissenschaftlichen Vokabulars avancierten zu heftigen Kon-

199 Schefflet, Judenverfolgung; Institutfiir Zeitgeschichte, Gutachten. 200 Hofer, Nationalsozialismus, S. 276. Hofers Bewertung war durchaus nicht unüblich, wie auch ein Blick in die publizistische Literatur unterstreicht. U m ein Beispiel herauszugreifen: »Das Vorhandensein der Konzentrationslager und der in ihnen verübten Grausamkeiten ist und bleibt ein Schandfleck, der jedem anständigen Deutschen die Schamröte ins Antlitz treiben muß, daß so etwas in seinem Volke vorgekommen ist, vorkommen konnte...«. Pribilla, Deutschland, S. 40.

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troversen und demonstrierten, daß nicht nur Fragen der Taktik und Militärtechnik auf dem Spiel standen, sondern das Selbstverständnis der japanischen Nation. Die Brisanz dieser Kontroversen wird schon deutlich anhand der Tatsache, daß die Fixierung einer Interpretation des Krieges bereits zu den frühesten Anliegen der amerikanischen Besatzungspolitik zählte. Schon im Dezember 1945 ließ die Civil Information and Education Section der amerikanischen Streitkräfte eine offizielle Version des Krieges in allen überregionalen Zeitungenjapans abdrucken. Die »Historical Articles on the War in the Pacific« dokumentierten bereits durch den Titel, wo der Schwerpunkt in der Beurteilung des Krieges fortan gesetzt werden sollte. Der offene Krieg, den Japan seit 1937 in China geführt hatte, wurde hier zum Appendix der Auseinandersetzung degradiert, die im Dezember 1941 mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor begonnen hatte. Und die Kämpfe in der Mandschurei, die bereits 1931 eingesetzt hatten und 1932 in der Formierung eines japanisch gelenkten Marionettenregimes kulminierten, galten lediglich als »Vorspiel des Zweiten Weltkrieges«.201 Diese Chronologie der Ereignisse erinnerte zunächst an die offizielle Periodisierung der japanischen Regierung während des Krieges, die zwischen drei Konflikten unterschieden hatte: die Streitigkeiten in der Mandschurei seit 1931 wurden als »Mandschurischer Zwischenfall« (Manshû jihen) bezeichnet, der vom 1937 beginnenden »Chinesischen Zwischenfall« (Shina jihen) begrifflich geschieden wurde. Als 1941 der Krieg mit den Vereinigten Staaten erklärt wurde, stand zunächst auch der Terminus »Pazifischer Krieg« zur Debatte, der j e doch abgelehnt wurde. Stattdessen wurde am 15.12.1941 die offizielle Sprachregelung bekanntgegeben, die den Krieg mit China seit 1937 und den Konflikt mit den Vereinigten Staaten als Einheit behandelte: »Wir bezeichnen den jetzigen Krieg gegen Amerika und England unter Einbeziehung des chinesischen Zwischenfalls als ›Großostasiatischen Krieg‹. Die Bezeichnung »Großostasiatischer Krieg‹ weist auf das Ziel hin, eine neue großostasiatische Ordnung zu errichten und bedeutet nicht, daß das Gebiet des Krieges auf Großostasien begrenzt ist.«202 Der Terminus des »Großostasiatischen Krieges« (daitôa sensô) war somit eng mit der nationalistischen Propaganda verbunden, die die Kolonialisierung Chinas und Südostasiens zum Befreiungskampf aller asiatischen Nationen stilisiert hatte. Infolgedessen wurde der Gebrauch dieses Begriffes im Dezember 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht verboten und an seiner Stelle die 201 GHQ, Historical Articles, S. 3. Im Laufe des Kriegsverbrecherprozesses in Tokyo wurde diese Einschätzung revidiert. Im Urteil wurde festgelegt, daß der Krieg zwischen Japan und China vom 18.9.1931 bis zum 2.9.1945 währte. Vgl. IMTFE, The Tokyo Judgment, S. 195. 202 Zitiert nach Saitô, )Daitôa sensô‹ to »taiheiyô sensô‹, S. 196.

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Bezeichnung »Pazifischer Krieg« vorgeschrieben. Diese Umbenennung implizierte jedoch nicht nur eine Absage an eine revisionistische Geschichtsschreibung, die den Krieg als Geschenk der Japaner an die unterdrückten Völker Asiens rechtfertigen wollte. Denn gleichzeitig verschob sich, wie wir gesehen haben, auch der geographische Schwerpunkt des Krieges: nicht mehr China, wo japanische Armeen beinahe 14 Jahre lang gekämpft hatten, sondern die Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten galt nun als Zentrum des Krieges. Nicht in den Verbrechen auf dem chinesischen Festland, so könnte man diesen Austausch des Vokabulars auch lesen, lag der kriminelle Gehalt des Krieges verborgen, sondern im ›unverfrorenen‹ Angriff auf die westliche Zivilisation. Trotz dieser interpretatorischen Schlagseite war die alliierte Durchsetzung des neuen Begriffs äußerst wirksam. Noch als Ienaga Saburô im Jahre 1968 seine inzwischen klassische Studie des Krieges vorlegte, sah er sich gegen seine Intention zu dem Titel »Der Pazifische Krieg« veranlaßt, da er fürchtete, bei Abweichung von der standardisierten Bezeichnung von seiner Leserschaft nicht verstanden zu werden. 203

Die marxistische Deutung des Pazifischen Krieges Eine japanische Forschung, die sich explizit mit dem Krieg beschäftigte, setzte im Grunde erst nach der Unabhängigkeit, also seit 1952 ein. Ein Grund dafür war nicht zuletzt die mangelhafte Quellenlage; noch in der ersten großen akademischen Untersuchung zur Geschichte des Krieges Mitte der fünfziger Jahre wurde der unzureichende Zugang zu offiziellen Dokumenten als größtes Problem bezeichnet. 204 Angesichts des Deutungsmonopols, das die marxistische Geschichtsschreibung auf dem Gebiet der modernen Geschichte ausübte, war auch nicht überraschend, daß die erste umfangreiche Darstellung des Krieges aus der Sicht des Historischen Materialismus verfaßt war. Der marxistische Historikerverband Rekishigaku kenkyûkai veranstaltete unter der Federführung des Historikers Eguchi Bokurô eine Tagungsreihe zur Geschichte des Krieges, deren Ergebnisse 1953/54 in einem großen fünfbändigen Gemeinschaftswerk mit dem Titel »Die Geschichte des Pazifischen Krieges« veröffentlicht wurden. Auch hier war also die in der Besatzungszeit verfügte Bezeichnung beibehalten worden, wiewohl das Schwergewicht der Untersuchung auf dem Krieg in China lag. Im Vorwort (das von Inoue Kiyoshi stammte) wurde die gesamte moderne japanische Geschichte als eine »Geschichte pausenloser Kriege« bezeichnet, bei der die Atempausen zwischen zwei militärischen Konflikten lediglich der Vor203 Ienaga, Taiheiyô sensô, S. 1-5. 204 Rekishigaku kenkyûkai, Taiheiyô sensô shi, Bd. 4, S. 189.

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bereitung auf den nächsten Krieg gedient hätten. Diese militaristische Vergangenheit korrespondiere aber nicht mit einem kriegerischen Nationalcharakter, denn »das japanische Volk ist genauso friedliebend wie die anderen proletarischen Völker der Welt.« Ebenso wurde das Argument eines schicksalhaften Krieges, der von der geographischen oder demographischen Situation erzwungen worden sei, als imperialistische ›Volk-ohne-Raum‹-Ideologie zurückgewiesen. Stattdessen könne der Krieg durch Verweis auf seine soziale Basis und Funktion erklärt werden: »Japan wurde durch das Tennô-System, das semifeudale Grundbesitzsystem sowie das damit untrennbar verbundene Monopolkapital ... und zu deren Vorteil in einen Krieg nach dem anderen verwickelt.« 205 Im folgenden wurde auf über 1300 Seiten eine detaillierte Schilderung der Ereignisse aus orthodoxer kÔzaha Perspektive geboten, die um eine breite weltgeschichtliche Einordnung bemüht war. Der »Zweite Weltkrieg« wurde dabei als der gesamte Komplex militärischer Auseinandersetzungen seit dem Konflikt um die Mandschurei definiert; er habe somit nicht 1939 mit dem deutschen Angriff auf Polen, sondern bereits 1931 in Asien begonnen. »Die herrschende Schicht in Japan übernahm die Rolle, das Feuer des Zweiten Weltkrieges zu entzünden.« 206 Dieser Krieg, das Ergebnis der zahlreichen Widersprüche des imperialistischen Weltsystems, wurde als Zusammenspiel dreier Bewegungen aufgefaßt, die analytisch voneinander getrennt werden könnten. Denn der Zweite Weltkrieg war, in der Interpretation der Rekishigaku kenkyûkai-ìrlistorïk.er, erstens eine traditionelle Auseinandersetzung unter imperialistischen Mächten, wie sie in der Frontstellung zwischen Achsenmächten und Alliierten (seit 1939) zum Ausdruck kam. Zweitens habe es sich aber auch um einen von der Sowjetunion geführten antifaschistischen Abwehrkampf gegen Deutschland, Japan und Italien gehandelt; diese Frontlinie (besonders deutlich seit 1941) habe nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der meisten beteiligten Staaten bestanden. Drittens, schließlich, umfasse der Terminus )Zweiter Weltkrieg‹ auch die nationalen Befreiungskämpfe der von Japan, Deutschland und Italien unterdrückten Völker in Afrika und vor allem in Asien.207 Diese Deutung des Krieges repräsentierte bis weit in die fünfziger Jahre hinein die herrschende Meinung der Geschichtswissenschaft, wobei daran zu erinnern ist, daß die akademischen Untersuchungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts ohnehin fast ausschließlich aus marxistischer Feder stammten. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf dem Krieg in China, der als Konflikt zwischen dem von den Kommunisten repräsentierten chinesischen Volk und der japanischen Herrscherschicht gedeutet wurde. Der Krieg gegen die USA geriet dage205 Rekishigaku kenkyûkai, Taiheiyô sensô shi, Bd. 1, S. 1, 2. 206 Rekishigaku kenkyûkai, Taiheiyô sensô shi, Bd. 4, S. 173. 207 Rekishigaku kenkyûkai, Taiheiyô sensô shi, Bd. 4, S. 173-189.

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gen in den Hintergrund; hierbei handelte es sich nach marxistischer Lesart lediglich um einen klassischen Konflikt imperialistischer Staaten, der die Auflösungserscheinungen des kapitalistischen Systems illustrierte. Bei aller Aufmerksamkeit für den Krieg in China und Südostasien blieb allerdings die Untersuchung der konkreten kolonialen Wirklichkeit in den von Japan besetzten Gebieten unterbelichtet. 208 Wie auch innerhalb der japanischen Gesellschaft wurde die Unterdrückung der Nationen vor allem angeprangert und nicht so sehr empirisch untersucht. Die politische Dimension dieser Geschichtsschreibung lag dabei auf der Hand. Im Widerstand oder in der Erfahrung der Unterdrückung, so könnte man die Stoßrichtung dieser Interpretation zusammenfassen, habe sich die japanische Nation konstituiert; der Krieg sei insofern als ein weiteres Glied in der jahrhundertelangen Kette politischer Bevormundung durch das autoritäre Tennôsystem erfahren worden. Die Forderung nach der Abschaffung der Institution des Tennô ließ sich so als wissenschaftlich abgestützte Konsequenz der jüngsten Geschichte präsentieren. In dieser Hinsicht erschienen Krieg und Niederlage dann auch nicht nur als ›Katastrophe‹, sondern ebenso als Voraussetzung für soziale und politische Emanzipation. »Gerade die Erfahrung des Krieges kann... die Kräfte und Einsichten, die für das Leben der Japaner nötig sind, hervorbringen und ist ein wertvolles nationales Erbe.«209

Hiroshima und Nagasaki An dieser Stelle gilt es noch von einer bemerkenswerten Zurückhaltung zu berichten, die sich auf die Ereignisse bezog, die das Ende des Krieges in Ostasien herbeigeführt hatten. Denn in der japanischen Geschichtsschreibung über die jüngste Vergangenheit spielten die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki nur eine untergeordnete Rolle. Häufig wurde die Funktion der Atombomben zur Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen lediglich mehr oder weniger kommentarlos konstatiert. Indes diente ›Hiroshima‹ in der japanischen Historiographie der fünfziger Jahre nur selten als Symbol für erlittenes Unrecht oder als Grundlage einer revisionistischen, apologetischen Interpretation des Zweiten Weltkrieges.210 Diese Marginalisierung der Atombombe in der historischen Forschung hatte mehrere Gründe. So blieb die Zeitgeschichtsforschung bis Mitte der fünfziger Jahre die unangefochtene Domäne der marxistischen Historiographie, die den Weltkrieg nicht als Auseinandersetzung zwischen Asien und dem Westen‹, son208 Myers, Post World War II Japanese Historiography. 209 Tôyama, Imai u Fujiwara, Shôwashi. Shinpan, s. i. 210 Vgl. für das Folgende den Uerblick von Schwentker, Hiroshima.

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dem als imperialistische Aggression der japanischen Militaristen auf dem asiatischen Festland interpretierte. In diesem Kontext markierte ›Hiroshima‹ lediglich das Ende des Expansionskrieges in China und Südostasien, demgegenüber der Konflikt mit den Vereinigten Staaten vergleichsweise in den Hintergrund geriet. Auch im konservativen Spektrum war im Rahmen der außenpolitischen Partnerschaft mit den USA und überdies im Zusammenhang mit der Einrichtung eines japanischen Kernenergieprogrammes in den fünfziger Jahren eine kritische Sicht auf die Atombombenabwürfe die Ausnahme.211 Vor allem aber führte die rigide Zensurpolitik der amerikanischen Besatzungsbehörden dazu, daß eine kritische Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Hiroshima und Nagasaki lange Zeit ausblieb. Dabei traten die Vereinigten Staaten zunächst als Garant der Pressefreiheit und der ungehinderten öffentlichen Diskussion auf, die in den Jahren vor 1945 stark eingeschränkt gewesen war. Auch in der auf amerikanische Entwürfe zurückgehenden Nachkriegsverfassung von 1947 wurde jede Form der Zensur ausdrücklich untersagt. Dennoch blieb in den ersten Jahren nach Kriegsende die Freiheit der Meinungsäußerung empfindlich eingeschränkt. In einer Direktive des amerikanischen Oberbefehlshabers vom 10. September 1945 hieß es: »Freedom of discussion ... is encouraged by the Allied Powers unless such discussion is harmful to the efforts of Japan to emerge from defeat as a new nation entitled to a place among the peace-loving nations of the world.«212 Auf der Grundlage dieser vagen Bestimmungen unterstanden hinfort sämtliche Druckerzeugnisse der Zensur amerikanischer Behörden, die sich in erster Linie gegen kritische Stimmen an der Politik der Besatzungsmacht richtete. Auf diese Weise entstand ein »geschlossener Sprachraum« (Etô Jun), dessen Grenzen von den Veränderungen der amerikanischen Japanpolitik bestimmt wurden. In diesem Zusammenhang ist in den letzten Jahren - wohl etwas überzogen - sogar die These vertreten worden, die restriktive Nachrichtenpolitik der Vereinigten Staaten habe sich von der Zensurpraxis der Kriegsjahre nicht wesentlich unterschieden.213 In Rahmen dieser allgemeinen Nachrichtenpolitik waren auch alle Berichte, literarischen Zeugnisse und Analysen der Atombombenabwürfe und ihrer Folgen Gegenstand von Zensurmaßnahmen. Während der Zeit der amerikanischen Besatzung konnte daher nur eine sehr geringe Anzahl von Aufsätzen und Büchern zur Atombombenproblematik überhaupt erscheinen. Die ersten photographischen Aufnahmen der Zerstörung, die der japanischen Öffentlichkeit seit Beginn der Besatzungszeit zugänglich gemacht wurden, erschienen im August 1952 in der Zeitschrift Asahi Graph - und da war das Ende der Okku211 Vgl. dazu allgemein Dower, The Bombed. 212 Zitiert nach Braw, Atomic Bomb, S. 27. 213 Vgl. Etô, Wasureta koto; Etô, Tozasareta gengo kûkan; Sato Takumi, Sôryokusen taisei.

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pationszeit bereits gekommen. Ein Bericht des Arztes Nagai Takashi aus Nagasaki erhielt 1949 die Druckerlaubnis erst, nachdem ihm auf amerikanische Anweisung ein Kapitel über japanische Kriegsverbrechen auf den Philippinen hinzugefügt wurde. 214 In den ersten sieben Jahren nach Kriegsende wurde die Frage der Atombomben daher in der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgespart. Pikanterweise, das hier nur in Parenthese, gehörte aber nicht nur die atomare Bombardierung zu den qua Zensur tabuisierten Themen der jüngsten Vergangenheit, sondern ebenso die Kriegsverbrechen der japanischen »Einheit 731« in der Mandschurei. Diese berüchtigte Sondereinheit hatte mit biologischen und chemischen Substanzen, die der bakteriologischen Kriegführung dienen sollten, jahrelang Menschenversuche an Tausenden von Gefangenen vorgenommen. Die Amerikaner hatten die Ergebnisse dieser Forschungen j e doch als militärisch relevant eingestuft und konfisziert und sich überdies um die weitere wissenschaftliche Kooperation der beteiligten Forscher bemüht. Aus diesem Grunde wurden diese Verbrechen im Zusammenhang mit dem Tôkyôter Kriegsverbrecherprozeß nicht aufgegriffen und auch in den Jahren danach auf Weisung der Besatzungsbehörden geheimgehalten. 215 In den Zusammenhang dieser Zensurpolitik muß auch die auffallende Vorsicht eingeordnet werden, mit der in den Darstellungen japanischer Historiker die Frage der Atombomben aufgegriffen wurde. In der offiziellen amerikanischen Version des Krieges hieß es lapidarisch: »It was decided to use this weapon immediately in an effort to shorten the war and save thousands of lives«. Danach wurde kurz über die technischen Daten der Bombe referiert, aber keinerlei Aussagen über Zerstörung und Opfer gemacht. 216 In der japanischen Historiographie begnügte man sich in den ersten Nachkriegsjahren zumeist mit kurzen Hinweisen auf Hiroshima und Nagasaki, die die Entscheidung zur Kapitulation erklären sollten. Nach Ende der Besatzungszeit (1952) änderte sich dies allmählich. Im Zuge der sich verschärfenden globalen Systemkonkurrenz wurden nun auch die Atombombenabwürfe im Kontext des Ost-West-Konfliktes interpretiert. In der Darstellung des Zweiten Weltkrieges im Standardwerk der Rekishigaku kenkyûkai wurde etwa massive Kritik daran geübt, daß eine halbe Million Menschen der antisowjetischen Machtpolitik der USA zum Opfer gefallen seien.217 Dies war mittlerweile in der marxistischen Historiographie die gängige Perspektive: ›Hiroshima‹ galt nicht so sehr als Bestandteil des Zweiten Weltkrieges, sondern bereits als erster Schlag gegen die Sowjetunion im begin-

214 Vgl. Braw, Atomic Bomb, S. 103, 94-99; Itð, Schaarschmidt u. Scharnoni, Seit jenem Tag; Treat, Writing. 215 Vgl. dazu Awaya,T ô k ôsaiban, S. 93-97; Harris, Factories. 216 GHQ, Histoncal Articles, S. 68f. Über das Resultat der Bombe hieß es: »The smoke of the Nagasaki detonation rose 50 000 feet into the air and was visible for more than 175 miles.« 217 Rekishigaku kenkyûkai, Taiheiyô sensôshi, Band 4, S. 155-159.

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nenden Kalten Krieg. Auch in der »Geschichte der Shôwazeit«, die 1955 von Tôyama Shigeki mit zwei anderen kôza/ui-Historikern veröffentlicht wurde und die japanische Zeitgeschichte aus marxistischer Perspektive behandelte, wurde der Abwurf der Atombomben in wenigen Sätzen abgehandelt. Dabei betonten die Autoren in erster Linie, daß die Atombomben nicht ausgereicht hätten, die japanische Regierung zur Kapitulation zu bewegen; erst das Eingreifen der Sowjetunion habe die japanischen Militaristen zur Räson gebracht.218

Der Großostasiatische Krieg (daitôa sensô) Selbst aus der Perspektive der kritischen marxistischen Geschichtsschreibung zählte der Krieg, wie wir gesehen haben, zum »nationalen Erbe«; vor allem war diese Vorstellung aber in der revisionistischen Literatur verbreitet, die seit dem Ende der Besatzungszeit 1952 gegen die historiographische Koalition aus marxistischer und alliierter Geschichtsschreibung zu Felde zog. Bereits 1953 erschien eine zwölfbändige Zusammenstellung der Erinnerungen ehemaliger Soldaten, die als »Geheime Geschichte des Großostasiatischen Krieges« erstmals die tabuisierte Bezeichnung des Krieges wieder im Titel führte. Dies galt auch für die im selben Jahr veröffentlichte vierbändige Geschichte des Krieges aus der Feder des ehemaligen Obristen Hattori Takushirô (1910-1960). Hattori hatte während der Besatzungszeit fünf Jahre in der historiographischen Abteilung der amerikanischen Armee gearbeitet, in deren Auftrag das Werk auch begonnen worden war. Er besaß Zugang zum Aktenbestand des Kaiserlichen Hauptquartiers und verfaßte auf dieser Basis eine rein militärgeschichtliche Darstellung des Krieges. Schon im Vorwort machte Hattori deutlich, gegen wen seiner Auffassung nach dieser Krieg im Kern gefochten wurde: er zitierte Fichtes »Reden an die Deutsche Nation« zur Zeit der Napoleonischen Besatzung, in der er eine historische Parallele zur amerikanischen Besatzung in Japan erkannte. Während also in der marxistischen Historiographie der Krieg vor allem als imperialistische japanische Aggression gegen das ›unschuldige‹ chinesische Volk interpretiert wurde, betrachtete Hattori den »Großostasiatischen Krieg« vor allem als Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten. Von den über 1600 Seiten seiner Abhandlung waren beinahe 1400 den Ereignissen seit dem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 gewidmet. Die Kolonialisierung Chinas hingegen wurde nur am Rande behandelt, und das Massaker von Nanking 1937 kam gar nicht erst vor. Diese Auswahl dessen, was überhaupt als historische ›Tatsache‹ gelten solle, war bereits geeignet, der Deutung der nationalen Geschichte eine andere Richtung zu geben - was von Hattori auch inten218 Tôyama, lmai u. Fujiwara, Shôwashi, S. 207-208. In der revidierten Auflage von 1959 fiel die Erörterung sogar noch knapper aus. Vgl. Tôyama, lmai u. Fujiwara, Shôwashi shinpan, S. 238.

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dieit war. Auch er grenzte die Kriegszeit also nicht aus dem Bestand wertvoller nationaler Erfahrungen aus. In der Beschreibung der geschichtlichen Kontinuität, in der sich das Wesen der Nation spiegele, sah Hattori die vordringliche Aufgabe der Geschichtsschreibung: »Die Geschichte ist der Weg, den ein Staat und eine Nation von der Vergangenheit in die Gegenwart und von der Gegenwart in die Zukunft zurücklegen, und dabei kann man eine tiefe Schicksalhaftigkeit nicht leugnen.« 219 Eine Abwendung von der als degradierend empfundenen marxistischen Geschichtsschreibung und damit eine alternative Bestimmung der Nation war das gemeinsame Motiv der revisionistischen Darstellungen der fünfziger Jahre, für die Takeyama Michios »Geistesgeschichte der Shôwa-Zeit« (also der Jahre seit 1926, dem Zeitpunkt des Regierungsantritts des Tennô Hirohito, dessen Regierungsdevise »Erleuchteter Friede« (shôwa) lautete) als weiteres Beispiel gelten kann. Typisch war für diesen Ansatz die Betonung der Schicksalhaftigkeit der Entwicklung, die Japan seit der vom Westen erzwungenen Modernisierung in den Krieg gegen eben jenen Westen geführt habe. Die gesamte japanische Nation - einschließlich ihrer zivilen und militärischen Führer - wurde als Opfer der Weltgeschichte präsentiert und sollte so als Ganzes rehabilitiert werden. 220

Quellenpositivismus im Dienste der Apologie Dies war auch die Stoßrichtung der großen Quellenedition über den »Weg in den Pazifischen Krieg«, mit der 1962/63 erstmals größere Archivbestände der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die siebenbändige Kompilation wurde von Tsunoda Jun herausgegeben, einem Experten für Diplomatiegeschichte, der Abteilungsleiter an der Reichstagsbibliothek in Tôkyô und später Professor an der Kokushikan-Universität war. Unter seiner Leitung edierten fünfzehn Historiker Dokumente aus den Akten des Außenministeriums sowie weiterer Ministerien und der japanischen Streitkräfte. Dabei entstand eine detaillierte Diplomatie- und Militärgeschichte der Jahre zwischen 1930 und 1941, die den japanischen Weg in den Krieg mit den Vereinigten Staaten nachzeichnete. In den kommentierenden Abschnitten wurde dabei eine gewisse Kontinuität der territorialen Expansionspolitik Japans seit 1868 nicht abgestritten. Anders als in der marxistischen oder amerikanischen Literatur wurde der Zweite Weltkrieg jedoch nicht als Ergebnis einer geschlossenen und zielstrebigen Politik der japanischen Führung aufgefaßt; Japan sei vielmehr in diesen Krieg ›hineingeschlittert‹. Die Autoren ignorierten aber auch nicht den japanischen Anteil an 219 Hattori Takushirô, Daitôa sensô, S. 3. Vgl. zu Hattori auch Minear, Nihon no rekishika. 220 Takeyama, Shôwa no seishinshi. Vgl. dazu die marxistische Kritik von Inoue, Bôkansha to giseisha.

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der Entstehung der militärischen Konflikte: so deckten sie die Verwicklung zentraler Tôkyôter Heeresstellen in die Vorbereitung des Mandschurei-Konfliktes oder die ausgeprägte Rolle der Marine als kriegstreibende Kraft auf. Überwiegend aber erschienen Japans Militärs und Politiker als loyale und integre Diener ihrer Nation.221 Von Seiten der kritischen marxistischen Geschichtsschreibung stieß diese Publikation auf heftige Kritik. Die Darstellung sei, so hieß es, apologetisch und gehorche der Logik des militaristischen Geschichtsbildes der Kriegsjahre. Dies zeige sich schon an rhetorischen Strategien wie der Vermeidung des Begriffes »Imperialismus« bei der Beschreibung der japanischen Politik der dreißiger Jahre. Vor allem aber werde eine klare Zuweisung der Verantwortung für den Angriffskrieg vermieden und dadurch eine verzerrte (nejimagé) und blutleere Deutung der Ereignisse geliefert, die sich positivistisch auf die Diplomatie- und Kriegsgeschichte beschränke.222 Ihre Brisanz zog diese Kontroverse jedoch nicht nur aus der interpretatorischen Differenz, etwa zwischen der Darstellung des Krieges im Werk der Rekíshigaku kenkyûkai und der Tsunoda-Gruppe. Denn es ging, gewissermaßen, nicht nur um das Subjekt der Geschichte - die japanische Nation, die hier anders bestimmt und definiert wurde als in der marxistischen Literatur - , sondern es ging gleichzeitig um die Frage nach dem legitimen Subjekt derGeschichtsschreibung.Das Skandalon bestand nämlich in der Tatsache, daß die konservativen Historiker um Tsunoda Jun für ihre Aufarbeitung der Außenpolitik der dreißiger Jahre Zugang zu umfangreichen Aktenbeständen erhielten, der den marxistischen Historikern verschlossen blieb. Denn während die marxistische Geschichtsschreibung auch nach 1945 eine oppositionelle Kraft blieb, die der konservativen Regierungspolitik kritisch und häufig auch feindselig gegenüberstand, profitierte die Darstellung des Krieges durch die Tsunoda-Gruppe von großzügiger amtlicher Unterstützung. Die Kooperation diverser Ministerien sowie der Dienststellen der japanischen Armee und Marine ermöglichte eine quellengesättigte Geschichtsschreibung, die auf dieser Basis einen monopolhaften Anspruch auf Authentizität und Wissenschaftlichkeit erheben zu können meinte. Tatsächlich warf man der marxistischen Historiographie ihre Quellcnferne, ihre mangelnde Empirie und ihre Konzentration auf die Kriegsursachen vor, die die ›eigentlichen‹ Ereignisse ignoriere. Erst die Kenntnis der Regierungsakten ermögliche, so lautete das Selbstvcrständnis, die Objektivität der historischen Forschung. Dies war übrigens auch die Perspektive, die unter amerikanischen Historikern überwog. Während die mit der Rekishigaku kenkyûkai assoziierte Geschichtsschreibung beinahe gänzlich ignoriert wurde (»their writings seem confused and dogma221 Nihon kokusai seiji gakkai et al., Taiheiyô sensô e no michi. Vgl. dazu auch Krebs, Tendenzen; B. Marti«, Japan und der Krieg in Ostasien; Tôyama, A Task for Historians;Jäckel, Beobachtungen. 222 Inumaru, Teikoku shugiteki rekishikan.

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tic«) 223 , pries man die »impressive number of objective diplomatic and military historians«, die an Tsunodas Werk mitgearbeitet hatten: »the result was a collection of remarkably objective essays«.224 In der Folge wurde auch so gut wie kein Werk der marxistischen Historiographie jener Zeit - die in Japan den akademischen Diskurs über die moderne Geschichte beinahe monopolisierte - ins Amerikanische übersetzt, wohl aber eine mehrbändige Auswahl der Kompilation der Tsunoda-Gruppe. 225 In Japan wurde also der Zugang zu den amtlichen Dokumenten nur sehr selektiv gewährt. In der Bundesrepublik war die Rückgabe der Akten durch die Alliierten mit der Auflage verbunden gewesen, der Wissenschaft jederzeit gleichberechtigten Zugang zu gewährleisten. In Japan war dies nicht der Fall. Ohnehin war die Beschlagnahme durch die Amerikaner weniger systematisch vor sich gegangen als in Deutschland. Auch die Prozeßakten des Kriegsverbrecherprozesses in Tôkyô waren (anders als in der Bundesrepublik) nur partiell veröffentlicht worden; Bestände, die sich noch in der Hand der Amerikaner befanden, waren nicht verfilmt und verzeichnet wie im Falle deutscher Akten.226 In Ermangelung offizieller Aktenpublikationen oder einer amtlichen Kriegsgeschichte besaßen Regierungsbehörden somit einen Entscheidungsspielraum in der Frage, wessen Interpretation der jüngsten Vergangenheit privilegiert werden sollte. Tatsächlich war die Mehrzahl der Historiker der TsunodaGruppe auf die eine oder andere Weise mit der Regierung affiliiert.227 Zudem wurde das Editionswerk mit offizieller Unterstützung unter anderem vom Außen-, Finanz- und Verteidigungsministerium finanziert. Das Ergebnis war eine Geschichtsschreibung, die der japanischen Nation einen anderen Platz zuwies, als dies bei marxistischen Historikern der Fall war: hier wurde der »schicksalhafte Krieg« nicht aus der Sicht Chinas oder der Sowjetunion dargestellt, sondern explizit als »Geschichte... mit Japan als Subjekt (Nihon o shutai to suru)«. 228

223 Borton, Modern Japanese Economic Historians, S. 305. 224 Morley, The fateful choice, Introduction. 225 In der japanischen Historiographiegeschichte - dies nur in Parenthese - lieferte die selektive Wahrnehmung den umgekehrten Befund: in den beiden Monographien zur japanischen Geschichtsschreibung der fünfziger und sechziger Jahre, beide aus der Feder von Rekishigaku kenkyûkai-Historikern, fehlt jeder Verweis auf T sunoda und sein Werk. Vgl. Nagahara, Rekishigaku josetsu und Tôyama, Sengo no rekishigaku. 226 Vgl. dazu Zadankai: Sengo 50 nen. Niwa, Kindai shiryôron; Hayashi, Japanische Quellen. Aufschlußreich sind auch die Berichte der beiden deutschen Historiker Martin Broszat (Zeitgeschichte) und Eberhard/äfkel(Beobachtungen) von ihren Japanaufenthalten. 227 So war Hata Ikuhiko Historiker des Finanzministeriums; Hosoya Chihiro und Nagaoka Shinjirô waren mit dem Außenministerium affiliiert. 228 Tsunoda, Atogaki.

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Die ›logische Konsequenz‹ der Moderne Gegen Ende der fünfziger Jahre, vor allem dann aber seit Beginn der sechziger Jahre stand also der akademischen Geschichtsschreibung, die den Krieg unter marxistischen Vorzeichen als imperialistischen Angriffskrieg brandmarkte, eine breiter werdende revisionistische Literatur gegenüber. Beide Seiten bezogen ihre Argumentationen direkt aufeinander und bezichtigten sich gegenseitig der Unwissenschaftlichkeit. Gemeinsam war ihnen aber die Betonung der Bedeutung des Krieges für das Selbstverständnis der Nation. In diesem Sinne wurde der Krieg von allen Teilnehmern an der Debatte als mationales Erbe‹ bezeichnet. Die Funktion dieses ›Erbes‹ für den Prozeß der Nationswerdung wurde aber sehr unterschiedlich bewertet: Für die marxistische Historiographie war das japanische Volk - wie auch die unterdrückten Völker Asiens - das eigentliche Opfer des Krieges, der von der militaristischen japanischen Führungsschicht angezettelt worden sei. Die revisionistischen Ansätze vollzogen diese Trennung der Nation in Volk und Herrschende nicht mit: Sie betrachteten vielmehr die gesamte Nation als Einheit, der der Krieg gegen ihren Willen aufgenötigt worden war. Die Auseinandersetzungen in China, in Südostasien und schließlich mit den Vereinigten Staaten erschienen so nicht als von Japan »entfesselte« Kriege (um einen Terminus von Walther Hofer zu entlehnen), sondern als das unvermeidliche Ergebnis der modernen Geschichte. Während für die marxistischen Historiker die Fahndung nach den sozioökonomischen Ursachen des Krieges im Vordergrund stand, wurde in der revisionistischen Literatur der japanische Kriegseintritt als schicksalhaften Prozeß verstanden - eine Vokabel, die in jeder dieser Darstellungen eine entscheidende Rolle spielte (und mit der weltgeschichtlichen ›Notwendigkeit‹ im marxistischen Diskurs konkurrierte). Auf diese Weise erschien Japan als das Objekt und Opfer der Weltgeschichte, als angegriffene Nation, die für den verlorenen Krieg nur bedingt Verantwortung übernehmen konnte. Die Entscheidung zur Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten war in dieser Lesart von der Geschichte (oder vom ›Schicksal‹) schon lange vorbestimmt worden. Dieser Perspektive hat der Philosoph Ueyama Shumpei, dessen Umdeutung der Meiji-Restauration oben schon behandelt wurde, in einem Aufsatz im Jahre 1961 deutlichen Ausdruck verliehen. Auch Ueyama betonte die »einzigartige nationale Erfahrung« des Krieges, dessen historische Wurzeln er bereits in der Zeit der › Ö f f n g ‹ Japans im 19. Jahrhundert festmachte. Die Öffnung des Landes und die nachfolgende M o dernisierung charakterisierte er als Antwort auf die Bedrohung von außen; die Wendung gegen den Westen« sei in der Logik der Meiji-Restauration quasi schon angelegt gewesen. »Die Entscheidung zur Öffnung implizierte mit beinahe logischer Notwendigkeit einen Kurs der Entwicklung, der von der Auflösung des Feudalismus über die Industrielle Revolution und den Einfall in un203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

terentwickelte Länder zum Zusammenstoß mit den fortschrittlichen Staaten führen mußte.« Jede Kritik am »Großostasiatischen Krieg« war für Ueyama daher auch eine Kritik am Fundament des modernen Japan, an der Meiji-Restauration. Wenn Japan damals nicht auf seine Souveränität verzichten wollte, »dann gab es keinen anderen Weg als den Krieg.«229

Revisionismus von ›außen‹ In den Darstellungen von Hattori Takushirô, Takeyama Michio, Ueyama Shumpei oder auch Hayashi Fusao erschien der Zweite Weltkrieg als historische Notwendigkeit, gleichsam als unverzichtbarer Bestandteil der Selbstbehauptung der Nation. 230 Dabei wurde der Krieg weitgehend auf die Auseinandersetzung zwischen Japan und den Vereinigten Staaten reduziert und zu einem antikolonialen Kampf zwischen ›Ost‹ und West‹ stilisiert.231 Häufig wurde dabei der Terminus des »Großostasiatischen Krieges« (daitôa sensô) wieder mobilisiert, dessen Gebrauch während der Zeit der amerikanischen Besatzung untersagt gewesen war und an dessen Versprechen von der Befreiung der asiatischen Völker man nun anzuknüpfen gedachte. Dieser Rückgriff auf die Propaganda der Kriegszeit signalisierte ein Wiederaufleben japanistischer Geschichtsbilder (kôkoku shikan), die im Rahmen der politischen ›Säuberungen‹ nach Kriegsende von den Universitäten verdrängt worden waren. Eine ähnlich prononcierte Rechtfertigung des Krieges war in der westdeutschen Historiographie nicht anzutreffen. Die prinzipielle Abwendung vom Nationalsozialismus und dem von ihm initiierten Angriffskrieg war im diskursiven Raum der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik gemeinsamer Ausgangpunkt jeder Interpretation. Dennoch demonstrierten etwa die Überlegungen Paul Klukes zu den Chancen einer europäischen Einigung nach dem militärischen Sieg über Frankreich, daß die Historiographie des Nationalsozialismus durchaus auch apologetische Ingredienzien hatte. Im Zeichen der Europakonzeptionen oder auch der Ost-West-Dichotomie des Kalten Krieges ließ sich auch die Geschichte des Dritten Reiches unter den veränderten politischen 229 Ueyama, Daitôa sensô, S. 100, 106, 106. 230 Hayashi Fusaos »Bejahung des großostasiatischen Krieges« (daitôa sensô kôteiron) erschien 1964 und sorgte für großes öffentliches Aufsehen. Hayashi interpretierte die moderne japanische Geschichte seit 1853, dem Zeitpunkt der Landung amerikanischer Schiffe in der Bucht von Uraga, als »hundertjährigen Krieg« mit dem Westen. In dieser Perspektive erschien der Zweite Weltkrieg lediglich als Episode in dem säkularen Ringen zwischen Asien und dem ›Westen‹. 231 Tsurumi Shunsuke hatte 1956 die Bezeichnung »15-jähriger Krieg« (jûgonen sensô) geprägt und damit dem Zusammenhang des Konflikts mit China seit 1931 und dem Angriff auf Pearl Harbor Ausdruck verliehen. Zunächst fand diese Neuschöpfung nicht den erhofften Widerhall unter den Historikern, avancierte aber später zur standardisierten Bezeichnung des Krieges gerade auch in der marxistischen Historikerschaft. Vgl. Tsurumi, Chishikijin.

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Bedingungen in einer Weise umdeuten, die retrospektiv als partielle Rechtfertigung gelesen werden konnte. Während diese Tendenzen aber nur selten offen propagiert wurden und zumeist zwischen den Zeilen herausgelesen werden mußten, trat der Revisionismus in Japan deutlich und lautstark an die Öffentlichkeit. Allerdings, und das muß im Kontrast zur bundesdeutschen Situation betont werden, war der Revisionismus in Japan nicht so sehr eine Sache der Historiker, sondern ein Phänomen, das von außen an die Historikerschaft herangetragen wurde. Die Quelleneditionen der Tsunoda-Gruppe etwa kamen auf Anregung und mit Unterstützung regierungsamtlicher Historiker und Gelder zustande; Hattori Takushirô war Militär. Dazu kamen die Deutungen des Krieges von Wissenschaftlern aus anderen Fakultäten: Takeyama Michio lehrte an der Germanistischen Fakultät der Universität Tôkyô; Ueyama war Philosoph am Institut für Humanwissenschaften (Jinbun kagaku kenkyûjo) der Universität Kyôto; Hayashi Fusao schließlich, der 1964 seine revisionistische Deutung des Krieges vorlegte, war Schriftsteller. Zwar reagierten die Vertreter der universitären Geschichtswissenschaft durchaus auf diese Herausforderungen, die aber (jedenfalls bis in die sechziger Jahre hinein) nicht von Historikern ausgingen. Diese Konstellation legt die Frage nahe, in welchem Verhältnis die Geschichtswissenschaft zur übrigen politisch-intellektuellen Landschaft stand und inwiefern sich die jeweiligen Deutungen von Faschismus und Krieg unterschieden. Dieser Frage soll im folgenden Exkurs anhand der Problematik der Schulbuchdiskussion stellvertretend kurz nachgegangen werden. Schulbücher fungieren als ein Scharnier zwischen der wissenschaftlichen Forschung und den nichtakademischen Repräsentationen der Vergangenheit. Der Mechanismus der staatlichen Kontrolle bei der Auswahl der Textbücher, die wiederum von Historikern oder zumindest auf der Basis der wissenschaftlichen Forschung erstellt wurden, diente der Vermittlung akademischer und öffentlicher Ansprüche an die Geschichtsschreibung. In Japan sorgte die politische Kluft zwischen konservativem Erziehungsministerium und der linken Historikerschaft dafür, daß die Konflikte um ein allgemeines Geschichtsbild in den Zulassungsverfahren für Schulbücher kulminierten. Daher erscheinen diese Auseinandersetzungen besonders geeignet, einen Eindruck vom gesellschaftlichen Stellenwert des wissenschaftlichen Geschichtsbildes zu vermitteln.

Exkurs Die Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft: Schulbücher Die Anordnung, neue Lehrbücher für den Geschichtsunterricht an den Schulen zu erstellen, gehörte sowohl in Westdeutschland als auch in Japan zu den ersten Maßnahmen der (amerikanischen, aber auch britischen und französi205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

s c e n ) Besatzungsbehörden. 232 Dabei wurde von alliierter Seite lediglich festgelegt, was in den neuen Unterrichtswerken nicht gelehrt werden durfte. In einer Direktive des Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland im Juli 1945 hieß es beispielsweise, in den Schulbüchern sei alles zu untersagen, »was den Militarismus verherrlicht, auf Kriegsführung ... und Kriegsvorbereitung eingeht;... was darauf hinzielt, nazistische Lehren zu propagieren ... oder zu rechtfertigen; ... was diskriminierende Maßnahmen aufgrund von Rassenzugehörigkeit, Nationalität ... oder politischer Einstellung unterstützt«. 233 Vor dem Hintergrund dieser vagen Richtlinien wurden in beiden Ländern die bestehenden Lehrbücher überprüft sowie neue Geschichtsbücher entwickelt. Dabei lassen sich zwei hauptsächliche Unterschiede lokalisieren, die den Umgang mit Geschichtslehrbüchern auch in den folgenden Dekaden charakterisieren sollten: zum einen war in Japan die universitäre Historikerschaft stärker in die Produktion der Schulbücher eingebunden als das in Westdeutschland der Fall war. Und zum anderen entzündeten sich in Japan anhand der Schulbuchzulassung grundsätzliche Kontroversen über die legitime Interpretation der japanischen Geschichte, die in der Bundesrepublik, wenn sie überhaupt in derselben Schärfe auftraten, in anderen Arenen verhandelt wurden. Schon in der Beurteilung des ersten japanischen Geschichtslehrbuches der Nachkriegszeit, dem 1946 fertiggestellten Werk über den »Weg der Nation« (kuni no ayumi) traten die Gegensätze auf, die für die Schulbuchdebatten charakteristisch bleiben sollten: dem von einer Gruppe konservativer Historiker aufAnweisung des Erziehungsministeriums (Monbushô) verfaßten Werk wurde von seinen marxistischen Kritikern dreierlei vorgeworfen: erstens forciere es eine tennôzentrische Sicht auf die japanische Geschichte, die sich unter anderem in der Verwendung besonderer Höflichkeitsfloskeln (keigo) äußere, wenn von der regierenden Dynastie die Rede war; dieser Tennôzentrismus (kôshitsu chûshin shugi) widerspreche den Anforderungen an ein demokratisches Lehrbuch. Zweitens werde der zurückliegende Krieg nicht als Resultat des japanischen Imperialismus mit der gebotenen Schärfe kritisiert, sondern zu wohlwollend beurteilt; und drittens werde das japanische Volk durch die Geschichte hindurch zu einer homogenen Einheit stilisiert und dabei die internen Gegensätze und Klassenkonflikte ausgeblendet.234

232 Einen Überblick über Geschichtsbücher in der Zeit vor 1945 vermitteln Flessau, Schule; Genschel, Politische Erziehung bzw. Caiger, Aims. 233 Zitiert nach Mayer, Neue Wege, S. 278. 234 Inoue, Kuni no ayumi hihan.Vgl. auch ders. et al., ›Kuni no ayumi‹ no kentô.

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Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Die Beziehung zwischen akademischer Geschichtswissenschaft und dem Geschichtsunterricht an den Schulen war in Japan in der Nachkriegszeit sehr eng. Angesichts der Indoktrination des nationalistischen Geschichtsbildes vor 1945 legte die nun in weiten Teilen marxistische Historikerschaft großen Wert auf die Verbindung von Unterricht und Wissenschaft. Es entstand eine enge Kooperation der Historikerverbände mit den diversen Geschichtslehrerverbänden, die auch gemeinsame Tagungen abhielten.235 Zudem verfaßten zahlreiche marxistische Historiker Überblickswerke über die japanische Geschichte, die häufig auch als Schulbücher konzipiert waren. Die Literaturübersicht des Historikerverbandes Shigakkai nennt 1951 bereits mehr als zwanzig allgemeine Handbücher zur japanischen Geschichte, die durch ein Vielfaches an Überblickswerken zur Verfassungs-, Sozial-, Wirtschafts- oder Kulturgeschichte ergänzt wurden. Zum Vergleich: in der Bundesrepublik wurde das erste Handbuch zur deutschen Geschichte, das in der Nachkriegszeit entstanden war, von dem Kölner Historiker Peter Rassow erst 1953 vorgelegt. 236 Das heißt nicht, daß es nicht auch in der Bundesrepublik Versuche der Kooperation zwischen Historikern und Geschichtslehrern gegeben hat. Das prominenteste Beispiel ist die 1950 gegründete und von dem damaligen Kölner Privatdozenten Karl Dietrich Erdmann gemeinsam mit Felix Messerschmid (dem Direktor der Württembergischen Akademie für Erziehung und Unterricht‹ in Calw) herausgegebene Zeitschrift »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht«, die als gemeinsames Forum für Historiker an Schulen und Universitäten diente. Die Herausgeber der Zeitschrift waren »der Überzeugung, daß um der Sichtung und Sicherung unverlierbarer Werte unserer nationalen Geschichte willen, die dem Geschichtsunterricht aufgetragen ist, Universitäten und Schule sich zu einer geduldigen gemeinsamen Bemühung zusammenfinden sollten.«237 Und der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands‹, der an eine 1913 gegründete und 1934 gleichgeschaltete Vorgängerinstitution anknüpfte, wurde sogar während des Historikertages 1949 in München gegründet, zu dem auch die Geschichtslehrer eingeladen worden waren. Einige Historiker wie Gerhard Ritter oder auch Franz Schnabel beteiligten sich an der Abfassung und der Herausgabe von Geschichtslehrbüchern für die Schulen. Andere wie Karl Dietrich Erdmann, Hans Rothfels oder Leo Just waren aktiv an der Schulbuch- und Lehrplankonzeption beteiligt. 238 235 Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 65-71, 118-128. 236 Shigakkai, Shigaku bunken mokuroku, S. 7-10. Vgl. auch Yamada Mitsuhiro, Sengo ›Nihon tsûshi bunken mokuroku. 237 So die Herausgeber der Zeitschrift in: GWU 1 (1950), S. 1. Vgl. zur Gründungsphase der Zeitschrift auch Erdmann, Erinnerungen. 238 Siehe auch G. Ritter, Der neue Geschichtsunterricht. Vgl. dazu Mayer, Neue Wege, S. 3 9 0 436.

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In den Jahren der Besatzung wurde häufig noch mit Unterrichtswerken aus der Weimarer Zeit gearbeitet, die zum Teil textgleich nachgedruckt wurden, wenn sie ein alliiertes Überprüfungsverfahren passiert hatten. Aber auch zahlreiche neue Lehrbücher aus den fünfziger Jahren griffen auf die Werke aus der Weimarer Zeit zurück, die häufig auch von den ursprünglichen Autoren überarbeitet wurden. Als Ergebnis dieses Rückbezugs, der das Dritte Reich immer nur aus der Perspektive eines Status quo ante in den Blick nahm, tendierte die Mehrzahl der Lehrbücher dazu, den Nationalsozialismus als Ausnahme und ›Unfall‹ der deutschen Geschichte zu betrachten. Dies führte dazu, daß das deutsche Volk als unschuldiges Opfer geschildert wurde, das einer kleinen Clique von Nationalsozialisten in die Hände gefallen war, denen auch die Verbrechen des Regimes angelastet werden konnten. Der Holocaust wurde daher zumeist nur mit einigen wenigen Sätzen erwähnt; stattdessen nahm die Schilderung des Krieges, die ebenfalls auf einer Trennung von Nationalsozialisten und Wehrmacht beruhte, breiten Raum ein. Im »Geschichtlichen Unterrichtswerk« von 1957 beispielsweise hieß es zur Judenvernichtung: »Hitler wußte, daß er der deutschen Armee und seinem Offizierskorps derartige Menschenvernichtungsbefehle nicht zumuten durfte. Deshalb ließ er Sondertruppen aufstellen«. 239 Nicht anders als in der universitären Geschichtswissenschaft war also die Behandlung von Drittem Reich und Krieg auch in den Schulbüchern der fünfziger Jahre von der Dichotomie Volk-Führung und der Charakterisierung der Nation als Opfer des Nationalsozialismus geprägt.240 Anders als in der Bundesrepublik entwickelten sich die Schulbücher in Japan zu einem umkämpften Terrain der Auseinandersetzung über die Deutung der Vergangenheit. In der Besatzungszeit wurde die Schulbuchzulassung, die sich auf das Schulgesetz von 1948 stützte, noch relativ liberal gehandhabt. Dies änderte sich 1953, als nach Abzug der Besatzungsmacht und im Rahmen des konservativen ›roll back‹ in der Schulpolitik die Zulassung aller Lehrbücher der zentralen Verfügung des Erziehungsministeriums (Monbushô) unterstellt wurde. Diese Kompetenz, die 1958 durch die Bindung der Lehrbücher an zentrale Unterrichtsleitfäden ergänzt wurde, eröffnete dem Ministerium die Möglichkeit der Zensur unliebsamer Interpretationen - und, auf der Ebene des Schulunterrichts, die Etablierung einer staatlich-offiziellen Deutung der Geschichte der Nation. 241 Die besondere Aufmerksamkeit, die die marxistische Geschichtswissenschaft nach dem Krieg dem Problem der Geschichtserziehung widmete, führte dazu, daß an dieser Schnittstelle - der staatlichen Approbation 239 Zitiert nach Pingel, Nationalsozialismus. 240 Vgl. dazu Mayer, Neue Wege; Uhe, Nationalsozialismus; Pingel, Nationalsozialismus; Markmann, 20. Juli; Reich u. Stammwitz, Antifaschistische Erziehung. 241 Dieses zentrale Zulassungsverfahren unterschied die Situation also von der dezentralen Praxis der ersten Nachkriegsjahre wie auch von der föderalen Struktur des bundesrepublikanischen Verfahrens. Vgl dazu die Überlegungen von Buruma, Wages of Guilt, S. 183-201.

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der von Wissenschaftlern verfaßten Lehrbücher - der Konflikt vorprogrammiert war.242

Die Ienaga-Prozesse Besonders augenfällig wurde dieser Gegensatz anläßlich der Auseinandersetzungen um die Geschichtsbücher des Historikers Ienaga Saburô; die Fronten dieses Konfliktes sollen daher im folgenden exemplarisch skizziert werden. Ienaga war als Experte der japanischen Religions- und Geistesgeschichte ausgewiesen und galt den Marxisten in den ersten Jahren nach dem Kriege als Reaktionär - nicht zuletzt ob seiner Skepsis gegenüber der von den Vereinigten Staaten verordneten Demokratie. Pikanterweise (vor dem Hintergrund der späteren Auseinandersetzungen) gehörte Ienaga auch zu den Autoren des ersten Nachkriegsgeschichtsbuches »Der Weg der Nation« (kuni no ayumi), das von oppositionellen Historikern seiner nationalistischen Tendenzen wegen scharf kritisiert worden war. Seit Beginn der fünfziger Jahre aber wandte sich Ienaga zunehmend sozialgeschichtlichen Themen zu und wurde auf seiten der Linken politisch aktiv. Auch sein Schulbuch für den Geschichtsunterricht der Oberstufe, das er 1952 zur Zulassung vorlegte, ähnelte stark der Darstellung der japanischen Geschichte in den marxistischen Handbüchern. Nach der Einführung der zentralen Zulassungsverfahren begann dann 1956 mit der erstmaligen Ablehnung von lenagas Werk eine zunehmend öffentlich geführte Auseinandersetzung über die Interpretation der japanischen Geschichte, die Freiheit des Wissenschaftlers und die Macht des Staates auf dem Gebiet der Erziehung. lenagas Buch wurde Einseitigkeit vorgeworfen und Überarbeitungen nahegelegt, die er zum großen Teil auch ausführte. Nach einem neuerlichen Verbot 1963 stellte Ienaga den ursprünglichen Text wieder her und klagte 1966 gegen den japanischen Staat. Der Prozeß und die Folgeverfahren zogen sich bis in die neunziger Jahre hin.243 Die Passagen, die das Erziehungsministerium für revisionsbedürftig hielt, lassen Rückschlüsse auf die unterschiedliche Deutung der Vergangenheit zu, um die hier zwischen einer staatlichen Behörde und dem von der marxistischen Historikerschaft unterstützten Wissenschaftler Ienaga gerungen wurde. Die Zensur bezog sich einerseits auf photographische Abbildungen japanischer Kriegsverbrechen sowie einzelne Formulierungen, die angeblich den japanischen Anteil am Zweiten Weltkrieg zu sehr betonten. Zudem sollten auch die - aus Sicht der Ministerialbeamtcn - positiven Konsequenzen dieses Krieges 242 Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 205-216. 243 Vgl. zu Ienaga vor allem Bellah, Ienaga Saburô. Zur Geschichte der Schulbuchprozesse vgl. Fujisawa, Nihon no rekishi kyôkasho mondai; Duke, Teachers; Bosworth, Auschwitz, S. 186-190.

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nicht verschwiegen werden. Vor allem aber, und dieses Bemühen durchzog die Beurteilung von lenagas Werk durch die Textbuchabteilung des Erziehungsministeriums, sollte die japanische Nation als homogene Einheit präsentiert werden, die nicht durch innere Konflikte gespalten war. So wurden beispielsweise Abbildungen von Demonstrationen moniert, die die vorgeschriebene Harmonie zwischen Volk und Regierung in Frage stellten. Ienaga hingegen behandelte nicht die Gesamtheit der Japaner als Kern der Nation, sondern - nach marxistischer Orthodoxie - lediglich die »Triebkräfte« derjeweiligen Epoche. In seinem Lehrbuch stellte er daher eine (vom Ministerium allerdings beanstandete) Seite zusammen, auf der »Menschen, die Träger der Geschichte waren« bildlich festgehalten wurden: früher verkörperten demnach die Bauern, nun hingegen die Arbeiter das progressive Element der Nation.244 Anhand der öffentlichen Debatten und gerichtlichen Verfahren um das Lehrbuch wurden Auseinandersetzungen geführt, die innerhalb der akademischen Geschichtswissenschaft in dieser Form kaum stattfanden. Dabei ging es nicht lediglich um die Bewertung einzelner Ereignisse, sondern um das durch die Institution der allgemeinen Erziehung verbindlich gemachte Bild von der Nation. Und so begründete das Erziehungsministerium seine Ablehnung von lenagas Geschichtsbuch auch mit dem »Eindruck, daß die Unterrichtsziele im Fach Japanische Geschichte verfehlt werden, wonach durch die Beschäftigung [mit der japanischen Geschichte] die Verdienste der Vorfahren anerkannt, das Bewußtsein als Japaner vertieft und eine starke Liebe zur Nation erweckt werden soll.«245 In gewisser Weise war dies ein Stellvertreterkrieg: die Exponenten eines expliziten Nationalismus waren nach 1945 von den Universitäten verdrängt worden; mindestens aber waren ihre Deutungen der Vergangenheit wissenschaftlich diskreditiert. In diesem Vakuum, das nach der Marginalisierung der bisher herrschenden Schule entstand und zu einer Veränderung der Kräfteverhältnisse führte, etablierte sich rasch die marxistische Geschichtswissenschaft als stärkste Kraft. Die Kritik an der Hegemonie des Historischen Materialismus, die seit dem Koreakrieg und dann vor allem seit Mitte der fünfziger Jahre einsetzte, kam daher vor allem von außerhalb der historischen Fakultäten. In diese allgemeinen Auseinandersetzungen waren auch die Konflikte um die Lehrbuchzulassung einzuordnen.

244 Vgl. die Zusammenfassung der inhaltlichen Auseinandersetzung bei Foljanty-Jost, Schulbuchgestaltung sowie Hõritsu jihô, Kyôkasho. 245 Zitiert nach Foljanty-Jost, Schulbuchgestaltung, S. 40.

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Das Geschichtsbild des japanischen Erziehungsministeriums Das Schulbuch-Prüfungsamt (kyôkasho chôsabu) des Erziehungsministeriums avancierte nicht zufällig zum wichtigsten Gegenspieler der marxistischen Geschichtsschreibung. Dort hatte eine Reihe von Historikern Anstellung gefunden, die vor 1945 zu der nationalistischen Gruppierung um Hiraizumi Kiyoshi gehört hatten. Hiraizumi galt als prominentester Vertreter einer japanistischen Geschichtsauffassung (kôkoku shikan), die im Rahmen der ›Säuberungen‹ von den großen Universitäten vertrieben worden war. Einige seiner Schüler waren nun im Erziehungsministerium beschäftigt worden, wo nationalistischere Ansichten nach wie vor Konjunktur hatten. Der damalige Minister Okano Seigô etwa hatte im Februar 1953 im japanischen Parlament zur Bewertung des Krieges erklärt: »Die Tatsache, daß Japan sich so vieler Gegner annahm und sie vier Jahre bekämpfte,... stellt unsere Überlegenheit unter Beweis.« 246 Diese Überzeugung charakterisierte auch das Geschichtsbild der für die Zulassung von Lehrbüchern zuständigen Historiker, von denen der Hiraizumi-Schüler Murao Jirô der bekannteste war.247 Muraos Geschichtsauffassung läßt sich anhand seines Überblickswerkes über »Das Leben des Volkes«, das er Mitte der sechziger Jahre veröffentlichte, gut nachvollziehen. Darin ging es ihm darum, die »Individualität der japanischen Kultur« und die »Kraft des japanischen Volkes« darzustellen, indem er - in dezidierter Absetzung von der Deutung marxistischer Lehrbücher - »die überragenden Persönlichkeiten und die herausragenden Ereignisse« der japanischen Geschichte in den Mittelpunkt rückte. Anstelle der sozialen Antagonismen des Klassenkampfes plädierte Murao für ein homogenisierendes Verständnis der Nation: »Das Gemeinschaftsgefühl und die Liebe innerhalb der Nation, die Sprache und Geschichte teilt, sollte über die individuellen Unterschiede hinweg die Menschen aneinanderbinden.« Auch die Geschichtsschreibung sei ein Beitrag zur Konstituierung dieser nationalen Gemeinschaft.248 Diese Aufgabe impliziere nun, daß auch die jüngste Vergangenheit nicht so negativ dargestellt werden dürfe, wie dies seitens der Marxisten geschehe. Murao pries daher die Meiji-Restauration und den Russisch-Japanischen Krieg (von 1904/05) als »Dienst des modernen Japan an Asien«. Auch für seine Rolle im »Großostasiatischen (pazifischen) Krieg« werde »Japan von den asiatischen Völkern Dank entgegengebracht«. 249 In diesen Worten spiegelte sich ein alternatives Verständnis von der japanischen Geschichte, das durch einen tiefen Graben vom marxistischen Ge246 Zitiert nach lenaga, Taiheiyô sensô, S. 8. 247 Vgl. zur Historiographie des Monbushô vor allem Satô Nobuo, Kôkoku shikan. Siehe auch Nakaßma, Armut. 248 Murao Jirô, Minzoku no seimei, S. 1,3. 249 Murao Jirô, Minzoku no seimei, S. 218, 219.

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schichtsbild getrennt war. Beiden Interpretationen war es dabei, wie bereits mehrfach betont, um die Bestimmung der Nation zu tun. Die inhaltliche Füllung dieses Begriffs konnte aber unterschiedlicher kaum sein. Durch die M e chanismen der zentralisierten Schulbuchzulassung führten diese Gegensätze dazu, daß vor allem marxistische Historiker die Lehrbücher verfaßten, die sodann von den nationalistischen Experten der Prüfungsbehörde im Erziehungsministerium zensiert und evaluiert wurden. Nach ihrer Zulassung dienten diese Bücher dann einer in ihrer Mehrheit kritischen, linken Lehrerschaft zum Geschichtsunterricht in einer Gesellschaft, die wiederum im Laufe der fünfziger Jahre zunehmend konservativer wurde. Diese komplexen Wechselbeziehungen prägten aber nicht nur die Diskussion um die Lehrbücher, sondern waren Teil einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Interpretation der Vergangenheit im öffentlichen Gedächtnis. Vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, als die offiziellen 100 -Jahr- Feiern der MeijiRestauration anstanden und 1967 der mythische, über 2600 Jahre zurückliegende Reichsgründungstag (kigensetsu) als nationaler Feiertag wieder eingeführt wurde, strukturierte der Gegensatz zwischen marxistischen Wissenschaftlern und konservativem Establishment die Kontroversen über die symbolische Repräsentation der japanischen Geschichte.250 Die interpretatorische Kluft, die sich in Japan zwischen weiten Teilen der marxistischen Historikerschaft und der konservativeren Regierung und Bürokratie auftat, war somit sehr viel tiefer als die Gegensätze, die der westdeutschen Debatte ihre Dynamik verliehen. Nicht zuletzt hing dies damit zusammen, daß eine marxistische Geschichtsdeutung in Deutschland auf das Gebiet der DDR abgedrängt wurde und somit ein Konflikt, der innerhalb der japanischen Gesellschaft ausgehandelt wurde, in Deutschland im Rahmen der Systemkonkurrenz sozusagen ausgelagert worden war. Bei der Erklärung dieser Polarität von Wissenschaft und Politik spielte überdies eine Rolle, daß die kritische Distanz vieler japanischer Intellektueller gegenüber dem offiziellen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit in den ersten Nachkriegsjahren deutlich größer war als in Westdeutschland - wobei andererseits auch nicht übersehen werden sollte, daß restaurative Tendenzen gerade etwa im bürokratischen Apparat in Japan vermutlich stärker waren als in der Bundesrepublik. 251 Doch die größere Distanz zwischen wissenschaftlichem und dem von der Regierungspolitik vertretenen Geschichtsbild war auch nicht nur darauf zurückzuführen, daß sich eine marxistisch dominierte Historikerschaft sukzessive von einer allgemein akzeptierten Deutung der japanischen Geschichte entfernte. Vielmehr haben etwa die Debatten um die Begehung des 50. Jahrestages 250 Vgl. Tôyama, Sengo no rekishigaku, S. 1-4. 251 Vgl. dazu Yamazaki u. Ruprecht, Rekishi to aidentitî.

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des Kriegsendes 1995 dokumentiert, daß auch das offizielle Geschichtsverständnis häufig weit von einem gesellschaftlichen Konsens entfernt war.252 Dennoch könnte man ein Paradox darin sehen, daß gerade diejenigen japanischen Historiker, denen die politische und gesellschaftliche Relevanz ihrer Tätigkeit so sehr am Herzen lag, mit Teilen der Gesellschaft in solch heftige Auseinandersetzungen gerieten. Uehara Senroku etwa, Historiker an der Hitotsubashi-Universität (der ehemaligen Handelshochschule), betonte, wenn Historiker sich nicht in politische Fragen einmischten, »dann können sie auch keine geschichtswissenschaftliche Forschung betreiben, und auch wenn sie sie betrieben, wäre sie ohne jede Bedeutung«.253 In der Bundesrepublik wurde nur selten so explizit auf die politischen Konnotationen der Geschichtsschreibung Bezug genommen. Stattdessen kultivierten die meisten Historiker das Bild des überparteilichen Gelehrten, der sich nicht in die Niederungen parteipolitischer Auseinandersetzungen herabbegebe. Die öffentliche Wirksamkeit wissenschaftlicher Forschung wurde bisweilen sogar als Bedrohung objektiver Erkenntnis behandelt. Hans Herzfeld etwa gefiel sich darin, das hohe Lied des elfenbeinernen Turmes anzustimmen: »Diese Öffentlichkeit bedeutet für [die Geschichtsschreibung] Belastung und selbst Gefährdung oder wenigstens erschwerende Verzögerung ihrer eigentlich produktiven Arbeit«.254

3. Schluß Die Interpretation von Nationalsozialismus und Faschismus stellte die Historiker in Westdeutschland und Japan nach 1945 vor besondere Schwierigkeiten. Dies äußerte sich unter anderem darin, daß (vor allem in den ersten Nachkriegsjahren) den Untersuchungen zurjüngsten Vergangenheit zumeist Erklärungen vorangestellt wurden, die über die persönlichen Beziehungen der Historiker zum Gegenstand der Analyse Auskunft gaben. Anders als bei der Interpretation weiter zurückliegender Epochen schien hier die Offenlegung des eigenen Standpunktes geradezu eine Voraussetzung zu sein, wenn die wissenschaftliche Deutung Gehör finden sollte. Auffällig war nun (und das war das Thema dieses Abschnittes), daß sowohl in Westdeutschland als auch in Japan die Historiker, die sich zurjüngsten Geschichte äußerten, dies nur aus einer kritischen, ja ablehnenden Position heraus taten. Wenn man die Frage nach den )wirklichen‹ Ansichten der einzelnen Historiker hier einmal einklammert, erschien die Distanzierung von Nationalsozialismus und Faschismus nach 1945 252 Vgl. dazu Seraphim, Der Zweite Weltkrieg. 253 Zitiert nach Tóyama, Sengo no rekishigaku, S. 119. 254 Herzfeld, Internationaler Kongress, S. 510.

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gewissermaßen als Vorbedingung einer Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs. Dies war keineswegs eine selbstverständliche Entwicklung - auch wenn der bundesrepublikanische Grundkonsens, der das Dritte Reich als negative Folie des eigenen Selbstverständnisses betrachtet, dies im Rückblick suggerieren könnte. Aber die radikale Distanzierung von der jüngsten Vergangenheit mithin von einer Periode, in der die Mehrzahl der Historiker nicht durch Kritik hervorgetreten war - muß als ein außerordentliches Phänomen bezeichnet werden, für das es nicht allzu viele Präzedenzfalle geben dürfte. Der bloße Verweis auf den verbrecherischen Charakter der Regimes in Deutschland und Japan vor 1945 greift als Erklärung zu kurz; dafür waren die Situationen in beiden Ländern zu unterschiedlich. In Japan hatte es keine Vernichtungspolitik gegeben, und auch die interne Repression politischer Opposition war nicht so rigide wie in Deutschland. Die Diskreditierung der jüngeren Vergangenheit war somit nicht von der ›Realgeschichte‹ der Zeit vor 1945 aufgezwungen, sondern läßt sich nur im Rahmen des Diskurses der Jahre nach 1945 verstehen. »Zweifelsohne«, das war auch die Überzeugung der Beteiligten, »spielte dabei der Umerziehungswille der Siegermächte eine große Rolle.«255 Im Rahmen von Reeducation-Politik, Gesellschaftsreformen und der Kriegsverbrecherprozesse griffen die Alliierten (und hier, wie deutlich wurde, vornehmlich die Amerikaner) in den Prozeß ein, innerhalb dessen nach 1945 die Deutung der deutschen und japanischen Geschichte erneut ausgehandelt wurde. Zudem wurden durch Entnazifizierungsverfahren und ›Säuberungen‹ an den Hochschulen bestimmte (nationalistische) Interpretationen ausgegrenzt. Auf diese Weise wurde nicht nur die nachträgliche Distanzierung, sondern auch die oppositionelle Haltung in den Jahren vor 1945 zu einem Faktor, der noch nach Ende des Krieges die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit beeinflußte. Wer seine oppositionelle Haltung zum Nationalsozialismus glaubhaft machen konnte, schien damit auch seiner Interpretation der Vergangenheit Beweiskraft verliehen zu haben; die Biographie wurde, wenn man so will, zur Epistemologie. Vor diesem Hintergrund betrachteten die meisten Historiker es als ihre Aufgabe, ein den nationalen Bedürfnissen entsprechendes Geschichtsbild zu entwerfen. »Der Historiker ist in erster Linie dazu berufen, Orientierung zu geben.«256 Im Gegensatz zur Bevölkerung, die in den zurückliegenden Jahren systematisch getäuscht und unterdrückt worden sei, verfügten die Historiker ihrem Selbstverständnis gemäß über eine »klare Fernsicht« (G. Ritter), die sie den Wirren der Zeitläufte zu entheben schien. Die Regeln des Diskurses, so könnte man behaupten, nötigten den Historiker dazu, sich selbst außerhalb des Diskurses zu situieren. Erst von dieser vorgeblich archimedischen Position aus erschien es möglich, zu einer wissenschaftlich gesicherten und objektiven 255 Hofer, Der mißbrauchte Ranke, S. 542. 256 Wagner, Geschichte, S. 324.

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Deutung der Geschichte zu gelangen. Dieses Selbstverständnis, das dürfte deutlich geworden sein, liegt dieser Arbeit nicht mehr zugrunde. Das Vertrauen in die Prägekraft wissenschaftlicher Geschichtsschreibung ist inzwischen verloren gegangen. In den fünfziger Jahren hingen die Historiker zumeist noch der Vorstellung an, als »Arzt« oder »Seelsorger« ihres Volkes ein passendes nationales Geschichtsbild bereitzustellen. Hier dagegen wird diese Stilisierung selbst wiederum als Ergebnis eines übergreifenden Diskurses der Nachkriegszeit verstanden. Im zweiten Abschnitt des Kapitels stand dann im Vordergrund, wie sich die nationale Geschichtsschreibung mit derjenigen Phase der Vergangenheit auseinandersetzte, die als ›Katastrophe‹ oder als ›dunkles Tal‹ galt und sich daher als Ressource nationaler Selbstvergewisserung nur bedingt zu eignen schien. Statt jedoch die Geschichte der dreißiger und vierziger Jahre aus der historiographischen Identitätssuche auszuklammern, unterstrichen sowohl deutsche als auch japanische Historiker die Zugehörigkeit der Epoche des Faschismus zur nationalen Tradition. So wies Tôyama Shigeki auf die Bedeutung hin, die selbst der Krieg für die Formation eines ›Neuen Japan‹ haben könne: »Gerade die Erfahrung des Krieges kann ... die Kräfte und Einsichten, die für das Leben der Japaner nötig sind, hervorbringen und ist ein wertvolles nationales Erbe.«257 Und auch Peter Rassow versicherte sich des Stellenwertes der Erfahrung des Dritten Reiches als Ingredienz nationaler Identität: »Aber das Nationalbewußtsein ernährt sich auch von den großen geschichtlichen Leidens- und Hochstimmungs-Perioden ... und ich scheue mich nicht hinzuzufügen: die Leiden, die die Gewaltherrschaft Hitlers und der grausige Absturz in die Tiefe 1939-1945 über uns gebracht haben - das sind nationbildende Kräfte ... sie sind unser und werden immer unser sein.«258 Aus diesem Grund kam es auch nicht zu einer pauschalen ›Verdrängung‹ der Jahre zwischen 1930 und 1945 in der Historiographie. Die jüngste Vergangenheit wurde keineswegs prinzipiell ausgespart, sondern lediglich aus einer bestimmten Perspektive selektiv in den Blick genommen. Innerhalb dieses Deutungsrahmens schien in der Historiographie das Dritte Reich und der Faschismus als mationale Erfahrung‹ interpretiert werden zu können. Dieser Ansatz führte dazu, daß die Nation zumeist als das eigentliche Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft repräsentiert wurde. Als Folge der U n terscheidung in ›Volk‹ und ›Herrschende‹ erschienen die verbrecherischen Züge des Faschismus als das Werk einer kleinen Gruppe von Militaristen, welche die breite Masse des Volkes getäuscht, kujoniert und unterdrückt habe. Es fällt auf, daß diese Dichotomie die Analyse beinahe sämtlicher gesellschaftlicher Sphären bestimmte; selbst die deutsche Wehrmacht wurde auf diese Weise 257 Tôyama, Imai u. Fujiwara, Shôwashi. Shinpan, S. i. 258 Rassow, Krise, S. 7.

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häufig noch auf der Seite der Opfer des Nationalsozialismus verbucht. Die Geschichtsschreibung der jüngsten Vergangenheit leistete sojeweils auch einen Beitrag zur Identität der Nation, wie am Beispiel der Widerstandsforschung besonders deutlich wurde. In der (marxistischen) japanischen Historiographie wurde das Volk - repräsentiert durch Arbeiterschaft und Kommunistische Partei - zumeist pauschal mit dem Widerstand gleichgesetzt. Japan, vertreten von den proletarischen Trägern seiner Geschichte, schien somit geradezu ein Hort der Resistance geblieben zu sein; die aggressive Außenpolitik hingegen sei auf die Machenschaften einer inzwischen obsolet gewordenen sozialen Schicht zurückzuführen. Auch in der Bundesrepublik wurde das Gütesiegel Widerstand‹ nur dem verliehen, der sich zur symbolischen Repräsentation der Nation zu eignen schien. In den fünfziger Jahren standen so militärische, aristokratische und bürgerliche Widerstandsgruppen im Zentrum der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion, von der der gewerkschaftliche und sozialistische Widerstand weitgehend ausgegrenzt blieb. Die Opposition zwischen dem (mit dem Widerstand identifizierten) Volk und der (die Verantwortung für die Verbrechen tragenden) herrschenden Schicht strukturierte auch die Behandlung des Krieges, der einen der Schwerpunkte historiographischer Aufmerksamkeit darstellte. Dabei galt in Japan das Interesse vornehmlich den Ursachen des Krieges, in der Bundesrepublik eher den Gründen für die Niederlage. Die aufopferungsvoll kämpfenden deutschen Soldaten - und die zum Krieg gezwungenen japanischen Arbeiter - erschienen aus dieser Perspektive als die eigentlichen Opfer. Darüber hinaus dokumentieren einige der Texte jedoch auch die Bemühungen, der Ordnungspolitik der deutschen und japanischen Armeen im Nachhinein noch historischen Sinn zu verleihen. Im Rahmen einer übergreifenden Europakonzeption respektive der Logik des »großostasiatischen« Befreiungskrieges wurde den territorialen Eroberungen bisweilen sogar ein zukunftsweisendes Element attestiert. In der Bundesrepublik machten diese Interpretationen vor einem offenen Revisionismus halt; der Nationalsozialismus wurde nicht rehabilitiert, sondern seine Außenpolitik galt, im Gegenteil, als Verrat an den (während des Krieges lediglich vorgeschützten) europäischen Idealen und Zielsetzungen. In Japan hingegen fanden seit Mitte der fünfziger Jahre unverblümt revisionistische Strömungen Eingang in die öffentliche Debatte; innerhalb der akademischen Geschichtswissenschaft hatten sie jedoch kaum Rückhalt. Während die Beschreibung und Interpretation der jüngsten Vergangenheit von dem Gegensatz zwischen Volk und Regierung, Opfern und Tätern strukturiert wurde, stand bei der Suche nach den Wurzeln von Nationalsozialismus und Faschismus das Kulturparadigma im Mittelpunkt der meisten Erklärungsansätze. Im Rahmen dieses Argumentes erschien die Epoche von Diktatur und Krieg entweder als Ausdruck struktureller Defizite innerhalb der kulturellen Traditionen der eigenen Nation. Oder aber die Wendung zu einer nationalisti216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

schen, militaristischen Politik wurde als das Ergebnis kultureller Anleihen interpretiert; das Dritte Reich und die Epoche einer autoritären Politik in Japan erschienen dann im wesentlichen als Konsequenz des unheilvollen Einflusses ›von außen‹. Selbst die Versuche, den Nationalsozialismus und den japanischen Faschismus als Produkt der Moderne zu erklären, wurden bisweilen in der Sprache des Kulturparadigmas verhandelt. Strukturelle Begleiterscheinungen der Moderne konnten dann als französischer oder amerikanischer Import erscheinen, der eine im Kern gesunde nationale Tradition kontaminiert habe. Die Bezugnahme auf das kulturelle Erbe konnte somit ›Heilung‹ versprechen, wie die vielfachen Anknüpfungsversuche an die Goethezeit in Deutschland demonstrierten - oder aber auch die Pathologien der eigenen Gesellschaft überhaupt erst offenlegen, wie wir etwa an Maruyamas Faschismusanalysen gesehen haben. Die Fokussierung auf die diskursiven Regelmäßigkeiten und argumentativen Muster, die als häufig nicht näher explizierte Grundannahmen den historiographischen Diskurs bestimmten, mag an der einen oder anderen Stelle den Eindruck erweckt haben, Konflikten zwischen divergierenden Deutungsansätzen nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Die Konzentration auf die gemeinsamen Prämissen und axiomatischen Annahmen, die über weltanschauliche Gegensätze hinweg den konkurrierenden Interpretationen zugrundelagen, ermöglichte aber, den historiographischen Diskurs der Nachkriegsjahre näher zu bestimmen und den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen unterschiedlichen Argumenten Plausibilität zugestanden wurde. So ist beispielsweise auch deutlich geworden, daß die Bemühungen um Rehabilitation der nationalen Geschichte keineswegs auf das konservative Spektrum der Historikerschaft begrenzt blieben: In Japan war der Topos vom ›Volk-als-Opfer‹ ein regelmäßiger Bestandteil der marxistischen Historiographie über die Kriegszeit; und auch in der deutschen Geschichtsschreibung war die Fokussierung auf die Nation über alle politischen Fronten hinweg verbreitet. Auch der linksliberale Historiker Veit Valentin etwa, der während des Dritten Reiches emigrieren mußte und einer revisionistischen Rhetorik kaum verdächtig war, brachte 1947 nach einigen Überlegungen zum »Sinn des Zweiten Weltkrieges« seine Analyse der Geschichte der zurückliegenden Jahre auf den Punkt: »Der Nationalsozialismus brachte dem deutschen Namen eine unerhörte Demütigung.« Die deutsche Nation erschien so als der eigentliche Leidtragende der Kriegszeit. Umso mehr sah Valentin sich veranlaßt, »gerade jetzt ein Bekenntnis abzulegen zum Glauben an das unsterbliche Deutschland«. In dem Abschnitt über den »Deutschen Volkscharakter«, der seine »Geschichte der Deutschen« beschloß, hieß es dann: »Kein Vernünftiger wird versuchen wollen, den Deutschen abzugewöhnen, deutsch zu sein.« Aus diesem Rückzug auf die Nation und ihre kulturelle Essenz zog Valentin Hoffnung für eine bessere Zukunft: »In Erinnerung an seine Kultur, seine alte Tapferkeit und Größe wird das deutsche 217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

Volk seine Wiedergeburt vollziehen. Wir glauben, trotz allem und gerade jetzt und für immer, an die Zukunft des deutschen Volkes.«259 Für Historiker unterschiedlicher politischer couleur fungierte die Geschichtsschreibung dieser Zeit als ›Suche nach der verlorenen Nation‹. Einige dieser Deutungsmuster werden uns im nächsten Kapitel erneut begegnen. Dort soll es jedoch nicht in erster Linie um die inhaltlich-interpretative Seite der Auseinandersetzung mit Drittem Reich und Faschismus gehen, sondern vor allem um die methodischen Konsequenzen, die eine Thematisierung der besonderen deutschen und japanischen Zeitgeschichte notwendig zu machen schien.

259 Valentin, Geschichte der Deutschen, S. 629, 641, 643f.

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IV. Die ›Erfìndung‹ der Zeitgeschichte

Im dritten Kapitel ist deutlich geworden, daß die Vorstellung von der eigenen Nation als eigentliches Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus die japanische und westdeutsche Geschichtsschreibung der fünfziger Jahre leitmotivisch durchzog. Nachdem damit also die diskursiven Regelmäßigkeiten und die inhaltliche Dimension der Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit im Vordergrund standen, soll in diesem Kapitel das Augenmerk auf der Institutionalisierung und methodischen Besonderheit dieser Forschung liegen. Die ›Methode‹ wird dabei jedoch nicht als neutrales Instrumentarium verstanden, das eine möglichst genaue Annäherung an die Wirklichkeit gewährleistet. Vielmehr sollen die methodischen Annahmen und Axiome der Zeithistoriker ihrerseits in den soziopolitischen Kontext ihrer Entstehung und Formulierung eingeordnet werden. Die Etablierung der Zeitgeschichtsforschung wird so als eine spezifische Antwort auf die nicht zuletzt politische Herausforderung betrachtet, die die Interpretation des Nationalsozialismus in den fünfziger Jahren darstellte. In diesem Rahmen muß auch die strukturgeschichtliche Erweiterung der Zeitgeschichtsforschung verstanden werden, die ebenso dazu beitrug, eine bestimmte Lesart der jüngsten Vergangenheit plausibel erscheinen zu lassen. Der Strukturbegriff, der in der Zeitgeschichtsforschung Verwendung fand, blieb für die Interpretation des Dritten Reiches nicht ohne Konsequenzen. Darüber hinaus war er aber auch für die Strukturgeschichte repräsentativ, die in den fünfziger Jahren in der westdeutschen Geschichtswissenschaft zunehmend auf Akzeptanz stieß. In diesem Zusammenhang scheint es daher angebracht, sich auch mit den Charakteristika dieses Strukturbegriffes - in einem kurzen Exkurs - auseinanderzusetzen. Auch die Verbreitung der Strukturgeschichte wird auf diese Weise von einer methodenimmanenten Perspektive gelöst und in den konkreten Kontext der Nachkriegszeit gestellt. Diese Fragen werden dann abschließend auch in dem Abschnitt über die japanische Zeitgeschichtsforschung wieder aufgenommen. Dabei wird im folgenden jedoch das Schwergewicht auf der Entwicklung in der Bundesrepublik liegen; dennoch fällt auch hier auf, daß die japanische Historiographie mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert war und sich auch mit vergleichbaren Ansätzen um Lösungen bemühte.

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1. Die deutsche Zeitgeschichte a ) Zeitgeschichte als Periode

Die Spezifik der deutschen Zeitgeschichte Die Behandlung der Geschichte seit der Jahrhundertwende, die man partiell noch selbst erlebt hatte, war in der deutschen Geschichtsschreibung der Mitte des 20. Jahrhunderts eher die Ausnahme. Im Rahmen des Wissenschaftsverständnisses der deutschen Historiker stieß die Thematisierung der jüngeren Vergangenheit, zu der noch nicht die adäquate Distanz gewonnen schien, nicht selten auf prinzipielle Vorbehalte. Für Karl Dietrich Erdmann etwa endete noch 1955 die wissenschaftlich erforschbare Geschichte knapp nach der Jahrhundertwende: »Wenn man, wie man es mit Recht getan hat, als politische Gegenwart den Zeitraum bestimmt, in dem jeweils die Ältesten der noch Lebenden geschichtliche Verantwortung getragen haben, dann gelangt man zu einem halben Jahrhundert als der Zeitspanne, die erforderlich ist, um ein Geschehen historisch zur Reife zu bringen. Wenn dieser Abstand gewonnen ist, so kann das Urteil beginnen, sich unabhängig zu bewegen von persönlichen und politischen Rücksichtnahmen.« 1 Noch größeren Vorbehalten mußten daher Versuche begegnen, auch die jüngste Vergangenheit wissenschaftlich zu untersuchen. Da bereits die moderne Geschichte als ein höchst prekäres Objekt der Erkenntnis betrachtet wurde, stieß die Auseinandersetzung mit der gerade zurückliegenden Epoche - also etwa der Geschichte des Dritten Reiches - auf hartnäckigen Widerstand. Eine verbreitete Abneigung, sich mit den ›dunklen Jahren‹ der nationalen Geschichte zu beschäftigen, stand hier mit methodischen Vorbehalten in einer symbiotischen Beziehung. Die politisch motivierte Ablehnung der Thematisierung des Nationalsozialismus korrespondierte mit einem Diskurs über die epistemologischen Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens. So warnte selbst Friedrich Meinecke, der doch selbst bereits 1946 mit vorläufigen Überlegungen zur »deutschen Katastrophe« hervorgetreten war, vor einer überhasteten Analyse der gerade glücklich überwundenen Diktatur: »Die großen Totalerscheinungen der Geschichte, mögen sie in zeitlichen Epochen, mögen sie in sachlichen

1 Erdmann, Geschichte, S. 1. Ähnlich argumentierte etwa Peter Rassow: Die historische Analyse der Geschehnisse der Jahrhundertwende könne »erst jetzt, nach einem halben Jahrhundert, beginnen, weil erst jetzt die Lage Deutschlands und der Welt so radikal anders geworden ist, als sie damals war, daß nun von jener Epoche als Geschichte gesprochen werden kann. Denn Geschichte ist die lebendige Beziehung einer vergangenen Epoche zu einer von ihr grundverschiedenen Gegenwart.« (Rassow, Schließen, S. 297.)

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Zusammenhängen bestehen, werden erst allmählich, indem man Distanz gewinnt, verstanden und begriffen.«2 Wie also ließ sich die Geschichte der jüngsten Zeit schreiben, ohne zugleich die methodischen Ansprüche der Disziplin zurückzuschrauben? Denn daß auch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts, in erster Linie aber die Geschehnisse des Dritten Reiches, nicht gänzlich ausgespart werden dürften, darüber ließen auch konservative Historiker wie etwa Gerhard Ritter keinen Zweifel. Die Erforschung des Nationalsozialismus betrachtete er, im vollen Vertrauen auf die gesellschaftliche Funktion eines Ordinarius, als eine der wichtigsten Aufgaben des Historikers: »Denn wann hätte jemals unser Volk mit solcher Sehnsucht darauf gewartet, in seiner tiefen Unruhe ein ruhig-sachliches Wort zu hören über sein Schicksal, über den Sinn des Erlebens dieser Jahre, über die allgemeine Richtung des Weges, der von gestern über das Heute in das Morgen führt?«3 Gleichzeitig lagen die Schwierigkeiten dieses Unterfangens auf der Hand. Insbesondere hielt die Vergangenheit des Dritten Reiches besondere Probleme bereit. Die Jahre der Diktatur waren gerade erst vorüber, und die Ablehnung, die der Nationalsozialismus in der wissenschaftlichen Literatur nun erfuhr, war zumeist das Produkt von Einsichten, die deutlich jüngeren Datums waren. Die Zunft der Historiker war keine Zelle des Widerstands gewesen, auch wenn die politisch-diskursiven Gegebenheiten nach 1945 es häufig nahelegten, sich so zu stilisieren. Ein Konsens über die jüngste Vergangenheit schien vielen Historikern schwer vorstellbar, zumal die Konfliktlinien durch die Entnazifizierungsmaßnahmen eher noch verstärkt worden waren. Dazu kam die Schwierigkeit jedes Zeithistorikers, die eigenen Emotionen als Beteiligter zu transzendieren und jenseits der persönlichen Erfahrung einen archimedischen Punkt für eine objektive Interpretation zu etablieren. Auch der Marburger Neuzeithistoriker Fritz Wagner betonte dieses strukturelle Dilemma: »Solange wir selbst im Fluß der Dinge stehen, die wir untersuchen, ist unsere Distanzlosigkeit nicht nur Kraftquelle, sondern eine Schwäche, die durch noch so gesteigerte Akribie der Forschung nicht restlos ausgeglichen werden kann. Der Blick auf die Eigenständigkeit der Epoche ist zwangsläufig getrübt: das Gefüge, in welchem die Verzahnungen der Ereignisse sich bewegen, kann nur bruchstückweise erfaßt werden. Auch der einzelne Prozeß ist nicht bis zu dem Grad abgeschlossen, daß er Konturen gewinnt.« 4 Neben die grundsätzliche methodische Frage nach der Möglichkeit einer Historiographie der gerade erst vergangenen Geschichte traten jedoch noch zwei weitere Überlegungen, die mit dem Charakter dieser Vergangenheit zu tun hatten. Zum einen hatten für viele Historiker die totalitären Merkmale des 2 Zitiert nach Fernís, Die neueste Zeit, S. 596. 3 G. Ritter, Geschichte als Bildungsmacht, S. 23f. 4 Wagner, Geschichte und Zeitgeschichte, S. 322.

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überwundenen Regimes die Gefahren der modernen Massengesellschaft demonstriert. Geschichte schien in der Moderne nicht mehr reduzierbar auf das intentionale Handeln des Einzelnen, sondern gleichermaßen das Ergebnis komplexer Prozesse einer entindividualisierten Gesellschaft. Dies mache auch einen anderen Umgang mit den historischen Quellen erforderlich, wie Hans Rothfels hervorhob: »Deutlicher als für jede andere moderne Epoche liegt [hier ...] der Fehlschluß des ›Quod non est in actis non est in mundo‹... zutage.«5 Die historische Wirklichkeit erschien aus individuellen Entscheidungen und den aktenkundigen Beschlüssen nur noch partiell erschließbar. Das 20. Jahrhundert stelle die Geschichtsschreibung also vor ganz spezifische Schwierigkeiten. Es handelte sich dabei um eine gewissermaßen epistemologische Unsicherheit über die Frage, wie individuelles Handeln, Verantwortung und Schuld angesichts der anonymen Strukturen der Massengesellschaft noch rekonstruiert werden können. Zum anderen war die Suche nach einem besonderen Konzept für eine Geschichtsschreibung der Gegenwart auch von politischen Erwägungen motiviert. Denn die Erforschung des Nationalsozialismus wurde in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion als wesentliche Grundlage eines demokratischen Selbstverständnisses aufgefaßt. So hieß es in einem Antrag, der im Februar 1947 beim Direktorium des Länderrats besondere Mittel für die NS-Forschung einforderte: »Die Durchleuchtung der Hitlerzeit... ist aus politischen und kulturellen Gründen eine vordringliche Aufgabe der neuen Demokratie. Die staatspolitische Neuerziehung des Volkes muß auf einer gründlichen Kenntnis der Geschichte unserer Zeit beruhen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Darstellung der Hitlerzeit.« 6 Die Untersuchung des Nationalsozialismus diente somit häufig auch der Legitimation des neuen Gemeinwesens. Zugleich aber, und darin äußerte sich der politisch sensible Charakter der jüngsten Vergangenheit, konnte die Forderung nach bevorzugter, privilegierter Behandlung der Geschichte des Nationalsozialismus auch Teil einer Immunisierungsstrategie sein (wie es die Bezeichnung »Hitlerzeit« bereits andeutete). Die Forderung nach einem eigenen Institut, d.h. die administrative Ausgliederung der Geschichte des Dritten Reiches, die es dann mit besonderen Methoden zu erforschen gelte, ließ sich auch als Abtrennung des Nationalsozialismus aus dem Kontinuum der deutschen Geschichte verstehen. Der Ruf nach besonderen Forschungseinrichtungen konnte zugleich nahelegen, daß der Nationalsozialismus nicht auf der Grundlage einer Kenntnis der Traditionen der deutschen Geschichte, sondern nur als ein Phänomen suigeneris verstanden werden könne.

5 Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, S. 4. 6 Zitiert nach Auerbach, Gründung, S. 530.

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Diese dreifache Problematik - die methodischen Widerstände gegen eine »Geschichte ohne Distanz« (Michael Freund), die epistemologische Herausforderung durch die moderne Massengesellschaft und das politisch motivierte Bedürfnis nach einer privilegierten und gleichzeitig institutionell separierten Erforschung des Nationalsozialismus - stellte die Historiographie vor ernsthafte Schwierigkeiten. Und das Instrument, mit dem dieser gordische Knoten zerschlagen werden sollte, war die ›Erfindung der Zeitgeschichte. Mit diesem Begriff wurde eine eigene Subdisziplin bezeichnet, die zur Erforschung einer abgegrenzten historischen Periode mit einer besonderen Methode beitragen sollte. Gleichzeitig hatte die Zeitgeschichte eine ausgesprochen politische Funktion. Martin Broszat, der zu einem der prominentesten Zeithistoriker der Bundesrepublik werden sollte, betonte den außerwissenschaftlichen Hintergrund der Entstehung der neuen Disziplin. »Den Impuls dazu gab die durch den Zusammenbruch von 1945 ausgelöste Ratlosigkeit und Verwirrung, die es zum dringenden Bedürfnis machte, nach dem Sturz bisher gültiger Ideale und im Chaos scheinbar sinnlos gewordener deutscher Geschichte wieder Orientierungsmerkmale zu gewinnen. Nachdem das Geschehen weniger Jahre Deutschland, Europa und die Welt von Grund auf verwandelt hatte, ergab sich die elementare Notwendigkeit, dieses umstürzende Geschehen historisch erkennend zu bewältigen. Die Betroffenheit der Zeitgenossen von Geschichte rief nach zeitgeschichtlicher Klärung.« Für Broszat erklärte sich die Entstehung der Zeitgeschichte somit unmittelbar durch die besondere deutsche Situation nach dem Untergang des Dritten Reiches und dem Ende des einheitlichen deutschen Nationalstaates. Daher betonte er auch die neue Qualität zeithistorischen Fragens. »Der Begriff Zeitgeschichte und die Praxis zeitgeschichtlicher Forschung und Lehre sind in Deutschland erst nach 1945 heimisch geworden.« 7

Die Geschichte der Zeitgeschichte Dieses Urteil muß zunächst überraschen. Denn weder der Begriff noch das Phänomen - weder die Bezeichnung ›Zeitgeschichte‹ noch die Thematisierung der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit - waren eigentlich neu. Im Gegenteil: ein wesentlicher Teil der historiographischen Tradition gehörte diesem Genre an. Schon die großen Werke der antiken Historiographie waren Zeitgeschichtsschreibung: Das galt für Herodots Werk über den Perserkrieg, für Thukydides' Peloponnesischen Krieg, aber auch für Polybios oder Tacitus; und auch Caesars Gallischer Krieg war eine ›historia sui temporis‹. Der Begriff der historia hatte in der griechischen und lateinischen Tradition die Konnotation 7 Broszat, Aufgaben und Probleme, S. 529.

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von selbsterlebter Geschichte; Geschichtsschreibung besaß insofern bereits terminologisch ein stark zeitgeschichtliches Element. Auch in der mittelalterlichen und dann in der modernen Historiographie hatte die Zeitgeschichte immer eine wichtige Rolle gespielt. So gab es in England eine Tradition der ›Contemporary History‹, und in Frankreich befaßte sich die )Histoire contemporaine‹ mit der Geschichte seit der Französischen Revolution. Aber auch in der deutschen Historiographie hatte es zahlreiche Beispiele für die Beschäftigung mit der »Epoche der Mitlebenden« (Hans Rothfels) gegeben. Insbesondere nach markanten Einschnitten der politischen Geschichte sahen sich Historiker aufgerufen, die Geschichte der gerade zurückliegenden Ereignisse zu schreiben. So verfaßte Bruno Bauer bereits 1849 seine Geschichte vom »Untergang des Frankfurter Parlaments«, und Karl Marx und Friedrich Engels schrieben über »Revolution und Konterrevolution in Deutschland«. In ihren Vorlesungen befaßten sich auch die akademischen Historiker - etwa Niebuhr, Droysen, Sybel, Treitschke und Gervinus - ausführlich mit zeitgeschichtlichen Ereignissen, nicht zuletzt der Geschichte der Reichsgründung von 1871. Und bereits Ranke hatte von der ›neueren‹ die meueste Geschichte‹ (1789-1815) unterschieden und dieser schließlich eine Epoche der )Geschichte unserer Zeit‹ (nach 1815) hinzugefügt, der er in seiner langen Lehrtätigkeit über 30 Vorlesungen widmete. 8 Und schließlich konnte man auch die Arbeiten des Reichsarchivs, an dem in den zwanziger Jahren die Ursachen des Ersten Weltkrieges untersucht und dadurch das Verdikt des Versailler Vertrages von der deutschen Alleinschuld entkräftet werden sollte, als Zeitgeschichtsschreibung betrachten. Die wissenschaftliche Thematisierung der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit war somit auch in Deutschland nicht ohne Tradition. Und auch der Begriff ›Zeitgeschichte‹ war keine Neuschöpfung, sondern kam in Deutschland bereits im 17. Jahrhundert auf. Von den modernen Historikern hatte Justus Hashagen schon während des Ersten Weltkrieges in mehreren Aufsätzen die Möglichkeiten und Grenzen einer »Zeitgeschichte« ausgelotet.9

Zeitgeschichte als Periode Ungeachtet dieser Ahnentafel stellten die deutschen Historiker, die sich zu Beginn der fünfziger Jahre mit dem Thema befaßten, einmütig die Novität des Unternehmens ›Zeitgeschichte‹ ins Zentrum ihrer Überlegungen. In der Tat finden sich in den programmatischen Aufsätzen, die sich in den fünfziger Jah8 Vierhaus, Rankes Verständnis; vgl. auch Schulin, Zeitgeschichtsschreibung; Ernst, Zeitgeschehen. 9 Hashagen, Studium; ders., Beurteilungsmaßstäbe. Vgl. zur ›Geschichte der Zeitgeschichte‹ auch Koselleck, Begriffsgeschichtliche Anmerkungen; Besson, Zeitgeschichte;Jäckel, Begriff; Kluke, Aufgaben, S. 7430 f.

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ren um eine theoretische Fundierung der ›neuen‹ Disziplin bemühten, fast keine Hinweise auf die lange Tradition zeithistorischer Geschichtsschreibung. 10 Diese Texte dokumentierten die Überzeugung, daß man es nach 1945 mit einer grundlegend anderen Herausforderung zu tun habe. Denn neben den üblichen Problemen einer Historiographie der miterlebten Zeit suggerierten die besonderen Schwierigkeiten, die mit der Problematik der modernen Massengesellschaft sowie dem spezifischen Thema - der Geschichte des Nationalsozialismus - verbunden waren, daß es um etwas anderes gehe als nur um eine Analyse der jüngsten Vergangenheit. In der Debatte nach 1945 figurierte die Zeitgeschichte daher nicht mehr lediglich als methodische Herausforderung, sondern bezeichnete zugleich eine besondere Periode der Geschichte. Diese Bestimmung der Zeitgeschichte durch die Definition eines spezifischen Gegenstandsbereiches wurde am einflußreichsten von Hans Rothfels formuliert. Im ersten Heft der »Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte« umschrieb er 1953 in immer wieder zitierten Wendungen die historische Periode, die allein das Objekt der zeithistorischen Forschung sein könne. »Der Begriff von Zeitgeschichte ... beruht demnach auf der Ansicht, daß etwa mit den Jahren 1917/18 eine neue universalgeschichtliche Epoche sich abzuzeichnen begonnen hat.... Erst mit dem eigentümlich zusammengeordneten Doppelereignis, dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg und dem Ausbruch der Russischen Revolution, wurde die Konstellation wirklich universal und wurde zugleich der Konflikt von Völkern und Staaten durch gesellschaftliche Gegensätze tiefgreifender Art durchzogen und durchkreuzt. Schon 1918 ist im Grunde die Antithese Washington-Moskau eine sehr reale geworden..., bis seit 1945 die polare Zweiteilung sich wieder herauszuarbeiten beginnt. Das Gemeinsame und Neue in alledem ist doch wohl, daß ideologische und gesellschaftliche Bewegungen über Landesgrenzen hin in einem Maße sich auswirken, wie es dem nationalstaatlichen Zeitalter fremd geworden war«.11 Damit hatte Rothfels den Gegenstandsbereich der Zeitgeschichte nicht nur mit der eigenen Zeitgenossenschaft, sondern auch mit einer tiefen Zäsur der ›realen‹ Geschichte korreliert. Gleichzeitig wird deutlich, daß die Zeitgeschichte von Beginn an auf den Hintergrund des polaren Weltgegensatzes, also des Kalten Krieges Bezug nahm. Die Lokalisierung des epochalen Einschnitts im Jahre 1917 war im Übrigen ihrerseits ein Ergebnis eines spezifischen Geschichtsbildes. Wir haben im zweiten Kapitel gesehen, daß Rothfels die Epoche des Nationalstaates seit 1866 als »Ausnahmejahrhundert« bezeichnete, und auch seine Bestimmung der Zeitgeschichte bezog sich nun auf eine Überwindung des »nationalstaatlichen Zeitalters«. Diese Interpretation entsprach j e doch nicht etwa einem Konsens der deutschen Historiker. Die Mehrheit der 10 Eine der wenigen Ausnahmen ist Ernst, Zeitgeschehen. 11 Roth/eis, Zeitgeschichte als Aufgabe, S. 6.

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Fachvertreter beurteilte die Rolle des Bismarckschen Staates sehr viel positiver als Rothfels das tat. Ungeachtet dieser Differenzen etablierte sich Rothfels' Definition der Epochenschwelle von 1917 rasch als gängige Periodisierung der Zeitgeschichte. Die Versuche einer theoretischen Grundlegung der neuen Disziplin griffen fast ausnahmslos auf diese Chronologie zurück.12 Die Zeitgeschichte galt nun, so ließe sich zusammenfassen, als besondere Art und Weise des Umgangs mit einer besonderen Epoche der Weltgeschichte: also als spezifische Methode, aber gleichzeitig als eigene Periode der Geschichte. Damit hatte sie sich von dem Erbe Justus Hashagens, aber auch französischer und englischer Traditionen emanzipiert. In dieser Hinsicht galt sie als etwas Neues - denn erst für die Periode seit 1917 war ja Zeitgeschichte im nun definierten Sinne möglich. Wie auch Paul Kluke, 1953 bis 1959 Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, betonte, waren »nun Vorgänge eingetreten, die wohl einen für alle europäischen Nationen verbindlichen Standpunkt abgeben können. Es sind die Ereignisse, die im Jahre 1917 liegen, nämlich die russische Revolution und auf der anderen Seite des Atlantiks das mit dem Kriegseintritt gegebene Ende der amerikanischen Isolationspolitik. Damit haben auf beiden Seiten Entwicklungsreihen begonnen, die den ganzen Erdball überzogen haben, und alle Völker gezwungen, ihren Platz in neuen Ordnungen einzunehmen. Von nun an ist nirgendwo eine isolierte nationale Existenz mehr möglich, das globale Zeitalter hat begonnen und damit eine wirklich neue Weltepoche, von der aus wir die unserer Zeitgeschichte datieren können.«13 Zunächst endete diese Epoche übrigens, disziplingeschichtlich gesprochen, mit dem Jahr 1945. Während am ostberliner ›Deutschen Institut für Zeitgeschichte‹, das bereits im März 1946 gegründet worden war, dem Begriff der ›Zeitgeschichte‹ nach der marxistischen Periodisierung zunehmend die Ereignisse der Nachkriegsgeschichte subsumiert wurden, endete in Westdeutschland die zeitgeschichtliche Epoche mit der deutschen Kapitulation nach dem Zweiten Weltkrieg. Hans Buchheim etwa betonte, »daß zeitgeschichtliche Forschung nur in unserer Ausnahmesituation überhaupt möglich ist.« Die Zeitgeschichte in der Bundesrepublik habe die Aufgabe, den Nationalsozialismus zu erforschen, und auch nur für diese Periode seien bereits »die geheimsten Dokumente« dem Historiker zugänglich. Zeitgeschichte »kann also nicht über das Jahr 1945, höchstens das Jahr 1948 hinausgehen«. 14 So sah es auch Martin Broszat: »Für die Fachdisziplin der Zeitgeschichte im engeren Sinne ... ist mit dem Jahr 1945 vorläufig eine natürliche Grenze ihres Aufgabenbereiches gesetzt.«15 Erst im September 1959 wurde die »prinzipielle Wünschbarkeit« einer Aufnah12 So etwa Barthel, Problem; Kluke, Aufgaben; Vqgelsang, Zeitgeschichte; Broszal, Aufgaben; vgl. auch Rothfels, Die Zeit, die dem Historiker zu nahe liegt. 13 Kluke, Aufgaben, S. 7430. 14 H. Buchheim, Die nationalsozialistische Zeit, S. 62, 63. 15 Broszat, Aufgaben, S. 529.

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me der Nachkriegszeit in das Arbeitsprogramm des Instituts für Zeitgeschichte auf einer Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats erstmals festgestellt.16 Und als Thilo Vogelsang 1973 Überlegungen zur »Einführung in die Problematik« einer Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit veröffentlichte, konstruierte er für die Zeit nach 1945 eine Epoche »der ›neueren‹ Zeitgeschichte«. 17 Mit anderen Worten: die ›Zeitgeschichte‹, so wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert wurde, bezeichnete nicht lediglich die Auseinandersetzung mit der jeweils jüngsten Vergangenheit, sondern implizierte die Beschäftigung mit einer ganz bestimmten Periode der (vornehmlich deutschen) Geschichte. In diesem Sinne läßt sich von der ›Erfindung der Zeitgeschichte‹ sprechen.

Der Umgang mit den Quellen Die Festlegung der Zeitgeschichte auf die Periode seit 1917 brachte zugleich eine Reihe von methodischen Schwierigkeiten mit sich, die sich in erster Linie an der Frage des Umgangs mit den Quellen festmachen ließen. Die häufige Thematisierung dieser Schwierigkeiten deutete auf die Widerstände hin, die der Einführung der Zeitgeschichte an Universitäten und separaten Forschungseinrichtungen in der Zunft entgegengebracht wurden. Noch 1962 betonte der Zeithistoriker Konrad Barthel, daß »das vieldiskutierte Problem der Zeitgeschichte ... noch keineswegs zur Ruhe gekommen« sei.18 Der Umgang mit dem Quellenmaterial schien dabei in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen bedeutete der kurze Abstand zwischen Geschehen und wissenschaftlicher Untersuchung, daß die betreffenden Akten und offiziellen Regierungsdokumente dem Historiker nicht ohne weiteres zugänglich waren. Für Peter Rassow schien diese Problematik das Unternehmen der Zeitgeschichtsforschung prinzipiell zu gefährden. »Erst wenn der Historiker über alle gedruckten und ungedruckten Quellen frei verfügen kann, kann er den Versuch machen, die historische Wahrheit zu ermitteln. Für eine kurz zurückliegende Vergangenheit aber bestehen gewichtige Hindernisse, dem Historiker den freien Zugang zu den ungedruckten Quellen zu gewähren.« Die Zeitgeschichte sei gewissermaßen noch nicht Geschichte geworden, jedenfalls aus der Perspektive des Historikers. »Wir fassen also zusammen: geschichtliche Epochen im wissenschaftlichen Sinne sind solche, für die auch die ungedruckten Quellen schrankenlos zugänglich sind.«19 Neben diesen Einwand, gegen den sich die neue Disziplin häufig zur Wehr setzen mußte, traten zum anderen noch Schwierigkeiten, die auf die besondere 16 17 18 19

Institut für Zeitgeschichte, 25 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Vogelsang, Einführung, S. 166. BartM, Zeitgeschichte, S. 221. Rassow, Grenze, S. 108, 109.

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Situation der deutschen Nachkriegszeit zurückzuführen waren: auf der Basis der alliierten Militärgesetze waren wesentliche Aktenbestände der obersten Reichsbehörden, der Wehrmacht und der NSDAP fast gänzlich durch die Besatzungsmächte beschlagnahmt und zum großen Teil in die Vereinigten Staaten verlegt worden; darunter waren etwa auch die 60 000 Bände umfassende Dokumentensammlung der deutschen Seekriegsleitung oder die Akten des Auswärtigen Amtes. Zwar war im Zusammenhang mit dem Nürnberger Prozeß ein erheblicher Bestand an Dokumenten an die Öffentlichkeit gelangt und auch publiziert worden; dennoch war die freie Verfügbarkeit über die Akten von Regierungsstellen empfindlich eingeschränkt. 20 Aufgrund dieser Einschränkung des Zugangs zu den Quellen sahen sich die Vertreter einer wissenschaftlichen Zeitgeschichte mit der Aufgabe konfrontiert, die Zugehörigkeit der neuen Disziplin zur herkömmlichen Geschichtswissenschaft unter Beweis zu stellen. Paul Kluke etwa betonte: »Die Methoden der Zeitgeschichte ... unterscheiden sich grundsätzlich nicht von denen, die in der Historie allgemein angewandt werden.« 21 Die besonderen Herausforderungen, die die Zeitgenossenschaft mit sich brachte, impliziere noch kein Abrücken von den methodischen Standards der Zunft. So insistierten auch andere Zeithistoriker »bei aller sich schon jetzt abzeichnenden Eigengesetzlichkeit und trotz mancher Distanzierungsversuche seitens einiger Fachgenossen«, die man nicht ignorieren konnte, auf »der uns unerläßlich scheinenden ›historischen Methode«. 22 Mit Blick auf die Quellen geschah dies zunächst durch den Hinweis auf die Lücken in der Überlieferung, mit der sich auch die traditionelle Geschichtswissenschaft konfrontiert sah. »Der Einwand gegen die Zeitgeschichte wegen der Unvollständigkeit des Quellenmaterials lebt im Grunde von der Fiktion der Vollständigkeit der Quellen für frühere Zeiträume.« Das Problem des schrankenlosen Zugriffs auf Überlieferung und Aufzeichnungen stellte sich für vergangene Epochen im Grunde sogar sehr viel drängender. Denn die riesigen Materialbestände, die dem Historiker des 20. Jahrhunderts zur Verfügung standen, konnten etwaige Ausfälle leichter kompensieren. Der Zeithistoriker könne daher auf eine »ungewöhnliche Fülle« von Quellen zurückgreifen, zumal »gerade für die jüngste Geschichte Akten nicht mehr die gleiche Rolle [spielen] wie in früheren Zeiten.«23 20 Siehe Mau, Archive; Barthel, Problem; Heffier, Forschungsprobleme. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß sich eine Reihe deutschlandkritischer Historiker in England (etwa Lewis Namier, John Wheeler-Bennett oder E.L. Woodward) gegen die Rückgabe der Akten des Deutschen Auswärtigen Amtes aussprachen, weil sie befürchteten, daß diese Dokumente von deutschen Historikern im Dienste einer apologetischen Geschichtsschreibung genutzt würden. Die damit zusammenhängende Frage, wer die Geschichte des Dritten Reiches zu schreiben haben, wird uns unten noch beschäftigen. Vgl. dazu Watt, British Historians. 21 Kluke, Aufgaben, S. 7437. 22 Vogelsang, Zeitgeschichte, S. 211. 23 Barthel, Problem, S. 491, 492.

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»Im allgemeinen«, so resümmierte Paul Kluke 1955, »stehen unserer Zeit viel mehr Quellen zur Verfügung als jeder anderen.« Daraus schloß Kluke jedoch nicht nur auf die methodische Gleichberechtigung der Zeitgeschichte, sondern er begründete mit der »Überfülle der Überlieferung« zugleich ihre institutionelle Eigenständigkeit. Die Universitäten schienen dieser Aufgabe nicht gewachsen, die Zeitgeschichte verlangte nach einem eigenen Institut. Für Paul Kluke war es »klar, daß eine Forschungsarbeit in der Zeitgeschichte nicht in der Arbeitsweise des Historikers alten Stils erfolgen kann ... sondern, daß nur noch eine Gemeinschaftsarbeit im teamwork Erfolg verspricht. Sie kann auch nicht in dem Universitätsinstitut alten Stils erfolgen .... Hier müssen... Institute eingreifen, die sich ganz der Forschung widmen können und dafür einen ausreichenden Stab qualifizierter Mitarbeiter zur Verfügung haben«.24 Zeitgeschichte, so ließe sich das Argument zusammenfassen, war eine eigenständige Periode, die wiederum durch eine besondere Fülle der Quellen gekennzeichnet war, welche die Einrichtung separater Forschungseinrichtungen unabdingbar machte. Der Neuzeithistoriker Paul Kluke sprach hier jedoch nicht nur als interessierter Fachvertreter, sondern bereits in seiner Funktion als Generalsekretär des Münchner Instituts für Zeitgeschichte.

b) Die Institutionalisierung der Zeitgeschichte

Das Institut für Zeitgeschichte Das Institut für Zeitgeschichte war 1950 als gemeinsame Einrichtung des Bundes und der Länder in München gegründet worden. Das Interesse politischer Stellen an einer Behandlung der Geschichte des Dritten Reiches traf sich hier mit dem wissenschaftlichen Bemühen einiger Historiker, eine institutionelle Grundlage für die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit zu schaffen. Von Anfang an waren mit der Gründung des Instituts auch politische Aufgaben verbunden. Paul Kluke, seit 1953 Generalsekretär des Instituts, war von der gesellschaftlichen Relevanz seines Amtes überzeugt: »Der Historiker, ... der rückwärtsgewandte Prophet, wird in dieser Tätigkeit zum Arzt und zum Lehrer seines Volkes.« Der wissenschaftliche Nachweis der Fehler der Vergangenheit könne das Volk auf den richtigen Weg bringen. Von der zeithistorischen

24 Kluke, Aufgaben, S. 7431. Interessant ist, daß hier für die Zeitgeschichtsforschung, die ja auch politisch an den Demokratisierungsprozeß gekoppelt war, eine quasi demokratische, nichtindividualistische Forschungsorganisation gefordert wird. Die Gemeinschaftsarbeit wird überdies mit dem angelsächsischen Begriffdes teamwork belegt - ein für die Demokratievorstellungen der frühen Nachkriegszeit durchaus bezeichnendes rhetorisches Detail.

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Forschung »wird demnach das gesamte politische Verhalten beeinflußt. So liegt auf dem Historiker eine große Verantwortung.«25 Im September 1950 unterzeichnete Bundesinnenminister Heinemann die Satzung des »Deutschen Instituts für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit«, das im Mai 1952 dann in »Institut für Zeitgeschichte« umbenannt wurde. Vorausgegangen war eine turbulente Planungsphase, in der seit 1947 um die Ausrichtung der Forschungseinrichtung gerungen worden war.26 Die beteiligten Repräsentanten der Landesregierungen hatten vor allem den politischen Charakter des geplanten Instituts hervorgehoben. Von Seiten der Historiker war dagegen die Notwendigkeit der Autonomie der Wissenschaft betont worden; so etwa durch Gerhard Ritter, der im Auftrag der Münchner Historischen Kommission an den Beratungen teilnahm. Der erste Gründungsversuch, der den CSU-Abgeordneten Gerhard Kroll als Leiter vorsah, war 1949 am erbitterten Widerstand Ritters und des Verbandes der Historiker Deutschlands, die sich hinter ihren Vorsitzenden stellten, gescheitert. Bei diesen Auseinandersetzungen ging es jedoch nicht nur um administrative Fragen und das hehre Ziel der Freiheit wissenschaftlicher Forschung. Zugleich war es ein Konflikt um die inhaltliche Ausrichtung des Instituts. Kroll repräsentierte ein katholisches Geschichtsbild, das den Nationalsozialismus als Resultat einer historischen Fehlentwicklung, die mit Friedrich II. und Bismarck eingesetzt hätte, begriff. Von der preußisch-deutschen Geschichtsauffassung Gerhard Ritters trennten ihn also Welten. Der zweite Anlauf zur Gründung war infolge der Unterstützung durch das Innenministerium schließlich von Erfolg gekrönt. Zum ersten Generalsekretär des Instituts wurde, übrigens auf Vorschlag von Franz Schnabel, der junge Privatdozent Hermann Mau gewählt. Mau hatte sich in Straßburg bei Hermann Heimpel für mittelalterliche Geschichte habilitiert, nach dem Krieg aber auf neuere Geschichte spezialisiert. Weder Gerhard Ritter noch Gerhard Kroll (der in der Übergangsphase bis 1951 Generalsekretär blieb) waren zu diesem Zeitpunkt noch wählbar, ihre öffentlich geführte Auseinandersetzung hatte sie für dieses Amt ungeeignet gemacht. Unter Hermann Mau begann das Institut 1951 mit seiner eigentlichen Tätigkeit. Zu den ersten Mitarbeitern gehörten Hans Buchheim, Karl Buchheim, Helmut Krausnick, Hermann Foertsch, Helmut Heiber und Martin Broszat. Die Einrichtung eines »Deutschen Instituts für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit« war ein wichtiger Schritt im Hinblick auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des Dritten Reiches. Das Münchner Institut 25 Kluke, Aufgaben, S. 7432. 26 Uber die Vorgeschichte des Institut für Zeitgeschichte informieren Gimbel, Origins; Auerbach, Gründung; Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 229-241; Höppner, Institut; Benz, Wissenschaft oder Alibi?.

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dokumentierte den politischen Willen und auch die Bereitschaft der beteiligten Fachhistoriker, sich mit den dunklen Kapiteln der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Durch öffentliche Mittel gefördert, entstanden hier einige der ersten systematischen Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus; daneben trat das Institut mit einer Reihe von Quelleneditionen hervor, die zum Teil auch in der selbst publizierten Zeitschrift veröffentlicht wurden. Diese Tätigkeit des Instituts fand hohe internationale Anerkennung. In einer Würdigung im Journal of Central European Affairs hieß es 1960: »Scholars throughout the world interested in National Socialism recognize the excellence of the publications of this Munich institute.... Their publications, and the backing of the Bund and Länder governments for their work deserve to rank beside the material reparations still being paid to the victims of Nazi barbarism. ... The Institut für Zeitgeschichte is a symbol of postwar German Zivilcourage.«21 Zugleich symbolisierte die Einrichtung eines separaten Forschungsinstitutes aber auch die Ausgliederung des Nationalsozialismus aus dem historischen Zusammenhang der deutschen Geschichte. Während sich die UniversitätsHistoriker mit den Traditionen der deutschen Geschichte beschäftigten, stand das Dritte Reich gewissermaßen unter Quarantäne. Von vielen Historikern wurde der Nationalsozialismus lediglich als Verirrung, als Ausnahme der deutschen Geschichte betrachtet - und Gerhard Ritter oder Franz Schnabel etwa, die beide an der Planung des Instituts mitgewirkt hatten, stimmten bei allen Differenzen in diesem Punkt doch überein. Der Nationalsozialismus wurde also von einer breiten Mehrheit der bundesdeutschen Historiker nicht als organischer Bestandteil der nationalen Geschichte angesehen, und diese Überzeugung spiegelte sich in der organisatorischen Struktur seiner Erforschung wieder.28 Die Sonderrolle, die man dem Dritten Reich in der Geschichte zuwies, wurde durch die Einrichtung eines eigenen Instituts und einer eigenen Fachzeitschrift auch administrativ reproduziert. Es ließe sich gar nicht »leugnen«, so erklärte Hans Rothfels in seinen einleitenden Bemerkungen zum 1953 erstmals publizierten Hausorgan des Instituts, »daß »Zeitgeschichte als Aufgabe‹ ein erhebliches Maß von Spezialisierung einschließen muß und daß schon deshalb eine Spezizeitschrift gerechtfertigt ist.« Die »Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte«, die von dem nach Tübingen zurückgekehrten Emigranten Rothfels herausgegeben wurden, stellten daher ein besonderes Forum dar, das vornehmlich der Forschung über den Nationalsozialismus zur Verfügung stand. Im ersten Heft unterstrich Rothfels immer wieder den besonderen Charakter des zeithistorischen Unternehmens, bei dem »es sich um sehr spezifische Anwendungen und sehr spezifische Schwierigkeiten handelt, um eine Anpassung und

27 Koehl, Zeitgeschichte, S. 131. 28 Ähnlich auch H. Mommsen, Betrachtungen, S. 131.

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zugleich eine Bewährung der überlieferten Grundsätze unter Voraussetzungen, wie sie so noch für keine Epoche bestanden haben.«29 Die Verankerung der Historiographie der jüngsten Vergangenheit in einem eigenständigen Institut war somit nicht nur ein Privileg, sondern beinhaltete auch ein ausgrenzendes Element. Am Institut für Zeitgeschichte wurde das Dritte Reich tendenziell nicht in den Zusammenhang der deutschen Geschichte gestellt, sondern als Spezifikum behandelt. Diese Ausgrenzung implizierte, daß Fragen nach langfristigen, strukturellen Ursachen gar nicht erst gestellt werden konnten; die Geschichte des 19. Jahrhunderts blieb schließlich die Domäne der Universitäten. Die ›Erfindung der Zeitgeschichte‹ als Periode legitimierte eine zeitliche Selbstbeschränkung, die dann von dem Münchner Institut auch forschungspraktisch festgeschrieben wurde. Der Nationalsozialismus erschien so häufig nicht als Produkt langfristiger interner Entwicklungen, sondern als Ausfluß einer angeblich ›westlichen‹, gleichsam von außen kommenden Moderne. Die 1957 von Martin Broszat verkündete »Grunderkenntnis, die inzwischen gewonnen ist«, war somit von der organisatorischen Struktur der Zeitgeschichtsforschung bereits präfiguriert: »Der Nationalsozialismus kann nicht allein als ein Ergebnis der deutschen Geschichte verstanden werden.« 30 Die Interpretation des Dritten Reiches als große ›Ausnahme‹ korrespondierte mithin mit der Delegierung seiner Erforschung an ein besonderes Institut.

Zeitgeschichte an den Universitäten Die institutionelle Ausgliederung der Zeitgeschichte stellte allerdings keine absolute Schranke dar. Die Gründung des Münchner Instituts bedeutete nicht, daß an den Universitäten auf die Beschäftigung mit der Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg ganz verzichtet werden konnte. Auch in den Vorlesungen und Seminaren fanden zeitgeschichtliche Themen durchaus Berücksichtigung. Im Sommersemester 1957 beispielsweise wurden an den 16 westdeutschen Universitäten 39 Veranstaltungen zu zeitgeschichtlichen Problemen gehalten. Allerdings betraf weniger als die Hälfte dieser Veranstaltungen explizit die deutsche Geschichte, und das Dritte Reich wurde nur in neun Fällen thematisiert. 31 Dieser erste Überblick deutet eine allgemeinere Tendenz schon an, die sich verstärkt, wenn man die Analyse auf die historischen Fakultäten beschränkt: das 20. Jahrhundert war nicht selten Gegenstand der Lehre, die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus hingegen war rar. Dieser Befund muß nicht unbe29 Rothfels, Zeitgeschichte, S. 4 (Hervorhebungen von mir, S.C.). 30 Broszat, Aufgaben, S. 534. 31 Broszat, Aufgaben, S. 530.

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dingt überraschen: 1960, also am Ende des Untersuchungszeitraumes, lag das Ende des Krieges erst 15 Jahre zurück, und auf der noch knappen Literaturgrundlage stellte eine Vorlesung zum Dritten Reich selbst bei grundsätzlicher Bereitschaft noch eine besondere Herausforderung dar. Auch nach anderen als Zäsur empfundenen Einschnitten der politischen Geschichte schlug sich dies nicht unmittelbar im Kanon der universitären Veranstaltungen nieder. Ohne also bereits ›Verdrängung‹ zu konstatieren, läßt sich aber doch festhalten, daß die Einrichtung eines speziellen Forschungsinstitutes für Zeitgeschichte mit deren relativer Vernachlässigung im Universitätsbetrieb korrespondierte. Hier muß man allerdings von Ort zu Ort unterscheiden. Die Neigung, auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu behandeln, war nicht an jeder Universität gleich gering. An der neugegründeten Freien Universität in Berlin beispielsweise, die als besatzungspolitische Gründung für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus prädestiniert war, prägten Veranstaltungen zu zeitgeschichtlichen Themen das Lehrangebot.32 So sorgte eine ganze Reihe von Gastdozenturen, die vor allem mit in den Vereinigten Staaten lebenden Emigranten besetzt wurden, für einen kritischen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit. Vor allem der Aufenthalt von Hans Rosenberg (Brooklyn), der 1949 und 1950 zwei Sommersemester in Berlin lehrte, war sehr einflußreich. 33 Auch Franz Neumann (Columbia Universität), Fritz Stern (Columbia Universität, 1954), der Züricher Philosoph Hermann Goldschmidt (Wintersemester 1955/56) und Adolf Leschnitzer vom City College in New York, der seit 1952 regelmäßig zur Geschichte des Judentums las und 1955 zum Honorarprofessor ernannt wurde, gehörten vorübergehend der Berliner Fakultät an und vertraten eine kritische Sicht auf die deutsche Zeitgeschichte. Aber auch in den Veranstaltungen der ›eingesessenen‹ Fachvertreter fand die Geschichte des 20. Jahrhunderts breite Berücksichtigung. Paul Kluke, der spätere Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, lehrte bis 1954 an der Freien Universität, vornehmlich über die Geschichte der Weimarer Republik. Und auch Hans Herzfeld, der 1950 aus Freiburg nach Berlin gewechselt war, und der Neuzeithistoriker Richard Dietrich boten beinahe jedes Jahr Veranstaltungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts an.34 Hinzu kam, als besondere Konstellation, die enge Zusammenarbeit des Friedrich-Meinecke-Institutes mit der 1948 wiedereröffneten Berliner Hoch32 Zur Gründung der FU Berlin vgl. Lönnendonker, Freie Universität; Tent, Freie Universität. 33 Rosenbergs Berliner Zeit war vor allem für die Entwicklung der westdeutschen Strukturund Sozialgeschichte wichtig; so gehörten u.a. Gerhard A. Ritter, Karl Dietrich Bracher, Gerhard Schulz, Otto Büsch und Wolfgang Sauer zu seinen Hörern. Vgl. dazu Wehler, Lage, S. 22; ders., Hans Rosenberg. Rosenberg propagierte jedoch nicht nur Sozial-, sondern auch Zeitgeschichte; im Sommersemester 1950 las er über »Geschichte Europas und der Vereinigten Staaten von 1918 bis 1939». 34 Vgl. hierzu und für das folgende die Vorlesungsverzeichnisse der Freien Universität Berlin.

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schule für Politik. Den dortigen Studenten wurde das Studium und die Promotion an der Freien Universität ermöglicht, aber auch auf der Ebene der Lehrbeautragten bildete sich bald eine produktive Kooperation heraus; die meisten Dozenten der Hochschule boten auch Veranstaltungen am Friedrich-Meinekke-Institut an. Dadurch erhöhte sich das Kontingent des zeitgeschichtlichen Lehrangebotes noch einmal beträchtlich. Vor allem Walther Hofer und seit Mitte der fünfziger Jahre auch Karl Dietrich Bracher, Georg Kotowski sowie Walter Bußmann lasen regelmäßig zur Geschichte der Weimarer Republik und des Dritten Reiches. Allein Bracher bot zwischen 1955 und 1959 acht Veranstaltungen zur deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 an; und Walther Hofer hielt in einer Spanne von acht Jahren vierzehn Vorlesungen bzw. Seminare zur Geschichte des Nationalsozialismus, die noch durch weitere Veranstaltungen zur Vorgeschichte von Drittem Reich und Weltkrieg komplementiert wurden. Man kann für Berlin also von einem enorm breiten zeitgeschichtlichen Angebot sprechen, das sich auch nicht auf die Weimarer Republik beschränkte, sondern die Geschichte des Dritten Reiches mit einbezog. Die behandelten Themen blieben dabei übrigens in dem Rahmen, der generell für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus charakteristisch war: die Außenpolitik und der Zweite Weltkrieg standen deutlich im Zentrum des Interesses; seit der Mitte der fünfziger Jahre wurden auch die Auflösung der Weimarer Verfassung bzw. die »Machtergreifunge sowie gegen Ende der fünfziger Jahre der Widerstand thematisiert. Auch an der Universität Tübingen entfielen etwa 25% der Lehrveranstaltungen auf zeitgeschichtliche Themen. Allerdings war hier die Beschäftigung mit der Geschichte der Weimarer Republik oder des Dritten Reiches beinahe ausschließlich auf das Wirken eines Historikers, nämlich von Hans Rothfels zurückzuführen. Seit seiner Rückkehr nach Tübingen im Jahre 1951 gab er regelmäßig Vorlesungen und Seminare zur Zeitgeschichte, wobei auch hier der Schwerpunkt auf der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Widerstandes lag. Dazu kamen in Tübingen noch die Vorlesungen des Generalleutnants Hans Speidel über »Bündnisprobleme der jüngsten Geschichte«. Speidel, der während des Weltkrieges unter Rommel Stabschef gewesen war und nach 1945 als militärischer Sachverständiger der Bundesregierung fungierte, gehörte in den fünfziger Jahren auch dem wissenschaftlichen Beirat des Münchner Instituts für Zeitgeschichte an. Die Veranstaltungen zur jüngeren Vergangenheit hatten in Tübingen somit einen stark militärgeschichtlichen und überdies politisch konservativen Einschlag. Das übrige Lehrangebot war sehr konventionell gehalten: die preußischen Reformen, Bismarck und die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts waren die favorisierten Themen. Daneben ergänzten Vorlesungen über diplomatische Beziehungen und über europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts das Angebot. Im Hinblick auf die Integration der Zeitgeschichte in den Fächerkanon wa234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35798-0

ren die historischen Fakultäten in Berlin und Tübingen jedoch Ausnahmen. An den meisten Universitäten sah die Lage anders aus. In Heidelberg etwa, wo zunächst Johannes Kühn und dann Werner Conze, Reinhart Koselleck und schließlich auch der nach dem Krieg relegierte und Mitte der fünfziger Jahre rehabilitierte Erich Maschke die Neuere Geschichte vertraten, blieb das Dritte Reich ein Stiefkind der Lehre. Etwa elf Prozent aller Lehrveranstaltungen im Fach Geschichte behandelten das 20. Jahrhundert, aber der Nationalsozialismus kam selten vor. Erst 1955 widmete sich eine eigene Vorlesung der HitlerDiktatur, die bezeichnenderweise dem Widerstand gegen das Regime gewidmet war. Bis 1960 behandelte keine in Heidelberg entstandene historische Dissertationen ein Thema zur Geschichte des Dritten Reiches (lediglich drei Arbeiten zum Weltkrieg). Offener zeigte sich hier die Soziologische Fakultät, an der unter dem Einfluß von Alfred Weber und Herbert Sultan auch Arbeiten zum Nationalsozialismus entstanden.35 Auch die Universität Bonn war nicht gerade ein Zentrum der Faschismus-Forschung. In Bonn lehrten Max Braubach sowie Fritz Kern (bis 1947), Richard Nürnberger (1949-55), Walter Hubatsch (seit 1956), Franz Steinbach, Paul Egon Hübinger (seit 1958) und Stephan Skalweit Neuere Geschichte. Immerhin fünf Arbeiten unter den 48 Dissertationen, die bis 1960 am Historischen Seminar entstanden, behandelten die Geschichte des Dritten Reiches; die Themen beschränkten sich aber auch hier auf Außenpolitik und Kriegsgeschichte. Zur selben Zeit, das nur zum Vergleich, wurden allein bei Max Braubach elf Dissertationen fertiggestellt, die sich mit der Geschichte der Wahlen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem im Rheinland (in Köln, Aachen, Trier oder im Siegkreis) auseinandersetzten. Zeithistorische Ansätze blieben also weiterhin marginal und gehorchten nach wie vor dem traditionellen Primat der Außenpolitik. Dieses Muster der Reduktion des Nationalsozialismus auf seine militärgeschichtliche Dimension fand sich auch an anderen Universitäten. Vor allem Göttingen etablierte sich in den fünfziger Jahren als ein Zentrum der Erforschung des Zweiten Weltkrieges. 36 Insgesamt war die Zeit des Dritten Reiches nur in 8% der Dissertationen, die bis 1960 an den westdeutschen Universitäten zur modernen deutschen Geschichte entstanden, Thema der Untersuchung. Die meisten dieser Arbeiten handelten von außenpolitischen und militärgeschichtlichen Fragen; die innere Herrschaftsstruktur des Regimes wurde nur in Ausnahmefällen thematisiert. Auch hier bestätigte sich somit ein Befund, der die Historiographie des Dritten Reiches generell kennzeichnete: in der Forschungspraxis wurde der Nationalsozialismus häufig auf die Themen Widerstand und Zweiter Weltkrieg reduziert.

35 Vgl. die Beiträge in Deutsch u.a., Studie. 36 Zu Göttingen vgl. auch Obenaus, Geschichtsstudium.

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Zeitgeschichtliche Themen waren, um diesen knappen Überblick zusammenzufassen, durchaus auch Gegenstand von Forschung und Lehre an den Universitäten. Die wissenschaftlich erforschbare Geschichte erstreckte sich also auch an den Universitäten bis ins 20. Jahrhundert. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus allerdings war eher die Ausnahme - und zudem häufig begrenzt auf die konventionellen Fragestellungen. Vielerorts wurden die Widerstände gegen die Zeitgeschichte nur allmählich überwunden. 37 Auch in den wichtigsten Fachzeitschriften wurde das Dritte Reich nur am Rande thematisiert. Seit ihrer Wiedergründung im Jahre 1949 erschienen in der »Historischen Zeitschrift« bis 1960 lediglich drei Aufsätze zu Aspekten des Nationalsozialismus; zwei davon waren Besprechungen der Bücher von Gerhard Ritter und Friedrich Meinecke. 38 Die Frequenz zeithistorischer Themen war auch in der »Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte« oder der neugegründeten »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« nicht wesentlich höher.39 Die Mehrheit der Historiker tendierte dazu, die Behandlung des Nationalsozialismus an die separaten Forschungseinrichtungen zu delegieren. Dies war jedoch nicht nur ein Ausdruck einer systematischen Verdrängung‹ der jüngsten Vergangenheit an den Universitäten, sondern korrespondierte zugleich mit dem Anspruch der Zeitgeschichte auf institutionelle Eigenständigkeit. Dieses Beharren auf relativer Autonomie wurde durch die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche unterstrichen, wie sie von einigen Zeithistorikern vorgenommen wurde. Hans Buchheim etwa, vom Dezember 1950 bis 1966 langjähriger Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, plädierte für die institutionelle Trennung der Zeitgeschichte von den Universitäten, und zwar aufgrund methodischer Erwägungen: »Die Zeitgeschichte scheint mir für Studenten höherer Semester, die Geschichte studieren, als eine methodologische Variante interessant und wichtig zu sein. Sie ist aber eigentlich als Gegenstand für Dissertationen nicht geeignet. Denn der Sinn einer Dissertation ist, daß ihr Verfasser nachweist, daß er sein Handwerk gelernt hat und die Methode beherrscht. Das ist aber [in der Zeitgeschichte] nur bedingt möglich ... Das heißt, eine zeitgeschichtliche Dissertation kann in den wenigsten Fällen schulmäßig gemacht werden und ist deshalb nicht sehr sinnvoll.« 40 Die organisatorische Ausgliederung der Zeitgeschichte entsprach somit der Geschichtsauffassung der Mehrzahl der deutschen Historiker. Das Münchner 37 Vgl. auch Benz, Wissenschaft, S. 16; selbst Manfred Kittel, dessen Buch den breit angelegten Versuch unternimmt, gegen den Vorwurf der Verdrängung« bereits für die fünfziger Jahre eine intensive Beschäftigung mit dem Dritten Reich nachzuweisen, muß eine »gewisse Abneigung der Philosophischen Fakultäten gegenüber der zeithistorischen Periode« konzedieren (Kittel, Legende, S. 283). 38 Herzfeld, Zwei Werke; Beyerhaus, Notwendigkeit; v. Rimscha, Baltikumpolitik. 39 Vgl. dazu auch G. Schäfer, Modernisierung, S. 94ff. 40 H. Buchheim, Die nationalsozialistische Zeit, S. 62.

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Institut für Zeitgeschichte war dabei nicht die einzige Forschungseinrichtung auf diesem Gebiet. Dazu gehörte auch die Forschungsstelle des Instituts für Völkerrecht an der Universität Göttingen. Dort gab es auch eine zeitgeschichtliche Abteilung, die von Hans-Günther Seraphim geleitet wurde. Seraphim war historischer Sachverständiger bei der deutschen Verteidigung in Nürnberg gewesen und hatte nach dem Krieg die Erschließung der Nürnberger Akten übernommen. In Göttingen wurden unter seiner Regie Indices zu den Protokollen und Regesten der etwa 60 000 Dokumente erstellt. Eine Reihe von Göttinger Dissertationen zu zeitgeschichtlichen Themen wurde von Seraphim mitbetreut. 41 Eine weitere Nachkriegsgründung war die vom Bundesminister des Inneren 1951 berufene »Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien«. Sie unterstützte Arbeiten, die sich mit der Geschichte der Parteien und Parlamente zwischen 1848 und 1933 auseinandersetzten. Die Kommission beruhte auf der interdisziplinären Kooperation mit Politikwissenschaftlern wie Theodor Eschenburg und Wolfgang Abendroth und dem Publizisten Walter Hagemann. Geleitet wurde die Kommission von Alfred Milatz, später von Werner Conze. 42

Zeitgeschichte zwischen Ost und West Gemeinsam war diesen Einrichtungen, zu denen noch die spätere »Bundeszentrale für politische Bildung« gezählt werden konnte, daß sie neben der wissenschaftlichen auch eine dezidiert politische Aufgabe übernahmen. Durch die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der jüngsten Vergangenheit sollte gleichsam die Grundlage für eine demokratische Zukunft gelegt werden. Auf der anderen Seite richtete sich die politische Botschaft der deutschen Zeitgeschichte auch nach außen, und zwar sowohl nach Osten als auch nach Westen. Denn das Institut für Zeitgeschichte war auch eine Gründung gegen die »›antifaschistischen‹ Afterwahrheiten, wie sie von drüben zu uns kommen«. 43 Ihrem Selbstverständnis nach zeichnete es die Münchner Zeitgeschichte aus, daß »sie sich frei entfalten konnte und nicht wie in der Sowjetzone propagandistischen Zielen zu dienen hatte«.44 Man begriff die eigene Aufgabe durchaus als politische, die aber nicht zur reinen Propaganda degenerieren dürfe. Das Institut für Zeitgeschichte stelle ein Gegengewicht dar zur »ostzonalen« Erklärung des Fa41 Vgl. die Danksagungen in den Dissertationen von Brausch, Beziehungen; Breyer, Beziehungen; Eichstädt, Anschluß; Georg, Unternehmungen. 42 Vgl. Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 252-254; ders., Probleme, S. 43—45. Auch die Historiker Max Braubach, Ludwig Bergsträsser, Theodor Schieder, Alfred Herrmann und Fritz Fischer gehörten der Kommission an. 43 Kluke, Aufgaben, S. 7433. 44 Besson, Geschichte, S. 76.

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schismus als notwendiges Resultat der deutschen Geschichte, die als pauschale Diskreditierung der Tradition aufgefaßt wurde. Gleichzeitig zielte die wissenschaftliche Widerlegung als einseitig empfundener Deutungen aber auch nach Westen. Schon in der ersten Gründungsphase des Instituts gab es seitens involvierter Politiker Überlegungen, dem Institut die Aufgabe zu übertragen, gegenüber dem Ausland die historische Schuld Deutschlands zu minimieren; dazu sei es nötig, den Anteil der alliierten Politik am Aufstieg Hitlers sowie den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den Vordergrund zu rükken.45 Bei der Behandlung des Widerstands dürfe man »sich nicht auf den 20. Juli beschränken«, betonte Anfang der fünfziger Jahre der Darmstädter Neuzeithistoriker und Beiratsvorsitzende des Instituts Ludwig Bergsträsser, »weil der Nachweis breiteren Widerstands auch heute noch eine außenpolitische Bedeutung hat«.46 Von Beginn an bestand eine der Aufgaben des Instituts auch darin, die Erforschung des Nationalsozialismus nicht dem Ausland zu überlassen. Hermann Mau hatte daher schon 1950 vor seiner Wahl zum Generalsekretär des Instituts programmatisch festgestellt: »Die Erforschung der nationalsozialistischen Zeit ist eine deutsche Aufgabe.«47 Die deutsche Zeitgeschichtsforschung verstand sich somit auch als ein Korrektiv zu den ausländischen ›Fehlinterpretationen‹ der deutschen Geschichte, denen man sich im Kontext des Nürnberger Prozesses und der alliierten Besatzung zunehmend ausgesetzt sah.48 Die Kollektivschuldthese, die tiefgreifenden alliierten Reformvorschläge und die Praxis der Entnazifizierung und Reeducation wurden häufig als ›Mißverständnisse‹ empfunden, die in erster Linie auf Unkenntnis der Geschichte beruhten. »Es ist offenbar unmöglich«, so vermutete der Heidelberger Historiker Fritz Ernst, »die Faktoren der besonderen deutschen Erfahrung Menschen einer Welt zu übermitteln, der die Voraussetzungen dazu fehlen. Es ist doch wohl eine im besonderen Maße deutsche Lektion, die wir gelernt haben oder wenigstens lernen konnten.« Dabei hatte er beispielsweise die (in seinen Augen) Diffamierung des Widerstands vom 20. Juli im Sinn, dem von amerikanischer Seite ein aristokratischer Nationalismus vorgeworfen wurde. Dieses Verdikt war für Ernst das Ergebnis einer zu großen hermeneutischen Distanz. »Wer unter einer Diktatur gelebt hat, weiß, was da Widerstand bedeutet. Wer nie unter einer Diktatur gelebt hat, wird das schwer begreifen.« Nur der Mitlebende, nur der wahre Zeitgenosse sei in der Lage, die Geschehnisse wirklich zu verstehen.49

45 Gimbel, Origins, S. 721. 46 Zitiert nach Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 240. 47 Zitiert nach: Institut für Zeitgeschichte, 25 Jahre Institut für Zeitgeschichte, S. 27. 48 So plädierte etwa auch Paul Kluke für eine Lösung der Zeitgeschichte von den Fragestellungen des Nürnberger Prozesses (Kluke, Aufgaben, S. 7433). 49 Ernst, Blick auf Deutschland, S. 193, 211.

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Diese Argumentation präsentierte das politische Interesse an einer Geschichtsschreibung-durch-Deutsche als methodische Notwendigkeit. Die Ablehnung alternativer Deutungen wurde durch epistemologische Einwände motiviert. Vor allem die Interpretationen ausländischer Historiker wurden als Fehlurteile deklariert, die auf die methodischen Schwierigkeiten einer Betrachtung ›von außen‹ zurückgeführt wurden. Die Wirklichkeit des Dritten Reiches könne nur von dem begriffen werden, der sie selbst erlebt habe. So betonte auch Hans Rothfels, »daß niemand das Recht hat, über Gewissenskonflikte und die Möglichkeiten unbedingter Haltung zu urteilen, der nicht selbst durch diese Erprobungen voll hindurchgegangen ist«.50 Dies bringt uns zu der Frage der Verankerung der Zeitgeschichte im traditionellen ›Verstehens-Paradigma‹ des deutschen Späthistorismus. Denn es waren ja gerade die konventionellen Imperative historischer Methode, die die Zeitgeschichte zu einer Disziplin sui generis zu machen schienen.

c) »Miterleben und Miterleiden«: Zeitgeschichte als Methode

Eine Methode für Deutsche Schon Friedrich Meinecke sprach in seiner Bilanz der »Deutschen Katastrophe« 1946 vom »Hauch der Zeitatmosphäre, in der sich unser Schicksal vollzog, und die man kennen muß, um dies Schicksal ganz zu verstehen.«51 Auch wenn in der historischen Literatur eine innere Distanz zum Gegenstand der Betrachtung häufig als Voraussetzung der Objektivität angesehen wurde, betrachteten die Historiker, die sich mit zeitgeschichtlichen Themen beschäftigten, ihre zeitliche (und geographische!) Nähe zu den Geschehnissen vor allem als Chance. Fehlte diese Nähe, dann schien es auch an den Voraussetzungen einer fairen Beurteilung zu mangeln, wie Fritz Ernst beklagte: »Immer wieder stößt man auf Schilderungen, die deutsche Menschen zum Objekt haben, und man fragt sich erstaunt, sollen das wirklich Deutsche, sollen das wirklich lebende Menschen sein?«52 Die Objektivierung ohne die vermittelnde Instanz der Einfühlung mußte nach diesem Verständnis ein verzerrtes Bild zeichnen; die Deutschen erschienen dann lediglich als distanziertes Objekt, nicht mehr als legitimes Subjekt der Geschichte. Der deutliche Wille zahlreicher westdeutscher Historiker, eine Verunglimpfung‹ der deutschen Geschichte durch eine nicht-deutsche Geschichtsschrei50 Rothfeh, Opposition, S . U . Rothfels, der dieses Recht für sich selbst in Anspruch nahm, hatte Deutschland 1935 wegen seines jüdischen Familienhintergrundes verlassen müssen. Er kehrte 1950 aus den Vereinigten Staaten in die Bundesrepublik zurück. 51 Meinecke, Katastrophe, S. 6f. 52 Ernst, Blick auf Deutschland, S. 193 (Hervorhebung von mir, S.C.).

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bung nicht gelten zu lassen, korrespondierte also mit der methodischen Überzeugung, daß erst die persönliche Einfühlung in den Gegenstand das historische Begreifen gewährleiste. Auf dieser Betonung des individuellen Verstehens‹ ruhte das methodische Credo des Historismus, das in Deutschland bis in die Nachkriegszeit seine Geltung nicht eingebüßt hatte. Die Aufgabe des Historikers bestand demnach darin, sein »Selbst gleichsam auszulöschen« (Ranke) und so auf die Absichten und Intentionen historischer Personen Zugriff zu erhalten. 53 Auf diese Weise sollte die zeitliche und vor allem kulturelle Distanz zwischen dem Historiker und seinem Gegenstand überbrückt werden. Paul Kluke, der auf einer Tagung zeithistorisch arbeitender Forschungseinrichtungen 1954 in Frankfurt das Institut für Zeitgeschichte vertrat, verankerte die neue Disziplin fest auf dem Boden dieser historistischen Verstehenslehre: »Die Geschichtswissenschaft hat zu ihrer philosophischen Grundlage die Lehre des Verstehens. Verstehen als seelischer Vorgang beruht darauf, daß alle Menschen, unbeschadet ihrer individuellen Differenzierung, in den geistigen und seelischen Wurzeln ihres Verhaltens übereinstimmen. Auf Grund von innersten Gemeinsamkeiten können wir Historiker uns in andere historische Gestalten versetzen, in sie gleichsam übergehen, ihr Handeln nacherleben und schildern«.54 Diese historische Einfühlung nun, nach den überlieferten methodischen Richtlinien der Zunft die Grundbedingung jeder objektiven Interpretation, schien in der Zeitgeschichte auf viel direktere Weise möglich als sonst in der historiographischen Praxis. Eine hermeneutische Distanz schien gar nicht vorhanden zu sein, da der Historiker die nun untersuchte Vergangenheit ja selbst durchlebt hatte. Denn »das Nachleben ist umso intensiver, eindringlicher, überzeugender, je näher wir der Epoche sind, die wir schildern wollen.« 55 Die persönliche Erfahrung fungierte so als Ermöglichungsbedingung historischer Erkenntnis und garantierte der Zeitgeschichte -jedenfalls im Selbstverständnis ihrer Repräsentanten - einen methodisch privilegierten Status. Gleichzeitig diente sie als Ausschlußkriterium, wie auch aus den Ausführungen von Konrad Barthel (der später Zeithistoriker an der Universität Frankfurt werden sollte) deutlich wird: »Es kann also das Verstehen um so vollkommener werden, je näher der zu Verstehende uns zeitlich und kulturell steht. Das gilt teilweise in einem sehr strengen Sinne, derart etwa, daß bestimmte Erlebnisse von außerordentlichem Charakter überhaupt nicht übertragbar sind. Situationen wie die des Lebens unter einem totalitären Regime sind wahrscheinlich so einzigartig, so ganz unserer Epoche allein zugehörig, daß ihr Erlebnis von späteren Epochen gar nicht nachvollzogen, erst recht aber auch aus der reichhaltigsten Fülle der 53 Zitiert nach jaeger u. Rüsen, Historismus, S. 45. Vgl. zum Verstehenskonzept etwa Lorenz, Konstruktion, S. 90-95; Haussmann, Erklären und Verstehen. 54 Kluke, Aufgaben, S. 7431. 55 Kluke, Aufgaben, S. 7432.

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bekannten Tatsachen nicht rekonstruiert werden kann. Wir wissen, welch seltsame Vorstellungen sich etwa Amerikaner vom Leben im Dritten Reich machen«. 56 Die methodische und epistemologische Fundierung der Zeitgeschichte sollte in Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus auch das Deutungsmonopol der deutschen Historiographie garantieren. Die aus dem Verstehensparadigma abgeleiteten methodischen Postulate und der Wille, die Deutung der Geschichte des Dritten Reiches den Deutschen selbst zu überlassen, standen in einem symbiotischen Verhältnis.

Zuverlässigkeit und Repräsentativität Mit der Institutionalisierung der Zeitgeschichte ging eine extensive Methodendebatte einher, die nicht selten auch in der konkreten zeithistorischen Forschung wieder aufgenommen wurde. Die Zeitgenossenschaft des Historikers versprach, wie wir gesehen haben, heuristische Vorteile, während gleichzeitig die Überfülle und der propagandistische Charakter des Quellenmaterials besondere Schwierigkeiten bargen. Insbesondere bei der Deutung der Geschichte moderner Diktaturen kam der Quellenkritik in der historischen Forschung eine Schlüsselfunktion zu. »Es gilt,« postulierte Paul Kluke, »durch die dialektisch verschleiernde, andeutende oder hintergründige Sprache auf den Kern zu stoßen, die echte von der falschen Rede zu trennen, das innere Wesen eines Menschen zu erkennen. Eine solche Fähigkeit ist vielleicht nur einem Menschen gegeben, der das zweifelhafte Vergnügen persönlichen Miterlebens und Miterleidens gehabt hat«.57 Allerdings wurde an die methodischen Grundsätze meist eher appelliert, als daß deren Kriterien tatsächlich einmal ausbuchstabiert wurden. In der Regel wurde die zeithistorische Methode durch ausführliche Debatten darüber ersetzt; das Instrumentarium kritischer Verfahren wurde nicht so sehr appliziert als hauptsächlich thematisiert. Die methodischen Reflexionen hatten auf diese Weise nicht selten den Charakter von Beschwörungsformeln. Hans Rothfels etwa, der Doyen der deutschen Zeitgeschichtsforschung, betonte, angesichts der komplexen Materiallage käme es »vor allem auch auf eine Intensität des Fragens an«. Es gehörte zum theoretischen Vermächtnis des Historismus, daß die Quellenkritik häufig im Zentrum der methodischen Überlegungen stand. In der Zeitgeschichte erschien der kritische Umgang mit den Dokumenten umso wichtiger. Wie die Destillierung der historischen Wahrheit aus dem Wust des überlieferten Materials konkret auszusehen habe, blieb jedoch zumeist hinter nebulösen Wendungen verborgen. In Formulierungen, bei denen die Lokalisierung und die Lö56 Barthel, Problem, S. 495f. 57 Kluke, Aufgaben, S. 7437.

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sung des Problems in eins zu fallen schienen, versicherte Rothfels: »Um die Ansatzpunkte« für eine adäquate Interpretation »richtig, d.h. nicht im Beliebigen, sondern im Wesentlichen und Strukturellen zu wählen, verfügt die Zeitgeschichte ..., wie man doch wohl sagen darf, über Maßstäbe von ungewöhnlicher Fruchtbarkeit.« 58 Auf die hier vorgenommene Identifikation des »Wesentlichen« mit dem »Strukturellen« wird noch zurückzukommen sein. Zunächst soll jedoch die Frage nach der quellenkritischen Methode noch einmal an einem Beispiel aus der historiographischen Praxis überprüft werden. Die Dokumentation der »Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neisse« war das umfangreichste zeithistorische Projekt der fünfziger Jahre. Die insgesamt zehnbändige Zusammenstellung von Dokumenten über die Ausweisung und Vertreibung von Deutschen aus Ostund Südosteuropa gegen Ende des Krieges und nach dem Waffenstillstand war vom Bundesministerium für Vertriebene in Auftrag gegeben worden. Unter der Leitung des Kölner Historikers Theodor Schieder hatte eine Kommission, der Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow, Hans Rothfels und später auch Werner Conze angehörten, ein umfangreiches Material angehäuft, das zwischen 1953 und 1957 publiziert wurde. In sieben Teilbänden wurden Zeugenaussagen und relevante Gesetzestexte dokumentiert und von den Herausgebern auch kommentiert; drei Beihefte stellten Tagebuchaufzeichnungen vor, die die statistisch aggregierten Befunde durch die Unmittelbarkeit individuellen Erlebens ergänzen sollten. Eine Dokumentation dieser Art, finanziert durch Bundesmittel, war ein Politikum ersten Ranges. Die Herausgeber betonten dennoch regelmäßig den wissenschaftlichen, unpolitischen Charakter ihres Werkes und den »Verzicht auf Rache und Vergeltung«, wie er in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen ausgesprochen war. Ihnen erschien »die Askese wissenschaftlich historischer Methode als die einzig angemessene Haltung«. 59 Mit dieser Versicherung war das Projekt allerdings noch nicht entpolitisiert, auch wenn das Zitat bereits deutlich macht, daß die wissenschaftliche Methode den Zugang zu einer historischen Wahrheit eröffnen sollte, die dann jenseits der politischen Auseinandersetzungen Bestand haben würde. Tatsächlich aber schloß die Rekonstruktion des Flucht- und Vertreibungsprozesses bewußt an ein eminent politisches Unterfangen an, nämlich an die Dokumentensammlung des Reichsarchivs nach dem Ersten Weltkrieg. Dieses Projekt war mit der Absicht verbunden gewesen, die Unschuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges wissenschaftlich nachzuweisen. Theodor Schieder bezeichnete diesen Versuch als »ein in der Zielsetzung völlig richtiges und großartiges und in seiner Durchführung bei allen Mängeln und zu erhebenden Einwänden im allgemeinen auch gelungenes Unternehmen.« Mit einer ähnlichen Intention war nun 58 Rothfels, Zeitgeschichte, S. 6. 59 Conze, Dokumentation, S. 237.

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das Projekt der Dokumentierung der Vertreibung ins Leben gerufen worden, wobei Schieder einschränkte: »Diese Parallelität liegt allerdings nur im Bereiche der politischen Bedeutung und vielleicht auch der zu erhoffenden reinigenden Wirkung.« 60 Diesem rehabilitatorischen Anliegen schien jedoch nur Erfolg versprochen, wenn das ausgebreitete Beweismaterial den strengsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügte und über jeden methodischen Zweifel erhaben war. »Im Interesse absoluter Sauberkeit« sei daher der Stellenwert jeder einzelnen Zeugenaussage zu überprüfen, »denn kaum ein Aktenstück gibt der Nachwelt von den ungeheuerlichen Vorgängen im Osten Europas am Ende des zweiten Weltkrieges authentische Kunde«. Das Vorwort im ersten Band der Dokumentation, aber auch der Rechenschaftsbericht des Herausgebers Theodor Schieder in den »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte«, waren durchdrungen von einer Sensibilität für Fragen der Authentifizierung, der Verifizierung und der Repräsentativität. »Absichtlich«, so wurde auch in der »Dokumentation« unterstrichen, »ist beim Abdruck der Dokumente mit äußerster wissenschaftlicher Akribie verfahren worden.« 61 Diese Präokkupation mit Problemen der Methode und Quellenkritik war nicht nur der politischen Brisanz des Unterfangens geschuldet, sondern auch dem fehlenden zeitlichen Abstand. »Es zeigt sich,« wie Theodor Schieder versicherte, daß die Zeitgeschichte »andere Maßstäbe verlangt als die geistige Wiedererweckung, die Verlebendigung einer restlos dem Tode verfallenen Vergangenheit.« 62 Und in der Tat stellte die Dokumentation eine besondere Herausforderung dar, da es sich bei den Quellen nicht um Aktenmaterial, sondern um Erlebnisberichte von Zeitzeugen handelte. Bei der Fülle der Erinnerungen und zu Protokoll gegebenen Aussagen ergab sich die doppelte Schwierigkeit der Überprüfung ihrer Verläßlichkeit sowie der repräsentativen Auswahl. 63 Hinsichtlich der Möglichkeiten der Quellenkritik zeigten sich die beteiligten Historiker äußerst zuversichtlich. Die grundsätzlichen »Befürchtungen haben sich nur wenig bestätigt«, wenn man auch vor der einen oder anderen Überraschung offenbar nicht gefeit war: »Es zeigte sich z.B., daß Berichte, die von Frauen geschrieben waren, durchaus nicht wesentlich schlechter oder unsachlicher waren als solche, die von Männern stammten.« 64 Bei der Überprüfung der Echtheit der Dokumente verließ man sich auf besondere methodische Verfahren, die Authentizität gewährleisten sollten. In regelmäßigen Selbstvergewisserungen wurde ein ganzes Vokabular der Zuverlässigkeit bemüht, das jeden Zweifel ausräumen sollte. »Da das überwiegend aus Erlebnisberichten und zu 60 61 62 63 64

Th. Schieder, Vertreibung, S. 4, 5. Bundesministerium, Vertreibung, Band I, S. iii, vi. Th. Schieder, Vertreibung, S. 2. Vgl. dazu Zipfel, Dokumentensammlungen, S. 28f. Broszat, Massendokumentation, S. 209.

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einem geringen Teil aus Protokollen, privaten Briefen, Tagebüchern und einigen amtlichen Schriftstücken bestehende Material seinem historischen Quellencharakter nach teilweise erheblich von sonst üblichen historischen Quellen abweicht und bezüglich seiner Zuverlässigkeit zunächst als problematisch gelten mußte, war ein besonders sorgfältiges, dem eigenartigen Charakter der Quellen angemessenes Verfahren der Überprüfung und Auswahl notwendig, um zur Ermittlung eines sowohl quellenkritisch unanfechtbaren als auch inhaltlich und formal zur Veröffentlichung geeigneten und brauchbaren Bestandes von Dokumenten zu gelangen.« 65 Diese beinahe schon ritualisierten Garantieerklärungen demonstrierten die Unsicherheiten, die Irritationen angesichts der Schwierigkeiten »zeitgeschichtlicher Forschung mit ihrem Zwang zur Erprobung neuartiger Methoden«. 66 In immer neuen Formulierungen wurde der Wahrheitsanspruch der eigenen Ergebnisse untermauert. Die repetitive Beschwörung methodischer Rigidität entbehrte dabei nicht eines gewissen Placebocharakters. So versicherten die Herausgeber, daß »die Richtigkeit der Angaben durch gegenseitigen Vergleich der Dokumente geprüft« worden war. Bisweilen allerdings »mußte an die Stelle objektiver Verifizierung die Ermittlung der Glaubwürdigkeit treten, die aus bestimmten inneren Indizien ersichtlich ist«.67 Dies waren nun keine Kriterien, die ausschließlich dem wissenschaftlichen Diskurs reserviert waren. Journalistische Berichte oder autobiographische Aufzeichnungen waren ebenso durch Plausibilität und Kohärenz strukturiert. Auch das methodische Arsenal der Zeitgeschichte ließ sich weitgehend auf diese Kategorien reduzieren: »Die innere Glaubwürdigkeit einer Quelle ist aus vielen Indizien ... herzuleiten; das entscheidende Indiz wird aber stets der unwägbare Eindruck der Echtheit und inneren Wahrheit sein.« 68 Neben die Überprüfung der Zuverlässigkeit des Materials trat dann als zweite methodische Aufgabe des Historikers die adäquate Auswahl aus der Fülle des Quellenmaterials. Auch hier wurde Wert darauf gelegt, daß die publizierte Reihe ihre »Ergebnisse nicht dem Zufall verdankte sondern systematisch angelegt war.« Dies ließ sich nur erreichen, wenn man sich auf die typischen, über den Einzelfall hinausweisenden Zeugnisse beschränkte. »Zu diesem Zweck ist aus der Fülle der Dokumente eine Auswahl getroffen worden, die als repräsentativ für alle Landschaften, Bevölkerungsgruppen, Vorgänge und Schicksale gelten konnte.«69 Auch hier war zwischen methodischer Stringenz und dem apodiktischen Charakter der behaupteten Repräsentativität nicht immer klar zu unterscheiden. 70 65 66 67 68 69 70

Bundesministerium, Vertreibung, Band I, S. ii (Hervorhebungen von mir, S.C.). Conze, Dokumentation, S. 236. Bundesministerium, Vertreibung, Band I, S. iii. Th. Schieder, Vertreibung, S. 9. Bundesministerium, Vertreibung, Band I, S. iv. Vgl. ähnlich Broszat, Massendokumentation, S. 205.

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Performanz als Methode Auch die zeitgeschichtliche Methode, so ließe sich diese Lektüre zusammenfassen, blieb grundsätzlich der historistischen Methodologie verpflichtet. Sie folgte, mit anderen Worten, dem Verstehensparadigma des 19. Jahrhunderts, das auch in den 1950er Jahren noch das gängige historiographische Verfahren darstellte. Erkenntnis war hier im wesentlichen ein Ergebnis der Einfühlung, die auf dem Ausblenden nachträglicher Wertungen beruhte und garantieren sollte, daß der Gegenstand ›angemessen‹ und seinem Wesen entsprechend beurteilt werden könne. Diese erkenntnistheoretische Voraussetzung (die ihrerseits auf ontologischen Annahmen beruhte) implizierte, daß nur diejenige Rekonstruktion als ›richtig‹ zu bezeichnen war, die der einfühlende Wissenschaftler rückblickend als nachvollziehbar betrachtete. Das methodische Verfahren bestand mithin in Plausibilitätsüberlegungen des Historikers, und das galt auch für das Herzstück der historistischen Methode, die Quellenkritik. Verfahrensregeln und standardisierte Kausalbeziehungen wurden so im Grunde durch Performanz ersetzt. Als Werner Conze etwa die statistischen Berechnungen über das Ausmaß von Flucht und Vertreibung in der von Schieder herausgegebenen Dokumentation bewertete, beeilte er sich zu versichern: »Die mitgeteilten Ziffern beruhen selbstverständlich zumeist nicht auf exakten Zählungen, sind jedoch so zuverlässig geschätzt und berechnet, daß sie überall die zutreffende Größenordnung wiedergeben.«71 Der Kern des historistischen Methodenbegriffs bestand somit in der Plausibilität und Kohärenz. Aus der Perspektive des Lesers wiederum war die Plausibilität nicht zuletzt, wie die Beispiele zeigen, ein Resultat der Überzeugungskraft der historiographischen Darstellung. Dabei war es nicht immer eindeutig, wo die Grenze zwischen Methode und Rhetorik zu ziehen war.72 Die besonderen Erkenntnisbedingungen der Zeitgenossenschaft, die Historiker wie Werner Conze dennoch von »zeitgeschichtlicher Methodik« sprechen ließen, hatten jedoch noch eine weitere Konsequenz. Denn die Glaubwürdigkeit der Darstellung verdankte sich auch der Autorität des Historikers, die nach den epistemologischen Prinzipien der Zunft von seiner Verstehens-Kompetenz abhing. Und die Einfühlung mußte, so schien es, doch dem am leichtesten gelingen, der selbst zum Zeitpunkt des Geschehens zugegen war. Spätestens an dieser Stelle wird der problematische Charakter des historistischen Verstehens-Begriffes deutlich. Das Kriterium, nach dem über Erfolg 71 Conze, Dokumentation, S. 238. 72 Dieses Problem bleibt nicht notwendigerweise auf die historistische Methode beschränkt. In der Regel rekurriert die »Methode« der Geschichtswissenschaft auf ein Set von axiomatischen Vorentscheidungen, die dann nicht näher diskutiert und deren Konsequenzen durch Performanz plausibel gemacht werden. Vgl. dazu die Überlegungen von jelavich, Methode?; Carrard, Poetics; Megill, Recounting; Rigney, Rhetoric; White, Bedeutung.

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oder Mißerfolg bei dem Versuch, sich in den historischen Gegenstand ›einzufühlen‹, geurteilt werden kann, blieb unklar. Wenn nun die Zeitgenossenschaft die ›angemessenste‹ Interpretation versprach, war es nicht mehr weit bis zur Delegierung der wissenschaftlichen Autorität an die Beteiligten selbst, welche Blüten diese Schlußfolgerung aus dem Imperativ des ›Einfühlens‹ hervorzutreiben imstande war, wird der nächste Abschnitt illustrieren. Allerdings, das sei noch einmal betont, geht es hier nicht in erster Linie um eine Kritik an einer bestimmten Methode. Vielmehr liegt das Augenmerk auf der Frage, wie bestimmte aus der Historik abgeleitete Postulate mit wiederum ganz bestimmten Deutungen derjüngsten Vergangenheit korrespondierten und diese Interpretationen als objektives Ergebnis einer angeblich neutralen Methode erscheinen ließen. Die ›Methode‹, so ließe sich zusammenfassen, erscheint hier eher als Instrument bei der Plausibilisierung bestimmter Deutungen denn als unparteiliche Voraussetzung historischen Erkennens. Insofern schließt sich an diesem Punkte ein Kreis, denn auch der politische Anspruch der Zeitgeschichtsforschung hatte ja unter anderem darin bestanden, die Geschichtsschreibung des Dritten Reiches nicht einer ausländischen ›Propaganda‹ zu überlassen, sondern sie den Deutschen - und bisweilen sogar den ehemaligen Akteuren selbst anzuvertrauen.

d) Zeitgeschichte als Thema Die methodische Herausforderung, vor die sich viele Zeithistoriker gestellt sahen, war eine doppelte. Grundsätzlich stellte sie sich als Chance dar, durch Zeitgenossenschaft die hermeneutische Kluft zwischen Beobachter und U n tersuchungsgegenstand zu überbrücken. In der spezifischen Situation der deutschen Nachkriegszeit bestand sie zudem aber auch in der Schwierigkeit, mit der Ausnahmesituation einer totalitären Diktatur zurechtzukommen. »Es sind darum die uns überkommenen Zeugnisse der politischen Betätigung im Diktaturstaat selten nach ihrem vorgegebenen Wert zu nehmen, alles wird doppelbödig und hintersinnig. Man muß die Umstände kennen«, um zu verläßlichen Erkenntnissen zu gelangen, wie Paul Kluke es formulierte. 73 Beide Aspekte, sowohl allgemeine Chance als auch spezifische Problematik der deutschen Zeitgeschichte, schienen die wissenschaftliche Behandlung des Dritten Reiches durch Personen nahezulegen, die selbst an den Ereignissen beteiligt waren. Nicht objektivierende Distanz, sondern im Gegenteil eine möglichst große Nähe zu den Trägern des Geschehens schien dem historischen Verstehen zuträglich zu sein.

73 Kluke, Aufgaben, S. 7434.

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Hitlers Tischgespräche Aus dieser Perspektive war es vielleicht nicht ganz zufällig, wenn auch die erste Publikation des Münchner »Deutschen Instituts für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit«, des späteren »Instituts für Zeitgeschichte«, nicht mit einer kritisch-distanzierten Analyse aufwartete, sondern einen Beteiligten zu Wort kommen ließ: beinahe unkommentiert wurden 1951 Hitlers »Tischgespräche im Führerhauptquartier« der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Diese Publikation sollte »die Wahrheit, oder doch ein wesentliches Stück von ihr, an den Tag bringen«, wie Gerhard Ritter in seiner Einleitung schrieb.74 Bei dem Dokument handelte es sich um die Mitschriften von zwei Ministerialbeamten, die auf Hitlers Anweisung zwischen Juli 1941 und August 1942 dessen monologhafte Äußerungen bei Tisch aufgezeichnet hatten. Das Zeugnis eines (wenn nicht des privilegierten) Entscheidungsträgers versprach Einsichten in die Wirklichkeit jener Zeit, die dem unbeteiligten Historiker nicht möglich schienen. Auf kritische Annotationen hatte man »um der unmittelbaren Wirkung der Dokumente willen« 75 gänzlich verzichtet, um dadurch »zu zeigen, ›wie es eigentlich gewesen ist‹«.76 Auf einige der Erkenntnisse, die den Leser erwarteten, wies Henry Picker von dem die Mehrzahl der Aufzeichnungen stammte - bereits in einem knappen Vorwort hin. Dazu gehörte für ihn vor allem die Faszination, die Hitler auf Menschen in seiner Umgebung ausüben konnte. Picker erinnerte an Hitlers »betont menschliches Auftreten« und erhoffte sich, daß durch die unkommentierte Wiedergabe seiner Äußerungen »ein Bild von einer Unmittelbarkeit entsteht, wie es Bücher, die hernach aus der Erinnerung geschrieben sind, gar nicht vermitteln können.« Picker selbst (»Hitler ... pflegte mich ... stets mit Handschlag zu begrüßen«) war der Person Hitlers offenbar gänzlich verfallen. Wenn dieser ihn »mit seinen irgendwie zwingenden, auffallend großen blauen Augen musterte ..., spürte ich [= Picker] schon ...jenes merkwürdige Fluidum, das Hitler so beherrschend ausstrahlte.«77 Solcherart mußte man sich offenbar die Erkenntnisse vorstellen, die nur die Augenzeugenschaft und die Perspektive der Beteiligten vermitteln konnte. Henry Picker stand mit dieser Einschätzung nicht allein, seine Bemerkungen zu den »Tischgesprächen« blieben keine periphere Sichtweise. Der Göttinger Mediävist Percy Ernst Schramm beispielsweise, der seit 1943 das Kriegstagebuch beim Oberkommando der Wehrmacht 74 G. Ritter, Zur Einführung, S. 11. 75 Picker, Vorwort, S. 38. 76 G. Ritter, Zur Einführung, S. 11. Gegen dieses Verfahren regte sich auch heftige Kritik, wie beispielsweise die Worte von Hannah Arendt deutlich machen: »Dabei konnte natürlich nichts anderes herauskommen als Propaganda für Hitler, eine Hilfe also für den deutschen Neonazismus». Vgl. Arendt, Bei Hitler zu Tisch, S. 85. 77 Picker, Vorwort, S. 37, 34, 37, 35.

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geführt hatte und diese Aufzeichnungen in den fünfziger Jahren veröffentlichte, zeigte sich in ähnlicher Weise beeindruckt. Auch für Schramm war Hitler »in der Tat ein großer Verführer.... Dabei benutzte er bewußt seine Augen, die groß und leuchtend blau waren. Die Lider - das haben mir die Arzte geschildert brauchte er wenig herunterzuschlagen. Insofern hatte Hitler ein Sensorium, das unwahrscheinlich präzise war.«78 Auch Gerhard Ritter zeigte sich in seiner Einleitung zu den »Tischgesprächen« von Hitlers »verblüffender oratorischer Gewandtheit und sprühendem Temperament« beeindruckt. 79 Erst in den kleinstgedruckten editorischen Anmerkungen am Ende des Bandes wies Ritter auf die »Irrtümer, Übertreibungen oder Verfälschungen der geschichtlichen Wahrheit« hin, aufderen Kommentierung man aber »aus mancherlei Erwägungen verzichtet« hatte.80 Der erst auf der Basis des »Miterlebens und Miterleidens« (Paul Kluke) möglich gewordenen Einfühlung sollte offenbar keine vermittelnde - und distanzierende - Instanz im Wege stehen. Gemäß den Prämissen des historistischen Verstehensparadigmas war der Blickwinkel des Akteurs - in diesem Fall Adolf Hitlers - der privilegierte Zugang zur Wirklichkeit des Nationalsozialismus, »weil nur mit der Schwere des Schicksals auch ein volles Verstehen erkauft werden kann«.81 Die Interpretation der Geschichte des Dritten Reiches blieb auf diese Weise der Perspektive der Handelnden, ja vielfach der Täter verpflichtet. Der undurchsichtige Charakter einer modernen Dikatur schien nahezulegen, daß nur derjenige zu einem vollen Verstehen« der Geschehnisse durchdringen konnte, der an möglichst maßgeblicher Stelle selbst ihr Zeuge gewesen war. Es bestand gewissermaßen eine Affinität zwischen dem Verstehensparadigma mit seinen in der Romantik liegenden Wurzeln, seinem Interesse am Irrationalen und Nichtduplizierbaren und der Erforschung des Nationalsozialismus durch das ›Einfühlen( in die Gedanken des ›Führers‹. Das Verstehen« stellte beinahe so etwas wie die Epistemologie des Führerkultes dar, also die Konzentration auf das Phänomen Adolf Hitler bei gleichzeitiger Aussparung (und Exkulpation) des deutschen Volkes.82 Dieses Vertrauen in eine hermeneutische Engführung, die die Person Hitlers nicht nur zu einem Untersuchungsobjekt, sondern gleichzeitig zum ersten Autor des Instituts für Zeitgeschichte machte, blieb aber nicht ohne Widerspruch. Die Publikation der »Tischgespräche«, die zudem vorab noch in 78 Schramm, Ende des Krieges, S. 58. 79 G. Ritter, Zur Einführung, S. 28. 80 G. Ritter, Zur Einrichtung der Ausgabe, S. 454. 81 Kluke, Aufgaben, S. 7437. 82 In diesem Sinne lassen sich etwa auch die Überlegungen von Thomas Mann über das »Genie« Adolf Hitler (Th. Mann, Ein Bruder) als Produkt dieses Verstehensparadigmas betrachten. Ähnlich auch Joachim Fests »Vorbetrachtung: Hitler und die historische Größe« (Fest, Hitler, S. 17-25).

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der Illustrierten »Quick« veröffentlicht worden waren, stieß auf massive öffentliche Kritik.83 Auch Gerhard Ritter mußte sich im Beirat des Instituts für Zeitgeschichte ausführlich rechtfertigen und Vorwürfen entgegentreten, er sei nicht ausreichend an einer kritischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus interessiert. 84 Ähnliche Proteste hatte es bereits im Winter 1950 gegeben, als Ritter schon einmal den Versuch gemacht hatte, die Geschichtsschreibung über das Dritte Reich einem seiner Protagonisten zu überlassen. Zur Wahl des ersten Generalsekretärs des Münchner Instituts hatte Ritter den ehemaligen Parteigenossen Michael Freund vorgeschlagen, dessen Kandidatur aber nach Kritik in der Öffentlichkeit und durch amerikanische Stellen erfolglos blieb. 85 Der Versuch, bei der Erforschung des Dritten Reiches auf die in eben jener Zeit erworbene Expertise und Autorität zurückzugreifen, blieb keine Ausnahme. Die Zeitgeschichtsforschung der Nachkriegszeit konnte in mancher Hinsicht an Erfahrungen anknüpfen, die dem Diktum von einer »Geschichte ohne Distanz« (Michael Freund) zu unfreiwilliger Mehrdeutigkeit verhalfen. Zwei Aspekte sind hier zu nennen: zum einen konnte manch prominenter Zeithistoriker der Bundesrepublik bereits auf eine zeitgeschichtliche Betätigung während des Dritten Reiches zurückgreifen. Götz Aly hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Wurzeln der Zeitgeschichte der fünfziger Jahre personell und institutionell bis zur 1935 gegründeten »Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte« zurückverfolgt werden können. Dieses Institut befaßte sich mit der Gegenwart und der Zeit seit 1918. Geleitet wurde es von Theodor Schieder, der damals schon die Befragung von Zeitzeugen als ein Instrument der Geschichtsschreibung propagierte, welches er nach dem Krieg bei der umfangreichen »Dokumentation der Vertreibung« erneut zur Anwendung brachte. Auch Helmut Krausnick, seit 1951 Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte und seit 1959 dessen Direktor, hatte von 1938 bis 1944 der »Landesstelle« angehört. 86 Zum anderen korrespondierte die Privilegierung der Stimme der Beteiligten bei der Interpretation der nationalsozialistischen Zeit, wie wir gesehen haben, mit methodischen Vorentscheidungen; diese Identität von Objekt und Subjekt der Untersuchungen leistete aber auch einer unkritischen Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Vorschub. Gleichzeitig wurden Personengruppen rehabilitiert, indem man die wissenschaftliche Evaluation ihrer eigenen Vergan83 Als die »Tischgespräche», die rasch vergriffen waren, 1963 neu aufgelegt wurden, verzichtete man auf Gerhard Ritters Vorwort und stellte den Aufzeichnungen 120 Seiten Erläuterungen von Percy Ernst Schramm zur Seite, die den Charakter der Aufzeichnungen, die behandelten Themen und das »Problem Hitler« kommentierten. 84 Vgl. Schulze, Geschichtswissenschaft, S. 239f. 85 Vgl-Auerbach, Gründung, S. 553. 86 Vgl.Aly, Rückwärtsgewandte Propheten, S. l69f.

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genheit ihnen selbst überantwortete. Damit soll nicht behauptet werden, daß diese Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus durch seine eigenen Protagonisten der Normalfall war. Maßgebliche Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte beispielsweise, wie Hans und Karl Buchheim oder auch Ludwig Bergsträsser, konnten schwerlich in den Verdacht geraten, an einer exkulpativen Geschichtsschreibung mitzuwirken. 87 Auch wenn also nicht grundsätzlich von einer revisionistischen Zeitgeschichtsschreibung gesprochen werden kann, so überrascht doch das Ausmaß, in dem etwa die Publikationsforen des Instituts für Zeitgeschichte ehemaligen Nationalsozialisten zugänglich gemacht wurden, die dort ihre eigene Geschichte schrieben. 88

Militärs unter sich Dabei diente wiederum die intime Kenntnis der Verhältnisse als methodische Legitimation der eigenen Interpretation. Als das Institut für Zeitgeschichte im Mai 1956 in Tutzing eine Tagung über »Das Dritte Reich und Europa« veranstaltete, schien Josef Matl, Professor für Slavistik und europäische Geschichte in Graz, offenbar besonders berufen, über die Problematik der militärischen Kollaboration Auskunft zu geben. Matl war als Wehrmachtsoffizier seit Januar 1941 in Griechenland und auf dem Balkan mit Fragen der Kollaboration befaßt gewesen und sprach nun als jemand, dem die Materie aus Erfahrung genau vertraut war. In seinem Vortrag gelang es ihm jedoch nicht immer, die Perspektive des beteiligten Akteurs zugunsten der einer wissenschaftlichen Tagung angemesseneren distanzierten Haltung zurücktreten zu lassen. Matl schilderte die Ereignisse weitgehend so, wie »wir in der Wehrmacht« sie damals erlebt hatten.89 Auch zehn Jahre nach Ende des Krieges kam so ausschließlich die Sichtweise der erobernden nationalsozialistischen Invasionsarmee zu Wort.90 87 Zu Bergsträsser vgl. Fehrenbach, Ludwig Bergsträsser; Ludwig Bergsträsser, Mein Weg. 88 Karl O. Paetel beispielsweise, der im zweiten Jahrgang der »Vierteljahrshefte« einen »Beitrag zur Soziologie des Nationalsozialismus« veröffentlichte, sprach hier als ehemaliger Nationalsozialist, der mit dem Thema aus eigener Anschauung vertraut war. Vgl. dazu Paulus, Wissenschaftliche Zeitgeschichte, S. 18. 89 Institut für Zeitgeschichte, Das Dritte Reich und Europa, S. 165. 90 Die folgenden Überlegungen Matls mögen als Illustration dienen (die idiosynkratische italienische Syntax ist beibehalten worden): »Daher war es meines Erachtens auch unmöglich, die Italiener in den Balkan als Besatzungsmacht zu stellen und zwar deshalb, weil gegen die Italiener gewisse - ich möchte sagen - psychologische Résistanceelemente von allem Anfang gegeben waren. Ich erinnere mich an die Äußerung eines italienischen Soldaten im Kosovogebiet: ›Qui non è caffé, non sono femine, non è vitac Ja meine Herren, so, mit einer derartigen Einstellung, kann man natürlich nicht eine Besatzungsmacht repräsentieren.« Institut für Zeitgeschichte, Das Dritte Reich und Europa, S. 156.

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Dieser Vortrag, das sei noch angemerkt, wurde nicht an peripherer Stelle gehalten, sondern auf einer Tagung, die programmatisch das europäische Bewußtsein des Instituts für Zeitgeschichte demonstrieren sollte. Dazu hatte man erstmals zahlreiche europäische Historiker eingeladen und mit dieser symbolischen Handlung die Hoffnung verbunden, auch im Ausland Anerkennung für die deutsche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu ernten. Man kann gewissermaßen von einem Vorstoß zu einer europäischen Integration der deutschen Zeitgeschichtsforschung sprechen.91 Dabei war Matl nicht der einzige, dessen Europavorstellungen bisweilen in die Nähe einer Rechtfertigung nationalsozialistischer Kriegspolitik gerieten. Sein Vortrag folgte auf die »von einer wirklich hohen europäischen Warte aus gesehenen Ausführungen des Herrn Kollegen Kluke«, Direktor des veranstaltenden Instituts für Zeitgeschichte, der die Möglichkeit eines von Deutschland geführten Europa, die sich 1940 geboten habe, diskutierte. Dabei geriet die Perspektive der Opfer der deutschen Expansionspolitik völlig aus dem Blick. Dies wurde dann bei Matls Ausführungen zum lokalen Widerstand besonders deutlich, dessen Motive ihm weiterhin fremd bleiben mußten, »weil ich ja von der anderen Seite komme«. Matl sah im Widerstand gegen die nationalsozialistischen Besatzer vor allem eine Bedrohung deutscher Vormachtstellung - und bekämpfte ihn als Schrittmacher des Bolschewismus. »Die eigentliche Fragestellung in der Beurteilung Kollaboration oder Résistance hat daher meines Erachtens nicht so sehr zu lauten: Für oder gegen das Naziregime, sondern für oder gegen die kommunistische Welt- und Sozialordnung.«92 Auf diese Weise - und ausgestattet mit der doppelten Autorität eigener Zeitzeugenschaft und des wissenschaftlichen Renommees des Instituts für Zeitgeschichte - ließ sich die Geschichte des Nationalsozialismus der Rhetorik des Kalten Krieges assimilieren und dabei die eigene Rolle als Vorkämpfer des Antikommunismus umdefinieren. Auch Hermann Foertsch gründete den Wahrheitsanspruch seiner Geschichtsdeutung auf den hermeneutischen Vorteil eigener Anschauung und Beteiligung. »Auch für den Verfasser war die hier geschilderte Vergangenheit einstmals Gegenwart. Er hat von 1925 bis 1930 und von 1932 bis 1935 die Entwicklung der Wehrmacht in einer dienstlichen Verwendung beobachten können,... die ihm ... mehr Einblick gab als manchem anderen.«93 Tatsächlich war 1935 Foertschs Karriere in der Wehrmacht noch nicht zu Ende gewesen. Foertsch (1885-1961) hatte seit 1925 dem Reichswehrministerium angehört und war seit Frühjahr 1934 Chef der Abteilung ›Inland‹ im Minister- und später 91 Vgl. das Vorwort von Paul Kluke, der seine Hoffnungen darauf setzte, daß die »Erfahrungen der Vergangenheit... von der Historie als von einer klärenden, reinigenden und heilenden Wissenschaft aufgelöst und objektiviert werden.« (Institut für Zeitgeschichte, Das Dritte Reich und Europa, S. v.) 92 Institut für Zeitgeschichte, Das Dritte Reich und Europa, S. 129,152,158. 93 Foertsch, Schuld und Verhängnis, S. 10.

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im Wehrmachtamt gewesen. 1938, nach der Fritsch-Krise, wurde er zum Oberst, 1944 schließlich zum General der Infanterie ernannt; im Nürnberger Südostprozeß wurde er 1948 freigesprochen. Im Oktober 1950 wurde Foertsch bis 1952 Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, um dort die Geschichte der aus nächster Nähe miterlebten sogenannten Fritsch-Krise im Frühjahr 1938 zu schreiben. Seine mit »Schuld und Verhängnis« betitelte Untersuchung erschien 1951 als zweite Publikation (nach Pickers »Tischgesprächen«) in der Schriftenreihe des Instituts.94 Foertschs Text war durchsetzt mit Markierungen, die die Authentizität und Wahrheit seines Berichtes garantieren sollten. Immer wieder versicherte der Autor seine Leser der Zuverlässigkeit seiner Beobachtungen, die nur dem Augenzeugen möglich seien. Nicht der distanzierte Wissenschaftler, sondern nur der, der dabeigewesen war, »weiß, wie wenige die wirklichen Ereignisse kannten, die wahren Zusammenhänge überblickten und wie ganz wenige nur einen Einblick in das Denken des Mannes [ = Hitler] hatten, der ein Meister der Verstellung und ein Beherrscher der Lüge war und blieb bis zu seinem Ende.«95 Persönliche Erfahrung und Nähe zum Gegenstand der Betrachtung erschienen hier als privilegierte Bedingungen einer historischen Epistemologie. Foertsch nahm zustimmend die Mahnung von Hans Rothfels auf, wer »nicht selbst durch diese Erprobungen durchgegangen« sei, dürfe sich nicht anmaßen, ein gerechtes Urteil zu fällen. Um die Autorität seiner eigenen Einschätzungen zu gewährleisten, unterstrich Foertsch daher die Indizien seiner eigenen Gegenwart, seiner Präsenz am Ort des historischen Geschehens. Vor allem der wissenschaftliche Apparat seiner Untersuchung dokumentierte das Bedürfnis, der nationalsozialistischen Propaganda und der nachträglichen Mythisierung der Ereignisse die Evidenz der persönlichen Erfahrung entgegenzusetzen. Immer wieder rekurrierte Foertsch auf die »eigene Beobachtung des Verfassers« oder, mit stärkerem Nachdruck, auf die »Erinnerung des Verfassers, der die Rede mit anhörte«. Mit unzähligen Verweisen lasen sich die Anmerkungen wie ein Auszug aus Foertschs Tagebuch. Nicht in jedem Moment war sich Foertsch allerdings seiner Fakten völlig sicher; der vage Charakter der Erinnerung konnte dann bisweilen durch die Präzision der Angaben überdeckt werden. So wurden einige Zusammenhänge »dem Verfasser in der ersten Zeit des Krieges während eines Gespräches mitgeteilt, ohne daß er heute noch genau sagen kann, wer diese Mitteilung gemacht hat.«96 Der spezifische Gegenstand der deutschen Zeitgeschichtsforschung brachte es mit sich, daß mit zunehmender Nähe zu den Ereignissen nicht nur die 94 Hermann Foertsch war nicht der einzige ehemalige Wehrmachtsgeneral, der mit dem Institut für Zeitgeschichte assoziiert war; so gehörte der ehemalige General Hans Speidel dem wissenschaftlichen Beirat des Instituts an. 95 Foertsch, Schuld und Verhängnis, S. 200. 96 Foertsch, Schuld und Verhängnis, S. 197, 230, 231, 234.

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Chancen auf einfühlendes Verstehen stiegen, sondern gleichzeitig die Gefahr, aufgrund der engen Bekanntschaft auch mit dem Nationalsozialismus assoziiert zu werden. Der ehemalige Wehrmachtsgeneral Foertsch war vor dieser Verdächtigung nicht gefeit, und er beeilte sich daher einzuräumen, daß »auch er ... in der damaligen Gegenwart manchem Irrtum erlegen« war.97 Der Eindruck, daß hier auch nach Kriegsende vor allem der Nationalsozialismus selbst zu Worte kam, ließ sich dennoch nicht ganz ausräumen. In einer Schrift über »Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat« aus dem Jahre 1935 beispielsweise hatte Foertsch noch den militärischen Eid auf den »Führer« als »unlösliche Verbindung des deutschen Soldatentums mit der nationalsozialistischen Idee« gefeiert und war von der Bedeutung »des stärksten Schwurs für ein einiges, freies und starkes Deutschland, der je geleistet wurde«, überzeugt gewesen.98 Inzwischen hatte sich diese Begeisterung etwas gelegt: »Wer vom Rathaus kommt, ist meistens klüger.« Von Hitler war 1951 nicht mehr viel zu erwarten, jedenfalls kein »freies und starkes Deutschland« mehr. In Hindenburgs Entscheidung, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, erblickte Foertsch nun - und damit entsprach er einem historiographischen Konsens - den Beginn der deutschen ›Katastrophe