Auf der Suche nach der verlorenen Männlichkeit: Republikanische Allegorien im französischen Roman um 1900 [1 ed.] 9783737006064, 9783847106067

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Auf der Suche nach der verlorenen Männlichkeit: Republikanische Allegorien im französischen Roman um 1900 [1 ed.]
 9783737006064, 9783847106067

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Romanica Mainzer Studien zur romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft

Band 1

Herausgegeben von Stephan Leopold, V8ronique Porra und Dietrich Scholler

Lisa Zeller

Auf der Suche nach der verlorenen Männlichkeit Republikanische Allegorien im französischen Roman um 1900

Mit 13 Abbildungen

V& R unipress Mainz University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2509-5730 ISBN 978-3-7370-0606-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Koordinationsausschusses des FSP Historische Kulturwissenschaften der UniversitÐt Mainz. Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-UniversitÐt Mainz im Jahr 2015 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Ausschnitt aus H. Meyer, Le Nez de la Triplice, imitØ du »Laocoon« antique, in Le Petit Journal. SupplØment illustrØ, 25. Oktober 1896, S. 1. Kollektion des Archivs von Meurthe-et-Moselle .

für den großen Anderen

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie . . . . . . 1. Von La France foutue zu Quatrevingt-treize: der Körper der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die phrygische Mütze, Marianne und Marie-Antoinette . . . . 3. Die Allegorie zwischen Dialektik und strategy of containment: Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorspiel: Das Imaginäre politischer Männlichkeit vom Ancien R8gime zur Dritten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Republik und Kastration: Forschungsfragen . . . . . . . . . . . 2. Das Subjekt vor dem Spiegel: Bud8, Chateaubriand, Balzac, Villiers de l’Isle-Adam, Maupassant . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom zerbrochenen Spiegel der Monarchie zum demokratischen vague des passions: monarchische vs. republikanische Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Adieu: Lepeletier, Anfortas und die Verdrängung . . . . . . . .

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Teil 1: Der republikanische Widerspruch und seine Lösungen I. J.-K. Huysmans und die Hysterie der republikanischen Nation . . 1. Der Zusammenfall von Metapher und Metonymie in f rebours . 2. Traumatische Erinnerungen – die Hysterie und die Frage: ›Was ist die Republik?‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Krisenallegorie und hysterische Symptomatik . . . . . . . . . . 4. Therapieversuche: zur Abjektion der Hysterie in L/-bas . . . . .

8 II. Pmile Zola und der unmögliche Diskurs über die Republik . . . . . 1. Nana und der allegorische Pakt oder : Schreiben im abgesicherten Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erinnerungen an die traumatische Gründung der Republik: La BÞte humaine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Vom U(h)rverbrechen zum spectre . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Nationale Impotenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Vom kopflosen Staat zur kopflosen Frau: die »souverainet8 de m.le« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konflikte im Zyklus: der unmögliche republikanische Diskurs in La D8b.cle und die Doppelkodierung des Charles Rougon . . . . 4. Therapeutische Sprachgewalt als republikanischer Exorzismus in F8condit8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Politische Allianzen: Zur Homosexualisierung der Nation in Jean Lorrains Monsieur de Phocas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Politische Zwietracht und ästhetische Bannung im Incipit . . . . . 2. Signifikantenketten: der Smaragd, die Prinzessin von Eboli und die paranoide Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Suche nach dem Ursprung der nationalen Impotenz . . . . . 4. Die Homosexualisierung der Entente mit England . . . . . . . . . 5. Thomas Welcime und der Konflikt zwischen England und Irland . 6. Gustave Moreaus Les Pr8tendants als mise en abyme der allegorischen Verschiebung des Politischen . . . . . . . . . . . . . 7. Literatur als symbolischer Akt: die Rückeroberung nationaler Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Paradoxien im political gender : Maurice BarrHs und die virile Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Le Jardin de B8r8nice und die Deprogrammierung des Royalismus 1.1. Rahmung und Emblemstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Boulanger, die Melancholie und der roi ren8 . . . . . . . . . . 1.3. Der deprogrammierte Royalismus und das weibliche Ideal-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Intertexte und strategy of containment: Racines B8r8nice und Balzacs Vieille Fille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Les D8racin8s und der schmale Grat zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. L’Appel au soldat und die Aporie des postrevolutionären politischen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Männlichkeit als substanzlose Metapher : Les Bastions de l’Est . .

Inhalt

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Inhalt

Teil 2: Auf-Lösungen und Dekonstruktionen I. Ikonoklastische Dekonstruktion: Alfred Jarry und die Reformulierung der Zweikörperlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Königsverehrung in der Schwundstufe: »L’Appendice du Roi« . . 2. Messaline und die Wiedergeburt des Königs als Penis . . . . . . . 3. Produktion und Dekonstruktion von Souveränitätsphantasmen in Le Surm.le . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Phantasma nationaler Überlegenheit . . . . . . . . . . . 3.2. Herkules und das virile Erbe der Revolution . . . . . . . . . . 3.3. Intellektuelle Sublimation vs. wilde Körperlichkeit? . . . . . . 3.4. Hysterie und Tragik der modernen Männlichkeit . . . . . . . 3.5. Die Aporie der Männlichkeit und die souveräne Frau . . . . . 3.6. Das verglühte Phantasma und der Tod des Herkules . . . . . 4. Die Hypertrophie der Nationalallegorie: Apollinaire, Les Onze Mille Verges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Lustvolle Dekonstruktion: Von der Sprengung nationalistischer Männlichkeit zum Unanimismus in Jules Romains’ Les Copains . . 1. Les Copains als Antwort auf BarrHs’ nationalistische Romane . . 2. Das Kreisen um das leere Zentrum der Republik . . . . . . . . . 3. Humor als Ventil? Dynamischer Männerbund, Masseneuphorie und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Ironische Dekonstruktion: Marcel Prousts republikanische Homo-Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »All8gorie«: zur Allegorese der Recherche . . . . . . . . . . . . . . 2. Swanns Traum: Womit beginnt die Recherche? . . . . . . . . . . . 3. Golo und der drame du coucher : Revolution im Selbstverhältnis . 4. FranÅois le Champi: die Schrift als Supplement für den Vater . . . 5. Von FranÅois le Champi zu L8onie: Sand, Proust und die hommes-femmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Invasionen/Inversionen: die ›perverse Intention‹ der Etymologien 7. Die Auflösung der Grenzen des Heterotops: die Nation als Männerbordell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Lust am Spargelköpfen: vom genussvollen Konsum der Produkte revolutionärer Gewalt durch die Bourgeoisie . . . . . . .

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Conclusio und Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen: Textausgaben und Bildmedien . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Diese Studie ist die leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Sommersemester 2015 an der Universität Mainz angenommen wurde. Sie ist am Mainzer Romanischen Seminar in einer äußerst inspirierenden, fruchtbaren und kollegialen Atmosphäre entstanden. Allen voran danke ich Stephan Leopold herzlich für seine unermüdliche Betreuung und Förderung und für viele anregende Seminare, Vorlesungen und Kolloquien. Meinem Zweitbetreuer Dietrich Scholler danke ich für sein Interesse an der Fragestellung und für inhaltliche Anregungen. Ein besonderer Dank geht an Karin Peters für intensive Lektüren, konstruktive Kritik und ihr immer offenes Ohr! Außerdem möchte ich den Mitgliedern des Gutachterausschusses, V8ronique Porra, Eberhard Geisler und Oliver Scheiding danken. Bei der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz bedanke ich mich für ihr großzügiges Stipendium, das ein konzentriertes Arbeiten ermöglicht hat, und beim Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften Mainz sowie bei Mainz University Press für die Übernahme der Druckkosten dieser Publikation. Ich danke den Herausgebern dafür, dass meine Arbeit die Reihe Romanica. Mainzer Studien zur romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft eröffnen darf. Ein herzliches Dankeschön für Lektüren der vielen Entwürfe und der Manuskriptfassung geht an Julia Brühne, Timo Kehren, Clarissa Briegel, Pascal Ludwig, Jasmin Rezai-Dubiel und Beatrix Obal. Michel Dietz danke ich für Formatierungshilfen, meiner Familie für ihre Unterstützung und das Vertrauen in das, was ich so treibe, und Astrid Schlüter für ihre unendliche Geduld, nie enden wollende Lektüren und fortwährende Unterstützung. Mainz, im Frühjahr 2016

Lisa Zeller

Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

1.

Von La France foutue zu Quatrevingt-treize: der Körper der Republik

Im Jahr 1795, dem Jahr der ersten republikanischen Verfassung, assoziieren zwei politisch-allegorische Texte die res publica mit der öffentlich verfügbaren Frau, die jeder haben kann und die sich auch jeder nimmt: Sades Philosophie dans le boudoir und das anonym erschienene Lesedrama La France foutue.1 Während Sade sich der republikanischen Innenpolitik widmet und die Aporien des Contrat social hervortreibt,2 gestaltet La France foutue darüber hinaus auch die Außenpolitik aus. Die europäischen Monarchen vergewaltigen hier, angestiftet von England, das republikanische Frankreich, das von sich selbst sagt: De vierge que j’8tais me voil/ r8publique ; Je suis / tout le monde et ma honte est publique. Chacun me fout, chacun veut Þtre mon fouteur, Et personne ne craint d’alarmer ma pudeur. Sans 8gards, oubliant mes droits de souveraine, Sans 8tat et sans nom, l’on me traite en romaine.3

Beispielhaft lässt sich an diesem Theaterstück ablesen, dass eine Nation im politischen Imaginären durch ihren Monarchen repräsentiert wird und eine Republik nicht vor der ›Vergewaltigung‹ durch andere Staaten geschützt ist. Dies 1 La France foutue. Trag8die lubrique et royaliste, en trois actes et en vers. A Barbe-en-con en Foutro-Manie, L’an des Fouteurs 5796. Hg. v. Olivier Sers. Paris: Belles Lettres 1995. Sers datiert den Dramentext auf das Jahr 1795 und die zahlreichen Anmerkungen auf das Jahr 1800 (»Introduction«, ebd.: S. 9–15, hier S. 10f.). 2 Siehe hierzu Stephan Leopold: Liebe im Ancien R8gime. Eros und polis von Corneille bis Sade. München: Fink 2014, S. 133–140 u. 182–196. Philip Manow begründet den Weiblichkeitsentwurf der Sadeschen res publica mit einer Bezugnahme Sades auf den Naturzustand, in dem die Frau Gemeingut ist (Politische Ursprungsphantasien. Der Leviathan und sein Erbe. Konstanz: Konstanz UP 2011, S. 114f.). 3 La France foutue 1995: S. 76 (Akt III, Sz. 1).

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

ist insbesondere dann der Fall, wenn letztere monarchisch organisiert sind und über ihren Herrscher als männlich konzeptualisiert werden können. Das konterrevolutionäre Stück zeigt also, wie problematisch die Unterscheidung der schon im Ancien R8gime weiblich konnotierten Nation vom corpus politicum ist, das mit der Enthauptung des Königs seinen Garanten politischer Männlichkeit verloren hat.4 An die Stelle des Königs rückt in der Französischen Revolution die durch die Verfassung performativ ermächtigte souveräne Nation als abstrakte Idee eines Kollektivs. Dieses wird jedoch nicht direkt repräsentiert, weil die Republik dem Prinzip der körperlosen Herrschaft gehorchen soll, bei der der leere Platz des Königs immer nur vorübergehend durch politische Akteure besetzt wird.5 Die weibliche Allegorie der Freiheit ersetzt als neue Identifikationsgestalt den männlichen Körper des Königs und signalisiert nicht zuletzt wegen des Verbots der weiblichen Thronfolge durch den Mythos der lex salica »unmissverständlich, dass der zentrale Platz der Macht nie mehr von einem Monarchen besetzt werden soll.«6 Die Repräsentation der Republik durch weibliche Allegorien wurde allerdings auch kritisiert: erstens im Namen des Prinzips repräsentationsloser Herrschaft, zweitens, da die Republik von ihren Gegnern so als promisker Körper diffamiert werden konnte, und drittens aus einem Misstrauen gegenüber Bildern, die grundsätzlich plurale Deutungen zulassen.7 Der Körper der Republik sollte nur metonymisch durch das regenerierte männliche Kollektiv eines homosozialen Bruderbundes gebildet werden, aus dem die Frauen ausgeschlossen waren.8 Weil dieser selbst nicht repräsentiert 4 Die abstrakte Entität Frankreich wird im Ancien R8gime zwar als autonome Realität gefasst und als Frau dargestellt, dabei aber immer direkt mit der Figur des Königs als Repräsentant des Staates in Verbindung gebracht. Siehe hierzu Jean Lecuir : »Dans la m8daille franÅaise d’Ancien R8gime : les figures f8minines de la France«, in Robert Mandrou (Hg.): Histoire sociale, sensibilit8s collectives et mentalit8s. M8langes Robert Mandrou. Paris: PUF 1985, S. 109–117. 5 Siehe Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt am Main: Fischer 2007, S. 219–249. 6 Ebd.: S. 278. Siehe hierzu ausführlich Lynn Hunt: Symbole der Macht. Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt am Main: Fischer 1989, bes. S. 110–121. 7 Siehe Koschorke et al. 2007: S. 279 und Lynn Hunt: »Pourquoi la r8publique est-elle une femme ? La symbolique r8publicaine et l’opposition des genres, 1792–1799«, in Michel Vovelle (Hg.): R8volution et r8publique. L’exception franÅaise. Actes du colloque de Paris I Sorbonne 21–26 septembre 1992. Paris: Kim8 1994, S. 358–365. 8 Siehe zum Begriff des Homosozialen Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York: Columbia UP 1985, S. 1–27, der zufolge das homosoziale Begehren nur deswegen nicht in homosexuelles Begehren umschlägt, weil es über die Frau als einem Dritten abgeleitet wird. Dieses Modell überträgt Joan B. Landes auf den republikanischen Männerbund, der sich über die gemeinsame Verehrung der weiblich dargestellten Nation konstituiert (Visualizing the Nation. Gender, Representation, and Revolution

Von La France foutue zu Quatrevingt-treize: der Körper der Republik

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wird, da er der (männliche) Körper der Republik ist, und weil er als komplementäres Gegenstück der weiblichen allegorischen Repräsentation gegenübersteht, sprechen Albrecht Koschorke et al. von einer »Trennung von (weiblichem) Zeichen und (männlichem) Bezeichneten«.9 Die Problematik dieser Entkörperlichung der Macht besteht nun darin, dass den Citoyens eine Identifikationsfigur fehlt. Deshalb versuchen die Republikaner, anstelle der Herrschaft die nationale Gemeinschaft in Szene zu setzen. Deren organologisch imaginierter Körper muss unter Ausschluss innerer und äußerer Feinde etabliert werden, zunächst durch die Terreur und später durch den Nationalismus.10 Die Einheit der Nation, die im Ancien R8gime durch den Körper des Königs garantiert wurde, muss nach dessen Enthauptung immer wieder beglaubigt und performativ inszeniert werden, etwa im Eid und bei nationalen Festen. Dabei wird das leere Zentrum stets aufs Neue durch Embleme, Allegorien und Symbole gefüllt.11 Koschorke et al. legen den Fokus ihrer Studie auf die revolutionären Strategien einer Entkörperlichung des Politischen und auf die supplementäre Konstruktion eines organischen Nationalkörpers. Die Körperpolitik und -metaphorik der Revolutionäre und der aufstrebenden Mittelklasse sowie die Bruchstellen des Postulats körperloser Herrschaft haben besonders wegweisend Dorinda Outram, Lynn Hunt, Joan B. Landes und Antoine de Baecque analysiert.12 De Baecque verfolgt die diskursiven und ikonographischen Strategien, mittels deren die revolutionären Denker zusammen mit der Souveränität auch die königliche Virilität auf den Körper des Citoyens zu übertragen versuchten: Da die Legitimität der Monarchie vom ständigen Beweis der königlichen Zeugungskraft abhing – symbolisiert etwa durch den Phönix, die Sonne und insbesondere die ikonische Lilie –,13 dekonstruierten die Revolutionäre die Potenz

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in Eighteenth-Century France. Ithaca/London: Cornell UP 2001, S. 9, 18 u. 139f.). Eine knappe Synthese der republikanischen Genderpolitik bietet Bonnie G. Smith: »Gender and the Republic«, in Edward Berenson/Vincent Duclert/Christophe Prochasson (Hgg.): The French Republic. History, Values, Debates. Ithaca/London: Cornell UP 2011, S. 299–307. Koschorke et al. 2007: S. 279, siehe auch ebd.: S. 280 und Landes 2001: S. 21 u. 75. Siehe Koschorke et al.: S. 251–267. Siehe ebd.: S. 231 u. 267–291. Vgl. zum letzten Aspekt bes. Mona Ozouf: La fÞte r8volutionnaire 1789–99. Paris: Gallimard 1976. Dorinda Outram: The Body and the French Revolution. Sex, Class and Political Culture. New Haven/London: Yale UP 1989, Hunt 1989, Joan B. Landes: »Representing the Body Politic: the Paradox of Gender in the Graphic Politics of the French Revolution«, in Sara E. Melzer/Leslie W. Rabine (Hgg.): Rebel Daughters. Women and the French Revolution. New York u. a.: Oxford UP 1992, S. 15–37 und Antoine de Baecque: Le corps de l’histoire. M8taphores et politique (1770–1800). Paris: Calmann-L8vy 1993. Vgl. auch Sara E. Melzer/Kathryn Norberg: »Introduction«, in dies. (Hgg.): From the Royal to the Republican Body. Incorporating the Political in Seventeenth- and Eighteenth-Century France. Berkeley u. a.: U of California P 1998, S. 1–10. De Baecque 1993: S. 48–58.

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

Ludwigs XVI. systematisch.14 Im Gegenzug stellten sie den revolutionären Franzosen als Kraftprotz und Träger einer energetischen Virilität dar. Der homo novus errichtet mit den sexuell konnotierten Droits de l’homme ein regeneriertes, vitales corpus politicum, das die nationale Einheit garantieren soll und das zunächst durch eine virile Herkulesfigur verkörpert wurde.15 Indem also mit der Übertragung der königlichen Souveränität auf das Volk jeder einzelne Körper politisches Gewicht bekommt, wird die Zweikörperlehre des Ancien R8gime auf das moderne Verhältnis von Citoyen und Nation transponiert.16 Mit dem Eintritt in die bürgerliche Moderne hat sich die männliche Identität grundlegend gewandelt und angesichts des Gleichheitsideals muss die domination masculine jetzt immer neu bewiesen werden, wie es aus soziohistorischer Perspektive Andr8 Rauch beschrieben hat.17 Das Allegorische, das sich im Ancien R8gime insbesondere jenseits politischer Sprachnormative – das heißt vor allem jenseits des Gebots von Transparenz und Eindeutigkeit – zu artikulieren versuchte und dabei dem Ausdruck eines politischen Unbehagens dienen konnte,18 gelangt mit der Verkörperung der Republik in den Bereich des Politischen selbst. Bei der Spaltung der Repräsentation des corpus politicum in die metonymische Verschiebung – den 14 Ebd.: S. 45–98, bes. S. 46 u. 58–84. Vgl. zur Konstruktion der königlichen Impotenz auch Jean-Pierre Guicciardi: »Between the Licit and the Illicit: the Sexuality of the King«, in Robert Purks Maccubbin (Hg.): ‘Tis Nature’s Fault. Unauthorized Sexuality during the Enlightenment. Cambridge u. a.: Cambridge UP 1987, S. 88–97, hier S. 96. 15 De Baecque 1993: S. 74–76, 102–121 u. 172–181. Vgl. zu Herkulesdarstellungen während der Revolution auch unten Anm. 41. Nach der Terreur ist dieses organische Bild einer geeinten Nation jedoch zerstört. Stattdessen bleiben dann einerseits die Allegorie der Freiheit (ebd.: S. 388f.) und andererseits die maskulinisierte Politik des Bruderbunds, was der Spaltung der Gesellschaft in eine männlich-politische und eine weiblich-private Sphäre entspricht. Angesichts des revolutionären Männlichkeitswahns spricht Landes von »would-be virile male citizens« (1992: S. 21). 16 Vgl. Melzer/Norberg 1998a: S. 8–10 und ausführlich Eric Santner : The Royal Remains. The People’s Two Bodies and the Endgames of Sovereignty. Chicago/London: Chicago UP 2011, S. xi, 4 et passim. 17 Crise de l’identit8 masculine. 1789–1914. Paris: Hachette 2001. Rauch beschreibt dort zentrale Ideale und Strategien, mit denen die bürgerliche Gesellschaft auf die Anforderung reagierte, die virilit8 citoyenne seit der Revolution permanent unter Beweis stellen zu müssen. Vgl. auch dort S. 19–45 zur Übertragung der königlichen Virilität auf den Citoyen. Zur Geschlechterpolitik der Republikaner sowie zur postrevolutionären Konstruktion von Männlichkeit sei hier außerdem auf die Studien von Robert A. Nye: Masculinity and Male Codes of Honor in Modern France. New York/Oxford: Oxford UP 1993 und Judith Surkis: Sexing the Citizen. Morality and Masculinity in France, 1870–1920. Ithaca/London: Cornell UP 2006 verwiesen. Surkis analysiert Diskurse zur gesellschaftlichen Kontrolle der Männlichkeit als Grundlage für eine verantwortungsvolle Ausübung der Volkssouveränität in der jungen Dritten Republik. 18 Siehe zur Funktion des Allegorischen in der Literatur des Absolutismus Leopold 2014: bes. S. 27–30, 37f. u. 431–436.

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Bruderbund – und die metaphorische Ersetzung – die Libert8 – bleibt nun das referentielle Zentrum frei. Die weibliche Allegorie kennzeichnet also eine fundamentale Spannung von Eigentlichem und Uneigentlichem, die die Emergenz eines destabilisierenden Imaginären ermöglicht. Um letzteres zu kontrollieren und zu bannen, bedarf es einer Deutungshoheit, die das ›richtige‹ Verständnis der Allegorien garantiert. Die Revolutionäre haben Bilder deshalb häufig mit Texten kommentiert, die die Semantik festzuschreiben und die repräsentative Spaltung des Politischen in die weibliche Metapher und die männliche Metonymie immer wieder diskursiv zu befestigen versuchten.19 Während die Differenz von Signifikat und Signifikant solchermaßen über autorisierte Texte kontrolliert wird, kann die Literatur in dieser Kluft ein konterdiskursives Imaginäres entfalten, ein Imaginäres also, das im Sinne Rainer Warnings die Nicht-Diskursivität literarischer Texte begründet.20 Ein Beispiel dafür, wie aus der fundamentalen Leerstelle der Republik ein Imaginäres erwächst, ist La France foutue. Die Allegorie der Republik als »bordel [oF] les fouteurs sont 8gaux«21 legt eine verschleierte Wahrheit offen, nämlich, so St8phanie Mass8, dass der Herzog von Orl8ans, der in den Dritten Stand übergetreten war und als Philippe Pgalit8 schließlich sein Votum für die Enthauptung Ludwigs gab, das Königreich Frankreich verraten – »foutu« – habe.22 Mass8 deutet das foutue in diesem Sinne metaphorisch als Ausdruck eines Souveränitätsverlusts. Außerdem geht es hier offenbar darum, den Schleier der Allegorie 19 Siehe zur kontrollierenden Funktion der Texte Landes 1992: S. 30–32, Hunt 1994: S. 359–363 und, mit Bezug auf Ozouf 1976, Landes 2001: S. 20f., 75–78 u. 171f. Landes geht hier auf innere Bedrohungen des tugendhaften republikanischen Staates etwa durch die »corrupt female nature and disorderly women« (ebd.: S. 21) oder auch durch »illicit pleasure and taboo desire« (ebd.: S. 170) ein; ihr zufolge wird die alte ikonographische Ordnung des Ancien R8gime rekonstruiert, indem der feminine Teil der Repräsentation der Nation beibehalten wurde, während der Text den Körper des Königs ersetze (ebd.: S. 78). 20 Warning versteht literarische Konterdiskursivität nicht als subversive Bezugnahme auf diskursive Ordnungen. Literatur ist vielmehr immer auch in diese eingebettet, steht also in einem dialektischen Verhältnis von »Einbettung und Ausbettung« zu umgreifenden Diskursfeldern (»Poetische Konterdiskursivität: Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault«, in ders.: Die Phantasie der Realisten. München: Fink 1999, S. 313–345, hier bes. S. 317f.). Warnings Begriff und die Vorstellung eines ›radikalen Imaginären‹ als der Fähigkeit, ein Bild zu evozieren, das nicht der Wahrnehmung entstammt, gehen auf Cornelius Castoriadis: L’institution imaginaire de la soci8t8. Paris: Seuil 1975, S. 191 et passim zurück. 21 La France foutue 1995: S. 44 (Akt I, Sz. 5). Vgl. dazu St8phanie Mass8: »La France foutue : all8gorie ›foutative‹ et rapport / l’histoire«, in Lumen : Selected Proceedings from the Canadian Society for Eighteenth-Century Studies/Lumen : travaux choisis de la Soci8t8 canadienne d’8tude du dix-huitiHme siHcle 25 (2006), S. 221–231, hier S. 224f. 22 Ebd.: S. 224 u. 227f. »[I]l semble bien que la forme all8gorique ait repris, dans ce contexte, l’une de ses anciennes fonctions : celle de donner / lire une v8rit8 voil8e […]. Pour un royaliste, le royaume de France a 8t8 tromp8 – ou foutu ; ainsi, la personnification all8gorique d’une France foutue repr8sente-t-elle au mieux les 8v8nements r8volutionnaires et permet de se les figurer.« (Ebd.: S. 224 u. 227)

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der Republik zu lüften und einen Blick auf jenen Körper zu werfen, den der republikanische Diskurs ausgegrenzt hatte,23 also darum, der körperlosen eine hyperkorporalisierte Allegorie gegenüberzustellen. La France foutue ruft explizit Livius’ Erzählung von Verginia und implizit die von Lukrezia in Ab urbe condita auf, um den Aspekt der Republik auszubuchstabieren, den schon die Ursprungserzählungen Roms aus dem Imaginären auszuschließen versuchen.24 »[P]utains« sind hier auch das republikanische Amerika sowie unterworfene Nationen wie Indien oder Schottland, Irland »et d’autres concubines«.25 Das konterrevolutionäre Pamphlet in dramatischer Form expliziert die verdrängte Weiblichkeit der res publica und die sexuellen Gefahren, die diese nicht nur von innen, sondern insbesondere auch von außen bedrohen.26 Wie Sades Philosophie gestaltet es ein Imaginäres aus, das konstitutiv für die republikanische Ordnung und schon im Contrat social angelegt ist. Dort versucht Rousseau, die Frage nach der »forme de la R8publique«27 zu beantworten. Diese versteht er als einen politischen Kompositkörper, wobei jedes seiner Mitglieder unabtrennbarer Teil des Ganzen ist (CS1: 289f. u. CS2 : 23 Vgl. zur Dekorporalisierung der weiblichen Allegorien der Republik, die auch durch die Literatur vorangetrieben wurde, Naomi Schor: »Triste Am8rique: Atala and the Post-Revolutionary Construction of Women« in Melzer/Rabine 1992: S. 139–156 und Madelyn Gutwirth: »The Engulfed Beloved: Representations of Dead and Dying Women in the Art and Literature of the Revolutionary Era«, in Melzer/Rabine 1992: S. 198–227, bes. S. 199 u. 206– 215. 24 Zur Referenz auf Verginia siehe La France foutue 1995: S. 77 (Akt III, Sz. 1) sowie die autographe Anm. 13 auf S. 141f. In der Erzählung von Lukrezia wird der geschändete und in der von Verginia der bedrohte Frauenkörper dem Heil der Republik geopfert. Siehe zum problematischen Ausschluss des Weiblichen aus der neu zu gründenden Republik u. a. bei Livius Melissa M. Matthes: The Rape of Lucretia and the Founding of Republics. Readings in Livy, Machiavelli, and Rousseau. University Park: Pennsylvania State UP 2000 sowie das Kapitel »Weibliche Gründungsopfer«, in Koschorke et al. 2007: S. 36–46. 25 La France foutue 1995: S. 26f. (Akt I, Sz. 1). 26 Auf solche Assoziationen mit dem weiblichen Körper der Allegorie der Republik weist Landes nur knapp hin: »[T]he republican nation risked suffering specific female injuries, frailties, and indignities. As republicans made abundantly clear by their obsessive concern with modesty (la pudeur), sexual vulnerability was woman’s greatest weakness. As if to guard against the consequences of female weakness, republican allegories were routinely endowed by their creators with masculine attributes, or at least elevated beyond the ordinary world of feminine concerns.« (2001: S. 166) Landes nennt zwei Beispiele dafür, dass innenwie außenpolitische Bedrohungen als Vergewaltigung dargestellt wurden: eine Karikatur von 1799 mit dem Untertitel…..En me violant trois fois ils m’ont caus8 la mort !!!!…Requiescat in pace…, die auf den Staatsstreich Napoleons referiert, und eine Karikatur des frühen 20. Jahrhunderts, die Frankreich im Jahr 1870 kurz vor der Vergewaltigung durch einen preußischen Soldaten zeigt (ebd.: S. 166–168). 27 Vgl. den Untertitel der ersten Version des Contrat social. Essai sur la forme de la R8publique in Œuvres complHtes. Bd. III: Du contrat social. Ecrits politiques. Hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1964, S. 279. Ich zitiere im Folgenden im Fließtext mit der Sigle CS sowie der Angabe von Version und Seite nach dieser Ausgabe.

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361). Der »corps politique« (CS1: 290 u. CS2 : 362) ist synonym zur »R8publique« (CS2 : 362) oder zur antiken »Cit8« (CS2 : 361). Sobald er mit einem anderen Staat bzw. einem anderen politischen Körper interagiert, erhält er den Status eines »9tre simple«, eines Individuums (CS1: 291). Das Nationalgefühl halte dieses Individuum auch und gerade dann zusammen, wenn es keinen »chef« besitzt. Anders verhalte es sich bei tyrannisch regierten Staaten, die zerfallen, sobald der Tyrann stirbt, weil dieser ihr einziges Verbindungsglied sei (CS1: 303). Rousseau bestimmt dann die verschiedenen Regierungsformen, die ein solches corpus politicum annehmen kann, wobei die Unterscheidung darauf abzielt, wem bzw. welchem Anteil der Bevölkerung der Souverän die Regierung überantwortet (CS2 : 402–414). Eine Republik nennt Rousseau fernerhin den Staat, dessen Einheit sich auf die gemeinsamen, der »volont8 g8n8rale« entsprungenen Gesetze gründet (CS2 : 379f.). Auf die Frage, welches Volk sich zur Republik, zur »l8gislation« eigne, antwortet er : Celui qui, se trouvant d8j/ li8 par quelque union d’origine, d’int8rÞt ou de convention, n’a point encore port8 le vrai joug des loix ; celui qui n’a ni coutumes ni superstitions bien enracin8es ; celui qui ne craint pas d’Þtre accabl8 par une invasion subite, qui, sans entrer dans les querelles de ses voisins, peut r8sister seul / chacun d’eux, ou s’aider de l’un pour repousser l’autre […]. (CS2 : 390)

Es wird schwierig sein, ein Volk zu finden, das all diese Voraussetzungen erfüllt. Insbesondere die Bedingung, sich einerseits auf eine ursprüngliche Einheit schon vor der Konstitution zur Republik gründen zu können, andererseits aber keine stark verwurzelten Bräuche und Glaubensinhalte zu besitzen, scheinen kaum miteinander vereinbar, wenn man davon ausgeht, dass eine imagined community ihrer performativen Bestätigung und ständigen Vergewisserung bedarf.28 Die Notwendigkeit der außenpolitischen Sicherheit und der Garantie der Grenzen ist nicht minder problematisch, weshalb Rousseau in Europa nur Korsika als Kandidaten für die von ihm entworfene Republik findet (CS2 : 391). Die Außenpolitik ist eben der Ort, an dem sich die Bruch- und Leerstellen des Diskurses über das regenerierte männliche Kollektiv der französischen Republik auf ein Imaginäres hin öffnen, das das Fehlen eines Königs mit der mangelhaften außenpolitischen Performanz und den gefährdeten Grenzen einer Nation assoziiert. Dieses Imaginäre kann, wie es La France foutue zeigt, im konterrevolutionären Diskurs unzensiert entfaltet und in ähnlichen politischen Situationen reaktualisiert werden. Bezeichnenderweise wurde das Drama im Jahr 1871 neu 28 Zum Begriff der imagined community siehe Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso 2006, S. 6. Zur Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses beispielsweise in Form von Riten siehe Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. München: Beck 2006, hier S. 35f.

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aufgelegt.29 Es konnte, ähnlich wie Victor Hugos Quatrevingt-treize (1874), eine Brücke von der Dritten zur Ersten Republik schlagen und die preußische Invasion mit dem Einmarsch der alliierten Monarchien 1792 in Analogie setzen. Hugo schafft mit seiner Schilderung des Bürgerkrieges der Republik gegen die Vend8e ab 1793 ebenfalls eine Vergleichsfolie für die Situation nach 1870/71 und den Kampf gegen die Kommune.30 Die Handlung seines Romans setzt erst nach der Enthauptung des Königs ein und referiert auf diese selbst nur implizit, gestaltet aber mit der fundamentalen Spaltung der Nation die Folgen des Königsverlusts aus.31 Während der narrative Fokus auf der Analogie des Bruderkonflikts liegt, bricht sich allegorisch ein Imaginäres Bahn, das davon zeugt, dass die diskursive Fixierung der republikanischen Allegorie durch die Jakobiner in nationalen Krisenzeiten zu kollabieren droht: Gleich zu Beginn des Romans steht die eindrucksvolle Schilderung einer außer Kontrolle geratenen Kanone, die durch ihr anarchisches Hin- und Herrollen Mast und Wände einer Korvette der Royalisten bedroht (Kap. 4–7). Fock- und Hauptmast des Schiffs stehen kurz vor dem Zusammenbruch: »Sous les frappements convulsifs du canon, le m.t de misaine s’8tait l8zard8, le grand m.t lui-mÞme 8tait entam8.«32 Um zu verhindern, dass die zerstörerischen Stöße die Schiffswand durchlöchern (Q: 63), erklärt die Mannschaft der Kanone den Krieg: »Quelle combattante que cette caronade ! Il s’agissait d’arrÞter cette 8pouvantable folle.« (Q: 65) Die Passage beschreibt bildlich die im Jahr 1793 außer Rand und Band geratene Revolution, die das Ancien R8gime zerstört.33 Die monströse Kanone nimmt noch in ihrer blinden Zerstörungswut ihre Opfer ins Visier und bedroht den hilflosen Mann, der sich ihr todesmutig widersetzt: »Le canonnier tenait sa barre d’anspect [Hebebaum] en arrÞt. Le canon parut l’apercevoir, et, sans prendre la peine de se retourner, recula sur l’homme avec une promptitude de coup de hache. L’homme accul8 au bordage 8tait perdu.« (Q: 68) So erweist sich die Kanone als

29 Siehe zum Datum der Neuauflage Sers 1995: S. 9. Zur Krise nach 1870 siehe bes. die klassische Studie von Claude Digeon: La crise allemande dans la pens8e franÅaise (1870–1914). Paris: PUF 21992, zur Problematik der Invasion v. a. S. 48–50 u. 84–99. 30 Siehe zur Analogie von 1871 und 1793 in Quatrevingt-treize Yves Gohin: »Pr8face«, in Victor Hugo: Quatrevingt-treize. Paris: Gallimard (folio) 1979, S. 7–26, bes. S. 23–26. 31 Siehe Susan Dunn: The Deaths of Louis XVI. Regicide and the French Political Imagination. Princeton, New Jersey : Princeton UP 1994, S. 15 u. 116–137. Dunn macht auf die Bedeutung der fehlenden Vaterfiguren im Roman aufmerksam, in dessen Mittelpunkt ein Onkel, ein Neffe und eine Familie stehen (ebd.: S. 135f.). 32 Quatrevingt-treize. Hg. v. Yves Gohin. Paris: Gallimard (folio) 1979, S. 64. Ich zitiere diese Ausgabe im Folgenden im Fließtext mit der Sigle Q. 33 Vgl. Bernard Leuilliot: »Introduction«, in Victor Hugo: Quatrevingt-treize. Hg. u. eingeleitet v. B. L. Paris: Librairie G8n8rale FranÅaise 2001, S. 7–43, hier S. 31.

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Bild für die Guillotine und als Kastrationsmaschine, wie sie in Karikaturen wie etwa A Radical Reformer (Abb. 1) gezeichnet wird.34

Abb. 1: George Cruikshank, A Radical Reformer, (i. e.) a Neck or Nothing Man. Dedicated to the Heads of the Nation. Farbradierung, 1819. BibliothHque nationale de France, Paris

Bei Hugo bezwingt der Kanonier zwar schließlich das Biest, doch die Korvette bleibt gezeichnet von der »m.ture 8branl8e dans sa racine« (Q: 75), wenn sie dem gegnerischen revolutionären Geschwader mit seinen acht symbolträchtigen Masten gegenübertreten muss. Liest man den Schiffsmast gemäß der geläufigen Allegorie des Staatsschiffs35 als Symbol für den König, so nimmt dessen Tod

34 Manow beschreibt die Karikatur als Ausdruck der Angst vor der Horde junger Männer, die ihre Väter kastrieren (2011: S. 113f.). Die Revolutionäre haben sich selbst als Kastratoren inszeniert, die im berühmten Stich MatiHre / r8flection [sic] pour les jongleurs couronn8es [sic] den Revolutionsgegnern und besonders den europäischen Monarchen Ludwigs abgeschlagenen Kopf wie ein Medusenhaupt präsentieren. Robespierre verwendet in den Lettres / ses commettants dabei explizit den Begriff der »tÞte de M8duse« (Œuvres complHtes. Bd. V: Les journaux. Paris: GAP 1961, S. 61, siehe hierzu Jacques Andr8: La r8volution fratricide. Essai de psychanalyse du lien social. Paris: PUF 1993, S. 123–130, hier S. 127). Die Guillotine war in diesem Zusammenhang weiblich konnotiert (ebd.: S. 129), was auch Hugo in Quatrevingt-treize reaktualisiert (siehe dazu Doris Y. Kadish: Politicizing Gender. Narrative Strategies in the Aftermath of the French Revolution. New Brunswick/London: Rutgers UP 1991, S. 152). 35 Vgl. Platon: Sämtliche Dialoge. Bd. V: Der Staat. Übers. u. hg. v. Otto Apelt. Hamburg: Felix

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nicht nur den Untergang der auf dem Schiff versammelten royalistischen Mannschaft, also die Niederlage der Konterrevolutionäre, vorweg. Das Bild geht über diese Allegorie hinaus, da die symbolische Entmannung nicht nur die politische Spaltung im Innern der Nation verursacht, von der der Roman handeln wird, sondern auch die Grenzen der Nation beschädigt: [Le canon] avait d8j/ fracass8 quatre autres piHces et fait dans la muraille deux crevasses heureusement au-dessus de la flottaison, mais par oF l’eau entrerait, s’il survenait une bourrasque. Il se ruait fr8n8tiquement sur la membrure […]. Chaque mouvement de la caronade en libert8 8bauchait l’effondrement du navire. Encore quelques instants, et le naufrage 8tait in8vitable. (Q: 63–65)

Das Schiff kann hier zwar allegorisch den alten Staat repräsentieren, es impliziert aber auch die Nation als Ganze. Denn die Beschreibung erinnert an eine ähnliche Schilderung eines beschädigten Schiffs in Les Mis8rables (1862), direkt im Anschluss an die ausführliche Darstellung der Schlacht von Waterloo. Das Schiff, das hier in den Hafen von Toulon einfährt, zeugte ehemals von herausragender »majest8« und »puissance«, ist nun jedoch seit langer Zeit ›krank‹, nachdem sich eine Muschelschicht an seinem Rumpf angelagert hat. Bei deren Beseitigung wurde die Außenhaut des Schiffs beschädigt, das imposante Bauwerk geschwächt.36 Kontext der Beschreibung sind die Reflexionen des Erzählers über die Intervention in Spanien im Jahr 1823, als französische Truppen dem absolutistischen König Ferdinand VII., der sich seit 1820 gegen die liberale Verfassung von C#diz zu verteidigen versucht, zu Hilfe eilen. Vor dem Hintergrund der Überlegungen des Erzählers darüber, dass die französische Armee in Spanien zerstört, was ihr Land selbst hervorgebracht habe,37 lässt sich das Schiff als Allegorie der ehemals potenten, nun aber ›havarierten‹ Grande Nation deuten. In den vor 1870 verfassten Mis8rables imaginiert Hugo, dass ein Volkssouverän vom Schlage des Galeerensträflings Jean Valjean, der hier das defekte Schiff verlässt, die Energie eines Landes wiederbelebt, das nach Waterloo ebenso ›gebeugt‹ ist wie das beschriebene Schiff. Die Beschreibung der beschädigten Schiffswände ist beiden Texten gemein, in Quatrevingt-treize mündet dieses Bild jedoch in eine explizite politische Bedrohung, prophezeit dort doch der Konterrevolutionär Lantenac den siegreichen Revolutionären: »vous Þtes un peuple fini ; vous subirez ce viol, l’invasion […].« (Q: 450) Dies ist nun offensichtlich die Reaktion auf die Invasion der Preußen, die 1871 ihre eigene nationale Vereinigung feiern, ins nunmehr leere Allerheiligste der französischen Meiner 1988, S. 231f. (Politeia VI, 487–489) und Horaz: Oden und Epoden. Übers. u. hg. v. Gerhard Fink. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2002, S. 38f. (Oden I, 14). 36 Victor Hugo: Les Mis8rables. Hg. v. Maurice Allem. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1951, S. 405– 410 (2. Teil, Buch II, Kap. 3), die Zitate befinden sich auf S. 409 u. 410. 37 Siehe ebd.: S. 406.

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Monarchie eindringen und im Versailler Spiegelsaal ihren König zum gesamtdeutschen Kaiser krönen. Hugo projiziert hier das phobische Imaginäre, das schon die Eingangspassage des Romans evoziert hatte, auf den Diskurs des Konterrevolutionärs. Hinter der reflektierten Analogie des Brudermordes steht also ein Imaginäres, das die potente Erste Republik mit der gefühlten Impotenz der jungen Dritten Republik sowohl kontrastiert als auch in Bezug setzt und bildlich eine Assoziation von der Enthauptung des Königs zur Penetrabilität der republikanischen Nation knüpft. In Quatrevingt-treize drückt sich allegorisch eine Vorstellung aus, die Maurice Agulhon der nationalistischen Rechten mit deren Kult um Jeanne d’Arc als Garantin der Impenetrabilität der Nation zuschreibt.38 Sie kann aber ebenso als konterdiskursives Imaginäres beschrieben werden und ist damit Teil eines Denkens, das Antoine Compagnon ›antimodern‹39 genannt hat. Dieses Imaginäre stimmt nach 1870 mit den konterrevolutionären Vorstellunginhalten, wie sie La France foutue ausphantasiert hatte, überein und wird etwa von Guy de Maupassants Figur des Matissot in Worte gefasst, wenn dieser in Deux amis (1882) bemerkt: »Avec les rois on a la guerre au dehors ; avec la R8publique on a la guerre au dedans.«40 Auf den ersten Blick ist hier die Gegenüberstellung von Kriegen zwischen Nationen und Bürgerkriegen thematisch; Matissots Äußerung lässt sich aber auch so verstehen, dass Könige Kriege im Außenraum führen – er hat dabei wohl Ludwig XIV. im Blick –, während in Republiken der nationale Innenraum selbst durch Invasoren versehrt zu werden droht. Hugos Quatrevingt-treize zeigt exemplarisch, wie sehr sich die Literatur des Fin de SiHcle an der Revolution abarbeitet und die Dritte Republik im Spiegel der Ersten imaginiert. Ich möchte deshalb ausgehend von den revolutionären Umbildungen des Politischen in diesem Einleitungskapitel und im anschließenden 38 Marianne au pouvoir. L’imagerie et la symbolique r8publicaines de 1880 / 1914. Paris: Flammarion 1989, S. 326. Dunn deutet ihrerseits Jeanne d’Arc als Ersatz für den König und dessen Funktion als Garanten nationaler Einheit (1994: S. 41f. u. 46). Siehe zu den medizinischen Spekulationen über Jeannes physische ›Impenetrabilität‹ Dietmar Rieger : »Jeanne d’Arc oder das engagierte Engagement«, in Klaudia Knabel/D. R./Stephanie Wodianka (Hgg.): Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 175–203, bes. S. 188f. 39 Als ›antimodern‹ bezeichnet Compagnon Schriftsteller und Denker, die der Moderne widerwillig oder skeptisch gegenüberstehen bzw. die sie zwar als irreversibel betrachten, in ihrer eigenen Modernität aber desillusioniert sind. Im politischen Spektrum lassen sich die Antimodernen, die eigentlich »les vrais modernes« seien, aufgrund der Inkohärenzen ihres Denkens kaum verorten. Compagnon subsumiert ein Gutteil der postrevolutionären Literatur unter diese Kategorie (Les antimodernes. De Joseph de Maistre / Roland Barthes. Paris: Gallimard 2005, bes. S. 7–14, 24 u. 441–447, das Zitat befindet sich auf S. 8). 40 Contes et nouvelles. Bd. I. Hg. v. Armand Lanoux u. Louis Forestier. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1974, S. 735.

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

diachronen ›Vorspiel‹ meine Fragestellung entwickeln und die theoretischen Grundlagen meiner Analysen legen, bevor ich mich den Texten der Jahrhundertwende widme.

2.

Die phrygische Mütze, Marianne und Marie-Antoinette

Als neues viriles Spiegel-Ich für den Citoyen fungierte zunächst Herkules mit seiner synekdochischen Keule – eine repräsentative Figur des ›einfachen Mannes‹, in der die Volkssouveränität ansichtig werden und in der sich zugleich die Gesamtheit der Nation wie ehemals im König ihrer selbst versichern konnte.41 Die Herkulesfigur impliziert – wie schon der Hercules gallicus in Joachim du Bellays Deffense et illustration de la langue franÅoyse (1549) – die von Maximilien de Robespierre behauptete Überlegenheit Frankreichs über die anderen europäischen Staaten.42 Nach dem Sturz der Radikalen verschwand die Gestalt aber mehr und mehr aus der nationalen Emblematik, um schließlich mit Napoleon und dessen Armee amalgamiert zu werden.43 Zurück blieben die weiblichen Darstellungen der Nation und die Allegorien der Freiheit, die sich durch einen hohen Abstraktionsgrad sowie die Sublimation ihrer Körperlichkeit auszeichnen und häufig männliche Attribute besitzen, die von ihrer weiblichen Gestalt ablenken.44 Diese Gestalt ist auf die Funktion beschränkt, die affektive Bindung des Citoyens an die Nation zu fördern, ein Vorbild für aktive, legislative 41 Hobbes zufolge ist eine repräsentative Figur des Politischen unabdingbar (siehe hierzu Manow 2011: S. 179). Den Leviathan, der nur wenige Jahre nach der Exekution Karls I. kreiert wurde, bezeichnet Manow deshalb als »Fetischfigur« (ebd.: S. 104). Diese verweise zurück auf die königlichen Effigies, die nach dem Herrschertod das Fortleben des politischen Körpers garantieren sollten (ebd.: S. 102–108). Siehe zur Repräsentation des französischen Volkes als Herkules Hunt 1989: S. 119–141, bes. S. 125 sowie Jean Charles Benzaken: »Hercule dans la R8volution FranÅaise ou les ›nouveaux travaux d’Hercule‹ (1789–99)«, in Michel Vovelle (Hg.): Les images de la R8volution FranÅaise. Actes du Colloque des 25–26–27 oct. 1985 tenu en Sorbonne. Paris: Publications de la Sorbonne 21988, S. 203–214. 42 »[Le FranÅais] se r8veille d’un long assoupissement, rompt ses fers et, par une noble 8nergie, s’8lHve au niveau de l’homme de l’Antiquit8, au-dessus de tous ceux qui existent« (ParallHle du h8ros de la France avec ceux de l’antiquit8. Lille: Potier 1790, zit. nach De Baecque 1993: S. 181). Vgl. auch Hunt 1989: S. 125f. und zum Hercules gallicus unten Teil 2, Kap. I, Anm. 70. 43 Siehe Benzaken 1988: S. 212 und Hunt 1989: S. 138–141. Zur Krise des republikanischen Selbst in Folge der fragmentierenden Erfahrung der Terreur siehe die einlässliche und über David hinausgehende Studie von Ewa Lajer-Burcharth: Necklines. The Art of Jacques-Louis David after the Terror. New Haven/London: Yale UP 1999. Zu Herkules als dem Nationalhelden par excellence nach 1870 siehe Athena S. Leoussi: Nationalism and Classicism. The Classical Body as National Symbol in Nineteenth-Century England and France. London: Macmillan/New York: St. Martin’s 1998, S. 194. 44 Siehe hierzu Hunt 1989: S. 117, Landes 1992: S. 29–31 und dies. 2001: S. 166. Vgl. auch Koschorke et al. 2007: S. 278.

Die phrygische Mütze, Marianne und Marie-Antoinette

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Macht ist sie nicht.45 Vielmehr hat man hinter Abstraktionen wie der Vernunft und dem universellen Gesetz einen neuen absoluten Souverän als komplementäres Gegenstück zur weiblichen Allegorie der Freiheit gesehen.46 Rhetorisch besonders eindrucksvoll und exemplarisch zeigt sich dies im Entwurf eines fiktiven Gesetzes aus dem Jahr 1801, in dem der Republikaner Sylvain Mar8chal den ›notwendigen‹ Ausschluss von Frauen aus der Politik mit Verweis auf die Vernunft zu begründen versucht.47 Mar8chal entwirft einen ganzen Katalog, in dem er in einer fortgeführten Repetitio den Willen der Raison heranführt: »La Raison veut [que …].«48 Die Allegorie der Ratio fungiert als Projektionsfläche einer rousseauistischen volont8 g8n8rale, die zum L8gislateur hypostasiert wird und dabei das königlich-dezisionistische Machtwort ersetzt. Hinter der Anrufung der personifizierten Raison versteckt sich der Verweis auf ein Außen, ein Drittes, dessen Abwesenheit Claude Lefort gerade als konstitutives Merkmal der Demokratie beschreibt.49 Die unablässige Bezugnahme zeugt von einer fetischistischen Besetzung der (Staats-)Raison, die, indem sie gegen die Teilhabe der Frau am öffentlichen Leben angeführt wird, die Idee eines Allgemeinwillens untergräbt und einen männlichen Charakter annimmt. Eine solche Art der translatio, die mehr auf eine Fortführung der Tradition denn auf die Abgrenzung von der monarchischen Politik hindeutet, lässt sich auch am zentralen Attribut der weiblichen Allegorie, der phrygischen Mütze, beobachten. Denn zum bonnet phrygien wird die Freiheitsmütze, wie von der Forschung vielfach beschrieben, erst im Laufe der Revolution: In frühen Darstellungen hat sie noch nicht die charakteristische Form mit der nach vorne 45 Siehe hierzu Landes, die die Wahl der weiblichen Form für die Darstellung der Nation damit begründet, dass eine solche Figur besser als abstrakte Symbole Gefühle von Zuneigung und Intimität auslösen könne. Angesichts einer tugendhaften Frau solle der Citoyen jede Erotik in Vaterlandsliebe sublimieren (2001: S. 1f., 22, 78–80, 139–142, 168 et passim, vgl. oben Anm. 8). 46 Vgl. ebd.: S. 77. 47 GeneviHve Fraisse diskutiert den Projet d’une loi portant d8fense d’apprendre / lire aux femmes in Muse de la Raison. D8mocratie et exclusion des femmes en France. Paris: Gallimard 1995, S. 21–60. 48 Zit. ebd.: S. 40, kursiv im Orig., et passim. 49 »[L]e pouvoir cesse de faire signe vers un dehors, de s’articuler / quelque puissance autre, qui soit figurable, et qu’en ce sens il y a d8sintrication du religieux ; il est bien vrai que le pouvoir cesse de renvoyer / une origine qui co"nciderait avec celle de la Loi et du Savoir.« (»Permanence du th8ologico-politique ?«, in Claude Lefort: Essais sur le politique. XIXe et XXe siHcles. Paris: Seuil 1986, S. 251–300, hier S. 268, kursiv im Orig., vgl. auch S. 265) Lefort beschreibt das Paradox, dass eine Demokratie zugleich auch immer auf der Suche nach einem letzten Wissen sei, das sich als das »savoir de l’Un« formuliere (ebd.: S. 269, kursiv im Orig.). Deswegen könne sich eine Demokratie kaum von der Religion, die die Einheit der Gemeinschaft stiftet und die durch säkularisierte Ideen wie die Nation oder das Volk ersetzt werden kann, lösen (ebd.: S. 269–277). Um eine religiöse oder nationale Fundierung der Einheit geht es allerdings in der zitierten Anrufung der Raison nicht.

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gewölbten und abgerundeten Spitze, sondern die des pilleus oder pileus, der Kappe in Form eines Fez, wie sie in Rom von freigelassenen Sklaven getragen wurde. Die phrygische Mütze hingegen kennzeichnete im alten Rom Landesfremde oder diente der Situierung eines Geschehens in der Fremde. Sie war mit der Exotik der Alterität oder der Barbarei besetzt und wurde in antiken Darstellungen beispielsweise vom Gott Mithras, einer Personifizierung der Sonne, dem mythischen König Midas, Attis, Perseus oder den Trojanern Paris und Priamus getragen, in frühen christlichen Abbildungen auch von den heiligen drei Königen.50 Marina Warner zitiert Ernst Gombrich, dem zufolge die Transformation vom einfachen pileus zum gewölbten bonnet rouge als Emblem für die Französische Revolution ›mysteriös‹ sei.51 Sie selbst hat die Hypothese aufgestellt, dass die Form des bonnet die Alterität der Frau hervorhebe: Weil Frauen den Platz des Anderen okkupieren, böten sie sich für Allegorien an und könnten so als Ideal akzeptiert werden, während die reale Frau aus der politischen Sphäre ausgeschlossen werde.52 Diese Begründung halte ich in ihrer gendertheoretischen Abstraktion für anachronistisch. Es scheint allerdings auch ungenügend, das Amalgam der beiden Typen antiker Kopfbedeckungen allein auf eine Kombination der Freiheitssymbolik des pileus mit dem ästhetisch markanteren Schnitt der phrygischen Mütze zurückzuführen.53 Anders argumentiert der Theologe Manfred Becker-Huberti, dem zufolge schon die antike phrygische Mütze ein Symbol für Obrigkeitskritik und Widerspruch gegen Bevormundung war und oft illegales Tun darstellte: Denn dem Mythos zufolge versteckte der phrygische König Midas I. die Eselsohren, die ihm zur Strafe gewachsen waren, nachdem er Apollo widersprochen hatte, unter einer solchen Mütze, die ursprünglich aus einem gegerbten Stierhoden gefertigt worden sein soll. Fortan wurde er als Gottkönig verehrt. Auch die Amazonen als Feindinnen der patriarchalischen Ordnung wurden oft mit phrygischen Mützen dargestellt.54 Diese Beispiele zeigen, dass die auffällige Form der Mütze die

50 Siehe hierzu Neil Hertz: »Medusa’s Head: Male Hysteria under Political Pressure«, in Representations 4 (1983), S. 27–54, hier S. 41–44, Marina Warner : Monuments and Maidens. The Allegory of the Female Form. New York: Atheneum 1985, S. 273–276 und Bernard Richard: Les emblHmes de la R8publique. Paris: CNRS 2012, S. 48f. 51 Warner 1985: S. 275. 52 Ebd.: S. 292. »From the Amazon to Marianne, the female body’s bounty and its ardour, often denoted by the bare breast, has been seen to possess the energy a society requires for that utopian condition, lawful liberation. […] Otherness is a source of potential and power; but it cannot occupy the centre.« (Ebd.: S. 293) 53 So Richard 2012: S. 50f. in seiner vor wenigen Jahren erschienenen synthetischen Studie zu den Emblemen der Republik. 54 Die heiligen drei Könige. Geschichte, Legenden und Bräuche. Köln: Greven Verlag 2005, S. 86f.

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Selbstermächtigung symbolisch als Selbstvirilisierung zur Schau stellt und Midas wie die Amazonen sich auf diese Weise die Macht ihrer Gegner aneignen. Dies entspricht der Analyse von Elisabeth Liris, die die hohe Position, die die französische phrygische Mütze oft besetzt – etwa auf Freiheitsbäumen –, mit Bezug auf Aristoteles und Bachelard als Ort der Konzentration von Kraft und Energie deutet, zu dem sich die Psyche ›aufrichten‹ könne.55 Die Pike als Waffe der Sansculotten zeuge dabei von einem »v8ritable transfert de la puissance h8ro"que ou monarchique sur l’arme du peuple«.56 Liris verwendet hier ein Vokabular, das Klaus Theweleit auf den fiktiven »Phallus der Höhen« bezogen hat.57 Besonders deutlich kommt dies in David d’Angers’ Libert8 ch8rie, combats avec tes d8fenseurs zum Ausdruck:58 Die Allegorie der Freiheit steht dort auf einem Podest, was sie in eine abstrakte Ferne rückt. Aufgerichtete Speere symbolisieren die Virilität der Citoyens, die die weibliche Figur anbeten, von dieser aber durch dichten Qualm getrennt sind. Die Zeichnung bildet solchermaßen die offizielle Revolutionsrhetorik ab sowie Rousseaus Gedanken, nach dem die Liebe zum Vaterland den Citoyens die Energie gebe, die sie zum Heroismus erhebe.59 Dass die phrygische Mütze auf diese Weise die translatio der Macht symbolisiert, suggeriert auch ein Revolutionslied aus dem R8veil du pHre Duchesne von 1793. Dort heißt es: »Allons poser sur les trines / Les bonnets d’la libert8«.60 Die Zeilen zeugen davon, dass es dem Sprecher nicht in erster Linie darum geht, den Thron und mit ihm die symbolische Ordnung der Monarchie zu zerstören, sondern die Macht über diese Ordnung zu ergreifen. Schließlich trugen gerade phrygische Könige wie Midas oder Priamus die Mütze, die in der Revolution mit der Freiheitssymbolik des pileus gekoppelt wird. Auch bei Mithras ist sie über die Sonnensymbolik mit dem Gottkönigtum verknüpft, worüber man sich in der 55 »Autour des vignettes r8volutionnaires : (La symbolique du bonnet phrygien)«, in Vovelle 1988: S. 307–316, hier S. 311: »Ainsi ›plant8‹ / la pointe de la pique par exemple, il [sc. le bonnet phrygien, L.Z.] repr8sente le sommet de l’axe qu’Aristote d8finit comme ›le moteur immobile‹ ; l’axe 8voque en effet une concentration des forces qui partent de lui ou qui se concentrent sur lui (cet axe qui cherche / rassembler le maximum d’8nergie est dveneu [sic] rapidement un des signes du pouvoir royal) […].« (Ebd.) Zur inflationären Verwendung von Piken in der Revolution vgl. Linda Orr : Headless History. Nineteenth-Century French Historiography of the Revolution. Ithaca/London: Cornell UP 1990, S. 149. 56 Liris 1988: S. 312, kursiv im Orig. 57 »Das Ich, das den Kampf um die Macht führt, der darin besteht, nicht unten zu sein, feiert den fiktiven Phallus der Höhen, den, den keiner hat, der aber in den Organen der Staatsmacht verkörpert ist […].« (Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. II. Reinbek: Rowohlt 1980, S. 55, kursiv im Orig.) 58 Siehe Base de donn8es Archim: , 2013, Nr. 4 (Cote AE/II/2474) (Stand: 26. 03. 2016). 59 In Fragments politiques (Rousseau 1964b: S. 536). 60 Zit. nach Richard 2012: S. 44.

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Revolution durchaus bewusst ist: So schreibt Charles-FranÅois Dupuis im Jahr 1794: [C]e dieu [sc. Osiris] 8toit toujours repr8sent8 en 8rection, et dans l’attitude, qui annonce le d8veloppement de cette facult8 f8conde de notre virilit8. Tel, dans le monument de Mithra, on voit un G8nie / bonnet Phrygien, dans une semblable attitude, et plac8 / cit8 du fameux Taureau Mithriaque, qui 8toit en Perse, ce qu’8toit Apis en Pgipte.61

Die Form der Kappe als Zeichen für die Huldigung des Gottes ›Männlichkeit‹, die aus diesen Zeilen spricht, kommt ganz deutlich zum Ausdruck, wenn man sie mit der identisch geformten und ebenso roten ›Schamkapsel‹ im Porträt des Venezianers Antonio Navagero von Giovanni Battista Moroni (1565) vergleicht. Dieses Porträt bezeugt exemplarisch, dass die Zurschaustellung der Genitalien, wie es Barbara Vinken beschreibt, vor der Revolution ein Privileg mächtiger Männer war.62 Es scheint nun geradezu, als haben die französischen Citoyens den vormals Mächtigen eines ihrer Virilitätssymbole abgenommen, um es auf ihrem eigenen Kopf bzw. dem der Republik zu platzieren (Abb. 2–4) und damit die Macht einiger weniger in der Adelsrepublik oder der Monarchie auf die Allgemeinheit zu übertragen. So scheinen es auch die Revolutionäre verstanden zu haben, die Frauen, die mit der Mütze auf dem Kopf politisch aktiv wurden, maßregelten, sich nicht unnatürlicherweise zu Männern machen zu wollen.63 Dass die phrygische Mütze nicht immer die Virilität ihres Trägers symbolisiert, sondern auch das Gegenteil bedeuten kann, hat Neil Hertz in seiner psychosexuellen Analyse von männlicher Hysterie angesichts politischer Bedrohungen beschrieben: Die schlaff herabhängende Mütze, wie sie etwa auf dem Kopf Ludwigs XVI. abgebildet wird, assoziiert er mit einer Impotenzbzw. Kastrationsdrohung, die er genealogisch von der Assoziation mit dem kastrierten Attis ableitet. Dessen Anhänger waren – im Gegensatz zu denen Mithras’ – beiderlei Geschlechts und schlossen auch Eunuchen und Selbstentmannte ein.64 Hertz fragt: »Did anyone ask why the cap that meant ›liberty‹ could also mean ›castration‹?«65 und zitiert Esprit-Antoine Gibelin, der 1796 die Revolutionäre kritisiert hatte, die von ihm als effeminiert bezeichnete 61 Origine de tous les cultes ou Religion universelle. Bd. II. Teil I. Paris: Chez H. Agasse 1794, S. 386. 62 Vgl. Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Stuttgart: Klett-Cotta 2013, S. 14–21. Vinken hat das Gemälde bei ihrem Vortrag zu »Form oder Funktion?« im Rahmen der Ringvorlesung »Ideology of Form« in Mainz am 17. 12. 2015 gezeigt, ist aber nicht auf die Ähnlichkeit zur phrygischen Mütze eingegangen. 63 Lynn Hunt zitiert die Kritik des Radikalen Pierre Chaumette in The Family Romance of the French Revolution. Berkeley/Los Angeles: U of California P 1992, S. 119f. 64 Hertz 1983: S. 41–50. 65 Ebd.: S. 44.

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Abb. 3: Moroni, Antonio Navagero, Detail

Abb. 2: G. B. Moroni, Antonio Navagero. Öl auf Leinwand, Abb. 4: Phrygische Mütze aus dem 1565. Pinacoteca di Brera, Mailand 19. Jahrhundert. Kollektion Bertrand Malvaux

phrygische Mütze (»ce bonnet eff8min8«) mit der Freiheitssymbolik des pileus verwechselt zu haben.66 Hertz beschreibt die Ambivalenz gegenüber einer »cap […] signifying, equivocally, both the possession and the lack of phallic power«67 und bringt sie in Verbindung mit phobischen Darstellungen weiblicher Sexualität in Schilderungen revolutionärer Aufstände durch Edmund Burke, Victor Hugo, Maxime Du Camp oder Alexis de Tocqueville. Diese führt er auf eine Angst davor zurück, dass sich Status- und Besitzlose mithilfe ›künstlicher‹, fetischistischer Ersatzkonstruktionen wie z. B. politischer oder sozialer Systeme den Repräsentanten ›natürlicher‹ – männlicher – Macht widersetzen. Der phrygischen Mütze scheint dabei ähnlich wie dem Medusenhaupt, als das die Revolutionäre den abgeschlagenen Kopf des Königs dargestellt haben, eine apotropäische Funktion zuzukommen.68 Man kann sich nun 66 Ebd.: S. 46. Richard zitiert denselben Text (2012: S. 50f., er nennt den Namen AlphonseEsprit Gibelin), unterschlägt jedoch die psychosexuelle Dimension der Mütze. 67 Hertz 1983: S. 47. »The Phrygian cap could become a target for this scorn: phallic but not erect, it could function as what Lacan might term a drooping signifier, eliciting uncertainties about the stability of sexual difference, uncertainties that could resonate with those developing out of the blurring of differences in social status – between, for instance, citizens, freedmen and slaves.« (Ebd.: S. 45) 68 Siehe ebd.: bes. S. 30–40 u. 48–50. Hertz stützt sich unter anderem auf eine Darstellung, in

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die Frage stellen, in welcher Situation die Mütze den Besitz phallischer Kraft ausdrücken sollte: Bei der französischen Unterstützung des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs war noch der pileus als Symbol der Freiheit verwendet worden.69 Seit 1789 wurden vereinzelt Mützen in indefiniter Form und Farbe getragen, bis sie Bernard Richard zufolge im Frühjahr 1792, im direkten Kontext des Aufrufs der Girondisten zum Krieg gegen Österreich, zum öffentlich besprochenen Massenphänomen wurden. Als Ludwig XVI. die Mütze im Juni 1792 tragen musste, befanden sich die preußischen und die österreichischen Truppen bereits in Frankreich. Marseiller Citoyens trugen die rote Mütze jetzt ebenso wie die Mitglieder des Konvents in einer äußerst gespannten Atmosphäre der patrie en danger, wobei insbesondere die Kopfbedeckungen von Autoritätspersonen oder Wohlhabenderen die schwieriger zu fertigende phrygische Form aufwiesen. Bis zum Sturz Robespierres war die Mütze als Kopfbedeckung omnipräsent; ab Juli 1794 wurde sie weniger häufig verwendet und schließlich vom napoleonischen bonnet / poil abgelöst. Der Name bonnet phrygien tauchte ab 1792 auf und ersetzte die alternativen Bezeichnungen bonnet rouge und bonnet de la libert8 so gut wie vollständig ab dem Thermidor. Bei der Deklaration der Ersten Republik im September 1792 hat die ›Konfusion‹ von pileus und phrygischer Mütze auch im offiziellen Sprachgebrauch stattgefunden, als politisches Symbol setzte sich die phrygische Form seit Beginn des Directoire 1795 durch.70 Richards Forschungen deuten also darauf hin, dass die ›Verwechslung‹ des Freiheitssymbols mit der Form bzw. dem Namen der phrygischen Mütze im Zusammenhang mit der republikanischen Panik angesichts der außenpolitischen Bedrohung der Nation steht. Die veränderte Form scheint dabei einem Bedürfnis zu entspringen, das im Vergleich zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in dem das noch monarchische Frankreich militärische Hilfe leistete, neu ist. Die ersten allegorischen Darstellungen der Freiheit tragen die Mütze noch nicht auf dem Kopf, sondern in der Hand oder häufiger noch auf einer Pike, die sie in der Hand halten.71 Jean FranÅois Janinets Libert8 (1792) hält den pileus der ehemaligen römischen Sklaven in der Hand und drückt ihn am oberen Ende zusammen, wodurch ansatzweise eine phrygische Form entsteht. Auch das erste der Perseus das Medusenhaupt in der Hand und eine phrygische Mütze auf dem Kopf trägt (ebd.: S. 50). Zu Freuds Überlegungen zum Mythos der Medusa und zur Kastrationsangst des Kindes bzw. Mannes angesichts des vermeintlich ›kastrierten‹ weiblichen Genitals vgl. ebd.: S. 27–33. Vgl. auch oben Anm. 34. 69 Siehe Richard 2012: S. 45–47. 70 Ebd.: S. 41–56. 71 Dies notiert Marie-Claude Chaudonneret: »Das Bild der französischen Republik 1792– 1889«, in Marie-Louise von Plessen (Hg.): Marianne und Germania 1789–1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten – eine Revue. Eine Ausstellung der Berliner Festspiele GmbH im Rahmen der »46. Berliner Festwochen 1996«. Berlin: Argon 1996, S. 23–27, hier S. 23.

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offizielle Siegel der Republik von 1792 bildet noch den pileus ab.72 Schwach geformte Mützen auf der Pike tragen die Allegorien in La libert8 triomphe et d8truit les abus (1790)73 und D’Angers’ zwischen 1792 und 1795 entstandene Libert8. Der bonnet von Nanine Vallains Libert8 (1793–94)74 sitzt – schon deutlicher geformt, aber mit herabhängender Spitze – ebenfalls auf der Pike. Es lässt sich beobachten, dass die Mütze in der Revolution als symbolischer Signifikant der Virilität auf den Plan tritt und schrittweise auf den Körper der Republik übergeht. Der Sitz auf der Pike oder dem Freiheitsbaum stellt ein Zwischenstadium auf diesem Weg dar, was Jacques Lacans Konzept des phallus als oszillierendem Signifikanten, der keinen festen Ort hat, sondern immer nur eine symbolische Position okkupiert,75 veranschaulicht. Aufschlussreich ist dabei die Darstellung des kraftstrotzenden und keulenschwingenden Herkules in Le Peuple mangeur de Rois (Abb. 5), der gerade im Begriff ist, den geopferten König, der die Potenz der Nation nach außen garantiert hatte, zu verspeisen und ihn sich einzuverleiben.76 Wie es die Subscriptio Statue Colossale propos8e par le journal des R8volutions de Paris, pour Þtre plac8e sur les points les plus 8minens de nos frontiHres und das von der Statue ausgehende Geheiß »Tu n’iras pas plus loin !«77 belegen, geht es hier insbesondere um die nationale Außenwirkung der Herkulesfigur. Deren Freiheitsmütze ist kaum signifikant gewölbt; die Virilität des Herkules steht nicht zur Debatte und bedarf der symbolischen Verstärkung nicht. Dies ändert sich mit weiblichen Repräsentationen: Seit 1793 ›rutscht‹ die jetzt deutlich geformte Mütze von der Pike auf den Kopf der Allegorien, wie etwa bei den bei Agulhon abgebildeten Büsten ab 1793 oder in Louis-Philibert Debucourts Calendrier r8publicain (1794).78 Jetzt, da der König enthauptet ist, wird die Mütze direkt auf den Körper der republikanischen Allegorie appliziert. Der leere Platz des Königs wird »in einer Art fortgesetztem horror vacui mit allen möglichen Requisiten aus der Asservatenkammer der Tradition, mit Emblemen, Allegorien und Idolen ausgestopft«.79 Diese Beschreibung entspricht 72 Abgebildet bei Maurice Agulhon/Pierre Bonte: Marianne. Les visages de la R8publique. Paris: Gallimard 1992, S. 17 sowie bei Hunt 1989: S. 81. 73 In R8volutions de France et de Brabant Bd. VI, Nr. 51, abgebildet bei Landes 2001: S. 44. 74 Abgebildet in Philippe Bordes: »L’Art et le Politique«, in ders./R8gis Michel (Hgg.): Aux armes & aux arts ! Les arts de la R8volution 1789–1799. Paris: Adam Biro 1988, S. 103–135, hier S. 124. 75 Le s8minaire de Jacques Lacan. Bd. V: Les formations de l’inconscient (1957–1958). Hg. v. Jacques-Alain Miller. Paris: Seuil 1998, S. 161–196, bes. S. 180–184. 76 Vgl. zur Einverleibung des Königskörpers in den Volkskörper Manow 2011: S. 121–125. 77 So David in seinem Vorschlag für die Statue in R8volutions de Paris 217 (30. Nov.–8. Dez. 1793, S. 290). 78 Siehe bei Agulhon/Bonte 1992: S. 18f. sowie die Darstellungen in Landes 2001: S. 42, 103, 111 u. 157. 79 Koschorke et al. 2007: S. 276. Mona Ozouf spricht angesichts der brutalen Zerstörung des Sakralen von einer horreur du vide (1976: S. 322f., die englische Übersetzung verwendet den

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Abb. 5: Le Peuple mangeur de Rois. Radierung, 1793. BibliothHque nationale de France, Paris

der Definition des Fetischs nach Freud oder des Objekts klein a nach Lacan: Nachdem der kleine Junge respektive später der erwachsene Mann die weibliche ›Kastrationswunde‹ erblickt habe, versuche er, diesen leeren Platz mit Ersatzobjekten zu füllen, um die ›Kastration‹ der Frau zu verleugnen und die Angst davor, selbst entmannt zu werden, zu überwinden.80 Die Deutung als Fetisch entspricht Liris’ Interpretation der Funktion der Mütze als eine Art Begriff des horror vacui: Festivals and the French Revolution. Übers. v. Alan Sheridan. Cambridge/Mass.: Harvard UP 1988, S. 267), auf die eine republikanisch-säkularisierte Form des Sakralen antwortet (vgl. oben Anm. 49). 80 Sigmund Freud: »Fetischismus«, in ders.: Studienausgabe. Bd. III: Psychologie des Unbewußten. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 379–388, bes. S. 383–385, vgl. auch oben Anm. 68. Vgl. zu Lacans Begriff des Objekts klein a im Zusammenhang mit der Demokratie Renata Salecl: Politik des Phantasmas. Nationalismus, Feminismus und Psychoanalyse. Übers. v. Karl Bruckschwaiger. Wien: Turia & Kant 1994, S. 73–76: »In der vormodernen Gesellschaft war der ›Eintritt in die Gemeinschaft‹ für das Subjekt kein so traumatischer Akt der Wahl und des Opfers, weil in diese hierarchische Gesellschaft das Subjekt durch einen Akt der Initiation aufgenommen wurde. Obwohl das Subjekt auch in der vormodernen Gesellschaft der Kastration unterworfen war, wurde die Kastration erst mit der Erfindung der Demokratie sichtbar. Auf einer anderen Ebene ist dieselbe Logik wirksam beim Begriff des ›leeren Platzes der Macht‹, der von Claude Lefort eingeführt wurde. Wir können nicht sagen, daß der Platz der Macht gerade durch die Erfindung der Demokratie leer wurde. Der Platz der Macht war schon immer leer, aber mit der Demokratie wurde diese Leere sichtbar, während sie vorher durch die Anwesenheit des Monarchen maskiert war. Die Einführung der Rechte ist nichts anderes als ein

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ciment symbolique, remplaÅant un temps l’image du Roi, du pHre protecteur, par sa puissance, son 8l8vation, son rayonnement, c’est un symbole paternel qui complHte l’image f8minine et maternelle de la Libert8 en la renforÅant […].81

Die Begriffe ›vervollständigen‹ (compl8ter) und ›stärken‹ (renforcer) deuten wie das oben zitierte »ausstopfen« auf die Verdeckung eines Mangels hin. Die Interpretation als Fetisch erhellt auch eine häufig als dunkel bezeichnete Äußerung von Alexandre Ledru-Rollin, als dieser im Jahr 1848 Künstler beauftragte, eine offizielle weibliche Darstellung der Republik zu entwerfen. Bezüglich der Mütze meint er : Vous n’Þtes donc pas ma%tre d’iter ce signe de la libert8. Seulement, arrangez-vous pour en quelque sorte le transfigurer ; mais je vous dis encore une fois, vous ne pouvez pas faire dispara%tre un signe que le peuple s’attend / retrouver dans la personnification du gouvernement qu’il a choisi.82

Dass die phrygische Mütze zwar abgebildet, dabei aber ›verklärt‹ werden solle, führt Marie-Claude Chaudonneret darauf zurück, dass sie nicht an die Gewalt der Terreur erinnern dürfe. Dennoch findet sie die Anweisung »rätselhaft«.83 Hertz vermutet, dass Ledru-Rollin durch die ›effeminierte‹ Form verstört ist: »I think the answer is simple: remove the droop and you transfigure the cap.«84 Die Vorstellung von einer Verklärung entspricht Freuds Begriff der fetischistischen Verleugnung. Der Fetisch ist ein paradoxes Objekt, da er den Mangel der Mutter verdecken soll, ihn aber zugleich durch seine Anwesenheit impliziert.85 Ebenso impliziert die phrygische Mütze die symbolische Kastration der republikanischen Nation und über die Emaskulation des politischen Gegners hinaus auch die Selbstentmannung – was schon die Karikatur A Radical Reformer (Abb. 1) ausmalt. Dass sie diese Selbstentmannung gleichzeitig verstecken soll, führt zu einem Paradox, das nur in der Verklärung aufgehoben werden kann. Auf diese Weise nimmt die Mütze zugleich ein Charakteristikum des Totems als Ersatz für und Erinnerung an eine getötete Vaterfigur an.86

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Ersatz für das fundamentale Verbot. Als solche [sic] erfüllt sie dieselbe Funktion wie Objekt a. Das Objekt a ist der Ersatz, den das Subjekt erhält, wenn es beim Eintritt in das Reich der symbolischen Vermittlung der Kastration unterworfen wird.« (Ebd.: S. 76, Hervorh. im Orig.) Vgl. zum Objekt a als Platzhalter für die »strange physical presence« des Königs auch Santner 2011: S. 12. Liris 1988: S. 315, meine Hervorh. Zit. nach Maurice Agulhon: Marianne au combat. L’imagerie et la symbolique r8publicaines de 1789 / 1880. Paris: Flammarion 1979, S. 106, vgl. auch Chaudonneret 1996: S. 27. Ebd. Vgl. wie Chaudonneret Joseph Jurt: »Die Allegorie der Freiheit in der französischen Tradition«, in Knabel/Rieger/Wodianka 2005: S. 113–126, hier S. 124. Hertz 1983: S. 47. Freud 1975a: S. 384 u. 387. Den Begriff der ›Verklärung‹ des – hypothetisch – getöteten Urvaters in der vom Bruderclan verehrten und gemeinschaftsstiftenden Totemfigur verwendet Freud in »Zeitgemäßes über

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Die weiblichen Allegorien der Republik verschwinden mit Napoleons Staatsstreich und 1808 wird der bonnet phrygien zusammen mit dem Tribunat abgeschafft; der corps l8gislatif stellt die Republik jetzt nur mehr mit dem Athenehelm dar.87 Fetische werden nach der Rückkehr des materiellen Garanten der nationalen Potenz mit Napoleon bzw. später dem restaurierten König offenbar nicht mehr benötigt. 1830 richtet EugHne Delacroix’ Libert8 guidant le peuple mit dem bonnet auf dem Kopf das Volk wieder auf,88 bevor während der Julimonarchie das persönliche Abbild Louis-Philippes die Münzen zieren wird. Offizielle Libert8s tragen keine Mütze. Überhaupt wird die Nation jetzt seltener als weibliche Allegorie dargestellt, denn das Problem ihrer Repräsentation stellt sich nur, wenn es keinen König gibt. Stattdessen richtete man die Freiheitssäule auf der Place de la Bastille auf.89 Nachdem die phrygische Mütze mit ihrem exzessiven Gebrauch durch die Kommunarden in den 1870er Jahren zum ›roten Tuch‹ geworden war, wird sie ab 1880 wieder häufiger verwendet und dann – rot und deutlich gewölbt – konsequent auf dem Kopf der Republik positioniert. Alternativ zur stigmatisierten Mütze greift man auch auf ›phrygisch‹ gewölbte Helme zurück:90 Die Republik hat ihren Fetisch nach der preußischen Invasion für ihre endgültige Etablierung bitter nötig, werden doch Republik und Nation seit den 1880er Jahren miteinander identifiziert.91 So kann der Bürgermeister und spätere Regierungschef Emile Combes die Mütze bei der Einweihung eines Denkmals als »symbole d’ardeur guerriHre et de m.les vertus« bezeichnen.92 Die phrygische Mütze, die im politischen Leben auftaucht, als die Nation von der Invasion bedroht ist und in der repräsentativen Emblematik verwendet wird, seit der König abgesetzt ist, tradiert zentrale Elemente einer virilen königlichen Korporalität und kann daher als royal remains im Sinne Eric Santners bezeichnet werden, als Rest des politischen Körpers des Königs, der in Form einer exzessiven Materialität – Santner nennt es das »flesh« – überlebt hat und sich an

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Krieg und Tod« [1915], in ders.: Studienausgabe. Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main: Fischer 1974, S. 33–60, hier S. 53. Siehe hierzu Agulhon 1979: S. 45–47. Dass die Mütze auch hier als Fetisch wirkt, sieht man gleichsam als mise en abyme in Szene gesetzt mit dem kleinen Jungen links unten im Bild, der die pralle Brust der Libert8 anstarrt und sich dabei aufrichtet. Die phrygische Mütze als Fetisch des zeitgenössischen Betrachters wird hier auf die Brust, den Fetisch des Jungen, verschoben. Agulhon 1979: S. 59–61 u. 67. Agulhon 1989: S. 26, 106 u. 322f. und ders./Bonte 1992: S. 61–65. Seit den 1890er Jahren ist die Mütze endgültig »rentr8e en gr.ce« (Agulhon 1989: S. 32). Dies beginnt sich schon seit 1870 abzuzeichnen (ebd.: S. 317–323 und ders./Bonte 1992: S. 55 u. 57). Zit. nach Agulhon 1989: S. 108.

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das Volk als das neue Subjekt der Souveränität heftet.93 Sie ist ein Beispiel für die von Philip Manow verfolgten Spuren des monarchischen corpus politicum in der »politische[n] Anatomie demokratischer Repräsentation«.94 Mit ihrer veränderbaren Form kann die Mütze sowohl die Diskurse über die problematische Virilität Ludwigs XVI. bildlich unterfüttern als auch den konstituierenden Mangel der Republik verdecken und die inhärent mit der Monarchie assoziierte Symbolik nationaler Potenz in die Republik hinüberretten. Hierauf scheint Flauberts Deslauriers aus der Pducation sentimentale (1869) abzuzielen, wenn er die junge Zweite Republik anklagt: »la monarchie percera sous vos formes r8publicaines, et votre bonnet rouge ne sera jamais qu’une calotte sacerdotale !«95 Die phrygische Mütze kann damit als das materiell-konkrete Gegenstück zur Allegorie der abstrakten, quasi-absolutistischen Vernunft verstanden werden. Während deren Despotismus (»La Raison veut que…«) der proklamierten Freiheit und Gleichheit allzu offensichtlich widerspricht, kann sich die translatio der monarchischen, wenn nicht gar der (gegenüber Frauen) despotischen Macht auf die Republik hinter dem Lexem phrygien besser verstecken. Seit Vergils Aeneis, dem Modelltext des translatio-Gedankens, ist das Lexem phrygisch mit Troja assoziiert: Dort werden die Trojaner als Phryger bezeichnet.96 Bekanntlich haben die französischen Könige ihre Legitimität traditionell von Troja abgeleitet,97 was beispielsweise Hector Berlioz in seiner Oper Les 93 Siehe Santner 2011: bes. S. xv, 18, 43, 59–61 u. 92–95 sowie unten Vorspiel, Kap. 3, bes. Anm. 147. 94 Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Manow beleuchtet in seiner Studie die blinden Flecken der Vorstellung von der Körperlosigkeit der Republik, wie sie in einer Reihe von Untersuchungen seit Michel Foucaults Surveiller et punir (1975) hervorgehoben wurde (Manow 2008: S. 9 et passim). Eine ähnliche Fetischfunktion nimmt zum Beispiel das Rednerpult ein, auf das der Halbkreis des parlamentarischen Plenums in Frankreich zuläuft und das Manow in Analogie zum (verlorenen) Kopf des politischen Körpers setzt (ebd.: S. 46f.). Anders als England, das mit der konstitutionellen Monarchie das geheiligte Zentrum des Königs immer noch besitzt, ist in Frankreich eine symbolische Repräsentation der Einheit des politischen Körpers weitaus dringender (ebd.: S. 16–56, bes. S. 33f., 38f., 45f. u. 53). Als Fetisch lässt sich das Rednerpult, das Manow zufolge als Mittel gegen das »Problem der demokratischen Vielstimmigkeit« fungiert (ebd.: S. 51), schon deshalb bezeichnen, weil »die feierliche Eröffnung der neuerbauten Salle des S8ances im Palais Bourbon am 21. Januar 1798 zugleich den fünften Jahrestag der Enthauptung Ludwigs XVI. markierte« (ebd.: S. 47). Manows Befunde zur Architektur des französischen Parlaments lassen sich als exemplarische Beispiele nicht-literarischer Konterdiskursivität deuten (vgl. zur Konterdiskursivität oben Anm. 20). 95 Œuvres. Bd. II. Hg. v. Albert Thibaudet u. Ren8 Dumesnil. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1952, S. 208. 96 Aeneis. Lateinisch-deutsch. Hg. u. übers. v. Gerhard Fink. Düsseldorf u. a.: Artemis und Winkler 2005, z. B. Bücher I, 381; IX, 80 u. 134; XI, 403 u. XII, 75. 97 Siehe zur Legende der trojanischen Abstammung der Franken die Historia Francorum sowie Ronsards Nationalepos Franciade in Anlehnung an die Aeneis. Der Legende nach hatte König

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Troyens (um 1856/58) reaktualisieren wird.98 Die Troyens feiern die Ursprünge des römischen Imperiums und lassen sich unschwer auf die kolonialistischen Bestrebungen Napoleons III. übertragen, was die Verknüpfung des Lexems phrygien mit der Idee der translatio bis ins 19. Jahrhundert suggeriert. Dient die phrygische Mütze in ihrer aufgereckten Form auf dem Kopf der republikanischen Allegorie bzw. der Citoyens dazu, sich der souveränen Potenz zu bemächtigen und zugleich einen Rest königlicher Virilität in die neue Nation zu transportieren, so hat man den Namen der Personifikation der Freiheit bzw. der Republik ebenfalls näher zu befragen. Agulhon datierte das Aufkommen des Namens Marianne zuerst auf das Jahr 1793, als er in konterrevolutionären Milieus als spöttische Bezeichnung für die Republik verwendet wurde. Da MarieAnne ein populärer Name war, begründet Agulhon die Assoziation mit der Republik damit, dass diese das Volk an die Macht gebracht habe.99 Außerdem belegt das okzitanische Lied La Garisou [gu8rison] de Marianno, das Richard zufolge ungefähr seit November 1792 oder spätestens Anfang 1793 verbreitet war, den Namen für die Republik oder das revolutionäre Frankreich und macht die Figur zum Sympathieträger. Da jedoch insgesamt nur drei schriftliche Quellen bekannt sind, die auf die Verwendung des Namens während der Revolution hindeuten, schließt Richard darauf, dass er nur selten gebraucht worden sei.100 Die von ihm zitierten Quellen – das Lied und zwei Polizeiakten – lassen allerdings vermuten, dass er im Mündlichen viel weiter verbreitet gewesen war. Unabhängig von der komplexeren Frage nach der Herkunft des Namens Marianne etabliert dieser nun insofern eine zur phrygischen Mütze analoge Verbindung von Republik und Monarchie, als er paronomastisch die Assoziation mit Marie-Antoinette ermöglicht. Marie-Antoinette steht in mehrfacher Weise in Kontiguität zum politischen Imaginären der Republik. Die Pamphlete gegen die Königin, der man einen inzestuösen Verkehr unter anderem mit ihrem Francus, ein Sohn von Hector oder Cousin von Aeneas, eine Gruppe von Trojanern beim Ausbruch des Brandes der Stadt aus Troja erst an die Donau und dann nach Germanien geführt, bevor sie in Frankreich ihre Heimat gründeten. Diese These wurde im 16. Jahrhundert etwa von Nicole Gilles’ Annales et chroniques de France, depuis la destruction de Troyes jusques au temps du roy Louis onziesme (1562) vertreten und im 17. Jahrhundert wieder aufgegriffen. Siehe hierzu Michel Foucault: Il faut d8fendre la soci8t8. Cours au CollHge de France (1975–1976). Hg. v. FranÅois Ewald, Alessandro Fontana u. Mauro Bertani. Paris: Gallimard/Seuil 1997, S. 101 u. 107. 98 In Teil 1 (Akt I, Sz. 6) hört man in Troja »la trompette Phrygienne« (Les Troyens. Op8ra en deux parties. 1re partie : La prise de Troie. 2e partie : Les Troyens / Carthage. Paris: Librairie th8.trale u. a. 1974, S. 17), in Teil 2 (Akt I, Sz. 4) berichtet Askanius Dido von der Ankunft der Trojaner: »O reine, sur nos pas une sanglante trace / Des monts de la Phrygie a marqu8 les chemins / Jusqu’/ la mer.« (Ebd.: S. 43) 99 Agulhon 1979: S. 44f. und 17f. 100 Richard 2012: S. 79–83. Agulhon selbst nennt das Lied als älteste bekannte Quelle in ders. 1989: S. 11f.

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Bruder, Joseph II. von Österreich, nachsagte,101 unterfüttern das phobische Imaginäre einer von feindlichen Mächten geschändeten Nation, wie es später in La France foutue ausformuliert werden wird. In politischen Satiren der Revolutionszeit wird das weibliche Genital immer wieder zum Symbol für die Republik. Beispielhaft dafür stehen die Karikatur Le Grand D8bandement de l’arm8e anticonstitutionnelle, in der das entblößte Genital der Revolutionssympathisantin Th8roigne de M8ricourt als »Republique« bezeichnet wird, und der Stich mit dem Titel Ma Constitution, der den Marquis de Lafayette abbildet, wie er einen Schwur auf die »Res publica« leistet: auf das ausgestellte Genital einer Frau – wahrscheinlich die Königin, die Allegorie Frankreichs oder Madame de Condorcet, deren Ehemann für die Gleichstellung der Geschlechter in der cit8 und die Etablierung einer Republik eintrat.102 Im Hintergrund stößt ein Putto eine Königskrone von einer lilienbesetzten Kugel, die auf einer Säule liegt, auf der ein Penis abgebildet ist, der auf die Kugel und die Krone ejakuliert. Während Vivian Cameron, die den Stich auf das Jahr der Verfassung von 1791 datiert, dies als Spiel mit dem Wort con deutet, welches die Macht der unkontrollierten Erotik über das Politische denunziere und darauf ziele, dass Frankreich nun von der Königin oder einer femme du monde regiert werde,103 geht Hunt einen Schritt weiter und deutet den Körper der MarieAntoinette als Repräsentation der Bedrohungen, denen die Republik ausgesetzt ist. Die Königin könne als Sündenbock fungieren, indem die Angst vor der Entdifferenzierung der Geschlechter, die durch die Forderungen nach weiblicher Partizipation an der Politik aufkam, auf sie als Exempel für die Teilhabe einer Frau am Politischen projiziert werde.104 Ähnlich argumentiert Vinken, die den Körper der Königin als das Andere des regenerierten, männlichen Volkskörpers interpretiert, auf dem die »blinden Flecken« der republikanischen Ideologie sichtbar werden.105 Marie-Antoinette setze »ihr Fleisch an die Stelle des Buch-

101 Siehe Chantal Thomas: La reine sc8l8rate. Marie-Antoinette dans les pamphlets. Paris: Seuil 1989, S. 112. 102 Abgebildet sind beide in Claude Langlois: La caricature contre-r8volutionnaire. Paris: CNRS 1988, S. 140f. u. 143. Langlois zufolge könnte es sich um Madame de Condorcet handeln (ebd.: S. 142 u. 242). Vgl. zu den Karikaturen auch Vivian Cameron, die in Ma Constitution eine Repräsentation der Königin sieht (»Political Exposures: Sexuality and Caricature in the French Revolution«, in Lynn Hunt [Hg.]: Eroticism and the Body Politic. Baltimore/London: The Johns Hopkins UP 1991, S. 90–107, bes. S. 97f.). 103 Ebd.: S. 96–98. 104 »The Many Bodies of Marie Antoinette: Political Pornography and the Problem of the Feminine in the French Revolution«, in Hunt 1991: S. 108–130, hier bes. S. 110f. u. 123f., sowie dies. 1992: S. 114. 105 »Marie-Antoinette oder Das Ende der Zwei-Körper-Lehre«, in Hebekus/Matala de Mazza/ Koschorke 2003: S. 86–105, hier S. 87–89, das Zitat befindet sich auf S. 87. Vgl. hierzu Hunt: »[Marie Antoinette] was the negative version of the female icon of republican liberty but

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stabens und die Souveränität ihres Geschlechts, sich die Männer jenseits aller politischen Fraktionen hörig zu machen, gegen die konstitutionelle Monarchie«.106 Stephan Leopold fasst das von Vinken angedeutete Andere der Republik in Worte und liest den Stich als Repräsentation der »Kastrationswunde […], die der Republik als einer um die patria potestas gebrachten Gemeinschaft unweigerlich eingetragen ist. Mit der Enthauptung des Königs wird […] die Frage nach der Potenz der Republik […] akut.«107 Zwar ist der König im Jahr 1791 noch nicht enthauptet, aber die Macht wird schon unpersönlich, als die erste Konstitution die Nation hervorbringt, die sich »um eine körperlose Mitte herum konfigurieren [musste], und in dieser Mitte residierte ihre Gründungsurkunde, ein Text«.108 Eben dies bringt Ma Constitution zur Darstellung: Das weibliche Genital als Signifikant des Mangels an materieller Substanz wird zur Repräsentation par excellence für den Ort der Verfassung. Lafayette schwört nicht in erster Linie auf die Macht der Erotik, sondern auf das Nichts in der körperlichen Mitte der nationalen Ordnung. Der einzig denkbare Platz der phantasierten ›Kastrationswunde‹ der res publica befindet sich am Körper der Frau und dabei nicht allein an dem der Königin, sondern auch an dem der aristokratischen Revolutionssympathisantinnen M8ricourt oder Condorcet – letztere trägt den con sogar schon in ihrem Namen.109 In ihrer Reinform findet sich diese Vorstellung in La Conf8d8ration de la nature110 (Abb. 6), wo sich erigierte Droits de l’homme um eine Vulva scharen, die auratisch strahlt wie das ja ganz ähnlich geformte zentrale und körperlose Auge, wie man es aus Darstellungen des 9tre suprÞme111 oder revolutionärer Überwachungskomitees (Abb. 7) kennt.

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nonetheless iconic for the rejection [sc. of women from the political sphere, L.Z.].« (1991a: S. 126) Vinken 2003: S. 90. Leopold 2014: S. 18. Koschorke et al 2007: S. 246. Vgl. hierzu auch eine Radierung von 1789 mit dem Titel Necker fait prendre par un homme du tiers la mesure de nouveaux habits pour la France, die eine nackte Frau mit Königskrone darstellt (abgebildet bei Landes 2001: S. 143). Landes zufolge steht die Nacktheit für Frankreichs Rückkehr zu einer »wholly natural condition, before the country’s subjection to the overreaching power of a venal ruler. […] [T]he crown identifies France as a symbol for the new nation – inside of which the people still happily embraced their king.« (Ebd.: S. 142–144) Unkommentiert lässt sie, dass die Königskrone das Element ist, das die Allegorie Frankreichs implizit mit der Königin assoziiert. Abgebildet bei De Baecque 1993: Abb. 4. De Baecque kommentiert hier die Vorstellung einer Übertragung der königlichen Potenz auf die des Revolutionärs und dessen »puissance de procr8er«, also die »r8g8n8ration foutative« des »fouteur patriote« (ebd.: S. 74f.). Vgl. die Abbildungen bei Landes 2001: S. 100 oder Andr8 1993: S. 188.

Die phrygische Mütze, Marianne und Marie-Antoinette

Abb. 6: La Conf8d8ration de la nature. 1790. BibliothHque nationale de France, Paris

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Abb. 7: Comit8 de surveillance et r8volutionaire [sic] de Lille. 1793–94

So also kann es aussehen, wenn die Republik »den leeren Grund der Autorität selbst zur Darstellung bring[t]«112. Die Fixierung auf den weiblichen Körper nach der Gründung der Republik lässt sich mit dem von Thomas Laqueur beschriebenen Übergang vom one- zum two-sex-model greifen. In der Antike und bis zur Frühen Neuzeit wurde Laqueur zufolge die Anatomie als Ausdruck einer bestehenden Ordnung angesehen: Männliche Geschlechtsorgane waren körperliches Zeichen von Perfektion, Aktivität und Überlegenheit, weibliche wurden nicht als spezifische und von den männlichen Genitalien differenzierte Organe gesehen, sondern bezeugten Imperfektion, Passivität und Unterlegenheit. Der Körper wird so als Metapher und Illustration des Sozialen gesehen. Dabei geht das one-sex-model von einer Reversibilität der Geschlechter aus: In der Vorstellung konnte ein kastrierter Mann die Formen und Merkmale einer Frau annehmen.113 Setzt man Residuen des one-sex-models im kollektiven Imaginären der Revolutionszeit an,114 dann würde aus dem bis 1791 als männlich 112 So beschreiben Koschorke et al. eine Form der neuen republikanischen Ästhetik (2007: S. 256). 113 Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge u. a.: Harvard UP 1992, bes. S. 8, 27 u. 30f. 114 Wie es etwa Mechthild Fend tut, die in ihrer Studie zur Männlichkeit in der Kunst von 1750–

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

konzeptualisierten Staat infolge der Entmachtung und später Enthauptung des Königs ein ›entmannter‹ Staat, der dann im politischen Imaginären auch einen weiblichen Körper annimmt.115 Insofern droht Marie-Antoinette zur Verkörperung des neuen politischen Körpers zu werden. Gleichzeitig kann das two-sexmodel ebenfalls mit der in der Revolution erfahrenen konstitutiven Mangelhaftigkeit des corpus politicum und der Erfahrung des leeren Zentrums in Verbindung gebracht werden. Denn was in den Karikaturen über die res publica zur Anschauung kommt, ist nichts anderes als die Vorstellung einer fundamentalen und nunmehr irreversiblen Mangelhaftigkeit des weiblichen Geschlechts, die um 1800 ihren Siegeszug antritt.116 Bedrohlich ist das Bild einer lasziven Marie-Antoinette für die republikanische Ideologie schon deshalb, weil die Vaterlandsliebe, zu der der Citoyen jetzt angehalten wird, im Ancien R8gime untrennbar mit der Liebe zum König verknüpft war und Republikanismus und Patriotismus beispielsweise noch für Rousseau zumindest teilweise im Konflikt zueinander standen.117 Damit sich affektive Bindungen an das abstrakte Konzept der Nation heften konnten, bedurfte es, wie es einlässlich Landes’ Studie zeigt, einiger Anstrengungen und einer durchdachten Bilderpolitik.118 Insofern ist das Überleben der Königin nach dem Tod Ludwigs für die Republik in der Tat problematisch – nicht zuletzt auch weil der König als maritus reipublicae bezeichnet wurde.119 Es besteht die

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1830 feststellt, dass das moderne two-sex-model um 1800 noch nicht in aller Konsequenz durchgesetzt ist (Grenzen der Männlichkeit. Der Androgyn in der französischen Kunst und Kunsttheorie 1750–1830. Berlin: Reimer 2003, S. 7). Exemplarisch für diese Vorstellung steht das von Agulhon angeführte Zitat aus Jean Giraudoux’ Roman Bella (1926): »[Mo"se, l’homme de gauche,] appr8ciait / l’extrÞme les qualit8s f8minines de la France. Il sentait que changer un pays de royaume en r8publique 8tait en changer le sexe mÞme…«, wobei Agulhon selbst die Analyse der Vorstellung eines »sexe des Nations« von sich weist (1979: S. 235f.). Laqueur vertritt die These, dass fundamentale biologische Unterschiede dann gesucht und gefunden werden, wenn es politisch notwendig ist. Dies ist in der Revolution angesichts der Forderungen der Frauen nach politischer Gleichheit der Fall (1992: S. 5 u. 10). Vgl. hierzu auch unten Vorspiel, Kap. 1. Er schreibt in den Confessions: »Si cette folie [sc. la prise de position pour la France, L.Z.] n’eut 8t8 que passag8re je ne daignerois pas en parler ; mais elle s’est tellement enracin8e dans mon cœur sans aucune raison, que lorsque j’ai fait dans la suite / Paris l’antidespote et le fier r8publicain, je sentois en d8pit de moi-mÞme une pr8dilexion secrette pour cette mÞme nation que je trouvois servile, et pour ce gouvernement que j’affectois de fronder.« Er bezeichnet seinen Patriotismus schließlich gar als »penchant si contraire / mes maximes« (Œuvres complHtes. Bd. I: Les Confessions. Autres 8crits autobiographiques. Hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris: Gallimard [Pl8iade] 1959, S. 182). Siehe zur allmählichen Ablösung des Begriffs der »patrie« von der Person des Königs Jean-Yves Guiomar : L’identit8 nationale. Nation, repr8sentation politique et territorialit8. Neue überarb. Aufl. B8cherel: Les Pers8ides 2009, bes. S. 17–21 u. 47. Vgl. oben Anm. 8 und 45. Vgl. Ernst Kantorowicz, der das Beispiel von Charles de Grassaille anführt, der unter Franz

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Gefahr, dass Marie-Antoinette im kollektiven Imaginären zur Verkörperung der Nation wird. Wenn sich das bedrohliche konterdiskursive Imaginäre der Republik an den Körper der Königin heftet, kann man es allerdings auch mit diesem zu beseitigen versuchen. Hieran zeigt sich wieder, dass man die phobischen Assoziationen mit der Republik nicht allein einem konterrevolutionären, rechten und kritischen Standpunkt zuschreiben kann.120 Dass die Verknüpfung von Republik und Hure bis heute anhält und dabei nicht auf ein antirepublikanisches Imaginäres beschränkt ist, bezeugen schließlich Drohungen wie »Deine Vagina gehört allen!«, die sich ägyptische Frauen nach dem Sturz Mubaraks auf dem Kairoer Tahrirplatz von Männern anhören mussten, die die Symbolik der res publica allzu wörtlich nahmen und in Sade’scher Manier ihre eigene kleine Souveränität ausagieren wollten.121 In Frankreich wird das von der Republik ausgehende bedrohliche Imaginäre immer wieder auf ein klar definiertes Anderes projiziert, mit dem es dann abzuspalten versucht wird: Hugo zufolge begann der Bürgerkrieg im Juni 1848 damit, dass die Nationalgarde auf zwei filles publiques schoss, die, auf den Barrikaden stehend, ihren Unterleib entblößt hatten.122 Wie bei der Gründung der Zweiten wird auch zu Beginn der Dritten Republik auf Frauen wie auf das Volk geschossen, als die Pariser Kommune des Jahres 1871, die in Kunst und Literatur als hysterischer weiblicher Körper repräsentieren wurde,123 in einem

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I. den König einen maritus reipublicae nannte und erklärte, dass dieser beim matrimonium morale et politicum mit dem Königreich Frankreich von der respublica als Mitgift den Fiskalbesitz erhalte (The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theory. Princeton, New Jersey : Princeton UP 1957, S. 221). So etwa Agulhon 1979: S. 44f. u. 236. Vgl. oben Anm. 38. Vgl. zu den Massenvergewaltigungen auf dem Tahrirplatz Özlem TopÅu: »Deine Vagina gehört allen!«, in DIE ZEIT 8 (14. 02. 2013), S. 13. Als Ort, der das Imaginäre gleichzeitig spiegelt und kompensiert, war der Tahrirplatz in der ersten Hälfte des Jahres 2013 gleichsam das Heterotop der jungen ägyptischen Republik: Mit ihm betrat man einen praktisch rechtsfreien Raum (vgl. TopÅus Schilderungen), in dem jede Frau als pars pro toto für die Republik wahrgenommen und behandelt wurde und der Einzelne, der sich durch den Griff des Präsidenten Mursi nach der absoluten Macht um seine demokratische Mitbestimmung betrogen fühlte, mit der Frau kompensatorisch von der Republik Besitz zu ergreifen suchte. Vgl. zum Protest gegen Mursi Deutsche Welle, Nachrichtenredaktion: »Wütender Protest in Ägypten«, in Deutsche Welle, 23. 11. 2012, (Stand: 26. 03. 2016) und zum Begriff des Heterotops Michel Foucault: »Des espaces autres«, in ders.: Dits et 8crits 1954–1988. Bd. II: 1976–1988. Hg. v. Daniel Defert u. FranÅois Ewald. Paris: Gallimard 2001, S. 1571–1581. Er beschreibt die Szene in Choses vues. Vgl. dazu Hertz 1983: S. 28–32. Siehe hierzu einlässlich Janet Beizer : Ventriloquized Bodies. Narratives of Hysteria in Nineteenth-Century France. Ithaca/London: Cornell UP 1994, zu Maxime Du Camps Convulsions de Paris (1878–80) siehe S. 205–226. Beizer deutet die Konstruktion der Hysterikerin als Metapher und Mythos einer ›chaotischen‹ Epoche, als Reaktion auf die Auflösung politischer und sozialer Strukturen und die Demontage eines symbolischen Systems. Das postrevolutionäre Imaginäre, das von einem repräsentativen Vakuum ge-

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

Akt der Gründungsgewalt blutig niedergeschlagen wird.124 Die Vierte Republik hat ihr gewaltsames Gründungsmoment im Scheren derjenigen Frauen, die sich angeblich der ›horizontalen Kollaboration‹ schuldig gemacht haben. Diese Revirilisierungsstrategie125 nach der ›Vergewaltigung‹ Frankreichs durch die Deutschen lässt angesichts der republikanischen Tradition des Gründungsopfers hypersexualisierter Frauen auch eine nichteingestandene anxiety bezüglich des politischen Körpers der Republik erkennen. Die Fünfte Republik schließlich konstituiert sich mit einer Verlagerung der Gewalt in den Außenraum, nach Algerien, während im Innern die präsidentielle Exekutivmacht De Gaulles verstärkt wird, der sich 1958 als regelrechter »Mariannophobe«126 erwies. Die vor wenigen Jahren ausgestrahlte TV-Serie Maison close (Canal+, 2010/2013) dagegen zeugt davon, dass das beschriebene Imaginäre – bis hin zur (Beinahe-?)Kastration des allzu mächtigen Mannes in der letzten Episode der ersten Staffel127 – heute wieder zur Grundlage republikanischer Gründungsfiktionen und nationaler Identitätsentwürfe werden kann.

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Die Allegorie zwischen Dialektik und strategy of containment: Fragestellung

Die Allegorien der Republik zeugen über ihre manifeste Bedeutung hinaus von einem latenten Imaginären, das auf ein politisches Unbewusstes im Sinne Fredric Jamesons hinweist und in konterrevolutionären Diskursen expliziert werden kann. Jamesons marxistisch fundierter Literaturtheorie zufolge geben

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kennzeichnet ist, gründe solchermaßen auf dem hysterisierten Körper der Frau (ebd.: S. 8–11 u. 225f.). Vgl. zu Du Camp, der die Kommune mit Gustave Courbets Origine du monde (1866) assoziiert, auch Hertz 1983: S. 32–36. Vgl. zur Niederschlagung der Kommune als Gründungsopfer der Dritten Republik Stephan Leopold: »Einleitung: Die III. Republik zwischen Kataklysmus und Heilserwartung«, in ders./Dietrich Scholler (Hgg.): Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Französische Literatur und Kultur zwischen Sedan und Vichy. München: Fink 2010, S. 9–20, hier S. 13. Siehe zum Frauenopfer, das in BarrHs’ D8racin8s der »Vergemeinschaftung im Zeichen nationaler Vitalkräfte« vorausgeht, Dietrich Scholler : »Nationalvitalistische Bildung in Maurice BarrHs’ Roman Les d8racin8s«, in Leopold/D. S. 2010: S. 257–272, hier S. 267– 272. Vgl. zur politischen Bedeutung des weiblichen (Gründungs-)Opfers auch Leopolds Lektüren der Nouvelle H8loxse (2014: S. 371–391) sowie der Liaisons dangereuses (ebd.: S. 425–429) und Matthes 2000. Vgl. Fabrice Virgili: La France »virile«. Des femmes tondues / la Lib8ration. Paris: Payot et Rivages 2000, S. 304–311. Maurice Agulhon: »Postface«, in ders./Annette Becker/Pvelyne Cohen (Hgg.): La R8publique en repr8sentations. Autour de l’œuvre de Maurice Agulhon. Paris: Publications de la Sorbonne 2006, S. 405–419, hier S. 408. Mabrouck El Mechri/Jacques Ouaniche/Carlos da Fonseca Parsotam: Maison close. 3 DVDs. Studiocanal 2010, hier DVD 3, Episode 8.

Die Allegorie zwischen Dialektik und strategy of containment: Fragestellung

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Kunstwerke immer Auskunft über den geschichtlichen Kontext ihrer Entstehungszeit und insbesondere über deren politische und soziale Konflikte. Er gründet seine Theorie des politischen Unbewussten auf die Tradition der mittelalterlichen Bibelexegese und die Lehre des vierfachen Schriftsinnes, bei der die Allegorie den interpretativen Code bezeichnet, mit dem Texte auf plurale Bedeutungen hin geöffnet werden können.128 Den Begriff der politischen Allegorie im engeren Sinne verwendet er später allerdings für die Beschreibung von Texten, die repräsentative Typen (»types«) entwerfen, die einen direkten Blick auf den kollektiv-politischen oder historischen Bezugshorizont einer Narration ermöglichen.129 Solche deutlich konstruierten politischen Allegorien macht er insbesondere in literarischen Texten der sogenannten Dritten Welt aus. Diese unterscheiden sich von westlicher Literatur der bürgerlichen Moderne, weil sich die Erste Welt gegenüber der Dritten in der Situation des hegelianischen Herrn befinde, der nicht zu Bewusstsein kommen könne. Die Literatur der Industrieländer entwickle kein echtes politisches Bewusstsein und trenne Privates von Politischem.130 Letzteres bleibe deshalb auf der Ebene des Latenten, des Unbewussten, und bedürfe der Entschlüsselung.131 Das Allegorische hat bei Jameson also zwei Pole. Der erste, der einer konstruierten Bedeutung bzw. einer Investition mit politisch-ideologischem Sinn, wie sie auf Rezeptionsebene zum Beispiel der Bibelexegese und der Integumentumlehre eignen, entspricht Walter Benjamins »Wille[n] zur Allegorie«132. Hier kommt dem Gegenstand »an Bedeutung […] das hinzu, was der Allegoriker ihm verleiht: Er legt’s in ihn hinein […]. In seiner Hand wird das Ding zu etwas anderem, er redet dadurch von etwas anderem.«133 Der andere Pol ist der des politischen Unbewussten, des 128 The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act. London/New York: Routledge 2008 [zuerst 1981], S. 14–19 et passim. 129 Ebd.: S. 65. Jameson nennt exemplarisch u. a. Klassenrepräsentanten bei Balzac. 130 »Third-World Literature in the Era of Multinational Capitalism«, in Social Text 15 (Heft 3, 1986), S. 65–88, hier S. 68f. u. 85. 131 Ebd.: S. 79f. 132 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I.1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 203–430, hier S. 369. 133 Ebd.: S. 359. Gordon Teskey spricht angesichts der nachträglichen Sinnkonstruktion von der Gewalt der Allegorie sowie der Allegorese, bei der der Exeget dem Text ein Bewusstsein zuschreibe. Die Ausdeutung mehrerer Schriftsinne beruhe immer auf einem ›Input‹: »exegesis being always a function of eisegesis, or ›input‹« (Allegory and Violence. Ithaca/ London: Cornell UP 1996, S. 65, kursiv im Orig.). Die Gewalt von Allegorie und Allegorese führt Teskey auf ein Harmoniebedürfnis zurück: Wie die Allegorie, die verständliche Behauptungen aus dem (semantischen) Chaos heraus generiert, zwinge die Interpretation der erfahrenen heterogenen Unordnung des Kunstwerkes eine schematisch-einheitliche Ordnung auf (ebd.: S. 72 u. 76). Da kreative Arbeit die »imposition of a form […] on a relatively indifferent substance« (ebd.: S. 162) sei, formuliert er zugespitzt: »Allegory is produced out of a violence against the monumentality of previous works which is similar to the violence it

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

Subtextes, der latenten Bedeutung, die in einer gewissen Spannung zum manifesten Gehalt steht. Diese semantische Diskrepanz verhält sich analog zur radikalen Trennung von Signifikant und Signifikat, die Benjamin und im Anschluss an ihn besonders Paul de Man als das grundlegende Merkmal der allegorischen Anders-Rede beschrieben haben.134 Die Ermittlung eines politischen Unbewussten exemplifiziert Jameson am Beispiel der Gesichtsbemalung brasilianischer Indianer und deren Analyse durch Claude L8vi-Strauss. Die Gesichtsbemalungen der Caduveo haben ein symmetrisches Design, das das Gesicht durch eine horizontale und eine vertikale Achse teilt. Zusätzlich weisen sie eine schräge Achse auf, die die natürlichen, symmetrischen Strukturen der Gesichtszüge verzerrt. L8vi-Strauss deutet die ästhetische Spannung der Gesichtsbemalungen als Ausdruck des Sozialwesens der Caduveo, deren extrem hierarchische Gesellschaftsstruktur sowohl die Reproduktion als auch eine übergreifende soziale Kohäsion erschwert. Zwei Nachbarstämme der Caduveo zeichnen sich durch dieselbe asymmetrische Kastenordnung aus, kompensieren diese jedoch durch eine zusätzliche, symmetrische Einteilung der Gesellschaft in zwei kastenübergreifende Teilgruppen. Die symmetrische Struktur maskiert das asymmetrische Kastenwesen und entschärft die hierarchischen Konflikte. Die Caduveo, die ein solches zusätzliches System nicht entwickelt haben und deshalb unter sozialen Konflikten leiden, repräsentieren, so die These von L8vi-Strauss, das kompensatorische symmetrische System ästhetisch in ihren Gesichtsbemalungen. Diese lassen sich insofern als Ausdruck eines kollektiven Wunsches deuten.135 Jameson bezeichnet Kunstwerke deshalb als

directs against bodies […].« (Ebd.: S. 163) Vgl. zur Gewalt der »allegorischen Zerbröckelung und Zertrümmerung« auch Benjamin 1974: S. 364. 134 Vgl. zur Gegenüberstellung von manifester und latenter Bedeutung bei Jameson Adam Roberts: Fredric Jameson. London/New York: Routledge 2000, S. 58. Benjamin zufolge ist die rhetorische Struktur der Allegorie Ausdruck der fundamentalen Differenz von gefallenem Diesseits und verklärtem Jenseits im barocken Trauerspiel (1974: bes. S. 350–358). De Man geht von einer grundlegenden Gegenstrebigkeit des ›logischen‹ Aspektes eines Textes zur Rhetorizität der vom Autor verwendeten Sprache aus (Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. London: Methuen & Co. 21983, S. 11f., 133 u. 137, vgl. dazu auch Wlad Godzich »Caution! Reader at Work!«, in ebd.: S. XV–XXX). Allegorien des Lesens bzw. der Unmöglichkeit des Lesens reflektieren diese irreduzible Differenz von Signifikat und Signifikant und erzählen sie aus (Paul de Man: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven/London: Yale UP 1979, S. 200–205 u. 216, bes. S. 205). Zur reflexiven Einsicht der Allegorie siehe auch De Man 1983: S. 207, 209 u. 224. 135 Jameson 2008: S. 62–64. Zur ausführlicheren Darstellung der Analysen von L8vi-Strauss siehe Boris Wiseman: »L8vi-Strauss, Caduveo Body Painting and the Readymade. Thinking Borderlines«, in Insights 1 (Heft 1, 2008), S. 2–20, hier S. 2–6.

Die Allegorie zwischen Dialektik und strategy of containment: Fragestellung

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symbolic act, whereby real social contradictions, insurmountable in their own terms, find a purely formal resolution in the aesthetic realm. […] [T]he production of aesthetic or narrative form is to be seen as an ideological act in its own right, with the function of inventing imaginary or formal »solutions« to unresolvable social contradictions.136

Kunstwerke sind also symbolische Handlungen, die eine formal-ästhetische Bannung nicht aufzulösender Konflikte inszenieren: Sie sind strategies of containment. Indem ein Text die politisch erlebten Widersprüche und Konflikte symptomatisch ausdrückt und in eine ästhetische Form – etwa eine Narration – bringt, löst er den Widerspruch nicht auf, sondern führt eine Vereinigung rein formaler Art herbei. Um das politische Unbewusste in ästhetischen Produkten zu ermitteln, plädiert Jameson deshalb dafür, ihren zentralen Widerspruch aufzudecken und zu erörtern, welche sozial und politisch nicht gelösten Konflikte er reflektiert.137 Die mit dem bonnet rouge bekleidete R8publique ließe sich nun als Synthese deuten, die die königlich-virilen Assoziationen der phrygischen Mütze mit der weiblichen Verkörperung der Republik vereint. Die Allegorie, verstanden als ästhetisches Mittel der Vereinigung pluraler, ja sogar diskrepanter Signifikate, erscheint vor dem Hintergrund der oben dargestellten politischen Problematik der Republik als die Form par excellence, die dialektische Synthese der politischideologischen Konflikte des 19. Jahrhunderts auszudrücken. So wird sie zum »socially symbolic act«, als den Jameson literarische Formen beschreibt.138 Die übergreifende Totalität hegelianisch-marxistischer Tradition, die Jameson in der ästhetischen Form kultureller Artefakte vermittelt sieht,139 findet ihr ideologisches Gegenstück im Einheitsphantasma, das die Antithesen der politischen Gegner Frankreichs überwinden soll. Im Falle der Personifikationen der Republik ist die Synthese dennoch rein formaler Art. Sie zeugt gerade davon, dass der Widerspruch einer virilen republikanischen Nation, die sich mit dem König ihres Garanten nationaler Potenz entledigt hat, nicht gelöst ist, und lässt sich deshalb als strategy of containment deuten. Leopold kritisiert Jamesons Kategorie dafür, zu sehr auf die formale Schließung von Konflikten angelegt zu sein, und unterscheidet zwischen stillstellenden, diskursiven Werken und solchen, die Widersprüche konterdiskursiv hervortreiben.140 In der Unterscheidung einer harmonisierenden dialektischen Synthese jenseits der Antithesen von strategies of containment, die die Anti136 137 138 139 140

Jameson 2008: S. 64. Ebd.: S. 64–71. Den Begriff der strategy of containment nennt Jameson auf S. 37. Ebd.: S. 61 u. 70. Vgl. hierzu Roberts 2000: S. 35 u. 80f. Leopold 2014: S. 268f.

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

thesen gegeneinander ausspielen,141 scheint mir die zentrale Problematik des 19. Jahrhunderts zu liegen. Was in der Zweiten und Dritten Republik mit der Marianne au bonnet phrygien der Versuch einer dialektischen Synthese ist – dies suggeriert schon Ledru-Rollins Begriff der Transfiguration, der ›Verklärung‹ –, kann auch zur konterdiskursiven strategy of containment werden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den Widerspruch in der Repräsentation des political gender142 der Republik, seinen literarischen Ausdruck und seine – rein formalen oder politisch-ideologischen – ›Lösungen‹ näher zu untersuchen. Es stellt sich besonders die Frage, inwiefern das Begehren nach der Wiederverkörperung des monarchischen Gespensts143 in der Literatur zum Ausdruck kommt, als sich die Republik seit den 1880er Jahren konsolidierte und wie insbesondere Autoren, die nicht einfach zu einer monarchisch organisierten Gesellschaft zurückkehren wollen, mit diesem Begehren umgehen. Es sollen Strategien ermittelt werden, mit denen die Texte das Imaginäre der Republik bewältigen oder reflektieren. Zur Debatte steht dabei besonders, welche Funktion dem Allegorischen zukommt und welche Formen es annimmt. Da die Allegorie nach De Man schon per se eine formale Synthese semantischer Oppositionen darstellt, bietet sich die strategy of containment in besonderer Weise als Analysekategorie für die hier fokussierte Spannung zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem sowie zwischen Diskursivem und Konterdiskursivem an. Der Frage danach, ob die Texte ihre eigene konfliktuelle oder gar aporetische Struktur reflektieren, ließe sich mit De Mans Begriffen von Blindheit und Einsicht beikommen.144 Ein allegorischer Text kann sich als einsichtig und reflexiv oder als blind für die ›abwesende Ursache‹145 erweisen, deren ästhetischer Ausdruck er ist. 141 Vgl. ebd.: S. 266 u. 375. 142 Siehe zum Begriff Leopold 2010a: S. 14. 143 Der »spectre« des enthaupteten Königs, den Xuan Jing in Texten Stendhals und Flauberts nachverfolgt hat (»Le spectre de 93 – Der Kopf des Königs und der Realismus: Stendhal, Flaubert, Barthes«, in lendemains 36, Nr. 142/143, 2011, S. 191–221), versucht sich auch dann, wenn die französische Republik (mehr oder weniger) endgültig über die Monarchie gesiegt hat, immer wieder von Neuem zu verkörpern. Jean Garrigues führt das kollektive Begehren nach einem homme providentiel auf eine »permanence du sentiment monarchique« in der republikanischen Tradition zurück. Er bezeichnet eine Interpretation, die den Kult des großen Mannes als Faszination der politischen Rechten beschreibt, nicht zuletzt deshalb als reduktionistisch, weil sich die Versuchung, einen Retter der Nation zu ermächtigen, mit Napoleon den Royalisten ebenso wie den Jakobinern aufgedrängt habe (Les hommes providentiels. Histoire d’une fascination franÅaise. Paris: Seuil 2012, S. 447– 449 u. 453f., das Zitat befindet sich auf S. 448). Vgl. zum »Gespenst der Republik«, der diskursgeschichtlichen Verortung des »gespenstischen Souveräns« und seinem Verhältnis zu sakrifizieller Autorschaft Karin Peters: Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20. Jahrhundert. München: Fink 2013, bes. S. 69, 121 u. 124. 144 De Man 1983: bes. S. 4–18, 102ff., 137 u. 141. 145 Da Geschichte als solche immer nur textualisiert und in narrativer Form zugänglich ist, betrachtet Jameson sie im Anschluss an Althusser als eine ›abwesende Ursache‹, die auf die

Die Allegorie zwischen Dialektik und strategy of containment: Fragestellung

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Wenn Jameson von einer Trennung von Politischem und Privatem in der Literatur der Industrieländer spricht, geht er nicht darauf ein, dass das Politische seit der bürgerlichen Moderne auch über die Darstellungen der Libert8 hinaus allegorisch grundiert ist: Im biopolitischen Zeitalter wird die polis auf dem metonymischen männlichen Kollektiv modelliert; der politische Körper – Santners flesh – heftet sich als Zweitsinn an das Subjekt der Souveränität und dessen Körper. Dies stellt allerdings ein Problem für den rhetorischen Allegoriebegriff dar. Denn angesichts der metonymischen Konstruktionen des politischen Körpers steht der Aspekt des Uneigentlichen und der zumindest teilweise verborgenen allegorischen Anders-Rede in Frage. Wenn jede Inszenierung des individuellen Körpers immer schon auf den politischen Körper verweist, der Literalsinn also unlösbar mit seinem Figuralsinn verknüpft ist, dann kann die Beziehung zwischen beiden keine allegorische sein. Auf die problematische Grenzziehung zwischen einer Analyse nationalallegorischer Narrative und metonymischer Inszenierungen von Körperpolitik hat Doris Sommer in ihrer wegweisenden Studie zu lateinamerikanischen Nationbuildingromanen hingewiesen. Wegen der Interpenetration von nationaler und geschlechtlicher Identität moderner Subjekte begrenzt Sommer ihren Allegoriebegriff auf strukturelle Analogien zwischen politischen und narrativen Plots – in ihrem Fall Liebesgeschichten.146 Eben solche Analogien, in denen Vorstellungen über politische Strukturen oder Prozesse zum Ausdruck kommen und auf uneigentliche, allegorische Weise repräsentiert werden und die damit über eine metonymische Beziehung von corpus naturale und corpus politicum sowie die Verwendung traditioneller Staatsmetaphern hinausgehen, will ich untersuchen. Die Allegorie ist nach De Man immer schon Verweis eines Zeichens auf ein ihm vorausgehendes.147 Aufschluss über ein allegorisch zum Ausdruck kommendes Imaginäres oder auch politisches Unbewusstes können mithin besonders intertextuelle Bezüge als Spuren eines kollektiven Gedächtnisses, das von Text zu Text tradiert wird, geben. Das politische Imaginäre der Dritten Republik gründet nun auf den tradierten Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, die ihren Ursprung wiederum im Ancien R8gime haben. Deshalb will ich in einem ›Vorspiel‹ exemplarische Zeugnisse eines politischen Spiegelstadiums darstellen. Die Konfrontation von monarchischen Vorstellungen bei Guillaume Bud8 mit literarische Produktion einwirke und als das politische Unbewusste in Texten ausgemacht werden könne (Jameson 2008: S. 1–88, bes. S. 29, 39, 66–68 u. 88). 146 Foundational Fictions. The National Romances of Latin America. Berkeley u. a.: U of California P 1991, S. 37–41. »I take allegory to mean a narrative structure in which one line is the trace of the other, in which each helps to write the other, much as I took Anderson and Foucault to imply traces of each other’s discourse.« (Ebd.: S. 42) 147 Siehe De Man 1983: S. 207 und dazu Anselm Haverkamp/Bettine Menke: »Allegorie«, in Karlheinz Barck u. a. (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe. Studienausgabe. Bd. I: Absenz – Darstellung. Stuttgart u. a.: Metzler 2010, S. 49–104, hier S. 79.

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Einleitung: Das Imaginäre der Republik und die Allegorie

postrevolutionären, antimodernen Imaginationen von Chateaubriand, Balzac, Villiers de l’Isle-Adam und Maupassant verdeutlicht den Kontrast von monarchischer und republikanischer Subjektivität. Hier lassen sich empirisch die Bruchstellen der republikanischen Männlichkeitsrhetorik und das Bedürfnis nach einer rückversichernden Spiegelbeziehung zwischen König und Subjekt nachverfolgen. Die Gegenüberstellung zeigt, wie sich das Bild von der körperlichen ›Ansteckung‹ des Subjekts mit der Enthauptung des Königs durch das 19. Jahrhundert zieht, sich aber mit dem politischem Kontext auch wandelt. Ziel der Darstellung dieser Veränderungen ist es auch, Doris Kadishs Feststellung, der zufolge sich die Literatur des 19. Jahrhunderts als »repeated retelling of the story of the French Revolution« darstelle,148 zu präzisieren. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Wie reagiert die Literatur der Dritten Republik auf das antimoderne Imaginäre, dessen Spuren sich schon in der kompensatorischen Allegorik der radikalen Republikaner nachverfolgen lassen, das sich mit den literarischen Zeugnissen des 19. Jahrhunderts dem kollektiven Gedächtnis einprägt und das (spätestens) mit der Erfahrung von 1870/71 zu einem konterdiskursiven Imaginären wird, das den republikanischen Regenerationsdiskursen entgegenläuft? Die Literatur und Kultur um 1900 steht immer wieder im Fokus der Männlichkeitsforschung, zuletzt im von Gregor Schuhen herausgegebenen Band Der verfasste Mann. Die dort versammelten Beiträge setzen eine lange Reihe von Eckpunkten, die die Zeit um 1900 charakterisieren und vom Deutsch-Französischen Krieg über die Verstädterung und die Jugendbewegung bis zur Weltwirtschaftskrise reichen, in Relation zur Männlichkeit und fassen deren ›Krise‹ explizit nicht als »psychischen oder epochalen Zustand, sondern […] als Moment einer narrativen Struktur«.149 Während der Band ein »komplexes Krisennarrativ«150 anhand von Fallbeispielen aus Westeuropa und Lateinamerika in den Blick nimmt, möchte ich zeigen, wie französische (Kanon-)Autoren des 19. Jahrhunderts an einem nationalen Geschichtsnarrativ schreiben, dessen 148 Kadish 1991: S. 5. Hier wäre anzumerken, dass das allegorische Zeichen aufgrund seiner »rhetoric of temporality« (De Man 1983: S. 187ff., vgl. dazu Haverkamp/Menke 2010: S. 79), also der uneinholbaren Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem, ein Vorangegangenes nie einfach wiederholen kann. Vgl. zur allegorisch-verschobenen Darstellung der Revolution im 19. Jahrhundert auch Schor in ihrer Analyse zu Atala (1992: S. 144). Sie führt dies auf das Bedürfnis eines »therapeutic working-through of the trauma of the regicide and the shock of democraticization« (ebd.) zurück. 149 Walter Erhart: »Das zweite Geschlecht: ›Männlichkeit‹, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht«, in Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30 (Heft 2, 2006), S. 156–232, hier S. 223f., vgl. auch ebd.: S. 207 und Gregor Schuhen: »Crisis? What Crisis? Männlichkeiten um 1900. Eine Einleitung« in ders. (Hg.): Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900. Bielefeld: transcript 2014, S. 7–18, hier S. 9f. 150 Ebd.: S. 10.

Die Allegorie zwischen Dialektik und strategy of containment: Fragestellung

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identitätsstiftendes Potenzial sich um 1900 offenbart. In den daran anschließenden Kapiteln untersuche ich den ›Eckpunkt‹, den Schuhen in seiner Liste ex negativo »Ende der Monarchie«151 nennt und der im Band – anders als es dessen polysemer Titel vermuten lassen könnte – nur am Rande behandelt wird: Konstruktionen von Männlichkeit, die durch die republikanische Verfassung konstituiert sind und die zugleich Aufschluss geben über die Verfassung und das Imaginäre der Republik. In Lektüren von Texten des Fin de SiHcle und der Jahrhundertwende untersuche ich in einem ersten Teil die narrative Gestaltung der Krise und synthetisierende Lösungen bzw. Lösungsversuche der geschilderten Problematik, um im zweiten Teil reflexiv-dialogische Reaktionen auf diese Lösungsversuche in den Blick zu nehmen. Auf der Grundlage dieser Lektüren sollen abschließend Formen und Funktionen des Politisch-Allegorischen um die Jahrhundertwende näher bestimmt werden.

151 Ebd.: S. 11.

Vorspiel: Das Imaginäre politischer Männlichkeit vom Ancien Régime zur Dritten Republik

1.

Republik und Kastration: Forschungsfragen

Bevor ich die Spiegelbeziehung von Subjekt und corpus politicum an exemplarischen literarischen Texten nachzeichne, möchte ich kurz einige Fragen skizzieren, die sich die Forschung in diesem Zusammenhang gestellt hat: Anfang der 1980er Jahre hat Neil Hertz Beispiele von Kastrationsangst angesichts revolutionärer Veränderungen beschrieben.1 Anschließend wurden insbesondere Balzacs Kastrationsphantasien in den Kontext fragwürdig gewordener väterlicher Autorität gestellt: Janet Beizer etwa liest die ödipalen und bisweilen mit der Kastration endenden Plots als nostalgischen Ausdruck eines Gefühls transzendentaler Obdachlosigkeit.2 Pierre Danger stellt mit Blick auf Balzacs Schilderungen eines verweiblichten Frankreichs als dem »pays le plus femelle du monde«3 eine klare Diagnose: La d8capitation du Roi peut Þtre interpr8t8e comme la figure embl8matique de cette castration du pHre qui est / la source […] de tous les comportements narcissiques et castrateurs de la femme dans l’œuvre de Balzac. […] [C’est] un monde plac8 sous le signe de la castration, oF tous les hommes portent la marque de ce manque essentiel qui ne fait que reproduire la grande castration historique op8r8e par la R8volution.4 1 Vgl. oben Einleitung, Kap. 2. 2 Family Plots. Balzacs Narrative Generations. New Haven u. a.: Yale UP 1986, bes. S. 4–11, 48– 99 u. 180–186. 3 So Balzac in der Duchesse de Langeais (La Com8die humaine. Bd. V. Hg. v. Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard [Pl8iade] 1977, S. 930, siehe auch Pierre Danger : L’8ros balzacien. Structures du d8sir dans la Com8die Humaine. Paris: Jos8 Corti 1989, S. 159. Ich zitiere die Com8die humaine in der Pl8iade-Ausgabe von 1976–81 im Folgenden mit der Sigle CH unter Angabe von Band und Seitenzahl). Danger nennt Balzacs Frankreich ein »pays 8mascul8« (1989: S. 165). 4 Ebd.: S. 159f. Balzacs Satz »En coupant la tÞte / Louis XVI, la R8volution a coup8 la tÞte / tous les pHres de famille« aus M8moires de deux jeunes mari8es (CH I: 242, vgl. Danger 1989: S. 158) wird noch immer gerne von nostalgischen Royalisten angeführt, vgl. etwa L’abb8 Guillaume de Tanoüarn: »Pourquoi j’aime la monarchie franÅaise«, , 22. 01. 2012 (Stand: 26. 03. 2016).

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Vorspiel: Das Imaginäre politischer Männlichkeit

Die psychoanalytische Identifizierung von Enthauptung und Kastration genügt Danger zur Begründung der fiktionalen Phantasmatik, weshalb er den Zusammenhang nur mit einem knappen Hinweis auf den Verlust des Königs als dem Prinzip politischer Einheit erläutert.5 Eine systematische Beschreibung der politischen Gendersemiotik im französischen und englischen Roman der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts hat zu Beginn der 1990er Jahre erstmals Doris Kadish vorgeschlagen und sich dabei insbesondere auch phobisch besetzten Repräsentationen der entdifferenzierenden Folgen der Revolution gewidmet.6 In den Kontext der um den Bicentenaire ebenfalls intensiv erforschten Körperpolitik der Revolution stellt Peter Brooks den Zusammenhang von Politischem und Privatem und die Semiotisierung postrevolutionärer Körper bei Balzac.7 Begründungen der Assoziation von Kastrationsangst und Enthauptung greifen immer wieder auf Metanarrative wie etwa die geisterhaft-phantasmatische Rückkehr des kastrierenden und strafenden Vaterkönigs zurück.8 Dies ist wohl der Grund dafür, dass Lynn Hunt in The Family Romance of the French Revolution einen Rückgriff auf Freuds individualpsychologische Konzepte von vornherein ausschließt.9 Will man Metanarrationen vermeiden, dann muss man 5 Danger 1989: S. 159. Vgl. zur äquivalenten Symbolik von Kastration, Haareschneiden und Enthauptung Sigmund Freud: Studienausgabe. Bd. II: Die Traumdeutung. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main: Fischer 1972, S. 351. 6 Kadish 1991. Ähnlich wie Kadish führt Margaret Waller die romantische Krise der Männlichkeit auf eine unsicher gewordene Geschlechterdifferenz zurück. Die mal du siHcle-Texte verhandeln, so argumentiert sie mit Bezug auf Pierre Barb8ris, gesellschaftspolitische Ohnmachtsgefühle erst der Aristokraten und dann bürgerlicher Liberaler (The Male Malady. Fictions of Impotence in the French Romantic Novel. New Brunswick, New Jersey : Rutgers UP 1993, S. 2, 19f. u. 176). Waller wundert sich allerdings darüber, dass politisch erlebte Ohnmacht gerade zu dieser Zeit fiktional mittels einer Geschlechtermetaphorik verarbeitet wird: Angesichts einer Politik, die die männliche Hegemonie mit der Verdrängung der Frau aus dem politischen Raum bestärkt hat, hätten die Romantiker doch eigentlich ihre neue Macht feiern müssen. Sie fragt sich deshalb, ob man das »paradoxical timing« der Proliferation an Fiktionen männlicher Impotenz und die »apparent anomaly« auf biographische Gründe zurückführen müsse (ebd.: S. 20f.). Vgl. zu krisenhafter Männlichkeit in der bildenden Kunst Abigail Solomon-Godeau: Male Trouble. A Crisis in Representation. London: Thames and Hudson 1997 und, zum Teil zu denselben Gegenständen, Fend 2003. 7 Body Work. Objects of Desire in Modern Narrative. Cambridge, Mass./London: Harvard UP 1993, S. 54–87. Brooks’ knappe Überlegungen zu Mutilationsphantasien, die in Une passion dans le d8sert sowie in Sarrasine (beide 1830) die Erzählung auslösen (ebd.: S. 79–82), greift Jean-Marie Roulin auf in »Corps, litt8rature, soci8t8 (1789–1900)«, in ders. (Hg.): Corps, litt8rature, soci8t8 (1789–1900). Saint-Ptienne: Publications de l’Universit8 de Saint-Ptienne 2005, S. 7–28, hier S. 8–10 u. 26. 8 Siehe zum Beispiel Daniel Sangsue: »De quelques tÞtes coup8es dans la litt8rature du XIXe siHcle«, in Jean Clair (Hg.): Crime & ch.timent. Ausstellungskatalog. Paris: Gallimard 2010, S. 75–83, hier S. 83. 9 Hunt interpretiert die Politik der Revolutionäre vor dem Hintergrund von Freuds Totem und Tabu sowie seinen Theorien zum Familienroman. Sie äußert Skepsis an der wissenschaftlichen Grundlage der Psychoanalyse, ist jedoch davon überzeugt, dass Politik auf Imagination

Republik und Kastration: Forschungsfragen

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fragen, warum auf den politischen Vatermord das Gefühl einer Emaskulation folgt. Pierre Laforgue deutet dieses in der Literatur der Restauration sowie der frühen Julimonarchie gehäuft auftretende Phänomen als symbolischen Ausdruck der Dysfunktionalität der modernen, materialistischen Gesellschaft, die sich in einem gestörten Geschlechterverhältnis niederschlage.10 Die problematische Genderidentität junger Männer führt er darauf zurück, dass diese nach dem Ende der napoleonischen Ära mangels legitimer Väter daran scheitern, sich als eigenständige Subjekte zu konstituieren.11 Eine dazu komplementäre Begründung formuliert zeitgleich James Creech: Das von Balzac beschriebene postrevolutionäre Subjektivitätsmodell lege nicht mehr das verkörperte Subjekt des verkörperten Königs – so Creechs vage Formulierung »the embodied subject of an embodied king«12 –, sondern ein selbstbewusstes Subjekt des Begehrens zu Grunde. Die Ereignisse des Jahres 1830 wiederholen die traumatische coupure von 1793, die klare Klassen- und Geschlechteroppositionen zerstört und ein Gefühl der generalisierten Entdifferenzierung erzeugt hat. Mit der transzendental legitimierten Monarchie fällt eine symbolische Ordnung, in der die Zeichen noch eindeutig auf ein referentiell verbürgtes Sein verweisen konnten. Gerade die Zeichen der Männlichkeit sind jetzt in Frage gestellt und bedürfen des Beweises. Balzacs zwischen 1830 und 1835 verfasste Texte entwerfen Creech zufolge nun kein körperlich, sondern ein psychisch kastriertes Subjekt, das seinen konstitutiven Mangel nicht stillen kann. Balzac fasse diese Konsequenz der Revolution in Sarrasine mit dem Bild einer ansteckenden Kastration. Seine Texte umschreiben den neuen epistemologischen Moment einer Geschlechterdifferenz, die auf der Vorstellung von Kastration und Mangel beruht, und koppeln damit das, was später von Lacan zur grundlegenden Struktur des Begehrens erhoben werden wird, an einen spezifischen historischen Zeitpunkt.13

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beruht (1992: S. xv u. 7f.). Einen ähnlichen Ansatz wählt Andr8 1993, der allerdings die Analyse von Kastrationsphantasien nicht ausschließt. L’8ros romantique. Repr8sentations de l’amour en 1830. Paris: PUF 1998, bes. S. 10, 15–22, 35, 130–132 u. 146. In ders.: L’Œdipe romantique. Le jeune homme, le d8sir et l’histoire en 1830. Grenoble: ellug 2002, bes. S. 11–17, 47f. u. 55f. Schon Sara Melzer und Leslie Rabine weisen in ihrer Einleitung zu Rebel Daughters auf das Problem der postrevolutionären Männer hin, sich selbst ohne den König als autonome Individuen zu repräsentieren (»Introduction« in dies. 1992: S. 3–11, hier S. 5f.). »Castration and Desire in Sarrasine and The Girl with the Golden Eyes: A Gay Perspective«, in Martine Antle/Dominique Fisher (Hgg.): The Rhetoric of the Other. Lesbian and Gay Strategies of Resistance in French and Francophone Contexts. New Orleans: UP of the South 2002, S. 45–63, hier S. 47. Ebd.: S. 45–54, bzgl. der coupure von 1793/1830 verweist Creech auf die Studien von Nicole Mozet. Sein Fazit lautet: »[T]he post-revolutionary subject of desire should be seen […] as a concomitant to a particular crisis of meaning, value, and sexuality in which, though no body is cut, every-body seems castrated. This is an ongoing crisis marked by endless repetitions of

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Vorspiel: Das Imaginäre politischer Männlichkeit

Indem Creech die psychische Kastration auf das unstillbare Begehren zurückführt, begründet er sie mit einem Subjektivitätsmodell, das zwar bei Balzac historisch situiert wird, das jedoch das christliche Abendland seit jeher bestimmt. Das im permanenten Aufschub gefangene Subjekt des Begehrens entsteht mit dem theologischen Verständnis des Sündenfalls, das den Gefallenen Erlösung erst im Jenseits verheißt.14 Balzac säkularisiert dieses Modell und entwirft ein Subjekt, das seine Heilserwartung in Form persönlichen Reichtums ins Diesseits verlagert hat. Es ist aus Balzacs Perspektive insofern verblendet, als es vergessen zu haben scheint, dass es mit dem König von Gottes Gnaden den Garanten jeden Heils verloren hat. An Balzac lässt sich also Renata Salecls Feststellung, nach der »das Subjekt auch in der vormodernen Gesellschaft der Kastration unterworfen war, […] die Kastration [jedoch] erst mit der Erfindung der Demokratie sichtbar«15 wurde, belegen. Figuren wie der impotente und folglich infertile Revolutionsgewinnler Du Bousquier aus La Vieille Fille (1836/ 37) offenbaren dabei, dass die symbolische Emaskulation bei Balzac nicht nur die gesellschaftlichen Verlierer betrifft, sondern auch diejenigen, deren politisches und soziales Begehren erfüllt wird. Gerade bei solchen Figuren versteckt sich die Mangelhaftigkeit unter einer Oberfläche, die Potenz suggeriert.16 Die Studien zu Balzac zeigen, dass die Genderproblematik des modernen Subjekts mit der Enthauptung des Königs und der republikanischen bzw. jeder auf die Volkssouveränität gegründeten Ordnung verknüpft wird. Hier offenbart sich ein Imaginäres, das mit den Diskursen über das regenerierte männliche Kollektiv des republikanischen Nationalkörpers in Konflikt steht.17 Es bildet die Antithese zu Inszenierungen eines euphorischen ödipalen Begehrens, bei denen das potente Subjekt an die Position des (politischen) Vaters zu treten versucht und von der noch validen repressiven Macht kastriert wird – Rousseaus Nouvelle H8loxse und Stendhals Le Rouge et le Noir entwerfen hierfür die Prototypen.18 An

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a traumatized way of thinking, and is inextricably linked to the gyno- and homophobia that we have inherited […].« (Ebd.: S. 63) Vgl. zusammenfassend zur Kluft von d8sir und plaisir im christlichen Abendland Leopold 2014: S. 97–107. Salecl 1994: S. 76, kursiv im Orig., vgl. auch oben Einleitung, Kap. 2, Anm. 80. Siehe zur aporetischen Struktur der Vieille Fille, in der sich der mächtige, aber sexuell impotente Repräsentant der Revolution und der sexuell potente Vertreter des entmachteten Adels gegenüberstehen, Jameson 2008: S. 148–154 sowie unten Teil 1, Kap. IV.1.4. Vgl. zur drohenden Feminisierung Frankreichs infolge der Demokratisierung auch Venita Datta: Heroes and Legends of Fin-de-SiHcle France. Gender, Politics, and National Identity. Cambridge: Cambridge UP 2011, S. 140. Eine alternative Perspektive, die die Emergenz neuer Formen von Männlichkeit in den Blick nimmt, bietet der Sammelband von Daniel Maira/Jean-Marie Roulin (Hgg.): Masculinit8s en r8volution. De Rousseau / Balzac. SaintPtienne: PU de Saint-Ptienne 2013, siehe bes. die Einleitung der Herausgeber : »Constructions litt8raires de la masculinit8 entre LumiHres et Romantisme«, S. 9–28. Stendhal nimmt die symbolische Kastration, die Enthauptung des schließlich zum Vater

Das Subjekt vor dem Spiegel

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exemplarischen Beispielen werde ich dieses Imaginäre deshalb von vorrevolutionären Vorstellungen bis zur Dritten Republik verfolgen und anhand der diachronen Achse zeigen, wie sich die Symptomatik in verschiedenen Situationen entfaltet, dabei ambivalent besetzt wird, insbesondere allegorischen Ausdruck erfährt und sich ins historische Gedächtnis einschreibt.

2.

Das Subjekt vor dem Spiegel: Budé, Chateaubriand, Balzac, Villiers de l’Isle-Adam, Maupassant

In seiner Studie zur Übertragung der im Ancien R8gime durch den absoluten Souverän garantierten Einheit auf die bürgerliche Nation beschreibt Jean-Yves Guiomar das Verhältnis des Bourgeois zu seinem König und diskutiert in diesem Zusammenhang ein Königsporträt in Guillaume Bud8s Institution du Prince (um 1522). Guiomars Differenzierung eines natürlichen von einem imaginären königlichen Körper – die von Kantorowicz’ sowie von Lacans Terminologie profitiert hätte19 – bietet aufschlussreiche Einsichten in die Spiegelbeziehung von Untertan und König, eine Beziehung, die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass der Monarch den Bourgeois adeln und als homme de qualit8 auszeichnen, ihn also über andere stellen kann.20 Bud8, ein Höfling und Notabel bürgerlicher Herkunft, beschreibt in seinem Fürstenspiegel für Franz I. den idealen König und kreiert dabei einen imaginären Körper, der das corpus naturale des Monarchen übersteigt. Indem sowohl der König als auch die Nation die Schönheit und die Größe des Monarchen in der Perfektion seines Körpers sehen können, werde Bud8s Text, so Guiomar, zum Spiegel. Bud8 spielt bei der Beschreibung des Verhältnisses von schauendem und geschautem Körper mit sexuellen Konnotationen und distanziert sich dabei auffällig von effeminierten Männern, die er vom idealen königlichen Körper gewordenen Julien, bildlich schon zu Beginn seines Romans vorweg, wo die männlich-virilen Bäume im Auftrag Monsieur de RÞnals, des Vaters und Bürgermeisters, beschnitten werden (Œuvres romanesques complHtes. Bd. I. Hg. v. Yves Ansel u. Philippe Berthier. Paris: Gallimard [Pl8iade] 2005, S. 355f.) Juliens Potenz, die bereits von der Säge im Sägewerk seines Vaters unterdrückt wurde, zeichnet auch Rousseaus Saint-Preux aus, der sie schon im Namen trägt und sie unter Beweis stellt, indem er Julie schwängert (siehe zu Saint-Preux Leopold 2014: S. 357f., zu dessen ›Kastration‹ durch M. de Wolmar siehe ebd.: S. 369). Der konterrevolutionäre Romantikkritiker Pierre Lasserre beschreibt ihn dennoch als Exemplum für die »d8cadence masculine« der impotenten Romantiker (Le Romantisme franÅais. Essai sur la R8volution dans les sentiments et dans les id8es au XIXe siHcle [1907]. Paris: Mercure de France 51913, S. 155, vgl. zu Lasserre unten Kap. 3). 19 Dass Guiomar Kantorowicz (1957) nicht rezipiert, liegt nicht daran, dass er sich von ihm abgrenzen möchte, sondern schlicht daran, dass er ihn nicht gelesen hat (so Guiomar 2009: S. 62, Anm. 8). 20 Ebd: S. 56f., im Orig. kursiv.

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Vorspiel: Das Imaginäre politischer Männlichkeit

abgrenzt. Bud8s Blick auf den König repräsentiere den der gesamten Gesellschaft, die nach dem Modell der sozialen Beziehung zwischen Bud8 und seinem König entstehen soll.21 Die Beschreibung oszilliert dabei ständig zwischen der Referenz auf den realen und einen imaginierten, vergöttlichten Körper des Königs: »Bud8 8crivant cr8e le roi : il le fait roi-pour-Bud8, roi selon l’id8al de Bud8. DHs lors, il n’y a de roi que par la parole de Bud8 […].«22 Die Konstruktion des königlichen Bildes als Spiegelbild des Höflings beschreibt Guiomar folgendermaßen: D’un cit8 plaÅons Bud8, qui se regarde dans le roi repr8sentant et affirmation de sa pl8nitude, de sa perfection / lui, Bud8. De cet homme singulier, FranÅois Ier / ce moment (mais tout autre roi aussi), il fait l’homme universel, un monarque. De l’autre cit8, il y a le roi, qui se voit regard8 par l’un de ses sujets. Entre les deux regards, il y a l’espace d’une (double) possession imaginaire. Mais l’imaginaire tient / ce qu’il ne s’agit pas de deux regards fix8s l’un sur l’autre : il y a le suppos8 miroir / deux faces adoss8es ; sur chaque face se tient un corps imag8.23

Guiomar verwendet den Begriff der Identifikation des Blickenden mit dem Angeblickten nicht; um eine solche handelt es sich hier allerdings zweifellos. Bud8s Beschreibung ist die eines politischen Spiegelstadiums, in dem sich der Untertan seiner selbst durch den Anblick des Monarchen vergewissert. Das Subjekt erfährt seine eigene Ganzheit (»pl8nitude«, »perfection«) durch den Blick in den Spiegel, in dem er den König sieht oder besser : liest. Die imaginäre Gestalt, zu der Bud8 den realen Körper stilisiert, macht aus dem König eine spekular erfahrene Ganzheit. Voraussetzung dafür ist die Idee eines politischen Körpers, die aus der persona personalis des Königs eine persona idealis macht und, wie es Kantorowicz beschreibt, erst das Bild eines perfekten Königs entstehen lässt.24 Die Subjektkonstitution in der Monarchie gründet also auf der Wiedererkennung des Selbst im (scheinbar) idealen monarchischen Spiegelbild, das dem Bereich des lacanianischen Imaginären angehört.25 Der Untertan – anders als das Deutsche vermittelt das Französische die Ambivalenz des Begriffes sujet – kann sich selbst in der gespiegelten, idealisierten Männlichkeit des 21 Ebd.: S. 57–64. Guiomar zitiert das Manuskript N8 5103 von Guillaume Bud8: L’institution du Prince aus der BibliothHque de l’Arsenal nach Claude Bontems: Le Prince dans la France des XVIe et XVIIe siHcles. Paris: PUF 1965. 22 Guiomar 2009: S. 61. 23 Ebd.: S. 62, Hervorh. im Orig. 24 Siehe Kantorowicz 1957: hier bes. S. 400. Besonders in Frankreich wurden in den lebenden, individuellen König Merkmale einer lebendigen persona idealis ›hineingelesen‹ (ebd.: S. 409). 25 Vgl. zur Subjektkonstitution im Absolutismus, der die bei Bud8 thematisierte Spiegelung noch auf die Spitze treibt, Mitchell Greenberg: Subjectivity and Subjugation in SeventeenthCentury Drama and Prose. The Family Romance of French Classicism. Cambridge: Cambridge UP 1992, S. 1–21, bes. S. 10f. u. 20.

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königlichen Ideal-Ich (je-id8al) als potent und vollständig erleben wie das Kind, das Lacan zufolge im Spiegel das ideale Bild seiner eigenen Autonomie zu erkennen meint.26 Bud8s Beispiel zeigt deutlich, dass dieses Ideal-Ich im Grunde immer schon eine Fiktion ist – Theweleit wird es eine »Phallusattrappe« nennen.27 Bud8 beschreibt mit Franz I. den König, unter dem der französische Zentralismus entsteht und mit dem die nationale Identität erstmals die regionalen Identitäten überlagert.28 Da die nationale Identität über die Bündelung der Blicke aller Untertanen auf den König vermittelt werde, könne die bürgerliche Nation auf relativ unproblematische Weise entstehen: [L]’histoire de la prise du pouvoir de la bourgeoisie entre le XVIe et le XIXe est l’investissement par cette bourgeoisie du corps imaginaire qui vide peu / peu l’autre centre [sc. le corps r8el du roi, L.Z.] de toute r8alit8. […] Le corps imaginaire du roi est la figure sous laquelle appara%t la nation.29

Dass der Übergang von der Subjektkonstitution in der Monarchie zur Volkssouveränität nicht ganz so einfach ist, beweisen allerdings die literarischen Zeugnisse des 19. Jahrhunderts. *** Die von FranÅois-Ren8 de Chateaubriand in den M8moires d’outre-tombe geschilderten Erlebnisse zeugen von einem äußerst ambivalenten Verhältnis zu Revolution und Republik. Als der tiefreligiöse Royalist sein Heimatland aufgrund der dort erfahrenen Grausamkeiten für eine Forschungsreise verlässt, ist sein Ziel – die Vereinigten Staaten – nicht dem Zufall geschuldet. Auf seiner Reise nach Louisiana, das er in Atala zu einem verlorenen Paradies stilisieren wird,30 kehrt er symbolisch ins Land Ludwigs zurück. Die ehemalige Kolonie evoziert Frankreichs große Vergangenheit und lässt die Schrecken der Revolution zumindest vordergründig hinter dem Schleier des idyllischen locus amoe26 Jacques Lacan: »Le stade du miroir«, in ders.: Ecrits I. Paris: Seuil 1966, S. 89–97, hier S. 90f. Theweleit verwendet für die Beschreibung der Identifikation mit dem phallischen Führer den Begriff des Ich-Ideals und folgt damit Freuds Terminologie in »Massenpsychologie und IchAnalyse«, in ders. 1974: S. 61–134, hier S. 100f., 108, 119f. u. 122. Die Aufspaltung des Konzepts durch Lacan ermöglicht jedoch eine präzisere Beschreibung monarchischer und republikanischer Subjektkonstitution. Siehe hierzu unten, Kap. 3. 27 »Die Unterwerfung unter einen Führer in einem Ganzheitsgebilde beläßt den aufrechten (folgsamen, älteren) Sohn nicht nur im Besitz der Phallusattrappe im Namen des Gesetzes; sie verschafft ihm erst Zugang zu ihr.« (Theweleit 1980: Bd. II, S. 366–368, vgl. auch oben Einleitung, Anm. 57) 28 Guiomar 2009: S. 53–55. 29 Ebd.: S. 64f. 30 Vgl. Œuvres romanesques et voyages. Bd. I. Hg. v. Maurice Regard. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1969, S. 33. Seitenangaben folgen unter der Sigle CHR im laufenden Text.

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nus, der den Namen des französischen Monarchen trägt, verschwinden. Dennoch dient die Reise einer Reflexion über die revolutionären Geschehnisse in Frankreich: So handelt Atala auch vom Einbruch der Gewalt ins Paradies, wenn dort eine Indianerin vom Aufstand der Natchez berichtet, der von den Franzosen in einem Massaker niedergeschlagen wurde (CHR: 96f.).31 In den M8moires reflektiert Chateaubriand aber auch darüber, dass er in Nordamerika die ideale Republik erfahren konnte. George Washington vergleicht er mit Cincinnatus, der im politischen Ausnahmezustand, anders als Napoleon, die Alleinherrschaft nicht an sich zu reißen versucht hatte.32 Obwohl er auf die Heterogenität und die innere Uneinigkeit der USA hinweist, erscheinen ihm diese als die idyllische Version einer Republik, deren Unordnung er in Frankreich hatte erleben müssen (MOT: 270–276).33 Über die expliziten Reflexionen zur Republik hinaus findet sich hier auch eine Passage, die von den phantasmatischen Besetzungen der Revolution zeugt. Chateaubriand schildert im achten Kapitel des siebenten Buches seine Besichtigung der in der Nähe eines idyllischen indianischen Dorfes gelegenen Niagarafälle. In Szene gesetzt wird hier eine politische Konnotation der Naturerfahrung, die die wiederkehrende Kontrastierung von friedlicher Natur und gewaltsamer Politik (z. B. MOT: 230f. u. 268f.) Lügen straft. Bei seiner Ankunft bei den Katarakten empfindet er »une joie mÞl8e de terreur« (MOT: 243), sodass ihn sein Führer am Abgrund, vor dem das Wasser in die Tiefe rauscht, zurückhalten muss: [I]l m’arrÞta au rez mÞme de l’eau, qui passait avec la v8locit8 d’une flHche. Elle ne bouillonnait point, elle glissait en une seule masse sur la pente du roc ; son silence avant sa chute formait contraste avec le fracas de sa chute mÞme. L’Pcriture compare souvent un peuple aux grandes eaux, c’8tait ici un peuple mourant, qui, priv8 de la voix par l’agonie, allait se pr8cipiter dans l’ab%me de l’8ternit8. […] Le guide me retenait toujours, car je me sentais pour ainsi dire entra%n8 par le fleuve, et j’avais une envie involontaire de m’y jeter. Tantit je portais mes regards amont, sur le rivage, tantit aval, sur l’%le qui partageait les eaux et oF ces eaux manquaient tout / coup, comme si elles avaient 8t8 coup8es dans le ciel. AprHs un quart d’heure de perplexit8 et d’admiration

31 Vgl. zu den Parallelen der Gewaltdarstellungen in Les Natchez mit der Gewalt der Französischen Revolution Anne-Sophie Morel: Chateaubriand et la violence de l’histoire dans les M8moires d’outre-tombe. Paris: Honor8 Champion 2014, S. 383f. 32 M8moires d’outre-tombe. Bd. I. Hg. v. Maurice Levaillant u. Georges Moulinier. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1951, S. 220–223. Seitenangaben folgen unter der Sigle MOT im laufenden Text. 33 Dass Chateaubriand in Les Natchez nicht bei dieser einfachen Gegenüberstellung stehen bleibt, notiert Jean-Paul Cl8ment: »La fascination du politique«, in Jean-Claude Berchet/ Philippe Berthier (Hgg.): Chateaubriand m8morialiste. Colloque du cent cinquantenaire (1848–1998). Genf: Droz 2000, S. 277–290, hier S. 281.

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ind8finie, je me rendis / la chute. […] Je ne pouvais communiquer les pens8es qui m’agitaient / la vue d’un d8sordre si sublime. (MOT: 243f., meine Hervorh.)

Während die Beschreibung der Landschaft in der Nähe der Niagarafälle im G8nie du Christianisme (1802) die metaphysische Erfahrung im Angesicht des Göttlichen fokussiert,34 dominiert hier die Schilderung der überwältigenden Anziehungskraft, von der sich das erzählte Ich in die stürzenden Wassermassen gezogen fühlt. Die dabei verwendeten Bilder evozieren vielleicht einen göttlichen Schöpfer, ähneln allerdings stark einem überaus materiellen Objekt – der Guillotine: Das Wasser schäumt und brodelt nicht, sondern erscheint wie eine einzige Masse, die pfeilschnell in die Tiefe gleitet. Das gleich zweimal gebrauchte Verb bouillonner (MOT: 243 u. 245) zeichnet eine paronomastische Ähnlichkeit zur Guillotine aus. Die Insel inmitten des Kataraktes scheint das Wasser zu zerschneiden. In der in Atala integrierten Beschreibung liegen im Abgrund unter dem Wasserfall die Kadaver zerschmetterter Elche und Bären (CHR: 96) und erinnern an die Leichen auf den Brettern unterhalb der Guillotine. Chateaubriand, der vor der Erfahrung der bedrohlichen politischen Wirklichkeit geflohen war,35 kann die Begeisterung für das zerstörerische Agieren des Fallbeils hier verschoben erleben und dabei euphorisch besetzen. Die Bewunderung, die er angesichts des Naturschauspiels und der erhabenen Unordnung empfindet, macht ihn sprachlos. Der Begriff des »d8sordre« kann in dieser Konstellation kaum ohne eine konnotative Reminiszenz an die Revolution gelesen werden. Chateaubriand hatte die Erinnerung an die Revolutionäre, die die Köpfe der ersten Opfer auf Piken durch die Stadt trugen, ebenfalls als Schauspiel inszeniert. Entsetzt musste er sich von dem Spektakel, dem er von seinem Fenster aus beigewohnt hatte, abwenden (MOT: 171). Wenn er sich hier von den Wassermassen angezogen fühlt, dann lässt sich hinter der Schilderung einerseits eine Identifikation mit den Opfern der revolutionären Gewalt, andererseits aber auch eine Faszination angesichts der Erfahrung der Revolution selbst erkennen.36 Dass es dem aufgewühlten Sprecher die Sprache verschlägt, lässt vermuten, dass eben diese Faszination nicht zum Bewusstsein kommen kann oder 34 Ich meine natürlich die berühmte Stelle, in der sich die Seele des Subjekts angesichts der Natur »seule devant Dieu« zu befinden meint (FranÅois-Ren8 de Chateaubriand: Essai sur les r8volutions. G8nie du christianisme. Hg. v. Maurice Regard. Paris: Gallimard [Pl8iade] 1978, S. 592). 35 Die expliziten Beschreibungen der Revolution in ihrer Phase ab 1792 und insbesondere die der Guillotine in den M8moires d’outre-tombe sind durchweg phobischer Art. Siehe dazu AgnHs Verlet: »Les ›amants de la mort‹ : physionomie du corps r8volutionnaire dans les M8moires d’outre-tombe de Chateaubriand«, in Roulin 2005: S. 165–173. 36 Chateaubriands ambivalente politische Haltung fasst Cl8ment prägnant in Worte: »[I]l ne l.che pas, dans la poussiHre des tombeaux qui s’ouvrent sur son chemin, cette dynastie des Bourbons tomb8s dont il se voudra le chien fidHle tout en suivant le convoi de la monarchie en r8publicain […].« (2000: S. 287)

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kommen darf und verschwiegen werden muss. Sie verschafft sich allerdings einen verschobenen Ausdruck im Uneigentlichen, sodass hinter dem Blick auf die chute du Niagara die chute de la monarchie durchscheint. Die affektive Ambivalenz dieser Erfahrung würde vernachlässigt, wenn man in der Episode allein eine tragische Wiederaufnahme der »menace de la disparition dans le ›fleuve de sang‹ r8volutionnaire« auf der Bühne der Neuen Welt sähe.37 Gerade der Blick aus der Ferne des republikanischen Amerika scheint die Faszination und Bewunderung erst zu ermöglichen. Chateaubriand überschreibt die nicht explizierten Besetzungen anschließend mit Reflexionen über die Erfahrung eines auf Gottes Allmacht gegründeten Naturwunders (MOT: 244f.). Die Assoziationen mit Revolution und Guillotine werden allerdings hierdurch nicht gelöscht. Sie können vielmehr noch weiterverfolgt werden. Chateaubriand geht, nachdem sein Pferd fast in den Abgrund gestürzt wäre, zu Fuß weiter : D8sirant voir la cataracte de bas en haut, je m’aventurai, en d8pit des repr8sentations du guide, sur le flanc d’un rocher presque / pic. Malgr8 les rugissements de l’eau qui bouillonnait au-dessous de moi, je conservai ma tÞte et je parvins / une quarantaine de pieds du fond. Arriv8 l/, la pierre nue et verticale n’offrait plus rien pour m’accrocher ; je demeurais suspendu par une main / la derniHre racine, sentant mes doigts s’ouvrir sous le poids de mon corps : il y a peu d’hommes qui aient pass8 dans leur vie deux minutes comme je les comptai. Ma main fatigu8e l.cha la tenue ; je tombai. Par un bonheur inou", je me trouvai sur le redan d’un roc oF j’aurais d0 me briser mille fois, et je ne me sentis pas grand mal ; j’8tais / un demi-pied de l’ab%me […]. (MOT: 245)

Weil er den gewaltigen Wasserfall von unten betrachten will, geht Chateaubriand ein Risiko ein. Dass er dabei seinen Kopf bewahrt (»je conservai ma tÞte«), zeugt zwar oberflächlich von seinem klaren Bewusstsein und seiner Ruhe. Der Kontext des amerikanischen Exils treibt jedoch den Subtext hervor: Man kann eine solche Äußerung nicht unabhängig von den Erfahrungen der Revolution lesen. Der Text konstruiert eine starke bildliche Analogie zu einem Opfer der Guillotine, das auf der Bank liegt und angsterfüllt den Fall des Beils erwartet. Chateaubriands Fall, der ihn eigentlich wie die Tiere hätte zerschmettern müssen, lässt ihn nur knapp dem Abgrund entgehen und mit einem glatten Armbruch (MOT: 246) davonkommen. Er erfährt hier auf abgeschwächte Weise, was sein Schicksal hätte sein können, wäre er im revolutionären Frankreich geblieben, wo er der Guillotine tatsächlich hätte zum Opfer fallen können. Hier bleibt er allein 37 So Morel 2014: S. 398, die in diesem Zusammenhang auch auf Kants Definition des Erhabenen eingeht. Vgl. auch: »La chute d’eau procure / Chateaubriand une 8motion aussi terrifiante que celle qui lui a 8t8 inspir8e par le fleuve R8volution.« (Ebd.: S. 397) Morels Deutung folgt der, die Chateaubriand selbst anbietet, wenn er das hinabstürzende Wasser explizit mit einem Volk vergleicht, das sich in den Abgrund stürzt (vgl. oben die zitierte Stelle aus MOT: 243).

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mit einer Wunde zurück; der Bruch, der die politische Ordnung der postrevolutionären Nation kennzeichnet, schreibt sich in seinen Körper ein.38 Die Frage danach, ob der gebrochene Arm metonymisch für eine Kastrationserfahrung steht, stellt sich spätestens dann, als Chateaubriand wenige Kapitel später darüber spekuliert, ob seine Frau – »[p]riv8e d’enfants, qu’elle aurait eus peut-Þtre dans une autre union […]« (MOT: 289) – in der Ehe mit einem anderen nicht vielleicht doch Kinder gehabt hätte. Zwar ist es unerheblich, ob Chateaubriand impotent war oder andere Gründe seine Kinderlosigkeit erklären. Zu interessieren hat die metonymische Verknüpfung mit der verschobenen Erfahrung der Revolution vor den Niagarafällen indes, weil er in seinen Geschichtsanalysen die Jakobiner selbst als Impotente bezeichnet und die Entmannung als Strafe für Königsmörder erwähnt.39 Die Identifikation mit dem getöteten König wiederum führt Chateaubriand fort, als er den Bericht über den drohenden eigenen Tod infolge eines Wundbrands schließlich mit dem Tod des Königs verschränkt und diesen nur nebenbei erwähnt. [J]’avais vu la mort sous une autre forme […]. Je demeurais quatre mois entre la vie et la mort. […] Dans les derniers jours de janvier 1793, voyant entrer chez moi mon oncle en grand deuil, je tremblai, car je crus que nous avions perdu quelqu’un de notre famille : il m’apprit la mort de Louis XVI. Je n’en fus pas 8tonn8 ; je l’avais pr8vue. (MOT: 345)

Angesichts der Tatsache, dass Chateaubriand zuvor betont hat, dass Frankreich sich an seine Vergangenheit erinnern müsse (MOT: 320), wird dieses kapitale Ereignis ziemlich schnell abgehandelt. Allerdings liegt es als Subtext unter dem gesamten Text der M8moires d’outre-tombe.40 Diese thematisieren die französische Geschichte seit der Revolution und konstruieren im Vorwort von 1846 mit 38 Die Wechselbeziehungen von politischem und individuellem Körper in den M8moires d’outre-tombe verfolgt Anne-Sophie Morel: »Chateaubriand, l’identit8 en r8volution«, in FranÅois Marotin (Hg.): R8volutions au XIXe siHcle. Violence et identit8. Clermont-Ferrand: PU Blaise Pascal 2011, S. 127–137. 39 In den Ptudes historiques schreibt er : »Un vrai terroriste n’est qu’un homme mutil8, priv8 comme l’eunuque de la facult8 d’aimer et de rena%tre : c’est son impuissance dont on a voulu faire du g8nie.« (FranÅois-Ren8 de Chateaubriand: Œuvres complHtes de Chateaubriand. Bd. IX. Hg. v. Charles-Augustin Sainte-Beuve. Paris: Garnier [1861], S. 66, vgl. dazu Cl8ment 2000: S. 282) In Les Quatre Stuarts zitiert Chateaubriand die Strafe für die englischen Revolutionäre, die Karl I. zum Tode verurteilt hatten: »Vous serez tra%n8 sur une claie au lieu de l’ex8cution ; l/ pendu, et 8tant encore en vie, on coupera la corde. Vous serez mutil8 (your privy member to be cut off) ; on vous arrachera les entrailles, et, vous vivant, elles seront br0l8es devant vos yeux.« (Œuvres complHtes de Chateaubriand. Bd. X. Hg. v. CharlesAugustin Sainte-Beuve. Paris: Garnier [1861], S. 432, engl. Wortlaut im Orig.) 40 Vgl. zur kapitalen Bedeutung des Ereignisses in den M8moires Ptienne Akamatsu/Catherine Durvye/Guy Fessier : Penser l’histoire: Corneille, Horace, Chateaubriand, M8moires d’outretombe, Marx, Le 18-Brumaire de Louis Bonaparte. Koord. v. Hubert Laiz8. Paris: PUF 2007, S. 149–151 sowie Morel 2011 und 2014: S. 378 u. 389–399.

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einem aus dem Jenseits erzählenden Subjekt eine Pragmatik, die in Analogie zur Thematik der Ereignisse seit dem Tod des Königs steht.41 Im G8nie du Christianisme erfährt Chateaubriands Sprecher die direkte Gegenüberstellung mit dem Schöpfer vor einem Landschaftstableau und hört von weitem die Niagarafälle: »au loin par intervalles, on entendait les sourds mugissements de la cataracte de Niagara, qui, dans le calme de la nuit, se prolongeaient de d8sert en d8sert, et expiraient / travers les forÞts solitaires.«42 Chateaubriand situiert schon diese Beschreibung im Schallraum der Wasserfälle, die in den M8moires d’outre-tombe zum Schauplatz einer allegorischen Revolutionserfahrung werden. Dass er die beiden Aspekte der Beschreibung auf verschiedene Werke verteilt, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass es sich hierbei um zwei Seiten derselben Erfahrung handelt. Denn erst wenn mit dem König das Verbindungsglied der Kette Gott – König – Subjekt (subjectus) fällt, kann das romantische Subjekt (subjectum43) Gott von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Es verwundert deshalb nicht, dass Chateaubriand gerade die Niagarafälle bildlich mit der Enthauptung des Königs und der Guillotine verknüpft. Damit konstruiert er in den M8moires d’outre-tombe eine identifikatorische Spiegelbeziehung zwischen dem Subjekt, das seinen Kopf behält, aber symbolisch kastriert wird, und dem König, der den Kopf verliert, aber vielleicht die Potenz der Nation mit ins Grab nimmt.44 41 Die Passage über den Besuch der Niagarafälle ist damit ein weiteres Beispiel der von Kirsten Kramer in den M8moires ermittelten »seriell wiederholte[n] Selbstopferung […] als de[m] eigentliche[n] Gegenstand der phantasmatischen Vergegenwärtigung der Zeitgeschichte« (»Phantasmen des Historischen. Zur Poetik der Geschichte in Chateaubriands M8moires d’outre-tombe«, in Andreas Kablitz/Gerhard Neumann [Hgg.]: Mimesis und Simulation. Freiburg im Breisgau: Rombach 1998, S. 631–668, hier S. 668). Kramer macht auf die ambivalente Bewertung der Revolution aufmerksam (ebd.: S. 646) und erörtert die Assimilation der Identität anderer – bes. der Napoleons – durch das schreibende Ich (ebd.: S. 651–657 u. 667f.). Zur Pragmatik der M8moires als Produkt eines revenant des Ancien R8gime, eines Gespensts oder Totgeglaubten, vgl. Morel 2011: S. 129f. 42 Chateaubriand 1978: S. 592. 43 Siehe zur Unterscheidung von unterworfenem subjectus und autonom-emanzipiertem subjectum Etienne Balibar : Citoyen sujet et autres essais d’anthropologie philosophique. Paris: PUF 2011, S. 1–84, bes. S. 5, 30 u. 64. 44 Eine ähnliche Spiegelung hat Xuan bei Stendhals Julien Sorel ermittelt (2011: S. 194–204): »Stendhals literarischer Spiegel [reflektiert] die Restauration als ein politisches Spiegelstadium […], und das in dem Maße, wie sich die restaurierte Monarchie – so ließe sich hier Lacans Theorie vom stade de miroir übertragen – durch eine imaginäre Identifikation mit dem Ancien R8gime konstituiert und dabei vermittels eines integralen corpus politicum das Lacansche Phantasma des corps morcel8 – hier also die revolutionäre Beseitigung des Königtums – zu bannen sucht.« (Ebd.: S. 203) Stendhal entlarvt die Restauration insofern als »eine Machtrepräsentation […], bei der sich die Monarchie ihres mystischen Körpers nur noch in Form einer illusorisch-imaginären Ganzheitsprojektion zu versichern vermag« (ebd.: S. 204). Wenn Julien – der die Julirevolution und die -monarchie paronomastisch im Namen trägt (ebd.: S. 209) – schließlich enthauptet wird, zeigt dies nur allzu deutlich, dass

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Die Spiegelbeziehung zwischen dem Subjekt und dem König und die Identifizierung beider vor der Guillotine hat Chateaubriand schon in Ren8 fiktional umgesetzt, wenn Ren8 vor sich den dunklen Krater des Ätna vor der hellen Sonne, die hinter dem Vulkan scheint, erblickt (CHR: 124) und damit bildlich vor dem Spiegel des enthaupteten Souveräns steht. Der Vulkan ist ein Revolutionssymbol, das auch Balzac in La Cousine Bette (1847) verwenden wird (CH VII: 145). Zugleich verweist das phantasmatische Bild auf den kopflosen König, den das postrevolutionäre Subjekt zwar überall erblickt, indes nicht benennen kann.45 Ren8 kann sich deshalb nur noch in seiner Schwester spiegeln. Seine Impotenz, die nicht nur symbolisch verstanden werden muss,46 ist, wie es die Parallele mit Chateaubriands Armbruch zeigt, passiv erlitten. Letzterer aber ist die Folge einer starken Anziehungskraft, die die Passivität des Opfers zumindest in Frage stellt. Chateaubriand transkodiert die bedrohliche Erfahrung der Revolution als einen Bruch, der die Unversehrtheit des eigenen Körpers in Frage stellt und sowohl in Ren8 als auch in den M8moires d’outre-tombe in einem Kontext mangelhafter Männlichkeit steht. Damit sind die in A Radical Reformer ausgedrückten Ängste angesichts der Revolution als einer Kastrationsmaschine47 umgekehrt: Das Subjekt selbst, nicht nur der Monarch, ist nach dessen Tod kastriert. Insbesondere Ren8 inszeniert die postrevolutionäre Situation auf ambivalente Weise. Die Novelle ist der Text der französischen Romantik, der sich wohl am intensivsten mit dem »traumatischen Zusammenbruch des symbolischen Registers«48 auseinandersetzt und die Unsagbarkeit angesichts der inkommensurablen Zäsur ins Werk setzt. Leopold macht in diesem Zusammenhang auf die deiktische Verweisstruktur jener Sprache aufmerksam, mit der Ren8, ohne den Referenten zu konkretisieren, die Statue Karls II. in London beschreibt, die auf den Platz deutet, an dem Karl I. enthauptet worden war (CHR: 122f.).49 Ren8 begründet damit zugleich auch die neue demokratische

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dem Subjekt im Jahr 1830 nur noch ein beschädigtes corpus politicum aus dem Spiegel entgegenblickt: »Juliens poetisches Haupt wird man daher auch als eine Replik auf den abgeschlagenen Kopf Ludwigs zu lesen haben – auf jenes abwesende Objekt der jouissance also, das bereits in Stendhals autobiographischem Schreiben das libidinös besetzte Zentrum bildet.« (Ebd.: S. 202) Zur romantischen Aphasie bzgl. der Enthauptung des Königs siehe Leopold 2014: S. 436– 438. Siehe zum Phantasma als Deckbild zum Schutz vor einem bedrohlichen, ebenfalls phantasmatischen Bild oben Einleitung, Kap. 2, Anm. 80, Jacques Lacan: Le s8minaire de Jacques Lacan. Bd. IV: La relation d’objet (1956–1957). Hg. v. Jacques-Alain Miller. Paris: Seuil 1994, S. 23f., 151–157 et passim und Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Übers. v. Gabriella Burkhart. Wien: Turia und Kant 2002, S. 228–231. Waller deutet die Tatsache, dass Ren8 die Ehe mit seiner Frau nicht vollzieht, in diesem Sinne (1993: S. 38–41). Vgl. oben Einleitung, Kap. 1. Leopold 2014: S. 437. Ebd.: S. 436f.

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Ordnung, die, wie es Lefort ausdrückt, permanent sprachlos auf den leeren Ort der Macht verweist: »[Le pouvoir] d8signe un lieu vide. […] [L]a r8f8rence / un lieu vide se d8robe / la parole […].«50 Chateaubriands Texte zeugen davon, dass das Subjekt den eigenen Körper nach dem Verlust der idealen Spiegelfigur nur noch als zerstückeltes Bild erfährt, als »corps morcel8«51. Zwar kann der König als das sakrale Zentrum der politischen Repräsentation durch weibliche Allegorien ersetzt werden. Dass diese dem nun autonomen revolutionären Individuum als Spiegel der Selbstidentität dienen können,52 stellen die Fiktionen des antimodernen Chateaubriand allerdings in Frage. Die Spiegelbeziehung zwischen dem Subjekt und dem König auf der einen und den Allegorien der Freiheit auf der anderen Seite erscheinen mitnichten als gleichwertig. *** Anders als Chateaubriand erfährt Balzac die Revolution nicht persönlich. Er stellt sie dennoch an den Ursprung einer problematischen Männlichkeit des postrevolutionären Subjekts und tradiert damit ein Element des kollektiven Gedächtnisses, das sich seit der mal du siHcle-Literatur besser an die Folgen der Enthauptung des Königs erinnert als an diese selbst. Viele von Balzacs Figuren tragen Zeichen einer fragwürdigen Körperlichkeit, die in metonymischer oder symbolischer Beziehung zu ihrer Männlichkeit steht – ähnlich wie eine ganze Reihe von Protagonisten von mal du siHcle-Texten, deren Namen mit »O« beginnen und die problematische Männlichkeit ihrer Träger graphisch markieren.53 Exemplarisch sind der beinamputierte Soldat aus Une passion dans le d8sert (1830),54 der impotente Du Bousquier oder auch Facino Cane, der Prot50 Lefort 1986: S. 266. Zur ständigen Wiederholung oder diskursiven Wieder(hervor)holung der Opferhandlung, mit der sich die moderne Gesellschaft begründet, siehe Peters 2013: S. 44, 59–69, 83–85 et passim. 51 Lacan 1966a: S. 94. Vgl. zur Phantasie der Kastration und Zerstückelung auch Morel 2011: S. 132–137. 52 So deutet Hunt die Repräsentationspolitik der Moderne (1989: S. 112–117). Vgl. dazu die prägnante Zusammenfassung von Sara Melzer und Leslie Rabine: »The body of the king, as Hunt has shown, is replaced by a figure of woman, but denuded of autonomous agency, providing a mirroring center in which the male individual can find his idealized reflection […]. Whereas in the Old Regime men experienced themselves essentially as members of a hierarchical community centered on the king, they now needed to find a way to represent their selves as autonomous individuals. The female allegorical figures in republican revolutionary iconography, embodying the male values of Liberty and Equality, exemplify […] attempts to construct such mirrors of self-identity.« (1992: S. 3–11, hier S. 5f.) 53 Stendhals und Mussets Octave, Senancours Obermann – hier fällt der Kontrast zur Männlichkeit auf, die dem Namen eingeschrieben ist –, Claire de Duras’ und Latouches Olivier, Sta[ls Oswald, und schließlich die weibliche Variante, Duras’ Ourika. Siehe zu diesen »stories of O« Waller 1993: S. 131. Vgl. zu Waller oben Anm. 6. 54 Vgl. dazu Verf.: »Amputierte Männlichkeit und die Wundermittel der Julimonarchie: Bal-

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agonist der gleichnamigen Erzählung (1836), die die Motive von Blindheit, Enthauptung, mangelhafter Potenz und Goldgier miteinander assoziiert und in den Kontext der Revolution stellt.55 Die Blindheit teilt Cane mit dem alten Ödipus, der in den Jahren nach 1795 mehrfach dargestellt wurde und den Hunt als Figuration der Rückkehr einer noch schwachen Vaterfigur deutet.56 Die blinden postrevolutionären (Ödipus-)Figuren, zu denen auch Chateaubriands Chactas zählt,57 tragen, so ließe sich ergänzen, das Zeichen der Orientierungslosigkeit und der Strafe dafür, nicht gesehen zu haben,58 was es bedeutet, den König zu töten. Vorhergesagt hat diese Konsequenz allerdings schon Rousseau, der im Contrat social schreibt, dass die »multitude aveugle« eines »L8gislateur« (CS2 : 380) bedürfe.59 Die Zeichen der mangelhaften Männlichkeit weisen bei Balzacs Figuren zwar auf das Ereignis von 1793 hin, erlauben es jedoch, dieses selbst nicht oder nur indirekt zu thematisieren. Sie dienen somit ebenso sehr der Verdrängung der historischen Gründungstat der modernen Nation, wie sie eine Bildlichkeit fortführen, unter der das kollektive Gedächtnis die Bruchstellen seiner Geschichte versteckt. Dass diese Bruchstellen durchaus wörtlich zu verstehen sind, zeigt sich etwa am PHre Goriot (1835), wo Rastignac mit der Erwähnung des tabuisierten Namens von Vater Goriot sinnbildlich einige »tÞtes mal coll8es« (CH III: 102) zu Boden fallen lässt und die Vokabel tÞte gerne in Kombination mit perdre (CH III: 147, 233 u. 241), couper (CH III: 209 u. 277), plaie (»Ma tÞte

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zacs Passion dans le d8sert, L’Plixir de longue vie und C8sar Birotteau« in Julia Brühne/Karin Peters (Hgg.): In (Ge)schlechter Gesellschaft? Politische Konstruktionen von Männlichkeit in Texten und Filmen der Romania. Bielefeld: transcript 2016, S. 155–181, hier S. 156–168. Vgl. zur Assoziation von Blindheit, Kastration, Erotik und Gold in der Novelle Beizer 1986: S. 24f. Es sei die Assoziationskette hier nur skizziert: Facino Cane, Musiker und ehemaliger Fürst aus Venedig, der in Frankreich PHre Canet heißt – die Nähe zu (Louis) Capet ist augenfällig – wird wegen Mordes aus Eifersucht verurteilt und soll enthauptet werden. In der Unmöglichkeit, seine Geliebte zu sehen, entbrennt in ihm im Gefängnis eine unermessliche Gier nach Gold. Er entkommt, stiehlt eine gewaltige Menge aus dem Schatz der Republik, flieht und gelangt 1770 reich nach Frankreich, wo er erblindet, als die Revolution ausbricht. Der homodiegetische Erzähler der Rahmenhandlung meint, in Canes Stimme zu hören, dass dieser nicht nur den Verlust seiner Sehkraft bedauere, sondern auch einen anderen »grand pouvoir« (CH VI: 1024). Hunt 1992: S. 167. Vgl. Schor 1992: S. 147. Freud übersieht in seiner Sandmann-Interpretation, dass Nathanaels Angst vor dem Verlust seiner Augen darauf zurückzuführen ist, dass man ihm etwas verheimlicht, er also etwas nicht sehen kann. Siehe hierzu Pascal Torrin: »De la Crypte aux Fantimes – La transmission historique de l’inconscient«, in Paul Geyer/Monika Schmitz-Emans (Hgg.): Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 555–570, hier S. 556f. Siehe zu dieser Paradoxie der Volkssouveränität im Contrat social Stephan Leopold: »Vom corpus politicum zur biopolitischen Körperschaft: Rousseau mit Sade«, in ders./Gerhard Poppenberg (Hgg.): Planet Rousseau. München: Fink 2015, S. 175–190, hier S. 181.

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est une plaie«, CH III: 274) oder in der Formulierung avoir toute sa tÞte (CH III: 234, 257 u. 268) fällt. Auf Facino Cane, wo die Revolution und die mutmaßliche Impotenz des Protagonisten in zeitlicher Kontiguität stehen, folgt in den ScHnes de la vie parisienne Balzacs wohl berühmteste Novelle Sarrasine (1830). Die unheimlichbedrohliche Erscheinung des alten Kastraten Zambinella stört dort die rauschenden Feste seiner Nachfahren, der Familie De Lanty. In der Binnenerzählung wird dem Leser offenbart, dass der Ursprung des mysteriösen Reichtums der Familie in der Kastration ihres Vorfahren liege. Dieser habe die Mutilation im Rom des 18. Jahrhunderts über sich ergehen lassen, um zum gefeierten Sänger werden zu können. Die schamlose Zurschaustellung des Reichtums im Fest ruft dessen Verdrängtes demnach unwillkürlich hervor.60 Die Figuren fühlen sich durch Zambinellas verstörende Mangelhaftigkeit bedroht und müssen sie mit aller Gewalt abwehren: So versucht die Adressatin der Binnenerzählung, die erschreckende Erscheinung, von deren inkommensurabler Körperlichkeit sie unterrichtet wird, in der verherrlichenden Betrachtung eines Gemäldes aufzuheben und mit dessen Hilfe Zambinellas verstörenden Mangel in eine erotisierte Androgynität umzulenken (CH VI: 1054).61 Laforgue hat nach der politischen Bedeutung der Novelle gefragt und sie in der mangelnden genealogischen Kohärenz der Familie verortet: Das kastrierte Mangelwesen habe die strukturelle »castrature« der Familie im 19. Jahrhundert hervorgerufen.62 Indem er die bereits von Barthes analysierte Kastrationsisotopie nuancierend aufspaltet, stellt Laforgue der physischen Kastration des Mannes im 18. Jahrhundert die soziale »castrature« der Frau in der postrevolutionären Gesellschaft gegenüber. Balzacs Erzählung setze die Trennung der Geschlechter und die soziale Entfremdung als deren Folge in Szene.63 Diese Lesart verschweigt allerdings den historischen Referenten der physischen Kastration des Mannes. Der mit Gold und Edelsteinen reich geschmückte Körper des Kastraten versteckt die bedrohliche Verstümmelung des Zambinella. Er täuscht Reichtum und präsentische Fülle vor, wo nur Mangel herrscht. Über die Lanty weiß man wenig, aber jedenfalls so viel, dass sie keine alte Adelsfamilie sind, sondern ihr »hitel« 60 Zur unheimlichen Wiederkehr des Verdrängten siehe Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, in ders.: Studienausgabe. Bd. IV: Psychologische Schriften. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main: Fischer 1970, S. 241–274. 61 Roland Barthes zufolge zeige der Androgyn, was es heißt, der Phallus zu sein und den Phallus zu haben, während der Kastrat keinen der beiden Wünsche erfüllt (S/Z. Paris: Seuil 1970, S. 42). 62 Laforgue 1998: S. 128–146, bes. S. 133–144. 63 Ebd.: S. 143. Unter »castrature« versteht er die »privation« der Frau, deren Ausschluss aus dem Sozialen.

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vor nicht allzu langer Zeit erworben haben, und dass ihr Vermögen mit dem Nucingens verglichen wird (CH VI: 1044). Der Ursprung des Kapitals der modernen, bürgerlichen und teilweise neugeadelten Gesellschaft gründet nun, wie man es etwa vom Beispiel des »vieux Quatre-vingt-treize« (CH III: 114) genannten Nudelhändlers Goriot weiß, in der Revolution: Der Louis d’or ist an die Position Ludwigs XVI. getreten, also zum Surrogat für den König geworden, dessen Verlust bei Zambinella wie bei Facino Cane körperlich symbolisiert wird. Die Gesellschaft kann die Erinnerung an die politische ›Kastration‹ nur verdrängen, nicht aber vollständig auslöschen. Nach der Julirevolution lässt Balzac sie im Modus des Unheimlichen wiederkehren. Einen Hinweis auf diesen Aktualitätsbezug der Novelle geben die Namen der beiden Kinder der Lantys, Filippo und Marianina: Hinter dem Zweigespann kann der Leser die Koalition von Louis-Philippe mit ›Marianne‹ erkennen, vor allem da Filippo als »meilleur parti de France« (CH VI: 1046) eingeführt wird – auch Louis-Philippe erschien 1830 als die ›beste Partie‹. Ich würde Zambinella deshalb nicht allein als Überbleibsel der Aristokratie in der modernen Welt und als Repräsentanten »eine[r] ausgestorbene[n] Epoche und eine[r] fremde[n] Welt« deuten.64 Mechthild Fend bemerkt zwar sicherlich zu Recht, dass in Sarrasine »[i]n einer Mischung aus Faszination und homophober Abwehr […] der erotische männliche Akt in eine vergangene Epoche verabschiedet« werde.65 Der Text inszeniert allerdings darüber hinaus den kompensatorischen Aspekt der Feier des Androgynen, die auch Balzac selbst noch in S8raph%ta (1834) ausschreiben wird. Sobald der Bildhauer Sarrasine erfährt, dass sich hinter dem von ihm begehrten und in einer Skulptur verewigten Zambinella keine Frau, sondern ein Kastrat verbirgt, versucht er, sich performativ seiner Männlichkeit zu vergewissern: Er zückt sein Schwert und will die als Illusion erkannte Figur zerstören, bevor er selbst umgebracht wird (CH VI: 1074). Sarrasines Reaktion demonstriert, dass er von der Kastration des von ihm bewunderten Objekts unmittelbar selbst betroffen ist und dass er dieser Erkenntnis abwehrend begegnen muss. Die unheimliche Wiederkehr der Vergangenheit im Jahr 1830 weckt nun die Erinnerung an den 1793 beschädigten Staatskörper, der mit dem Kastraten in phantasmatischer Verkörperung auftritt – dieser wird als Marianinas Ehemann inszeniert, wenn das mit ihm besonders verbundene Mädchen ihm einen Ring ansteckt (vgl. CH VI: 1055).66 Meines Erachtens stellt Balzac mit der Figur des rebellischen jungen Sarrasine das postrevolutionäre Subjekt vor den Spiegel des politischen Körpers, dem mit dem 64 So Fend 2003: S. 168, vgl. auch Laforgue 1998: S. 133. 65 Fend 2003: S. 172. 66 Vgl. zur symbolischen Heirat Marianinas mit dem Kastraten Sandy Petrey : Realism and Revolution. Balzac, Stendhal, Zola, and the Performances of History. Ithaca/London: Cornell UP 1988, S. 76.

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König das Sinnbild seiner Potenz genommen wurde. So wie Sarrasine die eigene Skulptur in Pygmalionmanier anbetet, so schafft auch der revolutionäre Citoyen mit der Allegorie der Republik ein ideales Bild, das er verehren und angesichts dessen er seiner eigenen Virilität sicher sein kann.67 Mit der Allegorie der patrie verbindet La Zambinella auch ihre Forderung nach asexueller, nichtkörperlicher Liebe und ihr Bedürfnis nach einem »frHre«, einem »protecteur« (CH VI: 1055). Sarrasine selbst stellt fest, dass Zambinellas »cœur de femme« für ihn ein »asyle«, eine »patrie« gewesen sei (CH VI: 1074). Sobald jedoch dieses Idealbild als ›falsch‹ entlarvt und die ›Wahrheit‹ der Kastration hinter dem schönen Schein erkannt wird, verliert das Spiegelbild seine versichernde Wirkung.68 Sarrasine ist ein exemplarisches Subjekt des 19. Jahrhunderts avant la date, dessen corpus naturale durch das corpus politicum der Nation verdoppelt wird. Das allegorische Bild der idealschönen Frau stützt die Männlichkeit des Citoyens nur so lange, bis die Wunde hinter der schönen Imago zum Vorschein kommt. Das Subjekt steht nunmehr vor dem Spiegel, der ihm die symbolische Kastration des über den König männlich kodierten corpus politicum vor Augen führt. Balzacs Novelle formuliert die Angst davor, dass das Subjekt aufgrund der Entmännlichung der Nation in der Revolution und der daraus folgenden beschädigten Spiegelbeziehung selbst nur verweiblicht sein kann und sich deshalb gegen die Infragestellung der Männlichkeit seiner Spiegelfigur wehren muss. Das Verhältnis von corpus naturale und corpus politicum scheint auch der Fille aux yeux d’or (1835) zugrunde zu liegen. Henri, der junge, außergewöhnlich schöne und begehrte Dandy feiert seine Potenz (CH V: 1053f.); als Mitglied des im Kaiserreich gegründeten homosozialen Geheimbundes der Treize (CH V: 787) entwirft er sich als Subjekt, das wie Napoleon an die Stelle des absoluten

67 Vgl. zu dieser Funktion der weiblichen Allegorien oben Anm. 52. Auch Laforgue sieht in Sarrasine eine Repräsentation des »jeune homme de 1830« (1998: S. 133). 68 Das Verdecken der Kastration wird besonders typisch in Szene gesetzt durch Sarrasines fetischistische Besetzung von La Zambinellas Fuß bei ihrer ersten persönlichen Begegnung: »Oh ! Comme son cœur battit quand il aperÅut un pied mignon, chauss8 de ces mules qui, permettez-moi de le dire, madame, donnaient jadis au pied des femmes une expression si coquette, si voluptueuse, que je ne sais pas comment les hommes y pouvaient r8sister.« (CH VI: 1065) Barbara Johnson stellt fest, dass der Mangel gerade nicht am Körper der Frau bedrohlich sei, sondern nur am Körper des Mannes. Der narzisstische Sarrasine habe im Spiegelbild der weiblichen Zambinella den Beweis seiner eigenen Maskulinität gesehen: Er meine, zu besitzen, was die begehrte Frau nicht hat (Diese Komplementarität drückt Barthes bildlich in seinem Titel S/Z aus.). Dass Sarrasine in Wirklichkeit aber einen außerhalb der Geschlechterdifferenz stehenden Kastraten begehrt, zeuge davon, dass die eindeutige Symmetrie der Geschlechter illusorisch ist, was wiederum Sarrasines gesicherte Maskulinität in Frage stelle (The Critical Difference. Essays in the Contemporary Rhetoric of Reading. Baltimore: The Johns Hopkins UP 1985, S. 9f.).

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Monarchen treten kann und selbst absolut ist.69 Balzac ist eindeutig, wenn er Henris Sicherheit ob seiner »majest8« (CH V: 1058) beschreibt und seinen Erfolg damit begründet, dass er ein »sceptre plus puissant que ne l’est celui des rois modernes presque tous brid8s par les lois dans leurs moindres volont8s« (CH V: 1084) besitze. Creech zufolge verkörpert Henri, der als Ausnahmeindividuum der im ersten Teil des kurzen Romans geschilderten allgegenwärtigen psychischen Kastration seiner Zeitgenossen entgehe, »Balzac’s discrete, nostalgic fantasy of the uncastrated phallus«.70 Mit La Fille aux yeux d’or transzendiere Balzac das in Sarrasine dargestellte Kastrationsmodell der Geschlechterdifferenz, indem er mit Henri de Marsay vielmehr ein queeres Subjekt entwerfe, das nicht an die sexuelle Differenz glaube, mit seinem Begehren nach Gleichheit die eigene Kastration nicht anerkenne und sich selbst als vollständig begreife. Henris Begehren nach Gleichheit äußere sich darin, dass er mit Paquita, dem Mädchen mit den Goldaugen, dasselbe Objekt begehrt wie seine Halbschwester, die ihm ihrerseits wie aus dem Gesicht geschnitten scheint. Creech deutet dies als Schritt in Richtung eines homosexuellen Begehrens, das aus der Figur ein heroisches Subjekt der Ausnahme in Analogie zu Vautrin mache.71 Creech referiert mit Vautrin zu Recht auf ein potentes, ›homosexuelles‹ Subjekt avant la lettre, doch dieser repräsentiert als Figur der Volkssouveränität eine neue Ära.72 Henris Streben nach absoluter Herrschaft hingegen macht aus ihm deshalb ein Ausnahmeindividuum, weil er ein Abbild des absoluten Königs sein will, den es in der Moderne nicht mehr gibt – sollte es ihn denn überhaupt je gegeben haben. Henri glaubt sich potent, wenn er in das Haus des Marquis de San-R8al einzudringen versucht, um Paquita, die ihm bei der Promenade in den Tuilerien schöne Augen gemacht hat, zu erobern. Dass er glaubt, Paquita sei die Frau eben jenes Marquis, zeigt, dass er meint, in eine mimetische Rivalitätsbeziehung zu diesem zu treten.73 Dessen Name weist darauf hin, dass Henri sich selbst in Konkurrenz und damit in Analogie zu einem absoluten Herrscher setzt, dessen Macht über das Gottesgnadentum transzendental legitimiert ist: San-R8al. Henri selbst ist nicht gläubig (vgl. CH V: 1057 u. 1060). Schon der symbolische Name der Treize verweist auf das exzessive Element, das die christliche Zwölfzahl übersteigt und doch auf sie bezogen ist.74 Henri ist allerdings im politischen 69 Vgl. zu Napoleons »Synthese von Revolution und ›Absolutismus‹« Wolfgang Schmale: Geschichte Frankreichs. Stuttgart: Eugen Ulmer 2000, S. 185–187. 70 Creech 2002: S. 57. 71 Ebd.: S. 47f. u. 52–63. 72 Siehe hierzu Stephan Leopold: »Balzac und die Volkssouveränität. Chronotopien des Politischen im Cycle Vautrin«, in lendemains 36 (2011), S. 93–117. 73 Creech deutet Henris Begehren nach Paquita gerade nicht als Ausdruck homosozialer Rivalität, sondern als Hinweis auf sein homosexuelles Begehren (2002: S. 60). Siehe zu Ren8 Girards Rivalitätsmodell, auf das Creech sich nicht bezieht, unten Kap. 3. 74 Als Summe von zwölf plus eins ist die Zahl Dreizehn direkt auf die göttliche Harmonie

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Sinne gläubig, da er seine Macht absoluten Königen gleichstellt, mit ihnen rivalisiert und deren transzendental legitimierte Herrschaft als Bezugshorizont voraussetzt: De Marsay exerÅait le pouvoir autocratique du despote oriental. […] Il avait de lui, non pas l’opinion que Louis XIV pouvait avoir de soi, mais celle des plus orgueilleux des Kalifes, des Pharaons, des XerxHs qui se croyaient de race divine, avaient d’eux-mÞmes, quand ils imitaient Dieu en se voilant / leurs sujets, sous pr8texte que leurs regards donnaient la mort. Ainsi, sans avoir aucun remords d’Þtre / la fois juge et partie, de Marsay condamnait froidement / mort l’homme ou la femme qui l’avait offens8 s8rieusement. (CH V: 1084f.)

Henri will Alleinherrscher sein (»Je veux Þtre seul, l/ oF je suis.« CH V: 1090) und fordert die absolute Souveränität über Leben und Tod für sich ein. Er glaubt sich gottgleich und übertrifft damit noch den Souveränitätsanspruch des Sonnenkönigs. Eben dies macht aus ihm eine Ausnahme und einen Doppelgänger Napoleons, der im Jahr der Hundert Tage, in dem Balzac seine unerhörte Begebenheit situiert, noch einmal nach der Alleinherrschaft zu greifen versucht. Henris Herrschaftsanspruch ist jedoch nicht mehr zeitgemäß. Ludwig XVIII. hat zwar die Monarchie restauriert, jedoch 1814 die Charte constitutionnelle erlassen. Auch wenn diese seine Herrschaft nur geringfügig begrenzt,75 wissen wir aus Alfred de Mussets Confession d’un enfant du siHcle (1836), die im Jahr nach der Publikation von La Fille aux yeux d’or erscheint, dass seit Napoleons Fall niemand mehr an die absolute Macht glaubt.76 Napoleon selbst entschloss sich im Jahr 1815 widerwillig zu einer Beschränkung seiner Herrschaft durch eine liberale Verfassung, bevor die Notabeln nach den Hundert Tagen ein ›unsichtbares‹ Parlament einberiefen.77 Henri wird seiner Allmachtsphantasie beraubt, als er sich, um in das Haus des Marquis einzudringen, Paquitas Wunsch beugen und sich erst die Augen verbinden (CH V: 1086) und danach Frauenkleidung anlegen lassen muss (CH V: 1091). Im Augenblick der jouissance ruft ihn das Mädchen mit den Goldaugen »Mariquita« (CH V: 1102) und erklärt ihn damit kaum implizit zur marica (span. bezogen und übersteigt sie zugleich: Judas ist der Dreizehnte am Tisch des Letzten Abendmahls. Im antiken Griechenland (etwa in der Odyssee) hat die Zahl eine superlative Funktion (Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. v. Günter Butzer u. Joachim Jacob. Stuttgart/Weimar : Metzler 2008, S. 71). 75 Die Charte von 1814 wendet sich zwar gegen königliche Despotie, heißt aber schon deshalb nicht Constitution, weil sie vom König oktroyiert ist, nicht an die revolutionäre Volkssouveränität erinnern soll und keine Gewaltenteilung vorsieht. Siehe dazu Francis D8mier : La France de la Restauration (1814–1839). L’impossible retour du pass8. Paris: Gallimard 2012, S. 60–68. 76 Siehe hierzu das berühmte zweite Kapitel der Confession, in Œuvres complHtes en prose. Hg. v. Maurice Allem u. Paul-Courant. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1960, S. 65–288, hier S. 70f. 77 Siehe hierzu D8mier 2012: S. 102–105, zur Chambre introuvable ebd.: S. 101 u. 151.

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für Tunte). Der solchermaßen entthronte Henri, der nicht austauschbar sein will, stört sich nicht am ›Laster‹ der Paquita (»il ne s’effaroucha pas du vice«, CH V: 1096), kann jedoch nicht akzeptieren, nur ein Ersatzobjekt gewesen zu sein.78 Als er sich an ihr rächen und sie umbringen will, steht er schließlich seiner wahren Rivalin im Begehrensdreieck um Paquita gegenüber : seiner Halbschwester Margarita-Euph8mie, die ihm mit dem Mord zuvorgekommen ist. In der außerordentlichen Ähnlichkeit der Halbgeschwister sieht Creech ein Indiz dafür, dass Henris Begehren nach Paquita ihn der Homoerotik näher gebracht habe. Margaritas Mord an ihrer Geliebten führt er darauf zurück, dass deren Begehren nach einem Mann die homosexuelle Beziehung, die allein die weiblichen Ausnahmeindividuen vor dem kastrierenden männlichen Begehren bewahren könne, zerstört habe: Indem Paquita im lacanianischen Sinne Henri den Phallus spendet,79 mache sie die Indifferenz der Geschlechter, in der Margarita ein ebenso ›ganzes‹, unkastriertes Subjekt wie Henri gewesen war, zunichte.80 Creechs queere Lektüre hat durchaus ihren Reiz und überzeugt im Hinblick auf Margaritas Mord an Paquita. Ich möchte hier allerdings eine alternative, politisch-allegorische Lektüre des Textes vorschlagen: Henri de Marsays Verblendung bezüglich seiner Alleinherrschaft lässt sich mit dem politischen Subtext, der bei der Vorstellung der Figur aufblitzt, begründen. Das Ende ist nämlich nur für Henri überraschend und mit einer schockierenden Einsicht in seine Verkennung der Lage verbunden. Der Leser hingegen weiß bereits von der Halbschwester, die Henri an Schönheit in nichts nachsteht (CH V: 1058). Er kann auch den Grund für Paquitas Verzückung angesichts des schönen Dandys (»C’est la mÞme voix […] et… la mÞme ardeur«, CH V: 1083; »voil/ ce cou que j’aime tant !« CH V: 1089 »Frappant ! frappant !« Ebd.: 1090) nachvollziehen. Henri dagegen kennt seinen Vater, den englischen Lord Dudley, nicht: Cet Adonis, nomm8 Henri de Marsay, naquit en France, oF lord Dudley vint marier la jeune personne, d8j/ mHre d’Henri, / un vieux gentilhomme appel8 M. de Marsay. Ce papillon d8teint et presque 8teint reconnut l’enfant pour sien, moyennant l’usufruit 78 Vgl. Creech 2002: S. 58f. Camille Paglia spricht hier von einer »sexual metathesis. De Marsay […] exists only to phallicize an absent woman lover.« (Sexual Personae. Art and Decadence from Nefertiti to Emily Dickinson. New York: Vintage Books 1991, S. 396) 79 Siehe hierzu Jacques Lacan: »La signification du phallus«, in ders.: Ecrits II. Paris: Seuil 1971, S. 103–115: »Que le phallus soit un signifiant, impose que ce soit / la place de l’Autre que le sujet y ait accHs.« (Ebd.: S. 112) »[L]’homme trouve en effet / satisfaire sa demande d’amour dans la relation / la femme pour autant que le signifiant du phallus la constitue bien comme donnant dans l’amour ce qu’elle n’a pas […].« (Ebd.: S. 114) Vgl. auch Judith Butler zur Rolle der Frau, die bei Lacan den Phallus des Mannes reflektiere und ›verkörpere‹, ihn also dadurch ›bedeute‹, dass sie sein mangelhaftes Anderes ist (Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York/London: Routledge 22008, S. 59f.). 80 Creech 2002: S. 59f. Vgl. auch Paglia: »Paquita […] is killed both for insulting the masculine principle and for yielding to it.« (1991: S. 401)

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d’une rente de cent mille francs d8finitivement attribu8e / son fils putatif […]. Le vieux gentilhomme mourut sans avoir connu sa femme. Mme de Marsay 8pousa depuis le marquis de Vordac ; mais, avant de devenir marquise, elle s’inqui8ta peu de son enfant et de lord Dudley. D’abord, la guerre d8clar8e entre la France et l’Angleterre avait s8par8 les deux amants, et la fid8lit8 quand mÞme n’8tait pas et ne sera guHre de mode / Paris. […] La paternit8 de M. de Marsay fut naturellement trHs incomplHte. […] La guerre continentale empÞcha le jeune homme de conna%tre son vrai pHre dont il est douteux qu’il s0t le nom. Enfant abandonn8, il ne connut pas davantage Mme de Marsay. Naturellement il regretta fort peu son pHre putatif. (CH V: 1054–1056, kursiv im Orig.)

Die überaus problematische Vaterschaft, die hier formuliert wird, ist eine Spielart typischer Vater-Konflikte um 1830, wie sie etwa im PHre Goriot auserzählt werden.81 Die Narration handelt sie jedoch ebenso knapp ab, wie sie von der Figur ignoriert wird. Überlesen sollte man sie nicht, denn der Text sagt an dieser Stelle ganz deutlich, dass Liebe in Frankreich um die Zeit von Henris Geburt ebenso wie zum Zeitpunkt der 8nonciation politisch ist: Madame de Marsay und Lord Dudley verlieren sich aus den Augen, weil England und Frankreich gegeneinander Krieg führen. Der Text referiert hier auf das Jahr 1793, in dem der Nationalkonvent seine Beziehungen zu London abgebrochen hat82 und England – infolge der Enthauptung Ludwigs XVI. – der Koalition der europäischen Monarchien beigetreten ist. Wegen dieses Krieges konnte Henri seinen leiblichen Vater nicht kennenlernen. Bezüglich seines genauen Geburtsdatums ist der Text dagegen unbestimmt. Man erfährt erst, dass Henri im Jahr 1812 sechzehn Jahre alt ist (CH V: 1056), er also um 1796 geboren sein müsste, und dann, dass er Ende 1814 zweiundzwanzig Jahre alt ist (CH V: 1057), 1792 mithin sein Geburtsjahr wäre. Dieses Geburtsdatum, das vor dem Ausbruch des Krieges gegen England im Februar 1793 liegt, fällt in die zentralen Jahre der Französischen Revolution, die gewissermaßen das Kind der englischen Revolution von 1649 mit der Hinrichtung Karls I. durch Cromwell ist. Einen beiläufigen Hinweis auf die Terreur geben die »honnÞtes ac8phales« (CH V: 1057) des Familienrats, aus dessen Kreis ein Verwalter für Henris Vermögen bestimmt wird. Auf die konstitutionelle Monarchie, deren Vorbild ja wiederum das englische Modell ist, referiert der Text explizit, als er Henri mit den modernen Königen kontrastiert, deren Macht von Gesetzen beschnitten wird. Als »enfant abandonn8« ist Henri schließlich nicht nur Lord Dudleys Kind, sondern 81 Vgl. zu Ödipusthematik und problematischer Vaterschaft um 1830 im Allgemeinen Laforgue 2002: S. 11–56, und bei Balzac im Besonderen ebd.: S. 145–160 sowie Beizer 1986. De Marsays Verkennung seiner zugleich mangelhaften und proliferierenden Vaterschaft untersucht Owen Heathcote: »Balzac entre fantaisie et fantasme. L’exemple de ›La Fille aux yeux d’or‹«, in L’Ann8e balzacienne 2012, S. 181–199, hier S. 188–193, meint jedoch, dass der Text gerade nicht in Jamesons Sinne allegorisch sei (ebd.: S. 198). 82 Vgl. Rose Fortassier : »La Fille aux yeux d’or. Notes et variantes«, in CH V: 1529–1568, hier 1541, Anm. 1.

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auch eine Reminiszenz an Chateaubriands Ren8 – mit umgekehrtem Vorzeichen, da Henri seine Potenz feiert. De Marsay, der ›farblose und fast erloschene Schmetterling‹ des französischen Adels, der kurz vor seinem Tod den kleinen Henri als Kind anerkennt, wird man folglich als Figuration des (nicht nur) gesellschaftspolitisch ›sterbenden‹ zweiten Standes bzw. der Restauration lesen können. Mit der Julirevolution, mit der die im Jahr 1815 situierte Handlung des Romans explizit verschränkt wird,83 ist die Vitalität von Adel und Restauration endgültig verglüht. Erst Margarita erinnert Henri an seine Herkunft und an seinen englischen Vater. Sie selbst hält sich in England auf, als Henri in das »s8rail« (CH V: 1101) eindringt, in dem Paquita bewacht wird und Briefe von ihrer Geliebten aus London empfängt (CH V: 1067). Margarita steht damit in Analogie zu Ludwig XVIII.: Dieser hatte sich im englischen Exil mit der konstitutionellen Monarchie vertraut machen können, um sie schließlich nach Frankreich zu importieren,84 wo sie 1830 konsequent etabliert wurde. Balzac assoziiert das revolutionäre Modell der Julimonarchie wenig später auch in La Vieille Fille mit England.85 Meine These ist deshalb, dass Henri de Marsay, der sich in Analogie zum potenten absoluten König imaginiert, am Ende seines Abenteuers im vermeintlichen Hause des Marquis de San-R8al seinen Fehler erkennen und erfahren muss, dass moderne Könige nicht mehr die absolute Macht haben und er dieser infolgedessen selbst verlustig gegangen ist. »San-R8al« konnotiert vor diesem Hintergrund nicht nur die quasi heilige königliche Souveränität, sondern auch – in der französischen Aussprache des San: [s¼] – das königliche Blut, das 1793 geflossen ist. Außerdem suggeriert es, dass das französische Haus wie das der Paquita nunmehr im Grunde königslos – Sans R8al/Roi – ist.86 Für den Namen der Paquita könnte Balzac sich deshalb von dem des Genfer Vororts Paquis inspiriert haben, wo Chateaubriand 1831 zwei Kapitel seiner M8moires d’outretombe verfasste (MOT: 503 u. 506). Margarita selbst ist eine Hybridfigur,87 die den englischen Vater mit Henri teilt, jedoch eine spanische Mutter hat. Spanien seinerseits steht zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans mitten im ersten Carlistenkrieg und ist seit 1834 konstitutionelle Monarchie.88 Auf die 83 Vgl. zu dieser historischen Doppelkodierung Laforgue 1998: S. 184f. u. 196–201. 84 Siehe Schmale 2000: S. 195f. 85 Der Repräsentant der Revolution lässt dort einen englischen Garten anlegen (CH IV: 923). Paglia zufolge verkörpert die mit England verknüpfte Margarita Henris »Byronic Romantic double« (1991: S. 395, vgl. auch S. 402). 86 Für den Hinweis auf die Zweit- und Drittbedeutung des Signifikanten San-R8al danke ich Isabelle Mourot und Karin Peters. 87 Siehe zum Thema der Hybridität in La Fille aux yeux d’or Kadish 1991: S. 37–39 u. 52–63. 88 Nach dem Tod des antiliberalen Ferdinand VII. im Jahr 1833 kämpfte die im Grunde ebenfalls nicht liberale Regentin Maria Christina von Bourbon auf der Seite der Liberalen für die Regierung ihrer Tochter Isabella gegen die Carlisten, die für eine absolute Monarchie

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erstmals 1810 zur Verfassungsgebung zusammengetretenen Cortes bezieht sich Balzac im Jahr 1830 explizit in seinen Lettres sur Paris, ebenso wie auf die Carlisten, dem spanischen Analogon der französischen Legitimisten.89 Die von Margarita getötete Paquita, deren Besitz Henris Allmacht hätte bestätigen sollen, ist nun das Symbol für seinen Machtverlust. Mit Margarita steht Henri seinem eigenen weiblichen, mithin symbolisch kastrierten Spiegelbild gegenüber : Beide wurden durch ihr jeweiliges Gegenüber entmachtet. Shoshana Felman bemerkt zu Recht, dass Henri in die Falle des eigenen phallischen Narzissmus tappt, in Paquitas goldenen Augen die strahlende Oberfläche eines Spiegels sieht und schließlich seine eigene Kastration anerkennen muss.90 Ich möchte jedoch den politisch-allegorischen Aspekt der Narration stärker hervorheben, denn bezeichnenderweise wird die Schilderung des von Margarita angerichteten Blutbades von den Farben Rot und Weiß (CH V: 1106f.), also den Farben der Gegner in der Großen Revolution, dominiert. Dabei überschreibt das Rote wie eine Schrift die weißen Laken91 – die weiße Flagge der Royalisten? Die despotisch-absolute Herrschaft, wie sie Henri für sich einfordert, ist um 1835 nicht mehr zeitgemäß und nur noch eine nostalgische Phantasie: Die Mitglieder der omnipotenten Treize müssen in der postnapoleonischen Gesellschaft und insbesondere in der von Balzac als schwach und bourgeois gegeißelten Regierung der Julimonarchie mithin zwangsläufig scheitern.92 Ihre Souveränität ist

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einstanden und Ferdinands Bruder Karl an die Macht bringen wollten. Die konservativliberalen Moderados setzten die Institutionalisierung der konstitutionellen Monarchie durch und standen im Konflikt zu den radikal-liberalen Progressisten, die für die Volkssouveränität und die Verfassung von 1812 eintraten (siehe Walter L. Bernecker : Spanische Geschichte. Von der Reconquista bis heute. Darmstadt: WBG 2002, S. 116–121). Siehe zu den Cortes die »Lettre V« vom 8. Nov. 1830 und die »Lettre VIII« vom 9. Dez., in Honor8 de Balzac: Œuvres diverses. Bd. II. Hg. v. Pierre-Georges Castex, Roland Chollet u. Ren8 Guise. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1996, S. 897 u. 917 sowie zu den Carlisten die »Lettre II« vom 9. Okt. (ebd.: S. 880) und La Peau de chagrin (1831), wo eine Figur einen Monarchisten einen Carlisten nennt (CH X: 103f.). »Rereading Femininity«, in Yale French Studies 62 (1981), S. 19–44. Felman bringt den Moment der Einsicht folgendermaßen auf den Punkt: »Henri uncannily thus finds himself face to face with his own castration […].« (Ebd.: S. 41) Im Sinne einer Konfrontation der »puissance virile« mit seiner eigenen Weiblichkeit deutet auch Danger das Geschehen (1989: S. 42–44). St8phanie Boulard deutet das rote Blut auf dem weißen Laken als eine (unlesbare) Schrift (»Double enquÞte sur La Fille aux yeux d’or«, in Paroles Gel8es – UCLA French Studies 20, Heft 2, 1983, S. 36–44, hier S. 40f.). Siehe zu Balzacs Kritik an der Regierung der Julimonarchie Bernard Guyon: La pens8e politique et sociale de Balzac. Paris: Armand Colin 21967, S. 384–395, hier bes. S. 388. Vgl. außerdem Th8odore Zeldins Beschreibung des »gouvernement parlementaire de style soidisant britannique de Louis-Philippe, qui n’avait produit que des coalitions faibles et corrompus« (Histoire des passions franÅaises : 1848–1945. Bd. IV: ColHre et politique. [Paris]: Recherches 1979, S. 162). Vgl. zur Effeminierung napoleonischer Helden in der sog. bürgerlichen Julimonarchie am Beispiel von La Cousine Bette Sarah Maza: The Myth of the

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beschnitten wie die Napoleons, die im Vertrag von Fontainebleau auf Elba beschränkt wurde.93 Henri de Marsay wird für seine absolutistischen und ›orientalisch‹-despotischen Allüren ebenso bestraft wie der englische König Karl I., als dieser nach der absoluten Macht strebte, und der französische Karl X., dessen Herrschaftsmanieren Balzac in seiner ersten »Lettre sur Paris« ebenfalls ›orientalisch‹ nennt.94 Wenn es nun heißt, dass der Anblick Henris und insbesondere der seines Halses Paquita entsetze (»voil/ ce cou que j’aime tant ! […] Frappant ! frappant ! dit la pauvre esclave en proie / la terreur.« CH V: 1089f.), dann ließe sich dies als Reminiszenz an die Schreckensherrschaft und somit als Vorwegnahme der symbolischen Enthauptung Henris lesen. Es ist deshalb nur konsequent, dass auch Henri nach der Anagnorisis in der von Balzac im ersten Teil der Erzählung geschilderten modernen Gesellschaft ankommt, in Le Contrat de mariage (1835) in die Politik geht und in Autre 8tude de femme (1842) schließlich Premierminister wird, sich also der modernen Gewaltenteilung unterwirft und in die mediokre Regierung der Julimonarchie eintritt.95 Damit steht La Fille aux yeux d’or in direkter Analogie zu Sarrasine. Ich kann mich deshalb Creech nicht anschließen, der die beiden Texte miteinander kontrastiert. Henri blickt in denselben Spiegel, in den Sarrasine geschaut hatte und aus dem ihm das – vom phallokratischen Standpunkt aus betrachtet – beschädigte corpus politicum entgegenblickt. Hinzugetreten ist in La Fille aux yeux d’or gegenüber Sarrasine der Hinweis auf das englische Modell, dem die neuverfasste französische Monarchie nun gehorcht. Insofern wird die hier vorgeschlagene Lektüre von Anne Lintons Deutung des Schlusstableaus der Delacroix gewidmeten Fille aux yeux d’or bestätigt: Linton liest das Bild der Marquise, die mit wildem Blick und entblößtem Busen über der getöteten Paquita steht, als Anspielung auf La Libert8 guidant le peuple (1830). Sie begründet den Bezug mit Balzacs Nostalgie einer Zeit, in der es, anders als in der materialistischen Gegenwart der Julimonarchie, noch Ideale gab. Die Marquise sei nur noch leere Erinnerung an eine vergangene Größe.96 Linton stellt den Text in seinen politischen Kontext, bezieht den allegorischen Subtext der erzählten Begebenheit aber nicht in ihre Überlegungen zur Allegorie der Libert8 ein. Diese lassen sich an

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French Bourgeoisie. An Essay on the Social Imaginary 1750–1850. Cambridge: Harvard UP 2003, S. 189. Siehe hierzu Schmale 2000: S. 195. Siehe die »Lettre IHre« vom 26. Sept. 1830, in Balzac 1996: S. 867–873, hier S. 870. In dieser »Lettre« lobt Balzac noch die bürgerlich-bescheidenen Manieren Louis-Philippes im Gegensatz zu Karl X. Siehe zu Henri de Marsays pragmatischer Politikerkarriere in den Romanen nach La Fille aux yeux d’or Laforgue 1998: S. 196–201. »Allegory and Exoticism: Balzac’s Allusion to La Libert8 guidant le peuple in La Fille aux yeux d’or«, in Nineteenth-Century French Studies 39 (Heft 1/2, 2010/11), S. 46–61, hier bes. S. 48–54.

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Kadishs Lektüre des Romans als r88criture der Französischen Revolution anbinden. Da Kadish die Assoziation von Weiblichkeit, Grausamkeit, revolutionärer Gewalt und Unordnung sowie die medusenhafte Darstellung Margaritas herausstellt,97 ließe sich die Figur als antirevolutionäres Gegenbild der Libert8 guidant le peuple deuten, denn Delacroix’ Libert8 ist anders als Balzacs Marquise weder blutverschmiert noch blickt sie wild. Kadish selbst folgt dagegen einer paronomastischen Signifikantenkette, die Margarita und De Marsay mit Marat verknüpft, wobei der Signifikant Mar das Unreine zu bezeichnen scheine und Margarita in Analogie zur häufig als Virago dargestellten Charlotte Corday stehe. Dabei ließe sich die Assoziation zur Marianne ergänzen,98 deren Name sich auch schon hinter dem der kleinen Marianina de Lanty aus Sarrasine versteckt. Margaritas Ehemann, der Marquis de San-R8al, heißt wohl auch nicht ohne Grund Don Hijos: Jetzt, so suggeriert der Name, herrschen die Söhne unter einer neuen Verfassung. Während Kadish La Fille aux yeux d’or als phobischallegorische Darstellung der Revolution mit ihrer aristokratischen, ihrer bürgerlichen und ihrer ›proletarischen‹ Phase liest,99 würde ich mit der vorgeschlagenen alternativen Lesart dafür plädieren, den Bezug des Romans zu seiner eigenen Gegenwart stärker zu beachten. Dass Paquita mit Henri das männliche Abbild der Margarita begehrt, ließe sich vor diesem Hintergrund so deuten, dass sie in ihm eine virile Version des von ihr begehrten neuen ›Herr‹schaftsmodells sieht: Sie steht beispielhaft für das paradoxe (politische) Begehren nach der männlichen Frau, für das Begehren nach einer weiblichen Alternative zum König, die aber dennoch viril ist. Das ›Unreine‹ des Henri de Marsay, das sich Kadish zufolge durch seine weiblich kodierten Körper- und Verhaltensmerkmale sowie seine englisch-französische Herkunft äußere und das die Figur in ihrem virilen Verhalten unterdrücke,100 zeigt meines Erachtens außerdem die 97 Kadish 1991: S. 37f., 54 u. 59f. 98 Ebd.: S. 38, 59–61 u. 164. Den in weiße Tücher gehüllten Marat von Davids Mort de Marat (1793) bezeichnet sie selbst als »male Marianne« (ebd.: S. 50). Die Assoziation setzt voraus, dass der Name Marianne bereits entsprechend besetzt war. Charlotte Corday hieß im Übrigen mit vollem Vornamen Marie-Anne-Charlotte. So steht ihr Name auf dem Brief, den Davids Marat in der Hand hält. In der Form »Marianne Charlotte« erscheint er etwa in einer Grafik vom Juli 1793 in R8volutions de Paris 209 (6.–20. Juli 1793), S. 679. 99 Kadish 1991: S. 54–63. 100 Ebd.: S. 53–55. Kadish bezieht die ›unreine‹ Konstitution De Marsays auf die schwache Aristokratie, die die Revolution ausgelöst habe, und parallelisiert sie mit der im ersten Teil des Romans geschilderten korrumpierten, hybriden und feminisierten Gesellschaft der Julimonarchie, ohne darauf einzugehen, dass der Erzähler Henri de Marsay als Ausnahmeindividuum einführt. Als Mitglied der Treize sei De Marsay ein illegitimer Ersatz für den König und die legitime Aristokratie (ebd.: S. 57). Kadishs Lektüre überzeugt mich nur teilweise, weil sie den Figuren gemäß den Phasen der Revolution je verschiedene Bedeutungen zuschreibt. So stehe Henri de Marsay erst für den schwachen Adel und dann für den ami du peuple Marat (ebd.: S. 54–62). Ähnlich verfährt sie mit Margarita, die zuerst für das

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missachtete Grundkonstitution eines Citoyens unter Louis-Philippe: Henri verkennt, dass er als Citoyen immer zugleich subjectum, also Teilhaber an der Souveränität, und subjectus, dem Gesetz unterworfen ist, dass er also dem von Rousseau und Sade entworfenen »Zwitterwesen aus Sujet und Souverain«101 entspricht. Er verhält sich, als ob er die souveräne Ausnahme sei, die es mit dem absoluten Monarchen aufnehmen und wie Napoleon an dessen Position rücken kann, bis er schließlich begreift, dass er blind gewesen ist für das Wirken der ›Marianne‹ im Verborgenen. Als er ihrer Existenz gewahr wird, blickt ihm mit Margarita die Marianne in ihm selbst entgegen – sein verleugnetes feminines Anderes also. In diesem ambivalenten Bild öffnet sich mit Henri, der im Haus ohne König die Schwester als seine 8gale in die Arme schließt (CH V: 1109), um mit ihr ein androgynes Doppelwesen zu bilden, zuletzt meines Erachtens der Blick nicht auf ein homosexuelles Begehren, sondern auf eine Erotik der geschlechterübergreifenden 8galit8. Der Geschwisterbund konstituiert sich allerdings über dem getöteten Körper der Paquita. Dass damit die Arbeiterschaft als ein homo sacer102 gemeint sein könnte, ist aus zwei Gründen plausibel: Erstens, weil die Proletarier in der Fille aux yeux d’or als gefährliche Subjekte gezeichnet werden, die in Analogie zu den lesbischen Figuren stehen und wie diese ausgeschlossen werden oder werden sollen,103 und zweitens aufgrund der bereits erwähnten Ähnlichkeit des Namens der Paquita mit dem des Genfer Arbeiterund Bauernvororts Les P.quis, einem Ort, der sich zuerst außerhalb der Stadtmauern befand und erst nach 1846 in die cit8 integriert wurde.104 Henris Bund mit der Schwester scheitert jedoch daran, dass Margarita sich aus Trauer

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aristokratisch-ausländische Weibliche, dann für Charlotte Corday und schließlich für das Proletariat stehe, wobei die Gewalt gegenüber Paquita paradoxerweise sowohl die Gewalt gegen das Volk als auch dessen eigene Brutalität repräsentiere (ebd.: S. 55 u. 59–61). Außerdem koppelt Kadish die von De Marsay gelebte Energie mehrfach mit der bürgerlichen Jagd nach Gold (ebd.: S. 57 u. 59), obwohl Balzac diese eindeutig als Ursache für die Schwäche der Bewohner des modernen Paris darstellt (siehe hierzu Creechs Lektüre). Leopold 2014: S. 439, vgl. zu dieser Konstitution des modernen Subjekts ebd.: S. 133–137 u. 182–196 und ders. 2015 sowie zur Unterscheidung subjectus/subjectum oben Anm. 43. Siehe zur gegenseitigen Abhängigkeit von Souverän und homo sacer als den beiden Subjekten, die von der Gesetzesordnung sowohl ausgeschlossen bzw. ausgenommen als auch vorgesehen sind, Leopold 2014: S. 141–156 im Anschluss an Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übers. v. Hubert Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Dies hat Nicole Mozet in ihrer textsemiotischen Analyse gesehen (»Les prol8taires dans la Fille aux yeux d’or«, in L’Ann8e balzacienne 24, 1974, S. 91–119, bes. S. 106–109), vgl. auch Kadish 1991: S. 59 u. 61f. Siehe zum Vergleich die beiden Stadtpläne von C. B. Glot (korrig. 1777 u. 1793) und J. R. Mayer (1863, mit nachträglichen Korrekturen und Annotationen), abgebildet in Jean-Michel Sanchez et al.: GenHve, une histoire sur mesure/Geneva, a history made-to-measure/ Genf, eine massgeschneiderte Geschichte. Genf: R8publique et canton de GenHve 2012, S. 10, Abb. 12 u. S. 14f., Abb. 15.

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um Paquita in ein Kloster zurückziehen will: Wenn die Arbeiter ausgeschlossen sind und die ›Libert8‹ mit ihnen das Objekt ihrer Liebe verloren hat, so ließe sich schließen, dann ist ihre Herrschaft sinnlos geworden. *** Villiers de l’Isle-Adams Erzählungen sind ein gutes Beispiel dafür, dass die Enthauptung Ludwigs XVI. auch neunzig Jahre danach noch nicht zum historischen Wissensschatz zu zählen ist, sondern die kollektiven Phantasmen weiterhin nachhaltig beeinflusst. So kann etwa der Protagonist der ironisch-distanziert erzählten Novelle »Les Phantasmes de M. Redoux« (1886), ein Prototyp des bürgerlichen Citoyens, der »hantise de certains phantasmes«105 nicht entkommen. Eines Tages sieht Monsieur Redoux im Londoner Wachsfigurenkabinett Madame Tussaud’s das »vieil instrument qui, d’aprHs des documents / l’appui assez s8rieux, avait servi, en France, jadis, pour l’ex8cution du roi Louis XVI« (VŒ II: 263). Angesichts der Guillotine, die für Reparaturarbeiten aus der Vitrine genommen worden ist, fühlt sich Redoux empathisch mit dem »roimartyr« (ebd.) verbunden. Dies sei nun keinesfalls auf eine royalistische Einstellung zurückzuführen, denn die »sinistre machine«, so betont der Erzähler amüsiert, wecke bei jedem Betrachter eine gewisse Traurigkeit – »/ quelque opinion que l’on appart%nt« (VŒ II: 264, Hervorh. im Orig.). Redoux identifiziert sich immer stärker mit dem König: »Ton forfait ne fut que d’Þtre roi… Mais, aprHs tout, moi, je fus bien maire ! […] Oui, nous 8tions, / peu prHs, de mÞme taille, para%t-il : – et il avait mon embonpoint.« (VŒ II: 265f., Hervorh. im Orig.) Schließlich genügt es ihm nicht, seine Empathie rein gedanklich nachzuempfinden. Er legt sich – »rien qu’un peu – pour savoir… pour t.cher d’8prouver« (VŒ II: 266) – auf die Holzbank und steht wahre Todesängste aus, als sich der obere Halbmond zur Stabilisierung des Kopfes löst und ihn in der Guillotine gefangen hält. Erst am folgenden Morgen wird Redoux erlöst und erfährt, dass das Messer zur Reparatur herausgenommen worden war. Die hier noch zumindest auf der Erzählebene als individuelles Phantasma dargestellte Identifikation106 wird in der Erzählung »Ce Mahoin !« (1887) auf die kollektive Ebene gehoben. Die kurze, von den Herausgebern der Pl8iade-Ausgabe als reiner »fait divers curieux«107 verhandelte Erzählung beschreibt die Hinrichtung des Verbrechers Mahoin. Der allgemeine Hass auf den Verurteilten lässt die öffentliche Exekution regelrecht zu einer »fÞte nationale« (VŒ II: 271) 105 Aus der Sammlung Histoires insolites, in Villiers de l’Isle-Adam: Œuvres complHtes. Bd. II. Hg. v. Alan Raitt u. Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1986, S. 233–351, hier S. 262. Ich zitiere diese Ausgabe im Folgenden unter der Sigle VŒ, gefolgt von der Bandund Seitenangabe. 106 Sangsue führt sie auf eine ambivalente Lust an der Angst zurück (2010: S. 83). 107 »Notice«, in VŒ II: 1229f., hier : 1229.

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werden. Ungefähr fünfzehntausend ›Köpfe‹ (»quinze mille tÞtes«, ebd.) sind gekommen, um der Schaulust zu frönen. Aufgrund schlechten Wetters mieten sie Speicher und Dachmansarden, in denen sie sich die Zeit bis zur Vollstreckung vertreiben. Als der unterdessen zum Schafott gebrachte Mahoin seinen Blick über den Platz schweifen lässt, bietet sich ihm folgendes Spektakel: Sur les pentes presque perpendiculaires des toitures, criblant la longueur totale de leurs dimensions, l’ardoiserie venait d’Þtre soulev8e et arrach8e. Et, / travers les milliers de trous superpos8s, voici que des milliers de tÞtes de d8capit8s parlants apparaissaient, roulant leurs yeux vers la place et rendant son regard au bandit – sans qu’il f0t, tout d’abord, possible de comprendre oF pouvaient bien Þtre les corps appartenant / ces tÞtes. C’8taient, – le lecteur l’a d8j/ devin8, – la multitude des curieux qui avaient pass8 la nuit dans les mansardes et les greniers. Aussitit que, par les lucarnes, leur fut parvenue la clameur d’en bas, tous, d’un commun accord, avaient lev8 les poings et fait sauter les ardoises – puis, s’agrippant et se suspendant aux poutres qui en craquHrent, ils avaient pass8 leurs tÞtes au-dehors, afin de voir ! afin de voir ! (VŒ II: 272)

Das Schauspiel einer Masse abgeschlagener Köpfe lässt nicht nur Mahoin entgeistert und mit offenem Mund sterben (ebd.), sondern offenbart im fiktionalen und grotesken Modus auch, dass die Enthauptung desjenigen, der den kollektiven Hass auf sich zieht, sich wie eine vielfach gebrochene Spiegelung in der Menge der Zuschauer fortsetzt. Mit der öffentlichen Exekution, so wird hier suggeriert, geht eine kollektive Identifikation einher, der kollektive Blick auf die Enthauptung köpft jeden Einzelnen. Kontrast- und zugleich Spiegelfigur jedes Einzelnen im postrevolutionären Kollektiv ist auch der Blinde in Villiers Prosagedicht »Vox populi« (1880). Er steht der Masse des Volkes gegenüber, das jeder neuen Regierung vom Kaiserreich über die Republik und die Kommune bis hin zu Mac-Mahon im immer neuen Freudentaumel huldigt, und untermalt die Regierungsfeste refrainartig mit dem Ausruf »Prenez piti8 d’un pauvre aveugle, s’il vous pla%t !« (VŒ I: 562, 563, 564 u. 565). Der Blinde ist, so der Erzähler, der »Diseur de l’arriHre-pens8e populaire« (VŒ I: 564), der den »vœu v8ritable, le vœu cach8 sous les hurrahs, le vœu secret et personnel« des in der Verehrung selbstvergessenen Volkes ausdrücke (VŒ I: 563): »le Peuple, troubl8 par ces vacarmes flatteurs, essaie en vain de se masquer / lui-mÞme son vœu v8ritable, sous n’importe quelles syllabes mensongHrement enthousiastes […].« (VŒ I: 565) Gegenüber der generellen Heiterkeit erklingt mit seiner Stimme die »Voix vraie, l’intime Voix du symbolique Mendiant terrible ! – du Veilleur de nuit criant l’heure exacte du Peuple, – de l’incorruptible factionnaire de la conscience des citoyens« (VŒ I: 564, kursiv im Orig.). Doch was ist der unterdrückte, verdrängte oder verleugnete Wunsch des Volkes, den nur der Blinde als Sprachrohr des kollektiven Unbewussten zu kennen scheint? Ist es die schon aus dem Titel verdrängte vox dei, die

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Erkenntnis einer transzendentalen ›Wahrheit‹? Die Forschung hat die Blindheit demnach als Symbol für das wahre Sehen gedeutet, das sich nicht von den Simulakren der Oberfläche täuschen lässt und erkennt, dass das Volk nicht seiner eigenen Stimme folgt, sondern von den leeren Versprechen der jeweiligen Machthaber getäuscht wird und sich diesen blind unterwirft.108 Die vox dei war aus der politischen Legitimationsrhetorik verbannt worden, weil sie nicht mehr mit der vox populi identifiziert werden konnte. Der Blinde scheint also zu symbolisieren, dass das Volk den ursprünglichen Wunsch der »r8volutionnaires clameurs« (ebd.) vergessen hat, nämlich, an der Spitze des Staats nichts – einen leeren Fleck – zu sehen. Der Blinde als »Pontife inflexible de la Fraternit8« (VŒ I: 565) spiegelt das Volk darin, dass es bei den Regierungsfeiern im Grunde nichts sieht, weil genau dieses Nichts-Sehen der volont8 g8n8rale entsprochen hatte. Am Ort der Macht gibt es, seitdem der König abgesetzt wurde, nur noch austauschbare Ersatzbilder, die eine fundamentale Leere verbergen. Hinter dem revolutionären Ruf nach demokratischer Teilhabe am Politischen verbirgt sich in Wirklichkeit jedoch, so zeigt das Prosagedicht, der Ruf nach Autorität. Hierin ähnelt »Vox populi« Maurice Maeterlincks Aveugles (1890), wo das Motiv der Blindheit, das, wie oben erwähnt, schon um 1800 im Bild des alten Ödipus aufgetaucht war und dem Leser auch bei Balzac begegnet, mit einer Kastrationssymbolik und einer allegorischen Inszenierung der Volkssouveränität verknüpft wird: Die blinden Männer und Frauen, die sich dort, voneinander getrennt durch einen entwurzelten Baum, gegenübersitzen, warten auf die Rückkehr ihres – toten – Führers, von dem sie paradoxerweise erhoffen, dass er sie nach ihrem Willen leite.109 Man kann in ihnen deshalb die Repräsentation von Rousseaus multitude aveugle sehen, die souverän sein will, aber zugleich geführt werden muss und die handlungsunfähig ist, solange sie nicht sieht, dass der Tote nicht zurückkehren wird. Die Symbolik der Emaskulation schwingt bei Villiers nur implizit mit über die Repräsentation einer postrevolutionären Gesellschaft, die um ihre politische Teilhabe gebracht wurde und die hier repräsentiert wird durch einen Ausgeschlossenen, der als blinder Seher Wiedergänger des mythischen Tiresias’ ist. Weil dieser selbst einmal vorübergehend zur Frau geworden war, konnte er die Empfindungen einer Frau beim Geschlechtsverkehr verraten. Er wurde deshalb mit Blindheit gestraft und zum Ausgleich dazu mit der Sehergabe gesegnet. Die 108 Vgl. »Notices«, in VŒ I: 1268f. u. 1348f., Julia Przybos: »Construction, reconstruction, destruction de l’histoire chez Villiers«, in Michel Crouzet/Alan Raitt (Hgg.): Villiers de l’Isle-Adam cent ans aprHs (1889–1989). Actes du colloque international organis8 en Sorbonne les 26 et 27 mai 1989. Paris: SEDES 1990, S. 115–122, hier S. 118f. und Bernard Sarrazin: »Un rire bizarre, bizarre… De Saturne / Janus : Villiers et Bloy«, in Revue des sciences humaines 42 (Heft 2, 1996), S. 137–159, hier S. 153. 109 Les Aveugles (L’intruse, Les aveugles). Brüssel: Paul Lacomblez 31892, hier S. 122.

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Blindheit des Tiresias ist ein Zeichen für seine Erinnerung an die Entmannung.110 Ermöglicht diese Erinnerung dem Blinden bei Villiers, die ›wahre‹ Lage des Volkes zu erkennen? Dieses gibt seine politische Macht nicht nur an Repräsentanten ab; es hat auch die Entmannung des nationalen Körpers vergessen und wird sowohl von fetischistischen Ersatzobjekten in Form von Kaisern, Generälen und Marschällen als auch von der Republik geblendet. Diese tritt 1880 gerade erst in die Phase der Konsolidierung ein, nachdem sie im Jahr vor der Veröffentlichung des Textes mit dem Ministerium von Jules Gr8vy erstmals eine wahrhaft republikanische Regierung erhalten hatte.111 Indem Villiers’ Texte den Einzelnen ebenso wie das Kollektiv immer wieder mit dem entmachteten König identifizieren, suggerieren sie, dass dessen Enthauptung der Nation gerade keine Souveränität gebracht, sondern sie nur geblendet hat, wie es auch Flaubert in der Pducation sentimentale bemerkt: »La France, ne sentant plus de ma%tre, se mit / crier d’effarement, comme un aveugle sans b.ton […].«112 Als ältester Text der Guillotinenserie ist der Conte cruel »Le Convive des derniHres fÞtes« erstmals 1874 unter dem Titel »Le Convive inconnu« erschienen.113 Er ist vor allem deshalb interessant, weil er die später vielfach auserzählte Thematik einleitet und nur wenige Jahre nach dem deutsch-französischen Krieg ein besonders brisantes Element aufweist: Der ungeladene Gast der mondänen französischen Karnevalsgesellschaft, der rätselhafte Baron von H***, ist ein Deutscher. Der Erzähler grübelt lange darüber nach, wo er den »inconnu de Wiesbaden« (VŒ I: 608), der sich Baron Saturne nennt, schon einmal gesehen hat. Er beschreibt die Erscheinung des Eindringlings in Begriffen, die Freuds Definition des Unheimlichen nahezu wortwörtlich vorwegnehmen: »Il en est de cela comme de ces figures autrefois familiHres qui, revues / l’improviste, troublent, avec une 8vocation tumultueuse d’impressions encore ensommeill8es, et qu’alors il est impossible de nommer.« (VŒ I: 612, kursiv im Orig.) Die Erinnerungen, die der Fremde beim Erzähler weckt – »ces intenses id8es lointaines de meurtre, de silence profond, de brume, de faces effar8es, de flambeaux et de sang« (ebd.) – evozieren eine gewaltsame Urszene. Nach langem Überlegen fällt ihm ein, dass er den Baron zum ersten Mal bei einem Spektakel gesehen hat. Er selbst hatte sich überreden lassen, dieses zu besuchen, und möchte die Er110 Seine Transformation zur Frau war ausgelöst worden, als er mit einem Stock auf zwei kopulierende Schlangen geschlagen hatte. Vgl. zum Tiresias-Mythos Robert von RankeGraves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Übers. v. Hugo Seinfeld. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003, S. 338–342. 111 Siehe Serge Berstein: »La synthHse d8mocrate-lib8rale en France 1870–1900«, in ders./ Michel Winock (Hgg.): L’invention de la d8mocratie 1789–1914. Paris: Seuil 2002, S. 257– 302, hier S. 276f. und Vincent Duclert: La r8publique imagin8e. 1870–1914. Paris: Belin 2010, S. 170 u. 183. 112 Flaubert 1952: S. 327. 113 Siehe »Notices«, in VŒ I: 1285f.

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fahrung nicht wiederholen: »c’8tait la guillotine.« (VŒ I: 618) Der Baron, so stellt sich wenig später heraus, ist ein ›Verrückter‹, der in Europa umherreist und Henker dafür bezahlt, dass er ihnen ihre Arbeit abnehmen darf. Es spricht also einiges dafür, die offensichtliche Kastrationssymbolik der Erzählung nicht auf eine sexuelle, individuell-psychologische Urszene zurückzuführen,114 sondern eher eine kollektiv-politische Urszene anzunehmen, schließlich bietet die Novelle mit der Exekution eine lange zurückliegende, vage, aber dennoch intensiv erinnerte Szene an. Ludwig XVI. wird auch explizit erwähnt, allerdings nicht als Protagonist oder besser Patiens der verdrängten Szene, sondern als guter Monarch, der die Folter abgeschafft hat (VŒ I: 624). Nachdem der Erzähler den Baron identifiziert hat, bricht dieser in ein Lachen aus, das bei ersterem »une id8e d’une paire de ciseaux miraudant les cheveux« (VŒ I: 618) hervorruft. Die einzige im Littr8 verzeichnete Verwendung des Verbs mirauder (›ajuster, faire la toilette‹) steht im Kontext einer Hinrichtung bei der Marquise de S8vign8: »[La Brinvilliers] monta seule et nu-pieds sur l’8chelle et sur l’8chafaud, et fut un quart d’heure mirod8e [miraud8e, 8dit. de Rouen], ras8e, dress8e et redress8e par le bourreau : ce fut un grand murmure et une grande cruaut8«.115 Christian Lacour verzeichnet darüber hinaus die Bedeutung »regarder avec attention«116, die noch heute im Adjektiv miraud (›kurzsichtig‹) fortlebt. Die unheimliche Erinnerung provoziert also die Angst des Erzählers um seine körperliche Unversehrtheit; in seiner Phantasie überlagern sich die Bedeutungen des Zurechtgemachtwerdens (für eine Hinrichtung?) und des Sehens. Wenig später wird eine Episode geschildert, in der der Baron als leidenschaftlicher Anhänger einer weiteren Grausamkeit auftritt: Vous connaissez l’8pisode des quarante livres pesant d’yeux crev8s qui furent apport8s, sur deux plats d’or, au shah Nasser-Eddin, le jour oF il fit son entr8e solennelle dans une ville r8volt8e ? Le baron, vÞtu en homme de pays, fut l’un des plus ardents z8lateurs de toute cette atrocit8. L’ex8cution des deux chefs de la s8dition fut d’une plus stricte horreur. (VŒ I: 623)

Der Baron wird hier zum Wiedergänger von E.T.A. Hoffmanns Coppelius, der sich als Verkäufer ›schöner Augen‹ ausgibt und bei Nathanael Ängste und bedrohliche Erinnerungen weckt. Villiers’ Erzählung verbindet die Symbolik der zerstochenen Augen nun mit der Exekutionsisotopie und verstärkt diese Asso114 Daniel Leuwers leitet eine solche Szene, an die sich der Erzähler dunkel zu erinnern scheine, aus dem Hinweis auf die »modulations incestueuses« (VŒ I: 614) ab, mit denen die schottische Halbmondäne Susannah Jackson ein Duo aus Wagners Tristan und Isolde anstimmt (»Commentaires. Notices et notes«, in Villiers de l’Isle-Adam: Contes cruels suivi de Nouveaux contes cruels. Paris: LGF 1983, S. 343–380, hier S. 350 u. 368, Anm. 9). 115 Dictionnaire de la langue franÅaise. Bd. V. Paris: Gallimard Hachette 1957, S. 279. 116 Dictionnaire franÅais des mots oubli8s du XIIe au XIXe siHcle. Bd. II. N%mes: Lacour 1999, S. 472.

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ziation über die Vorstellung der haareschneidenden Schere. In diese Isotopie fügt sich auch die Identität des Barons, hinter dessen Pseudonym Saturne sich der mythische Kastrator des Uranus bzw. der Gott der Melancholie verbirgt. Die Erzählung konstruiert nun beunruhigende Parallelen zwischen dem Baron und den anderen Anwesenden. Letztere werden am Ende durch ihr Wissen gewissermaßen mitschuldig an der Hinrichtung, die Saturne am Morgen nach dem karnevalesken Beisammensein vollstreckt: »voici une heure qui nous rend tous un peu complices de la folie de cet homme. […] Ne sommes-nous pas, en ce moment mÞme, implicitement, d’une barbarie / peu prHs aussi morne que la sienne ?« (VŒ I: 627) Die Franzosen identifizieren sich mit dem Baron, da sie selbst die Erfinder der Guillotine sind, deren er sich jetzt bemächtigt.117 Es sei hier daran erinnert, dass der Girondist Pierre Vergniaud vor seiner Hinrichtung die Revolution mit Saturn, der seine eigenen Kinder frisst, verglichen hat.118 Villiers’ Figuren sind die Nachfahren des mythischen Kastrators und müssen zugleich jederzeit Angst haben, von ihm gefressen zu werden. Die kollektive Schuld am Tod des Königs, die hier aufscheint, ist ein antimoderner Topos.119 Dementsprechend bedeutsam ist auch das im Text ausagierte Sündenbockritual, das Florence Giard aufgedeckt hat: Der Baron als ›unreine‹ Figur, als fremder Anderer, der in die Gesellschaft eingedrungen ist, nimmt den von der materialistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts selbst produzierten Tod auf sich, um schließlich ausgeschlossen und symbolisch getötet zu werden.120 Giard führt den Sündenbockstatus des Barons auf dessen adliges Erbe zurück;121 die letzte Volte des Textes lässt sich allerdings auch als Übertragung der ›urverdrängten‹ nationalen Schuld – die Enthauptung des Königs und die Terreur – auf den Deutschen lesen. Der Sieg der Deutschen hat 1870/71 mit der Ausrufung der Republik und dem Brudermord der Kommune die Wiederholung der Ereignisse von 1792/93 provoziert. Indem Villiers’ Figuren die Lust an Exekutionen auf den Deutschen, den Baron von H*** (= »hache«122), übertragen, kann der Hass auf den Erbfeind die gespaltene Nation einen und die Hoffnung auf die Revanche als Heilserwartung aller Franzosen jeglicher Couleur den patriotischen Konsens 117 Vgl. dazu auch P.W.M. Cogman: »Masks and Madness: Villier’s ›Le Convive des derniHres fÞtes‹«, in Nineteenth Century French Studies 21 (Heft 1–2, 1992/93), S. 102–113, hier S. 108f. 118 Siehe Paul R. Hanson: Historical Dictionary of the French Revolution. Lanham u. a.: Scarecrow 2004, S. 328. FranÅois Mignet zitiert Vergniauds letzte Worte in seiner Histoire de la R8volution FranÅaise. 119 So Compagnon 2005: S. 102f. 120 Florence Giard: »Images et valeurs de la mort dans quelques Contes de Villiers de l’IsleAdam«, in Georges Cesbron (Hg.): Mythe – rite – symbole. 21 essais d’anthropologie litt8raire. Angers: PU d’Angers 1984, S. 50–69, hier S. 60–67. 121 Ebd.: S. 60–62. 122 Cogman 1992/93: S. 105.

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begründen. Auf diese Weise bewahrt bzw. restauriert der rituelle Ausschluss des Sündenbocks die Solidarität der durch innere Streitigkeiten bedrohten Gemeinschaft.123 Dass die Erzählung die Handlung im Karneval situiert, lässt sich deshalb als Kommentar lesen, dem zufolge die historische Wahrheit verkehrt wird, wenn die kollektive Schuld am Verlust des monarchischen Vaters auf den Deutschen übertragen wird.124 Die Novelle liest sich somit als Reflexion über eine Manipulation des kollektiven Gedächtnisses nach 1871, als man die Dekadenzerfahrung des Fin de SiHcle auf die Niederlage im deutsch-französischen Krieg zurückführte und die Gründung der Republik mit Mythen überschrieb, die die Erinnerung an ihren traumatischen Ursprung in der Verdrängung bewahren konnten. Phobische Affekte und Assoziationen mit der Terreur konnten dabei auf die Kommune sowie auf Deutschland projiziert werden. Villiers holt in seinen Novellen das Tabuisierte unter dem Schleier der Deckerinnerung hervor und inszeniert sowohl eine Schaulust und ein Begehren nach öffentlichen Hinrichtungen als auch eine ambivalente Identifikation mit dem Spektakel. In seinen Texten stehen das Subjekt und jetzt auch das Kollektiv der Nation vor eben dem Spiegel, vor dem schon Chateaubriand und Balzacs Figuren gestanden haben. *** Maupassant reflektiert das politische Imaginäre der Republik explizit in Les Dimanches d’un bourgeois de Paris (1880 in Le Gaulois). Patissot, der Protagonist der Serie kurzer Erzählungen, besitzt unter Napoleon III. eine stabile soziale Identität, die auf der Nachahmung des Kaisers beruht. In der Republik leidet er deshalb anfänglich unter einem Selbstverlust:125 [Patissot] marcha d’une faÅon r8guliHre, gr.ce / cette facult8 simiesque d’imitation. MÞme une inqui8tude vague, comme le pressentiment d’une haute fortune suspendue sur sa tÞte, gagnait ses chefs, qui lui parlaient avec d8f8rence. Mais, quand la R8publique arriva, ce fut un d8sastre pour lui. Il se sentit noy8, fini, et, 5 perdant la tÞte, cessa de se teindre, se rasa complHtement et fit couper ses cheveux court, obtenant ainsi un aspect paterne et doux fort peu compromettant. Alors, les chefs se vengHrent de la longue intimidation qu’il avait exerc8 sur eux, et, 123 Siehe zur Funktion des Sündenbockrituals Ren8 Girard: La violence et le sacr8. Paris: Grasset 1972, S. 9–134, bes. S. 22–30, 77–86 u. 119–126. 124 Zur Funktion des Karnevals als vorübergehender Verkehrung der normativen Ordnung siehe Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übers. u. mit einem Nachwort versehen v. Alexander Kaempfe. Frankfurt am Main: Fischer 1990, S. 32–50. 125 Vgl. zur Interpretation der Erzählung Koschorke et al. 2007: S. 252–257. Meine Analyse baut auf dieser Deutung auf, legt ihren Fokus aber auf die Reflexion über postrevolutionäre Männlichkeit. 126 Maupassant 1974: S. 123f. Seitenangaben im laufenden Text mit der Sigle DIM beziehen sich auf diese Ausgabe.

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devenant tous r8publicains par instinct de conservation, ils le pers8cutHrent dans ses gratifications et entravHrent son avancement. Lui aussi changea d’opinion ; mais la 10 R8publique n’8tant pas un personnage palpable et vivant / qui l’on peut ressembler, et les pr8sidents se suivant avec rapidit8, il se trouva plong8 dans le plus cruel embarras […].126

Patissot erwirbt unter Napoleon III. in der Nachahmung des Herrschers eine angesehene soziale Position, der sogar seine Vorgesetzten ihre Ehrerbietung erweisen. Seine Respektabilität äußert sich körperlich etwa in seinem Gang (Z. 1–3). Mit der Gründung der Republik verliert er aufgrund der zerstörten spekularen Beziehung zwischen Bürger und monarchischem Herrscher nicht nur seine Identität, sondern auch seine symbolische Macht im sozialen Raum.127 Statt einschüchternder Bedeutung strahlt er nur noch eine väterliche Milde aus (Z. 5f.). Dieser Herrschaftsverlust wird mit einem Verlust von Männlichkeit assoziiert: Patissot rasiert sich und lässt sich die Haare schneiden (Z. 5). Er übernimmt damit selbst die Rolle der Dalila, die Samson seiner Macht beraubt, indem sie seine Haare abschneidet.128 Die Ausrufung der Republik wird hier also mit einer Selbst-Emaskulation des Bürgers verknüpft, wobei der Hinweis auf Rasur und Haarschnitt im Text einer Anspielung auf die Französische Revolution und die Enthauptung des Königs folgt: Denn zusammen mit seinem Identifikationsmodell verliert auch Patissot metaphorisch seinen Kopf (Z. 5).129 Damit findet Maupassant ein literarisches Bild für die Ängste, die in A Radical Reformer (Abb. 1) mitschwingen: Die Guillotine – der rasoir national130 – wird hier schließlich nicht oder nicht nur als Kastrationsmaschine anderer dargestellt, sondern als ein Monster, das sich selbst kastriert hat. Koschorke et al. deuten Patissots Imitationstrieb als Ausdruck eines neuen politischen Modells, das es jedem Citoyen erlaubt, mit seinem natürlichen Körper an der Macht teilzuhaben und wie der Usurpator Napoleon den Platz des Königs zu besetzen – allerdings nur so lange, wie es ein Spiegelbild gibt.131 Der 127 Siehe auch Koschorke et al., denen zufolge hier die von Lefort beschriebene »Desinkorporation der Individuen« sichtbar wird. Dies bedeutet, dass in der demokratisch-körperlosen Ordnung, in der die Macht nicht verkörpert, sondern nur vertreten wird, auch die Identität des Einzelnen und des Volks grundsätzlich fragwürdig sei (2007: S. 254, kursiv im Orig., vgl. auch ebd.: S. 231). 128 Vgl. zu Samson und Dalila Die Bibel, Richter, 13.1–16.31. 129 Anders als der romantische Dichter, der sich mit dem Kopf des enthaupteten Souveräns identifiziert (vgl. dazu Peters 2013: S. 20), identifiziert sich der Bourgeois mit dem enthaupteten König selbst, was sich bei ihm als symbolische Kastration äußert. 130 Agulhon zitiert aus Fr8d8ric Mistrals Tr8sor du F8librige eine Strophe des Liedes La Complainte : »Et chacun s’agenouillera / Quand Marianne passera / Appuy8e sur la Raison / Et suivie du grand rasoir.« (1979: S. 155, Anm. 49) 131 Patissots Konzentration auf den natürlichen Körper Napoleons III. zeige, dass mit dem kaiserlichen Usurpator der Königsposition die Differenz zwischen dem natürlichen und dem symbolischen Körper des Herrschers gefallen ist. Da schon Napoleon III. mit seinem natürlichen Körper die Position des königlichen Sakralkörpers eingenommen und diesen

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Fortgang der Novelle schildert nicht etwa, wie der Citoyen der neuen Republik seine Herrschaft im Rahmen der Volkssouveränität an Stelle des Kaisers antritt. Zwar gewinnt Patissot vordergründig die »gravit8 de son attitude« und damit den misstrauischen Respekt seiner Vorgesetzten zurück, als er im neuen Hut mit blau-weiß-roter Kokarde erscheint (DIM: 124). Dies ist jedoch nur die Fassade, die die »inqui8tude horrible«, die ihn bald an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs bringt (DIM: 125), verdeckt. Der Gehirnschlag, der Patissot jetzt droht und der abermals auf seinen ›Kopfverlust‹ in Folge des politischen Umbruchs hindeutet, kann nur durch körperliche Betätigung abgewendet werden. Die Fortsetzungen der Novelle erzählen von den privaten, sportlichen Modellen und Freizeitaktivitäten, die Patissot sich sucht und die Koschorke et al. als Ersatz für die alten politischen Idole und Identifikationsmodelle deuten. Damit wähle Maupassants Bourgeois einen »fast ›postmodern‹ anmutenden Weg«,132 anstatt die Gemeinschaft, wie es üblicherweise seit der Revolution geschieht, als Volk oder Nation in Szene zu setzen: Da nun jeder Einzelne im Sinne der Volkssouveränität für das Ganze steht und die Gemeinschaft nicht mehr metonymisch durch den Herrscher dargestellt werden kann, muss sie unter der (latent totalitären) Ausschaltung innerer Differenzen zur Repräsentation gebracht werden. Die Idee der Nation stelle in der Novelle jedoch eine Art blinden Fleck dar, was Koschorke et al. darauf zurückführen, dass die Grande Nation nach 1870/71 als Idealbild hinfällig zu sein scheine.133 Meines Erachtens ist dies nicht der einzige Grund, denn die Novelle stellt in ihrem weiteren Verlauf die Möglichkeit einer republikanischen Gemeinschaft radikal in Frage. Ausgangspunkt der Reflexion ist der Übergang von einer Staatsordnung, die das männliche Subjekt in seiner Macht stützt, zur republikanischen Ordnung, der es hilflos unterworfen ist: Patissot verliert zwar vor allem deshalb metaphorisch seinen Kopf, symbolisch seine Haare und realiter seine Macht, weil es keinen sichtbaren Herrscher mehr gibt. Doch dieser Abwesenheit folgt nur wenig später eine durchaus körperliche Figuration der neuen Autorität. Denn als Patissot einen Freund besucht, trifft er auf dessen Gattin, un Þtre innommable qui devait cependant Þtre une femme. […] La poitrine semblait envelopp8e de torchons sales, des jupons en loques pendaient autour des hanches, et, dans ses cheveux embroussaill8s, des plumes de pigeons voltigeaient. Elle regardait le visiteur d’un air furieux avec ses petits yeux gris. (DIM: 133f.)

auf ein reines Bild reduziert habe, könne nun prinzipiell jeder Bürger dasselbe tun (Koschorke et al. 2007: S. 253f.). 132 Ebd.: S. 257. 133 Ebd.: S. 256–258.

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Die Beschreibung macht die herrische Hausdame zur Repräsentation der »gueuse«, als welche die Republik von ihren Gegnern verschrien wurde.134 Sie verkörpert ein repressives Matriarchat, dem sich die von ihr abhängigen und infantilisierten Bourgeois fortan beugen müssen. Die Novelle kehrt also die Vorstellung einer historischen Emanzipation des unterworfenen subjectus zum souveränen subjectum um. Unter der Fuchtel einer solchen Megäre können Patissot und sein Freund, die zusammen den homosozialen republikanischen Bruderbund in seiner Minimalform bilden, die letzten Reste ihrer Männlichkeit nur noch supplementär bekunden. Der Versuch, sich ihrer Männlichkeit durch Freizeitbetätigungen zu vergewissern, ist eine alternative Reaktion auf eine Bedrohung, wie sie ähnlich etwa schon Balzacs Sarrasine erfahren hatte. Nach ersten, gescheiterten Versuchen im Leistungssport sowie nach einem ebenfalls misslungenen Wanderausflug, der die kollektive Orientierungslosigkeit ausstellt, geht Patissot angeln. Ermutigt durch die Worte seines Anglerleitfadens »allez / la pÞche, vous marchez / la victoire !« (DIM: 138) kauft er Angeln in drei verschiedenen Größen gleich Fetischen (der Erzähler bezeichnet sie als »instruments perfectionn8s«, ebd.) für verschiedene Anwendungsbereiche. Schon das Lehrbuch bringt zum Ausdruck, dass das Angeln nicht zum Selbstzweck betrieben wird, sondern eine soziale Funktion erfüllt: Es soll zum Sieg führen, dient also der Selbstbestätigung und der Etablierung einer sozialen Hierarchie, die in demokratischen Zeiten immer in Frage steht. Als Patissot am Bahnhof ankommt, bemerkt er, dass er nicht der Einzige ist, der sich in diesem Sport versuchen will: La gare 8tait pleine de gens arm8s de cannes / pÞche. Les unes, comme celles de Patissot, semblaient de simples bambous ; mais les autres, d’un seul morceau, montaient dans l’air en s’amincissant. C’8tait comme une forÞt de fines baguettes qui se heurtaient / tout moment, se mÞlaient, semblaient se battre comme des 8p8es, ou se balancer comme des m.ts au-dessus d’un oc8an de chapeaux de paille / larges bords. (DIM: 139)

Angeln ist zum Volkssport geworden. Dabei verlagert sich die Interaktion im sozialen Raum auf die Instrumente, die die Subjekte mit sich führen. Die Angeln verselbstständigen sich, geraten in Konkurrenz zueinander, verhaken sich und kämpfen geradezu gegeneinander. Die bürgerliche Meritokratie erzeugt eine mimetische Rivalität, die jedes Gefühl nationaler Einheit und Gemeinschaft torpediert. Dass die Angeln nicht nur den sozialen Status reflektieren, sondern auch die private Genderidentität jedes Einzelnen öffentlich bezeugen, offenbart sich beim Auftritt einer Familie:

134 Vgl. zur »gueuse« Agulhon 1989: S. 323–325 und zur Marianne als Megäre ders. 1992: S. 71.

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Le pHre, avec des favoris de magistrat, tenait une ligne d8mesur8e ; trois enfants du sexe m.le, de tailles diff8rentes, portaient des bambous de longueurs diverses, selon leur .ge, et la mHre, trHs forte, manœuvrait avec gr.ce une charmante canne / pÞche, orn8e d’une faveur / la poign8e. (DIM: 141f.)

Die Angelruten der Familienmitglieder sind über das Seidenband an der Rute der Mutter und die Länge der Geräte der männlichen Familienmitglieder eindeutig sexualisiert. Die übergroße Angel des Familienvaters bezeugt exemplarisch, dass das Attribut, das die Genderrolle bezeichnet, zugleich zum Indikator der Position innerhalb der Gesellschaft und vor allem für den nach außen projizierten Selbstwert einer Person wird. Die Angelrute ist die materielle Repräsentation der gesellschaftlichen Macht und des Prestiges, also des symbolischen Kapitals135 des Magistraten, das sich in einem sexualisierten Attribut veräußerlicht: Der symbolische Phallus hat hier eine konkrete Form angenommen. Der Angelsport inszeniert also mittels symbolischer Handlungen die moderne Meritokratie im Gegensatz zur monarchischen Ordnung, in der soziale Hierarchien unhinterfragt waren. Dass selbst die Mutter eine Angel besitzt, nährt die Illusion, dass auch sie an der neuen Gleichheit teilhat; ihre Rute besitzt jedoch insbesondere Dekorationswert und ist, wenn überhaupt, erst in zweiter Linie zum Gebrauch gedacht. Anders als im Falle des Magistraten dient das Angeln Patissot und seinem Freund nicht der Symbolisierung eines tatsächlich vorhandenen symbolischen Kapitals, sondern der Kompensation im Alltag erfahrener Ohnmacht. Folglich ist der Sport für die beiden kein Freizeitvergnügen (»[N]ous ne sommes pas ici pour nous amuser.« DIM: 140), weswegen sie verzweifeln, als sich kein Erfolg abzeichnet. Patissot muss sich schließlich mit einem sehr kleinen Triumph zufrieden geben, den er aber dennoch fetischistisch zelebriert: Unverhofft findet sich am Abend ein kleiner Fisch am Haken. Der hatte zwar nicht angebissen, sondern war beim Einholen der Schnur zufällig aufgespießt worden; Patissot gereicht er dennoch zur Freude: »Ce fut un triomphe, une joie d8mesur8e. Patissot voulut qu’on le f%t frire pour lui tout seul.« (DIM: 142) Was er auf seinem Teller findet, ist zwar nicht mehr als »une sorte d’allumette jaun.tre et tordue« (DIM: 143); dies hält ihn aber nicht davon ab, später von seinem gewaltigen Anglerglück zu erzählen. Da sein Selbstwert so stark von seinem Erfolg abhängt, 135 Zum Begriff des symbolischen Kapitals, das aus sozialem, ökonomischem oder kulturellem Kapital gewonnen werden kann und auf deren Anerkennung durch andere gründet, siehe Pierre Bourdieu: Raisons pratiques. Sur la th8orie de l’action. Paris: Seuil 1994, S. 160f. u. a. Zum sozialen Kapital, das der Zugehörigkeit zu einem Netzwerk mehr oder weniger institutionalisierter Beziehungen, also der ›Bekanntheit‹ und dem ›Anerkannt-Sein‹ – »interconnaissance« und »interreconnaissance« – entspringt, siehe ders.: »Le capital social«, in Actes de la recherche en sciences sociales 31 (1980), S. 2f. Der Backenbart etwa, der Maupassants pHre de famille als Magistraten ausweist, bezeugt dessen soziales Kapital.

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verwundert es nicht, dass ihn die Worte seines Nebenmannes ›revolutionieren‹, als dieser sagt, dass er nur zum Spaß komme und es ihn stören würde, wenn tatsächlich ein Fisch anbisse: Le gros homme […] l.cha ces mots qui r8volutionnHrent son voisin [sc. Patissot, L.Z.]: »C ¸ a me gÞnerait rudement si Åa mordait. Je ne viens pas pour pÞcher, moi, je viens parce qu’on est trHs bien ici : on est secou8 comme en mer ; si je prends une ligne, c’est pour faire comme les autres.« (DIM: 140)

Das vom Erzähler gebrauchte Verb trifft den Nagel auf den Kopf, ist doch die Haltung von Patissots Nachbarn die wahre revolutionäre und republikanische Einstellung, die des Beweises der eigenen Überlegenheit nicht bedarf, sich an der neuen Gleichheit der Citoyens erfreuen kann und deren Gesellschaft genießt. Dies ist allerdings die Ausnahme, zeigt die Novelle doch gerade, dass das Individuum seine Männlichkeit in der postrevolutionären Gesellschaft permanent performativ beweisen muss. Sport und Spiel ersetzen die fehlende Identifikationsfigur, mittels derer das Subjekt vormals potent und erfolgreich war. Ahistorisch und postmodern ist das nicht; vielmehr suggeriert es, dass der republikanische Körperkult etwa in der Gymnastik136 die traumatische Erfahrung des Verlusts des spiegelbildlichen Königs kompensieren soll und die Übertragung der Virilität vom König auf den Citoyen so unproblematisch nicht ist, wie es die politischen Diskurse implizieren. Die allgemeine Lust am Angeln beweist, dass die kompensatorische Performanz von Virilität einem kollektiven Bedürfnis entspricht. Die Ersatzbeschäftigung ist die einzige Möglichkeit körperlicher Selbstvergewisserung, die dem Citoyen noch bleibt137 – und wohl auch als Ersatz und Ventil für den Wunsch nach politischer Souveränität zu sehen. Dabei ist der paradigmatische Aufbau, bei dem die einzelnen Episoden über die sonntäglichen Ausflüge aneinandergereiht werden, typisch für das sogenannte Verlierernarrativ nach David Quint, die »narrative of the losers […] with its random or circular wandering«.138 Angesichts der Stabilisierung der republikanischen Regierung setzen Les Dimanches d’un bourgeois de Paris ähnlich wie Villiers’ im selben Jahr erschienene Erzählung »Vox populi« ein antimodernes Imaginäres in Szene und suggerieren, dass das Volk und die Citoyens nur scheinbar die Gewinner der Geschichte sind. Dabei fällt auf, dass die im Jahr 1870 problematisch gewordene 136 Siehe zur Rolle der Gymnastik in der Dritten Republik Georges Vigarello: »Le gymnaste et la nation arm8e«, in Alain Corbin (Hg.): Histoire du corps. Bd. II: De la R8volution / la Grande Guerre. Paris: Seuil 2005, S. 365–371. 137 Koschorke et al. deuten Patissots Aktivitäten als Versuch, der »Desinkorporation« zu entkommen (2007: S. 257, vgl. oben Anm. 127). 138 Epic and Empire. Politics and Generic Form from Virgil to Milton. Princeton, New Jersey : Princeton UP 1993, S. 9. Quint stellt dem Verlierernarrativ das teleologisch-syntagmatisch strukturierte Gewinnernarrativ gegenüber (ebd.).

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Männlichkeit in den Dimanches eindeutig auf die Gründung der Republik zurückgeführt wird und nicht, wie es Jonathan Patrick am Beispiel von nur wenig später veröffentlichten Novellen und Romanen zeigt, mit dem deutsch-französischen Krieg in Verbindung gebracht wird.139 Während mythische Werke wie etwa Camille Saint-Sa[ns’ Oper Samson et Dalila (UA 1877) suggerieren, dass die Potenz der herkulischen Franzosen von außen beschnitten wurde,140 zeugen Maupassants Dimanches auf eindrückliche Weise von der Vorstellung, dass sich die Franzosen selbst rasiert und ihre Haare freiwillig haben abschneiden lassen. Die Erzählung inszeniert die Ansicht, dass das französische Subjekt sich seiner Stärke mit der Revolution und der Wiedereinführung des republikanischen Modells 1870 selbst beraubt hat, und zeigt, wie es diese Erfahrung nun mit allen Mitteln verdrängen muss. Die Konstruktion des Krieges als nationales Debakel kann dabei selbst stützend für die neue republikanische Ordnung wirken.141 Darüber hinaus lesen sich die Dimanches auch als Absage an eine Begründung der Virilitätskrise um die Jahrhundertwende mit weiblichen Emanzipationsbestrebungen:142 Maupassant stellt die symbolische Kastration des Bourgeois infolge der Gründung der Republik an den Anfang seiner Serie, inszeniert in dieser auf Schritt und Tritt eine zumindest problematisch gewordene, wenn nicht ›invertierte‹ Geschlechterhierarchie und beschließt sie mit der Schilderung einer Versammlung der »Association g8n8rale internationale pour la reven139 »Maupassant’s Men: Masculinity and the Franco-Prussian War«, in Anne Fr8miot (Hg.): Fin de SiHcle? Postgraduates’ conference. Nottingham: The Department of French 1998, S. 17–26. 140 Dass die ausgerechnet in Deutschland uraufgeführte Oper (das Libretto schrieb Ferdinand Lemaire) als mythische Begründung der Schwäche des einst so starken Frankreich verstanden werden kann, zeigt noch die Inszenierung von Patrick Kinmonth an der Deutschen Oper in Berlin 2011 und am Genfer Grand Th8.tre von 2012, die den ersten Akt ins Jahr 1871 verlegt. Ich wäre skeptisch gegenüber der Lesart von Jann Pasler, die Dalila wie Judith als Allegorie für eine neue republikanische Stärke deutet und zwar nicht als phobische Darstellung einer männermordenden Republik, sondern als Ausdruck der »agency« von Frauen, die, insbesondere in Judiths Fall, für die Hintanstellung persönlicher hinter allgemeinen Interessen und damit für republikanisch-patriotische Werte stünden (Composing the Citizen. Music as Public Utility in Third Republic France. Berkeley u. a.: U of California P 2009, S. 188f.). Dass der Samson-Stoff zum Ausdruck scheiternder Hegemonialansprüche taugt, belegt schon das 1808, also kurz nach der Gründung des Rheinbundes und des Endes des Heiligen Römischen Reiches in Wien uraufgeführte Opernmelodram Samson, Richter in Israel von Vinzenz F. Tuczek (vgl. zu den Aufführungsdaten Hugo Riemann: OpernHandbuch. Hildesheim: Olms 1979, S. 840). Vgl. zur Thematik von Macht und Ohnmacht auch Saint-Sa[ns’ symphonische Dichtungen Le Rouet d’Omphale (1871) und Pha8ton (1873), zu ersterer siehe Pasler 2009: S. 302, deren Interpretationen ich hier nicht näher diskutieren kann, sowie Jean Gallois: Charles-Camille Saint-Sa[ns. Sprimont: Mardaga 2004, S. 151. 141 Vgl. hierzu unten Kap. 3, Anm. 200. 142 Diese Begründung liefert etwa Annelise Maugue: L’identit8 masculine en crise au tournant du siHcle, 1871–1914. Paris: Rivages 1987.

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dication des droits de la femme« (DIM: 169). Auf diese Weise hebt er die chronologische Sukzession der Ereignisse hervor und erklärt die Forderungen nach weiblicher 8galit8 zum sekundären Auslöser für die Krise der Männer bzw. zu deren Konsequenz: Die Feministinnen bedienen sich gewissermaßen erst der labilen Position der Männer. In diesem Zusammenhang wäre besonders auf die revolutionär-republikanische Allegorik des Romans Pierre et Jean (1888) hinzuweisen. Denn als dessen Protagonist Pierre Roland das Familiengeheimnis aufdeckt und erkennt, dass seine Mutter dem Vater nicht treu gewesen und sein Bruder ein Kuckuckskind ist, bricht er auf ähnliche Weise zusammen wie Patissot. Mit der Gewissheit über die Vaterschaft und dem Fall der Grenze zwischen maman und putain lösen sich in Pierre et Jean nicht nur der Bruderbund und die Familie auf, sondern auch der Nationalkörper : Am Ende verlassen zwei Schiffe namens Picardie und Lorraine zusammen mit Pierre den sicheren Hafen und das Mutterland.143 Die psychische Konstitution des Subjekts in der Republik, so scheint Maupassants Diagnose zu lauten, macht die Vorstellung von einer geeinten Nation unmöglich. Diese viel rezipierten Autoren schreiben ein antimodernes Imaginäres in das kollektive Gedächtnis ein. Man kann dieses Imaginäre mit Chateaubriand, Balzac und Villiers zwar Gegnern von Republik und Demokratie zuschreiben, es ist aber schon hier ambivalenter. Spätestens Maupassants Erzählung zeugt im satirischdistanzierten Modus davon, dass antimoderne Vorstellungen die Kehrseite der Volkssouveränität sind und sich auch bei (klein-)bürgerlichen Anhängern der Republik erkennen lassen.144 Sie sind Bestandteil und nicht Gegensatz des modernen Denkens und drücken sich in der Literatur aus, die im 19. Jahrhundert die politische Entwicklung flankiert, und, wie es die Studien von Manow und Garrigues zeigen, in politischer Architektur und politischen Mythen.145 143 Vgl. Romans. Hg. v. Louis Forestier. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1987, S. 822 u. 832f. Bezeichnenderweise trägt die Mutter den Namen der Revolutionärin Madame Roland. Siehe zu Pierre et Jean Verf.: »Una visijn amenazante del adulterio: la intertextualidad republicana en Tigre Juan de Ramjn P8rez de Ayala«, in Nerea Aresti/Julia Brühne/Karin Peters (Hgg.): ¿La EspaÇa invertebrada? Masculinidad y Nacijn en los aÇos de entreguerras. Granada: Comares (erscheint voraussichtl. 2016). 144 Maupassant hat bekanntlich wie Patissot der Republik gedient (siehe Marie-France Coquard: Guy de Maupassant et Jules Ferry. Le centenaire de deux hommes illustres. Paris: Le Cercle Parisien 1993, bes. S. 150–152 et passim) und schreibt im Vorwort zu Pierre et Jean, dass ein Autor immer nur seine eigene »vision« der Welt darstellen könne (Maupassant 1987: S. 711). Man kann sich also fragen, wie weit die satirische Distanzierung von Patissot wirklich gehen mag. 145 Siehe zum ›antimodernen‹ Denken nach Compagnon oben Einleitung, Kap. 1, Anm. 39. Die Vorstellung, dass das 19. Jahrhundert von einer linken Politik und einer rechten Literatur bestimmt sei, hat Albert Thibaudet formuliert (Les id8es politiques de la France. Paris: Stock 1932, S. 14f. u. 27–30, zit. bei Compagnon 2005: S. 10f.). Siehe zu Manow oben Einleitung, Kap. 2, bes. Anm. 94 und zu Garrigues oben Einleitung, Anm. 143.

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3.

Vorspiel: Das Imaginäre politischer Männlichkeit

Vom zerbrochenen Spiegel der Monarchie zum demokratischen vague des passions: monarchische vs. republikanische Subjektivität

Der politische Körper verlieh dem König eine phantasmatische ›Fleischlichkeit‹, die ihn zu einem vollständigen Subjekt machte, zu einem Sujet suppos8 jouir.146 Santner kontrastiert diese phantasmatische Körperlichkeit – die »carnality« – des Königs, bei der ein nie perfekter Körper in der Imagination perfektioniert wird, mit der Mangelhaftigkeit des Subjekts, das die Kluft zwischen seinem Selbstbild und seiner gesellschaftlichen Rolle als besonders kastrierend erlebt, seit es mit der Institutionalisierung der Volkssouveränität den politischen Körper des Königs reproduzieren muss.147 Im jakobinischen Modell der Volkssouveränität muss sich der republikanische Citoyen mit einem virtuellen, idealen und diskursiv etablierten Referenzpunkt identifizieren, nach dem er strebt und im Vergleich zu dem er sich selbst beurteilt: Lacans Ich-Ideal (id8al du moi).148 Dieses repräsentiert die Idee der Männlichkeit, die in der Revolution zur ideologischen Interpellationsinstanz im Sinne Althussers wird, aber körperlos bleibt:149 Das Volk soll stark, viril und souverän werden, indem jeder Citoyen die vormals im imaginären königlichen Spiegelbild geschaute ideale Männlichkeit zu einer symbolischen Idee abstrahiert und durch die Identifikation mit dieser verkörpert. Das Subjekt soll sich auf diese Weise vom Untertan 146 Vgl. zum königlichen Souverän als Sujet suppos8 jouir Leopold 2014: S. 194–196. 147 Santner 2011: S. 77f.; er bezieht sich hier besonders auf Zˇizˇeks Organs without Bodies. Santner hält das königliche »flesh« explizit frei von einer Assoziation mit einem bestimmten Körperteil. Anders als Freud, für den es den Phallus bedeuten würde, hebt er die Entthronung des Phallus in der libidinalen Ökonomie der Moderne hervor und spricht vom formlosen ›Fleisch‹. Er ist außerdem der Ansicht, dass die Krise der modernen Subjektivität nicht unter dem Vorzeichen des Verlusts, sondern vielmehr unter dem des Exzesses an Körperlichkeit begriffen werden sollte (ebd.: S. 76–82). 148 Zur knappen und verständlichen Unterscheidung von Ideal-Ich und Ich-Ideal bei Lacan siehe Peter V. Zima: Narzissmus und Ichideal. Psyche – Gesellschaft – Kultur. Tübingen: Francke 2009, S. 67. Vgl. auch Slavoj Zˇizˇeks Unterscheidung in For they Know not what they Do. Enjoyment as a Political Factor. London/New York: Verso 2008, S. 10f. Zˇizˇek bemerkt: »[S]ymbolic identification is identification with the ideal (›virtual‹) point from which the subject looks upon himself when his own actual life appears to him as a vain and repulsive spectacle. […] This point is virtual, since it figures nowhere in reality […], it is of a strictly symbolic nature.« (Ebd.: S. 11, Hervorh. im Orig.) 149 Bei Louis Althusser setzt die Interpellation, die ein Individuum zum Subjekt macht, die Existenz eines anderen, einzigartigen und zentralen Subjektes voraus, im Namen dessen die Individuen subjektiviert werden. Die interpellierten Subjekte sind folglich nur Spiegelbilder des interpellierenden Subjekts (Sur la reproduction. Paris: PUF 1995, S. 223–232, bes. S. 231). Auf der Grundlage von Foucaults Biomacht, die ohne Subjekt agiert (Histoire de la sexualit8. Bd. I: La volont8 de savoir. Paris: Gallimard 1976, S. 116–130, vgl. auch S. 154– 168), lässt sich das Ich-Ideal als körperlose Interpellationsinstanz beschreiben.

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(subjectus) und infans, der im Imaginären gefangen ist,150 zum mündigen Citoyen entwickeln. Dabei emergiert die symbolische Interpellationsinstanz der republikanischen Ordnung aus der Spiegelbeziehung zum Monarchen: [W]hen one deals with the opposition of the Imaginary (captivation by the mirror-image, recognition in a fellow-creature) and the Symbolic (the purely formal order of differential features), one usually fails to notice how the specific dimension of the Symbolic emerges from the very imaginary mirroring: namely, from its doubling, by means of which – as Lacan put it succinctly – the real image is substituted by a virtual one.151

Was Slavoj Zˇizˇek hier in Bezug auf das imaginäre Ideal-Ich und das symbolische Ich-Ideal feststellt, findet seinen historischen Ausdruck in der oben angesprochenen Allegorie der Vernunft sowie im revolutionären Culte de l’9tre suprÞme: Beide belegen den Versuch, ein symbolisches Ich-Ideal an die Stelle des königlichen Ideal-Ich zu setzen, wobei letzteres gleichzeitig reproduziert wird. So vermengt die Darstellung des 9tre suprÞme mit dem zentralen, von Sonnenstrahlen umgebenen Auge Elemente der göttlichen Transzendenz sowie der monarchischen Repräsentation.152 Die phrygische Mütze fungiert dabei, so könnte man sagen, als Medium und symbolischer Garant der Übertragung der »carnality« und der königlich-nationalen Potenz. Als konkretes Gegenstück zum rein virtuellen Ich-Ideal vermittelt sie zwischen monarchischer und republikanischer Repräsentation und Subjektivität. Während das Imaginäre im Hier und Jetzt situiert ist und auf direkte jouissance aus ist, entstehen Begehren und Aufschub Lacan zufolge erst im Symbolischen.153 Die Gegenüberstellung von monarchischem Imaginärem und repu150 Lacan 1966a: S. 90. 151 Zˇizˇek 2008a: S. 10, Hervorh. im Orig. 152 Vgl. zum Kult des 9tre suprÞme Andr8 1993: S. 186–190. Andr8 fragt deshalb: »Le ›Grand Etre‹ est-il cette puissance r8gulatrice et apaisante tant attendue ou le dernier d8guisement de la tyrannie ?« (Ebd.: S. 190, vgl. ähnlich Brooks 1993: S. 55) Als Instrument der Überwachung und Strafe, das die Feinde der Republik ausmachen sollte, ist das 9tre suprÞme die politische Variante des »œil vivant«, das Monsieur de Wolmar in der Nouvelle H8lo"se sein möchte, um die Beziehung seiner Ehefrau Julie zu ihrem (ehemaligen) Geliebten SaintPreux kontrollieren zu können. Vgl. zum »œil vivant« – der Begriff in Bezug auf Rousseau stammt von Jean Starobinski – in der Nouvelle H8loxse und dessen Analogie zum L8gislateur aus dem Contrat social sowie zu Freuds Über-Ich Leopold 2014: S. 350 u. 365–368. Monsieur de Wolmars Versuch, Saint-Preux’ Liebe zu Julie zu heilen, scheitert Leopold zufolge daran, dass Wolmar »fest daran [glaubt], daß man imaginäre Phantasmen durch symbolische Neubesetzungen bannen kann« (ebd.: S. 369). Sein Scheitern verweist schon voraus auf das 19. Jahrhundert und den problematischen Übergang von der Monarchie zur Republik. 153 Vgl. Fredric Jameson: »Imaginary and Symbolic in Lacan: Marxism, Psychoanalytic Criticism, and the Problem of the Subject«, in Shoshana Felman (Hg.): Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading: Otherwise. Baltimore/London: The Johns Hopkins UP 1982, S. 338–395, hier S. 361f.

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blikanischem Symbolischem steht damit in direktem Zusammenhang zum Geschichtsbewusstsein und zur neuen Zeiterfahrung des 19. Jahrhunderts, dessen politische Systeme sich stets im Aufschub und der Erwartung einer ›wahren‹ Republik oder aber einer ›wahren‹ Restauration konstituieren. Die politische Lacanrezeption stellt immer wieder fest, dass das Subjekt erst nach dem Eintritt ins Symbolische eine stabile Identität aufbauen könne, weil jede Identifikation, die auf einer imaginären Spiegelung in einem anderen gründet, aufgrund des Machtgefälles zwischen Subjekt und Spiegel-Ich notwendigerweise instabil sei. Yannis Stavrakakis nennt diesbezüglich die MutterKind-Beziehung,154 das Verhältnis von Subjekt und König ist damit aber ebenso gemeint. Stavrakakis zufolge sind die demokratischen Revolutionen deshalb das wichtigste Beispiel dafür, dass der konstituierende Mangel politisch anerkannt und institutionalisiert werden müsse.155 Dass sich die postmonarchische Gesellschaft mit dieser Anerkennung schwer tut, zeige sich darin, dass der Mangel eines Symbolischen, das kein organisiertes Zentrum aufweist, immer wieder mit imaginären Konstruktionen zu verdecken versucht wird.156 Dabei geht etwa Salecl davon aus, dass das (politische) Objekt, das das Subjekt verloren zu haben glaubt, »nicht vor seinem Verlust gegeben ist, sondern nur durch den Verlust zu existieren beginnt«.157 Die ideale Subjektkonstitution in der Monarchie wäre insofern nur eine nachträgliche Projektion. Die unproblematische Männlichkeit der Libertins sowie Bud8s Inszenierung eines Subjekts, das sich seiner Ganzheit vergewissert und sich von effeminierten Männern distanziert, indem es im politischen Spiegel die perfekte Männlichkeit des Königs erblickt, können allerdings als Beleg dafür gelten, dass die Monarchie nicht allein nachträglich als das ›verlorene Paradies‹ konstruiert wird, immerhin existiert hier neben dem idealen Modell ein konkretes Vorbild, an dem sich der einzelne orientieren kann – jedoch zeugt die Literatur natürlich auch im Ancien R8gime von Ambivalenz. Unter dem Blick des virtuellen Garanten des Ich-Ideals, das dem modernen Sexualitätsdispositiv zu Grunde liegt,158 wird aus dem gerade erst ermächtigten subjectum wieder ein unterworfenes, entmachtetes subjectus, das diesem virtuellen und dementsprechend ungreifbaren Ideal von ›Männlichkeit‹ schon deshalb nicht gerecht werden kann, weil es gar nicht sehen kann, wann das Ideal 154 Lacan and the Political. London/New York: Routledge 1999, S. 18 u. 31. 155 Ebd.: S. 95. Claude Lefort führt in diesem Sinne die Geburt der Psychoanalyse auf die demokratische Revolution und die Auflösung letzter Sicherheiten zurück. Vgl. dazu Louis Moreau de Bellaing: Claude Lefort et l’id8e de soci8t8 d8mocratique. Paris: L’Harmattan 2011, S. 31f. u. 220. 156 Stavrakakis 1999: S. 32 u. 51. 157 Salecl 1994: S. 76, vgl. oben Anm. 15. 158 Das moderne Sexualitätsdispositiv äußert sich darin, dass nun jeder Aspekt menschlichen Handelns und Denkens auf die Sexualität zurückgeführt wird, diese also zur Grundlage umfassender Biomacht wird (Foucault 1976: bes. S. 111 u. 140f.).

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erreicht wäre. Es stellt sich deshalb die Frage, ob sich der Unterschied von präund postrevolutionärer Subjektivität und dabei insbesondere die Problematik der Männlichkeit mit Jörg Dünnes Begriffspaar von starker und schwacher Subjektivität greifen lassen. Dünne situiert den Ursprung einer »starken« Subjektivität in dem historischen Moment, in dem die Seinsgewissheit nicht mehr in Gott, sondern im denkenden Menschen selbst gründet: in Descartes’ Cogito. Dem gegenüber steht eine »schwache«, selbstpraktische Subjektivität, die sich performativ und momentan – etwa im Schreiben – konstituiert. Dünne verfolgt die These, dass die Selbstpraxis nicht erst die Moderne nach dem von Foucault beschriebenen Bruch um 1800 kennzeichnet, sondern dass sich eine Konzeption schwacher Subjektivität konterdiskursiv zur cartesianischen starken Subjektivität schon bei Rousseau verorten lässt.159 Rousseaus selbstpraktisches Schreiben versteht er als Versuch des Auswegs aus den Aporien erkenntnisorientierter Subjektivität in der klassischen Epoche.160 Die Idee einer performativen Selbstkonstitution ist nun grundlegend für die Imagination eines autonomen bürgerlichen Subjekts, also der politischen Konstitution der Moderne, wie sie Rousseau denkt. Dorinda Outram hat gezeigt, wie die liberalen medizinischen Vordenker der Revolution diskursiv ein rationales, selbstbeherrschtes Subjekt zu konstruieren versuchten. Ihr Körperbild eines klassischen, ›geschlossenen‹ homo clausus reproduziert das höfische, libertin-aristokratische Gebot absoluter Selbstkontrolle und versucht, ohne dessen Referenzpunkt – den König – auszukommen. Das Ziel der »self-sovereignty« sollte performativ durch die Ausgrenzung und anschließende Kontrolle von Weiblichkeit und karnevalesker Unordnung – und der unteren Klassen – erreicht werden.161 159 Jörg Dünne: Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne. Tübingen: Narr 2003, S. 40–60 u. 114–125. 160 Ebd.: S. 118 u. 124. Seine These lautet, dass Rousseau die Polarität von radikaler Selbstermächtigung durch den Cartesianismus und radikaler Selbstentmächtigung durch die Moralistik durch sein selbstpraktisches Schreiben entspannt. Siehe auch ders.: »Herborisieren und Selbstpraxis. Das ›schwache‹ Subjekt in Rousseaus RÞveries«, in Paul Geyer/ Claudia Jünke (Hgg.): Von Rousseau zum Hypertext. Subjektivität in Theorie und Literatur der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 127–149, bes. S. 135 u. 146. 161 Outram 1989: S. 10, 16 u. 41–67, bes. S. 53–56, 66 et passim. Den Begriff des homo clausus übernimmt Outram aus Norbert Elias’ Über den Prozess der Zivilisation. Zur grotesken und unordentlichen Weiblichkeit vgl. Natalie Zemon Davis: Society and Culture in Early Modern France. London: Gerald Duckworth & Co. 1975, bes. S. 124, 131 u. 136. Claudia Moscovici erinnert in diesem Zusammenhang unter Verweis auf Rousseau und Hegel daran, dass sich Männlichkeit im revolutionären Kontext ex negativo im Ausschluss des Weiblichen konstituiert (Gender and Citizenship. The Dialectics of Subject-Citizenship in NineteenthCentury French Literature and Culture. Lanham u. a.: Rowman & Littlefield 2000, S. ixf. u. 1–7). Die als unmännlich qualifizierte Irrationalität wird dabei auf die Frau projiziert, die somit zur Negation männlicher Charakteristika und zum Nicht-Subjekt wird. Moscovici nennt dieses Ausschlussverfahren eine »single dialectic« (ebd.: S. x), das dem citizensubject des republikanischen Modells gerecht werde, nicht jedoch dem des 19. Jahrhun-

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Diese schwache Subjektivität im Sinne Dünnes hat ihren starken Gegenpol im romantischen Modell einer autonomen Ich–Identität. Das autonome Begehren der Romantiker dekonstruiert Ren8 Girard in Mensonge romantique et v8rit8 romanesque mit der These, dass jedes Subjekt nur das Begehren eines m8diateur imitiert.162 Dünne weist deshalb darauf hin, dass auch die starke Selbstkonstitution immer vermittelt ist über eine Instanz, mit der ein Machtkampf ausgetragen wird.163 Es stellt sich allerdings die Frage, warum nicht gerade dieser Machtkampf vom schwachen, selbstpraktischen Aspekt der Subjektivität zeugt. Girard selbst argumentiert bei seiner Unterscheidung zweier Vermittlungssituationen, der m8diation externe und der m8diation interne, politisch-historisch. In beiden Fällen begehrt das Subjekt das Objekt, das der m8diateur begehrt. Vor der Revolution befindet sich der m8diateur in einer Sphäre, die das Subjekt durch eine unüberwindbare Grenze ausschließt: Diese Konstellation kennzeichnet die Imitation Ludwigs XIV. durch den Hofadel. Zum Machtkampf, zur mimetischen Rivalität, kommt es dann, wenn die Unterschiede zwischen Subjekt und m8diateur geringer werden und die Distanz zwischen beiden Instanzen in Frage gestellt wird, das Subjekt also die Position des m8diateur grundsätzlich einnehmen könnte. Girard zitiert in diesem Zusammenhang Alexis de Tocqueville, dem zufolge das Risiko besteht, dass die Gleichheit jedes einzelne Individuum schwäche, weil es im ständigen Neid und Kräftemessen gefangen ist.164 Tocquevilles Begriff der Schwäche entspricht nun Dünnes Hinweis darauf, dass die Stärke des romantischen Subjekts kontingent ist, da sie vom Mittler abhängt.165 Tocquevilles ›Schwäche‹ ist allerdings nicht identisch mit Dünnes schwachem Subjekt. Dies zeigt Girards Standardbeispiel Julien Sorel, dessen gesellschaftlicher Aufstieg von einer performativ und selbstpraktisch konstituierten, also schwachen Subjektivität zeugt. Juliens Mediatoren sind gerade von der externen in die interne Sphäre gerückt, stellen aber in der stratifizierten Restaurationsgesellschaft noch keine Rivalen auf Augenhöhe dar. Als Ausnahmeindividuum entgeht Stendhals Figur noch der von Tocqueville beschriebenen Problematik.166

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derts, dem sie eine »double dialectic relation« (ebd.: S. xii) zugrundelegt, in der sich das männliche und das weibliche Subjekt in Negation und Ausschluss des jeweils anderen konstituieren. Mensonge romantique et v8rit8 romanesque. Paris: Grasset 1985, S. 15–67, bes. S. 30. Dünne 2003: S. 44 u. 258–260. Girard 1985: S. 20–30 u. 139–144, zu Tocqueville S. 142–144. Girard fragt: »Qui peut-on bien imiter lorsqu’on n’imite plus le ›tyran‹ ? On se copie, d8sormais, les uns les autres. L’idol.trie d’un seul est remplac8e par la haine de cent mille rivaux.« (Ebd.: S. 142) Dünne 2003: S. 260, Anm. 107. Julien ist vielmehr ein Exemplar der von Tocqueville beschriebenen »passion m.le et l8gitime pour l’8galit8 qui excite les hommes / vouloir Þtre tous forts et estim8s. Cette passion tend / 8lever les petits au rang des grands […].« (De la d8mocratie en Am8rique, in ders.: Œuvres. Bd. II. Paris: Gallimard [Pl8iade], S. 58f.)

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Der von Carl Schmitt beschriebene romantische Okkasionalismus, der eine starke Subjektivität postuliert, lässt sich Dünne zufolge ebenfalls »durchaus dekonstruktiv im Sinn nicht wesenhafter, sondern simulierter Selbstmächtigkeit« lesen.167 Da die cartesianische starke Subjektivität – sollte sie denn überhaupt gegeben sein168 – immer wieder zu zerfallen droht und von einer schwachen Selbstpraxis aufgefangen werden muss, schlage ich vor, Girards Gegenüberstellung von ›romantischer Lüge‹ und ›romanesker Wahrheit‹ auch auf diese Polarität zu beziehen: Das starke romantische Subjekt glaubt, an die Position des externen Mediatoren gelangen zu können, also das Erbe des absoluten königlichen Subjekts antreten zu können. Es erkennt nicht, dass der ›kleine‹ andere jetzt an die Stelle des königlichen Spiegel-Ich gesetzt und dabei ebenso austauschbar wird, wie die Subjektposition immer neu verhandelt werden muss, also der Performanz bedarf und niemals an einen Endpunkt gelangt. Diese Position entspricht Dünnes Begriff der Schwäche. Gerade die Männlichkeitskrise der Romantiker zeugt von den Bruchstellen der rationalen Subjektivität nach Descartes und des Strebens nach bürgerlicher Selbstermächtigung im Ausschluss des Irrationalen: Das postrevolutionäre Subjekt wird von einer effeminierenden vague des passions geradezu überrollt. Diese ›Welle‹, als welche man den vague auch verstehen kann, versinnbildlicht den Verlust an Selbstkontrolle und den Ausbruch des Irrationalen und Unkontrollierten, den schon Racines Figuren erleiden mussten, wenn der König als Verkörperung der absoluten Vernunft abwesend war.169 Zurück bleibt jetzt ein Subjekt, das körperlicher und ›unmännlicher‹ ist denn je. Die demokratischen Passionen – schon Platon bezeichnet den demokratischen Menschen als ein Objekt unkontrollierter Begierden170 – werden das literarische Imaginäre des 19. Jahrhunderts beherrschen und dabei sowohl mit dem Weiblichen als auch mit der unkontrollierten Volksmasse assoziiert bleiben bzw. auf diese proji-

167 Dünne 2003: S. 221, Anm. 1; vgl. zur Illusion romantischer Subjektautonomie auch ebd.: S. 259. Siehe zum romantischen Okkasionalismus Carl Schmitt: Politische Romantik. Berlin: Duncker & Humblot 31968, S. 10, 22f. et passim. 168 Balibar zufolge ist Descartes’ Position inkompatibel mit der Idee des Subjekts als subjectum. Das cartesianische Subjekt sei vielmehr immer einer göttlichen Souveränität unterworfen (assujetti). Willensfreiheit gebe es im cartesianischen Modell paradoxerweise nur beim subjectus (2011: S. 35–39). 169 Vgl. beispielsweise zu PhHdres Verlust der höfisch-aristokratischen Selbstkontrolle Leopold 2014: S. 115–121. Chateaubriand meint natürlich le vague des passions als einen Zustand ›effeminierter‹ Unbestimmtheit: »Les femmes, ind8pendamment de la passion directe qu’elles font na%tre chez les peuples modernes, influent encore sur les autres sentiments. Elles ont dans leur existence un certain abandon qu’elles font passer dans la nitre ; elles rendent notre caractHre d’homme moins d8cid8 ; et nos passions, amollies par le m8lange des leurs, prennent / la fois quelque chose d’incertain et de tendre.« (1978: S. 715) 170 Platon 1988b: S. 334–342 (Politeia VIII, 559–564). Vgl. hierzu auch unten Teil 1, Kap. II.1.

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ziert.171 Das Problem des vague des passions hat Descartes dabei selbst vorweggenommen: implizit in den Meditationes, wo das Cogito nicht ohne den Rückgriff auf Gott auskommt, der den Ausschluss des Wahnsinns als des absolut Irrationalen garantiert,172 und explizit in seinem späteren Traktat Les Passions de l’.me (1649): Das rationale Subjekt kämpft dort – selbstpraktisch – gegen die Passionen, die seine Selbstkontrolle bedrohen. Die starke Subjektivität ließe sich nun nicht nur auf das cartesianische, scheinbar autonome Subjekt beziehen, sondern besonders auch auf jenes, dessen Identität durch ein königliches Spiegel-Ich gestützt wird.173 Dünnes Beispiel Rousseau mag als Beleg dafür gelten, dass das Subjekt ohne den König als Stütze zur Selbstpraxis gezwungen ist. Es zeigt außerdem, dass die schwache Subjektkonstitution, bei der der Andere nicht mehr als Stütze, sondern als Konkurrenz erfahren wird, paranoide Züge annehmen kann.174 Revolutionskritiker und Konterrevolutionäre wie beispielsweise Pierre Lasserre argumentieren in diesem Sinne für die Notwendigkeit einer Ich-Stütze durch den Monarchen: La R8volution est le dissolvant de l’ordre. Par l/ mÞme elle est le dissolvant de l’Individu, dont la prosp8rit8 d8pend de la vigueur de l’ordre. En tant qu’application de la Libert8-principe, ces fameuses libert8s de 1789 sont st8riles. Elles suppriment tous les obstacles autour de l’individu. Mais le d8sert aussi est absence d’obstacle. Il faut / l’individu des soutiens.175

Dünne beschreibt bei Rousseau eine Entwicklung vom autonomen Subjektdenken zur Selbstpraxis und eine progressive Trennung dieser beiden Aspekte, die bei Flaubert schließlich zugunsten von letzterem völlig voneinander disso171 Zum Topos der weiblichen Masse vgl. Susanna Barrows: Distorting Mirrors. Visions of the Crowd in Late-Nineteenth-Century France. New Haven: Yale UP 1981, S. 43–61; vgl. auch das im 19. Jahrhundert vielfach verwendete Bild der »Flut der Demokratie, gegen die es seit 1789 keinen Damm zu geben schien« (Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. München/Leipzig: Duncker & Humblot 21926, S. 31). 172 Das Cogito benötigt den rückversichernden Bezug auf Gott, um den Wahnsinn auszuschließen: »C’est Dieu qui exclut la folie et la crise.« (Jacques Derrida: »Cogito et histoire de la folie«, in ders.: L’8criture et la diff8rence. Paris: Seuil 1967, S. 51–97, hier S. 89, Anm. 1, vgl. auch ebd.: S. 91). 173 Die von Dünne beschriebene Spannung von cartesianischer Selbstermächtigung und moralistischer Selbstentmächtigung im 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Anm. 161) kann insofern politisch begründet werden, als die Moralistik mit dem Jansenismus zumindest verschwistert ist und damit einer intellektuellen Strömung angehört, die sich explizit gegen den Absolutismus wendet und aus der sich im 18. Jahrhundert die Parlamentarier rekrutieren. Vgl. zum antagonistischen Verhältnis von Jansenismus und Absolutismus Lucien Goldmann: Le dieu cach8. Ptude sur la vision tragique dans les Pens8es de Pascal et dans le th8.tre de Racine. Paris: Gallimard 1972, S. 115–156, bes. S. 126–129 und Ren8 Taveneaux: Jans8nisme et politique. Paris: Armand Colin 1965, S. 12–50. 174 Vgl. zur Paranoia als Zeichen problematischer Autonomie Dünne 2001: S. 136. 175 Lasserre 1913: S. 340. Vgl. zu Lasserres Rousseaukritik auch oben Anm. 18 sowie das in Kap. 2 zitierte Diktum aus Flauberts Pducation sentimentale.

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ziiert werden.176 Die Imaginationen krisenhafter Männlichkeit im 19. Jahrhundert lassen sich als Ausdruck des Konflikts der beiden Positionen fassen. Das Erleben der eigenen Männlichkeit kann in diesem Zusammenhang als der Signifikant verstanden werden, der auf das Signifikat starker oder schwacher Subjektivität verweist, je nachdem, ob die Männlichkeit als problematisch oder unproblematisch erfahren wird. Dünnes schwache, Schmitts okkasionalistische und Girards mimetische Subjektivität sind Ausdrucksformen moderner Subjektivität nach dem Tod des Königs, die sich dialektisch zwischen den aufklärerischen Diskursen der Subjektautonomie und der Selbstpraxis konstituieren. Die starke, autonome Subjektivität muss nach dem Tod des Königs performativ im Sinne einer schwachen Subjektkonstitution bewiesen werden und die zwiespältige Identität zwischen neuerlangter Souveränität und Unterworfensein unter das neue politische System äußert sich insbesondere in der Metapher ambivalenter Männlichkeit.177 Balzacs Henri de Marsay ist insofern das komplementäre Gegenstück zu Julien Sorel. Er überschreitet die Schwelle von der externen zur internen Mediation und vom starken zum schwachen Aspekt postrevolutionärer Subjektivität: Der Marquis de San-R8al ist, wie es sein Name und dessen Assoziation zum Gottesgnadentum suggerieren, ein m8diateur externe. Als solcher erscheint er in La Fille aux yeux d’or nicht in persona und bleibt eine unsichtbare Instanz. Solange der Libertin De Marsay davon ausgeht, dass jener sein m8diateur ist, kann er als autonomes, starkes Subjekt mit fragloser Genderidentität trotz weiblich kodierter Merkmale in Rivalität zu San-R8al 176 Dünne 2003: S. 133. 177 Dieses Verständnis entspricht Robert Nyes Befunden bezüglich aristokratischer und bürgerlicher Ehre: Während ein Adliger im Ancien R8gime mit Ehre geboren ist und sie nicht verlieren darf – also ein starkes Subjekt ist – muss ein Bürgerlicher seine Ehre erst – selbstpraktisch – erwerben (Nye 1993, vgl. zusammenfassend dazu Jo Burr Margadant: »Gender, Vice, and the Political Imaginary in Postrevolutionary France: Reinterpreting the Failure of the July Monarchy, 1830–1848«, in The American Historical Review 104, Heft 5, 1999, S. 1461–1496, hier S. 1466). Vgl. auch Rauch 2001 zur Notwendigkeit, Männlichkeit nach der Revolution zu beweisen. Zur Spannung zwischen Selbstauflösung und -behauptung in der Moderne siehe Claudia Jünke: »Selbstschwächung und Selbstbehauptung – Zur Dialektik moderner Subjektivität«, in Geyer/C. J. 2001: S. 9–18, bes. S. 9 u. 13. Ich kann hier nicht alle Fragen beantworten, die die Verwendung der Begriffe der starken und der schwachen Subjektivität im verfolgten Zusammenhang aufwirft. Dünnes Fokus liegt auf dem Schreiben als Selbstpraxis, weshalb er auf die politische Problematik der Mediation nach Girard nicht eingeht und sich bei der externen Mediation auf Girards Beispiele fiktionaler Modelle, denen etwa Don Quijote oder Emma Bovary nacheifern, bezieht (2003: S. 258–260). Angesichts der Tatsache, dass beide Figuren unter einer lebensweltlichen Ohnmacht leiden – Quijote als verarmter Hidalgo und Emma als Frau – stellt sich die Frage, ob sie diese nur zu kompensieren versuchen, indem sie die internen Mediatoren einer bürgerlich-(früh-)kapitalistischen Ordnung fiktional reexternalisieren (Ähnliches geschieht bei Proust, vgl. Girard 1985: S. 69–99 u. 142). Quijote und Emma restaurieren die Ordnung des Imaginären, um die Illusion der eigenen Potenz aufrechtzuerhalten, was allerdings in beiden Fällen zu Frustration führt.

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treten und meinen, dessen Position einnehmen und ihn zum m8diateur interne machen zu können. Als Ausnahmeindividuum ist De Marsay zu Beginn noch nicht das schwache demokratische Subjekt Tocquevilles, wird aber zu einem solchen, als er sich einer unerwarteten Rivalin und der Entmachtung San-R8als gegenübersieht. Dass er im Zuge dessen später Karriere in der mediokren Politik macht, belegt, dass er sich den neuen politischen Umständen angepasst hat.

4.

Adieu: Lepeletier, Anfortas und die Verdrängung

Hugo spart in Quatrevingt-treize die Enthauptung des Königs – zumindest im Denotat – aus und konzentriert sich auf den Brudermord und die Analogie von Vend8e und Kommune. Er verfährt also ganz ähnlich wie Zola, der in La Fortune des Rougon (1871) die Urszene der in den Rougon-Macquart ausgebreiteten Degenerationsgeschichte beschreibt. Während Zola den Ursprung der zykluskonstituierenden »fÞlure«, den er in einer Verrätselung um die Jahre 1789–1793 herum situiert,178 nur vage beleuchtet, konzentriert er sich vordergründig auf die Entzweiung der metonymisch für die Gesellschaft stehenden Familienäste der Rougon und der Macquart. Beide Romane zeugen von der Verdrängung eines problematischen Ursprungs aus dem literarisch vermittelten kollektiven Bewusstsein nach 1870. Zeugnisse einer solchen Verdrängung bzw. Umschreibung lassen sich schon in der Revolution finden: Die Republikaner haben Ludwigs Enthauptung zu Beginn kaum thematisiert und ihren Jahrestag beinahe unkommentiert verstreichen lassen; Hunt beschreibt eine Ambivalenz »between the desire to celebrate the act and to forget it«.179 Freud geht nun davon aus, dass Gefühle, die in der Reaktion auf ein traumatisches Ereignis nicht zum Ausdruck kommen können, auf ein Ersatzereignis übertragen werden.180 Eine ähnliche Verdrängungsarbeit und affektive Ersatzbesetzung lässt sich nun beim Tod vor allem Michel Lepeletiers, aber auch Jean-Paul Marats feststellen. Nachdem der Citoyen und Abgeordnete Lepeletier, vormals Marquis de SaintFargeau, in Ludwigs Prozess für dessen Hinrichtung gestimmt hatte, fiel er einem Attentat zum Opfer, an dessen Folgen er in der Nacht vor der Enthauptung 178 Vgl. Rainer Warning: »Kompensatorische Bilder einer ›wilden Ontologie‹: Zolas Les Rougon-Macquart«, in ders. 1999b: S. 240–267, hier S. 246 u. 252 und Gerhard Regn: »Demokratie als Krankheit. Zolas Ursprungsgeschichte der Moderne«, in ZFSL 121, Heft 3, 2011, S. 251–270, hier S. 254 u. 259–261. Gerade diese Ungenauigkeit macht 1793 zum Zeitpunkt der verdrängten Urszene des Vatermordes, die immer nur implizit evoziert werden kann (vgl. dazu Manow 2011: S. 38). 179 Hunt 1992: S. 59–62, das Zitat befindet sich auf S. 59; vgl. auch dies. 1991a: S. 126. 180 »Die Verdrängung«, in Freud 1975: S. 103–118, bes. S. 114f.

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des Königs starb.181 Bevor er in höchster Ehrerweisung öffentlich bestattet wurde, hatte man seinen Leichnam auf dem Podest inmitten der Place Vendime aufgebahrt, von dem kurz zuvor das Reiterstandbild Ludwigs XIV. gestürzt worden war.182 Dabei wurde seine Wunde, die unverkennbar an Christi Wunde am Kreuz mahnt, religiös überhöht.183 Man stellte sie als Zeugnis einer konterrevolutionären Verschwörung öffentlich zur Schau, was Hunt und De Baecque zufolge sowohl dazu diente, die Exekution des Königs zu legitimieren als auch, die Revolutionäre in Opposition zu ihren Feinden zu vereinen.184 Die öffentliche Zurschaustellung des Leichnams lässt sich allerdings auch als psychische Verschiebung deuten. Für diese Hypothese spricht eine am 27. Januar 1793 im Moniteur universel erschienene detaillierte Schilderung der Beisetzung Lepeletiers. Deren Autor beschreibt den Toten so, wie Jacques-Louis David ihn in Le Peletier de Saint-Fargeau sur son lit de mort (Abb. 8) darstellen wird: »Il 8tait nu jusqu’/ la ceinture, et l’on voyait / d8couvert sa large et profonde plaie.«185 Lepeletiers Wunde befindet sich in der Lendenregion und ähnelt daher der ebenfalls mit Christi Wunde in Verbindung gebrachten Genital-, wenn nicht Kastrationswunde des Anfortas.186 Der Beobachter fährt fort mit einer Schilderung des Trauerzuges: »De chaque cit8, des citoyens, arm8s de piques, formaient une barriHre, et soutenaient les colonnes. Ces citoyens tenaient leurs piques horizontalement / la hauteur des hanches, de main en main.«187 Offensichtlich müssen sich die der Bestattung beiwohnenden Citoyens ihrer eigenen intakten Virilität symbolisch durch horizontal in Hüfthöhe gehaltene Piken 181 Siehe Hanson 2004: S. 195. Lepeletier wurde am frühen Abend des 20. Januar angegriffen und erlag seinen Verletzungen in der Nacht zum 21. (siehe Gazette Nationale ou Le Moniteur universel 24, 24. Jan. 1793, reprod. in R8impression de l’ancien Moniteur. Seule histoire authentique et inalt8r8e de la R8volution FranÅaise depuis la r8union des PtatsG8n8raux jusqu’au consulat [Mai 1789-Nov. 1799] avec des notes explicatives par L8onard Gallois. Bd. XV. Paris: Plon 1840, S. 249–260, hier S. 256). 182 Siehe die Abbildung in R8volutions de Paris 185 (19.–26. Jan. 1793), abgebildet bei Hunt 1992: S. 74. 183 Siehe hierzu R8gis Michel: »Bara : Du martyr / l’8phHbe«, in Fondation du mus8e Calvet, Avignon (Hg.): La mort de Bara. De l’8v8nement au mythe. Autour du tableau de Jacques Louis David. Avignon: Mus8e Calvet 1989, S. 41–77, hier S. 49. 184 De Baecque 1993: S. 346 u. 348 und Hunt: »The ceremony for Lepeletier served as a kind of answer to the doubts remaining about the killing of the king. It showed that the deputies who voted for the king’s death were not cannibals but rather men ready to die for their country. Lepeletiers wound was the sign of his political martyrdom and hence of his sacredness; for this reason, it had to be visible to everyone.« (1992: S. 74f.) 185 Gazette Nationale ou Le Moniteur universel 27 (27. Jan. 1793), reprod. in R8impression de l’ancien Moniteur. Bd. XV. Paris: Plon 1840, S. 277–284, hier S. 278. 186 In Chr8tien de Troyes’ Perceval ou le Conte du Graal befindet sich die Wunde des Fischerkönigs zwischen den Hüften: »Il fut feruz d’un javelot / Par mi les hanches amedos […].« (Œuvres complHtes. Hg. v. Daniel Poirion. Paris: Gallimard [Pl8iade] 1994, S. 772, vv. 3512f.) 187 Gazette Nationale ou Le Moniteur universel 27 (1793), S. 278, meine Hervorh.

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vergewissern. Dies lässt nun vermuten, dass nur verschoben auf den Körper des Revolutionshelden die eben an dessen Todestag geschlagene tiefe Wunde der Nation, die nicht öffentlich dargestellt werden und möglichst schnell in Vergessenheit geraten soll, sichtbar werden kann. Das im Moniteur beschriebene Spektakel steht solchermaßen im Kontrast zum Grand D8bandement de l’arm8e anticonstitutionnelle, wo den konterrevolutionären Truppen angesichts der »res publica« der Th8roigne de M8ricourt vor Schreck die Waffen aus den Händen fallen. Anders als die symbolisch kastrierte feindliche Armee behalten die revolutionären Citoyens beim Anblick der Wunde die Zeichen ihrer Männlichkeit.188 Die Angelruten, die Maupassants Bourgeois in der Dritten Republik in die Höhe recken, haben denn mit den Piken auch ein lebensweltliches Vorbild. Folgt man dieser Deutung, so nimmt der tote Lepeletier nicht nur im konkreten Sinn die Position des Königs auf dem Podest ein, sondern symbolisiert zugleich auch den Anblick der königlosen Nation. Die Ersatzzeremonie kann die Folgen der Enthauptung zur Anschauung bringen, ohne jedoch deren phobische Wirkung zu entfalten. So kann sie die Verdrängung des eigentlichen Ereignisses fördern, das auf verschobene Weise Eingang ins Imaginäre findet. An Lepeletiers Tod werden allerdings nicht nur die Affektübertragung und die Verdrängungsarbeit am (Kastrations-)Trauma der Nation sichtbar. Er wird auch zu einer Art Mahnmal und zum Symbol einer Bedrohung. Denn was auf dem oben abgebildeten, zerrissenen Druck nach Davids verlorenem Gemälde nicht oder nur ansatzweise zu sehen ist, offenbaren eine überlieferte Äußerung des Künstlers und eine Zeichnung von Anatole Devosge: Über dem Leichnam hängt ein an nur einem Haar befestigtes Schwert. Dieses symbolisiere das Risiko, das die Revolutionäre bei der Verurteilung des ›Tyrannen‹ eingegangen sind.189 Die Waffe, die Lepeletiers tiefe Wunde schlagen wird, ließe sich allerdings auch als anonymes190 Damoklesschwert der Kastrationsdrohung deuten, das nach der Tötung des Königs über jedem Citoyen hängt. Was Lepeletier geschehen ist, kann jedem passieren. Es ist demnach nur besonders brisant, dass dieses Bild, das die Schuld eines jeden Franzosen am Tod Ludwigs XVI. suggeriert, verschwunden ist: Nach Davids Tod wurde es im Jahr 1826 von Lepeletiers roya-

188 Vgl. zum Grand d8bandement Cameron 1991: S. 91–93, Landes 1992: S. 21 und dies. 2001: S. 65f. 189 »Voyez-vous cette 8p8e qui est suspendue sur sa tÞte, et qui n’est retenue que par un cheveu ? […] cela veut dire quel courage il a fallu / Michel Le Peletier, ainsi qu’/ ses g8n8reux collHgues, pour envoyer au supplice l’inf.me tyran qui nous opprimait depuis si longtemps, puisqu’au moindre mouvement, ce cheveu rompu, ils 8taient tous inhumainement immol8s.« (Zit. nach Bordes 1988: S. 127) 190 Der Attentäter, der Leibwächter P.ris, war bekannt (vgl. Hanson 2004: S. 195). David hätte ihn also darstellen können. Indem er es unterlässt, hebt er die Bedrohung auf eine allgemeinere Ebene.

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Abb. 8: Pierre Alexandre Tardieu, Le Peletier de Saint-Fargeau sur son lit de mort, Stich nach Jacques-Louis David 1793. BibliothHque nationale de France, Paris

listischer Tochter erworben, der Öffentlichkeit unzugänglich gemacht und schließlich vermutlich zerstört.191 Anders gestaltet sich die künstlerische Illustration des toten Publizisten Marat. Zwar scheint das Blut des Revolutionärs ähnlich wie bei Lepeletier die Sakralität angenommen zu haben, die der König am 21. Januar verloren hatte.192 Im Unterschied zum Tod des Lepeletier bilden die zahlreichen Repräsentationen der Ermordung Marats jedoch die Attentäterin mit ab und rücken sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Charlotte Corday wird dabei häufig mit hohem Zylinder und, zur Virago stilisiert, einen Dolch zückend dargestellt. Die Abbildungen aktualisieren damit die Vorstellungen von der transgressiven, politisch aktiven Frau.193 Auch in Davids Mort de Marat wird Corday als Agens benannt: Ihr Name – »Marie anne Charlotte Corday« – ist deutlich auf dem billet in der Hand des ami du peuple zu lesen. Dies lässt vermuten, dass es dem politischen Imaginären nur allzu recht kam, dass Marat gerade von einer Frau ermordet worden war. So konnten die Herren der Revolution statt der Enthauptung des 191 Siehe zur Geschichte des Gemäldes Michel 1989: S. 50. 192 So Hunt 1992: S. 76. 193 Vgl. ebd.: S. 81f. Ausdrucksstark ist der ebd.: S. 81 abgebildete Stich aus R8volutions de Paris 209 (vgl. oben Anm. 98). Siehe zu Corday, bes. in La Mort de Marat, auch Kadish 1991: S. 40–52.

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Königs die Gefährdung durch die transgressive Frau – eine gefährlich aktive Marianne – thematisieren und den phobos auf diese umleiten. Texte wie die von Hugo und Zola zeugen von dieser Verdrängungsarbeit, von einem kollektiven Vergessen, wie es Ernest Renan 1882 in seinem Vortrag Qu’estce qu’une nation ? als konstitutives Merkmal einer Nation definiert: L’oubli, et je dirais mÞme l’erreur historique, sont un facteur essentiel de la cr8ation d’une nation, et c’est ainsi que le progrHs des 8tudes historiques est souvent pour la nationalit8 un danger. L’investigation historique, en effet, remet en lumiHre les faits de violence qui se sont pass8s / l’origine de toutes les formations politiques, mÞme de celles dont les cons8quences ont 8t8 les plus bienfaisantes. L’unit8 se fait toujours brutalement. […] Or l’essence d’une nation est que tous les individus aient beaucoup de choses en commun, et aussi que tous aient oubli8 bien des choses.194

Renan nennt zwar nicht die Revolution als Beispiel für ein solches Vergessen,195 kommentiert diese aber wenig später folgendermaßen: [C]ette grande royaut8 franÅaise avait 8t8 si hautement nationale, que, le lendemain de sa chute, la nation a pu tenir sans elle. […] Ainsi a pu s’accomplir l’op8ration la plus hardie qui ait 8t8 pratiqu8e dans l’histoire, op8ration que l’on peut comparer / ce que serait, en physiologie, la tentative de faire vivre en son identit8 premiHre un corps / qui l’on aurait enlev8 le cerveau et le cœur.196

Man ist versucht, mit Lacan hinzuzufügen: »ou le phallus«. Die Literatur ist nun nicht nur Zeugnis der Verdrängungsarbeit und der Strategien kollektiver Gedächtniskonstruktion, sondern reflektiert diese zum Teil auch. So erzählt etwa Balzac in der Novelle Adieu (1830) von einer Gräfin, die ihr zivilisiertes Selbst verloren hat und zur wahnsinnigen Wilden geworden ist. Als ihr ehemaliger Geliebter aus der Gefangenschaft in Russland zurückkehrt, erkennt sie ihn nicht. Nach mehreren gescheiterten Annäherungsversuchen seinerseits stellt er die traumatisierende Situation nach, infolge derer sie ›verrückt‹ wurde: Sie hatte ihren Ehemann im Russlandfeldzug begleitet und war beim Übergang über die Beresina 1812 von ihrem Geliebten getrennt worden, als dieser seinen Platz auf einem Rettungsfloß für sie und ihren Ehemann opferte. Die Traumatherapie scheint erfolgreich: Die Gräfin kann im re-enactment den Verlust ihres Geliebten nacherleben, diesen wiedererkennen und zu ihrem verdrängten Selbst zurückfinden, stirbt dann jedoch unvermittelt. Das politische Trauma des gescheiterten Russlandfeldzugs und des Sturzes Napoleons, der als (besserer) Ersatz für den 194 Qu’est-ce qu’une nation ? Et autres 8crits politiques. Hg. v. Raoul Girardet. Paris: Imprimerie nationale Pditions 1996, S. 227f. 195 »Aucun citoyen franÅais ne sait s’il est burgonde, alain, taxfale, visigoth ; tout citoyen franÅais doit avoir oubli8 la Saint-Barth8l8my, les massacres du Midi au XIIIe siHcle.« (Ebd.: S. 228) 196 Ebd.: S. 230.

Adieu: Lepeletier, Anfortas und die Verdrängung

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König gelten konnte, wird hier auf spektakuläre Weise in Szene gesetzt.197 Was dabei wiederum unbenannt bleibt, ist das Ereignis vom Januar 1793. Dieses blitzt nur auf im Bild des Ehemanns der Gräfin, der vom Floß fällt und beim Aufschlag auf eine Eisscholle enthauptet wird: »Le comte, qui 8tait au bord, roula dans la riviHre. Au moment oF il y tombait, un glaÅon lui coupa la tÞte, et la lanÅa au loin, comme un boulet.« (CH X: 1001) Dieses Ereignis, das die Gräfin in den Wahnsinn treibt, weil das Opfer ihres Geliebten sinnlos war, wird von der Narration anschließend nicht wieder aufgegriffen. Das Detail der Enthauptung scheint auf der Ebene der histoire selbst überflüssig, auf discours-Ebene ist es dies mitnichten: Balzac überschreibt das Ereignis, das eigentlicher Auslöser einer Serie traumatischer Erfahrungen ist, am Vorabend der Julirevolution gewissermaßen mit der Deckerinnerung der russischen Niederlage. Es stellt sich deshalb die Frage, ob das von der Wahnsinnigen endlos wiederholte »Adieu« – das letzte Wort an ihren Geliebten – auf der allegorischen Ebene, die auf den Publikationsmoment und damit auf eine »situational consciousness«198 im Sinne Jamesons zu verweisen scheint, mindestens so sehr Napoleon wie dem (absoluten) König gilt.199 Nach 1871 wird der verlorene Krieg zusammen mit der Kommune zur Deckerinnerung, die es erlaubt, das bedrohliche Imaginäre, mit dem die Republik besetzt ist, zu überschreiben: Analog zu den revolutionären Diskursen über die Impotenz Ludwigs XVI. wird die Gründung der Dritten Republik mitten im deutsch-französischen Krieg von Diskursen über einen schwachen, von seiner Frau dominierten Napoleon III. und eine regenerierte, starke Republik sowie über die karnevaleske Unordnung der Kommune begleitet.200 Dass mit 197 Maurice Samuels zufolge grenzt sich Balzac mit dieser Novelle von der spektakulären Repräsentation historischer Ereignisse ab, wie sie in der Romantik Konjunktur hatten. Das wiederholte »Adieu« gelte diesen Geschichtsdarstellungen (The Spectacular Past. Popular History and the Novel in Nineteenth-Century France. Ithaca/London: Cornell UP 2004, S. 208–224). 198 Jameson überträgt Hegels Begriff des Situationsbewusstseins auf literarische Texte und deren ›Bewusstsein‹ des gegenwärtigen politisch-historischen Kontexts (1986: S. 85). 199 Die Novelle erscheint am 15. Mai und am 5. Juni 1830 in La Mode und dabei insofern im Resonanzraum der Revolution, als Balzac von Februar bis Mai die M8moires de Sanson zusammen mit Un 8pisode sous la Terreur veröffentlicht hat (siehe zur Chronologie Guyon 1967: S. 341, 359 u. 363). In Les Deux RÞves (8. Mai 1830 in La Mode) reflektiert er über die direkte Linie, die von der Spaltung der Nation durch die Reformation zur Revolution führe (siehe Guyon 1967: S. 368–371). Eine erneute Revolution kündigt sich seit der Auflösung der Chambre durch Karl X. im März 1830 an, als der schon länger latente Konflikt zwischen Regierung und öffentlicher Meinung ausbricht und die republikanische und liberale Opposition an Einfluss gewinnt (siehe hierzu Sylvie Aprile: La r8volution inachev8e. 1815–1870. Paris: Belin 2010, S. 51 und Guyon 1967: S. 375). 200 Die diskursive Strategie, die Niederlage auf Napoleon III. zu schieben, beschreiben Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865. Frankreich 1871. Deutschland 1918. Berlin: Alexander Fest 2001, bes. S. 127 u. 141–143 sowie Nye 1993:

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Vorspiel: Das Imaginäre politischer Männlichkeit

dem republikanischen Vaterfunktionsverlust allerdings die »sexual anarchy« ausgebrochen und die Genderordnung der allgemeinen Entdifferenzierung anheimgefallen ist, davon weiß die Literatur des Fin de SiHcle zu berichten.201

S. 152f. Gambetta wurde dagegen als Retter der Nation gefeiert (siehe Schivelbusch 2001: S. 129–133, 143–162 u. 177–180 und Garrigues 2012: S. 40–46, 131–137, 237f., 427 u. 451). Vgl. zur Problematik des Kastrationstraumas von 1870/71 Leopold 2010a: S. 9, 13f. u. 17 und zur Kommune oben Einleitung, Anm. 123 u. 124. 201 Vgl. zum Begriff Elaine Showalter: Sexual Anarchy. Gender and Culture at the »Fin de SiHcle«. New York: Viking 1990. Zum (kulturellen) Vaterfunktionsverlust als Auslöser der literarischen Dekadenzphantasien siehe Annette Runte: »PHre-version. Sexualität als Maske des Geschlechts in der französischen Dekadenzliteratur«, in Elfi Bettinger/Julika Funk (Hgg.): Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung. Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 254–272, hier S. 256.

Teil 1: Der republikanische Widerspruch und seine Lösungen

I.

J.-K. Huysmans und die Hysterie der republikanischen Nation

1.

Der Zusammenfall von Metapher und Metonymie in À rebours

f rebours schlägt bei seinem Erscheinen im Jahr 1884 ein wie ein Meteorit;1 neun Jahre später attestiert Max Nordau dem Roman und dessen Protagonisten eine repräsentative Stellung für das Lebensgefühl im Fin de SiHcle und diagnostiziert bei seinem Autor Hysterie.2 f rebours entfaltet seine meteoritengleiche Wirkung im Jahr der Verabschiedung desjenigen Gesetzes, das die Rückkehr Frankreichs zur Monarchie endgültig verbietet und die Republik verbindlich etabliert.3 Octave Mirbeau schreibt nur wenige Tage nach dem Verbot einer Restauration im Incipit seiner im Gaulois publizierten Novelle Le Tripot aux champs: La d8mocratie, cette grande pourrisseuse, est la maladie terrible dont nous mourrons […]. Gr.ce / elle, nous n’avons plus conscience de la hi8rarchie et du devoir […]. Nous n’avons mÞme plus conscience des sexes. Les hommes sont des femmes, les femmes sont des hommes et ils s’en vantent. Rien, ni personne / sa place.4

Im selben Jahr geißelt Jos8phin P8ladan in Le Vice suprÞme wie Mirbeau die Demokratie als Ursache für die ›Perversionen‹ des Geschlechterverhältnisses 1 So Huysmans in seiner »Pr8face 8crite vingt ans aprHs le roman« von 1903 (f Rebours. Hg. v. Marc Fumaroli. 2., korr. u. erw. Aufl. Paris: Gallimard [folio] 1977, S. 75. Ich zitiere diese Ausgabe im Folgenden im Fließtext mit der Sigle AR). 2 Entartung [1892/93]. Bd. II. Berlin: Duncker 21893, S. 106. Zu f rebours siehe S. 106–120. 3 Das Gesetz vom 14. August 1884 zur partiellen Verfassungsänderung (siehe bes. Art. 2) findet sich in Constitution de la IIIe R8publique. Les Lois de r8vision. Hg. v. Jean-Pierre Maury (1998): (Stand: 26. 03. 2016), siehe dazu auch Serge Berstein: »La synthHse d8mocrate-lib8rale en France 1870–1900«, in ders./Michel Winock (Hgg.): L’invention de la d8mocratie 1789–1914. Paris: Seuil 2002, S. 257–302, hier S. 291. 4 Die Novelle ist am 25. August 1884 erschienen; ich zitiere nach Bernard Terramorsi: »La fin du siHcle ou le retour d’.ge«, in Europe. Revue litt8raire mensuelle 69 (Nr. 751, 1991), S. 3–14, hier S. 4. Zum Begriff der Entdifferenzierungskrise siehe Girard 1972: S. 77–86.

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J.-K. Huysmans und die Hysterie der republikanischen Nation

und wünscht den König zurück;5 Rachilde bedient die aktuelle Genderpanik zusammen mit der sozialen Entdifferenzierungskrise in Monsieur V8nus (ebf. 1884) lustvoll. Das Gesetz von 1884 entschärft den Antagonismus zwischen Monarchisten und Republikanern und mag der Forderung nach einer nation une et indivisible Rechnung tragen, die innenpolitische Homogenisierung bedeutet aber auch einen kritischen Identitätsverlust. Die Figur des d8cadent Des Esseintes, der zum Anlass seiner »virilit8 momentan8ment morte« (AR: 90) einen Leichenschmaus inszeniert, vor der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft flieht und versucht, in einem apolitischen Raum des Ästhetischen »[k]ünstliche Paradiese der Männlichkeit«6 zu erschaffen, ist die literarische Inkarnation eines Diskurskonglomerats. Sie bringt Vorstellungen zur Anschauung, die in der jungen Dritten Republik Konjunktur hatten und von den verheerenden Wirkungen der Zivilisation insbesondere auf den männlichen Körper bis zu einer nationalen Emaskulation im deutsch-französischen Krieg reichen.7 Judith Frömmer liest Des Esseintes’ Impotenz als Sinnbild für die »Kastration des französischen Adels«8 in der Republik und den vielkommentierten Albtraum des Protagonisten als Ausdruck der resignierten Hoffnung auf eine Restauration des aristokratisch-monarchischen Frankreich: Die »monströse Frauengestalt im klassenmischenden Gewand der Republik […] evoziert die Kastrationswunde der französischen Geschichte«. Das »weibliche Genital einer monströsen Allegorie der Republik« konfrontiert Des Esseintes mit seiner eigenen Impotenz; der Adel wird in den »haarigen Tiefen des weiblichen Genitals […] von der französischen Nation verschlungen«.9 5 Le Vice suprÞme. Pr8face de Jules Barbey d’Aurevilly. Lyon: Palimpseste 2006, Siehe zu P8ladans Roman etwa Digeon 1992: S. 354. 6 Walter Erhart: »Künstliche Paradiese der Männlichkeit. Joris-Karl Huysmans’ Gegen den Strich«, in Karin Tebben (Hg.): Abschied vom Mythos Mann. Kulturelle Konzepte der Moderne. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002, S. 171–188. 7 Siehe zu solchen Diskursen Christopher E. Forth: »La Civilisation and its Discontents: Modernity, Manhood and the Body in the Early Third Republic«, in ders./Bertrand Taithe (Hgg.): French Masculinities. History, Culture and Politics. New York u. a.: Palgrave Macmillan 2007, S. 85–102. Während etwa FranÅois Livi das Dekadenzgefühl noch auf den verlorenen Krieg zurückführt (J.-K. Huysmans. f rebours et l’esprit d8cadent. Paris: Nizet 1972, S. 19f.), war dieser Jennifer Birkett zufolge zwar »certainly a massive blow to national pride. But it did no more than confirm the fact that France was no longer the major European power.« (The Sins of the Fathers. Decadence in France 1870–1914. London: Quartet 1986, S. 11) 8 »Blüten, die das Leben treibt, oder : Wie die Lilie vom Tal ins Knopfloch wanderte«, in Leopold/Scholler 2010: S. 99–124, hier S. 124. 9 Ebd.: S. 123f. Die Zitate befinden sich auf S. 124. Vgl. zur Kastrationsangst in Huysmans’ Texten auch Charles Bernheimer: »L’exorbitant textuel : castration et sublimation chez Huysmans«, in Romantisme. Revue du Dix-NeuviHme SiHcle 45 (1984), S. 105–113, bes. S. 105f. und ders.: Figures of Ill Repute. Representing Prostitution in Nineteenth-Century France. Cambridge: Harvard UP 1989, S. 246.

Der Zusammenfall von Metapher und Metonymie in À rebours

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Wie es die pseudonaturalistische »Notice« darstellt, nahm der Niedergang des Adels seinen Anfang schon vor der Revolution: Zwar konnte der zweite Stand sich in monarchischen Zeiten vermittels des Königs noch als Teilhaber der Macht imaginieren, de facto war er jedoch schon im Absolutismus entmachtet worden.10 Die Dekadenz der ehemals aus athletisch-virilen Haudegen bestehenden Familie nahm ihren Ursprung denn auch in einem Vorfahren, der mit den Mignons Heinrichs III. verkehrte (AR: 77f.): Die Verhöflichung führte also zu einer ersten ›Effeminierung‹, einer Ohnmachtserfahrung, die in der Revolution bestätigt und in der Dritten Republik zu einem Abschluss geführt wird. Mimetisch gelesen repräsentiert Des Esseintes’ Abkehr von der Gesellschaft den Rückzug der aristokratischen Notabeln, die in den 1870er Jahren noch eine bedeutende Rolle in der Politik gespielt hatten, nach 1879 aber mehr und mehr in politischer Bedeutungslosigkeit versanken und sich auf ihre Schlösser zurückzogen.11 Diese soziopolitische Erklärung der Marginalisierung einer Klasse erklärt die Exemplarität von Huysmans’ Figur für das dekadente Lebensgefühl nur unzureichend; allerdings bietet sich der Aristokrat mit Guy Ducrey gesprochen auch als Sprachrohr an, das einem verbreiteten Degout an der bürgerlich-demokratischen Ordnung, die die Grande Nation nicht wieder auferstehen lassen konnte, Ausdruck verleiht.12 Dekadenzdiskurse assimilieren die Gesellschaft typischerweise mit einem Organismus, was man als deterministisch und artifiziell abtun kann.13 Die Körpermetapher ist jedoch erstens grundlegend für die Idee der modernen 10 Zur Domestikation des Schwertadels im Absolutismus siehe Norbert Elias: Gesammelte Schriften. Bd. II: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft [1969]. Hg. v. Reinhard Blomert u. a. Bearb. v. Claudia Opitz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 251–362. 11 Siehe hierzu David Thomson: Democracy in France since 1870. London u. a.: Oxford UP 5 1969, S. 64f. 12 »Introduction g8n8rale«, in Guy Ducrey (Hg.): Romans fin-de-siHcle. 1890–1900. Paris: Robert Laffont 1999, S. III–LIII, hier S. XLIVf. Zum antimodernen Topos der nivellierenden Demokratie als degenerierender Kraft siehe Compagnon 2005: S. 31–44. Eine Diskursanalyse des d8g8n8rescence-Gedankens im 19. Jahrhundert bietet Daniel Pick: Faces of Degeneration. A European Disorder, c. 1848-c. 1918. New York: Cambridge UP 1989 (Siehe zur Verknüpfung von Revolution und Degeneration in Frankreich S. 37–73. Pick vertritt die These, dass die Theorie der Degeneration als Konstruktion verstanden werden muss, eine historische Krise zu konzeptualisieren, die insbesondere in der Erfahrung unablässiger politischer Veränderung und Unsicherheit gründet, ebd.: S. 54 u. 72f.). Vgl. zur Thematik auch Jean-Yves Fr8tign8/FranÅois Janokowiak (Hgg.): La d8cadence dans la culture et la pens8e politiques. Espagne, France et Italie (XVIIIe-XXe siHcle). Rome: Ecole franÅaise de Rome 2008. 13 So etwa Jean-Pierre Fr8tign8/FranÅois Janokowiak: »Introduction«, in dies. 2008: S. 1–18, hier S. 10. Die politische Linke sei für solche Diskurse weniger zugänglich als die Rechte (ebd.: S. 13).

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J.-K. Huysmans und die Hysterie der republikanischen Nation

Nation, die mit der Revolution die zyklische Zeit des Ancien R8gime verlassen hat und nun mit einer linearen Progression umgehen muss. Zweitens ist mit Jennifer Birkett darauf hinzuweisen, dass die Idee der Demokratie im Fin de SiHcle von der Vorstellung geprägt ist, dass das Individuum selbst zum Staat wird.14 Hier wird die Übertragung der Zweikörperlehre vom König auf die Nation sowie die metonymische Beziehung von Subjekt und republikanischem Staat thematisch. Während das metonymische männliche Kollektiv in der Revolution der weiblichen Metapher der patrie gegenüberstand, ist 1870 das passiert, was in La France foutue ausgestaltet worden war :15 Die Grenzen der Nation haben sich als alles andere als verschlossen erwiesen. Des Esseintes’ Verhalten, das man als vergeblichen Versuch einer Reproduktion des Mutterleibs und eines supplementären Verschließens der Körpergrenzen, beispielsweise durch die Verkleidung der Wände seines Zimmers mit Teppichen und Büchern, gedeutet hat,16 entspricht zwar dem immer wieder psychoanalytisch beschriebenen Streben der extremen Rechten danach, die geschändete Nation zu verschließen und in ihr Schutz zu suchen.17 Es unterscheidet sich allerdings insofern von dem eines rechten Nationalisten, als sein Versuch einer ›Rückkehr in den Mutterleib‹ gerade nicht durch das Streben nach der Auflösung des individuellen Ich in der (nationalen) Gemeinschaft gekennzeichnet ist und er die Einsamkeit sucht, statt sie abzuwehren.18 Des Esseintes’ Einsamkeit versinnbildlicht geradezu das Fehlen einer bestätigenden Spiegelfigur in der Republik, einen Mangel, den der d8cadent gar nicht aufheben möchte. Denn sein Wunsch nach Autonomie gegenüber Eltern und anderen Autoritäten äußert sich schon früh, als sich das rebellische Kind weigert, sich dem »joug paternel des prÞtres« (AR: 81) in der Jesuitenschule zu beugen. Nachdem er diese verlassen hat und seine monarchistischen Verwandten kennenlernt, steht er deren Rückwärtsgewandtheit äußerst kritisch gegenüber : Par curiosit8, par d8sœuvrement, par politesse, des Esseintes fr8quenta cette famille et il subit, plusieurs fois, dans son hitel de la rue de la Chaise, d’8crasantes soir8es oF des parentes, antiques comme le monde, s’entretenaient de quartiers de noblesse, de lunes h8raldiques, de c8r8moniaux surann8s. Plus que ces douairiHres, les hommes rassembl8s autour d’un whist, se r8v8laient ainsi 14 »Democracy was not ›State interference‹; it meant ›the community approach[ing] the point where the individual himself becomes the State‹.« (Birkett 1986: S. 9) Birkett bezieht sich hier auf Havelock Ellis. 15 Vgl. oben Einleitung, Kap. 1. 16 Siehe hierzu z. B. Birkett 1986: S. 70 und Victor Brombert: La prison romantique. Essai sur l’imaginaire. Paris: Jos8 Corti 1975, S. 153–174, bes. S. 155–160. 17 Vgl. etwa Jean-Louis Maisonneuve: L’extrÞme-droite sur le divan. Psychanalyse d’une famille politique. Paris: Imago 1992, S. 14 u. 55. Vgl. hierzu auch Theweleit 1980. 18 Maisonneuve zufolge lehnen Maurras und andere Nationalisten Individualität und das Gefühl eines autonomen, eigenständigen Körpers ab (1992: S. 33–36 u. 133–138).

Der Zusammenfall von Metapher und Metonymie in À rebours

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que des Þtres immuables et nuls ; l/, les descendants des anciens preux, les derniHres branches des races f8odales, apparurent / des Esseintes sous les traits de vieillards catarrheux et maniaques, rab.chant d’insipides discours, de centenaires phrases. De mÞme que dans la tige coup8e d’une fougHre, une fleur de lis semblait seule empreinte dans la pulpe ramollie de ces vieux cr.nes. (AR: 81f.)

Die Monarchie hält Des Esseintes nicht für eine zeitgemäße Regierungsform, Gespräche über Heraldik und Adelszeremonien klingen in seinen Ohren antiquiert und lächerlich.19 Die gebrechlichen Abkömmlinge des Feudaladels erscheinen Des Esseintes wie abgeschnittene Farnstängel. Diesen wahrlich nichtadligen Pflanzen ist nur ein einziges Bild in das verweichlichte Mark eingeprägt: die Lilie und damit die Erinnerung an ihre ehemalige Größe im monarchischen Frankreich. Die ehemaligen Lilien der Gesellschaft haben nicht verstanden, dass sie seit der Revolution nur noch simples Farnkraut sind und ihre Stängel zusammen mit Ludwigs Kopf dem Messer zum Opfer gefallen sind. Die Lilie hat sich jedoch gleichsam wie ein Phantasma so stark in das Hirnmark der Legitimisten eingeprägt,20 dass diese mit der Wirklichkeit, die mit ihrem Phantasma nicht übereinstimmt, nicht zurechtkommen. Während sich seine Verwandten an der imaginären Lilie festhalten, umgibt Des Esseintes sich mit Ersatzobjekten. Man hat ihm wegen seines Bedürfnisses danach, die empfundene Leere seines Ich mit – gedachten oder in Büchern materialisierten – Worten und Ersatzobjekten anzufüllen, vielfach einen horror vacui attestiert.21 Die Figur reproduziert also die supplementären Strategien der Republik, die Symbole und insbesondere den geschriebenen Text der Verfassung an die Position des königlichen Körpers stellte.22 Des Esseintes’ Einsamkeit und Selbstbespiegelung sind damit einerseits Ausdruck der republikanischen Verfassung des Staats, sie ersparen ihm allerdings auch das ständige Rivalisieren mit 19 Das Vorbild für diese Passage ist Balzacs Cabinet des Antiques (vgl. Marc Fumaroli: »Notes«, in AR: 387–431, hier : 390, Anm. 10). Die Vorstellung von der Irreversibilität der Geschichte und der unmöglichen Rückkehr in die Vergangenheit gehört zum antimodernen Denken (Compagnon 2005: S. 76). 20 Zur Theorie des Phantasmas, das sich dem Subjekt einprägt und die melancholische Betrachtung eines nicht zu erreichenden Objekts verursacht, siehe Giorgio Agamben: Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur. Übers. v. Eva Zwischenbrugger. Zürich: diaphanes 2005, bes. S. 50–55, 123–146 et passim. 21 »[I]l se borna […] / 8tablir sur la majeure partie de ses murs des rayons et des casiers de bibliothHque […].« (AR: 95) Rae Beth Gordon etwa charakterisiert sowohl den Autor Huysmans als auch die Protagonisten von f rebours und En rade mit dem Begriff des horror vacui und führt die Hysterie hierauf zurück (Ornament, Fantasy, and Desire in Nineteenth Century French Literature. Princeton, New Jersey : Princeton UP 1992, S. 213–222). Vgl. zum leeren Subjekt bei Huysmans Robert Ziegler: »Creative Fore-closure: Textual Space and the Empty Subject in J.-K. Huysmans«, in Nineteenth-Century French Studies 20 (Heft 3/4, 1992), S. 420–423. 22 Vgl. oben Einleitung, Kap. 1 u. 2.

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den anderen republikanischen Subjekten, die alle ihre Macht beweisen müssen. Vielleicht bezeugt seine »virilit8 momentan8ment morte« genau diese Auszeit vom permanenten Selbstbehauptungsdruck. Sein Körpergefühl ist exemplarisch auch für die Situation der jungen Republik nach 1870: Da jeder Mann jetzt für die Nation steht, muss sich nun auch jeder vor dem Eindringen des Fremden schützen. Des Esseintes ist damit nicht nur ein Repräsentant der von der Macht ausgeschlossenen Aristokratie und Figuration der abgelösten alten Gesellschaft, sondern auch metonymische Metapher der republikanischen Nation selbst: In f rebours kreuzen sich die Erfahrung der Emaskulation des Mannes einerseits sowie der Invasion des Körpers und das Bedürfnis danach, dessen Grenzen hermetisch abzudichten, andererseits, auf ein und demselben Körper. Des Esseintes’ symbolischer Rückzug in den Mutterleib zum Schutz vor der bedrohlichen Außenwelt führt dazu, dass Mutter und Kind nicht voneinander unterschieden werden können: Die Grenzen des Zimmers bzw. des Hauses dienen der Figur als veräußerlichte Körpergrenzen. Damit ist die von Koschorke et al. beschriebene Unterscheidung von Metapher – der weiblichen mHre patrie – und Metonymie – dem männlichen Subjekt – in sich zusammengefallen. Des Esseintes’ (momentan) effeminierter Körper steht sowohl in metonymischem Bezug zu dem im Krieg ›verweiblichten‹ männlichen Nationalkollektiv als auch in metaphorischer Beziehung zum Körper der Nation. Auf diese Weise wird die entkörperlichte und entsexualisierte weibliche Allegorie der Republik in einem kaum noch männlichen Körper rekorporalisiert und resexualisiert. Politisch-symbolisch findet diese Entdifferenzierung ihr Komplement im Amalgam der Allegorie der Republik mit der Nation in den 1880er Jahren.23 Die im Bild der Marianne symbolisierte Einheit von Republik und Nation destabilisiert in gewisser Weise das Idealbild der männlich-republikanischen Nation. Zeitgleich mit der bildlichen Identifizierung von Republik und Nation in der Figur der Marianne zerbricht in den 1880er Jahren die diskursive Unterscheidung von Staat und Nation. Insbesondere die politische Linke ersetzt den weiblich kodierten Begriff der Nation jetzt durch den des starken Staates, der die Nation verkörpern will. Dies zeugt davon, dass man versucht, die weiblich imaginierte Republik diskursiv zu revirilisieren.24 Das Identifikationspotenzial, 23 Erst um 1880 kommt es mit der Konsolidierung der Republik zur Identifizierung von Marianne, die vorher für die Staatsform der Republik bzw. die mit dieser verknüpften Freiheit stand, mit der französischen Nation (vgl. oben Einleitung, Kap. 2, Anm. 91). In patriotischen Liedern etwa wird die Nation jetzt mit der Republik gleichgesetzt (siehe Jean-Pierre Az8ma/ Michel Winock: La IIIe R8publique [1870–1940]. Paris: Calmann-L8vy 21976, S. 174). 24 Christian Simon zufolge wird der Staat im republikanischen Jahrzehnt der 1880er zur materiellen Erscheinungsform der Nation (Staat und Geschichtswissenschaft in Deutschland und Frankreich 1871–1914. Bd. I. Bern u. a.: Peter Lang 1988, S. 315). Der Ptat, dem als

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das f rebours bei seinem Erscheinen entfaltete, ließe sich deshalb darauf zurückführen, dass der Roman grundlegende Fragen des neuen body politic aufwirft. Indem Des Esseintes’ Körpergefühl exemplarisch für das (des Citoyens) der verwundeten Nation steht, wird der Text zur Krisenallegorie.25 Es stellt sich nun die Frage, inwieweit f rebours seine politisch-allegorische Grundkonstellation narrativ ausgestaltet und seinen allegorischen Subtext mit einer oberflächlich inszenierten Flucht aus Politik und Gesellschaft verschleiert. Blitzt das aus dem Erzähldiskurs verdrängte Politische nur momenthaft auf, etwa in Des Esseintes’ Albtraum und einigen wenigen Reflexionen, oder bannt die Narration nicht gelöste Konflikte im formal-ästhetischen Modus? Welche Rolle kommt dabei der Hysterie, ihrer Genese, ihrer Symptomatik und schließlich ihrer Überwindung zu? Des Esseintes isoliert sich vor allem deshalb, weil er dem Redezwang seiner Zeitgenossen entgehen will, und versucht, auch den eigenen Sprechtrieb zu unterdrücken.26 Sein Widerwille angesichts eines mittelmäßigen Dauergeredes (»le besoin de parler«, AR: 107) drückt wohl den Degout am Parlamentarismus aus, dessen zentrales Prinzip in der Diskussion – dem ›Parlamentieren‹ – besteht.27 Selbst der überzeugte Republikaner Zola schreibt in seinen Briefen aus dem Abgeordnetenhaus in Versailles 1871: »nos repr8sentants sauveraient la patrie s’ils se d8cidaient / n’Þtre qu’une r8union de braves gens parlant peu, se moralischer Person ein eigener Wille zugeschrieben wird (ebd.: S. 570 u. 576–579), ist im universitären Diskurs der Jahrhundertwende die »materielle und personelle Konkretisierung der Abstracta [sic] France und Nation gegen innen und außen« (ebd.: S. 578), konzeptuell können Staat und Nation kaum noch unterschieden werden (ebd.: S. 566). Man kann dies als Versuch der diskursiven Revirilisierung der Republik bezeichnen, die den König durch den Staat ersetzt, sind doch »Personifizierungen des Staates« Carl Schmitt zufolge »nur Residuen aus der Welt des fürstlichen Absolutismus« (Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin: Duncker & Humblot 82009, S. 38). Der von Simon untersuchte universitäre Diskurswandel äußert sich auch im Vokabular der Wahlkämpfe der Jahre 1881, 1885 und 1889 und lässt insofern auf eine Breitenwirkung schließen. Antoine Prost zufolge wird der Begriff Ptat 1881 ganz besonders häufig von der politischen Linken verwendet, während die Begriffe nation und patrie rechts und links gleichermaßen, allerdings weniger häufig als Ptat, gebraucht werden. Zugleich kommt es zu einer Affirmation des Begriffes R8publique (Vocabulaire des proclamations 8lectorales de 1881, 1885 et 1889. Paris: PUF 1974, S. 39–42). Diese Tendenz bestätigt sich in den Jahren 1885 und 1889: Die Linke spricht immer häufiger von R8publique und Ptat, während patrie und besonders nation nach rechts rücken (ebd.: S. 53 u. 65). 25 Siehe zum Begriff der Krisenallegorie, die »in phobischer Phantasmatik Bilder der Disruption« bietet, in Abgrenzung zur Legitimationsallegorie, die »Herrschaft in ein sinnhaftes Kontinuum [einbettet]«, Leopold 2014: S. 27. Vgl. zum Krisennarrativ auch Schuhen 2014 (vgl. oben Einleitung, Kap. 3). 26 Siehe hierzu Jean-Pierre Bertrand: »La parole de Des Esseintes«, in ders. (Hg.): Huysmans / cit8 et au-del/. Actes du Colloque de Cerisy-La-Salle. Leuven u. a.: Peeters u. a. 2001, S. 379– 394, bes. S. 379–381 u. 384. 27 Vgl. dazu Schmitt 1926: S. 9 u. 43–46.

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disputant moins encore…«28 Das kranke Frankreich ist in Zolas Augen immer dann weiter denn je von einer Genesung entfernt, wenn es in der Nationalversammlung zu viele Debatten und kein Einvernehmen gibt.29 Zolas Briefe belegen exemplarisch das Bedürfnis nach politischer Einheit und die Skepsis des französischen Parlamentarismus gegenüber einer ausgeprägten Debattenkultur.30 Des Esseintes’ Abriegelung jeglichen Kontakts mit der Außenwelt führt jedoch, so stellt es Jean-Pierre Bertrand fest, vor allem zum Sprechen mit sich selbst und zur Erfahrung der Polyphonie der Stimmen innerhalb des eigenen Bewusstseins.31 Der Roman, der jegliche sprachliche Äußerungen des Protagonisten zu vermeiden versucht und sich als Lobrede auf Stille und Knappheit geriert, zeugt selbst von einem unablässigen »bavardage«.32 Es lässt sich deshalb die These formulieren, dass die innere Aufspaltung von Des Esseintes’ Selbst (»voil/ que j’argumente avec moi-mÞme […].« AR: 175 »Il faudrait pouvoir s’empÞcher de discuter avec soi-mÞme […].« AR: 344) die Zersplitterung der einheitlichabsolutistischen Souveränität im republikanisch-parlamentarischen Staat allegorisch ausdrückt, und zwar in dem Moment, in dem sie sich von ihr loszusagen versucht. Des Esseintes wäre damit eine komplementäre Figur zum Kollektivsubjekt in Flauberts Pducation sentimentale, das mit der Gruppe junger Männer seinerseits die Aufsplitterung der Souveränität in der ephemeren Zweiten Republik repräsentiert. Für diese Deutung spricht auch Des Esseintes’ Traum von einer »th8ba"de« (AR: 84), die den Wunsch nach Isolation mit einem intertextuellen Verweis verknüpft: Racines erste Tragödie La Th8ba"de (1664) stellt gerade die Problematik der Kämpfe gleicher Brüder nach dem Tod des Königs – noch dazu des Vatermörders Ödipus – um die politische Souveränität aus. Das Trio um die 28 La R8publique en marche. Chroniques parlementaires 13 f8vrier 1871–16 septembre 1871. Bd. I. Hg. v. Jacques Kayser. Paris: Fasquelle 1956, S. 210. 29 Vgl. ebd.: S. 236. 30 Zola schreibt etwa: »Il serait / d8sirer qu’il n’y e0t qu’un parti dans l’Assembl8e, celui de la France, et que ce parti compr%t la n8cessit8 absolue de l’Etat r8publicain, si l’on veut remettre la patrie debout.« (Ebd.: S. 31) »Un gouvernement scind8 en deux parties est un gouvernement qui perd une grande partie de sa force, et la reconstitution et la r8g8n8ration de notre malheureux pays ne peuvent s’op8rer que par cette r8union indispensable de tous les membres du pouvoir […].« (Ebd.: S. 78) Vgl. zum Einheitsbegehren seit der Revolution bes. Dunn 1994 und oben Einleitung, Kap. 1 u. 3. Den Kontrast zwischen der modernen Halbkreis-Sitzordnung im französischen Parlament und der britischen Gegenüberstellung der Bankreihen von Regierung und Opposition führt Manow darauf zurück, dass England mit dem König noch einen Repräsentanten und Garanten nationaler Einheit gegen die demokratische Vielstimmigkeit besitzt. England kann wohl auch deshalb die Kultur der Kontroverse architektonisch verdeutlichen (Manow 2008: S. 45–53, vgl. auch oben Einleitung, Kap. 2, Anm. 94). 31 Bertrand 2001: S. 380f. u. 384. 32 Ebd.: S. 394. Bertrand spricht auch von einem »complexe d’oralit8« (ebd.: S. 393).

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beiden Zwillingsbrüder und ihre Mutter Jokaste, die sich davon Frieden verspricht, dass beide Söhne herrschen, lässt sich wunderbar auf die Situation der jungen Republik umlegen. Selbst im Rückzug aus Paris auf das Ch.teau de Lourps in der Einöde der Provinz kann Des Esseintes also dem Schatten des Politischen nicht entkommen, nicht zuletzt auch weil dieser Rückzug sein politisches Analogon nicht nur im Rückzug der Notabeln hat, sondern auch im Exil des Parlaments erst in Bordeaux und später in Versailles. Ebenso wie Des Esseintes sich einkapselt, wurde die Republik ausgerufen, um der preußischen Invasion Einhalt zu gebieten. Dass Des Esseintes’ Reflexionen über die Invasion der germanischen und asiatischen Barbaren in Gallien, über die Auflösung jeglicher Ordnung und den Mord an Cäsaren (AR: 120f.) auf 1870/71 reagieren, ist wohl unstrittig.33 Die Abwehrmechanismen, mit denen er versucht, sich die bürgerliche Gesellschaft und mit ihr die gesamte Außenwelt vom Leib zu halten, reproduzieren darüber hinaus zugleich die Reaktionen auf die Invasion: Als die Wirklichkeitserfahrung nicht mit dem Ideal-Ich der eigenen militärischen Vergangenheit übereinstimmt, besinnt sich Frankreich auf seine intellektuelle Größe und entfaltet ein reges publizistisches und literarisches Leben, gerät aber außenpolitisch in eine Isolation, die erst mit der Bündnispolitik der 1890er Jahre durchbrochen werden wird.34 Dass die parlamentarische Einkapselung nicht nur in den Augen der Gegner der Republik zu umso größerer Handlungsunfähigkeit der Nation führt, lässt sich Zolas Briefen aus Versailles entnehmen. Zola wirft dem Parlament vor, sich nur mit sich zu beschäftigen, die Wiederaufrichtung der Nation zu vernachlässigen und sich dabei selbst zu Grunde zu richten.35 In f rebours führt der Solilog36 seinen handlungsunfähigen Protagonisten zum lebensbedrohlichen Immobilismus. Die Nicht-Handlung des Romans findet – abgesehen vom schnell aufgegebenen Versuch, nach London, der Patenstadt des parlamentarischen Systems, zu reisen – ausschließlich im Innenraum statt. Der Arzt, den der kranke Aristokrat schließlich konsultieren muss, ordnet dem Patienten an, zur 33 Zum Einfall der Barbaren als typischem Dekadenzmotiv siehe A. E. Carter : The Idea of Decadence in French Literature 1830–1900. Toronto: U of Toronto P 1958, S. xiii und Digeon 1992: S. 96 u. 354. 34 Zu Frankreichs Rückzug und zur außenpolitischen Passivität bei innenpolitischer Aktivität vgl. ebd.: S. 88f. u. 107. Siehe zur Bündnispolitik sowie deren Rolle für das politische Imaginäre unten Kap. III und zur Geburt des Intellektuellen – als welcher Des Esseintes auf der Ebene des Literalsinnes selbstverständlich nicht gelten kann – im soziopolitischen Kontext der Dritten Republik Venita Datta: Birth of a National Icon. The Literary Avant-Garde and the Origins of the Intellectual France. Albany : State U of New York P 1999, S. 1–17 et passim. 35 Siehe etwa Zola 1956: S. 81 u. 133. Er verwendet dabei immer wieder Todesmetaphern: »j’ai senti passer comme un vent de mort au-dessus de l’Assembl8e. M. Thiers […] n’a qu’/ se croiser les bras et / attendre que ces messieurs se suicident eux-mÞmes. Ce ne sera pas long. Ils r.lent d8j/, l’agonie a commenc8 aujourd’hui.« (Ebd.: S. 307) 36 Den Begriff verwendet in Bezug auf f rebours Brombert 1975: S. 170.

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Genesung in die Gesellschaft zurückzukehren (AR: 336). Der Rückzug in die ästhetisierte Einöde trägt ebenso wenig zum persönlichen Wiedererstarken bei, wie das Ziel der nationalen Revirilisierung in den Augen selbst wohlwollender Zeitgenossen durch das parlamentarische System und den Rückzug in die außenpolitische Defensive eingelöst werden konnte.37 Schließt man aus diesen Analogien, dass Huysmans’ Protagonist gerade in der Abkehr von Politik und Gesellschaft zu deren allegorischer Verkörperung wird, dann lässt sich die hysterische Struktur des Romans auch auf den Versuch des Textes zurückführen, zwei gegensätzliche Impulse miteinander zu vereinen. Slavoj Zˇizˇek beschreibt die Hysterie als Reaktion auf zwei einander ausschließende Interpellationen bzw. Handlungsoptionen, zwischen denen das Subjekt nicht entscheiden kann.38 Ein solches Weder-Noch lässt sich nun auf mehreren Ebenen des Textes lokalisieren.39 Auf der Ebene der histoire charakterisiert es die Figur, ihre Meinungen und ihr Verhalten, also etwa Des Esseintes’ Ablehnung der modernen Gesellschaft ebenso wie der Rückkehr zur Monarchie, der Zurückweisung also der Interpellation durch das symbolische, republikanische IchIdeal des männlichen Citoyens, der metonymisch für den demokratischen Staat steht, wie auch der Interpellation durch das imaginäre Ideal-Ich des (verlorenen) Königs.40 Hierunter fiele auch die Paradoxie, dass Des Esseintes nicht aufhört zu handeln – er kleidet sein Zimmer mit Maroquin aus, bestellt und arrangiert Blumen, kreiert Mundorgeln – und dennoch handlungsunfähig bleibt und dass er zwischen Isolation und Rückzug einerseits und Konfrontation mit der Außenwelt – etwa in Form der Blumen – andererseits oszilliert. Als »hymn to consumption«41 ist der Roman hysterische Erfüllung der Konsumforderung des verhassten Kapitalismus und damit eben des siHcle, dem die Figur zu entfliehen versucht. Auf discours-Ebene schlagen sich die grundlegende Widersprüch37 Zola charakterisiert die Haltung der Assembl8e, als diese sich einheitlich den deutschen Forderungen widersetzt, als »m.le« (1956: S. 70). Vgl. auch ebd.: S. 78, wo er zu einem ebensolchen »acte de virilit8« aufruft. 38 Vgl. The Ticklish Subject. The Absent Centre of Political Ontology. London: Verso 1999, S. 248 und dazu Leopold 2014: S. 245. Siehe zum Begriff der Interpellation oben Vorspiel, Kap. 3, Anm. 149. 39 Pierre Jourde nennt f rebours deshalb einen »texte du non« (Huysmans – f Rebours. L’identit8 impossible. Genf: Slatkine 1991, S. 13, vgl. auch Wanda Klee: Leibhaftige Dekadenz. Studien zur Körperlichkeit in ausgewählten Werken von Joris-Karl Huysmans und Oscar Wilde. Heidelberg: Winter 2001, S. 120). Vgl. zur stilistisch hysterischen Struktur des Textes Gordon 1992: S. 215–222. 40 Siehe hierzu oben Vorspiel, Kap. 3 und zur Spannung von postrevolutionärem, modernem Individualismus und reaktivem Widerstand in f rebours Dean de la Motte: »Writing against the Grain: A rebours, Revolution, and the Modernist Novel«, in Barbara T. Cooper/Mary Donaldson-Evans (Hgg.): Modernity and Revolution in Late Nineteenth-Century France. Newark: U of Delaware P 1992, S. 19–25. 41 Birkett 1986: S. 69.

Die Hysterie und die Frage: ›Was ist die Republik?‹

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lichkeit und die permanente Verneinung in der vielfach beschriebenen paradigmatischen Struktur nieder – jedes Kapitel setzt am Ich des Protagonisten an und wählt wie dieser einen neuen Weg. Zola hat Huysmans’ Ästhetik bekanntlich als Neuerfindung eines Genres, dessen Möglichkeiten mit seinem ersten Roman ausgeschöpft sind, kritisiert.42 Der Text blickt ebenso sehr nach vorne, wie er in der Vergangenheit gefangen bleibt: Huysmans lässt den Naturalismus radikal hinter sich und kreiert eine neue Ausdrucksform für ein neues Lebensgefühl, sein Protagonist reproduziert aber nur Erinnerungen und rekapituliert, kommentiert und beurteilt alte, bekannte Literatur. Diese aporetische, also in Zˇizˇeks Sinne hysterische Struktur gipfelt schließlich in der gleichzeitigen Abwehr der Gesellschaft und der Politik und deren allegorischem Ausdruck. Der paradigmatische Aufbau der zirkulär-wahllosen Aktionen ist wiederum die typische Ausgestaltung eines »narrative of the losers«, das uns schon in Maupassants Dimanches begegnet ist. Quint exemplifiziert es an Lucans Pharsalia,43 deren »pr8occupation exclusive de la forme« auch Des Esseintes interessiert (AR: 112). Das ›Verlierernarrativ‹ in f rebours ist aus innenpolitischer Perspektive Ausdruck der Niederlage der Aristokratie. Aus außenpolitischer Sicht betrachtet bringt es zugleich die Unterlegenheit der republikanischen Nation in eine narrative Form. Beide Aspekte zusammen vereinen sich in der ambivalenten Semantisierung einer Krisenallegorie. Besonders zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass die Pharsalia aus der republikanischen Perspektive von der Niederlage der Republik erzählt und diese Perspektive über die formale Ähnlichkeit dann auch auf f rebours ausstrahlt.

2.

Traumatische Erinnerungen – die Hysterie und die Frage: ›Was ist die Republik?‹

Als Des Esseintes in seiner Einöde einen Irish Whiskey trinkt, denkt er unwillkürlich an einen traumatischen Zahnarztbesuch: Peu / peu, en buvant, sa pens8e suivit l’impression maintenant raviv8e de son palais, embo%ta le pas / la saveur du whisky, r8veilla, par une fatale exactitude d’odeurs, des souvenirs effac8s depuis des ans […] et convergea sur l’un d’entre eux dont l’excentrique rappel s’8tait plus particuliHrement grav8 dans sa m8moire. (AR: 136)

Die m8moire involontaire holt das Ereignis, das sich Des Esseintes besonders stark eingeprägt hatte, »forc8ment« (ebd.) ins Bewusstsein. Vor seinem geistigen

42 So berichtet es Huysmans in seiner »Pr8face« (AR: 70). 43 Quint 1993: S. 131–157. Siehe zu Quint und Maupassants Dimanches oben Vorspiel, Kap. 2.

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J.-K. Huysmans und die Hysterie der republikanischen Nation

Auge sieht er die Treppe zur Praxis des Arztes, der ihm auf besonders grausame Weise einen Zahn gezogen hatte: Il restait, stupide, sur le trottoir ; il s’8tait enfin roidi contre l’angoisse, avait escalad8 un escalier obscur, grimp8 quatre / quatre jusqu’au troisiHme 8tage. L/, il s’8tait trouv8 devant une porte oF une plaque d’8mail r8p8tait, inscrit avec des lettres d’un bleu c8leste, le nom de l’enseigne. Il avait tir8 la sonnette, puis, 8pouvant8 par les larges crachats rouges qu’il apercevait coll8s sur les marches […] (AR: 137)

Des Esseintes will schon kehrtmachen, da wird er zurückgerufen und kann sich der Behandlung nicht mehr entziehen. Wanda Klee begründet das Trauma damit, dass sich der Aristokrat in seiner gebildeten Sensibilität vom Materialismus der niederen Klassen, denen der »dentiste populaire« (AR: 137) angehört, bedroht und geradezu vergewaltigt fühle.44 Die dritte Etage, in der sich die Praxis befindet, lässt sich in diesem Sinne sowohl mimetisch als Hinweis auf die von der Arbeiterschaft bewohnten oberen Stockwerke bürgerlicher Häuser lesen, als auch als Metapher für den dritten Stand, dem sich der Adel in der Revolution unterwerfen musste. Des Esseintes’ Ängste beim Erklimmen der Treppe sind begründet, schließlich können die Flecken auf den Stufen den Betrachter an das von einer Guillotine verspritzte Blut auf einem Schafott erinnern. Spätestens als der Zahnarzt Des Esseintes den kranken Zahn zieht und ihn präsentiert wie Sanson den Kopf Ludwigs – »il soufflait, brandissant au bout de son davier, [sic] une dent bleue oF pendait du rouge !« (AR: 139) –, lässt sich die Passage als allegorische Substitution der politischen Urszene der Republik lesen, vor allem auch, weil der Arzt den blau-weiß-roten Zahn zugleich wie eine Trikolore schwenkt. Über den gezogenen blauen Zahn tritt der blaublütige Des Esseintes in eine Identifikationsbeziehung mit dem König, hat er doch das Gefühl, »qu’on lui arrachait la tÞte« (ebd.). Und so hinterlässt auch er blutige Flecken auf dem Treppenabsatz, bevor er, »joyeux, rajeuni de dix ans« (AR: 139), zurück auf die Straße tritt. Wie die junge Republik 1793 hat er sich einer Last entledigt und muss das traumatische Ereignis so schnell wie möglich vergessen. Dass es nun gerade ein Irish Whiskey ist, der ihn an die Szene erinnert, mag man auf die Assoziation mit den zeitgenössischen irischen Bestrebungen nach einer Republik und nach nationaler Unabhängigkeit von der englischen Krone zurückführen.45 Die biographische »Notice« beschreibt, dass man in der Ahnengalerie der

44 »The Body as Memory of Truth. A Different Reading of f rebours«, in Romance Review 10 (2000), S. 51–63, hier S. 54. 45 Diese Deutung der Zahnarztepisode wird von Lorrains Monsieur de Phocas gestützt, für den sie eindeutiger Intertext ist und der seinerseits die Revolution explizit bespricht. Dort wird auch der Bezug zu Irland aufgegriffen. Vgl. hierzu unten Kap. III.

Die Hysterie und die Frage: ›Was ist die Republik?‹

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Familie der Floressas des Esseintes im Ch.teau de Lourps nach den virilen Haudegen der alten Zeiten nur ein Loch findet: Ceux-l/ 8taient les ancÞtres : les portraits de leurs descendants manquaient ; un trou existait dans la filiHre des visages de cette race ; une seule toile servait d’interm8diaire, mettait un point de suture entre le pass8 et le pr8sent, une tÞte myst8rieuse et rus8e, aux traits morts et tir8s, aux pommettes ponctu8es d’une virgule de fard, aux cheveux gomm8s et enroul8s de perles, au col tendu et peint, sortant des cannelures d’une rigide fraise. (AR: 77, meine Hervorh.)

Das Loch, das schon in Zolas Fortune des Rougon und Nana implizit auf die Revolution verweist,46 wird hier nur ungenügend von einer Figur verdeckt, die zwar als Zeitgenosse Heinrichs III. dargestellt wird, aber auch den Dandy des 19. Jahrhunderts aufruft. Dieser pflegt den aristokratischen Lebensstil des Ancien R8gime und lässt die Revolution gewissermaßen vergessen.47 Er ›vernäht‹ also wie das beschriebene Porträt die Vergangenheit mit der Gegenwart. Allerdings weist die Naht hier – wie ein Fetisch – ebenso sehr auf das Loch hin, wie sie es zu verschließen versucht: Sie verhindert nicht, dass dieses sich als exemplarisches Symbol des republikanischen horror vacui graphisch im Namen des »marquis d’O« (ebd.), eines der Zeitgenossen des Ahnen, fortsetzt und dabei auch intertextuell auf die Thematik der verdrängten Vergewaltigung in Kleists Marquise von O…. anspielt. Die ›Verweiblichung‹ der männlichen Sprösse beginnt der »Notice« zufolge also unter der Herrschaft des letzten Valois-Königs, womit Huysmans auf das romantische Klischee von Heinrichs Mignons zurückgreift.48 Diese (pseudo-)naturalistische d8g8n8rescence-Erklärung repräsentiert mit dem »trou« damit auch eine Lücke in der Erzählung, die nicht auf die Revolution referiert, sie zeugt aber zugleich auch von einer »8viction de l’origine«, das heißt von der Vorstellung, dass es für die Etablierung einer symbolischen Ordnung gar kein bestimmtes traumatisches Urereignis geben muss.49 Der Text umkreist die Leerstelle seines eigenen Ausgangspunkts und versucht, die Erinnerung an diesen zurückzuhalten,50 bis die m8moire involontaire 46 Vgl. unten Kap. II.1, bes. Anm. 4. 47 Siehe zum Dandy z. B. Deborah Houk: »Self Construction and Sexual Identity in NineteenthCentury French Dandyism«, in French Forum 22 (Heft 1, 1997), S. 59–73 und Klee 2001: S. 89–113. 48 Dessen Günstlinge waren keineswegs die effeminierten Schwächlinge, als die man sie seit der Romantik dargestellt hatte (so Fumaroli in AR: 388, Anm. 3). 49 Siehe dazu Guy Le Gaufey, der betont, dass sich die lacanianische Konzeption des symbolischen Vaters insofern von Freuds Postulat eines Mordes am Urvater unterscheidet, als sie gerade keines Urereignisses mehr bedarf (L’8viction de l’origine. Paris: E.P.E.L. 1994). 50 Vgl. zu Des Esseintes’ – scheiterndem – Versuch, die eigene Vergangenheit und die Erinnerung zu beherrschen, Klee 2000: S. 54f. und Ioanna Chatzidimitriou: »Against Memory. Remodeling the Past in Huysmans’s f rebours«, in Nineteenth Century Studies 20 (2006), S. 113–127.

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der Zahnarztszene Des Esseintes zu seinem Trauma zurückführt. Auch hier noch verschleiern die körperlichen und sexualisierten Bilder die politische ›Wahrheit‹ hinter der Episode,51 die der Erzähler als »grande scHne« (AR: 138) bezeichnet. Er stellt sie damit in den Kontext der Charcot’schen Hysterie und antizipiert literarisch, was Breuer und Freud einige Jahre später formulieren werden: Hysterie wird ausgelöst durch verdrängte Erinnerungen an stark affektisch besetzte Erlebnisse, die unvollständig abreagiert wurden.52 Freud stellt bald darauf die These auf, dass es sich dabei um sexuelle Traumatisierungen handle, beschränkt die Auffassung, dass sich die Hysterie infolge einer pathologisch übersteigerten Scheu vor der Sexualität entwickelt, aber sofort auf weibliche Fälle.53 Zeitgenössische Studien zur männlichen Hysterie im Fin de SiHcle gehen lange von physischen Traumata aus.54 Misha Kavka führt die in den 1880er Jahren exzessiv gestellte Diagnose der Hysterie bei Männern auf deren undeutlich gewordene Genderidentität zurück:55 Die Theorie physischer Traumata garantiere die Stabilität der Geschlechtergrenzen und könne die Angst davor abwehren, dass Männer durch die ›Infektion‹ mit einer immer schon als inhärent weiblich verstandenen Krankheit effeminiert werden – schließlich hat sie bei ihnen anders als bei Frauen eine rein externe Ursache.56 51 Vgl. dazu Birkett: »Decadent sexuality displaces politics […]. The real truth – the political and cultural failure he [sc. Des Esseintes, L.Z.] represents – is seen in glimpses, like the vulnerable flesh of Salome under her veils.« (1986: S. 69) Birkett verfolgt die These, dass unter den sexualisierten Bildern der dekadenten Fiktionen immer der historische Subtext zeitgenössischer Machtkämpfe und politischer Ohnmachtsgefühle der ehemals dominanten Klassen liege (ebd.: S. 6). 52 »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene [1893]«, in Sigmund Freud: Studienausgabe. Bd. VI: Hysterie und Angst. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main: Fischer 1971, S. 9–24, hier S. 16f. u. 20–24. 53 »Zur Ätiologie der Hysterie« [1896], in Freud 1971: S. 51–81, hier S. 60–63. 54 Vgl. zu Charcots Traumatheorie Misha Kavka: Women Entombed: Male Hysteria in the Late Nineteenth-Century. Ithaca: Cornell University [Diss., Mikrofilm] 1995, S. 25. Kavka notiert, dass männliche Hysterie zwar in vielen Ländern erforscht wurde, aber gerade im Frankreich der 1880er Jahre ein besonderes Interesse erregt (ebd.: S. 10). Die Konstruktion physischer Traumata kommt insbesondere in der Vorstellung des sogenannten »railway spine« zum Ausdruck, einer seit den 1860er Jahren theoretisierten pathologischen Erscheinung, bei der Eisenbahnunfälle als Auslöser von hysterischen Symptomen vor allem der Arbeiterschaft betrachtet werden (siehe ebd.: S. 27 und Michael Roth: »Hysterical Remembering«, in Modernism/Modernity 3, Heft 2, 1996, S. 1–30, hier S. 4). Vgl. hierzu auch unten Kap. II.2. 55 Kavka 1995: S. 1f. 56 »The male may suffer from hysteria, but is never a hysteric.« (Ebd.: S. 21) »[T]his broken man does not break into femininity. […] The construction of the labourer as hysteric is thus part of the stabilizing negotiations of the late nineteenth-century social order, which includes in its network the position of the neutral medical scientist.« (Ebd.: S. 43f.) Vgl. auch Ursula Link-Heer : »›Männliche Hysterie‹. Eine Diskursanalyse«, in Ursula A. J. Becher/Jörn Rüsen (Hgg.): Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 364– 396, hier S. 384.

Die Hysterie und die Frage: ›Was ist die Republik?‹

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Des Esseintes ist kein typischer Fall von männlicher Hysterie, wie ihn die zeitgenössische Psychopathologie definiert, sondern reproduziert eher die Symptomatik von Charcots Hysterikerinnen.57 Liest man den Zahnarztbesuch als verschobene Erinnerung an die Gründung der Republik, dann offenbart die Episode, dass sich hinter dem physischen ein psychisches Trauma verbirgt. f rebours erwiese sich somit als konterdiskursiver Text, der die zeitgenössischen Theorien über männliche Hysterie teilweise reproduziert, zugleich aber in Frage stellt. Lacan zufolge hat bei der Analyse der Hysterie die Frage nach der Geschlechtsidentität und deren Symbolisierung im Mittelpunkt zu stehen.58 Er betont die Symmetrie männlicher und weiblicher Hysterie und interpretiert die Symptome eines bei Joseph Hasler als Fall von traumatischer Hysterie beschriebenen Mannes als Reaktion auf ein Infragestehen von dessen »fonction virile«.59 Genauer geht er auf den Fall Dora ein. Ohne Freuds Analysen vor allem der hysterischen Symptome zu widersprechen, beschreibt er die Neurose von dessen wohl bekanntester Patientin als Ausdruck der Frage: »Qu’est-ce qu’Þtre une femme ?«60 Diese Frage versuche Dora zu beantworten, indem sie sich mit Herrn K. identifiziere. Aus der Position des Mannes – einem Freund ihres Vaters und Ehemann von Frau K., die eine Affäre mit Doras Vater hat – versuche Dora zu erfahren, was dieser an seiner Frau begehrt, um zu verstehen, was die Weiblichkeit für den Mann ausmacht. Lacan begründet die Notwendigkeit, sich mit der gegengeschlechtlichen Position zu identifizieren, mit der Nicht-Symbolisierbarkeit des weiblichen Geschlechts. Während das männliche Geschlecht mit dem symbolischen Phallus einen zugänglichen Signifikanten besitze, fehle es dem weiblichen an symbolisierbarer Materie. Wegen dieser Asymmetrie müsse die Frau, um sich geschlechtlich identifizieren zu können, die Position des männlichen Gegenübers einnehmen: In der Identifikation mit dem Mann verwende Dora das männliche Genital als imaginäres Instrument, um dem näher zu kommen, was sie nicht zu symbolisieren vermag – dem weiblichen Geschlecht.61 Dementsprechend ließe sich die Hysterie einer Figur wie Des Esseintes, liest 57 Siehe zu Des Esseintes’ Hysterie die diskursanalytische Studie von Klee 2001: S. 114 u. 139– 150, bes. S. 147–150. Charles Bernheimer behandelt den Roman in seinem Kapitel zu Syphilis und Hysterie bei Huysmans nur unter dem Aspekt der Angst vor der Syphilis 1989: S. 234– 265. 58 Ich beziehe mich im Folgenden auf die beiden Seminare vom 14. und vom 21. März 1956: »La question hyst8rique« und »La question hyst8rique (II): ›Qu’est-ce qu’une femme ?‹«, in Le s8minaire de Jacques Lacan. Bd. III: Les psychoses (1955–1956). Hg. v. Jacques-Alain Miller. Paris: Seuil 1981, S. 181–193 u. 195–205, hier S. 191–193 u. 197–199. 59 Ebd.: S. 189–192. 60 Ebd.: S. 197, Hervorh. im Orig. 61 Ebd.: S. 198–200. Aus dem Penis als materieller Erscheinungsform kann der Signifikant des Phallus generiert werden kann.

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man diesen als metonymische Metapher der Nation, in Analogie zu Doras Frage nach der Weiblichkeit setzen und als Frage danach deuten, ›was die Republik ist‹. Castoriadis zufolge arbeitet eine Gesellschaft immer mit einem gegebenen Symbolismus, der sich nicht einfach verändern lässt.62 Da der Republik der materielle Körper an ihrer Spitze fehlt, verfügt sie im Gegensatz zur Monarchie über keinen ihr eigenen Signifikanten.63 Ihre Symbolisierung muss folglich aus der immer noch maßgeblichen Position der Monarchie heraus erfolgen, aus welcher sie – ebenso wie die Weiblichkeit von der phallozentrischen Warte aus – als mangelhaft erlebt wird. Vielleicht kann der Aristokrat als der Andere der Republik aus diesem Grund gleichzeitig zum Vertreter einer vergangenen Epoche als auch zur Identifikationsfigur für die Gegenwart und ihre aktuellen Probleme werden. Der nach dem Tod des Königs symbolisch kastrierte Aristokrat steht in direkter Analogie zur republikanischen Nation, die des Garanten ihrer Männlichkeit verlustig gegangen ist. Des Esseintes wendet sich zwar explizit gegen seine legitimistischen Verwandten; sein horror vacui lässt sich jedoch darauf zurückführen, dass auch er, ebenso wie all jene Zeitgenossen Huysmans’, die in Des Esseintes eine Figur von zeithistorischer Relevanz sahen, die Gegenwart durch die phantasmatische Brille betrachtet, die von der Lilie im ›kollektiven Hirnmark‹ generiert wird. Durch diese Brille sieht er nichts als sein mangelhaftes Ich, dessen Leere er auszustopfen versucht. Des Esseintes’ leeres Ich ähnelt dem körperlosen imaginären Zentrum der Republik ebenso wie der körperlich imaginierten, geschändeten Nation. Er lässt sich deshalb als hysterische männliche Nationalallegorie lesen, als bedrohliches Gegenstück zu den hysterisierten Frauenkörpern, wie sie etwa in Maxime Du Camps Beschreibungen der Pariser Kommune auftauchen.64 Ich schlage nun vor, vor diesem Hintergrund Klees Analysen der Passagen, in denen Des Esseintes Gustave Moreaus Salomebilder betrachtet, in den Blick zu nehmen: Die erste Beschreibung von Salom8 dansant devant H8rode (AR: 142– 146) »betont Salom8s phallische Kraft, symbolisiert in der weißen Lilie in ihrer Hand. Für Des Esseintes ist Salom8 die Mörderin des Täufers […].«65 Des Esseintes ist exaltiert von der übermenschlichen »grandeur raffin8e de l’assassine« (AR: 144), die nur geschärften Geistern wie ihm selbst zugänglich sei. Er objektiviert Salome, deren natürlicher Körper wie seine Schildkröte unter Ornamenten verschwindet, und versucht, sie mit seinem Blick zu durchdringen und zu bannen. Indem er sie zur impenetrablen Projektionsfläche mache, könne er 62 Castoriadis 1975: S. 221. Vgl. dazu auch Lefort 1986. 63 Siehe hierzu einlässlich Koschorke et al. 2007. 64 Siehe zu Du Camp Beizer, die die Hysterie-Metapher in ihrer Assoziation mit (politischer) Unordnung auf das Problem des fehlenden Zentrums politischer Repräsentation zurückführt (vgl. oben Einleitung, Anm. 123). Huysmans thematisiert sie nicht. 65 Klee 2001: S. 261.

Die Hysterie und die Frage: ›Was ist die Republik?‹

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sie nun als »idealisiertes Selbstbild […] phallischer Vollkommenheit« betrachten und sich in ihr spiegeln.66 Bei L’Apparition hingegen (AR: 146–148), das Salome Angesicht zu Angesicht mit dem abgeschlagenen Kopf des Täufers darstellt, missglücke die Identifikation mit der Tänzerin. In Gegenwart einer wollüstigen Frau, die ihre phallischen Attribute verloren hat und mit der Ansteckung durch ihre verschlingende Kreatürlichkeit droht, muss Des Esseintes sich mit dem schwachen Herodes identifizieren.67 Die beiden Bildbeschreibungen folgen im Roman direkt auf das Kapitel, das von der Erinnerung an die Szene beim Zahnarzt berichtet und lassen sich deshalb, so meine Hypothese, als Verschiebungen der politisch-historischen Szene deuten. Wie die Salome der ersten Bildbeschreibung erweist sich die Erste Republik, die den König tötet, als potent und viril. Sie hat dessen Machtsymbole an sich gerissen wie Salome die Lilie, in der Des Esseintes eine Lotusblüte zu erkennen meint.68 In dieser sieht er auf paradoxe Weise zugleich die »plaie impure« des Mordes an Iokanaan, eine Allegorie der Fruchtbarkeit und das Instrument eines entsexualisierenden Reinigungsrituals (AR: 145f.). Des Esseintes spiegelt sich hier in Salome, wie sich der Citoyen in der keusch-virilen und fruchtbaren, aus der Wunde der Monarchie emergierten Republik spiegeln und seine Macht genießen kann. Sobald die Republik allerdings des abgeschlagenen Kopfes ansichtig wird, wendet sich das Blatt. Jetzt offenbart sie dem Betrachter ihre weibliche Körperlichkeit, in deren Gegenwart das Subjekt sich selbst als kastriert erlebt. Des Esseintes sieht nun nicht mehr die ornamentale Oberfläche des Schleiers, sondern den »trou« (AR: 147) von Salomes Bauchnabel. Salome besitzt zwar das materielle männliche Genital nicht, hat aber mit der souveränen Entscheidungsgewalt über den Tod des Täufers den symbolischen Phallus. Angesichts einer Republik, die bewusst ohne einen materiellen Garanten ihrer Souveränität auszukommen versucht, die ihren Absolutheitsanspruch jedoch mit der Verfassungsänderung von 1884 bekräftigen wird, identifiziert sich Des Esseintes nun mit dem entmachteten Herrscher. Ich würde also die im Text inszenierte hysterische Identifikationsstruktur, die Klee zufolge zeigt, wie Des Esseintes die Geschlechterdifferenz in der Manier lacanianischer Hysterie zu leugnen versucht und daran scheitert,69 in ihren politischen Bezugshorizont stellen. Beide Beschreibungen zeugen von dem Versuch, die Macht über die Frau 66 Ebd.: S. 262–266, das Zitat befindet sich auf S. 264. Klee deutet dies als hysterisches Symptom im Sinne Lacans (ebd.). Zur sicheren Kontemplation der gebannten ersten Salome vgl. auch dies. 2000: S. 56 und Birkett 1986: S. 73f. 67 So Klee 2001: S. 266–268. 68 Jean Lorrain wird in seiner reprise der Bildbeschreibung aus der Lotusblüte wieder eine Lilie machen (Monsieur de Phocas. Hg. v. H8lHne Zinck. Paris: Flammarion 2001, S. 250). 69 Klee 2001: S. 268f.

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zurückzuerlangen. Des Esseintes bezeichnet schon die erste Salome als Hysterikerin (AR: 145) und setzt sich damit an die Position des dominierenden Arztes. Ähnlich verfährt er bei der Beschreibung von L’Apparition. Er meint, im Blick, den der abgeschlagene Kopf des Täufers dort auf Salome wirft, die männliche Macht über die Frau zu erkennen: Le chef d8capit8 du saint s’8tait 8lev8 du plat pos8 sur les dalles et il regardait, livide, la bouche d8color8e, ouverte, le cou cramoisi, d8gouttant de larmes. Une mosa"que cernait la figure d’oF s’8chappait une aur8ole s’irradiant en traits de lumiHre sous les portiques, 8clairant l’affreuse ascension de la tÞte, allumant le globe vitreux des prunelles, attach8es, en quelque sorte crisp8es sur la danseuse. D’un geste d’8pouvante, Salom8 repousse la terrifiante vision qui la cloue, immobile, sur les pointes ; ses yeux se dilatent, sa main 8treint convulsivement sa gorge. […] Dans l’insensible et impitoyable statue, dans l’innocente et dangereuse idole, l’8rotisme, la terreur de l’Þtre humain s’8taient fait jour ; le grand lotus avait disparu, la d8esse s’8tait 8vanouie ; un effroyable cauchemar 8tranglait maintenant l’histrionne, extasi8e par le tournoiement de la danse, la courtisane, p8trifi8e, hypnotis8e par l’8pouvante. (AR: 146–148)

Des Esseintes stilisiert Johannes den Täufer zum Arzt, der die Hysterikerin hypnotisiert und ihre Bedrohlichkeit unter seinem Blick bannt. In Moreaus Gemälde blickt der Täufer allerdings ziemlich entgeistert auf Salome, die ihn mit der Hand ihres ausgestreckten Arms nicht nur abzuwehren, sondern auch zu beherrschen scheint.70 Salomes Entsetzen in L’Apparition unterscheidet sich von der weiblichen Furcht vor dem Anblick eines überlegenen, mächtigen Mannes, wie Moreau sie beispielsweise mit Semeles Blick in Jupiter et S8m8l8 darstellt. Politisch lässt es sich als die Angst der Republik vor dem enthaupteten Kopf, der nun anklagend die Augen auf sie richtet, deuten. Dabei ist Salomes Angst angesichts der »horrible tÞte« (AR: 147) vor allem die von Des Esseintes, denn die Vision bietet sich ihm als Betrachter wie der Tänzerin dar. Seine Interpretation des Gemäldes ist zugleich die Wunscherfüllung des sich infolge des Königsmordes kastriert imaginierenden Mannes, der nachträglich die Macht über die Frau zu erlangen sucht und die Schuld an der traumatischen Enthauptung auf ihre erotische Ausstrahlung sowie ihre ›hysterische Irrationalität‹ projiziert.71 70 Vgl. zu der von Salome ausgehenden Kontrolle ebd.: S. 266f. 71 Vgl. zur ›perversen‹ Zurückerlangung männlicher Macht über die Frau in Moreaus L’Apparition und Des Esseintes’ Rezeption Birkett 1986: S. 74f. Dass man Moreaus SalomeVariationen sowie deren Beschreibungen in f rebours im Sinne einer Projektion deuten kann, zeigt die Interpretation von Bertrand Tillier, der die hysterische Tänzerin in Analogie zur hysterisierten Kommune setzt (La Commune de Paris, R8volution sans images ? Politique et repr8sentations dans la France r8publicaine (1871–1914). Seyssel: Champ Vallon 2004, S. 379 u. 382–385). Daniel Sangsue führt die zahlreichen »r8cits de d8collation« des 19. Jahrhunderts und den Judith- oder Salometopos auf das Bedürfnis, sich mit der Revolution auseinanderzusetzen, zurück (2010: S. 83).

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Jetzt, wo der trou sichtbar und durch mehrere dunkle Broschen, unter anderem auf Salomes Unterleib, metonymisch multipliziert wird – Des Esseintes vergleicht ihn mit einem Onyx (ebd.) – muss er die Frau supplementär über seine Sprache und den männlichen Blick des enthaupteten Kopfes zu versteinern (»p8trifier«) versuchen. Das Bild des abgeschlagenen Hauptes lässt sich deshalb als Symptom im lacanianischen Sinne beschreiben: Es droht die soziale Ordnung zu stören, indem es eine verdeckte ›Wahrheit‹ ans Licht bringt – »[L’aquarelle] s’intitule L’apparition. Apparition, brusque mont8e, / la surface du monde, de ce qui y g%t dans les profondeurs.«72 – und muss deswegen auf einen Sündenbock projiziert und mit ihm unschädlich gemacht werden.73

3.

Krisenallegorie und hysterische Symptomatik

Da der Erzähler die Episode beim Zahnarzt als »grande scHne« bezeichnet, lässt diese sich als verdrängte (sexuelle) Szene lesen, die Freud zufolge im hysterischen Anfall energisch verleugnet und zugleich permanent reproduziert, dabei aber verschoben wird.74 Freud geht davon aus, dass die Determination hysterischer Symptome »nicht aus infantilen, sondern aus späteren, oft aus rezenten Erlebnissen herstammt. Ein anderer Teil der Symptome geht freilich auf die allerfrühesten Erlebnisse zurück«.75 Er meint weiter, dass zur Bildung eines hysterischen Symptoms ein […] Abwehrbestreben gegen eine peinliche Vorstellung vorhanden sein muss, daß diese eine logische oder assoziative Verknüpfung aufweisen muß mit einer unbewußten Erinnerung durch wenige oder zahlreiche Mittelglieder, die in diesem Moment gleichfalls unbewußt bleiben […] und man kann nicht umhin, sich zu fragen, wie es zugeht, daß diese Erinnerung an ein seinerzeit harmloses Erlebnis posthum die abnorme Wirkung äußert, einen psychischen Vorgang wie das Abwehren zu einem pathologischen Resultat zu leiten, während sie selbst dabei unbewußt bleibt.76

Will man nun – immer noch im Sinne einer Krisenallegorie – die Ätiologie der Hysterie Des Esseintes’ rekonstruieren, dann ließe sich das Freud’sche Kindheitserlebnis im Ereignis von 1793 als Erlebnis in der frühesten ›Kindheit‹ der Republik situieren. Das vornehmliche Symptom, das ständige Aufkratzen der Haut (»il en arrivait / s’8corcher constamment l’8piderme […].« AR: 84) wäre dann auf das rezentere Ereignis des Einmarschs der Preußen, also der Schän72 73 74 75 76

Jourde 1991: S. 56. Jourde lässt den politischen Bezug der Salomebeschreibungen außer Acht. Vgl. zu Lacans Symptombegriff Stavrakakis 1999: S. 65. »Allgemeines über den hysterischen Anfall« [1909], in Freud 1971: S. 197–203. Freud 1971b: S. 74. Ebd.: S. 73f.

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dung der französischen Grenzen, zurückzuführen. Des Esseintes’ neurotisches Kratzen der Haut wehrt die »peinliche Vorstellung« der Invasion ab, die historisch eng mit der Gründung der Republik und der Erinnerung an 1792/93 verknüpft ist. Schon damals war es Preußen unter Friedrich Wilhelm II., das zuerst in Frankreich ›eindrang‹, wie es plastisch La France foutue schildert.77 Auch die Zahnarztszene gestaltet sich in Des Esseintes’ Erinnerung ja als Vergewaltigung. Das Abwehrbestreben gegen diese Vorstellung – etwa durch eine Verstärkung von Haut und Körpergrenzen mithilfe seiner Ledertapete – scheitert allerdings, wenn vor seinem geistigen Auge im Albtraum eine bedrohliche Bulldoggenfrau in preußischen Soldatenstiefeln erscheint. Er weiß diese trotz des Gefühls, dass sie schon sehr lange in seinem Leben weilt, nicht zu identifizieren (AR: 195), verdrängt den politischen Sinngehalt und transformiert die Angst vor der Republik, die sich hier mit der Angst vor Preußen vermischt,78 in eine Frauenphobie. Freud zufolge bewahrt die Phobie die Hysterikerin vor einer »Wiederbelebung der verdrängten Wahrnehmung«.79 Die Umwandlung der Hysterie in eine Phobie wirke zugleich selbstheilend, indem sich die Neurotikerin auf diese Weise des beim eigentlichen Erlebnis »eingeklemmt[en]« Affekts entledigen könne.80 Indem also Des Esseintes Frauen und eine gefürchtete zukünftige Gefährdung etwa durch Syphilis phobisch abwehrt, kann das politische Gründungsereignis in der Verdrängung bleiben. Die Bedrohung der körperlichen Integrität von Huysmans’ Protagonisten von Sac au dos bis L/-bas durch Fäkalien und andere Miasmen,81 die drohende Überschwemmung des brechenden Deichs durch die »ordure« (AR: 314, vgl. auch 169f.)82 sprechen die Sprache des Theweleit’schen Subjekts, das sich in seiner Männlichkeit angegriffen sieht. Walter Erhart weist zwar die These zurück, dass Des Esseintes’ Isolation dem Wunsch nach einer Panzerung des soldatischen Ich entspreche. Ihm zufolge dient die Abschirmung des Selbst der Kontrolle des eigenen Körpers und dem Versuch, sich seiner eigenen Geschlechtlichkeit zu bemächtigen, diese selbst zu kreieren und damit zum 77 »Frédéric, (montrant son p8nis.): Je bande le premier, c’est / moi la victoire. L’Angleterre: Foutez-la, Fr8d8ric, vous en aurez la gloire. François [Kaiser Franz II.]: Tracez-nous le chemin, nous le suivrons aprHs.« (La France foutue 1995: S. 72, Akt II, Sz. 9) Siehe auch die Anm. 56 auf S. 137: »Le roi de Prusse entra en France jusques dans les pleines de la Champagne.« 78 Frömmer deutet die Gestalt als Allegorie der Republik (vgl. oben Anm. 9). 79 »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, in Freud 1971: S. 83–186, hier S. 107. 80 Freud 1971a: S. 24. 81 Siehe hierzu etwa Robert Ziegler : »From Body Magic to ›Divine Alchemy‹: Anality and Sublimation in J.-K. Huysmans«, in Orbis Litterarum 44 (1989), S. 312–326. 82 Die ganze moderne Welt, der sich Des Esseintes am Ende wieder stellen muss, versinkt in seiner Imagination in einem Erdrutsch: »allons, fit-il, tout est bien fini ; comme un raz de mar8e, les vagues de la m8diocrit8 humaine montent jusqu’au ciel et elles vont engloutir le refuge dont j’ouvre, malgr8 moi, les digues.« (AR: 349)

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künstlerischen Artefakt zu machen.83 Ein soldatisches Ich ist Des Esseintes bestimmt nicht, jedoch spricht die so häufig hervorgehobene Semantik von Haut und Grenze dafür, seinen Einschluss mit nationalpolitischen Fragen zu assoziieren. Die Erinnerung an die Invasion lässt Huysmans selbst nach dessen eigener Aussage keine Ruhe, schreibt er doch noch 1892 nach der Lektüre der D8b.cle an Zola: »ce n’est pas sans m8lancolie que je ferme le livre, car il me rem8more une id8e qui me hante.«84 Dass die Invasion jetzt das männliche Subjekt selbst bedroht, mag mit der neuen Situation der 1880er Jahre zusammen hängen, die jeden Franzosen zum politisch aktiven Citoyen erklärt, der nicht mehr auf die Rückkehr des Königs hoffen kann. Die politischen Entwicklungen seit 1879, die mit dem Gesetz von 1884 ihren Höhepunkt erreichen werden, lösen die Erinnerung an 1870 aus, die aber nur Bindeglied ist zu einer zweiten, verborgenen Erinnerung: 1792/93. Hier trifft sich Freuds Theorie, der zufolge die Erinnerungsketten in der Hysterie rückwärts laufen,85 mit Alain Badious Begriff des Wahrheitsereignisses für ein Ereignis, das, wie beispielsweise die Französische Revolution, Subjekte hervorbringt, die in einer geschichtlichen Situation Zeicheneffekte des Ereignisses erkennen: »What defines the subject is his fidelity to the Event: the subject comes after the Event and persists in discerning its traces within his situation.«86 Auf diese Weise deklariert das 19. Jahrhundert die Demokratie und die Revolution zum Auslöser sozialer Degeneration; insbesondere

83 Erhart 2002: S. 181. Vgl. auch Klee zur dandyhaften Intellektualität Des Esseintes’, der »die Trennung der Geschlechter in sich selbst negiert« (2001: S. 269) und seinen Körper zu »Bühne und Austragungsort seiner Persönlichkeit« (ebd.: S. 119) macht (vgl. ebd.: S. 113– 151 u. 262–269). Klee spricht Des Esseintes allerdings die Fähigkeit ab, sich wie ein Dandy über die bürgerliche Geschlechterordnung zu stellen (ebd.: S. 307). Dies zeigt, dass die Erfahrung der Revolution unumgänglich ist und spricht dafür, dass f rebours gerade um diesen Punkt organisiert ist. 84 Brief vom Juni 1892, zit. in J.-K. Huysmans: Lettres in8dites / Pmile Zola. Hg. v. Pierre Lambert. Genf: Droz 1953, S. 143f. 85 Freud 1971b: S. 54–59. »Wir wissen ja durch Breuer, daß die hysterischen Symptome zu lösen sind, wenn wir von ihnen aus den Weg zur Erinnerung eines traumatischen Erlebnisses finden können. Wenn nun die aufgefundene Erinnerung unseren Erwartungen nicht entspricht, vielleicht ist derselbe Weg ein Stück weiter zu verfolgen, vielleicht verbirgt sich hinter der ersten traumatischen Szene die Erinnerung an eine zweite, die unseren Ansprüchen besser genügt […], so daß die erstgefundene Szene nur die Bedeutung eines Bindegliedes in der Assoziationsverkettung hat?« (Ebd.: S. 57) »Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalles – ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören.« (Ebd.: S. 64, Hervorh. im Orig.) 86 Zˇizˇek 1999: S. 130, Hervorh. im Orig. Siehe zum Wahrheitsereignis nach Badiou ebd.: S. 128–135.

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nach 1870/71 meint man zu verstehen, dass die Vergangenheit verdrängt, aber nie verloren werden könne.87 Es ist deshalb vielleicht kein Zufall, dass der Roman in sechzehn Kapitel unterteilt ist. Diese lagern sich wie eine Reihe von Deckerinnerungen über die Gründung der Republik mit der Enthauptung des Königs. Letztere kann im hysterischen Ausschluss des Politischen nur allegorisch in Form der Erinnerung an den Zahnarztbesuch ausgedrückt werden. Während eines Erzähldiskurses, der sich über fünfzehn Kapitel erstreckt, wehrt Des Esseintes das Politische ab und versucht, seine Unabhängigkeit von der Vergangenheit zu konstruieren und sich als Künstler außerhalb der Zeit zu imaginieren. Nachdem sein Rückzug aus der symbolischen Ordnung von Gesellschaft und Politik und sein Versuch, ein Leben außerhalb jeglicher ideologischer Interpellation im absoluten Imaginären zu leben, gescheitert sind,88 bricht im sechzehnten Kapitel der Deich und mit der Entscheidung, in die Gesellschaft zurückzukehren, kehrt auch die Politik in sein Bewusstsein zurück. Die Zahl Sechzehn kann zwar bei Des Esseintes keine Erinnerung an die Enthauptung Ludwigs XVI. hervorrufen – sie steht außerhalb der Diegese und ist seinem Bewusstsein nicht zugänglich –, wohl aber beim interpretierenden Leser, der das allegorische Velum – die fetischisierende, ästhetizistische Ornamentalik des Textes – lüftet und weiß, dass die Sechzehn schon in Flauberts Saint Julien l’Hospitalier (1877) auf den enthaupteten König verweist.89 Der Text zeugt allerdings zugleich auch davon, dass das Trauma kein in sich geschlossenes, einmal geschehenes ›Urereignis‹ ist, zu dem man nur zurückzukehren und das man nur ins Bewusstsein zu überführen hätte: Indem sich die evozierten Ereignisse überlagern, ineinandergreifen und, wie es die »Notice« zeigt, noch weiter zurückreichen als bis zur Revolution, zeigt f rebours vielmehr, dass das Trauma sich immer wieder re-produziert als Teil einer Assoziationskette, die rückwirkend, über Metaphorisierung und nicht zuletzt unter dem Einfluss der Phantasie entsteht.90

87 Siehe hierzu Pick 1989: S. 68–71. In dieser Hinsicht ist Tourettes Bemerkung beachtenswert, nach der die deutsche Hysterieforschung meine, dass die (männliche) Hysterie eine typisch französische Krankheit sei und in Deutschland eigentlich nicht auftrete (siehe Link-Heer 1988: S. 388f.). 88 Klee spricht von der »implosion of his self-referential reality« (2000: S. 60). Vgl. dazu Stavrakakis: »[T]he subject can only exist on the condition that it accepts the laws of the symbolic.« (1999: S. 20) 89 Siehe zur Bedeutung der Verknüpfung der Zahl Sechzehn mit dem Regizid in Saint Julien l’Hospitalier Xuan 2011: S. 207. Robert Ziegler erklärt die Ornamentalik psychologisch damit, dass Des Esseintes künstliche Ersatzobjekte für die unverfügbare Mutter suche (Asymptote. An Approach to Decadent Fiction. Amsterdam/New York: Rodopi 2009, S. 38f.). 90 Vgl. zur Konzeption einer rückwirkenden Metaphorisierung, die schon bei Freud das ›Urereignis‹ ablöst, Jacques RanciHre: »La v8rit8 par la fenÞtre. V8rit8 litt8raire, v8rit8 freudienne«, in ders.: Politique de la litt8rature. Paris: Galil8e 2007, S. 169–188, hier S. 187f. Zur

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Die nationalallegorische Problematik von f rebours wird in einer Episode im wenige Jahre später publizierten Roman En rade (1887) expliziert. Dessen Protagonist Jacques Marles befindet sich wie Des Esseintes in der Einöde des Ch.teau de Lourps – allerdings unfreiwillig. Er fühlt sich von der Außenwelt bedroht und leidet unter dem neurotischen Zwang, Türen und Fenster seines Rückzugsortes verschließen zu müssen: Il rida autour du ch.teau, cherchant si, par des fermetures solides, il pourrait se mettre / l’abri, dHs l’ombre, des maraudeurs et des bÞtes ; les portes se refusaient bien / s’ouvrir sans coups de pieds ou pes8es d’8paule, mais la plupart avaient perdu leur clef ou devaient fermer par des loquets maintenant perdus et des bobinettes priv8es de g.ches. Il inspecta les alentours ; le parc n’8tait mÞme pas clos du cit8 du bois ; nul mur et nulle haie ; tout le monde pouvait entrer.91

Marles’ Invasionsangst hat nun mit dem deutsch-französischen Krieg eine klare historische Ursache. Im Gegensatz zum Onkel seiner Ehefrau, dem Bauern Antoine, erinnert er sich immer noch voller Grauen an das nationale Trauma: Ou bien le pHre Antoine parlait de la guerre de 1870, racontait les fraternelles relations des paysans et des Prussiens. – Oui-da, mon neveu, ils 8taient ben gentils, ces gars-l/ que j’ai log8s ; jamais un mot plus haut que l’autre et des hommes qu’avaient du sang ! Quand ils ont d0 marcher vers Paris, ils pleuraient, disant : Papa Antoine, nous capout, capout ! – puis, qu’ils avaient pas leur pareil pour soigner le bestial ! – Alors vous n’avez pas souffert de l’invasion ? demanda Jacques. – Mais non… mais non… Les Prussiens ils payaient tant qu’ils prenaient […]. (ER: 179f.)

Marles, der Pariser, der gemäß seinem nationalpatriotischen Kollektivbewusstsein handelt und fühlt, kann die Verbrüderung von französischen Bauern und preußischen Soldaten nicht nachvollziehen. Der Bauer, der persönliche und ökonomische Beziehungen zu den Preußen eingegangen ist, wird so zum typischen Vertreter einer sozialen Klasse im ländlichen Frankreich, deren kulturelle und mentale Integration in die Nation zwischen 1870 und 1914 erst allmählich vollzogen wird:92 Die Romanhandlung ist in der Nähe der Kleinstadt Provins in Bedeutung der Phantasie innerhalb der ›Erinnerungsketten‹ siehe Freuds Anm. 1 aus dem Jahr 1924 in ders. 1971b: S. 65f. Vgl. auch oben Anm. 49 zu Le Gaufey. 91 En rade. Hg. v. Jean Borie. Paris: Gallimard (folio) 1984, S. 88. Ich zitiere diese Ausgabe im Folgenden im Fließtext mit der Sigle ER. 92 Siehe hierzu die klassische Studie von Eugen Weber : Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1870–1914. London: Chatto & Windus 1977, bes. S. 485–496. Weber schreibt: »French culture became truly national only in the last years of the century« (ebd.: S. 486) und nennt etwa Zolas Terre, die die Bauern noch als das bedrohliche Andere der Bourgeoisie zeichnet (ebd.: S. 12). La Terre ist im selben Jahr wie Huysmans’ En rade erschienen.

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J.-K. Huysmans und die Hysterie der republikanischen Nation

der Brie lokalisiert und steht damit exemplarisch für die Provinz.93 Die verlorenen Schlüssel und Schlösser sowie das offene Gelände um das bäuerliche Anwesen zeugen nur allzu offensichtlich davon, dass den Bauern Marles’ Invasionsängste und dessen Ohnmachtsgefühl nicht plagen: »Jacques apprenait que l’oncle se conduisait en h8ros, paladinait tous les soirs […].[…] Jacques sentait les p.les instincts charnels qui se r8veillaient de temps en temps en lui s’8vanouir […].« (ER: 180) Während sich der Bauer als Held gebärdet und als Ritter aufspielt, fühlt Marles sich impotent. Nur scheinbar aus Langeweile probiert er deshalb wahllos Schlüssel zu Schränken und Türen aus: Il commenÅait d’ailleurs de se lasser de la chaumiHre, du vieux, de ses prouesses et de ses oies, quand l’oncle, remis sur pieds, retourna aux champs. Alors il recommenÅa ses promenades dans le ch.teau, parvint / un tel degr8 d’h8b8tude que, pour s’occuper, il v8rifia des trousseaux de clefs pendus dans un placard et les essaya dans toutes les serrures des armoires et des portes. Puis, quand l’int8rÞt de cette inutile t.che fut us8, il se rabattit sur le chat, jouant / cache-cache avec lui dans les couloirs […]. (ER: 181)

Unnütz scheint diese Beschäftigung nicht zu sein. Sie dient vielmehr der symbolischen Selbstvergewisserung im Virilitätswettstreit mit dem Onkel, dem Marles trotz seiner Jugend von Beginn an unterlegen ist. Während sich in En rade eine distanzierte Reflexion über die politische Problematik ankündigt, verschreibt sich f rebours über weite Strecken dem reinen Imaginären und der Abwehr des Symbolischen. Schon Zola hatte kritisiert, dass f rebours teilweise, etwa in der Episode der Mundorgel, seine Zeichenhaftigkeit verliere: »Amusante imagination que l’orgue / liqueurs, mais pas commode / comprendre comme installation mat8rielle.«94 Der Text verspielt seinen semiotischen Status – wie die Bücher, die Des Esseintes’ Zimmer tapezieren und zur reinen Materialität einer neuen Haut werden – und schließt seinen Referenten ebenso wie den Rezipienten aus. Formal lässt sich der hysterische Weder-noch-Text als strategy of containment95 beschreiben. Der Roman kann den Konflikt der erstmals wahrhaft republikanischen 1880er Jahre nicht lösen, sondern nur in ein Narrativ bannen und in Text überführen. Die Überlegungen angesichts der projektierten Rückkehr in die Gesellschaft im letzten Kapitel belegen, dass Huysmans’ Schreibprojekt mit dem Ausdruck der Krise nicht als abgeschlossen gelten kann. Huysmans gibt bekanntlich selbst in seinem zwanzig Jahre nach Erscheinen des Romans verfassten Vorwort Barbey d’Aurevilly Recht mit dessen Einschätzung, dass dem Autor eines Textes wie f rebours nur der Selbstmord oder die Hinwendung zum Glauben blieben (AR: 76). D’Aurevillys und Huysmans’ eigene Beurteilung zeigen, dass der Roman gera93 Vgl. Jean Borie in seiner »Pr8face«, in ER: 7–37, hier : 9. 94 Brief vom 20. Mai 1884, zit. in Huysmans 1953: S. 105–107, hier S. 106. 95 Siehe dazu oben Einleitung, Kap. 3.

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dezu nach einer Lösung schreit. In L/-bas stellt Huysmans zwei Aspekte einer möglichen Lösung vor: die Verschiebung der Hysterie vom männlichen Subjekt auf das weibliche Objekt, wie sie schon von Des Esseintes’ Beschreibungen der Salome vorweggenommen worden war, sowie die kompensatorische Anerkennung einer apolitischen, göttlichen Interpellationsinstanz.

4.

Therapieversuche: zur Abjektion der Hysterie in Là-bas

Während Jean Floressas des Esseintes und Jacques Marles ihre Autonomie fernab von Paris nicht finden und ihre männliche Identität nicht stabilisieren können, söhnt sich Durtal, der Protagonist aus L/-bas (1891), mit der bürgerlichen Gesellschaft aus. Es gehört zu seiner Selbststilisierung, dass er nach dem Ideal eines dekadenten Künstlers strebt, sich für die Grausamkeiten des Sadisten Gilles de Rais aus dem 15. Jahrhundert interessiert und sich zusammen mit seinem dandyhaften Freund, dem Arzt Des Hermies, sowohl ästhetisch vom bürgerlich-materialistischen Naturalismus als auch vom positivistischen Wissenschaftsdiskurs distanziert. Insbesondere die materialistischen Theorien der Hysterie erachten sie als unzulänglich, weil diese nur körperliche Symptome und Wirkungen beschreiben und vorhersehen können, nicht jedoch deren Ursachen zu benennen und Therapien vorzuschlagen in der Lage seien.96 Weil der Positivismus keine letzten Erklärungen bieten kann, prosperiert Durtal zufolge das Interesse an Übernatürlichem und Okkultem (LB 286), wobei der Hinweis auf eine »secte de Poss8d8s, cr88e le soir mÞme du jour oF fut guillotin8 Louis XVI« (LB: 95) die Komplementarität von Positivismus und Okkultismus als postrevolutionäre Phänomene fokussiert. Deuten ließe sich dieses Interesse daher nicht nur als Gegenbewegung zum Positivismus, sondern auch als bürgerliche Aneignung spektakulärer königlicher Machtdemonstrationen, die sich durch Planung im Verborgenen und Dunkeln und »als wundersame Wirkungen ohne erkennbare Ursache und ohne ersichtlichen Bezug zu einer Ordnung«97 auszeichnen. Der Zugang zur okkulten Szene wird Durtal von Hyacinthe Chantelouve vermittelt, die Durtal Briefe schreibt, in denen sie sich als typische Hysterikerin inszeniert, ein unbändiges Begehren nach ihm formuliert und ihm damit den Phallus ›spendet‹.98 Als Durtal sie zum ersten Mal trifft, muss er 96 Vgl. J.-K. Huysmans: L/-bas. Hg. v. Yves Hersant. Paris: Gallimard (folio) 1985, S. 178f. (Ich zitiere diese Ausgabe im Folgenden im Fließtext mit der Sigle LB.) Ich folge hier Klee 2001: S. 152–191, bes. S. 152–157 u. 179f. und verweise auch für eine Analyse der Körperdiskurse des Romans in ihrer Komplexität auf ebendiese Studie. 97 Siehe zum souveränen Machtmittel des geheimnisvollen coup d’8tat Koschorke et al. 2007: S. 184–191, das Zitat befindet sich auf S. 186. 98 Vgl. oben Vorspiel, Kap. 2, Anm. 79.

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J.-K. Huysmans und die Hysterie der republikanischen Nation

jedoch erkennen, dass sie seinen Phantasien nicht entspricht und sich ihm sexuell nicht zu unterwerfen gewillt ist, sondern ein eigenes, für ihn inkommensurables Begehren zu erfüllen sucht. Dem kann er nicht genügen (LB: 216f.). Seine mangelhafte Performanz kratzt an seinem »amour-propre« (LB: 221): [C]’8tait de sa faute / lui, si tout ratait. Il manquait d’app8tit, n’8tait r8ellement tourment8 que par l’8r8thisme de sa cervelle. Il 8tait us8 de corps, 8lim8 d’.me, inapte / aimer, las de tendresses avant mÞme qu’il ne les reÅut et si d8go0t8 aprHs qu’il les avait subies ! il avait le cœur en friche et rien ne poussait. (Ebd.)

Hier gibt er sich noch selbst die Schuld an seinem Ungenügen. Bei der schwarzen Messe, zu der Chantelouve Durtal bald darauf Zutritt verschafft, greift er allerdings auf den Hysteriediskurs zurück, um sich die Kontrolle über die bedrohliche Frau zu verschaffen und diese zur Inkarnation einer exemplarischen Weiblichkeit zu stilisieren:99 [D]es femmes tomb8es sur les tapis se roulHrent. L’une sembla mue par un ressort, se jeta sur le ventre et rama l’air avec ses pieds ; une autre, subitement atteinte d’un strabisme hideux, gloussa, puis, devenue aphone, resta, la m.choire ouverte, la langue retrouss8e, la pointe dans le palais, en haut. […] L’aura de la grande hyst8rie suivit le sacrilHge et courba les femmes. […] Et elle se d8shabilla, jeta par terre sa robe, ses jupes, ouvrit toute grande l’abominable couche, et, relevant sa chemise dans le dos, elle se frotta l’8chine sur le grain dur des draps, les yeux p.m8s et riant d’aise ! […] Non, d8cid8ment, je me suis trop abreuv8 d’ordures ; c’est fini ; l’occasion est bonne pour me f.cher avec cette cr8ature que je n’ai, depuis notre premiHre entrevue, que tol8r8e, en somme, et je vais le faire ! […] Non, r8pondit-il ; il n’y a vraiment pas moyen de nous entendre ; vous voulez tout et je ne veux rien ; mieux vaut rompre. (LB: 295f. u. 299f.)

Die körperlichen Zeichen, die die sprachlosen Frauen aussenden, bleiben für den männlichen Beobachter unverständlich und wären unberechenbar, könnte er sie nicht als Symptome der Hysterie deuten. Ihre Autoerotik, die den Mann nur benutzt oder seiner erst gar nicht bedarf, ist für diesen eine Provokation höchsten Grades. Durtal pathologisiert sie deshalb und deutet sie als irrationalen Ausdruck einer hysterischen ›Aura‹. Er manifestiert seine bedrohte Identität im wiederholten »Non«, mit dem er sich von der Satanistin abzugrenzen und eine rein deskriptive Haltung einzunehmen versucht. Durtals »Non« drückt die Bedrohung der Männlichkeit aus, die angesichts der Frau, die ihre eigene Sprache spricht, ihren rückversichernden Spiegel zu verlieren droht. Es lässt sich daher als hysterisches Symptom deuten, auch wenn Durtal, wie es Klee feststellt, kein Hysteriker im klinischen Sinne ist.100 Die Verneinung, die 99 Vgl. weiter Klee 2001: S. 163–165, 181–189 u. 270–280, die auch auf die theatralische Inszenierung der Hysterie in der schwarzen Messe eingeht (ebd.: S. 186f.). 100 Ebd.: S. 163.

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Freud zufolge »der intellektuelle Ersatz der Verdrängung«101 ist, wendet sich gegen die unheimliche Wiederkehr einer aus dem hegemonialen Diskurs verdrängten weiblichen Sprache und gegen die Infragestellung der männlichen Herrschaft. Auf diese Weise kann Durtal den Ausbruch der männlichen Hysterie durch die diskursive Produktion der weiblichen Hysterie verhindern. Nachdem Durtal seine eigene hysterische Panik durch die Verschiebung auf die Frau überwinden und seine Identität als Intellektueller im homosozialen Kreis seiner bürgerlichen Freunde stabilisieren konnte,102 wendet er sich der Politik und den Gründen für die erlebte Krise zu: Konform mit den zeitgenössischen Degenerationsdiskursen kritisieren Durtal und Des Hermies den bürgerlichen Materialismus, die Revolution und die Demokratie, die dem Volk mehr Schaden als Nutzen gebracht hätten.103 Die beiden Männer haben die Krankheit der Gesellschaft am eigenen Leib erfahren und erwarten ihr Heil vom Glauben als dem »brise-lames de la vie, c’est le seul mile derriHre lequel l’homme d8m.t8 puisse s’8chouer en paix !« (LB: 333) Der moderne Mann ist ›entmastet‹; sein Körper entbehrt deshalb der Grenze und des Deiches, die ihn vor den »ordures« (LB: 299) des Lebens schützen könnten. Der im Zeitalter nach dem Tod Gottes und des Königs lebende Mann ist besonders anfällig für die ›Emaskulation‹, gegen die die Bourgeois und das Volk ihr je eigenes Heilmittel finden: Et voil/ pourtant la panac8e qui va tout gu8rir, fit des Hermies, en riant. Et il d8signa du doigt, sur les murs, d’8normes affiches dans lesquelles le G8n8ral Boulanger objurguait les Parisiens de voter, aux prochaines 8lections, pour lui. Durtal leva les 8paules. Tout de mÞme, dit-il, ce peuple est bien malade. Carhaix et G8vingey ont peut-Þtre raison, lorsqu’ils professent qu’aucune th8rapeutique ne serait assez puissante pour le sauver ! (LB: 320f.)

Des Hermies und Durtal verhöhnen das in ihren Augen naive Volk, das den General Boulanger als virilen Helden und Messias feiert, der gekommen ist, um eine ›effeminierte‹ Nation zu erlösen. Dabei frönen sie selbst dem Messianismus (vgl. LB: 312–314). Der katholische Glaube hat für sie eben die Bedeutung, die das Volk Boulanger zuschreibt – er heilt ihren ›entmasteten‹ Körper : »C’est tout 101 »Die Verneinung«, in Freud 1975: S. 371–377, hier S. 374. »Mit Hilfe der Verneinung wird nur die eine Folge des Verdrängungsvorganges rückgängig gemacht, dass dessen Vorstellungsinhalt nicht zum Bewusstsein gelangt. Es resultiert daraus eine Art von intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung.« (Ebd., S. 373f.) 102 Vgl. zu diesem Punkt Klee 2001: S. 188–191 u. 279; sie verwendet den Begriff ›homosexuell‹ anstelle von ›homosozial‹. 103 »[C]e qui est bien 8trange aussi, c’est que la d8mocratie est l’adversaire le plus acharn8 du pauvre. La R8volution, qui semblait, n’est-ce pas, devoir le prot8ger, s’est montr8e pour lui le plus cruel des r8gimes. Je te ferai parcourir un jour, un d8cret de l’an II ; non seulement, il prononce des peines contre ceux qui tendent la main, mais encore contre ceux qui donnent !« (LB: 320) Vgl. auch LB: 339 und zu den Diskursen Pick (Anm. 12).

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de mÞme embÞtant de vaciller ainsi ! ah ! ce que j’envie la foi robuste de Carhaix.« (LB: 333) Der Glaube ist nicht nur Deich, sondern konkret imaginierte Kompensation eines kollektiv erfahrenen körperlichen Mangels. So wird der Glockenturm des Glöckners Carhaix zum Fetischobjekt für Durtals Begehren nach dem Vertikalen und seine Suche nach der verlorenen Interpellation von oben;104 er vermittelt den Bourgeois ein wohliges Gefühl vergangener Zeiten: »Sonner les cloches en les adorant, et se livrer aux besognes d8suHtes de l’art f8odal ou / des labeurs monastiques de vie de Saints, ce serait complet, si bien hors de Paris, si bien dans les l/-bas, si loin dans les vieux .ges !« (LB: 336f.) Diese Vorstellung einer Ganzheit meinen die beiden Freunde in Carhaix’ Leben im bürgerlichen Heim hoch oben im Turm zu erkennen. In diesem Kompensationsheterotop105 glauben sie die Kraft zu schöpfen, die den »f8tides bourgeois de ce sale temps« (LB: 342) fehlt: Ce soir-l/, la cloche biombait, plus puissante et plus claire. Durtal cherchait / analyser ce bruit qui semblait faire tanguer la chambre. Il y avait comme une sorte de flux et de reflux de sons ; d’abord, le choc formidable du battant contre l’airain du vase, ensuite une sorte d’8crasement de sons qui se diffusaient, finement pil8s, en rotondant ; enfin le retour du battant dont le nouveau coup ajoutait dans le mortier de bronze, d’autres ondes sonores qu’il broyait et rejetait, dispers8es dans la tour. Puis ces vol8es s’espacHrent ; ce ne fut plus bientit que le ronronnement d’un 8norme rouet ; quelques gouttes restHrent plus lentes / tomber. (LB: 337f.)

Die Bildsprache ist selbstevident und steht in offensichtlichem Kontrast zu Durtals früherer Potenzpanik: Die sexuelle Metaphorik des Klöppels, der mächtig gegen den Glockenkörper schlägt, von dem nach dem Läuten noch einige Töne wie die Tropfen des Ejakulats entweichen, versichert die Bourgeois ihrer selbst. Der heimelige Turm, in dem die entsexualisierte Maman Carhaix der Männerrunde am Kaminfeuer bürgerlich-deftige Speisen serviert, überschreibt die unheimliche Erscheinung der Madame Chantelouve. Der katholische Glaube wird also funktional mit dem politischen Programm Boulangers parallelisiert. Er ist – auch wenn es in der antiklerikalen Republik der 1880er und 1890er Jahre beinahe schon ein politisches Bekenntnis ist, überhaupt gläubig zu sein106 – hier allerdings nicht als Positionierung gegen die Republik und die bürgerliche Gesellschaft zu verstehen. In seiner Körpersymbolik wird der Katholizismus zum Heilmittel, das die Anerkennung der bürgerlichen Ordnung ermöglicht und den Verlust des Königs kompensiert. Die Konfrontation mit dem entkörperlichten System der Republik löst die Krise des Subjekts 104 Zu Durtals »obsession du vertical« siehe Yves Hersant: »Pr8face«, in LB: 7–24, hier : 11. 105 Zum Kompensationsheterotop (in Abgrenzung zum Illusions-, Krisen- und Devianzheterotop) siehe Foucault 2001: S. 1580. 106 Vgl. Thomson 1969: S. 128.

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aus, die in L/-bas durch eine Rekorporalisierung der neuen symbolischen Ordnung mit der Religion gelöst und geheilt werden kann. Dabei ist der medizinische Diskurs, der die männliche Identität durch die Konstruktion der Hysterikerin stabilisiert, Voraussetzung für die gelungene Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft und die Aussöhnung mit der Moderne. Auf diese Weise ist die mit f rebours inszenierte labile strategy of containment in eine dialektische Synthese überführt worden. An f rebours, En rade und L/-bas lässt sich ablesen, wie das politische Imaginäre der Monarchie durch ein postrevolutionäres Imaginäres des hysterischen weiblichen Körpers abgelöst wird. Huysmans’ Romane bestätigen somit Beizers These, dass die Hysterie-Metapher in der Dritten Republik politisch-historisch begründet und auf das vakante Zentrum in der politischen Repräsentation zurückzuführen sei.107 Sie offenbaren die Grenzen von Freuds später formulierten Thesen zur Hysterie, wenn sie zeigen, dass auch und gerade die männliche Hysterie Ausdruck eines sexuellen oder als sexuell imaginierten Traumas sein kann.108 Im Grunde wäre f rebours von dieser Warte aus betrachtet das Produkt einer Abjektionsstrategie, mittels derer Huysmans die dekadenten Teile des Nationalkörpers zusammen mit den phobisch besetzten Erinnerungen an die nationale Vergangenheit aus der Nation ausgliedert, damit in L/-bas das Bürgertum wiedererstarken kann. L/-bas endet allerdings nicht einfach in der Reaffirmation der männlichen Potenz. Deren Reflexion im Schlag der Turmglocke wird nämlich dadurch gebrochen, dass der Klang der abschwellenden Glocke Durtal an das Geräusch eines Spinnrads (»rouet«) erinnert. Während der Spindel im Märchen vom Dornröschen, wo sie sich ebenfalls in einem hohen Turm befindet, eine Entjungferungs- bzw. Penetrationssymbolik zukommt, ist das Spinnrad ein Symbol für das Erzählen von Geschichten.109 Als solches entlarvt es die sexuelle Geborgenheit und Sicherheit, der sich Durtal und Des Hermies im Turm hingeben, 107 Vgl. oben Einleitung, Anm. 123. 108 L/-bas nimmt an einer Stelle auf ironische Weise Freuds Theorie der psychosexuellen Genese der Hysterie vorweg. Kurz vor der Reflexion über die symbolische Kastration des Mannes in der bürgerlichen Gesellschaft wird von einer jungen Frau berichtet, deren Hysterie auf einen verdrängten Inzest zurückgeführt wird: »Votre maladie, dit-il [sc. le docteur JohannHs, L.Z.], est la suite d’un inceste. – Mais, r8pondit-elle, je ne suis pas venue chez vous pour me confesser ; – et elle finit n8anmoins par avouer que son pHre l’avait viol8e, alors qu’elle 8tait impubHre.« (LB: 330) 109 Catulle MendHs publizierte 1885 eine Sammlung ›korrigierter‹ Märchenversionen mit dem Titel Les Contes du rouet. Im ersten Märchen (La Belle au bois rÞvant) weist er dem »rouet« die Funktion des Geschichtenerzählens zu: »J’ai connu jadis, dans une chaumine […] une trHs vieille femme […] – elle m’offrit en pr8sent d’adieu un rouet fort ancien et fort extraordinaire ; car, chaque fois qu’on en fait tourner la roue, il se met / parler ou / chanter d’une petite voix douce, un peu chevrotante, pareille / celle d’une mHre-grand [sic] qui s’8gaye et bavarde ; ce qu’il dit, c’est beaucoup de jolis contes […].« (Les Contes du rouet. [Paris]: Frinzine 1885, S. 4f.)

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J.-K. Huysmans und die Hysterie der republikanischen Nation

als märchenhafte Fiktion. Über die Assoziation mit Saint-Sa[ns’ symphonischer Dichtung Le Rouet d’Omphale (1871) erinnert das Spinnrad außerdem an die Emaskulation des Herkules. Die Heilung der Männer ist also längst nicht abgeschlossen und bedarf weiterer literarischer Anstrengungen.

II.

Émile Zola und der unmögliche Diskurs über die Republik

1.

Nana und der allegorische Pakt oder: Schreiben im abgesicherten Modus

Während Des Esseintes in f rebours dem Politischen auszuweichen versucht und seiner immer wieder in beängstigender Weise ansichtig wird, hat Zola mit Nana wenige Jahre zuvor den nationalallegorischen Text des 19. Jahrhunderts geschrieben. Nana ist zugleich Figuration des Zweiten Kaiserreichs wie satirisches Spiegelbild Napoleons III. und mit ihm burleske Wiedergängerin Napoleons I.: Marjorie Rousseau hat die dicht geknüpfte Verweisstruktur aufgezeigt, mit der die auf ihrem Thron-Bett herrschende Karnevalskönigin, die mit einem Vogel und mit einer »mouche d’or«1 verglichen wird, auf groteske Weise die bonapartistischen Herrschaftssymbole des Adlers und der Goldbienen pervertiert. Rousseau deutet die Verdoppelung der Silbe Na im Namen der Kokotte daher als satirischen Kommentar auf die Imitation des Onkels durch seinen Neffen LouisNapol8on. Die Eingangsepisode des Romans, in der sich ein vorwiegend männliches Publikum von der schlechten Schauspielerin Nana verführen und täuschen lässt, liest sie als Allegorie auf 1848 bzw. 1851, als Louis-Napol8on Bonaparte das Volk blendet, um nach dem allgemeinen Männerwahlrecht gewählt und fortan plebiszitär legitimiert zu werden. Insbesondere diese Analogie verleitet Rousseau dazu, eine einseitige Perspektivierung im Sinne der Kritik am Kaiserreich als reduktionistisch zu beurteilen. Sie liest Nana zugleich als Ausdruck eines Unbehagens an der Geschichte und als einen Aufruf zur Wachsamkeit vor den Irrungen des Volkes und seiner unaufhaltsamen, unkontrollierbaren und teilweise blinden Macht in der republikanischen Demokratie, deren Anhänger in den letzten Jahren des Kaiserreichs an Einfluss gewinnen. Als 1 Pmile Zola: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire. Bd. II. Hg. v. Armand Lanoux. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1960, S. 1267 u. 1269. Ich zitiere die Pl8iade-Ausgabe (1960–67) im Folgenden mit der Sigle RM sowie der Angabe des Bandes.

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Émile Zola und der unmögliche Diskurs über die Republik

Verkörperung eines republikanischen Ferments ist Nana die Quelle einer Klassen- und Geschlechtervermischung in einer Gesellschaft, an deren Spitze mit einem schwachen Kaiser ein Machtvakuum herrscht. Dieses Bild reiche, so Rousseau, über die Herrschaft Napoleons III. hinaus, entwerfe, ähnlich wie La BÞte humaine, eine pessimistisch-alarmistische Perspektive auf die Geschichte und klinge wie ein Aufruf zur Reaktion.2 Die allegorische Inkarnation des Zweiten Kaiserreichs durch Nana erscheint ihr deshalb recht gewollt und konstruiert.3 Dass das Machtvakuum des Kaiserreichs aufgrund der Schwäche Napoleons III. nur allzu deutlich auf das grundsätzliche Machtvakuum der Republik verweist, zeigt sich zuvorderst an der Isotopie des »trou«. Dessen Referenz steigert sich von der Bezeichnung von Nanas Grübchen am Kinn (RM II: 1108) bis hin zum Einsturz der Ordnung im verschlingenden Abgrund ihres Körpers und setzt erneut den revolutionären horror vacui in Szene.4 Es stellt sich deshalb die Frage, ob sich im Roman eine zweite allegorische Ebene ermitteln lässt, die über den Ausdruck eines Unbehagens an der Demokratie und der blinden Macht des Volkes hinausgeht. Die doppelte Verweisstruktur, um die es mir im Folgenden gehen wird, verdichtet sich am Ende des Romans im schwarzen Loch, das Nanas Gesicht auffrisst (RM II: 1485): Das Bild für den Zusammensturz des Kaiserreichs kann höchstens darüber hinwegtäuschen, dass hier zugleich einerseits der erlittene Gesichtsverlust der ehemaligen Grande Nation zur Repräsentation kommt und andererseits die grundsätzliche Gesichtslosigkeit der Republik phobisch ausgestaltet wird.5 Es scheint gerade so, als versuche die Allegorie des Kaiserreichs eine unheimliche Allegorie der Republik zu verschleiern. Im kollektiven Imaginären virulente Bilder werden insbesondere bei der im vierten Kapitel geschilderten Unterhaltung bei Nana evoziert. Hier werden die 2 »Destin8e f8minine et destin8e historique dans Nana«, in Les Cahiers Naturalistes 84 (2010), S. 171–180. Vgl. zu Nana als Entdifferenzierungserzählung etwa auch Auguste Dezalay : L’op8ra des Rougon-Macquart. Essai de rythmologie romanesque. Paris: Klincksieck 1983, S. 42f. u. 105–110 und David Baguley : Naturalist Fiction. The Entropic Vision. Cambridge: Cambridge UP 2005, S. 209f. 3 »Il s’agit bien l/ d’une ambition qui d8passe le rHgne de Napol8on III, mÞme si l’on a pu voir / quel point de nombreuses homologies pouvaient Þtre questionn8es au regard de cette all8gorisation de Nana, voulue par Zola, comme symbole du Second Empire.« (Rousseau 2010: S. 180) 4 Vgl. zum Wortfeld des trou und seiner Semantik des mortalistischen Zusammensturzes in Nana Warning 1999d: S. 258–264 sowie zum trou als der Signatur für die Lücke (in der politischen Ordnung), um die Zolas Schreiben kreist, Stephan Leopold: »Die messianische Überwindung des mortalistischen Abgrundes: Zolas Le docteur Pascal und Les Quatre Pvangiles«, in ders./Scholler 2010: S. 141–167, hier S. 142f., 146–148 u. 152f. 5 Für die Verknüpfung dieser Signifikate im Zeichen des Gesichtsverlusts geht der Dank an die TeilnehmerInnen meines Proseminars im Sommersemester 2014, besonders an Ricarda Knauf und Dario Becker.

Nana und der allegorische Pakt oder: Schreiben im abgesicherten Modus

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Gespräche aus dem Salon der Gräfin Muffat vom vorangegangenen Kapitel wiederholt, welche um Nana, um den König von Preußen und besonders um Bismarck gekreist waren. Schon dort war Nana den Repräsentanten Preußens gegenübergestellt und die Figur der Kokotte auf diese Weise implizit mit einer nationalen Bedeutung aufgeladen worden.6 Als der gelangweilte Georges Hugon, der die Themen vom Vorabend noch einmal anhören muss, nun nach Nanas ›intimen Gewohnheiten‹ fragt, wird eine gefährliche Assoziation hergestellt: Georges, ennuy8 d’entendre ces choses une seconde fois, interrogeait Daguenet sur les habitudes intimes de Nana, lorsque la conversation revint fatalement au comte de Bismarck. Tatan N8n8 se penchait / l’oreille de Labordette pour demander qui 8tait ce Bismarck, qu’elle ne connaissait pas. Alors, Labordette, froidement, lui conta des histoires 8normes : ce Bismarck mangeait de la viande crue ; quand il rencontrait une femme prHs de son repaire, il l’emportait sur son dos ; il avait d8j/ eu de cette maniHre trente-deux enfants, / quarante ans. (RM II: 1179)

Georges’ Frage lenkt die Rezeption des Lesers, der eine Auskunft über Nanas Sexualverhalten erwartet, aber eine über das von Bismarck erhält. Der Schritt zur Verknüpfung der Leseerwartung mit dem Angebot des Textes ist dann nur noch sehr klein: Evoziert wird hier – zwischen den Zeilen, aber deutlich genug – die Vorstellung von einer sexuellen Vereinigung Nanas mit dem hypervirilen Bismarck, der sich wie zwanzig Jahre später Jarrys Surm.le angeblich von rohem Fleisch ernährt und jede Gelegenheit ergreift, eine Frau zu erobern. Bei einer Nana hätte er besonders leichtes Spiel. Zolas Text weist mit dieser Assoziation sowie dem permanenten Fokus auf den grotesk-offenen Körper der Kokotte deutliche Parallelen zu La France foutue auf: Nana ist als Gemeingut, die sich Männern von jeglichem sozialen Status wie eine Ware anbietet, eine res publica. Sie droht damit wie Marie-Antoinette zur Verkörperung der Republik zu werden.7 Ihr trou setzt nicht nur das leere Machtzentrum des politischen Körpers ins Bild, sondern ruft auch das Loch in der Grenze der Nation auf, durch das die virilen Vertreter Deutschlands – Wilhelm I. ist der Gräfin Muffat zufolge ebenfalls »encore plein de vigueur pour son .ge« (RM II: 1147) – 1870/71 auch und gerade nach der Gründung der Republik mit ihrer Armee einfallen konnten. Als Metonymie der republikanischen Nation fungiert hier nicht der regenerierte Brüderbund, sondern der weibliche trou, sodass wie in f rebours die politische Metonymie mit der Metapher zusammenfällt. Die bildliche Vorstellung einer Penetration der allegorisierten Nation durch 6 Vgl. dazu Leopold, der hierbei auf die problematische Männlichkeit des Kaiserreichs eingeht. Begründet wurde dessen ›dekadente Verweiblichung‹ häufig mit dem politischen Einfluss von Napoleons Gattin Eug8nie (2010: S. 148). Auf diese Weise werden die Diskurse über die Emaskulation Ludwigs XVI. durch Marie-Antoinette reproduziert. 7 Vgl. dazu Einleitung, Kap. 2.

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Bismarck und Wilhelm I. im Sinne von La France foutue verhindert Zola schließlich gerade noch rechtzeitig: Nana stirbt bei Ausbruch des Krieges an ihrem trou, der jetzt auf die Pocken und ihr verwüstetes Auge referiert und dessen Symbolik Zola stillzustellen versucht, indem er es das Ende des Kaiserreichs darstellen lässt. Der Körper der Kokotte ist im Tod trotz seines ›Loches‹ nicht mehr penetrabel – oder zumindest ist die Ansteckungsgefahr nun zu hoch, als dass man dies versuchen wollen würde. Die Ambivalenz kann aber auch jetzt nicht vollständig gebannt werden, denn mit Nana stirbt die Nation gerade an ihrem trou, das vom Unterleib an den Kopf gewandert ist und damit den leeren Platz im Zentrum und an der Spitze des republikanischen Staates zur Anschauung bringt. Diese Assoziationen und die Unklarheit darüber, welchen Staat Nana eigentlich inkarniert – den alten oder den neuen –, versucht Zola über Nanas Allegorisierung zum Kaiserreich zu unterbinden: Er disambiguiert die Lektüre, indem er mit Nanas Lebensdaten auf einen eindeutigen allegorischen Code zurückgreift. Die unzähligen Referenzen auf Napoleon III. und die exzessiv ausgestalteten Parallelen zum Empire im letzten Romandrittel verweisen die Semantik des Textes in die im Vorwort des Zyklus etablierten Grenzen des Zweiten Kaiserreichs und schließen sie darin ein. Zolas Erzähldiskurs macht damit genau das, was das Theaterpublikum angesichts der transgressiven Nana unterlässt: War man zu Beginn irrtümlicherweise davon ausgegangen, »[que l]e public va joliment la reconduire« (RM II: 1099), so übernimmt Zola diese Aufgabe, wenn er das exzessiv-subversive Potenzial des Textes in seine Schranken verweist. Allerdings scheint insbesondere der zur Schau gestellte Hass der Kokotten auf die Republikaner (RM II: 1369 u. 1483) aufgesetzt – vor allem angesichts des mouche d’or-Vergleichs. Wenn Zola mit der Figur der Nana satirisch auf einen Napoleon III. verweist, der den starken Napoleon I. nicht ersetzen kann, dann formuliert er außerdem implizit das Begehren nach einem Bonaparte, der allein eine symbolische Vergewaltigung durch ein monarchisches Nachbarland abwehren könnte. Genau diese Schlussfolgerung verleugnet er im Vorhinein mit der 1871 publizierten »Pr8face« der Fortune des Rougon, wo er den Sturz der Bonapartes als den schrecklichen und notwendigen Ausgang seines (noch zu schreibenden) Zyklus deklariert (RM I: 4). In Nana schließt er mit seinen Rezipienten unter Rückgriff auf einen lesbaren allegorischen Code einen Pakt8, der verhindern soll, dass die Figur das offenbart, was die revolutionären Allegorien aus dem Imaginären verdrängt hatten: dass 8 Ich verwende den Begriff analog zu Philippe Lejeunes autobiographischem Pakt und dessen pragmatischer Komponente: »c’est un mode de lecture autant qu’un type d’8criture, c’est un effet contractuel historiquement variable.« (Le pacte autobiographique. Neue, erw. Aufl. Paris: Seuil 1996, S. 45, kursiv im Orig.)

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die Republik nämlich mit ihrem weiblichen Körper ebenso sexualisiert ist wie die republikanisch-virilen »fouteur[s] patriote[s]«9. In diesem Sinne hat Naomi Schor die zwischen allegorischer Entkörperlichung und Hyperkorporalisierung oszillierenden Frauendarstellungen des 19. Jahrhunderts als zwei Seiten einer Medaille bezeichnet, deren Ursprung in der weiblichen Verkörperung der Republik zu suchen sei. Dass Frauenfiguren von der Romantik bis zum Naturalismus immer ein allegorischer Bezug zum Staat innewohnt, zeige allen voran das Beispiel der Nana, die Schor als literarisches Äquivalent der revolutionären ›Prostituierten‹ deutet.10 Was Schor hier nur andeutet, ist, dass die Allegorisierung des Kaiserreichs selbst in Frage steht, wenn die Freiheitskämpferin Nana mit ihrer Macht über die Männer die Teilhabe der Frauen und der benachteiligten Klassen an der Volkssouveränität einfordert und als Körper, in dem und durch den jegliche Differenzen verwischen, zur unheimlichen Allegorie der republikanischen Nation wird. Platon begründet im Staat den Drang des demokratischen Menschen nach Freiheit und Lebenslust mit dem Zwang eines spartanischen Lebens, den jener – wie Nana in L’Assommoir – in seiner Jugendzeit erlebt habe: Sokrates Wenn ein Jüngling, so aufgewachsen, wie es eben von uns beschrieben ward, wahrer Bildung ermangelnd und knapp gehalten, den Honig der Drohnen11 zu kosten bekommt, und es feurige und gefährliche Tierchen sind, mit denen er in Berührung kommt, fähig mancherlei, in allen Farben schillernde und allen Stimmungen sich anpassende Lustgefühle zu erzeugen, so kannst du sicher sein, daß dies der Anfang seiner Umwandlung von der oligarchischen Sinnenart zur demokratischen ist. Adeimantos Ohne Widerrede. Sokrates […] Ist dies nicht ungefähr die Art, wie sich bei einem Jüngling der Übergang vollzieht aus einer ihn auf Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse beschränkenden Erziehung zur Freilassung und Entfesselung der nicht notwendigen Begierden? […] [K]urz,

9 Den Begriff zitiert De Baecque aus einem Porte-feuille du patriote (1993: S. 75, vgl. oben Einleitung, Anm. 110). 10 Schor 1992: S. 139f. u. 153, Anm. 3 mit Verweis auf Kaja Silverman: »Liberty, Maternity, Commodification«, in New Formations 5 (1988), S. 69–89, die bes. am Beispiel von Auguste Bartholdis Statue of Liberty die Entkörperlichung der republikanischen Allegorien beschreibt. 11 Drohnen stehen bei Platon metaphorisch für Personen, die dem Staat scheinbar dienen, aber doch nur Verschwender des Staatsbesitzes sind. Sie sind »die Krankheit des Staates«, wie die Drohnen eine Krankheit des Bienenstockes werden (Platon 1988b: S. 323 [Politeia VIII, 552]).

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weder Ordnung noch Pflichtzwang regelt sein Leben, sondern er lebt so in den Tag hinein fort bis an sein Ende und nennt das ein liebliches und freies und seliges Leben.12

Insbesondere das zweite und das dritte Kapitel von Zolas Roman, die Nana in genussvoller Lebenslust, Schwelgerei und relativ sorgloser Organisation ihres Lebensunterhaltes durch Prostitution zeigen, veranschaulichen die von Sokrates gegenüber Adeimantos vorgebrachten Merkmale des demokratischen Menschen. Das von Platon beschriebene Streben nach Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Demokratie verkörpert Nana ebenso wie die Haltung der Demokraten, die »den geringsten Versuch, ihnen Zwang anzutun mit Unwillen abweisen und ihn sich nicht gefallen lassen«.13 Zolas Protagonistin repräsentiert schließlich geradezu exemplarisch die phantasierten Zustände im demokratischen Staat, den Platon als Orgie, Sündenpfuhl und System der Unordnung beschreibt, und zeigt damit, welche Bilder die Republikaner nach 1870 verdrängen mussten, um die Republik zu legitimieren.14 Die literarische Rückprojektion eines für die Republik bedrohlichen Imaginären auf das Kaiserreich und dessen Repräsentanten Napoleon III. hat ihr Modell in den Pamphleten gegen Marie-Antoinette und dem strategischen Diskurs über die Schwäche Ludwigs XVI.15 Die literarische Reflexion über das an einem Machtvakuum leidende Kaiserreich wird damit zur Reflexion im ›abgesicherten Modus‹ über die Republik und eine Nation, die nicht mehr von einem Mann beherrscht wird bzw. die sich immer wieder aus der Herrschaft ihres selbst gewählten Mannes – sei es nun ein Kaiser, ein Regierungschef oder ein Präsident – befreit. Dass die republikanische Nation nur schwer oder gar nicht zu bändigen und zu unterwerfen ist,16 zeigt exemplarisch – und nicht ohne Sympathie für die Figur – Nanas kategorische Ablehnung der Ehe insbesondere nach der Erfahrung der verbürgerlichten Beziehung mit dem geliebten, aber brutalen Fontan. Es ist vor diesem Hintergrund sicherlich kein Zufall, dass Nana und Fontan an einem ihrer ersten Abende in der gemeinsamen Wohnung Dreikönig feiern und Freunde einladen, »pour tirer le g.teau des Rois« (RM II: 1287). Die Episode zeigt, dass im neuen Staat jeder König werden kann, das Königtum, das demjenigen zufällt, der die fHve in seinem Stück Kuchen findet, jedoch nur 12 Ebd.: S. 335–338 (Politeia VIII, 559 u. 561). 13 Ebd.: S. 341 (Politeia VIII, 563). Zur Gleichberechtigung der Geschlechter siehe ebd.: S. 340 (Politeia VIII, 563). 14 Vgl. zu Platons Charakterisierung der Demokratie und des demokratischen Menschen Jacques Derrida: »La pharmacie de Platon«, in ders.: La diss8mination. Paris: Seuil 1972, S. 77–213, hier S. 180f. 15 Eine ähnliche Projektion republikanischer Problematiken, die nicht am Beispiel der eigenen Nation reflektiert werden können, ist De la d8mocratie en Am8rique, wo Tocqueville über die Irrungen und die Manipulierbarkeit des Volkes nachdenkt (vgl. Rousseau 2010: S. 179). 16 Vgl. Leopold 2010a: S. 14.

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Rollenspielcharakter hat, zeitlich begrenzt und nicht substanziell ist. So überrascht es nicht, dass Fontan bald lernen muss, dass er trotz aller tyrannischen Gewalt, die Platon zufolge zwangsläufig aus der Demokratie erwächst,17 über seine Geliebte – anders als ein absoluter Monarch über sein Land – nicht die volle Souveränität hat. Die Reflexion über die Republik ist zur Entstehungszeit des Romans gerade deshalb aktuell, weil im Jahr 1879 mit Jules Gr8vy nach dem rechtskonservativen ehemaligen Monarchisten Thiers und dem Legitimisten Mac-Mahon erstmals ein überzeugter Republikaner mit einem geringeren persönlichen Charisma als seine Vorgänger die Präsidentschaft übernimmt.18 Nanas Name ließe sich mithin also auch als Zeichen für die Verdrängungsstrategie des Textes deuten: In gewisser Weise stellt er durch die Verdopplung der Silbe Na die doppelte Verweisstruktur auf Napoleon und das Kaiserreich einerseits und die republikanische Nation andererseits aus. Denn er erinnert nicht zuletzt an George Sands nur acht Jahre zuvor erschienenen Roman Nanon (1872), eine utopische Vision der Revolution, deren Titelheldin die Befreiung der Frauen und des Volkes sowie eine mütterliche Republik verkörpert.19 Indem Zolas Roman die erste Lesart – Napoleon – auf insistente Weise beglaubigt und wiederholt und dadurch den Zweitsinn – den der (post-)revolutionären Nation – unterdrückt, kann der Name der Nana als Signatur der allegorischen Struktur gelesen werden – insbesondere in Verbindung mit ihrem Nachnamen Coupeau: Das Amalgam von couteau und couper verschleiert und verdoppelt die Kastrations- und Schneidesymbolik zugleich. Dass der Name in Nana überhaupt nicht erwähnt wird – der »coup de couteau« indes fällt zweimal (RM II: 1437 u. 1454) –, zeugt nur davon, dass jede deutliche Assoziation der Figur mit der Guillotine und der Republik vermieden werden soll. Löst man sich von der strategischen Rezeptionslenkung des Textes, dann eröffnen sich weitere Bedeutungsebenen in Details wie etwa Nanas »gorge d’amazone dont les pointes roses se tenaient lev8es et rigides comme des lances« (RM II: 1118), was die Figur zu einer neuen Libert8 macht. Nanas Lust an der Zerstörung der Dinge, die sie sich aneignet (»son envie de tout avoir pour tout d8truire«, RM II: 1375; »elle cassait tout«, RM II: 1433), steht zumindest in einer Ähnlichkeitsbeziehung zur Verstaatlichung des Nationalguts, das die Revolu17 »[D]as Übermaß von Freiheit, scheint es, führt zu nichts anderem für den Einzelnen wie für den Staat als zum Umschlag in ein Übermaß von Knechtschaft. […] Begreiflicherweise entwickelt sich also die Tyrannis aus keiner anderen Verfassung als der Demokratie, aus der äußersten Freiheit die größte und erbarmungsloseste Knechtschaft.« (Platon 1988b: S. 341f. [Politeia VIII, 564]) 18 Vgl. oben Vorspiel, Kap. 2, Anm. 111. 19 Siehe zu Sands Roman, der zwischen 1788 und 1795 spielt, Kadish 1991: S. 111–115 u. 129– 139.

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tionäre dem Klerus und der Kirche entrissen, um es anschließend zu zerstören. Nana vernichtet, kann aber selbst keine Kontrolle ausüben und Ordnung schaffen. Dies zeigt das Abendessen im vierten Kapitel, wo Nanas Gäste sich um die Hausherrin nicht scheren, nachdem diese einmal erlaubt hat, dass man sich setze, wie man wolle (RM II: 1171, 1184f. u. 1187). Daran ändert auch die ›Präsidentschaft‹ des Theater- bzw. ›Bordell‹-Direktors Bordenave nichts, dem ein Ehrenplatz »au milieu« eingeräumt wird: »Il nous pr8sidera !« (RM II: 1171) Nanas schwächlicher Sohn Louiset mit unbekannter Vaterschaft ist ein weiteres Beispiel: Rousseau deutet ihn als komplementäre Figur zu Nana, mit der Zola die Satire über Louis-Napol8on weiter ausführe.20 In einer zweiten Lesart konkretisiert er die schwachen Söhne der vaterlosen Republik, die zwar neue Souveräne sein wollen, aber doch nur kleine Louisets sind. Ihre Souveränität wird an die des Königs nie heranreichen; vielmehr werden sie, wie der ebenfalls vaterlose junge Georges Hugon, von ihrer ›Mutter‹ Nana statt zu virilen Männern zu kleinen, verweiblichten »Zizi[s]« (RM II: 1236 et passim) gemacht. Zugleich begründet erst Zolas blonde Venus, deren mythisches Modell ja aus der Kastrationswunde ihres Vaters geboren wurde, die mit Handschlag besiegelte klassenübergreifende »fraternit8« (RM II: 1286) zwischen dem Bankier Steiner und dem Grafen Muffat, als die beiden des Nachts erkennen müssen, dass der Platz in Nanas Bett bereits besetzt ist. Muffat hatte schon kurz zuvor einen »regard d’humilit8 fraternelle, allum8 d’un restant de d8fiance sur une rivalit8 possible« (RM II: 1263), mit einem Fremden vor dem Theater ausgetauscht. Dies wiederholt sich ein weiteres Mal beim Fest anlässlich der Verlobung der Estelle Muffat mit Nanas ExLiebhaber Daguenet, als sich die Rivalen Muffat und Fauchery besonders lange die Hände schütteln (RM II: 1428). Angesichts dieser conf8d8ration,21 die, wie es auch das Beispiel der Brüder Georges und Philippe Hugon zeigt, immer mit der Rivalität verschwistert ist, kann man sich schließlich fragen, ob mit den »toilettes claires, bleues et roses« (RM II: 1250) der Kokotten, die beim Landausflug an den fassungslosen Repräsentanten der ›guten Gesellschaft‹ vorbeifahren, nicht auch das Banner der Trikolore gehisst wird. Indem sie zur Ursache für die demokratische Entdifferenzierungskrise stilisiert wird, ist Nana ein typischer Sündenbock, der als Mitglied der Gesellschaft zwar der krisenhaften Entdifferenzierung häufig ähnlich, objektiv betrachtet jedoch nicht ihr Auslöser ist: Die in ihrem bewussten Handeln doch eher unpolitische Kokotte, deren Agieren die Veränderungen des Klassen- und Geschlechterverhältnisses aufzeigt, hat fraglos ihren Platz in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Dennoch

20 Rousseau 2010: S. 172–175. Marie-France Az8ma merkt an, dass der einzige Sohn Napoleons III. Louis hieß (in Pmile Zola: Nana. Hg. v. Auguste Dezalay. Paris: LGF 2003, S. 62, Anm. 1). 21 Vgl. hierzu oben Einleitung, Kap. 2, Abb. 6.

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kann sie eindeutig von dieser differenziert werden.22 Nanas Tod führt deshalb auch zur Restauration der bürgerlichen Ordnung, die sie seit ihrem Auftritt im Theater gestört hatte: Am Romanende ist die Trennung der Geschlechter wiederhergestellt;23 die Frauen versammeln sich im privaten Innenraum von Nanas Zimmer, während die Männer, ihre ehemaligen Liebhaber, sich auf der Straße vor dem Hotel treffen, also wieder den öffentlichen Raum einnehmen, den sie zugunsten von Nanas Bett allzu häufig verlassen hatten. Dort sprechen sie über »politique et strat8gie« (RM II: 1480), erfüllen also die ihrem Geschlecht in der Republik zugewiesene Rolle. Die Frauen um Nanas Leiche thematisieren die Kriegserklärung zwar ebenfalls, jedoch nur kommentierend und mit Blick auf die Konsequenzen, nicht initiativplanerisch. Schor bezeichnet Nana dennoch als anormalen pharmakos und begründet dies damit, dass die verfeindeten Geschlechter nach dem Tod der Kokotte voneinander getrennt bleiben: [T]he reconciliation of former enemies around her dead body is only partial. Downstairs, Muffat stands conspicuously apart from Nana’s other former lovers, and, what is even more telling, the women gather upstairs – that is, in a separate place from the men. Even the cadaver of the pharmakos cannot bring together the rival sexes.24

Mit dieser Feststellung bleibt sie hinter ihrer eigenen Analyse zurück, denn den Geschlechterkampf, den sie als die zu überwindende Krise erachtet,25 kann nur die klare Geschlechtertrennung, wie sie hier räumlich dargestellt wird, beenden. Mit der Restitution der Sphären blickt der Roman schon in eine imaginäre Zukunft, die von der bedrohlichen Spezies der demi-mondaines erlöst ist: Denn die plötzliche und allzu aufgesetzte Solidarität der vormals rivalisierenden Kokotten, die mit der Angst der Männer vor einer Ansteckung kontrastiert, lässt sich vermutlich mit dem erzählerisch nicht-avouierten Wunsch danach begründen, dass sie sich bei Nana infizieren und deren Schicksal erleiden. Die 22 Siehe zum Sündenbock oben Vorspiel, Kap. 2, Anm. 123 und zur Sündenbockstruktur in Nana Naomi Schor : Zola’s Crowds. Baltimore: The Johns Hopkins UP 1978, S. 89–103, Romana Lowe: The Fictional Female. Sacrificial Rituals and Spectacles of Writing in Baudelaire, Zola, and Cocteau. New York u. a.: Peter Lang 1997, S. 89–103 und Warning 1999d: S. 254–259. Warning kritisiert Schors Sündenbockmodell, weil Zola leere Profanationen, Kataklysmen und den Rückfall in ein atavistisches Erbe inszeniere und seine Romane gerade nicht in der Bändigung der Gewalt enden, wie dies Girards Modell vorsieht (ebd.). Diese Kritik scheint mir in Bezug auf Nana nicht ganz gerechtfertigt. Was passiert, wenn ein eindeutiges Zeichen der Differenz desjenigen, der zum Sündenbock gemacht wird, fehlt, zeigt die grenzenlose Gewalt der Terreur, in der die republikanische Entdifferenzierung nicht durch das Opfer eines pharmakos gebannt werden konnte und immer weiter um sich griff (vgl. exemplarisch zur generalisierten Angst und zum gegenseitigen Misstrauen Balzacs Un 8pisode sous la Terreur von 1829). 23 Vgl. Schor 1978: S. 99–103 und Lowe 1997: S. 101–103. 24 Schor 1978: S. 103. 25 Sie spricht vom »war between the sexes« (ebd.: S. 97), vgl. zur sozialen und sexuellen Entdifferenzierung ebd.: S. 99–102.

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dargestellte »female camaraderie«26 ist dann vielleicht nur eine ambivalente Erzählerlist. Schor führt die Notwendigkeit eines Sündenbockrituals nicht auf die politisch-soziale Entdifferenzierung in der Republik zurück. Zolas Roman restauriert mit der Tötung des Sündenbocks allerdings nicht nur die Grenze zwischen den Geschlechtern und deren Rollen, sondern auch die sozialen Klassengrenzen: Der Graf Muffat sitzt deutlich getrennt von den bürgerlichen und proletarischen Männern auf einer Bank (RM II: 1475). Die Symbolik einer restaurierten Klassentrennung, die hier an das allegorische Ende des Kaiserreichs gebunden ist, läuft jedoch dem republikanischen Gleichheitsideal zuwider. Nicht zuletzt an diesem Störfaktor ließe sich festmachen, dass Nana im Sinne einer fortgesetzten Metapher zwar für das Kaiserreich einsteht, als allegorische Anders-Rede, die genau nicht das sagt, was sie zu sagen meint,27 jedoch als Verkörperung der republikanischen Nation gelesen werden kann. Dass diese erst in der Projektion auf das politische Kontrastmodell ihre materielle Körperlichkeit erlangt, lässt sich mit einer der traditionellen Funktionen der Allegorie begründen: Diese repräsentiert eine traumatische Wahrheit, die es besser auf indirektem Wege darzustellen und zu reflektieren gilt.28 In Nana treten also zwei Allegoriebegriffe in Konflikt miteinander. Zola gelingt es, mittels des explizit aufgerufenen allegorischen Codes das Paradox zu bannen, das darin besteht, dass tradierte Vorstellungen über den Körper der republikanischen Nation zur Allegorisierung des Kaiserreiches verwendet werden. Er kann so selbst das angstbesetzte Imaginäre der Republik, das mit promisker Körperlichkeit, Entdifferenzierung, Unordnung und mangelnder Kontrolle assoziiert ist, als Faszinosum ausschreiben und sogar Sympathie für seine Figur entwickeln.29 Indem Zola die Vergangenheit des Zweiten Kaiserreichs als absoluten Gegensatz zur republikanischen Gegenwart und Zukunft stilisiert und Nana zur Bühne macht, auf der er den Untergang des Empire inszeniert, wird die Figur zum Medium einer Katharsis des politischen Unbehagens und zur 26 Val8rie Minogue zufolge schwächt Zola die ›Bestrafung‹ seiner Protagonistin durch eine »female camaraderie« ab (»Nana: the World, the Flesh and the Devil«, in Brian Nelson [Hg.]: The Cambridge Companion to Zola. Cambridge: Cambridge UP 2007, S. 121–136, hier S. 133f.). Vgl. auch Bernice Chitnis: Reflecting on Nana. New York/London: Routledge 1991, S. 83–85. 27 Siehe zu diesen beiden Aspekten der Allegorie Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Zweiter Teil, Buch VII–XII. Hg. u. übers. v. Helmut Rahn. Darmstadt: WBG 21988, S. 236f. (VIII.6, 44–53). 28 Siehe zu dieser Funktion der Allegorie Rita Copeland/Peter T. Struck: »Introduction«, in dies. (Hgg.): The Cambridge Companion to Allegory. Cambridge: Cambridge UP 2010, S. 1– 11, hier S. 10. 29 Dass Zola Nana nicht nur verteufelt, sondern sie auch zur Heldin macht und dabei durchaus Sympathien für sie entwickelt, zeigt Chitnis 1991: bes. S. 20 u. 38–49.

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paradoxen ideologischen Stütze der demokratischen Republik. Insofern ist Nana ein pharmakon, der als Inkarnation der res publica Gift für die republikanische Ideologie des Zyklus wäre, sich im Bild für das Kaiserreich aber zum Heilmittel oder Gegengift verkehren kann.30 Das Kaiserreich ist – wie MarieAntoinette im Bild der Pamphlete – der Republik in mancherlei Hinsicht ähnlich, kann aber doch eindeutig von ihr unterschieden und solchermaßen zum Sündenbock, vom pharmakon also zum pharmakos werden. Das Opferritual wird dabei nicht auf diegetischer Ebene ausgeführt und literarisch inszeniert, sondern vermittels des literarischen Textes performativ ausagiert, Nana in Girards Worten also »/ coups de mots«31 hingerichtet. Unreflektiert bleibt der Opfermechanismus insofern,32 als die krisenhaften, phobisch besetzten Aspekte der Republik dem corpus politicum exorzistisch ausgetrieben werden, aber auf der Textoberfläche die Allegorie des Kaiserreichs als ein Anderes der Republik inszeniert und symbolisch begraben wird. Die Probleme der Forschung mit der Sündenbockstruktur des Romans lassen sich deshalb möglicherweise darauf zurückführen, dass sich in ihr eine fundamentale Ambiguität hinsichtlich der politischen Semantik des Textes festmachen lässt. Die konstruierte Allegorisierung in Nana lässt sich darum mit Judith Kaspers Begriff des »Sprachgitter[s]« bezeichnen, »das über die Wirklichkeit gelegt werden kann und das dabei [den] mittelbaren Charakter [der Allegorie] immer mit anzeigt.«33 Übertragen auf Zolas Roman legt sich die allegorische Konstruktion hier nicht über die Wirklichkeit, sondern über das Imaginäre, das letztere produziert. Auf diese Weise valorisiert und entwertet der allegorische Text die Republik zugleich. Indem er diesen konzeptuell undenkbaren »logical scandal«, diesen ideologischen »double bind«34 nicht dialektisch aufzulösen versucht, sondern in eine geschlossene Romanhandlung überführt, verfolgt er eine strategy of containment. Das Narrativ harmonisiert die Widersprüche nicht, stellt sie aber auch nicht reflexiv aus. Die Aporie drückt sich vielmehr an der rekonstruierbaren Schreib-›Intention‹ vorbei aus und zeugt insofern von einem politischen Unbewussten. Diese Doppelbödigkeit der Allegorie wird allerdings zumindest ansatzweise im Bild reflektiert, wenn im vorletzten Kapitel Nanas hitel, das immer exzessiver mit dem Empire assoziiert wird, auf einen Abgrund gebaut scheint: »L’hitel semblait b.ti sur un gouffre […].« (RM II: 1433) Wie Nanas Palais ist das Kaiserreich mit seiner – Zola zufolge – exzessiven Ver30 Zur Semantik des pharmakon (Droge) als Heilmittel und/oder Gift sowie zur ambivalenten Besetzung des pharmakos siehe Derrida 1972: S. 87 und Girard 1972: S. 143f. 31 Ebd.: S. 148. 32 Zur notwendigen Verkennung des Opfer- oder Sündenbockrituals vgl. ebd.: S. 15–17 u. 126. 33 Sprachen des Vergessens. Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken. München: Fink 2003, S. 167. 34 Jameson 2008: S. 68.

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schwendungs- und Genusssucht auf dem ›Loch‹ gebaut, das die Moderne geschlagen hat. Das Empire kann dieses nicht schließen, wie auch Nanas trou mit noch so viel Geld und Männern niemals gefüllt werden kann.35 Es kann sich nur darüber stülpen, genau wie Zolas allegorischer Erzähldiskurs, unter dem der »gouffre« der republikanischen Semantik liegt. Die gesellschaftspolitische Funktion von Zolas Roman bestünde insofern darin, die Assoziationen der Republik mit der Hure, der »gueuse« (RM II: 1248), auszulöschen und letztere mit anderen politischen Konnotationen zu versehen. Der Text wird allerdings historisch unpräzise, wenn er die Chronologie vom Ausbruch des Krieges und dem Ende des Kaiserreiches verwischt: Er suggeriert eine Gleichzeitigkeit des Kriegsausbruchs mit dem allegorischen Ereignis von Nanas Tod im Juli 1870 (RM II: 1472), der auf das Ende des Kaiserreiches verweisen soll. Da letzteres erst nach der Schlacht bei Sedan im September zugrunde ging, offenbart die Allegorie auf diese Weise das ihr innewohnende Moment der ideologischen Konstruktion. Anders als Zola, der die Assoziation von der Kokotte mit der Republik bzw. der mit ihr aufgerufenen Revolution verschleiern muss, schreibt Balzac die Verknüpfung in La Cousine Bette breiter aus. Nanas Vorgängerin Val8rie Marneffe36 ist ebenfalls eine »mangeuse d’hommes« (RM II: 1118 u. 1393) und mit ihrem Körper, in dem sich die Säfte von Männern verschiedenster sozialer Herkunft vermischen, auch eine Entdifferenzierungsmaschine. Balzacs Erzähler vergleicht sie mit Dalila, die er als diabolische Frau mit der tugendhaften Judith kontrastiert und in diesem Zusammenhang folgende Behauptung aufstellt: »La Vertu coupe la tÞte, le Vice ne vous coupe que les cheveux.« (CH VII: 261) Der Bezug auf die köpfende Tugend evoziert nicht nur Judith, sondern auch die Tugendrepublik der Jakobiner, die mit dem Instrument ihrer Exekutivmacht Köpfe rollen ließen. Val8ries Freundschaft mit der arbeitenden Revolutionsverliererin Lisbeth Fischer, die mit einer bedrohlichen Revolutionssymbolik besetzt ist, präfiguriert nicht nur das weibliche Milieu mit lesbischen Anspielungen, die in Nana weiter ausgeführt werden. Sie steht auch Pate für die Assoziation mit der Revolution und der Rache der »basses classes« (RM I: 3).37 35 »[Nana] avait des hommes pour toutes les minutes de la nuit, et de l’argent jusque dans les tiroirs de sa toilette, mÞl8 aux peignes et aux brosses ; mais Åa ne la contentait plus, elle sentait comme un vide quelque part, un trou qui la faisait b.iller.« (RM II: 1357) »Les hommes entass8s, les uns par-dessus les autres, l’or vid8 / pleine brouette, ne parvenaient pas / combler le trou qui toujours se creusait sous le pav8 de son hitel, dans les craquements de son luxe.« (RM II: 1434) 36 Vgl. zur Filiation der beiden Figuren Dezalay 1983: S. 105. 37 Vgl. zu La Cousine Bette Constanze Baethge/Jacques Dubois: »Fictions critiques : 8rotique et politique dans La Chartreuse de Parme et La Cousine Bette«, in Chantal Massol/Lise Dumasy (Hgg.): Stendhal, Balzac, Dumas : un r8cit romantique ? Toulouse: PU du Mirail 2006, S. 283–299.

Erinnerungen an die traumatische Gründung der Republik: La Bête humaine

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Während La Cousine Bette den revolutionären, barbarisch-triebhaften Körper als Inkarnation des Neides und der Klassenrache einerseits und den republikanischen, entdifferenzierend-erotischen Körper andererseits auf zwei Figuren aufteilt, verschmelzen diese beiden Körper in der Figur der Nana. Aus diesem Amalgam entsteht eine Gestalt, die sogar mit einem so paradoxen Bild wie der erotisierten Schmeißfliege in Analogie gesetzt werden kann und die sich jeder eindeutigen Beurteilung entzieht. Als Allegorie der Entdifferenzierung provoziert Nana auch eine Entdifferenzierung der Affekte, die sie auf sich zieht, sodass sich die erzählerische Sympathie nicht zuletzt als Ausdruck der Faszination angesichts eines republikanischen Nationalkörpers deuten lässt, der die Mitglieder aller Gesellschaftsschichten in sich vereint. Von den revolutionären Pamphleten zu Marie-Antoinettes grotesker Körperlichkeit über La France foutue, La Cousine Bette und L’Pducation sentimentale, in der eine Prostituierte in Trikolore einen Statistenauftritt hat, läuft eine direkte genealogische Linie zu Nana und entlarvt die Allegorisierung als Kaiserreich als kompensatorisch-ideologische Konstruktion. Dass Zolas Zeitgenossen diese jedoch akzeptiert und tradiert haben, zeigt der Roman La Fille de Nana (1881) von Sirven und Leverdier. Dort fällt die alte Nana am 14. Juli durch ein Loch in den Kanalisationsschacht, während das Volk die Marseillaise singt.38 Das allegorische Konstrukt hält auch hier noch die Assoziation von Nana mit dem Kaiserreich aufrecht, bevor nach dessen Untergang die Republik in sicherer Distanz entstehen kann. Mit dem imaginären Zweiten Kaiserreich hat Zola aus dem geschichtlichen Kontinuum zwischen 1852 und 1870 ein greifbares Ganzes (einen »cercle fini«, RM I: 4) gemacht, das in zwanzig Bände gebannt von der Republik abgegrenzt werden und in Form eines »tableau d’un rHgne mort« (ebd.) als Projektionsfläche39 für deren politische anxieties dienen kann.

2.

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Die Suche nach einem Schuldigen für den Niedergang der Nation ist Jean Borie zufolge das Grundmovens der Rougon-Macquart.41 Insbesondere in La D8b.cle (1892) aktualisiert Zola einen verbreiteten Diskurs der republikanischen Gründungsväter, der versucht, Frankreichs militärische Unterlegenheit mit der 38 Siehe zu La Fille de Nana Baguley 2005: S. 164f. 39 Vgl. Regn 2011: S. 252 u. 259. 40 Eine frühere Version des Kapitels ist in Lars Schneider/Xuan Jing (Hgg.): Anfänge vom Ende. Schreibweisen des Naturalismus. München: Fink 2014, S. 105–122 erschienen. 41 Zola et les mythes ou De la naus8e au salut. Paris: Seuil 1971, S. 71f.

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Schwäche des Kaiserreichs bzw. Napoleons III. zu erklären.42 La BÞte humaine (1890) kommt bei dieser Suche eine besondere Bedeutung zu, denn hier protokolliert Zola den Niedergang des Empire.43 Der Roman erzählt von einer korrupten Justiz, die das Kaiserreich stützen will und deshalb bewusst die Wahrheit verschleiert, um die Amoral gesellschaftlicher Autoritätsträger nicht ans Licht zu bringen. Die Justiz verhindert zwar erfolgreich, dass das Kaiserreich öffentlich in Frage gestellt wird, doch ihre Unfähigkeit, die wahren Mörder zu ermitteln, wird zumindest assoziativ mit der militärischen Niederlage verbunden. In seinen Entwürfen erklärt Zola das Ergebnis seiner Gesellschaftsanalyse: »Tout l’Etat 8branl8 par le crime, car l’Empire traverse une crise et cette histoire arriv8e / un ancien magistrat pourrait h.ter l’8croulement.«44 In direkter Konsequenz aus den Verschleierungen fährt der vom Mordtrieb besessene, nie verurteilte oder auch nur verdächtigte Jacques schließlich einen Zug voller Soldaten in den Krieg. Da das imperiale Frankreich nicht in der Lage ist, die destruktiven Elemente in seinem Inneren zu vernichten, wenden sich diese gegen das Land selbst: Der Mechaniker Jacques und sein Heizer ringen auf der fahrenden Lokomotive miteinander, bis sie vom Zug fallen und von diesem zerstückelt werden (RM IV: 1330). Der nun führerlose Zug rast in das unvermeidliche Debakel. In seinem Schlusstableau lässt Zola ein Bild erahnbar werden, das der Diplomat Pr8vost-Paradol gut zwanzig Jahre zuvor in seinem viel beachteten Buch La Nouvelle France (1868) geprägt hatte: Deutschland und Frankreich als zwei im Bewusstsein der unvermeidlichen Kollision aufeinander zurasende Züge.45 Explizite Referenzen auf Politik und Geschichte sind rar gesät46 und selbst die nationalallegorische Bedeutungsebene hat Zola offenbar erst auf den letzten 42 Vgl. Schivelbusch 2001: S. 127 u. 131. 43 Vgl. Kurt Hahn: »Das Intervall der Versagung: Ankunftsfiguren zwischen Anfang und Ende in Maurice Maeterlincks Les Aveugles und Emile Zolas La BÞte humaine«, in Aage A. HansenLöve/Annegret Heitmann/Inka Mülder-Bach (Hgg.): Ankünfte. An der Epochenschwelle um 1900. München: Fink 2009, S. 211–229, hier S. 222. 44 Fol. 404, zit. nach Rae Beth Gordon: »La BÞte humaine: Zola and the Poetics of the Unconscious«, in Nelson 2007: S. 152–168, hier S. 165. Im Roman schreibt Zola: »Lorsque le fameux procHs vint enfin, le bruit d’une guerre prochaine, l’agitation qui gagnait la France entiHre, nuisirent beaucoup au retentissement des d8bats.« (RM IV: 1319) 45 Siehe hierzu Schivelbusch 2001: S. 126. 46 Zola hat für seinen Roman nur sehr wenig historisches Material verwendet. Es ging ihm, so meint Martin Kanes, wohl nur darum, den Justizskandal mit politischer Bedeutung aufzuladen: »[H]istory is a very minor ingredient in La BÞte humaine. All he needed was some political reason for hushing up the Grandmorin affair. He chose to use the victim’s close connections with the r8gime for this purpose, and developed these connections with the characters of Denizet and Camy-Lamotte. The rest of the historical material was not used.« (Zola’s La BÞte humaine. A Study in Literary Creation. Berkeley : U of California P 1962, S. 125)

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Seiten seiner detaillierten Skizze ins Auge gefasst.47 Meine These ist dennoch, dass sich das politisch-nationale Imaginäre in La BÞte humaine über diese konstruierten Elemente hinaus und an ihnen vorbei Ausdruck verschafft. Ich möchte zeigen, dass der oberflächlichen Lesart und dem in ihr denotativ aktualisierten kollektiven Gedächtnis, nach dem der Niedergang der Nation auf das korrupte Zweite Kaiserreich zurückzuführen ist, Konnotationen entgegenlaufen, die den Text vieldeutig werden lassen und eine Konterkommunikation einschleusen.48 Diese Brüche eröffnen den Blick auf ein politisches Unbewusstes, das den Gründungsdiskurs der Republik als kompensatorisch ausweist und grundlegende Zweifel an der republikanischen Staatsform als solcher offenbart.

2.1.

Vom U(h)rverbrechen zum spectre

Zu Beginn der Romanhandlung steht der Mord an Grandmorin, dem ehemaligen Gerichtspräsidenten und Mitglied des Conseil g8n8ral sowie des Verwaltungsrats der Eisenbahngesellschaft, bei der Roubaud, der stellvertretende Bahnhofschef und Mörder Grandmorins, beschäftigt ist. Der Pr8sident Grandmorin, »parrain« und »tuteur« (R IV: 1001) von Roubauds Frau S8verine, ist Andrew Counter zufolge das Bild des Freudschen Urhordenvaters, den Autorität, Gewalt und eine monopolistische Virilität auszeichnen.49 Weil er sich an seinem Schützling S8verine vergreift und sich als obszöner Vater erweist, mag er auf Napoleon III. bzw. auf die korrupte Herrschaftsordnung des Zweiten Kaiserreichs verweisen,50 die Darstellung des Toten wird jedoch mit Bildern besetzt, die ihn darüber hinaus als Figuration des getöteten Vaterkönigs Ludwig XVI. lesbar werden lassen. Als der Bahnwärter Misard und seine Tochter Flore die aus dem fahrenden Zug geworfene Leiche Grandmorins finden, fällt die Königssymbolik auf, mit der der Pr8sident besetzt ist: Vom Kopf des Toten ist nur eine »couronne 8paisse de cheveux blancs« (RM IV: 1049) sichtbar, eine Krone aus dichtem Haar, dessen Weiß, wie zuvor betont wurde, golden schimmert (RM IV: 1005). Bis hierhin 47 Er schreibt dort: »Mettre le train plein de gais soldats inconscients du danger qui chantent les refrains patriotiques. Le train est alors l’image de la France.« (Zit. nach Gordon 2007: S. 165) 48 Vgl. zur literarischen Konnotation, die in einen Text einen »bruit«, eine Konterkommunikation, einschleusen kann, Barthes 1970: S. 13–16. 49 »The Legacy of the Beast: Patrilinearity and Rupture in Zola’s La BÞte humaine and Freud’s Totem and Taboo«, in French Studies. A Quarterly Review 62 (Heft 1, 2008), S. 26–38, hier S. 29. 50 Vgl. Xuan Jing: »Zola und die narrative Bewältigung des Politischen«, in Schneider/X.J. 2014: S. 123–139, hier S. 131. Vgl. zu Grandmorin als unwürdigem Vater auch Marc Girard: »ModHles et contre-modHles de l’inconscient: Une Lecture freudienne de La BÞte humaine«, in Les Cahiers Naturalistes 72 (1998), S. 363–375, hier S. 371.

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kann Grandmorin noch als Bild für den Kaiser gelten, bei der näheren Beschreibung fallen jedoch Details auf, die diese Semantisierung stören: Erstens erkennt Misard in ihm einen »bourgeois«, dem man den Garaus gemacht habe (RM IV: 1049). Vor allem aber zeigt der Körper des gutgekleideten Herrn keine Spuren des Mordes; allein aus seinem Hals ist eine große Menge an Blut geflossen und hat seinen Hemdkragen befleckt (ebd.). Flore entdeckt unter seinem Kinn die klaffende Wunde, »affreuse, une entaille profonde qui avait coup8 le cou« (RM IV: 1051). Als sie den Kopf wieder loslässt, schließt sich die Wunde, so dass die Passagiere der vorbeifahrenden Züge nicht bemerken, dass der Kopf des Getöteten halb abgetrennt ist (»la tÞte coup8e / demi«, RM IV: 1053). Grandmorin wurde zwar nicht enthauptet, aber die Beschreibung des Toten kommt der eines Guillotinierten verdächtig nahe. Nicht zuletzt sein Name macht Grandmorin zur Figuration jenes großen Toten, der seit 1793 durch das kollektive Imaginäre der Franzosen geistert.51 Auch Ludwig XVI. war als Louis Capet bei seinem Tod nur noch ein einfacher Bürger. Darüber hinaus assoziiert einer der Anwesenden die Blutlache im Zug mit der Schlachtung eines Schweins: »on dirait qu’on a saign8 un cochon !« (RM IV: 1068) Bei seinem Mord hatte Roubaud selbst immer wieder »Cochon ! cochon ! cochon !« (RM IV: 1202) gerufen, was die Assoziation mit einer Reihe berühmter Karikaturen aus der Revolutionszeit aufruft, die Ludwig XVI. als Schwein darstellen.52 Schließlich verweist auch das Attribut des Toten, die Uhr, indirekt auf den Uhrensammler53 Ludwig: In sie ist die 16 als Teil der im Roman vielfach evozierten Kennnummer 2516 eingraviert. Die Uhr wird, so Frank Schuerewegen, zum Leitmotiv des Romans: »Grandmorin ne meurt pas vraiment, il ressuscitera, il se r8incarnera curieusement dans la montre qu’on lui a vol8e, pour faire croire au vol. Une montre ›trHs forte‹, dit Zola, / l’image de son possesseur, qui fut un homme puissant.«54 Nicht nur der Getötete selbst verweist auf 1793, auch die Umstände seines Todes lassen die französische Nationalgeschichte wiederaufleben: Der Mörder Roubaud wird verdächtigt, Republikaner zu sein; dem Mord selbst wohnt ein klassenkämpferisches Element inne, hatte der stellvertretende Bahnhofschef doch früher schon einmal einen Reisenden der ersten Klasse mit den Worten »Vous ne serez pas toujours les ma%tres !« (RM IV: 1004) angefahren. Wie Un51 Vgl. zur ewigen Wiederkehr der Enthauptung Ludwigs XVI. Xuan 2011. 52 Einige davon sind abgebildet und kommentiert bei Annie Duprat: »La d8gradation de l’image royale dans la caricature r8volutionnaire«, in Vovelle 1988: S. 167–175, Abb. im unpagin. Anhang, siehe auch De Baecque 1993: S. 90–94. 53 Vgl. hierzu Jean-Dominique Augarde/Jean N8r8e Ronfort: Antide Janvier. M8canicienastronome. Horloger ordinaire du Roi. Paris: Centre de Recherches Historiques sur les Ma%tres Eb8nistes 1998, S. 17–22. 54 »Cronos. A propos de La bÞte humaine«, in Christian Berg/Walter Geerts/Paul Pelckmans/ Bruno Tritsmans (Hgg.): Retours du mythe. Vingt 8tudes pour Maurice Delcroix. Amsterdam: Rodopi 1996, S. 123–131, hier S. 123, Hervorh. im Orig.

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tertanen gegenüber ihrem König standen Roubaud und seine Frau S8verine vor dem Mord unter Grandmorins paternalistischem Schutz. Doch als schlechter, unwürdiger Vaterkönig hatte Grandmorin seine Macht über seinen Schützling S8verine missbraucht und sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen (RM IV: 1013–1015). Roubaud tötet ihn deshalb aus Eifersucht, um seinen alleinigen Machtanspruch über seine Frau durchzusetzen. Den Mut zum Mord an seinem Vorgesetzten verleiht ihm seine Liebe zu S8verine. Dies rückt ihn in Analogie zu den Jakobinern, die das Nationalgefühl 1793 zur Hinrichtung Ludwigs getrieben hatte. Ebenso wie der Glaube an die Nation den Revolutionären ihre Kraft verliehen hatte, erhält Roubaud die Mordwaffe, ein Messer, aus S8verines Hand (RM IV: 1002). James Baran liest Roubauds Mord lacanianisch als ödipalen Vatermord infolge des Wunsches nach der Fusion mit der Mutter und beschreibt, wie Roubaud sich vor der Tat seiner Männlichkeit vergewissert, indem er sein vollbärtiges Spiegelbild betrachtet.55 Politisch gelesen deutet dies darauf hin, dass der Republikaner der Nation demonstrieren will, dass er ebenso potent ist, wie es der König gewesen war. Nachdem Roubaud seine Männlichkeit durch den Mord performativ bewiesen hat, kann er die Vaterrolle einnehmen und der Nation den Garanten der Virilität, den er ihr mit der Tötung des Vaters genommen hatte, zurückgeben. Denn Roubaud, dem als stellvertretendem Bahnhofschef die Verantwortung über die pünktliche Abfahrt der Züge zuteilwird, steht in Analogie zu Chronos,56 dem Gott der Zeit, der wiederum mit Kronos assoziiert ist, der seinen Vater Uranos kastriert. Vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass der Monarch im Ancien R8gime die res publica ehelicht,57 ist dem Roman zufolge die Vereinigung zwischen Nation und königlichem Souverän übergriffig und unrechtmäßig. Sie wird durch einen Ehebund ersetzt, der jedoch nicht minder illegitim ist, da er auf einem Verbrechen gründet.58 Dies lässt sich als Indiz dafür deuten, dass die Enthauptung Ludwigs XVI., auch wenn sie juristisch gesehen eine legitime Exekution war, im kollektiven Gedächtnis als Mord verankert und als solcher tabuisiert und verdrängt wurde. Tatsächlich verdrängen Monsieur und Madame Roubaud die Erinnerung an den Mord, über den sie nie sprechen: »ils devaient croire que c’8tait chose finie, enterr8e.« (RM IV: 1136) Das Geld und die Uhr, die 55 »On the Track(s) of Desire in Zola’s La BÞte humaine: Riding the Rails with Jacques Lacan«, in Degr8 Second. Studies in French Literature 10 (1986), S. 31–38, hier S. 32 u. 35. 56 Vgl. detailliert zu Roubauds Macht über die Zeit Schuerewegen, der den getöteten Grandmorin selbst mit Chronos identifiziert (1996: S. 123). Vor dem Mord, als Grandmorin noch im Besitz seiner Uhr war, konnte er aus seiner väterlichen Machtposition Roubauds sexuelle Herrschaft über S8verine in Frage stellen, ihn also symbolisch kastrieren. 57 Vgl. oben Einleitung, Anm. 119. 58 Vgl. zum mythisch-sündhaften Ursprung der Geschichte der Rougon-Macquart Warning 1999d: S. 246 und zu Zolas Assoziation der Revolution mit einer illegitimen Affäre Regn 2011: S. 259.

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sie Grandmorin geraubt haben, liegen in einem Versteck – für Roubaud ein »trou d’8pouvante et de mort, oF des spectres l’attendaient« (RM IV: 1138). In S8verines Erinnerung ist die Tat mit sexuellen Konnotationen verknüpft: Sie sieht in Roubaud vor allem dann den Mörder, wenn er mit ihr schläft (RM IV: 1140).59 Bei Roubaud hingegen ruft jede Erinnerung an das Verbrechen Kastrationsängste hervor: Im Streit deutet S8verine eines Tages auf die Stelle im Parkett, unter der sich das Versteck befindet (»oF dormaient les spectres«, RM IV: 1157), woraufhin ihrem Mann vor Schreck das Messer aus der Hand fällt. Schließlich verliert Roubaud seine nur scheinbar neuerlangte monopolistische Macht über seine Frau, als diese sich einen Liebhaber nimmt: »Peu / peu, le grand calme oF 8tait tomb8 le m8nage, aprHs la crise, se troublait ainsi […]. Tous les germes de malaise, l’argent cach8, l’amant introduit, s’8taient d8velopp8s, les s8paraient maintenant, les irritaient l’un contre l’autre.« (Ebd.) Obwohl er von S8verines Ehebruch weiß, lässt Roubaud seine Frau widerstandslos gewähren (RM IV: 1160). In Analogie zur Position des politischen Führers der Republik, die in demokratischen Wahlen immer neu besetzt wird, erlangt Roubaud niemals die absolute Macht über seine Frau. Der Republikaner muss erkennen, dass die (sexuelle) Autorität des Königs mit dem Mord nicht auf ihn übergegangen ist und dass der Verlust der Vaterfigur den Erhalt seiner eigenen Männlichkeit gefährdet. Impliziert wurde dies schon in Davids Derniers moments de Lepeletier, wo das Schwert als sinnbildliche (Kastrations-)Drohung über den Revolutionären hängt.60 Die bedeutsamsten Konsequenzen aber hat der symbolische Königsmord für den Protagonisten des Romans, Jacques Lantier. Jacques hatte den Mord einen Augenblick lang beobachten können, als der Zug, in dem er begangen wurde, an ihm vorbeigerast war : »c’8tait une apparition en coup de foudre […]« (RM IV: 1047); er erschien ihm wie eine »hallucination« (ebd.). Das erblickte »spectacle« (RM IV: 1050) ist zum spectre geworden, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Es löst Jacques’ selbsterniedrigende Identifikation mit dem Mörder aus, in dem er keine individuelle Person erkennen konnte. Der schemenhaft erblickte Mann hat die Tat vollendet, vor der Jacques selbst immer wieder zurückschreckt: »l’autre, l’homme entrevu le couteau au poing, avait os8 ! l’autre 8tait all8 jusqu’au bout de son d8sir, l’autre avait tu8 ! […] Il y avait, dans sa fiHvre, un m8pris de lui-mÞme et de l’admiration pour l’autre […].« (Ebd.) Nachdem Jacques Roubaud als den Mörder erkannt hat, ruft die Rivalität mit ihm ein mimetisches Begehren nach seiner Frau hervor. Dabei erscheint S8verine aufgrund des 59 Der Mord im Zug unterliegt selbst einer stark sexualisierten Semantik: Roubaud tötet Grandmorin mit einem Messer, letzterer zuckt im Todeskampf und auf dem Sitz bleibt eine Blutlache zurück (RM IV: 1204f.). 60 Vgl. Vorspiel, Kap. 4.

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Mordes, den sie in Jacques’ Augen mit begangen hat, ebenso außergewöhnlich und heilig wie begehrenswert (RM IV: 1123). Diese ambivalente affektive Besetzung rückt sie in die Nähe der revolutionären Allegorien der Nation, die zwar ein erotisiertes Begehren entfachen, das aber zugleich nur als sublimierte Vaterlandsliebe verstanden werden darf.61 Der Vatermord wird somit zum Urereignis, an dem sich der Citoyen von nun an zu messen hat.62 Dies erklärt auch, warum die Figur des Roubaud in der Folge eine seltsame semantische Verschiebung erfährt. Gilles Deleuze bemerkt, dass dieser in gewisser Weise mit Grandmorin selbst identifiziert wird, wenn S8verine sich nach dem Mord mit Jacques liiert.63 Roubaud rückt symbolisch an Grandmorins Position, als S8verine einige Zeit später von Jacques verlangt, ihn zu töten. Als S8verine Jacques ihre Mittäterschaft gesteht, gelangt der bislang tabuisierte Mord an Grandmorin wieder zu Bewusstsein. Bei Jacques bewirkt dies einen bemerkenswerten Schwächeanfall: Es gelingt ihm nicht einmal, ihr Geständnis mit einem Kuss zu ersticken (»il 8tait sans force, mÞme pour pencher la tÞte et lui fermer la bouche d’un baiser«, RM IV: 1194). Mit der Beichte holt S8verine nicht nur die Erinnerung an den Kadaver unter dem Parkett hervor, sondern bald darauf auch die Uhr, die dort verscharrt ist: »elle apporta la montre, elle voulut absolument la donner / Jacques, malgr8 la r8pugnance qu’il montrait.« (RM IV: 1223) Jacques wehrt die symbolische Handlungsanweisung, mit der S8verine ihm die Uhr des Königsmörders in die Hand drückt, erfolglos ab und S8verine fordert von ihm bald darauf explizit, Roubauds Tat zu wiederholen und ihren Mann umzubringen. Nachdem sie einige Zeit lang vergeblich auf Jacques’ Initiative warten musste, entzieht sie sich ihm: »Lorsqu’il la [sc. S8verine, L.Z.] revit, le surlendemain, il avait la p.leur confuse, le regard furtif d’un l.che, qui recule devant un acte n8cessaire.« (RM IV: 1237) »[E]lle 8chappa […] ; et il entendait seulement sa fuite l8gHre. […] Etait-elle donc si f.ch8e de sa faiblesse ?« (RM IV: 1241) S8verine stellt die Potenz ihres Geliebten in Frage und spielt sogar mit dem Gedanken, Jacques gegen seinen Kollegen Henri auszutauschen: »c’est vrai, j’ai fait un moment le rÞve de l’aimer aussi, de recommencer autre chose, quelque chose de meilleur […] puisque tu n’as pas pu…« (RM IV: 1283f.) Schließlich wird sie selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv 61 Vgl. oben Einleitung, Kap. 2, Anm. 45. 62 Vgl. hierzu Bories – apolitische – Analyse: »Ainsi l’accomplissement de la virilit8 consiste, dans les Rougon-Macquart, / rejoindre un ancÞtre et / le retrouver en soi, dans la violence assum8e d’une pulsion h8r8ditaire. Cette initiation ne va pas sans angoisse ni rancune : c’est / un crime qu’invite l’a"eul, et le moi se satisferait volontiers d’une passion plus 8l8giaque. […] Il faut donc que le fils tue pour rejoindre l’ancÞtre, c’est-/-dire pour devenir viril.« (1971: S. 46f.) 63 »Zola et la fÞlure«, in Gilles Deleuze: Logique du sens. Paris: Minuit 1969, S. 373–386, hier S. 380.

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und organisiert das Verbrechen. Sie plant, den getöteten Roubaud mit dem Hals auf die Gleise zu legen, damit ihn der erste vorbeikommende Zug enthaupte: »Comprends-tu ? nous lui mettrions le cou sur un rail, de maniHre / ce que le premier train le d8capit.t.« (RM IV: 1289) Auf diese Weise stellt S8verine in ihrer Phantasie die Guillotinierung des Königs nach. Als die Uhr nach dem Mord auf Jacques übergeht, tritt dieser an die Position des Kronos. Letztere ist im 19. Jahrhundert eine Variable, die angesichts der ewigen Wiederkehr der Revolution fortwährend neu besetzt werden muss.64 Hinter dieser Konstellation verbirgt sich, so scheint es, die Angst der Republikaner davor, die Virilität, die die Jakobiner einst inszeniert und performiert hatten und die notwendig war und ist für die Legitimation der Republik als Staatsform, nicht erneut beweisen zu können. In Jacques bündeln sich dabei die kollektiven Ängste der Epoche. Als Protagonist fokussiert ihn die Narration; die »identification narratoriale« lädt zur Sympathie für ihn ein.65 Jacques’ obsessive Angst vor der eigenen Unfähigkeit, S8verines Wunsch in die Tat umzusetzen, kann als Furcht des Republikaners nach 1870 gelesen werden: Seit Sedan stand dieser in der Pflicht, zu beweisen, dass er die Nation in Zukunft schützen kann, um seinen Anspruch auf das Erbe der virilen Revolution geltend machen zu können. Während die Legitimität des absolutistischen Herrschers durch Genealogie und Gottesgnadentum abgesichert war, muss die Republik sich permanent durch performative Handlungen selbst legitimieren. Mit der militärischen Niederlage, die sie nicht hatte abwenden können, steht bereits die Gründung der Dritten Republik unter einem schlechten Stern. Sie war zudem, anders als die Erste Republik, gerade nicht durch die revolutionäre Energie der Republikaner entstanden. Napoleon III. wurde nicht gestürzt; das Kaiserreich hat sich selbst – Zola zufolge – durch Verschwendung und Verausgabung zugrunde gerichtet. So wird auch Roubaud nicht getötet. Er zehrt sich, von der Spielsucht befallen, selbst auf, wobei der Roman durch mehrfache Wiederholung seine »d8sorganisation« (RM IV: 1160, 1215, 1243 u. 1312) betont und das Caf8, in dem er zu spielen beginnt, sich bezeichnenderweise auf dem cours Napol8on befindet (RM IV: 1156 u. 1218).66

64 Schuerewegen notiert, dass die Uhr in dieser »8tonnante histoire de l’8ternel retour m8canis8« zum Symbol der ewigen Wiederkehr wird (1996: S. 125). Der »trajectoire d8sesp8r8ment circulaire« (ebd.: S. 127) der Romanhandlung werde erst am Ende mit dem geradeaus fahrenden Zug die – allerdings zweifelhafte – Hoffnung eingeschrieben, dass es nach dem Niedergang des Empire endlich nach vorne gehe (ebd.: S. 130f.). 65 Siehe zu Sympathie und Identifikation Vincent Jouve: L’effet-personnage dans le roman. Paris: PUF 2008, S. 119–149. 66 Diese Lektüre hat sich natürlich gegen den Einwand zu verteidigen, dass Roubaud auf der expliziten Ebene im Roman immer noch Republikaner ist (»Depuis que l’Empire, 8branl8 par les 8lections g8n8rales, traversait une crise terrible, il triomphait, il r8p8tait que ces gens-l/

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In Le Ventre de Paris (1873) beschreibt Zola schon das Scheitern eines republikanischen Staatsstreichs, der als Imitation der Revolution und der Ereignisse von 1793 geplant wird: »Il faudra faire table rase, disait Charvet de son ton bref, comme s’il e0t donn8 un coup de hache. Le tronc est pourri, on doit l’abattre. […] Robine l’approuvait de la barbe. […] Ses yeux prenaient une grande douceur au mot de guillotine […].« (RM I: 747) Auch die Straßen- oder besser Hallenkinder Marjolin und Cadine träumen angesichts von Körben voller blutiger Schafsköpfe in den Kellergewölben unter den Hallen von der Guillotine (RM I: 775). Florent, der Protagonist des Romans, ist sich allerdings bewusst, dass der symbolischen Kastration eine Revirilisierung folgen muss bzw. dass die gewaltsame Revolution als solche riskant ist: »si vous abattez l’arbre, il sera n8cessaire de garder des semences… Je crois, au contraire, qu’il faut conserver l’arbre pour greffer sur lui la vie nouvelle…« (RM I: 747) Obwohl Florent seine Umsturzpläne konkret imaginiert und plant, erkennt er die Problematik, die einer Wiederholung der Enthauptung des Monarchen innewohnt. Er kann als – allerdings explizit politische – Präfiguration von Jacques gelesen werden, wenn er schließlich beim Anblick abgestochener Tauben ohnmächtig wird. Die politische Reminiszenz ist hier überdeutlich: »Ces pigeons, auxquels on fait avaler du grain et de l’eau sal8e, qu’on assomme et qu’on 8gorge, lui avaient rappel8 les ramiers des Tuileries, marchant avec leurs robes de satin changeant dans l’herbe jaune de soleil.« (RM I: 872f.) Die in den historisch-politisch besetzten Tuilerien umherschreitenden und in Florents Phantasie vom Massaker bedrohten Turteltauben mit reichem Federkleid symbolisieren nur allzu deutlich die Königsfamilie und den Hochadel, die noch nichts von der Terreur ahnen, die ihre Idylle stören wird. Florents ambivalente Haltung wird auch in diesem Roman schon körperlich markiert: »Voil/ que vous vous 8vanouissez comme une femme. […] vous ne feriez pas un bon soldat. […] Mais, mon brave, si vous vous mettez jamais d’une 8meute, vous n’oseriez pas tirer un coup de pistolet ; vous aurez trop peur de tuer quelqu’un.« (Ebd.) Die Narration fokussiert in Le Ventre de Paris weniger Florents Schwäche als das biedermeierliche Bürgertum, das die repressive Politik des Kaiserreichs stützt und ohne das der Aufstand wahrscheinlich hätte gelingen können. La BÞte humaine dagegen wendet sich siebzehn Jahre später implizit dem revolutionären Versagen der Republikaner zu und deren Unvermögen, die Uhr des Königs anzunehmen und die Vaterposition zu besetzen. Denn dies würde erfordern, den Vater endgültig zu töten, anstatt in der permanenten selbsterniedrigenden Bewunderung eines väterlichen Ideals zu vergehen.67 ne seraient pas toujours les ma%tres.« RM IV: 1243) Dies muss ich im Rahmen einer politischallegorischen Lektüre dem Diskurs des kohärent konstruierten Decknarrativs zuschreiben. 67 In dieser Hinsicht zeigt der Roman die Grenzen der Analyse Maisonneuves auf, der dieses Unvermögen allein der extremen Rechten zuschreibt und darauf bedacht ist, andere poli-

160 2.2.

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Nationale Impotenz

Bei Jacques ist das familiäre Erbe, die originäre »fÞlure«, Auslöser eines Mordtriebes, von dem er ständig beherrscht wird und den er zu unterdrücken versucht. Deleuze beschreibt die für den gesamten Romanzyklus, vor allem aber für La BÞte humaine zentrale fÞlure, die in der Neurose der Urahnin Tante Dide wurzelt, als etwas, das sich selbst übertrage.68 Die ebenso zentrale h8r8dit8 sei dabei mit der fÞlure identisch: »elle est la fÞlure elle-mÞme : la cassure ou le trou.«69 Das Erbe der Familie sei selbst ein Bruch, ein Loch oder Riss. Während die Instinkte, die »grands app8tits«, in Zolas Romanen wortreich beschrieben werden, manifestiere sich die fÞlure durch die Auslassung: [L]e silence va d’un roman / l’autre, et sous chaque roman, appartient essentiellement / la fÞlure, sous le bruit des instincts, la fÞlure se poursuit et se transmet silencieusement. Ce que la fÞlure d8signe, ou plutit ce qu’elle est, ce vide, c’est la Mort, l’Instinct de mort.70

Die fÞlure ist für Deleuze die Leere, der allgegenwärtige Todestrieb. Bedenkt man, dass sie schon in La Fortune des Rougon als Metapher für den Revolutionstrieb gelesen werden kann und als solcher Tante Dide in eine skandalöse illegitime Liebesbeziehung treibt,71 dann kann man davon ausgehen, dass diese Besetzung ihr auch in La BÞte humaine zumindest konnotativ noch anhaftet. Dides fÞlure führt zu einem Skandal, als sie zusammen mit ihrem Geliebten die Mauer durchschlägt, die sie voneinander trennt. Hier wird symbolisch die Klassengrenze eingerissen. Die fÞlure und das Loch in der Mauer, das sich von nun an durch den Zyklus ziehen wird, sind dabei aber nicht austauschbar. Vielmehr führt die fÞlure erst zum Loch: Der Revolutionstrieb führt zur Kastration. Das Loch in der Wand macht die unsichtbare fÞlure ebenso sichtbar, wie im politischen Imaginären die Republik erst konkret greifbar wird im Bild der verweiblichten Nation oder der doppeldeutigen res publica als dem leeren Zentrum. In La BÞte humaine treibt die fÞlure Jacques zum Mord. Trotzdem hindert ihn etwas daran, einen Vatermord zu begehen. Wenn dieser von ihm gefordert wird, fühlt er sich schwach. Es ließe sich deshalb schließen, dass Jacques, wenn er

68 69 70 71

tische Gruppierungen von einem Königskomplex zu entbinden (1992: bes. S. 76–81 u. 116). Jacques’ ›Impotenz‹ und revolutionäre Unfähigkeit lassen erahnen, warum seine Rolle in La BÞte humaine nicht, wie zuerst von Zola geplant, von Etienne Lantier eingenommen werden kann. Dies hätte das Schlussbild von Germinal und damit die Hoffnung auf eine Befreiung der Arbeiterschaft wohl allzu stark in Frage gestellt. »La fÞlure ne transmet que la fÞlure.« (Deleuze 1969: S. 377) Ebd.: S. 373. Ebd.: S. 378. Vgl. Regn 2011: S. 259–262 und oben Vorspiel, Kap. 4, Anm. 178.

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darüber nachdenkt, dass er den symbolischen Vater töten soll, sich von der nationalen Effeminierung, auf die der trou spätestens seit Nana hinweist, affiziert fühlt. War die fÞlure in La Fortune des Rougon also noch der Revolutionstrieb, so heftet sich in La BÞte humaine auch die kollektiv verdrängte Erinnerung an das traumatische Ereignis an sie. In ihr verdichten sich Revolution und Kastration, fÞlure und trou. Auf diese Weise hat sie sich ins politische Unbewusste eingeschrieben und wird von Generation zu Generation weitervererbt. Zola drückt dies wiederholt mit der Phrase »de m.le en m.le« (RM IV: 1044, 1152 u. 1297) aus und zitiert damit sowohl die Bestimmung der loi salique, die die ausschließlich männliche Thronfolge im Ancien R8gime begründete,72 als auch die antimoderne Vorstellung einer Erbsünde.73 Seit 1793 wird statt des politischen Körpers des Königs dessen Verlust, also der Mangel, erblich transportiert. Hat man den atavistischen Mordtrieb des Jacques solchermaßen mit der Erinnerung an die Revolution verknüpft, dann bleibt zu fragen, ob das Bild des Zuges tatsächlich erst am Schluss nationalallegorisch gelesen werden kann und ob die Handlung so entpolitisiert ist, wie es zunächst scheint.74 In der von Jacques’ Maschine »Lison« gezogenen Bahn versammeln sich Personen jeden Alters und Geschlechts. In Abteilen werden die sozialen Klassen voneinander getrennt, aber im Ganzen sind sie vereint: Die Eisenbahn ist eine Nation im Kleinen. Wie diese ist die Lokomotive weiblich konnotiert; sie ist eine »ma%tresse apaisante« (RM IV: 1044), entwickelt unter der Kontrolle ihres Mechanikers jedoch eine männlich symbolisierte Kraft. Jacques ist, so Borie, der disziplinierende Wille, der die Maschine lenkt und vorantreibt. Ohne den Mann, der sie beherrscht und bei der »course virile«75 performativ den Besitz des Phallus beweist, wäre ihre Energie blind und richtungslos.76 Borie liest dies zwar 72 Mit der Formulierung »de m.le en m.le« konsolidierte noch die Verfassung von 1791 die vermeintliche lex salica (Assembl8e Nationale: La constitution franÅoise ; presentee au roi par L’Assemblee Nationale, le 3 septembre 1791. Paris/London: L’imprimerie de Baudouin/J. Debrett 1791, S. 22). Zum Überleben der loi salique bis (mindestens) weit ins 19. Jahrhundert siehe Fraisse 1995: S. 342–347. 73 Compagnon subsumiert die Idee einer Erbsünde unter die antimodernen Topoi (2005: S. 88– 110, im Zusammenhang mit der Enthauptung des Königs bes. S. 102f.). 74 Xuan (2014) liest den an den biblischen Brudermord mahnenden Streit zwischen Jacques und Pecqueux als Selbstmord des Proletariats. Diesen setze Zola an die Stelle der politischen Entscheidungsschlacht zwischen Empire und Republik bzw. an die Stelle des Klassenkampfes, wie er sich zuerst zwischen Roubaud und Grandmorin geäußert hatte. Xuan sieht darin einen Verlust der verloren gegangenen politischen Initialgewalt, die den Mord an Grandmorin bestimmt hatte und die Zola in entpolitisierte, atavistische Mordexzesse und eine Art Ersatz-Katharsis überführt. 75 Borie 1971: S. 81, vgl. auch 89. 76 Ebd.: S. 82. Das Bild der Lokomotive als exemplarisches Produkt männlicher Selbstzeugung findet sich schon in Huysmans’ f rebours. Dort drückt die Kreation der perfekten Lokomotivenfrau die (imaginierte) Kontrolle des Mannes über die Weiblichkeit und in einer

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individualpsychologisch, doch wenn die Bahn unter einer starken Führung mit Vorliebe durch Tunnel fährt und solchermaßen zum Penetrator wird, liegt eine politische Perspektivierung nicht fern: Der in der Lison verkörperte industrielle Fortschritt kann solchermaßen zum Ersatz für den Monarchen werden.77 Schließlich findet sich schon im Namen »Lison« die Lilie der Monarchie ebenso,78 wie er die Liaison ausdrückt, die sich hier zwischen der Nation und ihrem Führer etabliert. Die weibliche Nation, so lässt sich La BÞte humaine deuten, erlangt ihre Potenz, wenn sie von einem starken Führer beherrscht wird. Das Bild bröckelt, als Jacques den geforderten Mord nicht begehen kann. Der Erzähler bezeichnet die Schwäche und Unfähigkeit des Jacques als »d8b.cle« (RM IV: 1241), was diese unmissverständlich mit 1870/71 assoziiert. Jacques’ Ohnmacht affiziert die Lison, die Schwächen zeigt, seit ihr Führer vor dem Mord zurückschreckt. »[L]ui, savait bien que sa machine […] n’8tait plus la bien portante, la vaillante d’autrefois.« (RM IV: 1227) Jacques ist »convaincu que la Lison 8tait trHs malade« (RM IV: 1228). Als Grund hierfür wird im Roman selbst nicht direkt Jacques’ Unvermögen genannt, sondern die Wunde, die sich die Maschine zugezogen hatte, als sie im Schnee steckengeblieben war : »[Jacques] hocha la tÞte, car lui qui la [sc. la Lison, L.Z.] connaissait / fond, venait de la sentir singuliHre sous sa main, chang8e, vieillie, touch8e quelque part d’un coup mortel. C’8tait dans cette neige qu’elle devait avoir pris Åa […].« (RM IV: 1187) Damals schon, als Jacques S8verine im Zug nach Paris gefahren hatte, um ungestört mit ihr Ehebruch zu begehen, hatte die Lokomotive Anzeichen von Schwäche gezeigt (RM IV: 1164). Jacques selbst war blind von Wind und Schnee: »il 8tait aveugl8 […]. D’ordinaire, il avait de bons yeux, meilleurs que ceux de son chef. Mais, dans cette tourmente, tout avait disparu, / peine pouvaient-ils […] reconna%tre les lieux qu’ils traversaient […].« (RM IV: 1164f.) Die durch die Blindheit symbolisierte Entmannung offenbart sich schließlich in der mangelnden Performanz der Maschine: »Elle ne bougea plus. C’8tait fait, la neige la tenait, impuissante.« (RM IV: 1170) Der impotente Zug, der »train 8chou8« (RM IV: 1177), verweist dabei proleptisch auf das Romanende und das militärische männlichen Geburtsphantasie die Usurpation ihres ureigenen Raumes aus (siehe Erhart 2002: S. 179f.). 77 Schivelbusch beschreibt das euphorische Nationalgefühl der sogenannten Agathon-Generation, das vor allem durch die Erfahrung der Weltausstellung 1889 genährt wurde, in der Frankreich durch technische Höchstleistungen wie etwa den Eiffelturm glänzte (2001: S. 192). Zola allerdings, so lehrt uns La BÞte humaine, scheint dieser Euphorie skeptisch gegenüberzustehen (vgl. dazu Hahn 2009: S. 221–229). 78 Stephan Leopold hat in seinem Vortrag auf der von Lars Schneider und Xuan Jing organisierten Tagung zu »Schreibweisen des Naturalismus« im November 2012 in München bemerkt, dass der »lys« im Namen der Lisa Quenu in Le Ventre de Paris schon auf den von ihr geführten reaktionär-monarchistischen Widerstand gegen den republikanischen Gegenstaatsstreich hinweise.

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Versagen Frankreichs. Denotativen Status erreicht die Kastrationssymbolik, als Jacques seine Unfähigkeit zum Mord an Roubaud schließlich mit dem Gefühl sexueller Impotenz assoziiert: »Il s’interrogeait d8j/, inquiet, pareil / ces m.les qu’un accident nerveux frappe dans leur virilit8 : pourrait-il ?« (RM IV: 1294) Als die mit der Revolution assoziierte fÞlure im Schneesturm auf die Lison und damit symbolisch auf Frankreich übergeht, ist dies wiederum mit historisch-politischen Reminiszenzen besetzt. Ebenso wie in der BÞte humaine die Episode im Schnee das katastrophale Ende proleptisch vorwegnimmt, wurde Napoleons Debakel im harten russischen Winter 1812 als Vorzeichen für den Niedergang des Ersten Kaiserreichs gewertet. Schon Balzacs Adieu hatte den Russlandfeldzug als traumatisches Ereignis des kollektiven Gedächtnisses tradiert. Hugos Beschreibung der aus Russland zurückkehrenden napoleonischen Truppen in »L’expiation« weist schließlich starke Ähnlichkeiten mit Zolas Schilderung von Napoleon III. und seiner Armee in La D8b.cle auf und verknüpft Napoleons Ende ebenfalls mit der Erinnerung an den Schnee: Il neigeait. On 8tait vaincu par sa conquÞte. Pour la premiHre fois l’aigle baissait la tÞte. Sombres jours ! l’empereur revenait lentement, Laissant derriHre lui br0ler Moscou fumant. Il neigeait. L’.pre hiver fondait en avalanche. AprHs la plaine blanche une autre plaine blanche. On ne connaissait plus les chefs ni le drapeau. Hier la grande arm8e, et maintenant troupeau. On ne distinguait plus les ailes ni le centre : Il neigeait. […]79

Der desorganisierten Armee fehlt das Zentrum, das sie zusammenhält, ihr Stärke gibt und die Richtung weist. Die Armee ohne Generäle wird zu einem Haufen, zu einer Herde (»troupeau«). Bonaparte selbst – »comme un arbre en proie / la cogn8e […], chÞne vivant, par la hache insult8«80 – ist von der symbolischen Axt bedroht und sieht Soldaten und Generäle um sich herum wie Äste fallen. Die nationale Kastration in der Revolution konnte nur vorübergehend durch die virile Performanz des aus ihr hervorgegangenen Napoleon verdeckt werden. Der Zusammenbruch im Russlandfeldzug führt geradewegs zu Waterloo und verkehrt die Situation, in der Europa dem napoleonischen Frankreich unterlag: »Waterloo ! Waterloo ! Waterloo ! morne plaine ! / […] D’un cit8 c’est l’Europe et de l’autre la France. / Choc sanglant ! des h8ros Dieu trompait l’esp8rance ; / Tu

79 Œuvres po8tiques. Bd. II: Les Ch.timents. Les Contemplations. Hg. v. Pierre Albouy. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1967, S. 136. 80 Ebd.: S. 137.

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d8sertais, victoire, et le sort 8tait las.«81 Die Grande Arm8e ist zerstört, Frankreich liegt am Boden, das Kaiserreich ist »bris8 comme verre«.82 Die Situation wiederholt sich knapp zwanzig Jahre später, wenn die »sabres prussiens«83 Frankreichs unterlegene Position besiegeln und die Niederlage wieder den Untergang eines Kaiserreiches mit sich führen wird. Hugo schildert, wie 1815 das Kaiserreich wie Glas splittert. Dieses Gefühl der Zerstückelung macht sich nicht nur in Zolas D8b.cle breit, sondern auch und gerade in La BÞte humaine: Dort verbindet das Eisenbahnnetz Paris zwar einerseits mit den übrigen Gliedern des nationalen Körpers. Stadt und Land erscheinen von Bahnhöfen und -gleisen aber andererseits auch wie zerschnitten.84 Auf diese Weise wird die Thematik der fÞlure an die Entdifferenzierung gekoppelt, deren Instrument die Eisenbahn als demokratisches Verkehrsmittel ist. In Zolas Roman kommt es nach der durch die Schneeepisode aufgerufenen Erinnerung an 1812 zur Engführung der bis dahin latenten Symbolik im von Flore verursachten Zugunglück, dessen Beschreibung im Bild des sich aufbäumenden und zusammenstürzenden Zuges gipfelt, von dem nur eine klaffende Wunde übrig bleibt: Misard et Cabuche les bras en l’air, Flore les yeux b8ants, virent cette chose effrayante : le train se dresser debout, sept wagons monter les uns sur les autres, puis retomber avec un abominable craquement, en une d8b.cle informe de d8bris. […] [L]a Lison montrait ses bielles tordues, ses cylindres cass8s, ses tiroirs et leurs excentriques 8cras8s, toute une affreuse plaie b.illant au plein air, par oF l’.me continuait de sortir, avec un fracas d’enrag8 d8sespoir. (RM IV: 1260f.)

Wie schon im Schneesturm sieht Jacques auch diesmal das Unglück nicht herannahen: »Jacques, / ce moment suprÞme, […] regardait sans voir, dans une minute d’absence.« (RM IV: 1259) Eine symbolische Kastration führt zur anderen und endet in der Beschreibung zerstückelter Körper (RM IV: 1263f.). Deutlicher als in diesem erneut als »d8b.cle« bezeichneten Unglück könnte der am Romanende offen gelassene Kriegsausgang kaum vorweggenommen werden. Borie zufolge kann sich Jacques vermittels der phallischen Zugsymbolik nur so lange seiner eigenen Virilität vergewissern, wie er selbst den Zug führt. Sobald er sich allerdings in einer passiven Beobachterperspektive befindet, werde der 81 82 83 84

Ebd: S. 137f. Ebd.: S. 139. Ebd. Vgl. zur ambivalenten Rolle der Eisenbahn, die in La BÞte humaine nicht nur urbane Zentren miteinander verbindet, sondern auch immer wieder mit einer Zerschneidungsmetaphorik besetzt ist, Counter 2008: S. 34f. Die Kastrationssymbolik der Risse, Schnitte und Löcher notiert Hahn 2009: S. 227f. Auch in L’Œuvre zerschneiden Bahngleise den Horizont: »Et la ligne redevint nette, un simple trait / l’encre coupant l’horizon […].« (RM IV: 361)

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Anblick des vorbeifahrenden Zuges zum Phantasma der »virilit8 auguste« des kastrierenden Vaters: Der Zug, in dem Roubaud den Mord an Grandmorin begeht, »jaillit« aus der »gueule noire du tunnel« (RM IV: 1046f.), aus der Tunnelöffnung wie aus einem verschlingenden Loch.85 Auch diese Ambivalenz der Zugmetaphorik lässt sich als historisches Phantasma lesen: Am Ende des Romans wird der mit Soldaten prall gefüllte Zug auf dem Weg in Richtung Rhein sicherlich nicht in Deutschland ankommen; die militärische Penetration des Nachbarlandes scheitert wie die Durchbrechung der Schneewand im Roman. Der fremde, bedrohliche, nicht von Jacques geführte Zug lässt sich deshalb als Metapher für Deutschland lesen, als phantasmatischer Verweis also auf den zweiten, entgegenkommenden Zug, den Pr8vost-Paradols oben zitiertes Bild aufruft. Wie man aus Nana weiß, besaß Deutschland mit Wilhelm I. bzw. Bismarck im Gegensatz zu Frankreich schließlich einen politischen Vater, der als virilit8 auguste fungieren konnte. In Frankreich dagegen wird aus der fÞlure, die sich gerade durch diesen scheinbar ahistorischen Roman zieht, am Ende das traumatisierende Loch in der Grenze der Nation geworden sein, durch das die deutschen Invasoren einfallen. La BÞte humaine liest sich solchermaßen als Überlagerung von Bildern, in denen sich die französische Geschichte seit der Revolution allegorisch verdichtet. Anstatt sich allein auf die konkrete historische Situation des Zweiten Kaiserreichs zu beziehen, oszilliert die Romanhandlung vielmehr zwischen Referenzen auf Empire und Dritte Republik: So ist die Planung eines Attentats historisch im Kaiserreich zu verorten, während sein endgültiges Scheitern auf den Beginn der Republik verweist. Der Brudermord ruft den am Ende des Jahrhunderts virulenten Klassenkampf sowie die nie enden wollenden Parteiquerelen der parlamentarischen Republik auf, die Zola in seinen Artikeln für die Zeitschrift La Cloche beschreibt.86 Liest man den Roman als eine Reflexion über die Struktur von Vater-Sohn-Beziehungen, die gleich einer Totem-und-TabuGeschichte von der Erfahrung einer Genealogie der gewaltsamen Brüche zeugt,87 so sollte man dies meines Erachtens nicht von Zolas Suche nach der Ursache für den Niedergang der Nation lösen. Die »continuity between the seamy past and the civilized present«88 reaktualisiert die von Hobbes beschriebene Angst vor 85 Borie 1971: S. 89. 86 Vgl. oben Kap. I.1. 87 So Counter 2008: bes. S. 36f. Counter lokalisiert diese Fragen im Kontext der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur, geht allerdings nur ansatzweise auf die Problematik der Republik ein: »The ›parricide‹ which I have argued is concealed by Jacques’s misogynist urges is in this sense perhaps no more ancient than the move away from paternal feudalism to fraternal capitalism, or than the deracination of the urban population which Jacques exemplifies and which patriarchal apologist BarrHs would later dramatize as the major social ill of Third Republic France in Les D8racin8s (1897).« (Ebd.: S. 33) 88 Ebd.

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Émile Zola und der unmögliche Diskurs über die Republik

dem Rückfall in die gewalttätige Vergangenheit des Naturzustands, der im herrschaftslosen Zustand bzw. im Zustand des Herrschaftsübergangs droht, wenn die politische Führung die Energien nicht zu kanalisieren vermag.89 Allerdings liegt die Entstehung von Zolas Roman zeitlich nicht mehr in der Phase des Herrschaftsübergangs, als welcher das traumatische Jahr 1871 oder auch noch die Epoche der Übergangsverfassungen bezeichnet werden können, die die tatsächliche Gründung eines neuen politischen Systems in einer durch die »attente monarchique« gekennzeichneten Zeit immer nur aufschieben.90 Seit 1879 war die Republik faktisch und seit 1884 gesetzlich definitiv etabliert. Wenn die erst 1890 erschienene BÞte humaine dennoch einen Rückfall in einen gesellschaftlichen Naturzustand beschreibt, dann zeugt dies von der Angst vor der ewigen Wiederholung der Gewaltsituation der Terreur nach der Geburt der Republik, vor einem in dieser auf Dauer gestellten Naturzustand, in dem das Ideal der Brüderlichkeit subvertiert wird. Dabei reflektiert schon Lucans Pharsalia / De bello civili darüber, dass nur der ewige (Bürger-)Krieg die republikanische Freiheit garantiert, denn »Cum domino pax ista venit. duc, Roma, malorum / Continuam seriem clademque in tempora multa / Extrahe, civili tantum iam libera bello.« [»Der Friede bringt uns Tyrannei. Verlängere die Kette deiner Leiden immer weiter, Rom! Laß dein Unglück lange dauern: Nur im Bürgerkrieg bist du noch frei!«]91 Besonders brisant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass für Hobbes der nicht überwundene Naturzustand dazu führt, dass die Gesellschaft ihre Freiheit früher oder später an einen fremden Herrscher verliert.92 Dass diese Fremdherrschaft im Fin de SiHcle an die gefühlte Übermacht Deutschlands über Frankreich mahnt, ist fraglos. In der Erinnerung an den originären Tod des Monarchen imaginiert Zolas Roman, so ließe sich schließen, eine darauf folgende innenpolitische Rechtslosigkeit sowie außenpolitische Schwäche der Republik. Im expliziten Modus beklagt dies etwa P8ladans Vice suprÞme: »Quant / la R8publique, c’est l’anarchie organis8e de 1793, 1871 et 1880.«93 Die Zolas Roman parasitär einge89 Vgl. Manow 2011: S. 12f., 45, 86 u. 91f. Das Titelbild von Hobbes’ De Cive (1642), das die zivilisierte Allegorie des Imperiums der barbarisch-wilden Verkörperung der Libertas gegenüberstellt, zeigt Manow zufolge, dass der zivilisatorischen Fortschrittsgeschichte immer schon die Drohung des Atavismus eingeschrieben ist (ebd.: S. 86). 90 Noch nach dem Tod des Grafen von Chambord im August 1883 betont Charles de Mazade in seiner »Chronique de la Quinzaine« die Möglichkeit einer für die Nation heilsamen Restauration (in Revue des deux Mondes 59, Sept.-Okt. 1883, S. 226–237). Vgl. zur »attente monarchique« Leopold 2010b: S. 149, Anm. 24. 91 Lukan: Der Bürgerkrieg. Lateinisch und Deutsch. Hg. u. übers. v. Georg Luck. Berlin: Akademie-Verlag 1985, S. 106f. [Pharsalia I.670–672]. Vgl. Quint 1993: S. 147f. 92 Vgl. Manow 2011: S. 74f. 93 P8ladan 2006: S. 467. Im Jahr 1880 wurden der 14. Juli als Nationalfeiertag etabliert und die Amnestie der Kommunarden gesetzlich verankert (siehe Berstein 2002: S. 277). Schon

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schriebenen Reminiszenzen werden zwar von einem Narrativ der Pathologie überschrieben, sie manifestieren sich aber auf der Textoberfläche im Bild der schneidenden Gleise. Diese gravieren sich wie Erinnerungsspuren in den Körper der Nation ein,94 zeugen von einem traumatischen Imaginären, das eine zerstörerische Wirkung entfalten kann, und stellen die postulierte Integrität des Landes schon bildlich in Frage. Dieses Konglomerat von Angstbildern und Phantasmen macht La BÞte humaine trotz oder vielleicht gerade wegen seiner erzählerischen Mängel (insbesondere seiner Redundanzen) zu einem bedeutsamen Zeugnis des Imaginären der Epoche. Mit der Darstellung seines Eisenbahnmechanikers Jacques und dessen fÞlure situiert sich Zolas literarischer Diskurs auch im Kontext der zeitgenössischen Hysteriediskurse. Im Jahr 1887, d. h. drei Jahre vor der Veröffentlichung der BÞte humaine, publiziert Charcot seine Theorie, der zufolge die Anlage für männliche Hysterie vererbt ist und die Neurose durch einen »agent provocateur« – häufig einen Unfall – ausgelöst wird. Vorbereitet wurde diese Vorstellung von der in den 1860er Jahren in England entwickelten Hypothese des railway spine, nach der durch Zugunfälle hervorgerufene Rückenmarksläsionen oder molekulare Hirnverletzungen (ein sog. railway brain) nervliche Störungen bewirken.95 Die erbliche Veranlagung liegt nun auch bei Jacques vor, kann seine fÞlure doch auf die Hirnläsion seiner Vorfahrin zurückgeführt werden.96 Nach dem Zugunfall befürchtet der Notarzt, der Jacques untersucht, erst »des l8sions int8rieures, car de minces filets de sang apparaissaient aux lHvres« (RM IV: 1269). Seine Sorgen scheinen sich jedoch alsbald als unbegründet herauszustellen: »Et, dHs le lendemain, le m8decin avait cru pouvoir r8pondre de Jacques, mÞme en huit jours il comptait le remettre sur pied : un v8ritable miracle, / peine de l8gers d8sordres int8rieurs.« (RM IV: 1275) Aus Läsionen sind leichte »d8sordres int8rieurs« geworden, die sich nicht weiter auf Jacques’ – physische – Gesundheit auszuwirken scheinen. Seinem Aggressionstrieb kann er jetzt dennoch nicht mehr lange standhalten. Während Zola in La Cur8e beispielsweise die dem gehobenen Bürgertum entstammende Ren8e Saccard diskurskonform als Hysterikerin konstruiert, wird in La BÞte humaine nur von der fÞlure gesprochen, nicht aber von Hysterie. Da der unterdrückte Mordtrieb allerdings mit einem Drang nach dem Beweis der Virilität verknüpft ist, kann Jacques durchaus als Hysteriker Danton formulierte die Angst vor der »anarchie perp8tuelle« und vor der »dissolution de la r8publique« (zit. nach Andr8 1993: S. 112). 94 Zur Einschreibung von Erinnerungsspuren in den Körper vgl. Ilka Quindeau: Spur und Umschrift. Die konstitutive Bedeutung von Erinnerung in der Psychoanalyse. München: Fink 2004, S. 12, 118 u. 220. 95 Vgl. Link-Heer 1988: S. 378f. und Bernheimer 1989: S. 252. 96 Siehe zur Hysterie der Tante Dide Beizer 1994: S. 1 sowie, in Verbindung mit der Revolution, Regn 2011: S. 259–262.

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bezeichnet werden.97 Zolas implizites literarisches Imaginäres geht also konform mit der zeitgenössischen, bürgerlichen Vorstellung davon, dass weibliche Hysterikerinnen insbesondere in favorisierten Klassen und männliche Hysteriker in der Arbeiterklasse zu finden sind.98 Oberflächlich reproduziert der Roman die diskursive Assoziation neurotischer Störungen (der fÞlure) mit der Eisenbahnthematik; zum Ausdruck kommt dabei aber, ähnlich wie in f rebours, dass der Ursprung der – nicht als solche benannten – Hysterie angesichts einer in Frage gestellten Männlichkeit in der Revolution zu suchen ist.99 Die Erinnerung an die Gründung der Republik versucht sich ständig zu artikulieren und produziert ein politisches Unbewusstes, das mit den verschobenen Erinnerungen an 1793, an 1812 und an 1870 eine ganze Reihe von affektiv beladenen Erfahrungen konstruiert. Es ist deshalb bezeichnend, dass weder die Figuren noch der Erzähler bei Jacques Hysterie diagnostizieren: Soll es etwa vermieden werden, hinter der Vorstellung von Hirnläsionen und physischen Traumata den Blick auf historische Wunden und einen kollektiv-psychischen Ursachenkomplex freizulegen? Die Erfahrung, dass das eigene Schreiben nicht vollständig bewusst, willentlich beherrscht und kontrolliert vonstattengeht, ist Zola beim Verfassen der BÞte humaine immerhin nicht mehr fremd. Schon 1884 bemerkt er gegenüber Huysmans: »Moi, je t.che de travailler le plus tranquillement possible, mais je renonce / voir clair dans ce que je fais, car plus je vais et plus je suis convaincu que nos œuvres en gestation 8chappent absolument / notre volont8.«100

2.3.

Vom kopflosen Staat zur kopflosen Frau: die »souveraineté de mâle«

In der Diegese der BÞte humaine wird der ausgeblendete historische Subtext durch einen Mythos ersetzt, der bekanntlich in der Literatur der Epoche Hochkonjunktur hat: den Mythos der kastrierenden Frau. Der Roman führt Jacques’ Ohnmacht nicht auf eine historische Ursache zurück, sondern auf die erwachende aktive Sexualität der zuvor passiven S8verine: Deren Veränderung von einer »cr8ature mince, si fragile […] qui avait besoin d’Þtre aim8e et prot8g8e« (RM IV: 1130) zur aktiv fordernden Frau legt den Blick auf ihre Unergründlichkeit und den »gouffre noir du sexe« (RM IV: 1297) frei.101 Auf 97 Vgl. zu Hysterie und in Frage gestellter Männlichkeit Link-Heer 1988: S. 386f. und oben Kap. I. Deleuze zufolge ist es in der BÞte humaine besonders wichtig, dass Jacques Lantier »vigoureux, sain, en bonne sant8« ist (1969: S. 7). 98 Vgl. zu dieser Verteilung der Hysterie in der Gesellschaft Link-Heer 1988: S. 385f. 99 Zum Zusammenhang zwischen Degenerationstheorien und der Revolution bes. bei Morel, Buchez und Taine siehe Pick 1989: S. 37–73, vgl. oben Kap. I, Anm. 12. 100 Brief vom 20. Mai 1884 (zit. in Huysmans 1953: S. 107). 101 Vgl. zu S8verine Dorothy Kelly : »Gender, Metaphor, and Machine: La BÞte humaine«, in

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diese Weise wird die Angst vor der unzulänglichen Performanz der Republik auf einen Geschlechterkonflikt übertragen: Weil Jacques sich von der Frau bedroht fühlt, muss die Ursache seiner Ohnmacht nicht in der Geschichte gesucht werden. Indem der Text auf die inkommensurable Tötung der Vaterfigur mit der sinngebenden Erzählung von der kastrierenden Frau antwortet, greift er auf den Mythos von der Geburt der Aphrodite aus der Kastrationswunde des Uranus zurück. Dieses Erklärungsmodell erlaubt es, das ursprüngliche Ereignis zu verschieben. Der Roman zeugt damit auf exemplarische Weise davon, wie die Literatur auf das politische Trauma immer wieder mit der Angst vor der Frau, die den ihr zugewiesenen Ort verlässt, reagiert. S8verine ist für Jacques deshalb bedrohlich, weil sie von ihm den Mord an Roubaud fordert. Indem Jacques sie tötet, macht er diese Forderung zunichte und erlangt über die Ersatzhandlung explizit seine »souverainet8 de m.le« (RM IV: 1298) zurück: La femme, il l’avait tu8e, il la poss8dait, comme il d8sirait depuis si longtemps la poss8der, tout entiHre, jusqu’/ l’an8antir. Elle n’8tait plus, elle ne serait jamais plus / personne. Et un souvenir lui revenait, celui de l’autre assassin8, le cadavre du pr8sident Grandmorin, qu’il avait vu, par la nuit terrible, / cinq cents mHtres de l/. Ce corps d8licat, si blanc, ray8 de rouge, c’8tait la mÞme loque humaine, le pantin cass8, la chiffe molle, qu’un coup de couteau fait d’une cr8ature. Oui, c’8tait Åa. Il avait tu8, et il y avait Åa par terre. (Ebd.)

Jacques macht hier die Übertragung des politisch symbolischen Vatermords auf den Mord an der Frau recht deutlich. Der republikanische Citoyen, der 1870 seine Souveränität gerade nicht durch den Sturz des Kaisers errungen hatte, muss sie supplementär erlangen, indem er seinerseits eine Allmacht über die Frau fordert. Durch seinen Akt erlangt Jacques die Virilität zurück, die in Frage stand, seit er Roubaud hatte Grandmorin töten sehen: Ah ! n’Þtre pas l.che, se satisfaire, enfoncer le couteau ! Obscur8ment, cela avait germ8, avait grandi en lui ; pas une heure, depuis un an, sans qu’il e0t march8 vers l’in8vitable ; mÞme au cou de cette femme, sous ses baisers, le sourd travail s’achevait ; et les deux meurtres s’8taient rejoints, l’un n’8tait-il pas la logique de l’autre ? (Ebd.)

Diese Analyse trifft den Punkt allerdings nicht genau. Denn der Mordinstinkt resultiert nicht allein aus dem beobachteten Mord, der Jacques verfolgt. Er tritt immer erst dann zutage, wenn die von ihm begehrte Frau aus ihrer passiven French Literature Series 16 (1989), S. 110–122, hier S. 116–119. Kelly untersucht die Parallele zwischen S8verine und la Lison und zeigt, dass mit S8verines Veränderung auch die Lokomotive »ungovernable«, »untamable« wird (ebd.: S. 115). Counter und Baran notieren die Assoziation des Namens mit der »severance« (Counter 2008: S. 35) bzw. mit »s8vrer« (Baran 1996: S. 35, für Baran ist S8verine nicht die kastrierende Frau, sondern die Mutter, von der der ödipale Roubaud sich lösen müsse).

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Émile Zola und der unmögliche Diskurs über die Republik

Haltung ausbricht. Als S8verine sich ihm durch ihr Geständnis unterwirft, meint Jacques noch, er sei von seiner Erblast befreit (RM IV: 1122f.). Erst als sie sich die Freiheit nimmt, den Liebhaber auszuwählen, der ihre Wünsche erfüllen kann, und als sie Jacques seine Unfähigkeit vorhält, verspürt er das Bedürfnis, sie umzubringen (RM IV: 1284–1287). Dies entspricht, wie Domenica de Falco bemerkt, einer Strafe für die Formulierung eines autonomen Begehrens.102 Die Macht über die tote Frau103 ist allerdings vor allem vor dem Hintergrund der französischen Nationalgeschichte eine ›logische Folge‹ – so die Worte des Erzählers in erlebter Rede – der Enthauptung des Königs: Diese fordert vom Citoyen den Beweis seiner »souverainet8 de m.le« ein, den er angesichts der Autonomiebestrebungen lebender Frauen allerdings nur über tote erlangen kann. Ich stimme deshalb eher Counters freudianischer Lektüre zu: We can now re-read Zola’s primal narrative, as we have Freud’s. What might ›la premiHre tromperie‹ be? On a first ›Freudian‹ reading, could it be anything other than the repressed murder of the father, the guilt of which is transferred onto the women for whose bodies the patricide was perpetrated? The deception, then, is rather une d8ception – the disappointment of the band of brothers realizing that they are too much in awe of the dead father to claim their inheritance. What is inherited – ›amass8e de m.le en m.le‹ – is not women, but an irrational grudge against women, whose ›provocation‹ of the crime through their sexual desirability leads them to be perceived, unconsciously, as guilty of some ›first deception‹.104

Der Grund für die ›paranoide Beschimpfung‹105 der Frau ist meines Erachtens allerdings nicht in erster Linie in einem ›irrationalen Groll‹ gegen diejenige zu suchen, die mit ihrer erotischen Attraktivität den Vatermord und mit ihm die Schuld des Mannes ›provoziert‹. Die Frau kann einerseits als einzig mögliches 102 »Pour une 8tude g8n8tique de La BÞte humaine : L’8volution de S8verine«, in Annali Istituto Universitario Orientale, Napoli, Sezione Romanza 42 (Heft 2, 2000), S. 679–705, hier S. 705. In dieser Hinsicht scheint die Wahl des Namens der S8verine nicht zufällig. S8verine ist das Pseudonym der »rebelle« Caroline R8my, die 1885 die von Jules VallHs 1871 gegründete sozialistische Zeitung Le Cri du Peuple übernommen hat. Nachdem sie zuerst 1883 als Lebensgefährtin von Adrien Guebhart die Weiterfinanzierung der Zeitung ermöglicht hatte, wird sie mit der Übernahme selbst aktiv und lebt, nachdem sie die Redaktion 1888 verlassen hat, unabhängig von ihrer Arbeit als Journalistin (Pvelyne Le Garrec: S8verine. Une rebelle [1855–1929]. Paris: Seuil 1982, S. 31–111, bes. S. 41ff., 67 u. 94). 1885 erschien im Feuilleton des Cri Zolas Germinal (siehe ebd.: S. 56). 103 Vgl. hierzu Elisabeth Bronfen: Over her Dead Body. Death, Femininity and the Aesthetic, Manchester : Manchester UP 1992. 104 Counter 2008: S. 32, kursiv im Orig. 105 »[Jacques] has somehow successfully internalized those murderous compulsions which represent the family tradition. Jacques is in this sense the product of an imaginary masculine auto-genesis, whereby patrilinearity becomes a kind of asexual reproduction in which women do not feature even as accessories or receptacles, but merely as the objects of a paranoid revilement which, as we have seen, only ever conceals patricidal urges.« (Ebd.: S. 37)

Erinnerungen an die traumatische Gründung der Republik: La Bête humaine

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Objekt männlicher Souveränität dienen, droht andererseits aber ständig damit, dem republikanischen Citoyen seine eigene, sexuell konnotierte Handlungsunfähigkeit vor Augen zu führen und diesem zu zeigen, dass er seinen Anspruch auf das Erbe der virilen Revolution nicht beweisen kann – schließlich begehrt Jacques S8verine erst aufgrund seiner mimetischen Identifikation mit Roubaud. Die Figur der Flore schließlich ist ein weiteres Beispiel für die von Hertz beschriebene Projektion politischer Ängste auf das Bild der Medusa.106 Die Projektion von Impotenzphantasien auf bedrohliche Weiblichkeit tritt deutlich zutage, als der Naturkatastrophe im Schnee das durch Flore verursachte Zugunglück folgt. Flore ist »meurtriHre«, »d’une 8nergie virile« (RM IV: 1230), eine Männer schlagende »force invincible« (RM IV: 1249) mit einem »instinct de vierge et de guerriHre« (RM IV: 1273).107 Kurz bevor Jacques sie zu Beginn des Romangeschehens sexuell zu überwältigen versucht, sieht er sie Seile mit einer Schere zerschneiden (RM IV: 1038). Als sie schließlich im Begriff ist, sich ihm hinzugeben, ergreift er die Flucht, was der Erzähler darauf zurückführt, dass der Mordtrieb, dem Jacques zu entkommen versucht, hervordrängt (RM IV: 1041f.) – wobei dieser auch ein Abwehrimpuls gegen die Bedrohung sein mag. Aus Eifersucht verursacht Flore schließlich die Katastrophe, die an Souvarines anarchischen Sabotageakt in Germinal erinnert. Mit außergewöhnlicher Kraft verstellt sie die Gleise mit einem schweren Hindernis und führt damit das Zugunglück herbei, das die Lison zerstört und im Blutbad endet. Flores Aktion kann nun als phantasmatische r88criture der Kommune gelesen werden. Diese prägte sich ihren Gegnern insbesondere im Bild von der destruktiven Frau ein, die zusammen mit den Männern auf den Barrikaden kämpfte und die Belagerung von Paris aufrecht erhielt. Die berühmteste dieser »p8troleuses«, Louise Michel, wurde bald oxymoral die »Vierge rouge« genannt.108 Man kann die die Gleise verbarrikadierende Virago demnach als Wiedergängerin der Kommunardin deuten, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich im Roman meist ›galoppierend‹ fortbewegt (RM IV: 1247, 1250, 1261 u. 1271). Flore ist also mit dem »galop fou de la colHre r8volutionnaire«109 verknüpft. Sicherlich ist es historisch unpräzise, die Kommune als eine proletarische Bewegung zu begreifen, als solche 106 Vgl. Hertz 1983: S. 27–31, vgl. auch oben Einleitung, Kap. 2. 107 Zu einer detaillierten Analyse der Figur siehe Masha Belenky : »Revenge of the Galloping Beast: Zola’s Flore«, in Excavatio. Emile Zola and Naturalism 16 (Heft 1–2, 2002), S. 67–76. 108 Vgl. zum Bild der Kommunardin Barrows 1981: S. 50 u. 52 und Pierre Milza: »L’ann8e terrible«. Bd. II: La Commune. Mars-juin 1871. Paris: Perrin 2009, S. 208–218. Die »Vierge rouge« ist die keusche Vorgängerin von Theweleits bedrohlicher ›roten Frau‹ (1980: Bd. I, S. 87ff.). 109 Borie 1971: S. 72. Mit Verweis auf eine ganze Reihe galoppierender Figuren in den RougonMacquart bezeichnet Borie den galop als ein Bild der Virilität (ebd.: S. 151–154). Er vergisst allerdings sowohl Flore als auch die junge outsider-Stute namens Nana, wenn er behauptet: »Zola ne conÅoit pas de galop f8minin […].« (Ebd.: S. 153)

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Émile Zola und der unmögliche Diskurs über die Republik

schrieb sie sich jedoch ins kollektive Gedächtnis ein.110 Sie hat sich außerdem vor allem durch die Zerstörung der Vendime-Säule als symbolische Kastration eingeprägt.111 Vor diesem Hintergrund zeugt die Flore-Handlung der BÞte humaine davon, dass die Wiederholung der nationalen Emaskulation durch die neuerliche Gründung der Republik und die deutsche Invasion 1871 überaus erfolgreich auf die phobisch besetzte Erinnerung an die Kommune sowie auf eine Angst vor der transgressiven Frau umgelenkt werden konnte.112 Schließlich ist eine der Namenspatroninnen von Zolas Figur Balzacs Flore aus La Rabouilleuse (1842), die mit einer ganzen Reihe von Revolutionssymbolen besetzt ist.113 Da Flore als Figuration der Kommunardin eine Wiederauflage Nanas ist,114 hat man auch ihr grausames Ende mit Nanas Tod zu vergleichen. Nach dem gescheiterten Anschlag auf S8verine, die in der von Jacques geführten Bahn sitzt, läuft Flore aus Verzweiflung frontal gegen einen Zug: Et, quand les hommes envoy8s / la recherche du corps le d8couvrirent, ils furent saisis de le voir si blanc, d’une blancheur de marbre. Il gisait sur la voie montante, projet8 l/ par la violence du choc, la tÞte en bouillie, les membres sans une 8gratignure, / moiti8 d8vÞtu, d’une beaut8 admirable, dans la puret8 et la force. (RM IV: 1274)

Während ihr Kopf zertrümmert wird,115 bleibt ihr Körper ebenso unversehrt wie der Körper des getöteten Grandmorin. Durch diese Parallelisierung wird Flore gewissermaßen nach dem Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Prinzip für den Mord am Präsidenten bestraft. Sie selbst war es ja gewesen, die dessen halb abgetrennten Kopf seinerzeit entdeckt hatte. Wenn der Kopf als Sitz des (›männlichen‹) Intellekts der Ort ist, an dem sich die Transgression der androgyn-virilen Frau festmachen lässt, und wenn die Figur der Flore durch ihre Assoziation mit der Kommune und durch die Kastrationsdrohung, die von ihr ausgeht, mit der Gründung der Republik in Verbindung gebracht werden kann, dann liest sich ihr Selbstmord als narrativer Racheakt. Ihr Suizid bzw. ihre Tötung durch den performativen Schreibakt – / coups de 110 Vgl. Milza 2009: S. 202–205. 111 So Leopold 2010a: S. 9. Vgl. auch Hertz 1983: S. 33–35. 112 Auch in Germinal (1885) werden die Frauen für die (wie in Sarrasine explizite) Kastration verantwortlich gemacht. Auf diegetischer Ebene ist hier zwar Maigrat Opfer und Sündenbock, auf den der wild gewordene Mob losgeht. Auf der Ebene des politischen Unbewussten jedoch sind es wiederum die Frauen, die für die Kastrationserfahrung der Republik geradestehen müssen. 113 Siehe zu Balzacs Flore Kadish 1991: S. 103 u. 107–109. 114 Siehe zu Nana sowie den Frauen in Au bonheur des dames als Figurationen der Kommunardinnen Leslie Ann Minot: »Women and the Commune. Zola’s Revisions«, in Excavatio. Emile Zola and Naturalism 10 (1997), S. 57–65. 115 Minot macht auf die Massen kopfloser Ankleidepuppen in Au bonheur des dames aufmerksam und erklärt sie mit der Furcht vor der Objektivierung von Personen in irrationalen Menschenmengen (ebd.: S. 60–64).

Erinnerungen an die traumatische Gründung der Republik: La Bête humaine

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mots – steht in Analogie zur Ermordung der Verginia vor deren bevorstehender Schändung durch den Decemvir Appius Claudius. Der Mord an Verginia sollte die symbolische Vergewaltigung der römischen Republik verhindern. Flore stirbt nun wie Verginia unberührt. Doch während bei Livius die Schändung der Republik hatte abgewehrt werden können, hat ihr Analogon 1870/71 stattgefunden: Die Preußen haben nach Sedan ihr Hauptquartier in Versailles eingerichtet und die Souveränität der französischen Nation in Frage gestellt.116 Flore wohnt nun genau an dem Ort, an dem Jacques der virilit8 auguste der herannahenden Eisenbahn und damit der impliziten Figuration des zweiten von Pr8vost-Paradol evozierten Zuges ansichtig wird. Da gerade Flore auf den abgetrennten Kopf Grandmorins aufmerksam macht und die nationale Impotenz im Krieg symbolisch vorwegnimmt, indem sie das Zugunglück verursacht, verschmilzt in ihr die Erinnerung an die Gründung der Republik mit der an die Invasion der Deutschen.117 Indem Zola bei ihrem Tod ihren Körper als nunmehr unbedrohliches Objekt inszeniert, nimmt er der Figur der Virago ihr bedrohliches, kastrierendes Potenzial. Gleichzeitig kann man dies als literarische Produktion eines reinen Körpers der republikanischen Nation lesen: Zola wiederholt an der Figur der Flore die Opferung der Jungfrau, die bei Livius der Wiederherstellung der Republik vorausgeht.118 Der Verlauf der Erzählung verhindert somit – ähnlich wie bei Nanas Tod –, dass hier eine Assoziation zur vergewaltigten Nation entsteht. Diese wäre insofern gefährlich, als sie direkt mit dem im vorbeirasenden Zug beobachteten Vatermord in Verbindung gebracht werden könnte. Man kann dies nun als Verschleierung der historischen Erfah116 Vgl. Uwe Schultz: Versailles. Die Sonne Frankreichs. München: Beck 2002, S. 174. 117 In La D8b.cle wird der Deutsche als »pHre terrible« gezeichnet, der eine Französin schwängert. Siehe hierzu sowie zur Gendersymbolik der Darstellung der Invasion Lucienne Frappier-Mazur : »Guerre, nationalisme et diff8rence sexuelle dans La D8b.cle d’Pmile Zola«, in Chantal Bertrand-Jennings (Hg.): Masculin/f8minin. Le XIXe SiHcle / l’8preuve du genre. Toronto: Centre d’Etudes du XIXe SiHcle Joseph Sable 1999, S. 167–181, hier S. 171– 174 u. 180. 118 Siehe zu Livius Koschorke et al. 2007: S. 45. Kelly Basilio hat gezeigt, dass auch die anderen kopflosen Frauen, von denen Zolas Zyklus wimmelt, zum reinen Körper bzw. Unterleib und damit zum reinen Objekt gemacht werden (»Une figure g8n8tique chez Zola ? La femme sans tÞte«, in Romantisme. Revue du Dix-NeuviHme SiHcle 138, 2007, S. 107–117, hier S. 115). Es ist demnach bezeichnend, dass sich Zola gerade in L’Œuvre mit dem Motiv der kopflosen Frau auseinandersetzt (vgl. zu L’Œuvre ebd.: S. 108–114 u. 116). Er scheint sich darüber bewusst zu sein, dass er als Literat nicht nur die Gründe für den Niedergang der Nation zu ermitteln hat, sondern auch, dass der Kunst die Aufgabe zukommt, Strategien der Bannung politischer Ängste bereitzustellen: Barbara Vinken zeigt, dass Claude Lantier in L’Œuvre den weiblichen Körper, der das Zeichen der Kastration in sich trägt, fetischistisch zu bannen versucht (»Zola – Alles Sehen, Alles Wissen, Alles Heilen. Der Fetischismus im Naturalismus«, in Rudolf Behrens/Roland Galle [Hgg.]: Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft. Würzburg: Königshausen und Neumann 1995, S. 214–226).

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Émile Zola und der unmögliche Diskurs über die Republik

rung deuten und daran erinnern, dass die imperiale Justiz im Roman S8verines Vergewaltigung ebenfalls verschleiert hatte.119 Flores Jungfräulichkeit wird allerdings schon allein durch ihren Namen durchkreuzt: Dieser erinnert an die mythische Flora ebenso wie an Balzacs Flore, an dessen Lorette Florine, an Zolas eigenes Blumenmädchen Albine sowie an die äußerst sexualisierte – und mit Preußen assoziierte – femme-fleur aus f rebours. Die solchermaßen intertextuell deflorierte Flore lässt sich damit als mehrfach kodiertes Zeichen für die republikanische Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses deuten. Die bedrohlichen Erinnerungen kann Flores ›Enthauptung‹ dennoch nicht bannen und auch nicht verhindern, dass der Roman mit der Enthauptung und Zerstückelung des mit Jacques und Pecqueux in seiner Minimalform verkörperten republikanischen Brüderbunds endet.

3.

Konflikte im Zyklus: der unmögliche republikanische Diskurs in La Débâcle und die Doppelkodierung des Charles Rougon

Zola schreibt in Nana und La BÞte humaine die Gefahren, die eine Nation in Ermangelung einer starken Führung eingeht, aus. In La D8b.cle stimmt er in den republikanischen Diskurs ein, dem zufolge nicht die Soldaten von 1870 zu schwach gewesen seien, sondern die Niederlage auf den fehlenden guten Führer zurückzuführen sei. Dieser wäre nötig gewesen, um die diffusen Energien und Kräfte zu bündeln und einem Ziel zuzuführen.120 Indem Zola die »impuissance« (RM V: 430) der Offiziere und der »soldats d8band8s« (RM V: 563) auf den schwachen Kaiser zurückführt (RM V: 562f. et passim), schreibt er die Problematik eines fehlenden potenten Ideal-Ich der Armee aus. Implizit nährt er damit die Hoffnung auf die Rettung der Nation durch einen homme providentiel. Gegen diese Schlussfolgerung entwirft er die Figur des Maurice, der sich voller Wehmut 119 Hier sei auf Judith Frömmers Analyse von Zolas La Cur8e verwiesen. Frömmer zeigt, wie dort Ren8es Vergewaltigung und damit ihre »unheimliche […] Wunde« in der Narration marginalisiert wird und in der dekorativen Ornamentalisierung der Figur untergeht, »sich aber in den Knopflöchern der Geschichte immer wieder öffnet«. Frömmer zufolge verweist diese Wunde, Ren8es »faute«, auf die revolutionäre Terreur als Sündenfall der Geschichte (2010: S. 118). Auch hier also wird, wie in La BÞte humaine, die Erinnerung an die Revolution mit der nationalen ›Vergewaltigung‹ von 1870/71 verknüpft. 120 Vgl. oben Anm. 42. Zola führt das Scheitern der geplanten »trou8e« (RM V: 409) Deutschlands auf die »paralysie lente enfin, partie de haut, de l’empereur malade, incapable d’une r8solution prompte, et qui allait envahir l’arm8e entiHre, la d8sorganiser, l’annihiler« (RM V: 410) zurück: »une sacr8e malchance pour une arm8e, un pareil chef !« (RM V: 458) Die Armee ist »un ramassis d’hommes sans coh8sion« (RM V: 442). Die kaiserliche ›Impotenz‹ wird bekanntlich – besonders in Nana – auf Exzess und Verschwendungssucht zurückgeführt sowie auf die perfide Dominanz der Kaiserin über ihren Mann, wie sie etwa in La Fortune des Rougon mit der Figur der F8licit8 Rougon ausgestaltet wird.

Konflikte im Zyklus

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an die Grande Arm8e Napoleons I. zurückerinnert und den Zola, wie Lucienne Frappier-Mazur gezeigt hat, mit weiblichen Zügen kodiert und mit dem dekadenten Zweiten Kaiserreich ebenso wie mit der Kommune assoziiert. Maurice müsse deshalb am Ende sterben und mit dem Kaiser als krankes Glied der Nation entfernt werden, bevor der revirilisierte, der Erde verbundene und gesunde Jean mit dem Wiederaufbau der Nation beginnen kann.121 Zola schließt sich auf diese Weise der Meinung Edgar Quinets an, dem zufolge der Cäsarismus der Grund für den Niedergang der Nation gewesen sei. Quinet propagiert deshalb einen Patriotismus, auf den er die Überlegenheit der preußischen Armee zurückführt und der die wahre republikanische Gesinnung ausdrücke.122 Zola steht also vor dem Problem, die Krise der Nation und die Schuld an der militärischen Unterlegenheit im Interesse der Legitimation der Republik sowohl auf den schwachen Kaiser zurückzuführen als auch gegen den Cäsarismus anzuschreiben. Es ist möglicherweise diesem Konflikt geschuldet, dass die Republik in der D8b.cle nicht zur Darstellung kommt und auch Jean am Ende keine Familie gründet.123 Mit der Figur des Maurice, so ließe sich schließen, scheidet Zola die im Zyklus immer wieder implizit ausgeschriebene Sehnsucht nach einer starken Führerpersönlichkeit als sein Abjektes124 aus. Zola muss nun erklären, auf welche Weise ein viriles republikanisches Kollektiv entstehen kann, das fähig ist, die Nation und insbesondere die bekanntlich immer wieder als fragile Frauen dargestellten Ostregionen Elsass und Lothringen zu retten.125 Die diskursive Trennung des Citoyens von der verweiblichten Nation, also die abermalige Trennung von Metapher und Metonymie, stößt in La D8b.cle an ihre Grenzen: Auf dem Schlachtfeld in Sedan liegen nur durchlöcherte Körperstümpfe (»des troncs gisaient, d8nud8s, trou8s«, RM V: 739), amputierte Glieder und verlorene Waffen; gefallene Soldaten werden mit gefällten Bäumen und massakrierten Ästen verglichen.126 Der grotesk-geöffnete 121 Frappier-Mazur 1999: S. 168–171 u. 174–178. Frappier-Mazur notiert auch Brüche in dieser Konstruktion. 122 La R8publique. Conditions de la r8g8n8ration de la France. Hg. v. Juliette Grange. Paris: Le bord de l’eau 2009, S. 91–99. Siehe zur patriotischen ›Revanche‹ einer vom Preußen geschwängerten Frau in La D8b.cle Frappier-Mazur 1999: S. 172–174. 123 Dies notiert Sandy Petrey : »La R8publique de La D8b.cle«, in Les Cahiers Naturalistes 54 (1980), S. 87–95. 124 Das Abjekte ist Julia Kristeva zufolge das Fremde innerhalb des Selbst, ein inassimilables und abzustoßendes Element, das die Grenzen des noch fragilen Ich bedroht (Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris: Seuil 1980, bes. S. 9–20). 125 Vgl. etwa die Zeichnungen von Jean-Jacques Henner : L’Alsace. Elle attend (1871) oder JeanJoseph Weerts: France !! ou L’Alsace et la Lorraine d8sesp8r8es (1906). 126 »[C]e massacre de branches pleurant leur sHve, avait l’8pouvante navr8e d’un champ de bataille humain. Puis, c’8taient aussi des cadavres, des soldats tomb8s fraternellement avec les arbres.« (RM V: 739) »[C]’8taient des d8bris d’armes, des sabres, des ba"onnettes […].« (RM V: 741)

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Kloakenkörper der geschändeten Erde, Schmutz und Schlamm drohen die Überlebenden zu affizieren (RM V: 748). Exkremente und die mit Leichen bis zum Rand gefüllte Mosel verströmen einen Verwesungsgestank, der die Figuren erbrechen lässt, ihre Körper also grotesk öffnet (RM V: 752, vgl. auch 766).127 Die Soldaten können sich kaum gegen die »boue f8tide« (RM V: 749) wehren. Schon nach einer auf dem Weg nach Sedan im Regen verbrachten Nacht drohen ihre Körper von der Zersetzung infiziert zu werden (»[L]e d8luge de la veille, dont sa capote restait lourde, lui avait laiss8 une courbature dans tous les membres.« RM V: 504). Dennoch glaubt Maurice am Ende mit Gambetta an die siegreiche, virile Republik und an eine Verteidigung gegen die Preußen: Il ne d8sesp8rait plus, comme au soir de la panique de Ch.tillon, anxieux de savoir si l’arm8e franÅaise retrouverait jamais la virilit8 de se battre […]. Si les Prussiens l’avaient arrÞt8 sur tous les points, l’arm8e ne s’en 8tait pas moins bravement battue, elle pouvait vaincre encore. (RM V: 859)

Er wendet sich von Thiers und der »Assembl8e monarchique« (RM V: 866) ab und »d8lirait / la seule id8e des dures conditions [sc. du trait8 de paix, L.Z.], l’indemnit8 des cinq milliards, Metz livr8e, l’Alsace abandonn8e, l’or et le sang de la France coulant par cette plaie, ouverte / son flanc, ingu8rissable« (RM V: 866f.). Hier wird der ambivalente Maurice wiederum zum Sprachrohr kollektiver und bald aufgegebener Hoffnungen auf eine patriotisch-republikanische Volksarmee, die den Besatzern trotzt. Das Bild von der offenen nationalen Wunde und der weiblichen Markierung der Städte und Regionen wird im folgenden und letzten Teil des Zyklus, dem Docteur Pascal (1893), in der Gegenüberstellung des ausblutenden letzten dekadenten Sprösslings der Familie mit dem kräftigen Sohn der Clotilde Rougon wiederholt: Clotildes Sohn gehört schon in die Generation, die das Kaiserreich ablösen und die Revanche vorbereiten soll. Die Metapher der Wunde, aus der 1871 mit Geld und Blut die vitale Energie der Nation fließt, korrespondiert mit dem Bild des jungen Charles, der im Jahr 1873 unter dem Blick der Tante Dide verblutet: »C’8tait le sang, la ros8e de sang qui perlait, sans froissement, sans contusion cette fois, qui sortait toute seule, s’en allait, dans l’usure l.che de la d8g8n8rescence. Les gouttes devinrent un filet mince qui coula sur l’or des images.« (RM V: 1102f.) Der wiederholt mit königlichen Attributen besetzte Charles stirbt im selben Jahr wie Napoleon III. und soll deshalb wohl als »Replik des Kaisers«128 gelesen werden, »als ein dem Untergang geweihter D8cadent«.129 127 Zur Weiblichkeitssymbolik von Schlamm und Wasser vgl. Theweleit 1980: Bd. I, S. 235–310 u. 401–422 und umgewertet Luce Irigaray : Ce sexe qui n’en est pas un. Paris: Minuit 2003, S. 105–116 u. 214f. Zum grotesken Körper siehe Bachtin 1990: S. 15–23. 128 Regn 2011: S. 257. 129 Ebd.: S. 256. Vgl. auch Warning 1999d: S. 247–249: »[M]it der Metaphorik vom Königtum

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Der kleine Charles, der in Opposition zu Charlemagne und dem von diesem begründeten Frankenreich steht, versinnbildlicht allerdings auch die Idee der ausblutenden Nation, die mindestens so sehr auf das Ende der D8b.cle zurückverweist wie auf die zeitgenössischen Diskurse über die drohende Entvölkerung des Landes. Als dessen Therapeut wird sich Zola einige Jahre später mit F8condit8 hervorzutun versuchen. Mit Charles Rougon ist Frankreich zum dekadenten Körper geworden, der seinen Lebenssaft nicht mehr einbehalten kann und ausblutet – dies wäre wohl Ausdruck des Gegenwartsbewusstseins des Textes. Schon die zeitliche Situierung des Docteur Pascal nach dem Ende des Kaiserreichs macht den Roman zu einem ›gefährlichen Supplement‹.130 Die Ambivalenz des Textes, der sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die gegenwärtige republikanische Epoche referiert, verdichtet sich dabei in einem Verb, dessen Polysemie zwei einander widersprechende Lesarten ermöglicht. Ich meine das Verb d8couper : [L]a folle ne parut pas entendre. Ses regards ne quittaient point l’enfant, dont les ciseaux achevaient de d8couper une image, un roi de pourpre au manteau d’or. […] D’une p.leur de lis, il ressemblait vraiment / un fils de ces rois qu’il d8coupait, avec ses larges yeux p.les et le ruissellement de ses cheveux blonds. Mais ce qui frappait surtout, en ce moment, c’8tait sa ressemblance avec Tante Dide […]. (RM V: 975)

Rainer Warning disambiguiert das Verb und spricht von »ausgeschnittenen Papierkönige[n]«.131 D8couper kann allerdings auch ›zerschneiden‹ bedeuten. Liest man es so, dann stirbt der kleine Charles an Nasenbluten, nachdem er einen Papierkönig zerschnitten hat.132 Dies kann nun auch die außergewöhnliche Ähnlichkeit mit Tante Dide erhellen, die Charles in diesem Moment aufweist und die Pascal mit der »h8r8dit8 logique et implacable« (RM V: 976) begründet: Charles wiederholt die revolutionäre Gründungstat der Urmutter, die signifikanterweise im Todesmoment neben ihm sitzt, und wird damit zu ihrem jungen Alter Ego. Aus der Wunde bzw. der fÞlure, die Tante Dide geschlagen hatte, läuft sollen die Rougon-Macquart stilisiert werden zu einer Familie großer und kleiner Usurpatoren, um über dieses Bildfeld Familie und Kaiserreich vergleichbar zu machen.« (Ebd.: S. 247) 130 Siehe hierzu Pascale Krumm: »Le Docteur Pascal, un (dangereux) suppl8ment ? La probl8matique f8minine dans le cycle zolien«, in Les Cahiers naturalistes 73 (1999), S. 227–240. 131 Warning 1999d: S. 248, vgl. auch 247. Er liest Charles’ Blutung gemäß dem expliziten Erzähldiskurs als Bild für das Ausbluten der Rasse bzw. des Familiengeschlechts. 132 So liest auch Frömmer das d8couper : »In seiner Selbstdarstellung ist das Zweite Kaiserreich nicht über eine sterile Wiederholung monarchischer Repräsentationsformen im Ornament hinausgekommen […]. Im letzten Band des Rougon-Macquart-Zyklus wird das Zentrum dieser Symbolwelt unter den Augen des docteur Pascal von Maximes degeneriertem Sohn Charles in Gestalt purpurfarbener Papierkönige zerschnipselt und durch das Tableau des Stammbaums ersetzt werden.« (2010: S. 118f.)

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das Blut, dessen Fluss die demente Ururgroßmutter nicht stillen kann. Die spontan einsetzende und damit der Menstruation nicht unähnliche Nasenblutung verweiblicht Charles symbolisch ebenso sehr, wie die Nation nach der Invasion der Deutschen verweiblicht worden war, wie Zola es in der D8b.cle mit einer so überaus eindeutigen Gendersymbolik beschreibt. Aus dem Loch des grotesk-offenen Körpers läuft mit dem Lebenssaft die »sHve nationale«, die Maurice BarrHs zwei Jahre zuvor im Jardin de B8r8nice verherrlicht hat.133 Dides Hirnläsion, ihre fÞlure, ruft in La Fortune des Rougon unkontrollierte Konvulsionen hervor, die, wie es Beizer notiert, als »drames secrets, qui revenaient chaque mois« (RM I: 136), mit der Menstruation assoziiert werden.134 Der junge SilvHre, der zum Sinnbild der jungen Zweiten Republik wird, versucht diese Krämpfe zu beherrschen (»ma%triser«, ebd.). Es ist deshalb umso bemerkenswerter, dass Charles’ Tod in seiner Urahnin einen »lointain souvenir emmagasin8« (RM V: 1105) weckt: die Erinnerung an die beiden Gendarmen, die erst Macquart und später SilvHre getötet hatten (ebd.). Das Bild des fragilen Charles rückt über dessen Analogon SilvHre in die assoziative Nähe zum jungen Bara, mit dem David sowohl den Heroismus als auch die Fragilität der jungen Republik ausgedrückt hatte.135 Auch Charles ist insofern über das intertextuelle Assoziationsnetz doppelt kodiert als der dekadente Spross einer Familie von Cäsaren und Königsusurpatoren in Analogie zum Kaiserreich wie auch als Exempel eines Volkes, das seinen König ›zerschnitten‹ hat, um selbst königlich-souverän zu werden, das aber am Ende des Jahrhunderts vom Aussterben bedroht zu sein scheint. Dem impliziten narrativen Imaginären zufolge stehen diese beiden Erfahrungen zumindest in temporaler, wenn nicht kausaler Kontiguität. Die über die Tante Dide generierte Assoziation mit der Revolution lässt sich nicht zuletzt historisch begründen. Erstens soll die eingekerkerte Marie-Antoinette vor ihrem Tod nicht mehr zu menstruieren aufgehört haben.136 Zweitens sollte das Blut, das aus dem abgetrennten Königshaupt gelaufen ist, den Boden der jungen Republik tränken und düngen: »Qu’un sang impur abreuve nos sillons« heißt es auf der berühmtesten Darstellung von Ludwigs Kopf und in der Marseillaise.137 Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bevölkerungsproblematik hat die Vorstellung der Revolutionäre jedoch an Überzeugungskraft verloren. Es scheint sich vielmehr die bedrohliche Idee durchzusetzen, dass mit dem Ende der Monarchie der nationale Körper selbst ›auszulaufen‹ droht. 133 Vgl. hierzu unten Kap. IV.1. 134 Beizer 1994: S. 172. 135 In den 1880er Jahren gab es wieder neue Darstellungen des toten Bara. So etwa Weerts’ La mort de Bara (1880), Henners Bara und Charles Moreau-Vauthiers Joseph Bara mort (1882). 136 Siehe zur unstillbaren Menstruationsblutung der Marie-Antoinette Vinken 2003: S. 104f. 137 Siehe zur Ambivalenz des düngenden Blutes, das in MatiHre / r8flection pour les jongleurs couronn8es [sic] aus der offenen Wunde von Ludwigs Hals läuft, Andr8 1993: S. 128–130.

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In Anbetracht dieser grundlegenden Ambivalenz eines Imaginären, das in Nana und La BÞte humaine den Blick auf eine allegorische Anders-Rede eröffnet und im Todesmoment des Charles Rougon phantasmatisch aufblitzt, lässt sich der Zyklus der Rougon-Macquart als gewaltige strategy of containment lesen, als Versuch, das bedrohliche Imaginäre von Verweiblichung, Penetrabilität, Machtvakuum und mangelnder Kontrolle, das sich an die Republik heftet, auf das Kaiserreich zu projizieren, wo es sich im ›abgesicherten Modus‹ äußern kann. Charles Rougon wird dabei zur Signatur des von Paul de Man beschriebenen Konflikts zwischen dem ›logischen‹ Aspekt eines Textes und der rhetorischen Verfasstheit der Sprache, die verwendet wird, um einen Gedanken oder eine Botschaft auszudrücken, also um etwas ›auszusagen‹. De Man geht davon aus, dass figurale Sprache unabhängig ist von Bewusstsein und bewusster Intention und dass das Bedeutende dem Bedeuteten grundsätzlich entgegensteht.138 Zolas d8couper exemplifiziert diese fundamentale Kluft von Signifikat und Signifikant, denn auch wenn die Figur des ausblutenden Charles ein Bild für einen dekadenten Napoleon III. und eine aussterbende Usurpatorenrasse sein soll, wofür das Todesdatum und explizite Attribuierungen sprechen, transportiert das Verb in seinem fiktionalen Kontext eine überschüssige Bildlichkeit, die dieser Konstruktion entgegenläuft. Auf diese Weise verdichtet sich die makroskopische Aporie des Romanzyklus mikroskopisch im Verb d8couper. Zola schneidet in den Rougon-Macquart nicht nur das Kaiserreich als abgetrennt und isoliert zu beschreibendes Gebilde, als tableau d’un rHgne mort, aus, sondern er imaginiert auch, was mit einer Nation passiert, die ihren König zerschnitten hat. Die Disambiguierung hat dann das Spätwerk zu leisten. Dieses scheint zwar semantisch so flach zu sein, dass Mehrdeutigkeiten sich gar nicht erst einschleichen können, genau das ist aber De Man zufolge unmöglich.

4.

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In F8condit8 (1899) stellt Zola die Frage, unter welchen Bedingungen die in die Defensive gedrängte republikanische Nation ihre aktive Handlungsmacht zurückerobern kann.139 Der in seiner Repetitivität monumentale Roman entwirft das Bild von einer Nation, deren Stärke in der unablässig gebärenden Frau 138 Vgl. oben Einleitung, Kap. 3, Anm. 134 und Teskey 1996: S. 156. 139 Zum moralischen, ästhetischen und ideologischen Kontext der Entstehung von F8condit8 siehe David Baguley : F8condit8 d’Emile Zola. Roman / thHse, 8vangile, mythe. Toronto: U of Toronto P 1973, S. 11–27.

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gründet140 – »le nombre, aujourd’hui, c’est plus que jamais la puissance«141 – und der ein tatkräftiger Mann zur Seite steht. Die Verkörperung der Republik in der fruchtbaren Marianne, die ihre Kinder liebend nährt und die schlechten Säfte des Kaiserreichs, wie sie allenthalben in den Rougon-Macquart fließen, mit ihrer Muttermilch auswäscht, verlangt Zola keine kreative Meisterleistung ab.142 Er überschreibt die bedrohliche Weiblichkeit aus den Rougon-Macquart und löscht vermittels der ›guten‹, reproduktiven Sexualität der Marianne alle Assoziationen der Republik mit der Hure und der »gueuse« aus.143 Bei seiner Suche nach praktikablen politischen Lösungen konstruiert das ideologisch-didaktische und therapeutische Narrativ neue Begründungen für den Niedergang der Nation und bedient sich einer Sprache, die die vieldeutigen Besetzungen aus den RougonMacquart aufzuheben antritt. Dies geht, wie zu zeigen sein wird, nicht immer ohne Gewalt vonstatten. Zu Beginn des Romans ist Frankreich am Ende. Der junge Mathieu, voller Liebe zu seiner Frau Marianne und voller Tatendrang, sieht sich dem egoistischen, ambitionierten und dem Pläsir verfallenen Pariser Bürgertum gegenüber. Dessen größte Sorge ist es, das Übel der Fortpflanzung zu umgehen, denn zu viele Kinder (das heißt meist: mehr als eines) schränken die persönliche Freiheit ein und gefährden den gesellschaftlichen Aufstieg. Sie kosten Geld und ruinieren den weiblichen Körper (1. Buch). Der für die Nation fatale Geburtenrückgang ist also nicht der – etwa der fortschreitenden Zivilisation anzulastenden – Impotenz der Franzosen bzw. Unfruchtbarkeit der Französinnen geschuldet, sondern allein dem Verhalten der unpatriotischen Bourgeois, die dem Repräsentationsstil des Kaiserreichs verhaftet geblieben sind und nicht zu politisch verantwortungsvoll agierenden Citoyens werden wollen: Die Männer verschwenden ihren kostbaren Samen bei Kokotten, Prostituierten und jungen Frauen der Unterschicht und ›betrügen‹ die Reproduktion per coitus interruptus, eine Praxis, die der Erzähler und seine Sprachrohre als »fraude« (F: 50f. et passim)

140 Vgl. Catherine Toubin-Malinas: Heurs et malheurs de la femme au XIXH siHcle. F8condit8 d’Emile Zola. Paris: Meridiens Klincksieck 1986. Zur unfruchtbaren Frau als Signum eines sterilen corpus politicum vgl. Leopold 2010b: S. 152. 141 Œuvres complHtes. Hg. v. Henri Mitterrand. Bd. XVIII: De l’Affaire aux Quatre Pvangiles (1897–1901). Paris: Nouveau Monde 2008, S. 28. Im Folgenden zitiere ich diese Ausgabe mit der Sigle F. 142 Siehe hierzu Carmen Mayer-Robin: »The Formidable Flow of Milk in Le Docteur Pascal and F8condit8: Two Feminine Allegories for the ›R8publique en marche‹«, in Excavatio. Emile Zola and Naturalism 13 (2000), S. 69–80 und Jacques Noiray : »De la catastrophe / l’apaisement : l’image du fleuve de lait dans les Villes et les Pvangiles«, in Les Cahiers Naturalistes 67 (1993), S. 141–154. 143 Siehe ausführlich zu Zolas Ausmerzung bedrohlicher weiblicher Sexualität Chantal Bertrand-Jennings: L’8ros et la femme chez Zola. De la chute au paradis retrouv8. Paris: Klincksieck 1977, S. 74 u. 109–121.

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geißeln und als Vaterlandsverrat anprangern.144 Die Frauen begehen unentschuldbare Verbrechen an der Nation, indem sie abtreiben, chirurgische Interventionen zur Empfängnisverhütung durchführen lassen und sich weigern, ihre Neugeborenen selbst zu stillen, was für diese meist tödlich endet (bes. 2. u. 3. Buch). Zola greift in seiner Darstellung der »France dont la virilit8 s’affaiblit« (F: 47) den Topos des verweiblichten Landes auf, begründet ihn aber nicht mit Sedan. Die der Nation mit der Niederlage zugefügte Wunde, aus der in der D8b.cle Frankreichs Lebenssaft geflossen war, wird umgedeutet zur Verletzung, die sich das unpatriotische Gros der Nation selbst zufügt: Frauen mit sprechenden Namen wie »la Couteau« (F: 86) bringen die Kinder bürgerlicher Mütter zu Ammen und führen sie damit dem ›Massaker‹ zu (F: 178); ›perverse‹ Frauen wie die hedonistische Baroness S8rafine verschwenden das Kapital ihrer Familien und bereiten diesen solchermaßen eine »plaie ouverte« (F: 23). Darüber hinaus lassen sie sich, um ungehemmt der Erotik und Sexualität frönen zu können, freiwillig ›kastrieren‹: »On dit que nous sommes plus de vingt mille ch.tr8es / Paris.« (F: 274) Die Lexik der »plaie affreuse, immense, toujours saignante« (F: 157), der »plaie constamment ouverte au flanc de la nation« (ebd.) verweist zwar implizit immer noch auf die Wunde von 1870, die die Souveränität der (republikanischen) Nation in Frage gestellt hatte. Sie hat allerdings eine semantische Verschiebung erfahren und mit den Kindsmorden, Abtreibungen und Amputationen der Geschlechtsorgane neue Referenten bekommen. Aus der erlittenen Erniedrigung der Nation wird ein selbstverschuldeter Tod: »Au bout, fatalement, c’8tait la d8route, la mort imb8cile de la nation.« (F: 155) Der ›gute‹ docteur Boutan geißelt die chirurgischen Eingriffe, die die bösen Ärzte vornehmen, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen das Vaterland: »si vous saviez les pratiques courantes oF en arrivent les autres […] et quel effroyable mal ils sont en train de faire / la patrie, / l’humanit8 !« (F: 204) »On coupe, on coupe, on coupe toujours et partout.« (F: 205) Frankreich produziert solchermaßen ganze Bataillone genitalamputierter Frauen (ebd., F: 274f. u. 367) und vergreift sich an seinem eigenen Körper. Zola weist den Signifikanten des Schneidens, die in La BÞte humaine die Integrität der Nation bedroht hatten und noch im Docteur Pascal angesichts des Papierkönige aus- oder zerschneidenden Charles eine problematische Ambiguität entfalten konnten, hier ganz eindeutige Signifikate zu. Die Verwendung des Begriffs der Kastration führt Toubin-Malinas darauf zurück, dass es sich bei den Eingriffen nicht um Sterilisationen handelt, bei denen die Eileiter durchtrennt werden, sondern um Entfernungen der Eierstöcke bzw. der kompletten 144 »C’8tait le mari fraudeur, le m.le affam8, et qui portait ailleurs la semence.« (F: 32) Siehe zum »gaspillage« F: 126.

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Gebärmutter.145 Diese medizinische Begründung lässt sich um eine symbolische ergänzen: Meine These ist, dass der Begriff Zola dazu dient, die nationale Kastration, die in den Rougon-Macquart immer wieder mehr oder weniger offensichtlich aufgerufen und bildlich evoziert wurde, ohne explizit als solche benannt oder einem eindeutigen Referenten zugewiesen zu werden, diskursiv zu verschieben, zu fixieren und dann auch auszusprechen.146 Tatsächlich verknüpft der Arzt den Begriff strategisch mit der Kriegsniederlage: »En dix ans, le couteau des ch.treurs de femmes nous a fait plus de mal que les balles prussiennes, pendant l’ann8e terrible.« (F: 205) Die traumatische Vorstellung der kastrierten Nation, die auch knapp dreißig Jahre später noch nicht durch die erhoffte Revanche hatte ausgelöscht werden können, wird lexikalisch gebannt im Bild der kastrierten Frau. Das nationale Trauma von 1870/ 71 wird im narrativen Diskurs jetzt nur mehr als historisches Ereignis erwähnt, das als Vergleichsfolie dient. Es erscheint mitnichten als das zu lösende Problem. Boutan spricht nur noch von preußischen Kugeln und nicht mehr von der deutschen Invasion, von der Wunde oder der Amputation Elsass-Lothringens. Jean-Marie Seillans Feststellung, dass Zolas utopischer imperialistischer Diskurs in F8condit8 Sedan schlicht vernachlässige und so tue, als habe Frankreich seine Souveränität nie verloren,147 greift meines Erachtens deshalb etwas zu kurz. Zola ist viel geschickter, wenn er der Nation selbst die Schuld an ihrem Untergang gibt und sie sich ihrer Wunde bemächtigen lässt. Denn so setzt er sie in die Lage, die Wunde selbstständig – ausgelöst durch sein pädagogisches Narrativ148 – durch simple Bewusstwerdung der negativen Konsequenzen des eigenen Verhaltens und durch ›Besserung‹ zu schließen. Der Roman wird zum Diskurs eines Verhaltenstherapeuten, der seinen Blick nicht auf die vergangenen Traumata des kranken Subjekts oder auf die komplexe Genese einer Krisenerfahrung richten will, sondern allein an der Suche nach alternativen Verhaltensweisen und deren positiven Auswirkungen auf den gegenwärtigen Zustand interessiert ist. Degenerationstheorien und Kriegserinnerungen haben in diesem Diskurs keinen Platz mehr ; nationales Leiden wird überführt in selbstbestimmtes, aktives Handeln. Zolas Determinismus ist damit fast schon einem Existenzialismus gewichen. 145 Toubin-Malinas 1986: S. 67. Vgl. auch Baguley 1973: S. 115. 146 Ähnlich verfährt Zola schon in den Rougon-Macquart: Xuan hat unlängst die These vertreten, dass er politische Konflikte und Oppositionen – wie etwa die Konfrontation der Klassen – dort »substitutiv bewältigt«, indem diese »semantisch neubesetzt und ideologisch neutralisiert« werden (2014). 147 Siehe »L’Afrique utopique de F8condit8«, in Cahiers Naturalistes 75 (2001), S. 183–202, hier S. 194. 148 Siehe zu F8condit8 als Thesenroman Baguley 1973: bes. S. 171–189 und ders.: »Du r8cit pol8mique au discours utopique : l’Pvangile r8publicain de Zola«, in Les Cahiers Naturalistes 54 (1980), S. 106–121.

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Das Kaiserreich kann zwar kurz vor der Jahrhundertwende nicht mehr als Sündenbock für die Lage der Nation dienen. Dennoch wird das kritisierte Verhalten der Franzosen als Ausdruck von dessen Nachwehen konstruiert, etwa mit der Figur der Baroness S8rafine. Die Republik hat zwar 1879 eine republikanische Regierung erhalten, Zola zufolge aber auch zwanzig Jahre später das republikanische Ideal noch längst nicht erreicht.149 Ihr fehlt nicht nur eine wahre republikanische Ideologie, sondern auch ein Volk von Citoyens, das seine Souveränität nicht nur mit ihren Rechten, sondern auch mit ihren Pflichten anerkennt. Nur Mathieu löst das Männlichkeitsideal der Revolution ein und wird, wenn er seine eigenen Kinder zu säen scheint, zum fouteur patriote: »Et il sembla un moment que Mathieu […] les semait aussi, ces chers enfants ador8s, les multipliait sans compter, / l’infini, pour que tout un petit peuple de semeurs futurs, n8s de son geste, achev.t de peupler le monde.« (F: 182) Mathieu beschläft die Erde, während sich seine Zeitgenossen weigern, zu tun, wozu sie zweifellos fähig wären (vgl. F: 368f.), und sich nur der Libertinage widmen. Es ist deshalb so unlogisch nicht, wie Toubin-Malinas meint, wenn Monsieur Angelin, der die Zeugung eines Kindes in jungen Jahren aufgeschoben hatte, schließlich blind wird (F: 257 u. 338).150 Das Paar hat durch seinen Aufschub, der es um den gewünschten männlichen Nachwuchs bringt, die Sterilität der Frau und damit die symbolische Kastration des Mannes, die sich in seiner Blindheit Ausdruck verschafft, selbst zu verantworten. Dass die in den Rougon-Macquart mit der Niederlage gegen Preußen verbundene Wunde durch ein produktives Sexualverhalten geschlossen werden kann, belegen die als Oppositionspaar angelegten Frauen Marianne Froment und Constance BeauchÞne. Während Marianne ein Kind nach dem anderen gebiert, setzt Constance auf einen einzigen Sohn, dem einmal das gesamte Erbe zufallen soll. Doch – Zolas These bedarf des Beweises – der Sohn stirbt, kurz bevor er den Betrieb des Vaters hätte übernehmen können. Dieser Tod wird, genau wie der eines anderen Einzelkindes, Reine Morange, zur »plaie b8ante, ingu8rissable« (F: 308). Nach dem Verlust ihrer Fruchtbarkeit können die Mütter ihre Wunde nicht mehr schließen. Anders bei Marianne: Deren Brustwarze ist zu Beginn noch die »crevasse« (F: 134) eingeschrieben, die auf Clotilde Rougons crevasse und damit auf die fÞlure zurückverweist.151 Die Brustwarze trägt also mit der Wunde zuerst noch die Signatur des trou, das die Brust als typisches Fetischobjekt zu verdecken hätte.152 Schon Hugo hatte die Löcher in 149 Siehe zu Zolas Kritik am Militarismus und am Klerikalismus als monarchischen Atavismen Baguley 1980: S. 114. 150 Toubin-Malinas 1986: S. 17f. 151 Siehe zu Clotildes »crevasse« Regn 2011: S. 265. 152 Vgl. zu Clotildes Brust als Fetisch Leopold 2010b: S. 147, zur enthüllten Brust der Allegorien der Republik siehe Warner 1985: S. 270, 277f. u. 282f.

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den Schiffswänden in Quatrevingt-treize als »crevasses« (Q: 63) bezeichnet.153 Die crevasse ist mit der originären Kastrationswunde der Republik und der Wunde in der Flanke der Nation verknüpft und wandert in F8condit8 von dort zu Mariannes Herzen, als auch sie und Mathieu den Verlust zweier Kinder erleiden müssen: »La plaie de leur cœur, encore mal ferm8e, se rouvrait, en un d8chirement tragique.« (F: 316, vgl. auch F: 305) Die nationale Blessur geht im melodramatischen Affekt auf und kann ganz einfach durch eine weitere Schwangerschaft geschlossen werden. Constance, die den Tod des ältesten Sohnes der Familie Froment absichtlich nicht verhindert und Mariannes Wunde damit aufgerissen hat, ist perplex, als sie dies sehen muss: »Dans sa stupeur que la brÞche, aussitit ouverte, f0t r8par8e ainsi, elle sentit la mis8rable impuissance, le n8ant de sa st8rilit8.« (F: 318) Die Geburt des jüngsten Sohnes verbannt Mariannes Verwundung dann auch endgültig in die Vergangenheit (F: 320). Zola macht sich in F8condit8 die Bevölkerungsproblematik, die im zeitgenössischen Diskurs noch als Verschärfung der nationalen Lage nach dem Krieg betrachtet wurde,154 auf äußerst wirkungsvolle Weise zunutze. Er lenkt seine Leserschaft von 1870 ab und wertet das Demographieproblem zur Aussicht auf eine nationale Regeneration um. Das kritische Thema der nationalen Emaskulation kann in F8condit8 seinen Ausdruck finden, nachdem das Lexem der Kastration eine Bedeutungsveränderung durchgemacht hat und auf ein lösbares Problem verschoben worden ist. Für die nationale Männlichkeitskrise, die in den Rougon-Macquart mit der Isotopie des trou immer wieder auf die Französische Revolution und die Urszene der Republik hindeutet, hat Zola damit eine inhärent republikanische Lösung gefunden. Die Forschung hat nun wiederholt festgestellt, dass die propagierte Lösung auf der Restauration eines funktionstüchtigen Patriarchats und einer reaktionären Genderstruktur beruhe und wenn nicht protofaschistische, so doch deutlich messianische Strukturen aufweise:155 Das (ver)weiblich(t)e corpus politicum schreit geradezu nach einem virilen Mann, der es führt; die Nation benötigt, so scheint es, einen neuen Ehemann, der sie vertreten kann und die Frauen gesellschaftspolitisch unterwirft.156 Dies geht so weit, dass der expliziten 153 Vgl. oben Einleitung, Kap. 1. 154 Vgl. Guy Dupr8: »Hier la France«, in Maurice BarrHs/Charles Maurras: La r8publique ou le roi. Correspondance in8dite (1888–1923). Hg. v. H8lHne u. Nicole Maurras. Paris: Plon 1970, S. I–LXXII, bes. S. VII u. LIX–LXI. 155 Siehe etwa Baguley 1973: S. 207f. et passim, Bertrand-Jennings 1977: S. 110, Regine Lyon: Zolas »foi nouvelle«. Zum faschistischen Syndrom in der Literatur des Fin de SiHcle. Frankfurt am Main: Peter Lang 1982, S. 110ff., 161 u. 187ff., Toubin-Malinas 1986: S. 18 und Leopold 2010b: S. 148–150 u. 166. 156 Vgl. dazu Lyon 1982: S. 211. Lyon schreibt: »Zolas Werk ist ein einziges Lazarett weiblicher Neurotikerinnen, und die neue Gesundheit kommt erst mit der Unterwerfung unter den Mann. Weiblich ist die ekelerregende Wunde des Parlaments, männlich das ›couteau ven-

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sowie der allegorischen Bestätigung der Republik ein monarchistischer Diskurs an die Seite gestellt wird, der erstere zu unterlaufen droht. Die These, dass die modernen Totalitarismen mit der demokratisch-republikanischen Ideologie verschwistert sind, ist nun nicht mehr jung.157 Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Roman selbst ein Bewusstsein darüber vermittelt, auf welche Gratwanderung er sich begibt, indem er einerseits die Republik propagiert, andererseits aber die Suche nach einem Erlöser der Nation inszeniert. Mathieus produktive Virilität kontrastiert mit der destruktiven Männlichkeit der anderen Figuren. Deren sprechende Namen wie etwa BeauchÞne machen sie zwar vermeintlich zu Inkarnationen des maskulinen Ideals des Baumes, das Maurice BarrHs zwei Jahre zuvor in Les D8racin8s propagiert hatte,158 doch bringen sie sich nicht zuletzt durch die frevelhafte »fraude« selbst um ihre affichierte Potenz. Der in der Hauptstadt reichlich konsumierte Alkohol befördert noch die Unfruchtbarkeit und ›emaskuliert‹ die Männer (F: 57). BeauchÞne ist es deshalb auch nicht vergönnt, virile Nachkommen zu zeugen; der Arzt vergleicht ihn mit einem »arbre […] inf8cond« (F: 270). Als sein Sohn erkrankt, fühlt BeauchÞne sich schwach wie eine Frau: Jamais il n’avait voulu voir Maurice malade, une telle id8e 8tant une sorte d’attentat / sa propre sant8 […]. Et, dans le premier 8crasement, il s’8tait trouv8 d’une faiblesse de femme, la chair lasse, amolli d8j/ par sa vie d’inconduite, par la d8sorganisation lente de ses facult8s. (F: 257)

Der Name ist also trügerisch, denn während die Familie BeauchÞne nach dem Tod des Sohnes ausstirbt, wird der wahre neue Baum sowohl im konkreten als auch im symbolischen Sinne von Mathieu gepflanzt (F: 319 u. 385f.). Dieser verzweigt sich innerhalb kürzester Zeit zu einem unüberblickbaren Stammbaum (F: 261f. u. 348f.), der den die Atavismen der Familie verzeichnenden arbre g8n8alogique der Rougon-Macquart ersetzt.159 Man könnte nun mit Jean-Louis Maisonneuve argumentieren, dass Zola in seinem Roman nicht wie die Nationalisten und Monarchisten oder später die geur‹, das es amputieren soll. […] [E]rst wenn der Kopf Paris sich den Leib Paris wieder untertan gemacht hat, kann er über die ganze Welt herrschen.« (Ebd.: S. 140) 157 Siehe etwa Jacob L. Talmon, dem zufolge der sozialistische sowie der nationalistische Messianismus in Rousseaus Modell des Contrat social sowie im Versuch seiner Realisierung in der Französischen Revolution gründen (Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Übertr. v. Efrath B. Kleinhaus. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1961, S. 34–45 u. 63– 150 sowie ders.: Politischer Messianismus. Die romantische Phase. Übertr. v. Efrath B. Kleinhaus. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1963, S. 21–260). 158 Vgl. hierzu unten Kap. IV.2. 159 Zum Baum als dem Bild männlicher Potenz und Selbstzeugung in La Faute de l’abb8 Mouret vgl. Frömmer 2010: S. 120 u. 122, zur biblischen Symbolik des Baumes bei Zola siehe Elizabeth Emery : »Zola and the Tree of Jesse«, in Excavatio. Emile Zola and Naturalism 11 (1998), S. 74–80.

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Faschisten nach einem Vaterersatz, einem Ehemann für die Mutter Nation sucht, sondern dass das autonome Subjekt selbst die Position des Vaters einnimmt und seine Potenz in den Dienst der Nation stellt. In dieser Hinsicht zeigt der aktiv handelnde Mathieu ein Verhalten, das Maisonneuve zufolge das eines aufgeklärten Citoyens sein sollte.160 Diese Unterscheidung dient Maisonneuve dazu, seine These der pathologischen psychischen Entwicklung der Rechtsextremen aufrechtzuerhalten.161 Der Erzähldiskurs in F8condit8 untergräbt meines Erachtens jedoch eine solche Gegenüberstellung. Denn während Maisonneuve das ›gesunde‹ republikanische Verhalten etwa eines Charles de Gaulle mit dem Königskomplex der Nationalisten, die nach der Restauration oder aber der Errichtung einer Diktatur streben, kontrastiert,162 dauert es in F8condit8 nicht lange, bis die Metapher des Baumes und der nationalen Revirilisierung durch Mathieu selbst mit einem royalistischen Vokabular verknüpft wird: Nach der Geburt seines fünften Sohnes sagt sich der Vater: »il n’est que temps que je me jette / l’œuvre, que je fonde un royaume, si je d8sire que ces enfants aient assez de soupe pour grandir !« (F: 142) Er bemächtigt sich daraufhin Stück für Stück des Landes seines Bekannten S8guin du Hordel (symbolträchtig benannt nach der Turmruine le Hordel, die sich auf seinen Ländereien befindet, F: 41), um dessen steinige Erde fruchtbar zu machen. Mathieus Vokabular geht dabei auf den Erzählerdiskurs über : »S8guin avait, lambeau / lambeau, c8d8 le domaine entier, dont Mathieu 8tait roi […].« (F: 261) Der Erzähler gebraucht diese Metaphorik immer wieder, etwa wenn Mathieu einige Jahre später vom Thron steigt (F: 319) und seine »royaut8« (F: 342) auf seinen Sohn Gervais überträgt. Mathieu wird darüber hinaus als der Ehemann der nationalsymbolisch ständig mit Marianne verknüpften Erde beschrieben (F: 347). Der republikanische erzählerische Diskurs nähert sich solchermaßen dem nach Maisonneuve rechtsextremen, nationalistischen Diskurs an. Dies gipfelt schließlich in der Beschreibung der Genealogie der Familie am Ende des letzten Buches, als Mathieu und Marianne diamantene Hochzeit feiern und die gesamte »dynastie de leur race« (F: 380) zum großen Fest einladen. Die stolze Aufzählung der Namen von Kindern und Kindeskindern bis in die vierte Generation hinein (F: 382f.) ähnelt den endlosen Fürstenkatalogen des höfischen Romans und wird schließlich auch auf den Zweig der Familie übertragen, der sich in Afrika ausgebreitet hat. Dass die Familie im Sudan »en r8publique« (F: 389) lebe, wie es der von dort angereiste Enkel Dominique behauptet, erscheint vor dem Hintergrund der exzessiv durchgespielten Königsmetaphorik zweifelhaft.163 160 161 162 163

Maisonneuve 1992: S. 78f. u. 116. Siehe ebd.: S. 61–63. Ebd.: S. 68–70, 78f. u. 102f. Vgl. zur eher feudal-reaktionären fromentinischen ›Republik‹ im Sudan und dem monar-

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Der Text scheint durchaus ein Bewusstsein über seine eigene Aporie zu vermitteln. Denn als die Familie Froment bei einer Doppelhochzeit zwei ihrer Kinder vermählen will, steigert sich die bis dahin noch rar gesäte royalistische Lexik ins Unermessliche. Rose, die älteste Tochter, bereitet ein Fest vor, bei dem die ganze Familie schon vor der Hochzeit zusammenkommt. Sie möchte, dass alle gemeinsam den Bruder und dessen Verlobte vom Bahnhof abholen:

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»Non, non ! maman, tu viendras, et tous viendront, c’est promis… Comprends donc qu’Ambroise et Andr8e, c’est, comme dans les contes, le royal couple d’un empire voisin. Mon frHre Ambroise, ayant obtenu la main d’une princesse 8trangHre, l’amHne pour nous la pr8senter… Alors, naturellement, afin de leur faire les honneurs de notre empire, / nous, Fr8d8ric et moi, nous allons / leur rencontre, accompagn8s de toute la cour. Vous Þtes la cour, vous ne pouvez pas faire autrement que de venir… Hein ? quelle pompe, quel spectacle, dans la campagne, quand nous nous d8roulerons, au retour !« Marianne, que cette gait8 d8bordante gagnait, finit par rire et par c8der. »Voici l’ordre et la marche, reprit Rose. […] Fr8d8ric et moi, nous irons / bicyclette […]. Nous emmHnerons, / bicyclette aussi, mes suivantes, mes trois petites sœurs, Louise, Madeleine, Marguerite, onze, neuf et sept ans : Åa fera l’escalier derriHre moi, un joli effet. Et nous pouvons encore accepter / bicyclette mon frHre Gr8goire, un page de treize ans, fermant l’escorte de nos augustes personnes… Tout le reste de la cour s’empile dans le char, je veux dire dans le grand break de la famille, oF l’on tient huit. Toi, la reine mHre, tu pourras garder Nicolas, ton dernier rejeton, sur les genoux. Papa, lui, n’aura que sa royaut8 de chef de dynastie / porter dignement. Et mon frHre Gervais, jeune hercule de dix-sept ans, conduira, ayant prHs de lui, sur la banquette, ma sœur Claire, dont les quinze ans fleurissent en haute sagesse… Quant aux deux a%n8s, aux illustres jumeaux, les puissants seigneurs Blaise et Denis, nous les prendrons / Janville, chez Mme Desvignes, puisqu’ils nous y attendent.« Elle triompha, elle dansa, chanta, en tapant les mains. »Ah ! pour un beau cortHge, je crois que voil/ un beau cortHge !« (F: 291, meine Hervorh.)

Gegenüber der von Rose imaginierten königlichen Prozession sehen die Nachbarn alt aus: Die neidische, nur vierköpfige Familie Lepailleur mit ihren sterilen Besitztümern hat große Mühe, den Aufmarsch der Froments zu ignorieren (F: 291f.). Die Szene steigert sich unter dem teilweise deutlich ironischen, aber dennoch sympathisierenden Blick des Erzählers zum ambivalent karnevalesken Fest. Rose führt die Königsmetaphorik immer weiter aus und kauft ein Begrüßungsgeschenk für den »royal couple«: »On ne dira pas que Nos Majest8s ne font pas bien les choses, quand elles attendent des Majest8s voisines…« (F: 296) Die distanzierende Ironie wird deutlich markiert, als Rose ihre große Familie mit Kaninchen vergleicht: »On vous en donnera des familles pareilles ! Les lapins qui nous regardent passer sont muets de stupeur et d’humiliation.« (F: 298) Die Ironie entsteht dabei durch die amüsante, aber im Hinblick auf die chisch-genealogischen Vokabular, mit dem der neugegründete Staat beschrieben wird, Seillan 2001: S. 199f.

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Symbolisierung der Familie Froment irritierende Verknüpfung, die die christliche Erlösungssymbolik des (Oster-)Hasen mit der sprichwörtlichen Fruchtbarkeit der Kaninchen eingeht. Ebenso wie der Erzähler versuchen auch Mathieu und Marianne, Roses Ideen auf Distanz zu halten: »Alors, on la plaisanta, et les parents c8dHrent / cette grande enfant, qui ne savait plus, dans son bonheur, / quel amusement se d8penser, tant la vie lui semblait en fÞte.« (F: 296) Obwohl der Erzähler Mathieu selbst schon als König bezeichnet hatte, legt er das riskante Vokabular in seiner ungezügelten Verwendung in dieser Episode Rose, die bald auch die Rückkehr zum elterlichen »ch.teau« (F: 297) anleitet, in den Mund. Die Distanzierung wird jedoch nicht konsequent durchgehalten. Der Erzähler übernimmt – vergleichbar mit der langue verte in L’Assommoir164 –, wenn auch weniger exzessiv als Rose, den Diskurs ihrer »gaiet8 d8bordante« (F: 291). Er versucht ihn dabei immer wieder mit Bezug auf das von der Figur festgelegte ›Programm‹ auf Abstand zu halten: Selon le programme arrÞt8, Gervais conduisait […]. A l’int8rieur, […] [c]’8taient d’abord Ambroise et Andr8e […]. Ensuite, c’8taient, 8galement face / face, les hauts seigneurs du pays, Mathieu et Marianne, laquelle gardait sur les genoux le petit Nicolas, de dernier prince de la lign8e […]. Enfin, les deux derniHres places se trouvaient occup8es par la petite-fille et le petit-fils des hauts seigneurs, mademoiselle Berthe et monsieur Christophe […]. Et le char s’avanÅait en grande pompe. (F: 297f.)

Die Szene erreicht einen weiteren Höhepunkt, als sich dem lexikalischen Rausch ein sintflutartiger Regen hinzugesellt. Rose will sich nicht unterstellen und fährt übermütig auf ihrem Fahrrad weiter, bis sie völlig durchnässt zuhause ankommt (F: 298f.). Innerhalb kürzester Erzählzeit vollzieht sich ein Umschwung von exzessiver Euphorie zu tragischer Dysphorie: Rose hat sich im Regen erkältet und stirbt noch in der Nacht: »ce fut la foudre, elle mourut sans un mot, sans un regard, en quelques minutes, d’une congestion pulmonaire. La foudre imb8cile, la faux aveugle qui, d’un coup, sabre tout le printemps.« (F: 301) Wie vom Blitz getroffen scheidet die Protagonistin des Festes dahin. Ihre Haare bedecken sie dabei wie ein königlicher Mantel (ebd.). Ich meine, dass der Blitz bzw. die Sense (›faux‹) so blind nicht ist, wie es der Erzählerkommentar suggeriert. Roses Tod scheint mir vielmehr eine Strafe zu sein für ihren sprachlich-imaginären Exzess, mit dem sie die Fruchtbarkeit und den (Kinder-)Reichtum ihrer Familie in eine monarchistische Lexik verpackt. Rose muss bestraft werden, weil sie das Medium ist, das der verdrängten Bedeutung des metaphorisch verwendeten, aber dennoch äußerst riskanten und auch vom Erzähler allenthalben gebrauchten Vokabulars zu einer unheimlichen, 164 Siehe hierzu Thomas Stöber : Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus-Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola. Tübingen: Narr 2006, S. 131–138.

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da exzessiven Wiederkehr verhilft. Roses Phantasien offenbaren, dass der Ausgestaltung einer revirilisierten republikanischen Nation immer ein monarchistisches Anderes eingeschrieben ist. Dieses Imaginäre steht in Opposition zum didaktisch-ideologischen Diskurs des Romans und ist deshalb bedrohlich, weil Rose den Gedanken, dass nur die Monarchie die Nation wieder aufrichten kann, an die Oberfläche des narrativen Diskurses bringt. In ihrem Tod agiert der Erzähler die Allmacht aus, die etwa David Baguley dem Schreiben des späten Zola attestiert hat.165 Man kann hierin ein Indiz dafür sehen, dass dem Text ein Bewusstsein über die ambivalente Semantik seiner Lexik eingeschrieben ist. Gleichzeitig grenzt sich die dezente Königsmetaphorik des Erzählers durch die Karnevalisierung und die quasi göttliche Strafe von Roses Bilderexzess ab. Der Roman stellt damit seine eigene Aporie ebenso deutlich aus, wie er sie zu verdecken versucht. Da die Episode auf die ersten kompromittierenden Verwendungen royalistischer Metaphern durch den Erzähler folgt, erlangt sie in gewisser Weise eine strategische Bedeutung: Man könnte meinen, dass der Erzähler hier einen Pakt mit dem Leser schließt, indem er zeigt, dass er sich der Problematik seines Vokabulars bewusst ist, aber dennoch nicht auf dessen Symbolik verzichten kann. Roses Tod zeigt auf eindrückliche Weise, dass die messianische Restauration nationaler Männlichkeit eben nicht zur Restauration der Monarchie führen darf. Genauso blitzschnell, wie Rose dahingerafft wird, eröffnet die Episode – sie beschränkt sich auf einen Bruchteil der Narration – eine blitzhafte Einsicht in die Aporie des Textes: die Einsicht darüber, dass dem republikanischen Diskurs eine problematische Sehnsucht nach der Monarchie innewohnt. Insofern ist der Text unlesbar im Sinne De Mans, da er einander ausschließende Implikationen macht.166 Der Blitz, der den Rezipienten momentan erleuchtet – als eine »sudden revelation of the discontinuity of two rhetorical codes«167 –, ist dem Roman schon explizit eingeschrieben und zeugt deshalb von dessen eigener insight. De Man kontrastiert die Einsicht des Textes mit einer rein äußerlichen und nachträglichen Illumination, die dem Leser ein Bewusstsein darüber vermittle, was das literarische Artefakt bedeute.168 Die Entmystifizierung der Ideologie, die in F8condit8 zumindest ansatzweise schon selbst enthalten ist, macht den Roman zu einem inhärent literarischen Text.169 Auch wenn er im Folgenden wieder in 165 166 167 168 169

Baguley 1980: S. 118. Vgl. De Man 1979: S. 245. Ebd.: S. 300. Siehe hierzu Godzich 1983: bes. S. XX–XXIII u. XXIX. Vgl. De Man 1983: S. 18. Der Aspekt der semantischen Aporie ist für De Man ein Kriterium für die Literarizität von Texten (vgl. Werner Hamacher : »Unlesbarkeit«, in Paul de Man: Allegorien des Lesens. Übers. v. W. H. u. Peter Krumme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 7–26, hier S. 9).

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seine frühere Blindheit zurückfällt oder zurückzufallen scheint, hat die momentane Selbstentmystifizierung doch stattgefunden. Da die Imagination viriler Macht und Stärke der Assoziation mit der Monarchie kaum entgehen zu können scheint, ist es umso wichtiger, dass der Erzähler seinen metaphorischen Royalismus von anderen Formen des Königtums unterscheidet. Über den eben beschriebenen Exorzismus monarchisch-dynastischer Ideen aus dem republikanischen Diskurs hinaus grenzt der Roman seine Vorstellungen zur nationalen Regeneration von restauratorischen und cäsaristischen Ideen ab. Rose nämlich imaginiert ein repräsentatives Königtum, das mit Aufmärschen zum Spektakel wird und der Effekthascherei verfällt (F: 292f.). Sie will – anders als ihre Mutter – mit ihrer großen Familie gesehen und bewundert werden: [I]ls nous admirent tous, regarde-les !… Est-ce drile, maman, que tu ne sois pas plus orgueilleuse de toi et de nous ! – J’en suis tellement orgueilleuse, que je crains d’humilier les autres. (F: 293)

Die royalistische Metaphorik kippt bei Rose um in den Diskurs eines selbstverherrlichenden Königtums, das dem ähnelt, mit dem auch die Ambitionen der Pariser Bourgeois verglichen werden. BeauchÞnes Sohn etwa wird als »futur prince« (F: 379), als »dauphin«, als »roi tout-puissant de demain« (F: 263) beschrieben. Die sozial ambitionierten Morange nennen ihre Tochter Reine und sparen am Heizöl, um sich »des sorties princiHres« (F: 55) leisten zu können. Dieses Königtum der Fassade verweist auf das Kaiserreich zurück und wird als solches dem Untergang geweiht. F8condit8 distanziert sich aber nicht nur von restaurativen Tendenzen, sondern auch von der Passivität eines politischen Messianismus, wie sie etwa dem Boulangismus eignet. Die Figur der Constance kann als Vertreterin dieser Art von Messianismus gedeutet werden. BeauchÞnes Frau wartet mit der passiven Standhaftigkeit, die schon ihr Vorname kennzeichnet, darauf, dass ihr Sohn Maurice – ein diskreter Hinweis auf Maurice BarrHs, den Apologeten des politischen Messianismus?170 – einmal die Direktion des Unternehmens ihres Mannes übernehmen und reich wird. Nach Maurices Tod hofft sie vergeblich auf einen neuen Sohn, einen »fils qui purifierait, qui sauverait la maison« (F: 238), auf einen Helden, ein »miracle, […] quelque sauveur lui tombant du ciel« (F: 353). Sie verbringt ihr Leben ebenso im permanenten Aufschub und in der Abhängigkeit von einem von außen kommenden homme providentiel wie die Familie Morange, die auf den prince charmant für ihre Tochter Reine wartet, damit dieser ihr sowie ihren Eltern ein besseres Leben ermögliche. Ein solcher 170 Auch den Namen Constance kennt man von der Tour de Constance in Aigues-Mortes aus BarrHs’ Roman Le Jardin de B8r8nice (1891); vgl. hierzu unten Kap. IV.1.

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Messianismus, der sich im passiven Warten auf den Erlöser erschöpft, kann das Ziel für Zola nicht sein. Denn das Ausbleiben des Retters würde die nationale Kastration nur perpetuieren. So ist Constance seit dem Tod ihres Sohnes selbst kastriert: »Chez Constance, au lendemain de l’horrible douleur, de cette perte soudaine de Maurice qui la laissait amput8e et saignante, il y avait la sensation affreuse d’une infirme dont un membre a 8t8 tranch8.« (F: 263, ähnlich auch 366)171 Der Anblick der Fertilität ihrer Konkurrentin Marianne versetzt Constance permanent einen kastrierenden Axthieb: »Marianne f8conde encore dans la f8condit8 de son fils […]. Et le coup de hache retentissait plus affreusement au cœur de Constance, l’arbre coup8 / sa racine, l’unique rejeton tranch8, plus rien / na%tre d’elle.« (F: 259f., vgl. auch 286) Eine Analogie zur Konkurrenz zwischen Frankreich und Deutschland tut sich spätestens dann auf, als der Verlust des »roi tout-puissant de demain« dazu führt, dass Constance als Bild der vergeblich wartenden Nation ihr Haus und das Unternehmen ihres Mannes an die fruchtbareren Froments verliert (F: 263).172 Zola maßregelt Constances Hoffnung auf den Erlöser schließlich, indem er ihr ihren ›Retter‹ und Rächer an den Froments in Gestalt eines Kindes, das ihr Mann im Ehebruch gezeugt hat, schickt. Der Spott, mit dem der Erzähler Constance die Worte »Il y a douze ans que j’attends un coup du destin, et le voil/ !« (F: 359) in den Mund legt, ist unüberhörbar, denn der vermeintliche Retter ist ein bei einer Pflegemutter aufgewachsener Nichtsnutz und wird nach seiner Rückkehr nach Paris zum Dieb und zum Mörder. Die Ohnmacht oder Impotenz, mit der der Roman diese Art von Messianismus assoziiert, hat Zola BarrHs explizit vorgeworfen. In einem seiner Dossiers schreibt er : Un impuissant, qui tombe au pessimisme, parce qu’il ne peut go0ter la vie et qu’il accuse la vie au lieu d’accuser son impuissance. Impuissance de la volont8, incapable de r8agir contre le milieu, tombe adorateur de soi (BarrHs).173

Zola reflektiert also den inszenierten politischen Messianismus sowie zeitgenössische Messianismen in F8condit8 selbst. Demgegenüber propagiert er den Glauben daran, dass jeder – das heißt: jeder Mann – zum Retter der Nation werden kann, wenn er nur genügend patriotischen Willen beweist. Zum er171 Siehe zu Freuds Vorstellung, der zufolge das Kind einer Frau als Ersatz für ihren geschlechtlichen ›Mangel‹ dient, »Einige Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds« [1925], in ders.: Studienausgabe. Bd. V: Sexualleben. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main: Fischer 1972, S. 253–266, hier S. 260–264 sowie ders. 1972b: S. 249f. 172 Die Bevölkerung Deutschlands lag zu der Zeit zahlenmäßig bekanntlich weit über der von Frankreich (siehe Baguley 1973: S. 31). 173 Fol. 573, zit. nach Baguley 1973: S. 133.

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folgreichen Test der nationalen Virilität und der »semence f8conde« des Franzosen kommt es dann im Kolonialismus.174 Dessen Beschreibung wiederholt die Penetrationssymbolik, mit der Zola in La D8b.cle die deutsche Invasion belegt hatte. Und so wird in der euphorischen Imagination schließlich auch die Lokomotive, die in La BÞte humaine noch an der Schneewand gescheitert war, die Sahara in Richtung Süden durchstoßen können, »lorsque la France aura ouvert cette route« (F: 391). In der utopischen Zukunft von F8condit8 wird das passive Opfer der D8b.cle, »la France ouverte« (RM V: 418), zum Agens geworden sein. Die von Zola propagierte Herrschaft ist eine Meritokratie, in der sich die Souveränität eines königlichen Volkes nicht weitervererbt, sondern durch aktives Handeln erwerben lässt. Diskursiv verorten sich Zolas literarische Phantasien in der zeitgenössischen Reflexion über den Staatsbegriff. Der Sozialist Henri Michel etwa sucht nach einer Vorstellung des Staates, die, anders als in den meisten sozialistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, nicht mit dem Individualismus der Aufklärung bricht.175 Der Staatssozialismus funktioniert seines Erachtens nach dem Prinzip des aufgeklärten Absolutismus: Zwar bemühe er sich um das Wohl seiner Bürger, diene in letzter Instanz aber nur sich selbst. Er übernehme die Vormundschaft über den Citoyen und beraube diesen somit seiner Mündigkeit. Michel zufolge müsse ein Staat seinen Pflichten gegenüber seinen mündigen Bürgern nachkommen und den Unmündigen zu Mündigkeit und aktiver Handlungsfähigkeit verhelfen. Nur so seien der Individualismus und der Staatsbegriff nach Rousseau im Sinne der Französischen Revolution zu vereinen.176 Diesen Prinzipien folgt nun auch Mathieu Froment. Er gleicht als

174 Siehe zum Kolonialismus als Test republikanisch-nationaler Virilität Robert Aldrich: »Colonial Man«, in Christopher E. Forth/Bertrand Taithe (Hgg.): French Masculinities. History, Culture and Politics. New York u. a.: Palgrave Macmillan 2007, S. 123–140, bes. S. 123. Vgl. zum Kolonialismus in F8condit8 Lyon 1982: 144f. und Seillan 2001. Während der Kolonialismus bei Zola zum Test und zur Bestätigung nationaler Potenz wird, feiert ihn beispielsweise EugHne-Melchior de Vogü8s Ma%tre de la mer (1903) als Mittel der Rückeroberung der französischen Stärke. Wenn die französische Republik beim imperialistischen Wettstreit der Großmächte mithalten kann, dann ist ihr Virilitätsproblem gelöst und man hat der antirepublikanischen Opposition gezeigt, dass die Nation dafür keines Königs oder Cäsaren bedarf. Exemplarisch verdeutlicht dies ein Brief vom Conseil municipal de Lons-leSaunier an Jules Ferry, den Apologeten des Kolonialismus: »vous r8ussissiez, au point de vue ext8rieur, dans ce pays r8publicain, entour8 de voisins puissants et jaloux, / relever / un haut degr8, dans les conseils de l’Europe, le prestige longtemps effac8 de notre dignit8 nationale.« (Abgedruckt in Duclert 2010: S. 194) Dass es dem republikanischen Frankreich mehr um die Eroberung als die propagierte Zivilisationsmission zu gehen schien, kritisiert schon Francis Charmes 1898 in seiner »Chronique de la Quinzaine« in der Revue des deux mondes 150 (Nov.-Dez.), S. 469–480. 175 L’Id8e de l’Etat. Essai critique sur l’histoire des th8ories sociales et politiques en France depuis la R8volution. 3., durchges. Aufl. Paris: Hachette 1898, S. V u. 417. 176 Ebd.: S. 88f. u. 578f. Michel beruft sich auf Rousseaus Plädoyer für die Stärke des Staates um

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liebender Vater zwar einem aufgeklärten Monarchen, der sich um das Wohl des Volkes sorgt; er nimmt den sozial Benachteiligten ihre Last jedoch niemals ab oder bestimmt über sie. Vielmehr agiert er, beispielsweise gegenüber der jungen Mutter und Arbeiterin Norine, nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Mathieu versucht nicht, Norine zu überreden oder gar zu zwingen, ihr Kind zu behalten, als sie es weggeben möchte. Er respektiert ihren Willen, hilft ihr aber, unabhängig zu werden und für sich selbst zu sorgen. Ähnlich verhält er sich gegenüber seinem Sohn Gr8goire, dem einzigen Sprössling, der der Familie Probleme bereitet, weil er nicht arbeiten will. Mathieu appelliert an Gr8goires Einsicht und lässt ihm die Freiheit, die Frau seiner Wahl zu heiraten, obwohl er diese Ehe selbst nicht gutheißt. Nach diesem Vertrauensbeweis integriert sich Gr8goire freiwillig in die Gesellschaft und wird zu deren produktivem Mitglied (F: 342–348). Zola gibt dem Franzosen mit Mathieu ein neues Identifikationsmodell an die Hand, das das virtuelle republikanische Ich-Ideal verkörpert und als literarische Figur auf der Ebene des Symbolischen bleibt, dabei jedoch des didaktischen Narrativs und der Veranschaulichung bedarf. In F8condit8 sucht er nach einer Staatsform, die die Problematik der Republik zu überwinden versucht, ohne politisch reaktionäre Lösungen zu propagieren. Der Roman präsentiert sich von dieser Warte nicht nur als Thesenroman, sondern zeugt auch von einer Einsicht in die Aporien, die er produziert und mit denen er umzugehen hat. Um den Widerspruch von Republik und Fertilität, den etwa Balzac in La Vieille Fille etabliert hatte und der auch noch in F8condit8 thematisiert wird,177 aufzulösen, muss der Text den parasitären royalistischen Diskurs, der sich immer wieder in seinen Fruchtbarkeitsdiskurs einschleicht, exorzistisch ausscheiden. Indem Zola (Re-)Produktivität sprachlich mit der Monarchie assoziiert, bestätigt er diesen ›Widerspruch‹ allerdings selbst. Die Narration kann ihre Ambivalenzen nicht ganz auflösen. Die verbleibenden Rückstände der royalistischen Metaphorik lassen sich insofern als royal remains bezeichnen, als »Schatten des Königs«178, den der Text zu bannen und, wie es die Rose-Episode zeigt, mit einiger Gewalt zu kontrollieren versucht. Dies zeigt allerdings, wie sehr das republikanische Denken von seinem Anderen bestimmt ist. In diesem Sinne ließe sich der Roman als reflektierte strategy of containment lesen: Er löst seinen Konflikt nur auf rein ästhetisch-narrativer Ebene – mit dem Tod der Rose und der Tabuisierung ihrer entgrenzten Sprache –, macht aber mittels dieser Lösung der Freiheit des Individuums willen: »il n’y a que la force de l’Etat qui fasse la libert8 de ses membres.« (CS2 : 394, vgl. Michel 1898: S. 83) 177 Der Malthusianer S8guin du Hordel sagt zu Mathieu: »vous devez Þtre r8publicain, n’est-ce pas ? Eh bien ! il est 8galement prouv8 que la tyrannie augmente les hommes en nombre, tandis que la libert8 les augmente en valeur.« (F: 46, vgl. hierzu auch Baguley 1980: S. 11) 178 Vgl. hierzu oben Einleitung, Kap. 2, bes. Anm. 94.

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die Problematik auch sichtbar und thematisiert sie erzählerisch. Angesichts der ausgestellten Spannung ist er dann gar nicht so ästhetisch »unlesbar«, wie man ihn häufig charakterisiert.179 Dass er für uns heute ideologisch unlesbar ist, liegt an den patriarchalen biopolitischen und nationalistisch-hegemonialen Prinzipien.180 Hierin zeigt sich das Dilemma der Epoche, das darin besteht, dass mit einem systempolitischen Fortschrittsdenken (im Sinne der Ablösung der Monarchie durch die Republik) solange ein soziopolitisches Reaktionäres verknüpft ist, wie der Primat der Nation, das Gründungsprinzip der Republik, an die Suche nach der Verwirklichung des Souveränitätsprinzips gebunden ist. Diese Suche dekonstruiert sich im Übrigen in F8condit8 selbst, wenn Mathieu die nationale Souveränität restauriert, indem er eine bis zum Horizont reichende landwirtschaftliche Fläche erobert.181 Georg Simmel zufolge ist die Herrschaft über ein Gebiet »begrifflich gesehen nur der Ausdruck und als juristische Tatsache die Folge der Ausnahmslosigkeit, mit der der Staat die wirklichen und möglichen Subjekte innerhalb seiner Grenzen beherrscht«.182 Die Staatsfunktion kann, so Simmel weiter, »immer nur die Beherrschung von Personen sein, und die Herrschaft über das Gebiet in demselben Sinne wäre ein Nonsens.«183 Mathieus Herrschaft ist ein solcher Nonsens, denn auf dem Boden, über den er regiert, lebt niemand. Die Franzosen und allen voran die Pariser Bevölkerung sterben nach und nach aus. Nicht einmal seine Kinder finden Platz auf Mathieus Land. Außer einem Sohn und einer Tochter, die die Eltern direkt beerben, müssen sie sich ihren eigenen Platz in der Welt suchen – außerhalb des väterlichen ›Herrschaftsgebiets‹. Einer der letztgeborenen Söhne muss sogar Frankreich verlassen: »la patrie, devenue trop 8troite, n’avait plus de champ pour lui« (F: 351). Der Erzähler begrüßt dies zwar als Möglichkeit, das Vaterland nach Afrika zu expandieren. Die Froments produzieren in der Kolonie aber außer dem fruchtbaren Land nur einen »d8sert humain«184. Hier und mehr noch in der Rose-Episode zeugt der nationalallegorische Impetus des Romans von der Gewalt, die der Allegorie Gordon Teskey zufolge eignet: Denn der kulturelle Zweck der Allegorie bestehe darin, menschliche Erfahrung über die Interpretation in ein Arrangement visueller Formen, in eine Ideologie zu übersetzen. Insbeson179 Siehe etwa Warning 1999d: S. 267 und Baguley 1980: S. 107. Vgl. zur ›Literarizität‹ im Sinne De Mans oben Anm. 169. 180 Siehe hierzu Lyon 1982: S. 110–212. 181 Vgl. zur Überführung des abgründigen trou in eine fruchtbare horizontale Fläche sowie zur Entleerung der Ambivalenz, die dem Loch in den Rougon-Macquart geeignet hatte, Leopold 2010b: S. 151–154. 182 »Über räumliche Projektionen sozialer Formen«, in Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hgg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 304–315, hier S. 305. 183 Ebd. 184 Seillan 2001: S. 192.

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dere konzeptuelle Dilemmata motivieren, so Teskey, einen allegorischen Ausdruck, der Heterogenes in Harmonie überführen solle. Den Zwang und die Gewalt, die nötig sind, um Ordnung aus dem Chaos zu schaffen, setzt er in Analogie zu Gewalt gegen Körper.185 Dass der Roman die kolonialistische Gewalt in Afrika ausspart,186 zeugt nur umso mehr von der gewaltsam-allegorischen Überführung der lebensweltlichen Erfahrung in ideologisch eindeutigen Text. Mit F8condit8 versucht Zola, die Metapher und die Metonymie der Nation, die in f rebours wie in Nana zusammengefallen waren, auseinanderzureißen und auf die Figuren der Marianne und des Mathieu zu verteilen. Dass es für diese Allegorisierung einiger Gewalt bedarf, offenbart sich auf diegetischer Ebene nicht zuletzt in der Gewalt gegen den Körper der Rose.

185 Teskey 1996: S. xif., 76 u. 163, vgl. auch Einleitung, Kap. 3, Anm. 133. 186 Vgl. Seillan 2001: S. 192–197. Vgl. ebd.: S. 202 zur »ambigu"t8 essentielle« des Romans.

III.

Politische Allianzen: Zur Homosexualisierung der Nation in Jean Lorrains Monsieur de Phocas

Jean Lorrains Monsieur de Phocas (1901), ein bei seinem Erscheinen erfolgreicher und bis heute in der Dekadenzforschung zentraler und vielbesprochener Roman, präsentiert nach Des Esseintes einen weiteren typischen Vertreter der Spezies des Aristokraten, der als Überlebender einer untergegangenen Epoche der Demokratie zu entfliehen versucht.1 Sein Protagonist, der Duc de Fr8neuse, beschreibt in Form autodiegetischer Tagebucheinträge seine Neurosen, dekadent-morbiden Faszinationen und Mordgelüste sowie seine Bekanntschaft mit dem Engländer Claudius Ethal. Dieser verspricht, ihn von seiner Besessenheit von einer gewissen blau-grünen »chose«2 zu heilen, treibt ihn aber nur immer tiefer in den Morast der zeitgenössischen Entdifferenzierungskrise.3 Nachdem Fr8neuse vom Iren Thomas Welcime vor dem Einfluss des englischen Sadisten, in dessen Macht Welcime selbst einst gestanden habe, gewarnt worden ist, entledigt er sich Ethals in einem finalen Akt der Selbstermächtigung. Anschließend nimmt er einen neuen Namen an – Monsieur de Phocas –, bevor er seine Aufzeichnungen einem entfernten Bekannten, dem fiktiven Herausgeber seines Manuskripts, vermacht, um schließlich nach Ägypten auszureisen. Der skizzierten oberflächlichen Handlungsprogression läuft eine Wiederholungsstruktur entgegen, die den Roman zu einem ähnlich neurotischen Text 1 Vgl. oben Kap. I.1. Michel DesbruHres nennt den Roman einen »arch8type du roman 1900« (»Pr8face«, in Jean Lorrain: Histoires de masques. Saint-Cyr-sur-Loire: Pirot 1987, S. 9–15, hier S. 12, vgl. auch Phillip Winn: Sexualit8s d8cadentes chez Jean Lorrain. Le h8ros fin de sexe. Amsterdam: Rodopi 1997, S. 204). Zu Phocas als Bestiarium zeitgenössischer Devianzen und Laster sowie als Collage der Ideen des Fin de SiHcle vgl. Mario Praz: La chair, la mort et le diable dans la litt8rature du XIXe siHcle. Le romantisme noir. Übers. v. Constance Thompson Pasquali. Paris: Deno[l 1977, S. 294, Gwenhael Ponnau: La folie dans la litt8rature fantastique. Paris: CNRS 1987, S. 277 und Winn 1997: S. 162. 2 Monsieur de Phocas. Hg. v. H8lHne Zinck. Paris: Flammarion 2001, S. 55. Ich zitiere diese Ausgabe im Folgenden mit der Sigle MP. 3 Zum »mal de l’indiff8renciation« als zentralem Thema bei Lorrain vgl. Jean Luc Cachia: »Jean Lorrain ou la Belle Epoque travestie«, in Europe. Revue litt8raire mensuelle 63 (Nr. 672, 1985), S. 166–177, hier S. 172.

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Politische Allianzen: Jean Lorrains Monsieur de Phocas

macht wie seine Vorlage f rebours.4 Der zeitgenössische Rezensent Pierre de Querlon beschreibt seinen Leseeindruck folgendermaßen: DHs la premiHre page du manuscrit, on voit qu’il n’y a pas d’issue possible, que d’8pisode en 8pisode on restera sur place, que le livre finira comme il a commenc8. Le lecteur ne peut pas s’y attacher, go0ter les d8tails admirables, jouir de cette cr8ation puissante de vie maladive, de ces r8v8lations admirables qui se succHdent de page en page dans ce livre qui ne comprend pour ainsi dire qu’un seul chapitre, trHs beau mais d’une longueur infinie.5

Dieser Gegensatz von Progression und Zirkularität ist nur eine von mehreren Ambivalenzen, die den Roman charakterisieren. Die Forschung hat immer wieder betont, dass der Text geradezu obsessiv um einen nicht benannten Ursprung kreise und der Schreibprozess seinen Auslöser unterdrücke. Auf formaler Ebene schlägt sich diese elliptische Struktur in der fragmentierten Aneinanderreihung von Tagebucheinträgen und vereinzelten Briefen nieder. Außerdem gibt der fiktive Herausgeber vor, Fr8neuses Manuskript zensiert zu haben: »Je les [sc. les pages confi8es, L.Z.] transcris telles quelles dans le d8sordre incoh8rent des dates, mais en supprimant, n8anmoins, quelques-unes d’une 8criture trop hardie pour pouvoir Þtre imprim8es.« (MP: 60) Er suggeriert hiermit, dass er selbst das Unaussprechliche kenne und es dem Leser bewusst vorenthalte. Die Forschung hat diese Aussage ernstgenommen und dem Unbenennbaren einen Namen zu geben versucht. Jean-Louis Cornille nennt es ›die Medusa‹ als den Urgrund der unzähligen in den Aufzeichnungen geschilderten Kastrationsphantasien und -drohungen: »elle [sc. la m8duse, L.Z.] fait trou dans le texte, puisqu’on ne peut la regarder (ici : la nommer) sans mourir.«6 Während er einen mythischen Auslöser der dekadenten Phantasien anführt, sind es H8lHne Zinck zufolge die Triebe der Wollust, der Mordlust und des unerhörten homosexuellen Begehrens, die Fr8neuses Unbewusstes beherrschen,7 wobei allerdings nur letzteres im Text tatsächlich unausgesprochen bleibt. Die Homoerotik wurde oft zur zentralen Analysekategorie des Romans gemacht, was sich, wie es etwa die einlässliche Lektüre von Michael du Plessis zeigt, auch als fruchtbar erwies.8 Dennoch zeichnen sich Deutungen, die in erster Linie 4 Zu Lorrains teilweise plagiierender r88criture von f rebours vgl. Gwenha[l Ponnau: »L’8criture dans les marges«, in Europe. Revue litt8raire mensuelle 69 (Nr. 751, 1991), S. 84–91 und Zinck in MP: 311–313. 5 »Jean Lorrain. – Monsieur de Phocas, Paris, 1901, Ollendorff, I vol. gr. – in 18 de 410 pages«, in La Chronique des Livres (25. Juli 1901), S. 57f., hier S. 58. 6 »L’œil, la gorgone«, in Litt8rature 25 (1977), S. 83–99, hier S. 93, vgl. auch S. 86. 7 Zinck in MP: 38f. 8 »Unspeakable Writing: Jean Lorrain’s Monsieur de Phocas«, in French Forum 27 (Heft 2, 2002), S. 65–91. Zur Homoerotik bei Lorrain vgl. auch Winn 1997, Philippe Martin-Lau: »›Et Narkiss se mira…‹ : Regard sur l’8criture h8t8romosexuelle de Jean Lorrain«, in Dalhousie French Studies 61 (2002), S. 49–61, Patrick Dubuis: »Repr8sentations de l’homosexualit8 dans

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nach Indizien für ein solches Begehren suchen, dadurch aus, dass sie dem fiktiven Herausgeber und dessen Behauptung einer bewussten Zensur vertrauen. Jennifer Birkett hat einen anderen Weg eingeschlagen und das politische Unbewusste des Phocas untersucht. Ihr zufolge zeugen die manifesten Phantasien von der Erfahrung des Fin de SiHcle, dass die permanenten Machtkämpfe aller Klassen und politischen Gruppierungen, von denen keine jemals endgültig die Macht ergreifen kann, in Gewalt und Chaos umschlagen.9 Infolgedessen sei das verbrecherische Böse das Einzige, was die moderne Gesellschaft vereint.10 Die Ambivalenzen und Spannungen in den Texten der Dekadenz liest Birkett als Zeugnis des Konflikts zwischen dem individuellen Wunsch nach Freiheit und der Sehnsucht nach gesellschaftlicher Ordnung. Im Phocas äußere sich dies besonders im Widerstreit des homoerotischen Begehrens mit den Schuldgefühlen, die dieses hervorruft.11 Dies stützt Jamesons These, wonach die Widersprüche innerhalb eines ästhetischen Werks Auskunft über nicht gelöste Konflikte einer Gesellschaft geben. Birketts Deutung des in erster Linie soziopolitischen Subtextes soll im Folgenden um einen nationalpolitischen Aspekt erweitert werden. Während Birkett den Roman insbesondere thematisch im Gesamtkontext von Lorrains Werk liest, möchte ich außerdem näher untersuchen, auf welche Weise der Text den dekadenten Phantasien einerseits eine politische Bedeutung verleiht und welche Strategien er andererseits anwendet, um das Politische zu einer verschobenen Darstellung zu bringen und dabei fixierend zu bannen. Der ästhetizistische Roman, dessen Fokus bisweilen mehr auf der poetischen als auf der referentiellen Sprachfunktion liegt, bietet sich für die Analyse formaler Fixierungen politischer Konflikte besonders an, wobei sich vornehmlich auch die Frage nach der Reflexion dieser Mechanismen stellt.

1.

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Die 35 Kapitel des Monsieur de Phocas sind unter dem Titel Astart8 zwischen Juni 1899 und August 1900 auf der ersten Seite der Tageszeitung Le Journal erschienen, bevor sie 1901 in Buchform unter dem neuen Titel veröffentlicht wurden.12 Lorrain hat dieser Ausgabe eine Widmung an Paul Adam vorangestellt und darin seine Bewunderung für dessen Romane La Force (1899), den ersten

9 10 11 12

Les Noronsoff«, in Inverses. Litt8ratures, arts et homosexualit8s 7 (2007), S. 25–35 und Samuel Minne: »R8v8lation onirique: ›Les Trous du masque‹ de Jean Lorrain«, in Inverses. Litt8ratures, arts et homosexualit8s 7 (2007), S. 37–44. Birkett 1986: S. 6 u. 201. Ebd.: S. 196. Ebd.: S. 5, 192, 201 u. 221. Siehe Zinck in MP: 342.

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Teil einer Tetralogie über das Erste Kaiserreich, und Le MystHre des foules (1895), einen boulangistischen Roman, geäußert: Mon cher Paul Adam, Voulez-vous me permettre de d8dier, autant / l’auteur de la Force et du MystHre des Foules qu’/ l’ami s0r et / l’artiste rare, l’8vocation de ces misHres et de ces tristesses, en t8moignage de mon admiration et de ma sympathie grandes pour le caractHre de l’homme et la probit8 de l’8crivain. Jean Lorrain. Cannes, 1er mai 1901 (MP: 47, kursiv im Orig.)

Der ironisch gefärbte Hinweis auf die folgenden Beschreibungen miserabler und trauriger Zustände kontrastiert das dekadente Frankreich mit der Hoffnung auf Regeneration, wie sie während der Boulangerkrise13 zum Ausdruck kam, als die Pariser Massen den General Boulanger als Nachfolger Napoleons und Begründer einer neuerstarkten, vereinten Nation feierten.14 Der im Paratext etablierte Kontrast, der die Romanhandlung von Beginn an in einen nationalpolitischen Kontext und vor den Hintergrund der Suche nach einem homme providentiel stellt, wird im erweiterten Incipit noch ausgeführt. Nachdem der fiktive Herausgeber den D8cadent Phocas und seine Erinnerungen an den Duc de Fr8neuse, unter dessen Namen Monsieur de Phocas ihm bislang bekannt gewesen war, in einer homodiegetischen Einleitung präsentiert hat, lässt er Fr8neuses Aufzeichnungen für sich sprechen. Dessen »impressions personnelles« (MP: 60) beginnen im April 1891: 8 avril 1891. – L’obsc8nit8 des narines et des bouches, l’ignominieuse cupidit8 des sourires des femmes rencontr8es dans la rue, la bassesse sournoise et tout le cit8 hyHne et bÞtes fauves, prÞtes / mordre, des commerÅants dans leurs boutiques et des pro13 Nach der Schnäbele-Affäre, einem diplomatischen Konflikt im deutsch-französischen Grenzgebiet im April 1887, entfachte die Ligue des Patriotes mit ihrem Kult um den kurz zuvor zum Außenminister ernannten General Boulanger eine Masseneuphorie. Nachdem der kriegstreiberische Populist Boulanger in der Affäre Deutschland gegenüber sehr vehement aufgetreten war, meinten seine Anhänger, in ihm die Verkörperung der ersehnten Revanche gegenüber Deutschland zu erkennen. Die Bewegung war von radikalen Republikanern und Bonapartisten unterstützt worden, bevor sich ihr Ende des Jahres auch Royalisten anschlossen. Nach ersten Erfolgen bei Parlamentswahlen 1888/89, in denen Boulanger eine beträchtliche Anzahl von Stimmen erzielte, drängte insbesondere Paul D8roulHde, einer der Gründer der Ligue, der das Volk hinter Boulanger glaubte, den General zum Staatsstreich. Der zählte jedoch auf einen legalen Wahlsieg, weshalb die parlamentarische Republik seinen Triumph verhindern konnte. Die Bewegung scheiterte endgültig, nachdem sich der General aus Trauer um seine verstorbene Geliebte im September 1891 umbrachte. Siehe zum Boulangismus Zeev Sternhell: Maurice BarrHs et le nationalisme franÅais. Neue, erw. Aufl. Paris: Fayard 2000, S. 114–181, hier bes. S. 134, Jean Garrigues: Le boulangisme. Paris: PUF 1992 und ders. 2012: S. 56–65. 14 Vgl. zum »unanimistischen« Gefühl in Adams MystHre des foules, wo das Individuum in der Menge aufgeht, Peter J. Norrish: Drama of the Group. A Study of Unanimism in the Plays of Jules Romains. Cambridge: Cambridge UP 1958, S. 40.

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meneurs sur les trottoirs, comme il y a longtemps que j’en souffre ! J’en souffrais d8j/, enfant, quand, descendant par hasard / l’office, je surprenais, sans les comprendre, les propos des domestiques d8chirant les miens / belles dents. Cette hostilit8 de toute la race, cette haine sourde et d’une humanit8 de loups-cerviers, je devais la retrouver plus tard au collHge, et moi-mÞme, qui ai la r8pugnance et l’horreur de tous les bas instincts, ne suis-je pas instinctivement violent et ordurier, meurtrier et sensuel comme cette foule sensuelle et meurtriHre, la foule des 8meutes qui jette les sergents de ville / la Seine et criait, il y a cent ans : »Les aristos / la lanterne !« comme elle vocifHre aujourd’hui : »f bas l’arm8e !« ou : »f mort les juifs !« (MP: 60f.)

Fr8neuse erfährt das gesellschaftliche Leben als einen ständigen Kampf aller gegen alle. Der Vergleich der Menschen mit Raubtieren gemahnt an Hobbes’ Grundsatz vom homo homini lupus; einen Gesellschaftsvertrag gibt es hier nicht. Fr8neuse selbst distanziert sich nicht etwa von der grausamen Masse. Vielmehr identifiziert er sich mit ihr und erkennt in sich dieselben bestialischen Triebe, auch wenn er Abscheu vor ihnen empfindet. Seit der Französischen Revolution zerfleischt sich die Nation selbst; sie ist ihrem Ziel der Verbrüderung und dem Ideal der nationalen Einheit in den vergangenen hundert Jahren nicht näher gekommen. Dies bezeugt die Erfahrung der Dreyfusaffäre, die zum Zeitpunkt der Feuilletonveröffentlichung des Kapitels im Juni 1899 kurz vor Beginn des Revisionsprozesses in Rennes einen Höhepunkt erreicht und auf die der letzte Teilsatz anspielt. Die bürgerkriegsähnliche Affäre wird hier allerdings anachronistisch vordatiert auf das Jahr 1891. Der Anachronismus ist nicht unbedeutend, denn er situiert den erneuten Ausbruch nationaler Zerstrittenheit in dem Jahr, in dem der Boulangismus endgültig scheitert. Dessen Ziel war es ja gerade gewesen, die Nation zu einen. Das Amalgam von Bezügen auf Dreyfusaffäre und Boulangismus begründet sich also mit der Erfahrung innergesellschaftlicher Differenzen und politischer Spaltungen. Auf den Ausdruck der bedrohlichen Erfahrung einer barbarischen Gesellschaft in politischer Zwietracht folgt in der Präsentation des Manuskripts unmittelbar ein Eintrag mit einem zeitlichen Abstand von gut einem halben Jahr : 30 octobre 1891. – Il n’y a de vraiment beau que les visages des statues. Leur immobilit8 est autrement vivante que les grimaces de nos physionomies. Comme un souffle divin les anime, et puis quelle intensit8 de regard dans leurs yeux vides ! J’ai pass8 toute ma journ8e au Louvre et le regard de marbre de l’Antinoüs me poursuit. Avec quelle mollesse et quelle chaleur / la fois savante et profonde ses longs yeux morts se reposaient sur moi ! Un moment, j’ai cru y voir des lueurs vertes. Si ce buste m’appartenait, je ferais incruster des 8meraudes dans ses yeux. (MP: 61, kursiv im Orig.)

Hier wird auf geradezu exemplarische Weise vorgeführt, wie es der Kunst gelingt, Gegensätze zu bannen: Der ›göttliche Funke‹ der ästhetischen Gestaltung erzeugt die Illusion eines intensiven Blicks in den leeren Augen einer Statue, die

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somit lebendiger erscheinen als der verkrampfte Gesichtsausdruck von Fr8neuses Mitmenschen. Die Reglosigkeit des Kunstwerks bringt den Gegensatz von Blick und Leere bzw. Blindheit zur Anschauung und überwindet ihn im selben Moment. Auf diese Weise wird der Mangel an Kohärenz aus dem vorhergehenden Eintrag in euphorische Fülle überführt. Die Figur des Antinoos unterstützt diese Bewegung: Einerseits signalisieren die leeren Augen der Statue über die Assoziation mit symbolischer Kastration und Blindheit die homosexuelle Verweiblichung, die dem Günstling des römischen Kaisers Hadrian aus der Perspektive der zeitgenössischen Sexualpathologie zugeschrieben wird – die topische Assoziation von Blindheit und Kastration durchzieht den Roman und wird durch den expliziten intertextuellen Verweis auf E.T.A. Hoffmanns Sandmann gestützt.15 Andererseits steht Antinoos exemplarisch für den euphorisch besetzten androgynen Epheben und überführt damit wiederum den Mangel in ästhetische Sublimation und Fülle: So ist etwa schon Filippo, der Sprössling der Lantys aus Balzacs Sarrasine, ein Abbild des Antinoos und kompensiert, wie der ebenfalls dort beschriebene Adonis in Girodets Endymion, die Bedrohung durch den unheimlichen Kastraten.16 Fr8neuse äußert im zitierten Eintrag nun den Wunsch, die leeren Augen der Statue mit Smaragden zu besetzen. Dieses Begehren wird zum Leitmotiv der Aufzeichnungen: [V]oil/ des ann8es que je souffre d’une chose bleue et verte. Lueur de gemme ou de regard, je suis amoureux, pis, envo0t8, poss8d8 d’une certaine transparence glauque ; c’est comme une faim en moi. Cette lueur, je la cherche en vain dans les prunelles et dans les pierres, mais aucun œil humain ne la possHde. Parfois, je la trouve dans l’orbite vide d’un œil de statue ou sous les paupiHres peintes d’un portrait, mais ce n’est qu’un leurre, la clart8 s’8teint / peine apparue, je suis surtout un amoureux du pass8. (MP: 55)

Mit der Suche nach dem blau-grünen Leuchten offenbart sich – das legt das Wort »faim« nahe – das Begehren, einen Mangel zu füllen. In einem menschlichen Blick kann Fr8neuse das Schimmern nicht finden, spricht aus den Augen der Masken, die er auf dem Gesicht seiner Zeitgenossen zu erblicken meint, doch nur 15 »[C]ette soir8e commenc8e comme un conte d’Hoffmann s’achevait en vision d’hipital. Oh ! cette Olympia de beuglant, comme elle a pr8cipit8 la marche de mon mal !« (MP: 92f.) Vgl. genauer zur Kastration im Monsieur de Phocas Cornille 1977 und Daniel Sangsue: »Lorrain et le mythe de Salom8«, in Revue des sciences humaines 230 (Heft 2, 1993), S. 33–54, bes. S. 49f. 16 »Filippo, frHre de Marianina, tenait, comme sa sœur, de la beaut8 merveilleuse de la comtesse. Pour tout dire en un mot, ce jeune homme 8tait une image vivante de l’Antinoüs, avec des formes plus grÞles.« (CH VI: 1046) Vgl. zu Sarrasine oben Vorspiel, Kap. 2. Siehe zum Androgyn in der Literatur der Jahrhundertwende Fr8d8ric Monneyron: L’androgyne d8cadent. Mythe, figure, fantasmes. Grenoble: ELLUG 1996, zur inneren Virilität des physisch femininen Epheben bes. S. 68.

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die bedrohliche Leere, die er selbst in sich verspürt: »Il n’y a rien dans les yeux, et c’est l/ leur terrifiante et douloureuse 8nigme, leur charme hallucinant et abominable.« (MP: 73, vgl. auch MP: 200: »les yeux vides et fous de toute une salle de masques«)17 Die Marmorstatue hingegen bedroht Fr8neuse nicht, weil er in ihre leeren Augen ein Leuchten projizieren kann. Er phantasiert darüber, ihre Leere mit Edelsteinen oberflächlich-fetischistisch zu besetzen und meint, damit sein Leiden lindern zu können. Das Modell dieser Phantasie bildet Balzacs Fille aux yeux d’or. Deren Erzähler schildert nicht nur die maskenhaften Gesichter der kapitalistischen Gesellschaft (CH V: 1039), deren Mitglieder nach Gold und Vergnügen streben; er entwirft mit der Figur des Mädchens mit den Goldaugen auch die Allegorie des begehrten Objektes einer vaterlosen Gesellschaft, die ihren grundlegenden Mangel durch das Streben nach fetischisierten, leeren Ersatzobjekten zu stillen versucht.18 Während auf der Ebene der histoire die Versuche des Duc de Fr8neuse, den Mangel in der Kunst zu fixieren und dadurch zu überwinden, immer nur vorübergehend gelingen und die Heilung ständig weiter aufschieben, zeigt die unmittelbare Aufeinanderfolge der beiden ersten Tagebucheinträge, wie der Text auf discours-Ebene die politischen Konflikte ins ästhetizistische Ornament überführt und unter diesem begräbt.19 Der Kontrast von bedrohlicher Wirklichkeit und Überführung in die gebannte Immobilität der ästhetischen Anschauung wiederholt sich in den beiden folgenden Einträgen. Fr8neuse berichtet dort, wie er einer öffentlichen Hinrichtung beiwohnen will, obwohl er weiß, dass er sich von diesem Spektakel selbst bedroht fühlen wird: »le sang me r8pugne, oui, me r8pugne / un tel point que chez le dentiste, en entendant un cri dans la piHce / cit8, je d8faille presque et crois me trouver mal.« (MP: 61f.) Auf die 17 Vgl. zur Widerspiegelung von Fr8neuses Sterilität im Anderen Robert Ziegler : »Through the Eyes of Astarte: Vision and Reception in Lorrain’s Monsieur de Phocas«, in Essays in French Literature 27 (1990), S. 28–37, hier S. 30. Wie Huysmans begründet Lorrain die Leere mit dem mangelnden Glauben seiner Zeitgenossen: »L’homme moderne ne croit plus, et voil/ pourquoi il n’a plus de regard.« (MP: 77, kursiv im Orig.) 18 Vgl. zur Fille aux yeux d’or oben Vorspiel, Kap. 2 und zum Augen-Fetischismus im Phocas Du Plessis 2002: S. 72–74. 19 Die Strategie, etwas Bedrohliches unter einer ornamentalen Oberfläche zu begraben – vgl. zum Beispiel Gustave Moreaus Salome-Gemälde –, geht im weitesten Sinn auf den Petrarkismus und im engeren Sinn auf die Lyrik des Parnass zurück. Deren Vertreter Th8ophile Gautier bannt ›die Frau‹ in seinem Gedichtband Pmaux et cam8es (1852) und insbesondere im »PoHme de la femme. Marbre de Paros« in Marmor und begräbt sie unter Edelsteinen. Gautiers Einfluss auf den Phocas, der in einem Tagebucheintrag die rare Vokabel »cam8es« (MP: 62) sowie »8mail« (MP: 162) verwendet, ist fraglos. Siehe zu Gautiers Rarefizierungsstrategie, d. h. der ästhetisierenden Beschreibung seltener Objekte, Klaus W. Hempfer : »Konstituenten parnassischer Lyrik«, in Titus Heydenreich/Eberhard Leube/Ludwig Schrader (Hgg.): Romanische Lyrik. Dichtung und Poetik. Walter Pabst zu Ehren. Tübingen: Stauffenburg 1993, S. 69–91, hier S. 83–86.

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Schilderung dieser destabilisierenden Erfahrung, die auf die Zahnarztszene in f rebours anspielt, folgt der Bericht einer Reise nach Neapel, wo Fr8neuse die »collection de pierres dures« (MP: 62) eines Museums bewundert hat. Fr8neuse fokussiert die Härte der Steine, die solchermaßen im paradigmatischen Bezug zur beruhigenden Unbeweglichkeit der Statuen stehen. Angesichts dieser Rekurrenzen im Incipit stellt sich die Frage, ob die dort auf geradezu exemplarische Weise vorgeführte Überführung einer bedrohlichen Wirklichkeitserfahrung in die heile Welt der Kunst ein strukturelles Merkmal des gesamten Romans ist und ob sich die Strategie der ästhetischen Bannung auch auf weniger deutlich inszenierte politische Konflikte beziehen lässt.

2.

Signifikantenketten: der Smaragd, die Prinzessin von Eboli und die paranoide Republik

Ausgehend vom Leitmotiv des blau-grünen Blicks entfaltet der Roman eine Assoziationskette, in der die dekadenten Topoi an mehreren Stellen mit politischer Bedeutung aufgeladen werden. So umschreibt die »transparence glauque« (MP: 55) in erster Linie das Objekt des Begehrens bzw. die Ursache des Begehrens, das lacanianische objet a, das dem Subjekt die in der Wirklichkeit vermisste Ganzheitserfahrung in Aussicht zu stellen scheint und das sich nirgends konsistent fixieren lässt.20 Schon Fr8neuses zweite Notiz zeigt, dass der Duc es immer wieder in Form eines Smaragds zu objektivieren und festzuhalten versucht. Als real existierender Gegenstand tritt dieser zuerst an einem Ring an der Hand von Claudius Ethal, dem Engländer, der Fr8neuse von seinem Leiden zu heilen verspricht, in Erscheinung. Ethal scheint also das zu besitzen, was Fr8neuse sucht. Politisch semantisiert wird der Smaragdring, als Ethal Fr8neuse von seiner Herkunft berichtet und ihm die Legende um das verlorene Auge der Prinzessin von Eboli erzählt. Der Ring, so Ethal, sei die Reproduktion eines im Escorial aufbewahrten Ringes Philipps II., genannt »l’Œil d’Pboli« (MP: 130, kursiv im Orig.). Der Legende nach habe die Jüdin Sarah Perez (sic, statt Ana de Mendoza y de la Cerda), eine Maitresse Philipps II., ihre grünen Augen allzu freizügig auf den Marquis von Posa geworfen, was fatale Folgen hatte: [L]a vigilance des cagoules la trahit auprHs de Philippe, et, le soir, dans l’intimit8 de l’alcive, au cours d’une explication violente ou d’un orageux corps / corps, le Habsbourg, enfi8vr8 de m.le rage, terrassait la favorite, et, d’un coup de dent, lui arrachait et d8vorait l’œil. Ce fut la princesse ensanglant8e, un beau titre pour un conte cruel. […] La d’Pboli demeura borgne, la mie royale eut d8sormais un trou b8ant au milieu du visage. 20 Vgl. zum objet a Lacan 1994: bes. S. 15–17, 26 und Evans 2002: S. 205f.

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Philippe II, qui avait sa juive dans le sang, n’en garda pas moins prHs de lui sa princesse N’a qu’un œil. Il la d8dommagea par quelques titres et gouvernements de provinces ; mais, au regret de la belle prunelle verte qu’il avait g.t8e, il fit incruster dans l’orbite vide et saigneuse une superbe 8meraude ench.ss8e d’argent, dont les chirurgiens d’alors firent un semblant de regard. (MP: 131, kursiv im Orig.)

Nachdem die Prinzessin kurze Zeit später an den Folgen der Operation gestorben sei, habe Philipp den Smaragd aus ihrer Augenhöhle entfernen und sich einen Ring daraus anfertigen lassen (MP: 132). In Frankreich wurde die Prinzessin von Eboli, der man eine Affäre mit dem König nachsagte, vor allem durch Verdis Oper Don Carlos (UA 1867 in Paris) bekannt. Ethal selbst zitiert über die Figur des Marquis von Posa sowie einen Verweis auf Don Carlos (MP: 130) den Stoff von Verdis Oper an. Wie in Schillers Vorlage liebt die Prinzessin von Eboli dort jedoch nicht den Marquis von Posa, sondern den Infanten Don Carlos. Lorrains Änderung zieht bedeutende Konsequenzen auf der Ebene der politischen Semantik mit sich, denn der Marquis ist bekanntlich ein politischer Gegner des Königs. Sein liberales Gedankengut macht ihn – auf anachronistische Weise – zum Vertreter der Aufklärung und zum Widersacher des absoluten Monarchen.21 Der Blick der Prinzessin auf den Marquis stellte Philipps souveräne Macht über sie in Frage, da sie ihr eigenes Begehren aktiv bezeugte und im Begriff war, sich aus seiner Herrschaft zu befreien. Die Demonstration weiblicher Autonomie hätte demnach in doppelter Hinsicht kastrierend auf Philipp wirken können: Wäre sie von Erfolg gekrönt gewesen, dann hätte sie seine Unzulänglichkeit als Mann sowie als Herrscher symbolisiert. Philipp jedoch wehrt sich, indem er seiner Maitresse ein Auge ausbeißt: Ganz im Gegensatz zum Biss der vagina dentata, vor dem sich der Mann oder zumindest der literarische Held im 19. Jahrhundert allzu häufig fürchtet, demonstriert der vampireske Biss hier die männliche Macht über die Frau und, was für den zeitgenössischen Leser sowie den Antidreyfusarden Lorrain ebenfalls von Interesse gewesen sein dürfte, die Dominanz des erzkatholischen Königs über die Jüdin. Ethal richtet sein Augenmerk in besonderem Maße auf den religiösen Aspekt und verleiht ihm einen nationalpolitischen Gehalt, dessen Analogie zum Frankreich der Dreyfusaffäre unübersehbar ist: Ah ! ce bon Philippe II 8tait un seigneur peu commode, et ce fervent br0leur d’h8r8tiques avait des jalousies de tigre et des faÅons de faire un peu fauves aussi. Cette pauvre Sarah Perez n’eut pas toujours / se louer de son royal amant ; mais aussi quelle id8e, pour un bon catholique, de s’8prendre d’une juive ! C’8tait d8j/ la revanche d’Isra[l. Une juive dans le lit d’un roi d’Espagne, une juive favorite d’un Habsbourg ! (MP: 130) 21 Vgl. Henning Mehnert: »Nachwort«, in Giuseppe Verdi: Don Carlos. Oper in fünf Akten nach Friedrich Schillers gleichnamigem Drama. Übers. u. hg. v. H. M. Stuttgart: Reclam 2005, S. 127–141, hier S. 131.

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Indem er Sarah Perez das Auge ausbeißt, rächt sich Philipp auch für die symbolische ›Verunreinigung‹ des nationalen Blutes durch seine Affäre mit der Jüdin. Der Ring erhält somit eine dreifache symbolische Bedeutung: Er steht für die Herrschaft des Mannes über die Frau, für die königliche Regierungsgewalt, die sich gegenüber den durch den Marquis repräsentierten revolutionären Bestrebungen behauptet, und schließlich für die Hegemonie des Katholizismus über das Judentum, wobei die religiöse Vorherrschaft auch nationalistische Implikationen beinhaltet.22 Ethal hätte Philipps Ring gerne aus dem Museum des Escorial gestohlen, musste sich aber wegen der guten Bewachung mit einer Reproduktion zufrieden geben. Seine Kopie, die er in Madrid hat anfertigen lassen, ist innen hohl, was jedoch keineswegs das Zeichen eines Mangels und der Minderwertigkeit der Nachahmung gegenüber dem Original ist. Denn der Hohlraum enthält einen Tropfen Gift, »un toxique d’Inde, d’une rapidit8 foudroyante et tellement corrosif, qu’il suffit d’en effleurer la muqueuse d’un homme pour l’assommer et l’8tendre raide« (MP: 132). Die Reproduktion des Rings verschafft Ethal also mehr als nur die symbolische Macht des absoluten Souveräns. Tatsächlich verleiht sie ihm die reale Macht über Leben und Tod, die grundlegendes Merkmal souveräner Gewalt ist.23 Die Stillstellung und Fixierung des Anderen – häufig der Frau, wie die Legende vom Auge der Eboli zeigt – im Tod verknüpft dabei die erotische Gewalt mit der souveränen Macht des Herrschers. Ein Bekannter warnt Fr8neuse vor der Gefahr, die von dem Ring und seinem Besitzer ausgeht; Ethal gibt jedoch vor, das Gift nur zu besitzen, um die Souveränität über sein eigenes Leben erlangen und sich selbst töten zu können (MP: 132). Der Fortgang der Erzählung zeigt allerdings, dass der Besitz des Ringes durchaus auch die Souveränität über fremdes Leben garantiert: Fr8neuse wird sich seiner bedienen, um den Engländer zu töten. Bis es dazu kommen kann, spiegelt die durch den Smaragdring aufgerufene Beziehung zwischen Philipp und der Prinzessin von Eboli allerdings das Verhältnis von Ethal und Fr8neuse. Der Herausgeber des Manuskripts beschreibt letzteren mit folgenden Worten: »D8licieusement p.le et transparente, main de princesse et de courtisane, ce jour-l/, la main d8gant8e du duc de Fr8neuse (car je me rappelais aussi son vrai nom maintenant), ce jour-l/, la main d8gant8e du duc de Fr8neuse […].« (MP: 22 Die Symbolik des Ringes geht also weit über die Bedeutung hinaus, die ihr Robert Ziegler zuweist. Ihm zufolge symbolisiert die Erzählung von der Legende um das Auge der Eboli das Begehren, den Blick des Anderen und dessen autonome Erfahrung zu kontrollieren. Die Eifersucht und die Wut des Ehemannes (sic) über seine Gattin sei nur das oberflächliche Beiwerk einer Geschichte, die vom Wissen darüber künde, dass der Andere durch die Kontrolle des Blickes objektiviert und zum Kunstwerk gemacht werde und infolgedessen sterbe (1990: S. 31). 23 Vgl. Foucault 1997: S. 214 und Agamben 2002: S. 16.

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51) Die wörtliche Wiederholung legt einen besonderen Fokus auf die fragile Prinzessinnen- bzw. Kurtisanenhand des Herzogs, die mit Ethals Hand kontrastiert, einer »8norme main aux phalanges velues qu’il crispait, comme une serre, sur la chevelure alourdie du buste ; une serre, en v8rit8, une serre d’oiseau de proie« (MP: 129). Ethals Hände ähneln Klauen, ganz wie die Stahlkrallen, mit denen der Smaragd an seinem Ring befestigt ist: »Deux griffes d’acier niell8 d’or l’8treignaient, d’un travail assez barbare : deux serres d’8pervier crisp8es sur l’eau glauque de la gemme et se rejoignant ensuite en ondulation de flot.« (MP: 130) Elias Canetti beschreibt die greifende Hand als Sinnbild der Macht,24 was Fr8neuses Einschätzung seiner Lage entspricht: »je suis entre les mains de cet homme.« (MP: 106) Die Hand ist also Zeichen für Macht oder – wie im Fall Fr8neuses – für Ohnmacht, wobei Ethals Virilität und seine physische Gewalt über den effeminierten Aristokraten darüber hinaus insbesondere durch den Ring symbolisiert werden. Der Roman fokussiert besonders die erotischen Implikationen des Machtgefälles. Die Beziehung zwischen Ethal und Fr8neuse, die von Attraktion, Unterwerfung und Autonomiestreben geprägt ist und daher von der Erzählung von Philipp und der Prinzessin schon präfiguriert wird, erhält außerdem über den Rückgriff auf den Verdi-Stoff auch einen nationalallegorischen Bedeutungsgehalt: Verdis Oper beginnt mit dem berühmten Fontainebleau-Akt, der die katastrophalen Zustände Frankreichs nach der historischen Niederlage der Valois gegen das habsburgische Spanien und England – Philipp war 1554–1558 mit der englischen Königin Maria I. verheiratet – in Erinnerung ruft. Die dramatische Niederlage bei Saint-Quentin hatte zur Folge, dass Frankreich sich im 1559 geschlossenen Frieden von Cateau-Cambr8sis den spanischen Forderungen beugen musste. Philipp stabilisierte seine Macht überdies durch die Heirat mit der jungen Elisabeth von Valois, der Tochter des französischen Königs Heinrich II. Die Hochzeit hatte fatale Folgen, da Heinrich bei einem Turnier während der Feierlichkeiten der Splitter einer Lanze ins Auge drang, woran er starb.25 Dies setzt ihn in Analogie zur Eboli und über diese zu Fr8neuse. Diese indirekte Analogie wird vom Text insofern gestützt, als die letzten Valois-Könige, die Frankreich nach 1559 beherrschten, beim Volk bekanntlich als schlechte, im Fall Heinrichs III. auch dekadente Könige galten.26 Da überrascht es schließlich auch nicht mehr, dass der Herausgeber des Phocas-Tagebuchs Fr8neuse als Wiedergänger Heinrichs III. bezeichnet:

24 Masse und Macht. München: Hanser 1994, S. 239 u. 248–257. 25 Siehe hierzu Friedrich Edelmayer: Philipp II. Biographie eines Weltherrschers. Stuttgart: W. Kohlhammer 2009, S. 91–96. 26 Siehe Jean Meyer: Histoire de France. Bd. III: La France moderne : de 1515 / 1789. Hg. v. Jean Favier. [Paris]: Fayard 1985, S. 20 u. 191f.

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Cette p.leur pourrissante, la crispation de ces mains effil8es, plus japonaises de formes que des chrysanthHmes, ce profil d’arabesque et cette maigreur de vampire, tout cela ne vous a jamais donn8 / r8fl8chir ? Mais Fr8neuse a mille ans malgr8 son corps souple et sa face imberbe. Cet homme-l/ a d8j/ v8cu dans des temps ant8rieurs, et sous H8liogabale et sous Alexandre VI et sous les derniers Valois… Que dis-je ? c’est Henri III luimÞme. (MP: 58f.)

Dies ist zwar ein typischer dekadenter Topos; die nationalpolitischen Implikationen sind aber in Monsieur de Phocas so weitreichend, dass sie hier mitgelesen werden müssen. Denn schließlich ist die Parallele der durch die Eboli-Legende aufgerufenen historischen Situation mit der aktuellen politischen Lage, die von einer doppelten Unterlegenheit Frankreichs gekennzeichnet ist, signifikant: Erstens ist die Situation von 1559 vergleichbar mit den erniedrigenden Friedensbedingungen nach der Niederlage gegen Preußen 1871. In diesem Zusammenhang verbindet die einäugige Prinzessin als Opfer der Herrschaft Philipps nicht nur eine entfernte Assoziation mit Gambetta, dem ebenfalls einäugigen Gründer der Dritten Republik.27 Sie erinnert mit ihrem »trou b8ant au milieu du visage« auch an Zolas Nana. Zweitens steht die unterlegene Position Fr8neuses gegenüber dem Engländer Ethal in Analogie zur Lage in der Faschodakrise. Im September 1898 konkretisierten sich die schon seit dem frühen 19. Jahrhundert bestehenden imperialen Konflikte mit England, als Lord Kitchener in Faschoda auf das Fort des französischen Kommandanten Marchand traf und diesem befahl, seine Truppen abzuziehen. Infolge dieser akuten Auseinandersetzung entbrannte in Frankreich eine Debatte darüber, wie die kolonialen Interessen beider Länder in Einklang gebracht werden können. Die französische Außenpolitik sah sich vor der Kontroverse darüber, ob sie eine pro-englische Taktik verfolgen sollte, die die Hoffnungen auf eine Revanche gegen Deutschland unterstützte, oder ob sie die Auseinandersetzung mit England suchen und die französischen Kolonialinteressen durchsetzen sollte. Die anti-englische Taktik war die Position des bis 1898 amtierenden Außenministers Gabriel Hanotaux gewesen.28 Dieser wurde 1899 zum politischen Direktor des Journal ernannt,29

27 Im Krieg von 1870/71 zirkuliert ein Lied mit dem Text »Nous voulons Marianne / Nous la voulons / Bientit nous l’aurons / Gambetta le borgne sera pr8sident« (zit. nach Agulhon 1979: S. 187, das Original lautet im Okzitanischen: »Boulen la Marianno / La boulen / mai l’ouren / Gambetta lou borgne / Sara lou pr8siden«, ebd.). 28 Siehe dazu Pierre Guillen: »Le discours politique au moment de Fachoda«, in Pierre Milza/ Raymond Poidevin (Hgg.): La puissance franÅaise / la »Belle Epoque«. Mythe ou r8alit8 ? Actes du colloque organis8 par le Centre d’histoire de l’Europe du VingtiHme siHcle (FNSP), le Centre de recherches d’histoire des relations internationales de l’Universit8 de Strasbourg-III et l’Institut Pierre Renouvin (Paris-I). Paris: Complexe 1992, S. 19–33 und ders.: L’expansion (1881–1898). Paris: L’imprimerie nationale 1984, S. 340f. 29 Siehe hierzu Pierre Albert: »La presse franÅaise de 1871 / 1940«, in Claude Bellanger/Jacques

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der Zeitung, auf deren Une Lorrain eben zu dieser Zeit seinen Roman zu publizieren begann. Die französische Republik hatte um 1900 damit zu kämpfen, dass die rivalisierenden europäischen Imperialmächte weiterhin monarchisch organisiert waren, und glaubte sich infolgedessen in einer unterlegenen Position.30 Ethal kann deshalb nicht nur als Wiedergänger des Basil Hallward aus Oscar Wildes Picture of Dorian Gray (1891) gelesen werden.31 Der Besitz des Ringes, der die königliche Macht symbolisiert, verknüpft ihn assoziativ auch mit dem monarchischen Prinzip Englands. Fr8neuses Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber Ethal wird überdies mit einer Evokation des gewaltigen englischen Imperiums verbunden. Als Ethal den Franzosen eines Abends an einer seiner berüchtigten Opiumorgien teilhaben lässt, hat dieser folgende Halluzination: Et c’8tait une course 8perdue / travers les espaces. Je flottais, empoign8 aux cheveux par une main de volont8, une serre 8nergique et glac8e, oF je sentais des duret8s de pierreries et que je devinais Þtre la main d’Ethal ; et c’8taient des vertiges et des vertiges, une sorte de course / l’ab%me sous des ciels de camphre et de sel, des ciels d’une limpidit8 terrible dans leur 8clat nocturne, et je tournoyais ahuri au-dessus de d8serts et de fleuves. Des 8tendues de sables fuyaient, moir8es par places d’ombres monumentales, et parfois nous passions par-dessus des villes. Des villes endormies avec des ob8lisques et des coupoles toutes laiteuses de lune entre des palmiers de m8tal. Plus loin c’8tait, parmi des bambous et des pal8tuviers en fleur, la descente vers l’eau des degr8s lumineux de mill8naires pagodes. Des troupeaux d’8l8phants les gardaient et cueillaient pour les dieux, du bout de leurs trompes molles, les lotus bleus des lacs ; et c’8tait l’Inde l8gendaire et v8dique aprHs l’Pgypte myst8rieuse […]. (MP: 165f.)

Fr8neuse wird von Ethals starker Hand an den Haaren gehalten – Canetti zufolge der »größte[…] gefeierte[…] Akt der Macht«32 – und fliegt mit ihm über weite Gefilde. In seiner absoluten Passivität betrachtet Fr8neuse unter sich Indien und Ägypten als Teil des britischen Imperiums und ist verblüfft von der Weite der Landschaft. Die Anspielung auf das englische Kolonialreich33 bleibt hier zwar implizit, sie liegt jedoch für den zeitgenössischen Leser, insbesondere des Journal, sicherlich nahe. Die halluzinatorische Vergegenwärtigung des britischen Imperiums zeugt zusammen mit der Ohnmachtsphantasie von einer politischen Paranoia. Canetti

30 31 32 33

Godechot/Pierre Guiral/Fernand Terrou (Hgg.): Histoire g8n8rale de la presse franÅaise. Bd. III: De 1871 / 1914. Paris: PUF 1972, S. 135–622, hier S. 315. Siehe hierzu Christophe Charle: La crise des soci8t8s imp8riales. Allemagne, France, GrandeBretagne (1900–1940). Essai d’histoire sociale compar8e. Paris: Seuil 2001, S. 25f. Vgl. auch Digeon 1992: S. 92 u. 96–98 und oben Kap. II.4, Anm. 174. So etwa Ponnau 1991: S. 85. Canetti 1994: S. 241. Vgl. Du Plessis 2002: S. 77.

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schildert die Ursituation der Paranoia, dieser »Krankheit der Macht«,34 als den Eindruck, von einer Meute von Feinden umstellt zu sein. Dies äußere sich vor allem in Augenvisionen: Der Paranoiker sehe überall um sich herum bedrohliche Augen.35 Im Phocas empfindet sich Fr8neuse nicht nur selbst als ohnmächtig, er findet die Leere, die er in sich verspürt, auch in jedem Gesicht, das ihm begegnet, widergespiegelt. Der Mangel an Macht ist jedem einzelnen und damit dem Kollektiv der französischen Gesellschaft eingeschrieben. Fr8neuse erlebt das postrevolutionäre ›Spiegelstadium‹, bei dem sich das Subjekt nur noch im ›kleinen‹ anderen spiegelt, als bedrohlich, wobei sich die negative Identifikation mit den anderen und das daraus resultierende Gefühl der Selbstzersplitterung in der zerstückelten Form der Tagebucheinträge niederschlagen. Die Bedrohung, die Fr8neuse verspürt und vor allem in den ersten Einträgen formuliert, geht zwar auch von den Mitgliedern der eigenen Gesellschaft aus, ganz besonders aber vom starken Anderen, dem Repräsentanten der rivalisierenden Nation. Gerade Ethals Blick empfindet Fr8neuse als bedrohlich: L’œil clair et luisant de Claudius pesait sur moi comme une lame, j’en sentais entrer en moi le froid et le coupant ; il inspectait toute mon .me, connaissait mon d8sir et jusqu’au trouble inavou8 8veill8 en ma chair […]. (MP: 112) Ethal se taisait, mais je sentais son regard appuy8 sur le mien, et c’8tait, dans mon cerveau congestionn8, comme le froid aigu d’une vrille. (MP: 209)

Der Blick übt – ähnlich wie in Gautiers Jettatura (1856) – eine fast physische Kraft aus, von der sich Fr8neuse körperlich versehrt und penetriert fühlt.36 In Anbetracht von Fr8neuses Besessenheit von Blicken, Augen und Masken liegt es deshalb nahe, ihn als Figuration der paranoiden Dritten Republik zu betrachten, die sich von den sie umgebenden Monarchien bedroht fühlt. Die Leere und der Mangel im Eigenen kontrastiert mit der Fülle an Macht, die Fr8neuse dem Anderen zuschreibt und die sich insbesondere in der Signifikantenkette37, die vom 34 Canetti 1994: S. 532, kursiv im Orig. 35 Ebd.: S. 542. 36 Du Plessis interpretiert dies zu Recht als Angst des Homosexuellen, vom Anderen als solcher erkannt zu werden, und macht zugleich darauf aufmerksam, dass dies mittels Termini beschrieben wird, die eine physische Penetration beschreiben (2002: S. 80–82). Die Abwehr der Homosexualität (vgl. dazu ebd.: S. 66 u. 75) begleitet die Paranoia des Fr8neuse wie im von Freud untersuchten Fall Schreber. In Roman Polanskis Repulsion (1965) lässt sich der paranoide Wahn darüber hinaus auf ein Vergewaltigungstrauma zurückführen. Auch hier sieht sich die Protagonistin von Augen umringt. Die Symbolik starker, hypnotisierender Augen wird exzessiv etwa in Fritz Langs Dr. Mabuse-Filmen ausgeschöpft (siehe bes. Dr. Mabuse, der Spieler und Die 1000 Augen des Dr. Mabuse). 37 Vgl. zum »syntagmatic enchainment of a series of substitutions« im Phocas Du Plessis 2002: S. 72. Zum Begriff der metonymischen »cha%ne signifiante« siehe Jacques Lacan: »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud«, in ders.: Ecrits I. Paris: Seuil 1966, S. 249–289, bes. S. 259–263.

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grünen Auge der Eboli über den Smaragdring zur Politik führt, äußert und dabei symbolisch mit der monarchischen Souveränität verbunden ist. Letztere verbindet sich über die grüne Farbe mit Fr8neuses neurotischen Obsessionen, die von Beginn an, also noch vor der Begegnung mit Ethal, thematisiert werden: Das blau-grüne Leuchten, das Fr8neuse nicht loslässt und dem er meist das Adjektiv »glauque« (MP: 55 et passim) attribuiert, ist paronomastisch mit dem »glaucome« assoziiert. Es führt damit wiederum zum blinden Auge der Eboli.38 Dies schafft nun die Verbindung von der Blindheit der Eboli zu den blinden Augen von Fr8neuses Zeitgenossen. Der grüne Stein, der die Blindheit der Prinzessin ebenso sehr verdeckt, wie er sie ausstellt, und mit dem Fr8neuse die leeren Augen des Antinoos füllen möchte, lässt sich deshalb als Sinnbild für den Fetisch lesen, der den Mangel der Republik füllen soll. Die Prinzessin, die über ihre Unterwerfung unter Philipp in Analogie zur ›Prinzessin‹ Fr8neuse steht, hatte den revolutionären Posa ebenso begehrt, wie die französische Nation nach der Republik strebte. Beiden ist fortan der »trou b8ant« eingeschrieben. Einäugig wie die Eboli ist auch das republikanische 9tre suprÞme. Ohne die Allegorese allzu weit treiben zu wollen, sei hier noch der Gleichklang im Anlaut von »Fr8neuse« und der ebenso frenetisch-nervösen39 »France« erwähnt. Auch das Alter von Lorrains Protagonisten entspricht nahezu dem der Dritten Republik im Jahre 1899, denn obwohl er sehr viel älter aussieht, zählt Fr8neuse gerade 28 Jahre (MP: 57). Insofern steht Fr8neuses individuelle Neurose in direkter Verbindung zu Boulanger und dem im Incipit aufgerufenen historischen Kontext. Dabei reflektiert der Roman die Angst vor der stärkeren Nation nicht als solche. Fr8neuses Paranoia äußert sich insbesondere in der Furcht davor, dass die eigene Schwäche bekannt werden könnte, wobei er die Bedrohung auf Frauen projiziert: »si j’ai tant souffert de mon impuissance d’aimer auprHs de toutes ces femmes, c’est qu’aucune d’elles n’avait vraiment de regard.« (MP: 67) Die Frauen verkörpern mit ihrem ›fehlenden Blick‹ genau das, was Fr8neuse im Kollektiv seiner Zeitgenossen ausmacht und in sich selbst spürt. Sie bedrohen Fr8neuse, weil sie ihn mit seiner eigenen gefühlten Kastriertheit konfrontieren und vor allem, weil sie seine Impotenz offenbaren könnten: »Iz8 Kranile a racont8 partout que j’8tais impuissant.« (MP: 84)

38 Zinck merkt an, dass einigen Historikern zufolge ein Glaukom syphilitischen Ursprungs Ursache für die Erblindung der Prinzessin gewesen sei (in MP: 131, Anm. 2). 39 Siehe zur Assoziation Fr8neuse – fr8n8tique Marilia Marchetti: »Le regard et l’autonomie du signe. Mise en scHne et obstacle«, in Revue des sciences humaines 230 (Heft 2, 1993), S. 19–32, hier S. 20.

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3.

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Die Suche nach dem Ursprung der nationalen Impotenz

Der Auslöser der Paranoia ist nun nicht erst die Konfrontation mit Ethal. Fr8neuses Aufzeichnungen protokollieren die Suche nach dem Ursprung seiner Neurose, den er schließlich gefunden zu haben meint, als er eines Tages aus einem angrenzenden Zimmer die Stimmen eines jungen Paares hört. Als die Frau zu ihrem Geliebten sagt: »Tu sens bon… tu sens le bl8 m0r. Je t’aime ! Tu es blond comme le bl8 aussi… J’ai envie de manger de toi !« (MP: 217f.) erinnert sich Fr8neuse an Jean Destreux, einen Knecht auf dem Hof seiner Familie. Destreux hatte als Spahi in Afrika gelebt und von dort, wie die Kolonisatoren in Louis Bertrands Le Sang des races (1899), Vitalität und Energie importiert.40 Den jungen Fr8neuse hat er – symbolisch bedeutsam – den Umgang mit dem Säbel gelehrt (MP: 224). Diese Erinnerung weckt nun den Wunsch nach der Rückkehr in die Heimat: Oh ! laver toutes les hontes et toutes les souillures de ma vie dans l’eau lustrale des souvenirs ! Un bain de verdure, un bain de ros8e, de ces ros8es de novembre qui se changent en givre et dont le fumier des sillons s’8veille tout argent8 dans l’aube, voil/ ce qu’il faudrait / mon .me endolorie et fauss8e, / mon imagination fourbue, telle une 8p8e fourvoy8e dans de mauvais combats. Oui, il me faut retourner / Fr8neuse ! J’8chapperai ainsi / Paris, / son atmosphHre d8l8tHre et n8faste, oF ma sensualit8 s’exaspHre, oF l’hostilit8 des Þtres et des choses d8veloppe en moi des instincts qui m’effraient, Paris qui me corrode, Paris qui me d8prave et m’8pouvante […]. (MP: 225)

Die Tirade zeugt deutlich vom Einfluss des regionalistischen »terroir«-Diskurses aus BarrHs’ Roman de l’8nergie nationale.41 BarrHs zufolge kann die entwurzelte und von Verweiblichung bedrohte Generation junger Franzosen geheilt werden, indem sie dem korrumpierenden Paris den Rücken kehrt und sich in der regionalen Scholle ihrer Väter ›verwurzelt‹. Auch Fr8neuse erinnert sich an das gesunde Leben der Landwirte, denen er gerne bei der Arbeit zugesehen hatte:

40 »L’Afrique ! Il avait rapport8 de chez les Arabes un tas d’histoires, et des farces, et des simagr8es qui faisaient monter le rire aux lHvres et de la joie dans les yeux. Il y avait comme du ciel dans ses prunelles, tant leur eau bleue souriait dans sa face roussie. Grand, mince et d8coupl8, les cheveux d’un blond de seigle m0r, le soleil du d8sert l’avait tann8, dess8ch8 et bruni. Avec sa chevelure claire et sa moustache floconneuse sur son teint bis et cuit, il flambait comme un grand sarment dans la chaleur des journ8es d’ao0t et, infatigable / l’ouvrage, activait de ses lazzis, de son exemple et de gestes endiabl8s l’indolence harass8e des autres moissonneurs.« (MP: 223) 41 Lorrain und BarrHs waren befreundet. Siehe hierzu Pric Roussel: »Pr8face«, in Maurice BarrHs: Romans et voyages. Bd. I. Hg. v. Vital Rambaud. Paris: Robert Laffont 1994, S. I– XCVII, hier S. XLV. Zu BarrHs vgl. unten Kap. IV.

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Oui, comme je pr8f8rais cela aux maussades journ8es de Fr8neuse, aux heures d’8tude dans la bibliothHque, en tÞte-/-tÞte avec l’abb8, et mÞme aux quelques minutes d’entretien avec ma mHre, toujours 8tendue sur la chaise longue quand je montais la saluer, le matin et le soir ! 5 La chambre de ma mHre ! Elle 8tait toujours fleurie de lilas blancs, et l’on y faisait le feu en plein 8t8, mais elle sentait l’8ther, la cr8osote et une autre odeur encore qui, dHs le seuil, me levait le cœur. Ma mHre ! Je revois encore ses longues mains tout alourdies de bagues, des mains diaphanes et soign8es oF le bleu des veines s’avivait sous le derme ; elles 8taient douces, caressantes et embaumaient ; elles s’attardaient longuement dans 10 mes cheveux, s’amusaient un moment / chiffonner ma cravate, puis remontaient / mes lHvres et s’imposaient / mon baiser. P.les et lentes mains de jeune femme condamn8e, elles 8taient molles et d8licates, impr8gn8es des senteurs les plus fines. Et pourtant j’h8sitais / les toucher. Ah ! comme je pr8f8rais la chair en sueur des enfants du fermier ! Ils sentaient, eux, la sant8 et la 15 force. Et c’est toute cette sant8 perdue, cette fleur de terroir, cette odeur de froment42 et de feuilles mouill8es qui me hantent encore et que m’a rapport8es le spectre de Jean Destreux. (MP: 223)

Im Gegensatz zu den Bauern an der freien Luft, die vor Vitalität sprühten (Z. 14ff.), ist die Erinnerung an seine kranke, ständig im Haus liegende Mutter mortalistisch besetzt.43 Wenn Fr8neuse den sie umgebenden Geruch wahrnahm, wurde ihm stets übel (Z. 6f.); er berührte sie nur ungern (Z. 13). Anders als der Blick auf die kräftigen Kinder der Landwirte, deren Gesundheit sich auf den jungen Aristokraten zu übertragen scheint, hatten die Besuche bei seiner kränklichen Mutter einen schlechten Einfluss auf seine Männlichkeit: Die zerbrechlichen Hände der Mutter zerknitterten regelmäßig die Krawatte – ein traditionelles Männlichkeitssymbol44 – ihres Sohnes (Z. 10). Fr8neuse glaubt, in Jean Destreux die Quelle des mysteriösen blau-grünen Blicks gefunden zu haben: »La mer ! Les prunelles d’eau de Jean Destreux ! C’est parce que ces yeux-l/ avaient en eux tout ce que je d8sirais et que j’ai cherch8 depuis et que je poursuis encore, qu’ils sont demeur8s dans mon souvenir.« (MP: 232) In Destreux’ Augen kann sich der junge Fr8neuse spiegeln; ihr Blick gibt ihm, was er begehrt. Doch das »fantime de [s]on enfance« (MP: 219) kam ums Leben, als Fr8neuse noch ein Kind war : Der Knecht wurde bei einem Unfall vom Rad eines Getreidekarrens überrollt (MP: 219 u. 226). Das Rad als Symbol für Zivilisation und Fortschritt verursacht hier den Tod des naturverbundenen Jünglings, dessen Erinnerungsbild Fr8neuse später in der Figur des Antinoos heimsuchen wird.45 Destreux ist das unwiederbringlich verlorene Objekt, weshalb Fr8neuses Rückkehr in die Heimat die gewünschte Heilung nicht leisten 42 Im Jahr vor der Feuilletonpublikation des Kapitels war Zolas F8condit8 mit seinem Fruchtbarkeitshelden Mathieu Froment erschienen. 43 Zu Vitalismus und Mortalismus im 19. Jahrhundert siehe Stöber 2006. 44 Vgl. Freud 1972a: S. 350. 45 Die Verbindung von Jean Destreux zu Antinoos wurde vielfach kommentiert (vgl. etwa Winn 1997: S. 166 u. 196–201).

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kann (»J’y suis revenu dans l’espoir de la gu8rison et je n’y ai trouv8 que l’ennui.« MP: 228) Die Vergangenheit ist unwiderruflich vergangen, seitdem auch das Gut Fr8neuse modernisiert wurde: »Je ne suis pas venu ici pour tuer un spectre ; je n’ai pas mÞme eu cette peine, puisque, dHs mon arriv8e / Fr8neuse, tous les spectres se sont 8vanouis.« (MP: 231) Dennoch bezeichnet sich der schließlich in Monsieur de Phocas umbenannte Fr8neuse, als er dem Herausgeber sein Manuskript übergibt, als einen »amoureux du pass8« (MP: 55). Bevor Fr8neuse sich an das in seiner Kindheit verlorene Objekt erinnert, also die Urszene seiner privaten, individuellen Neurose nacherlebt, schildert er im Kapitel »Le gouffre« (MP: 208) den Tiefpunkt seiner pathologischen Dekadenz. Er beschreibt, wie der von Huysmans in L/-bas geschilderte Wald von Tiffauges für ihn zum Abbild des modernen Lebens wird: »La forÞt de Tiffauges d8crite par Huysmans, le cauchemar sexuel des vieux arbres fourchus et des crevasses b8antes des 8corces a pris odieusement forme parmi la vie moderne […].« (MP: 211) Die sexuell aufgeladenen Bilder gespaltener Bäume und klaffender Spalten in der Rinde verweisen zurück auf die bei Huysmans und Zola mit der Demokratie verknüpften Kastrationsphantasien. Historisch lässt sich Fr8neuses Assoziation mit der Erinnerung an den Bürgerkrieg in der Vend8e begründen. Dort, wo die royalistischen Aufstände von der revolutionären Armee niedergeschlagen wurden, befindet sich auch der Wald von Tiffauges. Im Wald der Vend8e objektiviert sich gewissermaßen die symbolische Kastration der Nation. Diese Signifikantenkette mündet dann auch in explizite Visionen der Französischen Revolution: Fr8neuse assoziiert eine Abbildung zweier junger Frauen, die aneinandergeschmiegt mit einer Taube spielen, mit den Pamphleten des PHre Duchesne gegen Marie-Antoinette und die Prinzessin von Lamballe: Et c’est la plus ignominieuse calomnie du temps, les plus odieux pamphlets du pHre Duchesne, la salissure mÞme des clubs jacobins que ressuscite / mes yeux cette estampe […]. Et ce sont toutes les ordures d8bit8es sur la liaison de Marie-Antoinette et de l’infortun8e princesse qui assiHgent alors ma m8moire. C’est comme une fiHvre. 5 Une fr8n8sie de rut, de cruaut8 aussi m’investit, et, parmi les rumeurs grondantes d’un soulHvement de populaire, je me trouve tout / coup transport8 dans le recul d’un siHcle, par une chaude journ8e d’orage aux abords d’une prison. Une foule suante d’hommes en bonnet rouge, de portefaix / faces de brutes, la chemise d8braill8e sur des poitrines velues, me bouscule et m’8touffe ; on vocifHre ; partout des yeux de haine 10 […]. Des bras nus agitent des piques, et, avec un grand cri, je vois monter dans le ciel de plomb une tÞte coup8e, une tÞte exsangue aux yeux 8teints et fixes […]. C’est une tÞte de femme. Des hommes ivres se la passent de main en main, la baisent aux lHvres et la soufflettent. Leurs fronts bas et fuyants sont des fronts de forÅat. L’un d’eux porte, enroul8 autour de son bras nu, comme un paquet de laniHres 15 sanglantes, tout un nœud de viscHres ; il goguenarde, les lHvres orn8es d’une 8quivoque moustache blonde, on dirait des poils de sexe. Et ce sont, autour de la moustache postiche, des propos ignobles, de gros rires outrageants. Et la tÞte oscille au-dessus de la foule, acclam8e, hu8e, insult8e et bafou8e, brandie au bout d’une pique : la tÞte de la princesse de Lamballe, que les septembriseurs viennent de faire

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20 coiffer, friser, poudrer et raviver de fard […]. Et je me ressaisis, bris8, r8volt8 et charm8 d’horreur. Il y a quelque chose de pourri dans mon Þtre. Les rÞves oF je me plais m’8pouvantent. (MP: 211f.)

Fr8neuse interpretiert seine Faszination von den mit Grausamkeit, Schmutz und Obszönität konnotierten Vorstellungen der Revolution als Ausdruck seiner persönlichen Pathologie (Z. 20–22). Er deutet diese als Ausdruck seiner Triebe, vor denen er selbst zurückschreckt und die immer wieder die Züge einer gespaltenen Identität annehmen: »Un autre homme est install8 en moi… Et quel homme ! Quels effroyables atavismes, quels sinistres a"eux il remue en mon Þtre, ce regard… et les abominables choses chuchot8es par mon d8sir dans la solitude affreuse de mes nuits…« (MP: 85) Die Szene liest sich zugleich auch wie das reenactment einer kollektiven Urszene, in die sich Fr8neuse zurückversetzt fühlt (Z. 6f.). Im Zentrum stehen dabei der fliegende, abgetrennte Kopf der Prinzessin von Lamballe und dessen fröhliche Zerstückelung und karnevaleske Ausstaffierung durch Vertreter des dritten Standes (Z. 11–13 u. 17–20). Nachdem Fr8neuse wie aus einer Trance erwacht ist (Z. 20), kann er sich und seine Visionen distanzierter betrachten und analysieren: Hier liegt der Ursprung des Hasses und der Grausamkeit, die er in den Augen seiner Zeitgenossen zu erblicken glaubt. Lorrains literarische Repräsentation steht im diametralen Gegensatz zur euphorischen Feier der revolutionären Vergangenheit, die ihren Ausdruck in den Jahren 1889 und 1900 im Rahmen der Pariser Weltausstellungen sowie der Olympischen Spiele fand46 und die Canetti in folgende Worte fasst: Das Massensymbol der Franzosen hat eine junge Geschichte: es ist ihre Revolution. Das Fest der Freiheit wird jährlich gefeiert. Es ist das eigentliche nationale Freudenfest geworden. […] Die Erinnerung an die Hinrichtungen jener Zeit, eine kontinuierliche Reihe von Massenerregungen der aufwühlendsten Art, gehört zu diesem Festgefühl mehr, als man es sich eingestehen mag. Wer sich der Masse entgegenstellte, gab ihr seinen Kopf.47

Fr8neuse jedoch erinnert sich an die Revolution als an jenes Ereignis, das sein Ziel, das Gefühl nationaler Einheit zu stiften, verfehlt hat. Die Gegenerinnerung 46 Vgl. zur Selbstpräsentation der Republik bei der Weltausstellung 1889 insbesondere mit dem Eiffelturm Schivelbusch 2001: S. 187, Hubertus Kohle: »Der Eiffelturm als Revolutionsdenkmal«, in Gudrun Gersmann/H. K. (Hgg.): Frankreich 1871–1914: Die Dritte Republik und die Französische Revolution. Stuttgart: Steiner 2002, S. 119–132 und Duclert 2010: S. 20 u. 233. Der populäre Eiffelturm, der gewissermaßen zum neuen, demokratisch verankerten Ideal-Ich der Franzosen wurde, steht auch auf dem offiziellen Plakat zu den Olympischen Sommerspielen 1900 in Paris zusammen mit Marianne im Vordergrund. Die Anordnung ist dabei symbolisch etwas unglücklich gewählt, denn die Spitze des Turms, der direkt unterhalb der sitzenden Marianne platziert ist, deutet auf deren Genitalbereich (siehe Jeux olympiques. Paris 1900. Plakat: , 2012, Stand: 26. 03. 2016). 47 Canetti 1994: S. 203, Hervorh. im Orig.

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gibt dem gefallenen Kopf weit mehr Raum als der souveränen Menge. Dabei verknüpfen Fr8neuses Aufzeichnungen über die Sequenzierung der kollektiven und der privaten Erinnerung die mit bedrohlich sexuellen Bildern besetzte Revolution mit dem Verlust des virilen Vorbilds oder Ideal-Ich. Das Politische wird auf diese Weise privatisiert. Zugleich kann der eigentlich bedeutsame Kopf des Königs somit abermals unbenannt bleiben und auf den der Prinzessin verschoben werden. Allerdings geht es hier nicht einfach um den Verlust des königlichen Ideals, denn der vor Fekundität sprühende Knecht Destreux erinnert wohl eher an den homo novus, der sogar Aristokraten beeindruckt und vom revolutionären Projekt und der nationalen Regeneration überzeugt hat. Dieser kurzlebige »spectre« wurde allerdings von der Moderne überrollt – schon an seinem Namen lässt sich ablesen, dass das Ideal zerstört – d8truit – ist. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Monsieur de Phocas zuerst unter dem Titel Astart8 veröffentlicht wurde. Den Namen Astarte48 trägt auch die verstorbene Geliebte von Byrons Manfred. Dieser hat Astarte getötet und will sie aus dem Totenreich zurückholen; ihr Tod verursacht seinen Weltschmerz. Im Phocas kommt Astart8 zwar noch in Form einer Statue mit Smaragdaugen vor ; ihre titelgebende Bedeutung hat sie jedoch verloren. Dennoch ist Fr8neuse als »amoureux du pass8« ein Nachfolger des Romantikers. Der französische Roman des Fin de SiHcle scheint allerdings der Meinung zu sein, dass das postrevolutionäre Subjekt ein männliches und kein weibliches Objekt bzw. Spiegelbild verloren hat. Worum es sich dabei genau handelt, um den König oder aber um den virilen Revolutionär, bleibt unentschieden. Es stellt sich nun die Frage, ob Lorrains Roman – wie f rebours – beim Ausdruck der konfliktgeladenen politischen Bewusstseinslage des Fin de SiHcle, der dysphorischen Erinnerung an die Revolution und die Reflexion darüber, dass die Vergangenheit unwiederbringlich verloren ist, stehenbleibt oder ob er eine Lösung anbietet.

4.

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Die zentrale Spannung, die den Text beherrscht, ist Fr8neuses Gefühlsambivalenz gegenüber dem Künstler Claudius Ethal, der London wegen eines Gerichtsprozesses verlassen musste. Dieser Hinweis genügt, um die Assoziation mit Wilde, der 1895 der Unzucht beschuldigt worden war, herzustellen.49 Als

48 Zur Signifikantenkette Phocas – Astart8 – castration siehe Cornille 1977: S. 95. 49 Siehe zum Wilde-Prozess Richard Ellmann: Oscar Wilde. Übers. v. Hans Wolf. München: Piper 2000, S. 616ff. Vgl. zur Assoziation von Ethal und Wilde Philippe Jullian: Jean Lorrain ou le Satiricon 1900. Paris: Fayard 1974, S. 257, Pierre Citti: Contre la d8cadence. Histoire de l’imagination franÅaise dans le roman 1890–1914. Paris: PUF 1987, S. 172 und Michel Delon:

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Fr8neuse dem Engländer zum ersten Mal begegnet, empfindet er Freude und Trost darüber, dass er einen Leidensgenossen getroffen hat: Une joie dans mon enfer, une consolation dans les t8nHbres hant8es oF je me d8bats, si toutefois c’est une consolation de ne plus s’y d8battre seul ! Un autre homme a la mÞme obsession que moi, un autre homme a la hantise des masques […] ; mieux, il d8gage imm8diatement le masque de tout visage humain. (MP: 95)

Fr8neuse identifiziert sich nicht nur mit Ethal, er sieht in ihm auch einen möglichen Heiler : Das Kapitel, das Ethal einführt, steht unter dem Titel »Le gu8risseur«. Die Hoffnung auf Heilung wird allerdings teilweise untergraben, als Fr8neuses Faszination für Ethal erotisch aufgeladen wird: »Je sors de son atelier, boulevers8, intrigu8, et pourtant sous le charme ; un instant je me suis cru gu8ri… Eh bien, non, puisque je suis aussi inquiet qu’avant, mais d’une autre inqui8tude, moins anxieux sur mon cas, mais si troubl8 par l’homme !« (MP: 98) Nach Fr8neuses Notizen zu urteilen leidet Ethal weitaus weniger als er selbst – vielmehr scheint es ihm Freude zu bereiten, das Leiden des Franzosen unter dem Deckmantel der Homöopathie zu verstärken: »la seule chance de gu8rison que vous ayez de cette obsession des masques, c’est de vous familiariser avec eux et d’en voir quotidiennement. […] La gu8rison par les semblables, c’est de l’hom8opathie, en somme ; je connais votre cas, c’est le mien.« (MP: 99)50 Ethal führt Fr8neuse die Korruption der französischen Gesellschaft vor Augen, indem er ihm die hässliche, tierische Fratze hinter den Fassaden der Gesichter bewusst macht (MP: 95–97 u. 106). Dies hat zur Folge, dass Fr8neuse den Hass gegenüber seinen Zeitgenossen nur umso stärker spürt (»< mes contemporains […], comme je les hais, comme je les exHcre, comme j’aimerais leur manger et le foie et le fiel et comme je comprends les bombes de l’Anarchie !« MP: 109) Die Macht, die Ethal auf ihn auszuüben beginnt, macht Fr8neuse bald Angst: »Et c’est cet homme qui pr8tend me gu8rir ; je suis entre les mains de cet homme. Que veut-il de moi ? J’avoue qu’une angoisse est en moi, cet Anglais me fait peur.« (MP: 106) Dennoch verflüchtigen sich seine Visionen in Gegenwart Ethals: »Les yeux, je n’ai plus la folie des yeux, cet homme a enchant8 mon mal ; […] je m’8veille en lui comme dans un autre moi plus pr8cis et plus subtil […]. Il a dissip8, 8cart8 mes t8nHbres ; des spectres ne m’y menacent plus.« (MP: 109f., kursiv im Orig.) Sobald Ethal ihn verlässt, sehnt er sich nach ihm: »Quelle place il a prise dans ma vie, comme il me manque ! Sa pr8sence m’est devenue tellement n8cessaire que, depuis son absence, comme une faim me creuse et me tenaille l’Þtre.« (MP: 112) Der Hunger, der zuvor vorübergehend durch das blau-grüne Leuchten hatte »Un type 8patant pour les saloperies«, in Revue des sciences humaines 230 (Heft 2, 1993), S. 163–173, hier S. 168. 50 Du Plessis 2001: S. 75 notiert die Assoziation der »hom8opathie« mit der homosexuellen Liebe zum ›Gleichen‹.

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gestillt werden können, gilt jetzt Ethal. In dessen Abwesenheit wird sich Fr8neuse seines eigenen Mangels, der in der Reaktualisierung der kollektiven Urszene mit der Revolution verknüpft und der im Text auch als Wunde bezeichnet wird, nur umso stärker bewusst: »En effleurant la cicatrice, Ethal a rouvert la plaie… la cicatrice ? La blessure 8tait / peine ferm8e…« (MP: 114) Vor dem Hintergrund der nationalallegorischen Konnotationen, die die beiden Figuren im Laufe der Erzählung erhalten, lässt sich Fr8neuses Begehren politisch lesen: Fr8neuse begehrt den Mann, der den Smaragdring als das Symbol monarchischer und männlicher Souveränität besitzt. Wie lässt sich jedoch angesichts der oben beschriebenen Ohnmachtsphantasien die homoerotische Anziehung, die Ethal auf Fr8neuse ausübt, erklären? Es lohnt sich, hierfür einen Blick zurück auf Fr8neuses Opiumhalluzination zu werfen. Fr8neuse imaginiert dort, dass er zusammen mit Ethal über das englische Imperium fliegt. Mit Verweis auf Jean Pierrot, der vom »climat pr8-freudien«51 der Dekadenz gesprochen hat, ist es wohl legitim, Fr8neuses Halluzination als Erektionstraum zu deuten.52 Nicht allein das gemeinsame Fliegen, sondern auch der Anblick der Obelisken, den Fr8neuse genießt, spricht dafür, dass er mit Hilfe Ethals und unter dessen starkem Griff die Wiedererlangung seiner verlorenen Männlichkeit phantasiert. Es muss hier ein besonderer Fokus auf die Ambivalenz gelegt werden, die darin besteht, dass Fr8neuse sich in Ethals Griff passiv und ohnmächtig fühlt, sich gleichzeitig aber – in der durch das Fliegen symbolisierten Erektion – seiner Virilität vergewissern kann. Mit der Rückkehr der Erektion ist eine Rückkehr der Macht verbunden,53 denn Fr8neuse hatte sich, insbesondere vor der Begegnung mit Ethal, immer wieder von Frauen bedroht gefühlt. Diese Bedrohung erfährt er jetzt wieder, als Ethals Hand ihn loslässt: Nous volions maintenant au-dessus des mar8cages. Tout / coup, la main qui m’emportait me l.cha. Des murs gluants, un terrain gras, une ombre 8touffante et fade : j’8tais dans une crypte dont les vo0tes suintaient, couch8 dans une boue 8trangement mouvante, car elle s’enfonÅait par place et par place se soulevait, et c’8tait 5 comme une mar8e chaude, affreusement 8paisse et fluide, oF mon corps berc8 s’enlisait : des bruissements soyeux, de l8gers crissements… je ne sais quoi d’innommable me frilait, un obscur grouillement me montait aux jambes et au ventre, des souffles chauds m’horrifiaient, et puis, sous mes mains t.tonnantes, ce fut l’effroi de petits corps velus et gras, et tout cela remuait, virait sous moi, sur moi. Par 51 L’imaginaire d8cadent (1880–1900). Mont-Saint-Aignan: Publications des Universit8s de Rouen et du Havre 2007, S. 180. 52 Zum Flugtraum als Erektionstraum vgl. Freud 1972a: S. 385f. 53 Diese Ambivalenz ist vergleichbar mit der psychoanalytischen Deutung des Mythos der Medusa: Der Mann fühlt sich vom Anblick des Gorgonenhauptes zwar bedroht, seine Petrifikation bezeugt aber, dass seine Virilität momentan noch intakt ist (vgl. dazu Derrida 1972: S. 55). Zur etymologischen Verbindung von Impotenz und Ohnmacht und von Erektion und Macht vgl. Todd W. Reeser : Masculinities in Theory. An Introduction. Oxford u. a.: Wiley-Blackwell 2010, S. 30.

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10 moments, un vol d’ailes flasques me souffletait, et puis d’affreux baisers, des petites bouches pointues, oF l’on sentait des dents, se posHrent sur mon cou, sur mes mains, sur mon visage. J’8tais captif d’aspirantes caresses, fouaill8 par tout mon corps de petites morsures savantes jusqu’/ en d8faillir ; j’8tais la proie, des orteils aux cheveux, d’innombrables ventouses ; les bÞtes f8tides se partageaient mon corps, violaient 15 sournoisement toute ma nudit8. Et soudain, dans l’ombre devenue verd.tre, je voyais ricaner les faces singuliHrement gonfl8es des deux Javanaises [qui] menaÅaient mes yeux de leurs ongles aigus irradi8s en griffes dans de longs 8tuis d’or. (MP: 166f.)

Ethals Griff hält Fr8neuse zuerst in sicherer Distanz vor der phobisch besetzten Weiblichkeit, als die beiden Männer unversehrt über Sümpfe schweben. Als die Hand ihn loslässt, verlässt Fr8neuse sofort sein euphorisches Gefühl. Er fällt hinab in die ekelerregenden Sümpfe fettigen, stickigen Schlamms. Die weiblich konnotierte Umgebung nimmt seinen Körper sofort auf; er versinkt in den dickflüssigen Schlieren (Z. 1–6). Tierische Körper setzen sich auf ihn, beißen ihn und saugen ihn aus (Z. 6–15). Die Halluzination wird zum Albtraum, als zwei Frauen seine Augen mit ihren langen Fingernägeln auszukratzen drohen (Z. 16f.).54 Hatte ihn die Verbindung mit Ethal trotz seiner erlebten Passivität noch phallisch-viril gemacht, konnte Fr8neuse sich also vorstellen, dass Ethals Stärke sich ebenso auf ihn überträgt wie in seiner Jugend die Krankheit der Mutter und die Gesundheit der Landburschen, so kehrt die Kastrationsangst zurück, sobald der Engländer ihn loslässt. Fr8neuses Körpergrenzen werden jetzt durchlässig und alles Widerliche dringt in ihn ein (»quelque chose de velu, de flasque et de froid m’entrait dans la bouche qu’instinctivement je mordais et qui m’emplissait la bouche d’un giclement de sang«, MP: 167). Birkett führt das in der Halluzination ausgedrückte ambivalente Gefühl von Dominanz und Unterlegenheit auf Fr8neuses lustvolle Erfahrung sowohl der aktiven Subjektivität als auch der passiven Objektivität zurück.55 Der zweite Teil der Halluzination ist allerdings eindeutig phobisch besetzt. Du Plessis hat deshalb zu Recht auf die »homosexual panic«56 hingewiesen, die zum Ausdruck komme, als Fr8neuse sich von Ethal auf gewaltsame Weise penetriert fühlt. Nach den Schilderungen des durchdringenden Blicks zeugt das Bild des Eindringens in den Mund mit anschließender Ejakulation davon, dass die Körpergrenzen des Duc hier massiv verletzt werden.57 Das, was Ethal Fr8neuse als Heilung verspricht, ist für den Franzosen eine große Unbekannte, vor der er sich fürchtet. Du 54 Die beiden Javanerinnen verweisen intertextuell auf Balzacs Voyage de Paris / Java (1832), einen fiktionalen Reisebericht, der ebenfalls von vampiresken Frauen und der Infragestellung von Genderrollen handelt (vgl. zu Balzacs Text Beizer 1986: S. 69–71). 55 Birkett 1986: S. 204. 56 Du Plessis 2002: S. 75 u. 78. 57 Birkett interpretiert das, was in Fr8neuses Mund eindringt, wie Fr8neuse selbst als das Gegenmittel gegen das Opium (1986: S. 205). Das Bild im Text lässt im Verein mit den phobisch erfahrenen Zärtlichkeiten und Küssen jedoch auch die sexuelle Lesart zu.

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Plessis nennt den Roman deshalb einen »novel of the pharmakon«.58 Die politische Semantisierung der Liaison lässt er dabei allerdings außer Acht. In der Beziehung zu Ethal verbinden sich Angst und Begehren zu einem ambivalenten Gefühl, bei dem der Franzose im Engländer einerseits denjenigen zu erkennen meint, der seinen Mangel füllen könnte, andererseits seine körperliche Unversehrtheit jedoch als von diesem bedroht empfindet. Die Vereinigung mit Ethal weckt nicht nur Imaginationen der eigenen Virilisierung, sondern begründet auch ein Abhängigkeitsverhältnis. Fr8neuse hat sogar Angst um sein Leben, als Ethal ihm von einem schwindsüchtigen Jungen berichtet, den er von der Straße aufgelesen habe. Der Junge, den Ethal als Modell für eine Büste verwendete, sei innerhalb kürzester Zeit gestorben. Fr8neuse fürchtet, dass ihn dasselbe Schicksal ereilen könnte (MP: 126–129). Ethal hatte nämlich aus dem fragilen, kranken Modell das Abbild eines energischen, starken Mannes geformt, ebenso, wie Fr8neuse sich durch Ethal virilisiert fühlt: Presque un Laurent de M8dicis, n’est-ce pas ? Mais autrement intense, avouez-le, avec le recul de ces yeux fixes et le refus obstin8 de cette bouche ! Quelle 8nergie et quelle rancune dans l’avancement des maxillaires aboutissant / ce menton 8troit, et comme on sent que cet enfant-l/, au milieu des 8meutes et des intrigues florentines, a d0 assister / des choses tragiques ! En v8rit8, il a le regard de haine et de stupeur d’un qui aurait vu violer sa mHre, insistait Ethal en maniant complaisamment le buste, et pourtant cette cire est mon œuvre. (MP: 127)59

Die oben aufgestellte These, nach der Fr8neuse die paranoide französische Nation nach 1870 verkörpere, wird hier weiter gestützt durch die Identifikation des Franzosen mit dem jungen Italiener. Dessen hasserfüllter Blick könne Ethal zufolge damit erklärt werden, dass er gesehen habe, wie seine Mutter vergewaltigt wurde. Die symbolische Vergewaltigung der mHre patrie durch die Preußen war nun gerade der Auslöser der französischen Paranoia gewesen. Ethal droht damit, Fr8neuses Wunde – die Wunde der Nation? – erneut aufzureißen. Angesichts des Konflikts, vor dem Frankreich als Republik im imperialistischen Kräftemessen stand, lässt sich der hier nachgezeichnete Affektkonflikt als ästhetischer Ausdruck eines politisch erfahrenen Dilemmas deuten. Ich möchte deshalb die Hypothese verfolgen, dass in Fr8neuses Ambivalenz von erotischem Begehren nach Ethal und paranoider Angst vor ihm die widersprüchlichen Gefühle Frankreichs bezüglich der sich anbahnenden Entente mit England narrativ ausagiert werden. Um diese besser einordnen zu können, sei ein Exkurs zur französischen Bündnispolitik im Fin de SiHcle gestattet. Seit der Unterzeichnung des Freundschaftsabkommens mit Russland im Jahr 1891 versuchte Frankreich, sich aus der außenpolitischen Isolation zu befreien, 58 Du Plessis 2002: S. 76, kursiv im Orig. Vgl. zum pharmakon oben Kap. II.1, Anm. 30. 59 Vgl. zum Lorenzaccio-Intertext Birkett 1986: S. 194 sowie unten Kap. 7, bes. Anm. 160.

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in der es sich seit 1871 befand. Während England seine splendid isolation euphorisch besetzen konnte, wähnte man sich in Frankreich vor allem in Anbetracht des 1882 geschlossenen Dreibundes zwischen Deutschland, ÖsterreichUngarn und Italien in einer ungünstigen Position. Die strategische Isoliertheit unterstrich noch den systempolitischen Kontrast der französischen Republik zu ihren monarchischen Nachbarn. Mit Hilfe der Allianz mit Russland betrieb Frankreich dem Diplomaten Jules Hansen zufolge erstmals seit 1870 eine unabhängige Außenpolitik.60 Das Abkommen habe Frankreich gelassener auf die während der Boulangerkrise neu entflammten Spannungen mit Deutschland blicken lassen und zum Gefühl eines nationalen Wiedererstarkens und zu einem neuen Selbstvertrauen geführt.61 Während der Unterschied der Staatssysteme der beiden Länder für den Zaren Alexander III. zunächst ein Hindernis gewesen sei,62 stand man in Frankreich der Verbindung mit einem monarchischen Land weitaus weniger skeptisch gegenüber. Glaubt man dem Chronisten Francis Charmes, dann hatte Frankreich solche Vorurteile gegenüber Russland nicht. Charmes beschreibt die Allianz vielmehr als eine Art Wahlverwandtschaft, als ein Jawort, das die beiden Nationen einander gegeben hätten.63 Auch der Vicomte d’Avenel bezeichnet das Bündnis als »fianÅailles«, die sich an den regierungspolitischen Unterschieden nicht störten.64 Auf russischer Seite spricht man von einer weniger erotisierten »confraternit8 d’armes«65 bzw. von »affinit8s«66. Beim Staatsbesuch von Nikolaus II. 1896 in Paris kommt es zu einer wahren Glorifizierung des Zaren. Hiervon zeugen die euphorischen Beschreibungen des Ereignisses im populären Petit Journal, wo man am 5. Oktober 1896 lesen konnte: En demandant / Dieu de prot8ger le Tsar, notre hite et notre ami, c’est comme si nous lui demandions aussi de prot8ger la France, puisque les deux nations ont serr8 leurs mains fraternelles, unies en signe d’alliance, les 8tendant / travers l’Europe conjur8e, arm8e en guerre et menaÅante.67

Dabei scheint es kein Widerspruch zu sein, dass Frankreich dem Zaren zu Ehren die revolutionäre Marseillaise singt und gleichzeitig monarchistische Vivats 60 61 62 63 64 65 66

67

L’Alliance franco-russe. Paris: Flammarion 31897, S. 26. Ebd.: S. 28–34, 67f., 71 u. 125. Ebd.: S. 21f. »Chronique de la Quinzaine«, in Revue des deux Mondes 137 (Sept.-Okt. 1896), S. 945–958, hier S. 947 u. 951. Georges d’Avenel: »Chronique de la Quinzaine«, in Revue des deux Mondes 119 (Sept.Okt. 1893), S. 944–954, hier S. 950f. So Charmes 1896: S. 946. Marcel Prousts Monsieur de Norpois bezeichnet den von »Th8odose II« (Nikolaus II.) geprägten und in der französischen Presse vielzitierten Begriff der »affinit8s« als Geistesblitz (»trouvaille«) (f la recherche du temps perdu. Bd. I. Hg. v. Jean-Yves Tadi8. Paris: Gallimard [Pl8iade] 1987, S. 452 u. 455). Le Petit Journal (5. Okt. 1896), S. 1.

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ertönen lässt.68 Anstatt die Unterschiede der Regierungsformen zu verschweigen, unterstreicht der französische Präsident F8lix Faure diese bei seiner Dankesrede an Nikolaus: L’union d’un puissant Empire et d’une R8publique laborieuse a pu d8j/ exercer une action bienfaisante sur la paix du monde. Fortifi8e par une fid8lit8 8prouv8e, cette union continuera / r8pandre partout son heureuse influence. InterprHte de la nation toute entiHre, je renouvelle / Votre Majest8 les souhaits que nous formons pour la grandeur de son rHgne, pour le bonheur de S. M. l’imp8ratrice, pour la prosp8rit8 du vaste Empire dont les destin8es reposent entre les mains de Votre Majest8 imp8riale.69

Die Massen, die den Defilees des Zarenpaares beiwohnen, sowie die Metaphorik des nationalen »relHvement« durch die Allianz zeugen von der Suche nach einer Spiegelfigur, in deren Identifikation sich die Nation aufrichtet. Eine Figur aus Anatole Frances L’Orme du mail (1897), dem zweiten Teil seiner Tetralogie Histoire Contemporaine (1897–1901), bemerkt, dass die Freundschaft des Zaren der französischen Aristokratie und der Armee einen Teil ihrer ehemaligen Größe zurückgegeben habe.70 Durch die symbolische Heirat mit einer Monarchie, so scheint es, kann die französische Republik den ihre nationale Virilität garantierenden ›Ehemann‹ gewissermaßen von außen zurückerhalten, ohne selbst zum System der Alleinherrschaft zurückkehren zu müssen. In diesem Sinne liest sich etwa auch Charles P8guys Beschreibung der Begeisterung, die die Pariser Bevölkerung dem spanischen König bei seinem Aufmarsch in Paris entgegenbrachte, in Notre patrie (1905).71 Die Funktion des russischen Zaren als Retter der Nation ähnelt insofern der eines homme providentiel.72 Auch wenn die Verbindung immer wieder im symbolischen Register der Ehe beschrieben wird, zeugt die häufige Verwendung der Metapher der Brüderlichkeit davon, dass der Fokus auf der Revirilisierung der Republik durch die Allianz liegt. Pragmatisch begründet ist dies durch die von Frankreich erhoffte militärische Stärkung. Das Abkommen gibt dem nationalen Selbstbewusstsein gar einen solchen Auftrieb, dass das Titelbild des Suppl8ment illustr8 des Petit Journal vom 25. Oktober 1896 das franko-russische Bündnis als stolze homo68 Vgl. ebd. und Le Petit Journal (11. Okt. 1896), S. 1. 69 Le Petit Journal (7. Okt. 1896), S. 2. 70 »Et puis l’alliance russe et l’amiti8 du tsar ont contribu8 / rendre / l’aristocratie et / l’arm8e de notre nation une partie de leur ancien prestige.« (Œuvres. Bd. II. Hg. v. Marie-Claire Bancquart. Paris: Gallimard [Pl8iade] 1897, S. 854) 71 Notre patrie. Paris: Gallimard (nrf) 261915, S. 51f. P8guy schildert dort den »c8sarisme civil« des Pariser Volkes (ebd.: S. 23 u. 91), das er wegen seiner Vorliebe für Militärspektakel, royalistische Festlichkeiten und Defilees von Präsidenten (ebd.: S. 49) ein »peuple de rois, peuple roi« (ebd.: S. 42) nennt. 72 Zur Rettung und zur Wiederaufrichtung der Nation als typische Elemente des Kultes um den homme providentiel vgl. Garrigues 2012: S. 11, 117–202 u. 451.

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soziale Verbindung interpretiert und einer grotesken Karikatur des Dreibunds gegenüberstellt (vgl. Abb. 9). Unter dem Titel Le nez de la triplice, imit8 du »Laocoon« antique werden Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien von ihren überdimensionalen Nasen, die an die Schlangen der antiken Laokoongruppe erinnern sollen, umschlungen. Der Dreibund, der durch seine monarchische ›Phallusmultiplikation‹ auf sein politisches Gegenüber Frankreich eine medusenhafte Kastrationsdrohung ausüben konnte,73 kann der Republik seit der Vereinigung mit Russland nicht mehr gefährlich werden. Indem die Karikatur die drei Bündnispartner im Kampf gegen ihre eigenen rüsselhaft verlängerten Nasen zeigt, verlacht sie die ostentative Virilität vor allem Preußens, das hier als Laokoon dargestellt wird. Dass die Allianz allegorisch durch zwei männliche Partner dargestellt wird, ist nun im Hinblick auf den Phocas von besonderer Relevanz. Bei der Allianz mit Russland ist Frankreich um der nationalen Verteidigung und der Revanche willen vor allem an einem funktionierenden militärischen Bündnis interessiert. Dieses wird jedoch von keiner der beiden Seiten eingelöst. Nach einer kurzen Marine-Kooperation im Mittelmeer 1892 zieht Russland sich wieder zurück, weil seine Flotte die ständige Bereitschaft nicht stemmen kann. Frankreich wiederum lehnt 1896/97 eine militärische Unterstützung russischer Interessen auf dem Balkan ab. Als die Republik während der Faschodakrise 1898 ebenfalls nicht auf Russlands Hilfe hoffen kann, stellt sich heraus, dass die praktische Wirksamkeit der Allianz äußert begrenzt ist.74 Der französischen Russophilie des ausgehenden 19. Jahrhunderts steht eine weit verbreitete Anglophobie gegenüber.75 Neuen Zündstoff erhält diese in der Faschodakrise, die das Gefühl nationaler Schwäche in Frankreich auch deshalb wieder wachruft, weil die Hoffnungen in Russland nicht eingelöst werden können. Da Frankreich nicht in der Lage zu sein scheint, seine Interessen in den Kolonien sowie in Europa im Alleingang zu verteidigen, rät die Presse seit November 1898, nach neuen Bündnispartnern zu suchen. Am 23. Januar 1899 wird auch im Parlament darüber debattiert. Da die meisten Parlamentarier gegen eine Versöhnung mit Deutschland sind, sehen sie die einzige Möglichkeit eines nationalen Wiedererstarkens in der Annäherung an England. Schon 1891 hatte sich der französische Außenminister Alexandre Ribot für eine Verständigung ausgesprochen. Englands Politik der splendid isolation sowie sein Missfallen am französischen Revanchegedanken sprachen jedoch lange Zeit gegen eine Ver-

73 Vgl. zur ›Regel‹, nach der die Vervielfältigung von Phallussymbolen in der Traumsprache die Kastration ausdrückt, Freud 1970: S. 258 und Derrida 1972: S. 55. 74 Siehe hierzu die Kapitel »Les malentendus franco-russes« und »Les l8zardes dans l’alliance franco-russe« in Guillen 1984: S. 308–312 und 428–440. 75 Siehe ebd.: S. 281 u. 285.

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Abb. 9: Le Petit Journal. Suppl8ment illustr8, 25. Okt. 1986, S. 1 (H. Meyer, Le nez de la triplice, imit8 du »Laocoon« antique. Farblithographie). Kollektion des Archivs von Meurthe-etMoselle

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söhnung.76 Francis Charmes denkt dennoch 1896 anlässlich des Staatsbesuchs Nikolaus’ II. an eine Triple Entente, wobei auch er das größte Hindernis in Englands Isolationismus sieht. Er schreibt: »Le jour oF la France, la Russie et l’Angleterre se trouveraient d’accord, l’8quilibre du monde serait assis sur les bases les plus solides.«77 Paul d’Estournelles de Constant plädiert in der Parlamentsdebatte im Januar 1899 dafür, den Missverständnissen mit England ein Ende zu setzen, da das Land der Haupthandelspartner Frankreichs sei. Auch vom rechten Spektrum wird eine Verständigung mit England gewünscht.78 Der Außenminister Th8ophile Delcass8 lenkt deshalb in der Faschodakrise vollständig ein und garantiert England im Abkommen vom März 1899 die alleinige Herrschaft über das Nilbecken. Dies sollte zwar von vielen seiner Zeitgenossen und insbesondere von der politischen Rechten als Vaterlandsverrat gewertet werden, legt aber den Grundstein für die 1904 geschlossene Entente Cordiale. Im öffentlichen Diskurs führt es 1899/1900 erst einmal zu einer wahren Flut anglophober Äußerungen.79 Delcass8 selbst versteht sich als Patriot, der in seinem politischen Handeln von der Erinnerung an die Erniedrigungen von 1870/71 geleitet werde. Seit 1890 hatte er vor einer Isolation gewarnt und die französische Zurückhaltung gegenüber England angeprangert.80 Nachdem er die Krise im März 1899 gelöst hat, sagt er schon ab September desselben Jahres voraus, dass England in naher Zukunft die Annäherung an Frankreich suchen werde.81 Mit dem Ziel, die Verständigung voranzubringen, hatte er während der Krise den anglophilen Diplomaten Paul Cambon nach London geschickt. Cambon hatte entgegen der öffentlichen anglophoben Meinung schon 1888 geschrieben: »La politique franÅaise doit Þtre / mon sens une politique non d’alliance mais d’entente cordiale avec l’Angleterre, l’Angleterre que nous citoyons sur tous les points du globe et qui n’a aucun int8rÞt oppos8 aux nitres en Europe.«82 Auf englischer Seite hatte insbesondere der Prince of Wales, der spätere Eduard VII., schon lange vor seiner Thronbesteigung im Jahre 1901 die Annäherung an Frankreich betrieben. Aufgrund seiner häufigen Aufenthalte jenseits des Ärmelkanals und der intensiven privaten Beziehungen seit dem Zweiten Kaiserreich besonders zur französischen Aristokratie, aber beispielsweise auch zu Gambetta, war der Prince of Wales, der »souverain dans [le] 76 77 78 79

Siehe ebd.: S. 313–315 und Guillen 1992: S. 24–29. Charmes 1896: S. 950. Siehe Guillen 1992: S. 28–30. Siehe hierzu Jean-Yves Mollier : »L’image de l’Angleterre dans la litt8rature populaire / la veille de la signature de l’Entente cordiale«, in Diana Cooper-Richet/Michel Rapoport (Hgg.): L’Entente cordiale. Cent ans de relations culturelles franco-britanniques (1904–2004). Paris: Creaphis 2006, S. 79–90, hier S. 82–86. 80 Siehe Christine Geoffroy : Les coulisses de l’entente cordiale. Paris: Grasset 2004, S. 80f. u. 90–93. 81 So ebd.: S. 77. 82 Zit. ebd.: S. 135.

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royaume […] de l’8l8gance masculine«83, eine überaus bekannte Persönlichkeit in Frankreich. Seit Ende der 1870er Jahre hegte er Hoffnungen auf eine Entente und arbeitete später Hand in Hand mit Delcass8.84 Eine so ausführliche Erläuterung der politischen Hintergründe ist notwendig, weil meines Erachtens der simple Verweis auf eine konjunkturelle Anglophobie, das Bewusstsein der britischen Hegemonie oder eine Faszination für englische Perversionen im Fin de SiHcle Lorrains Roman nicht gerecht wird.85 Es muss vielmehr die Ambivalenz mit einbezogen werden, mit der der Diskurs über eine politische Annäherung an England behaftet ist. Denn die Parlamentsdebatten sowie die Äußerungen in der Presse zeigen, dass vor und während der Feuilletonveröffentlichung des Romans ein Bündnis mit England über ein reines Interessenabkommen hinsichtlich der Kolonien hinaus im Raum steht. Dass dies in der Öffentlichkeit skeptisch betrachtet wird, zeigt eine Erzählung, die der Schriftsteller Victor Cherbuliez unter dem Pseudonym G. Valbert ein halbes Jahr vor Beginn der Publikation des Phocas in der Revue des deux Mondes publizierte. Die Handlung der ironisch-sarkastischen Glosse mit dem Titel »Un Anglais qui aimait la France« wird zwar in die Vergangenheit transponiert, bezieht sich aber, wie sich unschwer erkennen lässt, auf die aktuellen Debatten. Die Glosse zeichnet das Bild des frankophilen englischen Intellektuellen Henry Reeve, der zwar patriotisch ist, aber, obgleich er wenig Sympathie für Deutschland empfindet, keinerlei Hass auf andere Nationen hegt. Er sympathisiert mit dem besiegten Frankreich, möglicherweise – das bleibt offen – eher wegen als trotz dessen militärischer Niederlage.86 Der Essayist beschreibt die Beziehungen zwischen den beiden Ländern in folgenden Worten: 83 So betitelt ihn Farid Chenoune: Des modes et des hommes. Deux siHcles d’8l8gance masculine. Paris: Flammarion 1993, S. 113: »depuis longtemps d8j/, il [sc. le prince de Galles, L.Z.] est souverain dans un autre royaume : celui de l’8l8gance masculine. Partout on le copie, on le cite, on se l’approprie.« 84 Siehe Sidney Lee: Der Prinz von Wales: 1841–1901. Dresden: Aretz 1928, S. 216ff., 313–334, bes. S. 313–318 u. 494–504. 85 Die phobische Darstellung Ethals wurde immer wieder auf eine von Lorrain aufgegriffene kollektive Anglophobie zurückgeführt. Vgl. etwa Delon 1993: S. 169f. oder Winn 1997: S. 190 u. 211f. Einzelne Romanpassagen bestätigen diese Einschätzung zweifellos, vgl. etwa: »Oh ! La froide et cruelle sensualit8 anglaise, la brutalit8 de la race et son go0t du sang, son instinct d’oppression et sa l.chet8 devant la faiblesse, comme tout cela flambait dans les yeux d’Ethal […].« (MP: 133) Hier reproduziert Lorrains Phocas die Phantasien Villiers de l’Isle-Adams, der sich in seiner Novelle Le Sadisme anglais von der Affäre der Pall Mall Gazette inspirieren ließ, bei der 1885 ein gewaltiges Kinderprostitutionsnetzwerk in London aufgedeckt worden war. Vgl. hierzu Marc Dufaud: Les d8cadents franÅais. Paris: Scali 2007, S. 218–220. Auf die politische Rivalität mit England verweist Birkett 1986: S. 199, 201 u. 210. Zum Engländer als »type d’8nergie dominatrice« bei Lorrain und im französischen Fin de SiHcle generell siehe Citti 1987: S. 168–173. 86 G. Valbert (Pseudonym v. Victor Cherbuliez): »Un Anglais qui aimait la France«, in Revue des

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Dans l’habitude de la vie, la France et l’Angleterre n’ont aucune raison / se vouloir du mal […]. [C]e sont les deux nations de l’Europe qui ont le plus d’id8es communes. Nous […] admirons la solidit8 de leur gouvernement, l’8nergie de leur caractHre ; il nous co0te peu de reconna%tre qu’ils ont fait de grandes choses, et nous sommes sujets 5 / de violens accHs d’anglomanie. De leur cit8, les Anglais qui raisonnent estiment que la France est n8cessaire / l’8quilibre de l’Europe, que l’entente cordiale des deux pays offre de s8rieux avantages / l’un comme / l’autre, que c’est une soci8t8 d’assurance mutuelle et le moyen le plus efficace de sauvegarder la paix du monde. Mais l’affection que nous portent les Anglais est un sentiment d’une nature 10 particuliHre, sur lequel nous ne pouvons faire aucun fond. Ils sont trHs ombrageux, trHs d8fiants et trHs exigeans ; pour qu’ils consentent / nous aimer ou / nous supporter, il faut que nous soyons infiniment modestes dans nos pr8tentions, que nous n’ayons aucune id8e de nous agrandir, que nous renoncions / rien entreprendre, car ils n’autorisent, ils n’approuvent, ils ne considHrent comme justes et l8gitimes que 15 leurs propres entreprises […] ; tout ce qui leur est permis nous est s8vHrement interdit. (R2M: 224f.)

Schien es zu Beginn der Glosse noch, als ob der Autor gewillt sei, das schlechte Bild, das sich die Franzosen vom Engländer machen, zu korrigieren (R2M: 217– 224), wendet sich hier das Blatt. Im Gegensatz zur franko-russischen Allianz, so die Botschaft, würde ein Bündnis mit dem starken England Frankreich kein nationales Wiedererstarken bescheren. England würde sich vielmehr darum bemühen, das besiegte Frankreich klein zu halten, um seine eigenen Interessen weiter vertreten zu können (R2M: 225).87 Wie beim russischen Bündnis wird die Verbindung der beiden personifizierten Nationen auch hier wieder als Ehebündnis dargestellt. Die Rollen werden jedoch vertauscht: Les FranÅais, quand ils contractent une alliance avec nous, r8pliqua Reeve, sont / notre 8gard dans la situation d’un homme qui a 8pous8 sous le r8gime dotal une femme trHs riche ; on a pris tant de pr8cautions qu’il ne peut disposer d’un penny de la dot. (R2M: 225)

Frankreich müsse sich deshalb mit einem »bonheur tout n8gatif« begnügen, während England das alleinige Recht auf ein »bonheur positif« besitze. Dieses bestehe darin, nehmen und besitzen zu können, was es wolle (R2M: 225f.).88 Dies, so betont der Autor, sei nur die Meinung eines frankophilen Engländers: »Si c’est ainsi que nous 8tions aim8s de l’Anglais qui nous aimait le plus, jugez des sentiments que nous inspirons aux Anglais qui nous aiment peu.« (R2M: 226) deux Mondes 150 (Nov.–Dez. 1898), S. 217–228. Da das Geschehen auf 1856 datiert ist, kann es sich bei der erwähnten, aber nicht weiter spezifizierten Niederlage eigentlich nicht um 1870/71 handeln. Die zeitliche Einordnung ist allerdings kaum konsistent, weswegen es gerechtfertigt erscheint, dennoch von eben dieser Niederlage auszugehen. Ich zitiere die Glosse im Folgenden im Fließtext mit der Sigle R2M. 87 Auch der Prince of Wales war in den Kolonialstreitigkeiten immer auf den Vorteil Englands bedacht (siehe Lee 1928: S. 494). 88 Dieser Egoismus wird England auch im Journal des d8bats politiques et litt8raires vorgeworfen (siehe den Artikel »Le livre bleu et la question de Fachoda« vom 13. Okt. 1898, S. 1).

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Frankreich wird hier in der Rolle eines Mannes gezeichnet, der seiner vermögenden Frau England finanziell das Wasser nicht reichen kann und deswegen von ihr klein gehalten wird. In Anbetracht der Tatsache, dass England mit Victoria tatsächlich eine Königin hatte, deckt sich die Beschreibung mit der politischen Konstellation. England, so stellt es der Text dar, wolle zwar aus Frankreich einen Mann machen, diesen jedoch in der unterlegenen, gewissermaßen kastrierten Position erhalten, die ihm 1871 zugewiesen worden war. Schließlich hebt die Glosse hervor, dass Henry Reeve vor allem ein Frankreich möge, das die englischen Institutionen übernommen hat und über das ein friedliebender König herrscht. Denn Reeve sei sowohl gegen den französischen Cäsarismus als auch gegen die Demokratie (R2M: 227). Ein mächtiger »c8sar«, ein General oder ein neuer Napoleon, könnte dem von einer Frau geführten England ebenso gefährlich werden wie die Revolutionsarmee, die auf der Insel Kastrationsängste ausgelöst hatte.89 Das gemäß den englischen Vorstellungen domestizierte Frankreich dagegen stellt keine Bedrohung für die britische Monarchie dar. Die Position Frankreichs in Reeves Vorstellung ähnelt vielmehr der Rolle Irlands, über das die englischen Monarchen seit dem Act of Union von 1800 in Personalunion herrschten. Diese in der Glosse vermittelte Sicht auf die Dinge scheint schließlich nicht allein einer französischen Paranoia zu entspringen. Sie findet ihre Bestätigung vielmehr in einer in Charmes’ »Chronique« zitierten Äußerung des Lord Salisbury. Dieser bemerkt in Bezug auf die Faschodakrise, dass ein Land, sobald es der Dekadenz anheimgefallen sei, natürlicherweise von einem stärkeren Nachbarn beerbt werde.90 Kann Lorrains Roman vor diesem Hintergrund als fiktionale Verarbeitung der ambivalenten Beziehungen mit England gelesen werden? Die Homoerotik wurde bislang von der Forschung auf die Figur des Oscar Wilde als Schlüssel für Ethal sowie auf den Gemeinplatz des »vice anglais« zurückgeführt.91 Denn im Gefüge der französischen Männlichkeitskrise galt Homosexualität in der Belle Ppoque bekanntlich als ganz und gar unfranzösische dekadente Seuche, die von außen ins Land getragen werde. Deshalb interessierte man sich umso stärker für die englischen und später auch deutschen Skandale etwa um Wilde oder den Grafen zu Eulenburg.92 Andererseits lässt sich die Faszination an homoeroti-

89 Vgl. die Karikatur A Radical Reformer, siehe oben Einleitung, Kap. 1, Abb. 1. 90 Francis Charmes: »Chronique de la Quinzaine«, in Revue des deux Mondes 150 (Nov.– Dez. 1898), S. 469–480, hier S. 471. 91 Vgl. Delon 1993: S. 173 und Winn 1997: S. 160f. u. 212f. Vgl. auch oben Anm. 85. 92 Siehe hierzu Christopher Robinson: Scandal in the Ink. Male and Female Homosexuality in Twentieth-Century French Literature. London/New York: Cassell 1995, S. 9 und R8gis Revenin: Homosexualit8 et prostitution masculines / Paris. 1870–1918. Paris: L’Harmattan 2005, S. 102–110.

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schem Begehren im Phocas auf Lorrains eigene Homosexualität zurückführen.93 Solche Begründungen können das Interesse eines Autors an einer Thematik erklären; deren vielschichtige Einbindung in die Diegese bzw. ihre Funktion innerhalb des komplexen Gefüges eines literarischen Textes erklären sie hingegen nur bedingt. Fr8neuses exzessiver Narzissmus kann nicht nur als typisches kulturelles Symptom der vaterlosen Gesellschaft gelesen werden,94 sondern auch als Reflexion über die nationale Nabelschau, die letztlich immer nur die eigene Dekadenz und die eigene Mangelhaftigkeit offenbart.95 Denn Fr8neuse, der seine innere Leere permanent in der seiner Zeitgenossen gespiegelt findet, gelangt schließlich zum Bewusstsein darüber, dass die unablässige Selbstbeschau steril ist: Je n’ai jamais aim8 […] et toutes les ordures des basses parties de mon Þtre, magnifi8es par l’imagination, ont fait de mon existence une suite de cauchemars. […] [C]’est dans de l’atroce et du monstrueux que j’ai toujours cherch8 / combler l’irr8parable vide qui est en moi. Je suis un damn8 de luxure. Elle a d8form8 ma vision, d8prav8 mes rÞves, d8cuplant horriblement toutes les laideurs et alt8rant toutes les beaut8s de la nature, si bien que le seul cit8 r8pugnant des Þtres et des choses m’appara%t et subsiste en ch.timent de mon vice st8rile. (MP: 215)

Seine Dekadenz erscheint ihm als Folge des kontinuierlichen Kreisens um sich selbst. Die wenn auch niemals explizit als solche benannte Homosexualität, die seine Zeitgenossen als Eigenschaft eines »Þtre hors nature« (MP: 216) erachten, erscheint Fr8neuse deshalb als »lueur« (MP: 214) – so lautet der Titel des Kapitels, das das ›Damaskuserlebnis‹ des Duc und seine ›Erlösung‹ (»chemin de Damas«, »r8demption«, MP: 217) beschreibt. Dieses steht bezeichnenderweise zwischen dem Kapitel, das die Vision der Revolution beschreibt, und dem Kapitel, in dem sich Fr8neuse an Jean Destreux erinnert. Die Erkenntnis, dass das Begehren nach einem Anderen, dass also Lieben seine Heilung sein könnte, ist für Fr8neuse ein ebensolches Damaskuserlebnis wie im zeitgenössischen Diskurs die Faschodakrise. Denn der Konflikt in Ägypten brachte die Gewissheit darüber ins Wanken, dass das Gefühl nationaler Stärke allein auf souveräner Selbstbehauptung beruhe. Im politischen Denken der Epoche hatte dies zu neuen Orientierungen geführt und dazu, Allianzen mit anderen Nationen in

93 Siehe vor allem die frühe Forschung, auf die Cornille 1977: S. 83 verweist. 94 Siehe hierzu Zima 2009: S. 131–139. 95 Zum Narzissmus bei Lorrain und bes. in Monsieur de Phocas vgl. Will L. McLendon: »La signification du masque chez Jean Lorrain«, in Nineteenth-Century French Studies 7 (Heft 1/ 2, 1978/79), S. 104–114, hier S. 112, Winn 1997: S. 177–182 und Jennifer Birkett: »Disinterested Narcissus. The Play of Politics in Decadent Form«, in Patrick McGuinness (Hg.): Symbolism, Decadence and the Fin de SiHcle. French and European Perspectives. Exeter: U of Exeter P 2000, S. 29–45, hier S. 31–36.

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Betracht zu ziehen.96 Anstatt die Hoffnung auf die Heilung der Nation in einen homme providentiel zu setzen, wurde sie jetzt ausgelagert. Ähnlich wie die Glosse in der Revue des deux Mondes zeichnet Monsieur de Phocas das republikanische Frankreich nach der hier verfolgten Lesart als schwächlich-dekadenten Mann. In der Hoffnung, von seiner Schwäche geheilt zu werden, geht dieser eine ambivalent bewertete Verbindung mit einem dominanten Partner ein. Frankreich versucht seine souveräne Potenz hier nicht mehr im heterosexuell kodierten Kolonialismus zu beweisen – in dessen Imaginärem ist die Kolonie ein Objekt der Eroberung und des Besitzes, das aber auch mit der ethnischen und geschlechtlichen Hybridisierung des Kolonisatoren und der weiteren, etwa ökonomischen, Schwächung des Vaterlandes droht.97 Stattdessen geht die Republik ein Bündnis mit einer europäischen Partnernation ein, die durch ihre intakte Monarchie sowie ihren imperialistischen Erfolg als besonders potent gelten kann. Diese Allianz erlaubt es Frankreich einerseits, endlich die Angst vor der bedrohlichen Übermacht der Nachbarn abzulegen. Sie birgt jedoch andererseits das Risiko, dass Frankreich selbst in der unterlegenen, gewissermaßen kastrierten Position gehalten wird.98 Dies ist umso problematischer, wenn man an die französische patriotische Tradition und insbesondere an Jules Michelet zurückdenkt, der Frankreich in Le Peuple (1846) als einzigartige Nation beschreibt und damit die mission civilisatrice begründet. Michelet kritisiert deshalb zwei französische Romane, in denen jeweils ein Engländer als

96 Siehe hierzu Guillen 1992: S. 19. 97 Zur drohenden Hybridisierung des Kolonisators in der Kolonie vgl. Aldrich 2007: S. 130f. Literarisch wurde der Kolonialismus beispielsweise in der deutlich nationalallegorischen Reflexion von Pierre Lotis Roman d’un Spahi (1881) problematisiert. Der Protagonist Jean Peyral, ein junger, stattlicher Mann aus den Cevennen, kommt dort als Spahi in den Senegal und hinterlässt seine Eltern sowie seine Verlobte Jeanne, die er heiraten möchte, sobald er seinen Militärdienst in Afrika abgeleistet hat. Der Roman erzählt meist in interner Fokalisierung auf Jean, wie dieser in Afrika Fuß fasst und schließlich eine Afrikanerin zur Geliebten nimmt. Die auch erotische Bezauberung durch die Kolonie in der Figur der femme fatale lässt Peyral seine Pflichten gegenüber Frankreich vergessen. Der Kolonialismus, der den Weg zur nationalen Erhebung und zur Revanche hatte bereiten sollen, bedroht die Nation mit einer neuerlichen symbolischen Kastration: Für Frankreich ist Peyral bald verloren; die abergläubische afrikanische Geliebte nimmt dem Franzosen mit ihrer mortalistischen Anziehungskraft über die Erinnerungen an seine Heimat hinaus auch sein Geld. Peyral verdankt seine Potenz zwar dem Kolonialismus, macht sie aber nicht für Frankreich fruchtbar. Als er schließlich stirbt, tötet seine Geliebte sich und ihren gemeinsamen Sohn. Sie nimmt dem französischen Mutterland damit das letzte, was Jean ihm hätte zurückgeben können. Der Roman beschreibt also eine lose-lose-Situation: Frankreich kann keinen Nutzen aus der Kolonisierung ziehen, die Kolonie selbst kann die französische Virilität aber auch nicht produktiv für sich verwenden. So wird schließlich nicht einmal der zivilisatorische Missionsgedanke eingelöst. 98 Vgl. dazu das Verhältnis der Briten zum kolonialen Indien, das teilweise in Bildern analer Penetration und Vergewaltigung dargestellt wurde (siehe Reeser 2010: S. 183).

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»Providence invisible, mais pr8sente, qui sauve tout« dargestellt und mit einem schwachen Franzosen kontrastiert wird.99 Die Parallelen dieser Konstellation zur komplexen Gefühlslage in Lorrains Text dürften inzwischen klar geworden sein. Vor diesem Hintergrund erscheint der Engländer Ethal als politischer pharmakon: Die fragile Republik in der Figur des Fr8neuse hofft auf eine virilisierende Vereinigung, ist mit Ethal jedoch der Bedrohung einer erneuten Penetration durch den Vertreter einer monarchischen Nachbarnation ausgesetzt. Die drohende Gewalt, die die Beziehung der beiden Männer aus Fr8neuses Sicht charakterisiert, lässt sich insofern auch als Ausdruck der Angst vor einem möglichen Krieg gegen England lesen. Der Chronist der Revue des deux Mondes hatte im November 1898 die Frage nach Englands tatsächlichen Zielen gestellt und meinte in der englischen öffentlichen Meinung eine Abwendung vom Pazifismus ausmachen zu können.100 Diese Deutung wird auch durch den nicht besonders englischen Vornamen Ethals gestützt. Den Namen Claudius tragen nicht nur der ›dekadente‹ römische Kaiser und die Vice-Figur aus Hamlet, die die Macht des Königs usurpiert.101 Man kennt ihn auch vom antiplebejischen Decemvir Appius Claudius Crassus, der bei Livius die Gefährdung der Republik durch die sexuelle Gewaltdrohung gegen die jungfräuliche Verginia verkörpert.102 Die Geschichtsschreibung konnte nicht endgültig klären, ob Appius Claudius hingerichtet wurde oder sich selbst getötet hat.103 Diese Unsicherheit stimmt nun mit der Interpretation von Ethals Tod im Phocas überein: Während der Leser weiß, dass Fr8neuse Ethals Ring an dessen Zähnen aufschlägt, denkt die Polizei, der Künstler habe sich selbst vergiftet (MP: 274–280). Die nationalallegorische Lesart des homoerotischen Bündnisses kongruiert mit den zeitgenössischen Überlegungen über die Zukunft der französischen Nation, als diese erkennen musste, dass sie nicht in der Lage war, ihre Vorrangstellung innerhalb Europas aus sich heraus zurückzuerobern, wenn sie Republik bleiben wollte. Dies hatte sich einerseits in der Boulangerkrise abgezeichnet sowie andererseits durch den Zweifel am kolonialen Projekt, das

99 Le Peuple. Hg. v. Lucien Refort. Paris: Marcel Didier 1946, S. 239–241. Michelet expliziert nicht, welche Romane er hier meint. 100 Charmes 1898: S. 473. 101 Charakteristika beider Figuren finden sich in Lorrains Claudius Ethal. Vgl. zur Allegorie des Vice Bernard Spivack: Shakespeare and the Allegory of Evil. The History of a Metaphor in Relation to his Major Villains. New York: Columbia UP 1958, bes. S. 151ff., zu Claudius bes. S. 6 u. 203. 102 Zu Livius’ Verginia-Erzählung vgl. oben Einleitung, Kap. 1, Anm. 24. 103 Vgl. F. [?] Münzer : »Appius Claudius Crassus Inregillensis Sabinus«, in Georg Wissema (Hg.): Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. III.2: Campanus ager – Claudius. Neue Bearbeitung. Stuttgart: Metzler 1899, Sp. 2698–2702, hier Sp. 2701.

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Frankreich in Konflikt zu möglicherweise stärkeren Nationen gebracht hatte.104 In Anbetracht der politischen Ideen des Kolonialismusbefürworters105 und AntiDreyfusarden Lorrain ist es verständlich, warum er die Annäherungen an England, die zumindest teilweise mit einer Absage an die eigenen kolonialen Interessen verbunden waren, auf so ambivalente Weise verarbeitet. Als Patriot und Parteigänger der Armee sowie der durch diese repräsentierten nationalen Stärke musste die Vorstellung einer Abkehr von der nationalen Souveränität sein Unbehagen erregen. Die französische Innenpolitik wurde etwa in der Presse oder in literarischen Werken wie BarrHs’ Roman de l’8nergie nationale oder Anatole Frances Histoire contemporaine explizit verhandelt und einlässlich diskutiert. Die Außenpolitik dagegen hat man Pierre Guillen zufolge im öffentlichen Diskurs des Fin de SiHcle nur am Rande und beispielsweise im Wahlkampf von 1898 überhaupt nicht thematisiert. Zwar wurde die franko-russische Allianz in den Zeitungen en d8tail besprochen und sowohl dort als auch in der Bevölkerung euphorisch aufgenommen, die Konflikte mit England im Zuge der Faschodakrise wurden jedoch heruntergespielt.106 Gerade die diskursive Tabuisierung, die in Diskrepanz zu den weitreichenden Konsequenzen der Krise für den nationalistischen Diskurs in Frankreich stand,107 bietet Anlass zur Vermutung, dass die Konflikte Eingang ins politische Unbewusste der Literatur fanden. Die Idee der homoerotischen Allegorisierung der außenpolitischen Beziehungen ist dennoch weder allein auf ein politisches Unbewusstes noch auf Lorrains Schöpfergeist zurückzuführen. Sie ist vielmehr explizit schon in Rachildes Roman Les Hors Nature (1897) ausgeschrieben, in einem Text also, auf den sich Lorrains Roman ebenso deutlich bezieht.108 Les Hors Nature erzählt von der immer ausdrücklicheren homoerotischen Hassliebe zwischen zwei ungleichen Brüdern und ist offensichtlich allegorisch konstruiert: Beide Brüder sind die Frucht der grenzüberschreitenden Liebe ihrer französischen Mutter zu einem deutschen Offizier. Der jüngere Bruder, eine narzisstisch-neurotische Drag-Queen, in dem den anderen Romanfiguren zufolge mehr Frau als Mann steckt, wurde während des Gefechts von Villersexel im Januar 1871 geboren. Er empfindet seine hybriden Wurzeln als Schande und identifiziert sich selbst mit Frankreich. In seinem älteren, selbstbe104 Zum Zweifel am kolonialen Projekt infolge der Faschodakrise vgl. Guillen 1992: S. 24–29. Charmes wirft der französischen Politik denn auch vor, den Kolonialismus zu sehr im Sinne einer Eroberungspolitik betrieben und die Rivalität mit anderen imperialistischen Mächten zu sehr fokussiert zu haben (1898: S. 474–479). 105 Vgl. Du Plessis 2002: S. 65. 106 Guillen 1992: S. 19–22. 107 Vgl. ebd.: S. 23–30 und Mollier 2006: S. 80–87. 108 »Tous et toutes sentent en moi un Þtre hors nature […].« (MP: 216) Vgl. zu Lorrains Bezug auf Rachilde Zinck in MP: 306.

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herrschten und asketischen Bruder, der von deutschem Wissenschaftsgeist durchtränkt ist und ständig als Herkules bezeichnet wird, sieht er den typischen Preußen. Der Roman beschreibt zunächst die Hassliebe der beiden Brüder, die als »louveteau[x]«109 in der Tradition von Romulus und Remus stehen und sich immer gefährlich nahe am Rand körperlicher Auseinandersetzungen bewegen, bevor die Bruderliebe zu einer zwar keuschen110, aber nicht minder leidenschaftlichen Liebe wird.111 Les Hors Nature und Monsieur de Phocas lassen sich demnach als literarische Reflexionen der beiden Bündnisoptionen lesen, vor denen Frankreich um 1900 steht. Das Männerbündnis ist in beiden Romanen sowohl von Erotik als auch von gewaltsamer Rivalität geprägt. Während Rachildes hyperbolische Einlösung der allegorischen Schemata durchaus als ironische Distanzierung von der französischen Selbsterniedrigung insbesondere gegenüber Deutschland gelesen werden kann, lässt sich eine ironische Scheinsolidarisierung in Lorrains Roman schon wegen der größtenteils autodiegetischen Form weniger leicht ausmachen.112

5.

Thomas Welcôme und der Konflikt zwischen England und Irland

Ein weiteres Indiz für die allegorische Lektüre des Monsieur de Phocas sehe ich in der dritten zentralen Figur, dem Iren Thomas Welcime. Er wird gegen Mitte des Romans durch Ethal eingeführt, als dieser ihn in seiner dekadenten Abendgesellschaft vermisst: »Et Thomas Welcime qui n’arrive pas, grognait Claudius en consultant sa montre, c’8tait surtout lui que je voulais vous faire conna%tre, et c’est lui qu’il importait de voir…« (MP: 151) Als Welcime schließlich erscheint, begrüßt Ethal ihn euphorisch: Enfin, la portiHre se soulevait et, cambr8 dans un mince habit noir, un grand jeune homme entrait […]. »Thomas ! enfin…« s’exclamait Ethal en se pr8cipitant au-devant du nouveau venu. Il s’emparait fi8vreusement de ses mains, l’amenait / nous : »Sir 109 Les Hors Nature. Mœurs contemporaines, in Ducrey 1999: S. 641–844, hier S. 674. 110 »Pric, ce n’est pas la femme que je cherche en toi. Ma passion n’a rien de maladif, elle ne d8sire pas.« (Ebd.: S. 761, kursiv im Orig.) 111 Vgl. »mon bien-aim8«, »Ch8ri«, »mon amour«, »donne-moi ta bouche, car je veux boire ton .me« (ebd.: S. 842 u. 844). Siehe zur Ausgestaltung des Motivs der Travestie sowie zur Allegorisierung Guy Ducrey : »Les Hors Nature. Introduction«, in ders. 1999: S. 619–635, bes. S. 626–628 u. 631–633. Vgl. auch Melanie Hawthorne: »EnGendering Fascism: Rachilde’s Les Vendanges de Sodome and Les Hors Nature«, in dies./Richard J. Golsan (Hgg.): Gender and Fascism in Modern France. Hanover: UP of New England 1997, S. 27–48, bes. S. 40–43. 112 Zur ironischen Scheinsolidarisierung siehe Rainer Warning: »Der ironische Schein: Flaubert und die ›Ordnung der Diskurse‹«, in ders. 1999b: S. 150–184, bes. S. 165.

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Thomas Welcime, Irlandais, mon ami.« Je n’avais jamais vu Claudius si 8mu. (MP: 158f.)

Von Beginn an wird die Beziehung der beiden Männer erotisiert, allerdings auf asymmetrische Weise. Während Ethal Welcime vermisst (»Pourquoi arrivez-vous si tard, Thomas ? J’8tais inquiet, j’ai craint que vous ne vinssiez pas.« MP: 159) und sich über sein Kommen freut, ist sein Freund reservierter: »Sir Thomas Welcime r8pondait / peine aux effusions d’Ethal et semblait Þtre venu / regret.« (Ebd.) Hierauf folgt Fr8neuses Schilderung seiner Opiumhalluzinationen. Als er aus diesen erwacht, spürt er seine Hand in der von Welcime, der ihn mit den Worten »Il ne faudrait jamais fumer« (MP: 168) schilt. Während sich die Engländer mit verschlossenen und bedrohlichen Mienen entfernen, reicht Welcime dem wieder aufgerichteten Fr8neuse besorgt einen Tee113. Anschließend geleitet er ihn – trotz Ethals Missbilligung – nach Hause. Der Franzose interpretiert dies als »espHce de tentative de sauvetage« (MP: 170), vermag aber deren Motive noch nicht zu erkennen. Auch die Beziehung zwischen Ethal und Welcime versteht er noch nicht: Un ressentiment contre Ethal, une haine soudaine du peintre ? car sa d8marche desservait plutit Claudius. Mais Ethal m’a dit que ce Welcime 8tait son meilleur ami, et puis je sais bien qu’il existe comme une complicit8, quelque chose d’irr8parable et d’obscur entre ces deux hommes ! (MP: 170f.)

Bald darauf erklärt ihm Welcime das Motiv seines Handelns: Et, sans trop insister sur les mots, sans trop appuyer sur la plaie, comme il m’a fait comprendre en quelques phrases qu’il connaissait et plaignait mon mal, que lui-mÞme en avait souffert, quel danger avait 8t8 jadis, pour lui Ethal, quel p8ril il 8tait maintenant pour moi. (MP: 171)

Der Ire rät ihm, Ethal keinen Einfluss auf sein Leben zu gewähren, da der Engländer ein Vergifter sei, der sich an Kranken vergreife und sie zugrunde richte (MP: 172f.). Ethal habe so, wie er es jetzt bei Fr8neuse versuche, früher Welcime geleitet und dessen Leben in einen »cauchemar moderne« (MP: 178) voller Gefahren und Verbrechen verwandelt. Welcime vergleicht Fr8neuses Besessenheit von Masken dabei mit seiner eigenen Obsession: Comme vous, j’ai eu l’obsession de la mort et de l’horrible ; les masques qui vous hallucinent se pr8cisaient en moi dans une tÞte coup8e, cela m’8tait devenu une ma-

113 Es handelt sich um einen Heilkräutertee (»une eau teint8e d’arnica«, MP: 168) und nicht um den »th8«, zu dem Ethal Fr8neuse geladen hatte (vgl. MP: 139: »je me m8fie du th8 et des drogues asiatiques d’Ethal.«) und den Jarrod Hayes bei Proust als Codewort für den homosexuellen Akt entschlüsselt hat (»Proust in the Tearoom«, in PMLA 110, Heft 5, 1995, S. 992–1005).

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ladie, une d8s8quilibrante obsession ; oh ! j’ai souffert. J’en voyais partout ; partout des rictus de d8capit8s me raillaient. (Ebd.)114

Welcimes Visionen von einer »tÞte coup8e« haben ihm zufolge denselben Ursprung wie Fr8neuses Besessenheit der Masken und der leeren Augen. Welcime schlägt Fr8neuse vor, mit ihm dem dekadenten Paris zu entfliehen und neue Lebenskraft im freien und gesunden Leben junger Kulturen zu suchen (MP: 184). Er berichtet, wie es ihm gelungen sei, sich von Ethal zu lösen, und erzählt euphorisch von seinen Reisen in den Orient, wo er das aktive Leben feierte, die »ivresse des sensations«, die Energie und die »joie de vivre« (MP: 209), kurz: die Regeneration der alten europäischen ›Rassen‹ im vitalen, noch nicht von der Zivilisation korrumpierten Süden.115 Obwohl Fr8neuse sofort mit Welcime sympathisiert, folgt er dessen Einladung nicht. Ethal berichtet ihm daraufhin von Gerüchten, nach denen Welcime einen Mord begangen haben soll. Fr8neuse zweifelt deshalb an seiner Sympathie für den Iren und seiner Identifikation mit ihm: […] ses ignobles r8v8lations sur sir Thomas Welcime… sir Thomas Welcime ! un des seuls Þtres qui m’aient marqu8 un peu de sympathie, la seule .me, en v8rit8, vers laquelle je me sois senti attir8. On dirait que cet Ethal prend plaisir / d8primer en moi toute 8nergie, / d8truire toute illusion… (MP: 189)

Dennoch hält Fr8neuse an den freundschaftlichen Gefühlen für den Mann, in dem er sein Alter Ego sieht, fest: »les salauderies 8ruct8es / propos de Welcime avaient souill8 mon imagination et attrist8 mon souvenir, sans pourtant d8truire la m8lancolique et noble image que l’Irlandais avait laiss8e en moi.« (MP: 203) Dass der sympathische Ire als Fr8neuses Alter Ego dargestellt wird, lässt sich mit Phillip Winn auf die gemeinsame keltische Abstammung, also den ethnischen Kontrast zu Ethal zurückführen.116 Ich würde allerdings dafürhalten, die gemeinsame revolutionäre Vergangenheit der beiden Länder, Irlands Streben nach Unabhängigkeit von England sowie den französischen Blick hierauf mit in Betracht zu nehmen. Die irische Geschichte ist seit der Kolonialisierung durch England zu Beginn des 17. Jahrhunderts vom Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung gekenn114 In einer früheren Version des Phocas mit dem Titel Un d8moniaque (1895) hat M. de Burdhes, Fr8neuses Vorgänger, eben diese Obsession. Dort wird von ihr auch direkt im Anschluss an die Revolutionsszene berichtet (Jean Lorrain: Œuvres romanesques. Bd. II. Hg. v. Alain Toupin. [Paris]: Coda 2010, S. 15). 115 Pierre Masson führt Welcimes Nomadismus auf den Intertext der Nourritures terrestres (1897) zurück, den Lorrain auch explizit anführt (MP: 233) (»Monsieur de Phocas ou Quand Gide et Wilde se rencontrent chez Jean Lorrain«, in Bulletin des amis d’Andr8 Gide 7, Nr. 42, 1979, S. 51–57). 116 Winn 1997: S. 190.

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zeichnet. Nachdem die irischen Hoffnungen erstmals nach der Enthauptung Karls I. in Oliver Cromwells Rückeroberungsfeldzug zunichte gemacht worden waren,117 kam es im Zuge der Französischen Revolution im Jahr 1798 zu größeren Aufständen. Obgleich diese militärischen Beistand durch französische Truppen erhielten, wurden sie von England brutal niedergeschlagen. Die paradoxe Folge der Rebellion war die staatsrechtliche Vereinigung mit England im Act of Union von 1800.118 Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstarkten dann republikanische Home Rule-Bewegungen, die mit einem dezidierten Nationalismus verknüpft wurden und für die Aufhebung des Act of Union eintraten. Nachdem 1886 und 1893 jeweils eine Gesetzesinitiative für Home Rule gescheitert war – im zweiten Fall nur noch am House of Lords – wurde die Etablierung einer autonomen Regierung erst 1914 bewilligt, aber noch nicht umgesetzt.119 Von der Präsenz der Irlandfrage im öffentlichen Diskurs in Frankreich zeugt etwa ein knapper Verweis einer der Figuren aus Catulle MendHs’ Roman Le Chercheur de tares (1898).120 Auch BarrHs erwähnt die Grausamkeiten Englands gegenüber Irland in einem Artikel im Figaro vom 16. November 1901: FranÅais, / vous juger sur certaines conversations et sur quelques articles de journaux que vous lisez, vous ne poss8dez pas une id8e pr8cise des conditions morales oF vivent les annex8s en Alsace-Lorraine. Si les Alsaciens-Lorrains enduraient les brutalit8s qui d8gradent l’Irlande, comme ils vous int8resseraient ! Leur misHre vous emplirait d’8motion.121

Sucht man nun nach einem historischen Referenten für das Bild der »tÞte coup8e«, das Welcime verfolgt, so ließe sich sowohl die Enthauptung Karls I. als auch die Ludwigs XVI. anführen. Die Revolutionen in England und Frankreich schürten die Hoffnung auf die irische Unabhängigkeit, welche aber in beiden Fällen erstickt wurde. Bei Erscheinen des Phocas war Irlands Autonomie rechtlich noch nicht vollzogen. Die Beziehung zwischen Ethal und Welcime verhält sich hierzu analog: Für Ethal ist die Verbindung noch intakt, Welcime dagegen hat sich innerlich schon längst von seinem ›Freund‹ oder besser Gebieter verabschiedet. Sein Nomadismus zeugt deutlich von seinem Verlangen nach Freiheit. Er konnte sich von seinem Unterdrücker emanzipieren und steht damit im Kontrast zu zweien seiner Landsleute, Maud White und deren Bruder Reginald, die regelmäßig an Ethals Abendgesellschaften teilnehmen und so sehr 117 118 119 120 121

Michael Maurer: Kleine Geschichte Irlands. Stuttgart: Reclam 1998, S. 115–118. Ebd.: S. 170–182. Ebd.: S. 183, 227–246 u. 258–266. Le Chercheur de tares, in Ducrey 1999: S. 251–483, hier S. 414. »Les annex8s«, in Maurice BarrHs: Romans et voyages. Bd. II. Hg. v. Vital Rambaud. Paris: Robert Laffont 1994, S. 286.

Thomas Welcôme und der Konflikt zwischen England und Irland

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in deren dekadentes Milieu integriert sind, dass Fr8neuse Maud an einer Stelle als »Anglaise« (MP: 142) bezeichnen kann. Dass die Iren dabei auch Gewalt ausgesetzt sind, suggeriert eine Halluzination, in der Fr8neuse zu sehen meint, wie sich die »bouche vorace« der fürchterlichen alten Herzogin von Althorneyshare in Mauds Nacken gräbt (MP: 164).122 Die Irlandfrage ist nun insofern wichtig für das Verständnis der englischen Außenpolitik, als England sich um die Jahrhundertwende, dann, als der irische Separatismus erste Erfolge zu verzeichnen hat, von seiner Politik der splendid isolation löst, um nach Bündnispartnern zu suchen. Vor diesem Hintergrund ist Irland ein gutes Beispiel, um die Gefahren einer Allianz mit England narrativ zu beleuchten. Es stellt sich allerdings die Frage, wie die Ambivalenzen zu verstehen sind, die Fr8neuses Sympathie für Welcime erfährt, nachdem er von dessen mutmaßlichem Mord in Kenntnis gesetzt wurde. Ein Blick auf die Auseinandersetzung mit der Irlandfrage in Frankreich mag hier Indizien liefern. Ich beziehe mich exemplarisch auf die populäre, antirepublikanische Tageszeitung Le Gaulois der 1880er und 1890er Jahre, die die Frage regelmäßig thematisiert und Lorrains politischen Ansichten nahesteht. Darüber hinaus ist sie als literarische und politische Zeitung, für die unter anderem Barbey d’Aurevilly, Huysmans, Maupassant und Bourget geschrieben haben, ein Blatt, dessen Inhalte in literarischen Kreisen diskutiert wurden. Grundsätzlich sympathisiert der Gaulois mit den irischen Unabhängigkeitsbestrebungen und verurteilt den englischen Druck auf Irland.123 Am 10. August 1898 erinnert die Zeitung daran, dass das französische Directoire Irland hundert Jahre zuvor beim Aufstand gegen die englische Kolonialmacht unterstützen wollte.124 In der Ausgabe vom 20. Dezember 1885 wird eine mögliche irische Unabhängigkeit als »d8membrement« Großbritanniens bezeichnet, welches, so die polemische Aussage des Blattes, wohl der erste Schritt hin zu einem »Finis Britanniae« wäre.125 Ein ambivalenteres Urteil zeigt sich in einigen Artikeln, die sich mit dem Mord an Frederick Cavendish, dem britischen Chefsekretär für Irland, und dessen Staatssekretär Thomas Burke durch irische Freiheitskämpfer in Dublin 1882 befassen. Le Gaulois sowie andere ausländische ›Freunde Irlands‹ verurteilen die Attentate.126 Ein ausführlicher Artikel über »La crise irlandaise« berichtet davon, dass der Verdacht bestehen bliebe, es handele sich um politische Morde, obwohl sich die bekannten Unabhängigkeitsbewe122 Die allegorische Konstruktion ist hier allerdings alles andere als konsistent, da in Ethals Abendgesellschaft Figuren aus vielen verschiedenen Ländern zusammenkommen. 123 Vgl. die Ausgaben vom 15. Febr. 1881, vom 9. Apr. 1886, vom 30. Nov. 1890, vom 20. Aug. 1892, vom 20. Mai und vom 12. Juni 1898. 124 Le Gaulois (10. Aug. 1898), S. 1. 125 Le Gaulois (20. Dez. 1885), S. 1, kursiv im Orig. 126 Le Gaulois (8. Mai 1882), S. 1 und Le Gaulois (9. Mai 1882), S. 1f.

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gungen von den Attentaten distanziert haben. Der Verfasser des Beitrags betont, dass der irische Nationalismus im Volk eine breite Unterstützung erfahre und keine Minderheitsbewegung sei, es sich jedoch nicht um eine republikanische Revolution handele: »Ce n’est ni un 89 ni un 93 ; c’est moins encore 1848 avec ses d8cha%nements d’utopies socialistes.«127 Er plädiert dafür, die Gründe für die irischen Forderungen genau zu untersuchen, und kritisiert zugleich die englische Unterdrückung und ihre unnachgiebige Haltung in der Krise scharf: »Le lien qui rattache l’Irlande / l’Angleterre n’est pas celui de l’unit8 nationale. Il r8sulte de la conquÞte, et la domination de la m8tropole n’a jamais d8pouill8, jusqu’/ ces derniHres ann8es, le caractHre d’une oppression plus ou moins d8guis8e.«128 Die Dubliner Attentate und ihre Besprechung im Gaulois gehen der Entstehung des Phocas zwar sehr lange voraus, die Erinnerung an sie wurde jedoch durch einen Artikel vom September 1896 wieder wachgerufen. Die Meldung berichtet von mehreren Aufständen der Aktivisten und missbilligt den seit den Attentaten von 1882 erstarkten irischen Terrorismus, der die Bewegung von ihrem ursprünglichen Ziel abgebracht und Kriminalität an die Stelle des Strebens nach Selbstbestimmung gesetzt habe.129 Den sympathisierenden Stimmen mischen sich also auch distanziertere Betrachtungen bei – ganz ähnlich wie im Phocas, wo die Vermutungen über Welcimes Kriminalität einer eindeutigen Parteinahme Fr8neuses für den Iren entgegenlaufen. Eine allegorische Lektüre des Romans hat diese ambivalenten Semantisierungen in ihre Deutung zu integrieren, was nun allerdings nicht bedeutet, dass Welcimes mutmaßlicher Mord an De Burdhes als unmittelbare fiktionale Transposition der Dubliner Attentate zu verstehen wäre. Vielmehr können auf der Grundlage zeitgenössischer Diskurse Hypothesen zum Verständnis narrativer Leerstellen130 gebildet und Analogien festgehalten werden. Der Roman gestaltet also die zeitgenössischen Konflikte der französischen Bündnispolitik, so meine These, allegorisch über die männliche Homoerotik und den zentralen Affektkonflikt, der an ihr ansetzt, aus. Er transponiert ein politisches Dilemma auf ein Thema, das dann zum roten Faden der Diegese wird. Wie es das Incipit gezeigt hat, legen sich die ästhetizistischen Kunstbetrachtungen hier noch deutlicher als bei Huysmans als allegorisches Velum über den politischen Subtext. Sie begraben diesen unter einer oberflächlichen, quasiornamentalen Decknarration, die mit Jacques Derrida als die »dissimulation de

127 128 129 130

Le Gaulois (16. Mai 1882), S. 3. Ebd. Le Gaulois (16. Sept. 1896), S. 1f. Zum Begriff der Leerstelle vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 21984, S. 289–315.

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la texture« begriffen werden kann, als »[l]a toile enveloppant la toile«.131 Der Smaragd, in dem die Fäden der Signifikantenkette um Fr8neuses Phantasien zusammenlaufen, nimmt dabei auch die Funktion eines Intertextualitätsmarkers an. So notiert Zinck, dass der Titel des Kapitels über die Opiumhalluzinationen – »Smara« (MP: 165) – außer auf Charles Nodiers Smarra (1821) auch auf Georges Eekhouds Escal-Vigor (1899) und die dort explizit behandelte Homosexualität anspielt: Eekhouds Protagonisten suchen ihr Liebesglück auf der Insel »Smaragdis«.132 Auf diese Weise wird die Symbolik des Steins umgewertet und von der im Kapitel »L’Œil d’Eboli« entwickelten politischen auf eine erotische Ebene verschoben – letztere ist in der Ringsymbolik an sich schon angelegt.133 Das Thema der Homosexualität entwickelt dabei eine Eigendynamik: Insbesondere die weibliche Homosexualität wird in der Schilderung von Ethals soir8e zum Spektakel gemacht (vgl. MP: 142, 148 u. 152).134 Ihr männliches Korrelat versteckt sich stärker hinter Anspielungen und einer ambivalenten Bildlichkeit. In Anbetracht dessen hat man das Politische wohl auch als occasio zu bezeichnen, an der die Dekadenzphantasien sowie der literarische Ausdruck nicht-normativer Identitäten ihren Ausgang nehmen. Diese Bewegung des Textes wird, so möchte ich nun zeigen, im Roman selbst reflexiv in Szene gesetzt.

6.

Gustave Moreaus Les Prétendants als mise en abyme der allegorischen Verschiebung des Politischen

Auf die zentrale Bedeutung von Gustave Moreaus Les Pr8tendants für die Literatur der Dekadenz sowie insbesondere für Monsieur de Phocas hat Birkett aufmerksam gemacht. Fr8neuse betrachtet das großformatige Gemälde, das die Heimkehr des Odysseus darstellt, im Pariser Moreau-Museum (MP: 253–255). Im Vordergrund sieht man eine größere Menge androgyn gezeichneter Freier, die den scheinbar aus dem Nirgendwo zielenden Pfeilen des Odysseus wehrlos ausgeliefert sind. Das Zentrum wird dominiert von der hell erleuchteten Er-

131 Derrida 1972: S. 79. 132 Zinck in MP: 307f. Escal-Vigor war 1898 im Mercure de France vorab publiziert worden. Als Eekhoud wegen der Verbreitung unzüchtiger Schriften gerichtlich verfolgt wird, unterzeichnet Lorrain einen von Alfred Villette initiierten Protestbrief (siehe hierzu ebd.: S. 308). 133 Vgl. etwa Charles Perraults Peau d’.ne (1694). Dort möchte der Prinz nur diejenige heiraten, deren Finger genau in den Ring passt, den die unter dem Namen »Peau d’.ne« bekannte Königstochter in einen Kuchen eingebacken hat. Schon hier wird die sexuelle Symbolik des Ringes politisch besetzt (zu Peau d’.ne vgl. etwa Leopold 2014: S. 167–182). 134 Außer in der Freude am Outing des Anderen (vgl. Du Plessis 2002: S. 78f.) erschöpft sich deren Bedeutung wohl in der im Roman ausgestellten dekadenten Entdifferenzierung.

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Politische Allianzen: Jean Lorrains Monsieur de Phocas

scheinung der Göttin Athene, die der Darstellung des abgeschlagenen Hauptes von Johannes dem Täufer in Moreaus L’Apparition ähnelt (vgl. Abb. 10 u. 11).

Diese Abbildung ist aus rechtlichen Gründen nur in der Printausgabe enthalten.

Abb. 10: Gustave Moreau, Les Pr8tendants (Detail). Öl auf Leinwand, 1852–97. Mus8e Gustave Moreau, Paris

Abb. 11: Gustave Moreau, L’Apparition (Detail). Öl auf Leinwand, undatiert. Mus8e Gustave Moreau, Paris

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Für den Betrachter ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen, wer für das dargestellte Blutbad verantwortlich ist. Als Ursache kommt, wie es Birkett feststellt, zunächst nur Athene in Betracht, den wahren Urheber – Odysseus – erkennt man kaum:135 Er befindet sich im Türrahmen stehend im Hintergrund des Bildes, ist aber deutlich durch sein Attribut, die Eule, gekennzeichnet (vgl. Abb. 10). Birkett deutet das Bild als eine romantisierte Version der Dekadenz, in der das Streben nach Macht, nach dem Besitz der ›Königin‹ als Symbol für die legitime Machtübernahme, gescheitert und in Gewalt und Chaos umgeschlagen ist.136 Wie schon erwähnt setze Lorrains Werk die Schuld des symbolischen Vaters in Szene, dessen Gesetz zwar eine überaus mächtige Anziehungskraft ausübt, aber im Konflikt zum individuellen Wunsch nach Freiheit steht.137 Birkett kommentiert in diesem Zusammenhang Lorrains Erzählung »Hylas«, die abbricht, nachdem der titelgebende Prinz vor dem König geflohen ist, treffend mit den Worten: »outside the king’s palace there are no known worlds«.138 Da es keine bzw. noch keine inhärent republikanische Gesellschaftsordnung gibt, die nicht nur als negative Version des monarchischen Modells beschreibbar wäre, bleibt die Faszination für letzteres bestehen bzw. kann jedes Handeln immer nur am Maßstab dieses Modells bewertet werden. Dass ›das Volk‹ dem alten Modell huldigt, sieht man in Moreaus Triomphe d’Alexandre über das eroberte Indien, das Fr8neuse ebenfalls betrachtet. Birkett liest es als Transformation der alten Tyrannei in die demagogische Fantasie einer Führerfigur, die alle Widersprüche überwindet, das Alte mit dem Neuen verbindet und die tradierte phallische Macht in eine verführerische Verkleidung hüllt.139 Fr8neuse schreibt zu dem Bild: C’est, dans une splendeur et un grandiose d’architecture 8voquant toute la magie de l’Inde ancienne, un mouvement de foule, une somptuosit8 de figures et de cortHges […] adorant je ne sais quelle figure d’homme assis sur un trine inaccessible, une espHce d’autel monumental 8chafaud8 sur des motifs de d8coration chim8rique […]. Et de ces nuances, de cet ensemble et de tous ces d8tails s’8manent un tel charme et une telle 135 Birkett 1986: S. 5f. 136 Ebd.: S. 6. Peter Cooke deutet das Gemälde als Ausdruck der Desillusion des reaktionären Moreau über das dekadente Zweite Kaiserreich und als »supreme image of private wishfulfilment« (»History Painting as Apocalypse and Poetry : Gustave Moreau’s Les Pr8tendants 1852–1897, with Unpublished Documents«, in Gazette des beaux-arts 127, Nr. 1524, 1996, S. 27–47, hier S. 36). Die Wunscherfüllung bestünde in der Evokation einer Rückkehr zur Ordnung (ebd.: S. 29). 137 Birkett 1986: S. 220f. Vgl. oben Anm. 11. Birkett spricht angesichts von Lorrains Werk von einem geheimen Einverständnis der modernen Gesellschaft darüber, die väterliche Macht zu bewahren (ebd.: S. 201). 138 Ebd.: S. 221. 139 Ebd.: S. 205f. Für die hommes providentiels wie Napoleon oder Boulanger war Alexander der Große bekanntlich ebenso Vorbild wie für Ludwig XIV. (vgl. Garrigues 2012: S. 212f.). Zum »demagogue« Boulanger siehe Birkett 1986: S. 9f. u. 13.

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douceur, une telle joie enivr8e de vivre, si l’on pouvait, dans cette ambiance en mÞme temps qu’un si poignant regret de n’avoir jamais connu ces 8poques et ces foules, que le d8go0t vous prend de ce temps et de notre civilisation et qu’il para%t tout simple d’en mourir. (MP: 251f.)

Die von der Masse bewunderte männliche Gestalt sitzt auf einem unerreichbaren Thron, den Moreau ornamental ausschmückt und zur religiös überhöhten Chimäre macht, zu einem Modell, im Kontrast zu dem Fr8neuse die Gegenwart als dekadent erlebt. Reflektiert Lorrains Text hier darüber, dass das Gemälde gerade deshalb eine solche Anziehungskraft ausübt, weil der Betrachter Zeiten wie die Alexanders selbst nie erlebt hat? Das virile Ideal ruft eine Nostalgie hervor, weil es, so ließe sich mit Bezug auf Freuds Totem und Tabu anführen, seit der Gründung der Republik und dem kollektiven ›Vatermord‹ unerreichbar ist. Als Totem rückt es in die Sphäre des Imaginären,140 wo es nach Belieben ausgeschmückt werden kann – auch und gerade dann, wenn der Alexander der Vorzeit nur ein phantasierter und nachträglich postulierter Hordenvater – eine Chimäre – ist. Eben dies steht in Les Pr8tendants zur Debatte. Keinem der Freier gelingt es, Penelope zu erobern, weil aus dem Hintergrund ein fast unsichtbares, aber alles beherrschendes Modell heroisch-viriler Macht agiert, dem keiner entsprechen kann und dem gegenüber alle hilflos sind. Diese Problematik verhandelt auch Edmond Rostands L’Aiglon (1900). Das Stück zeigt den jungen, sanften aber ambitionierten Napoleon II., der im Vergleich mit seinem Vater und dessen heroischem Machtmodell nicht bestehen kann und deshalb scheitern muss.141 Die Handlungsunfähigkeit der Republik, die die Nation nicht ›in Besitz nehmen‹ kann, lässt sich darauf zurückführen, dass sie sich nicht von der Übermacht des phantomartig zurückgekehrten ›rechtmäßigen‹ Ehemannes der Nation befreien kann, auch wenn sie sich gegen diesen auflehnt wie die beiden heroischen jungen Freier, deren Märtyrertod Fr8neuse bewundert. Deren Willen zur Selbstbehauptung beeindruckt Fr8neuse, der in ihren sterbenden »yeux d’angoisse et d’8pouvante« (MP: 255) den ersehnten Blick zu erkennen meint. Um diesen Blick wiederzusehen, tötet er beinahe eine junge, hilflose Prostituierte und identifiziert sich dabei mit Ethal (vgl. MP: 256–261). Dieser erbärmliche Versuch, an die Position der Macht zu gelangen – eine »piteuse et banale aventure« (MP: 257) –, scheitert und zeigt, dass Fr8neuse nicht erkennt, dass es in Les Pr8tendants um die unsichtbare Macht des (abgesetzten) Monarchen geht, der jedes politische Denken und Handeln beherrscht. Er führt die Bedrohung vielmehr auf die übermächtig scheinende Athene zurück, die ihm zufolge Odysseus’ Pfeile auf die hilflosen Opfer lenkt: 140 »Totem und Tabu« [1912–13], in Freud 1974: S. 287–444, bes. S. 395–444. 141 Vgl. zu L’Aiglon und dessen Rezeption Datta 2011: S. 129–137.

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[C]’8tait aussi une scHne de meurtre : le meurtre des pr8tendants dans le palais de P8n8lope au retour d’Ulysse. Le h8ros s’apercevait au fond, debout dans l’embrasure d’une haute porte de bronze, et Minerve, la Pallas hirondelle de l’Odyss8e, dirigeait les flHches de son arc. (MP: 253f.)

Fr8neuse folgt in seiner Deutung zwar der Vorgabe der Odyssee. Sein Gedanke exemplifiziert aber auch den Reflex des Fin de SiHcle, die Vorherrschaft des unerreichbaren väterlichen Ideals auf die vermeintliche Übermacht der Frau zu projizieren. Während deren Emanzipation und bedrohliche Virilisierung, das heißt Ermächtigung, sichtbar ist, lässt sich das Nachwirken des monarchischen Machtmodells allein im Imaginären verorten. Vielleicht vergreift sich Fr8neuse deshalb auch zuerst an einer Frau. Das Gemälde, von dem Fr8neuse unwillkürlich angezogen wird (MP: 253), offenbart allerdings noch etwas anderes: Fr8neuse verwendet immer wieder das Adjektiv glauque zur Beschreibung des blau-grünen Leuchtens, das ihn verfolgt. Die etymologische Wurzel des Wortes glauque ist nicht nur das griechische ckauj|r (glaukos: ›blassgrün‹), sondern auch ckaOn (glaux: ›Eule‹). In der Odyssee wird Athene als »he², ckauj_pir )h¶mg«142 (Thea Glaukopis Athene) bezeichnet, was Leconte de Lisle in seiner Übersetzung mit »AthHnH, la D8esse aux yeux clairs«143 wiedergibt. Das Adjektiv ckauj_pir steht in Bezug zur scharfblickenden Eule als Athenes Attribut – der Littr8 verzeichnet »glauques« als Bezeichnung für die Ordnung der »hypsoptHres, comprenant les chouettes«.144 Da die Eule in den Pr8tendants mit dem virilen Odysseus als dem patriarchal-monarchischen Machtmodell und damit als dem Gegenspieler der androgynen Freier assoziiert ist, lässt sich das Wort glauque auf das politische Unbewusste, das Fr8neuses Obsession des blau-grünen Leuchtens zugrunde liegt, beziehen. Die Vokabel vereint damit beide Aspekte eines Paradoxons: Mit ihr ist nicht nur das Blindheit hervorrufende glaucome – und damit außer den leeren Augen von Fr8neuses Zeitgenossen auch das blinde Auge der Prinzessin von Eboli – assoziiert, sondern ebenso der besonders scharfe Blick der Eule, der metonymisch in Moreaus Gemälde sowie in der Odyssee selbst mit Odysseus’ durchdringenden Pfeilen verbunden wird und im Phocas auf Ethals bohrenden, penetranten Blick – und die souveräne Macht Philipps II. – zurückverweist. Die Verknüpfung des Signifikanten glauque mit dem Signifikat der monarchisch kodierten Virilität wird außerdem über sein Synonym viride (›blau-grün‹/ 142 Odyssee. Griechisch und Deutsch. Mit Urtext, Anhang u. Registern. Übertr. v. Anton Weiher. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 1994, S. 8 (Odyssee I, 44). 143 L’Odyss8e. Übers. v. Leconte de Lisle. Paris: Alphonse Lemerre 1877, S. 2. Weiher übersetzt mit »Athene, die Göttin mit Augen der Eule« (Homer 1994: S. 9). 144 Emile Littr8: Dictionnaire de la langue franÅaise. Bd. IV. Paris: Gallimard Hachette 1957, S. 106.

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›grün‹)145 gestützt. Mit diesem raren Adjektiv charakterisiert Fr8neuse eine gerade aufgereckte Lilie auf einem der Gemälde Moreaus: D’un monceau de corps en putr8faction une 8norme tige de lys jaillissait ; viride146 et lisse, elle montait, droite, et, dans les p8tales g8ants de sa fleur, portait, assise, une mystique princesse, une jeune et svelte figure de sainte aur8ol8e, tenant d’une main le globe et de l’autre une croix […]. (MP: 253)

Hier verschmelzen die lautlich evozierte Virilität, die Symbolik der phallischmonarchischen Lilie und die Farbe blaugrün. Man hat also die Vokabel glauque ebenso von ihrem allegorischen Velum zu befreien wie die Figur des Meeresgottes Glaukos (CkaOjor) aus Platons Politeia. Dessen »ursprüngliche Natur« ist kaum noch erkennbar, da sein Körper entstellt und von Muscheln, Tang und Steinen bedeckt ist. Was unter dem oberflächlichen Körper verborgen ist bzw. der »ursprünglichen Beschaffenheit« entspricht, steht bei Platon für die Seele und deren Begehren nach Erkenntnis.147 Glaukos lässt sich damit gewissermaßen als Allegorie der Allegorie verstehen: Er verkörpert die allegorische Anders-Rede, die das Eigentliche unter dem Uneigentlichen verbirgt. Aufschlussreich für Lorrains Verwendung ist darüber hinaus der Name des Gesprächspartners des Sokrates in dieser Episode: Glaukon (Cka}jym). Glaukon gegenüber hebt Sokrates an anderer Stelle die Notwendigkeit hervor, die Buchstaben als Bestandteile der Schrift zu unterscheiden und zu durchschauen, um des Lesens kundig zu werden.148 Direkt im Anschluss daran grenzt Sokrates in einer Reflexion über die Schönheit die besonnene Mäßigung in der »rechte[n] Liebe« von der »[rasenden] Sinnenlust« ab und vermutet, dass Glaukon selbst einen schönen »Geliebten« habe oder gehabt habe.149 Die Signifikanten Glaukos und Glaukon entsprechen im Französischen (Glaucos/ Glaucon) einem Minimalpaar und stehen insofern in Bezug zur Unterscheidung 145 Von lat. viridis. Der Larousse verzeichnet das Adjektiv viride mit Beispielen der Verwendung durch Arthur Rimbaud und Albert Samain (Grand Larousse encyclop8dique. Bd. X: Stria-Zyt. Paris: Larousse 1964, S. 844). 146 Die Ausgabe von Hubert Juin korrigiert an dieser Stelle ebenso fälschlicher- wie symptomatischerweise zu »virile« (Jean Lorrain: Monsieur de Phocas suivi de Monsieur de Bougrelon. Hg. v. H. J. Paris: Union G8n8rale d’Pditions 1974, S. 302). In der zeitgenössischen Ollendorff-Ausgabe heißt es allerdings ebenfalls »viride» (Monsieur de Phocas. Astart8. Paris: Ollendorff 81901, S. 354). 147 Platon 1988b: S. 414f. (Politeia X, 611f.). 148 »Wie wir also mit unserer Lesekunst [cq\llata] erst dann am Ziele sind, wenn es uns klar geworden ist, daß die Buchstaben [stoiwe?a, ›Elemente, Bestandteile‹], an Zahl gering, sich in allem Geschriebenen immer wieder finden, und wie wir weder im Kleinen noch im Großen gleichgültig gegen sie sind, als brauche man sie nicht zu beachten, vielmehr allenthalben eifrig uns mit ihnen bekannt zu machen [diacicm~sjeim, ›erkennen, unterscheiden‹] suchen, überzeugt ohne ein solches Verhalten des Lesens nie völlig kundig zu werden […].« (Ebd.: S. 110 [Politeia III, 402]) 149 Ebd.: S. 111f. (Politeia III, 402f.).

Moreaus Les Prétendants als mise en abyme der allegorischen Verschiebung

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der kleinsten Elemente der Schrift, die Sokrates zufolge den Lesekundigen ausweisen. Angesichts dieser Ähnlichkeit verbirgt sich unter der Steinschicht von Lorrains Signifikanten glauque nicht zuletzt die Homoerotik. Die Vokabel wird außerdem im übertragenen Sinne als Synonym für lugubre oder sordide verwendet150 und ist auf diese Weise mit den morbiden sowie den homoerotischen Phantasien Fr8neuses verbunden – wobei man sich zumindest fragen kann, ob solche Assoziationsketten von Spekulationen über die Beziehung des Grafen zu Eulenburg zu Wilhelm II. angefacht wurden. Im zentralen Lexem glauque laufen also sämtliche Assoziationszweige des Romans zusammen. Das dekadente Phantasma von der individualneurotischen ›Obsession‹ des Protagonisten bannt dabei die politischen Assoziationen und Konnotationen.151 Vor diesem Hintergrund lassen sich Les Pr8tendants und ihre Beschreibung durch Fr8neuse als mise en abyme des Romans lesen. Fr8neuses Blick auf Les Pr8tendants reflektiert die Bannungsbewegung des Textes und setzt sie exemplarisch in Szene. Als einsichtig kann diese Reflexion jedoch kaum bezeichnet werden, da Fr8neuses partieller, gewissermaßen kurzsichtiger Blick auf die vordergründigen dekadenten Phantasmen des Gemäldes den nationalpolitischen Subtext ebenso verkennt, wie ihn die oberflächliche Narration des Romans verdeckt. Dass der Text die Assoziation des Signifikanten glauque mit Athenes bzw. Odysseus’ Eule unterdrückt, lässt sich überdies daran festmachen, dass Fr8neuse die Göttin hier, wie übrigens Moreau selbst,152 als »Pallas hirondelle« (MP: 254) bezeichnet. In der Odyssee leitet Athene den Kampf von Odysseus und Telemachos gegen die Freier tatsächlich in Gestalt einer Schwalbe,153 das ihr attribuierte Tier ist jedoch zweifellos die chouette bzw. der hibou. Auch Moreau hat, ungeachtet seiner nachträglichen Beschreibung, eine Eule und keine Schwalbe dargestellt: Der Vogel, der über Odysseus schwebt, hat die großen, leuchtenden Augen, den großen Kopf, die Farbe und die Flügel einer Eule. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang, dass im Signifikanten hirondelle das Weibliche schon lautlich evoziert wird (hirond-elle). Der hibou dagegen symbolisiert etwa in Alfred Jarrys Haldernablou (1894) den Phallus.154 Jarrys kurzes symbolistisches Drama kommt wegen seiner homoerotischen Anklänge, einer ganzen Reihe übereinstimmender seltener Vokabeln wie gerade 150 Diese Bedeutung ist allerdings erst seit 1983 belegt (Le nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphab8tique et analogique de la langue franÅaise. Hg. v. Josette Rey-Debove u. Alain Rey. Paris: Dictionnaires le Robert 2009, S. 1158). 151 Vgl. zum Phantasma Vorspiel, Kap. 2, Anm. 45. 152 In einem Manuskript vom August 1897 spricht er von der »minerve hirondelle« (zit. nach Cooke 1996: S. 43). 153 Homer 1994: S. 603 und HomHre 1977: S. 338 (Odyssee XXII, 239). 154 »Le Phallus signifie le hibou, mais le hibou de son cit8 signifie le phallus.« (Michel Arriv8: Lire Jarry. Paris: PUF 1976, S. 84)

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»glauque« sowie der Motive der »main d’8trangleur« und des Mordes am Geliebten als Intertext für Monsieur de Phocas in Betracht.155 Die Verschiebung von hibou zu hirondelle ist also symptomatisch für die Verschiebung der Obsession des imaginären virilen Herrschers hin zu den Phantasmen der Dekadenz. Man kann insofern die Scharfsicht, die Athene und die Eule verkörpern, als Hinweis auf die Suche nach einer tieferen Einsicht in das Gemälde verstehen. Dieses blendet seinen Betrachter mit der Erscheinung der Göttin, deren Weiblichkeit im Vordergrund steht und auf die angegriffene Männlichkeit der Freier ausstrahlt. Die Gestalt der Athene arretiert den Blick auf der Ornamentalik der vordergründigen Phantasmen. Fr8neuse wird angesichts der Göttin blind für die Beziehung der Eule zu seiner Neurose und für den politischen Subtext, der – als die ›Wahrheit‹ des Bildes – in den Hintergrund rückt. An diesem Beispiel sieht man, wie die mise en abyme de l’8nonc8 (a), die mise en abyme de l’8nonciation (b) und die mise en abyme du code bzw. die mise en abyme textuelle (c) zusammenspielen können: Das Gemälde reflektiert die histoire des Phocas mit seinen Bildern dekadenter Männlichkeit, seinen orgiastischen, morbiden und ornamental ausgeschmückten Phantasien (a) und repräsentiert die Machart des Romans, der seinen politischen Zweitsinn hinter dekadenten Bildern und Signifikanten verbirgt (c). Fr8neuses Blick schließlich setzt die Rezeption durch einen impliziten Leser in Szene (b).156 Eine Lektüre, die bei der Beschreibung der dekadenten Phantasmen stehenbleibt, wird dem Roman folglich ebenso wenig gerecht wie Fr8neuses Betrachtung der Pr8tendants. Es stellt sich allerdings zuletzt die Frage, in welchem Verhältnis Fr8neuses Aufzeichnungen, die blind für die textuellen Strategien bleiben, zur Rahmenerzählung stehen und ob sich die abyme-Struktur darin reproduziert.

7.

Literatur als symbolischer Akt: die Rückeroberung nationaler Souveränität

Fr8neuse befreit sich schließlich von der Macht des Anderen über ihn. Er tötet Ethal und handelt damit wie Canettis Paranoiker, der den Wunsch des Machthabers verkörpert, die anderen aus dem Weg zu räumen, um selbst der einzige zu sein.157 Die Tat erscheint ihm wie ein gerechter Befreiungsschlag nicht nur seiner selbst: 155 »Haldernablou« ist ein Teil der Minutes de sable m8morial, in Alfred Jarry : Œuvres complHtes. Bd. I. Hg. v. Michel Arriv8. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1972, S. 214–229, hier S. 217, 221 u. 226. Der hibou ist auf S. 218 abgebildet. 156 Siehe zu den Begriffen Lucien Dällenbach: Le r8cit sp8culaire. Essai sur la mise en abyme. Paris: Seuil 1977, bes. S. 18, 52, 61ff., 100ff. u. 123ff. 157 Canetti 1994: S. 549.

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J’ai tu8 Ethal ! […] Je me suis d8livr8 et j’ai d8livr8, car, en supprimant cet homme, j’ai la conscience d’en avoir sauv8 d’autres ! […] J’ai lib8r8 Welcime (cela, j’en suis s0r) […] et, en l’empoisonnant avec sa propre main, j’ai 8t8 un instrument inconscient et justicier du sort ; j’ai 8t8 le bras lev8 par une volont8 plus forte que ma propre volont8 ; j’ai achev8 le geste dont il menaÅait le monde. (MP: 264)

Indem Fr8neuse sich der Allmacht des Anderen über ihn entledigt, erobert er seine eigene souveräne Macht zurück (»Je me suis reconquis et je suis bien moi.« MP: 282). In einem Anfall von Größenwahn weist er seinem Mord darüber hinaus eine Bedeutung für das Kollektiv, ja für die ganze Welt zu. Er stilisiert sich damit zum starken Mann, der die »foules« rettet und auf den Lorrain schon in der Widmung über den Verweis auf Paul Adams Romane La Force und Le MystHre des foules angespielt hat. Fr8neuse wird damit in gewisser Hinsicht zum Ersatz für den gescheiterten Boulanger. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass er sich als Mordwaffe des Ringes und damit des Symbols von Ethals souveräner Macht bemächtigt. Mit dem Smaragdring, der schon aufgrund seiner grünen Farbe das Substitut für den penetrierenden Blick war, von dem sich Fr8neuse bedroht fühlte, bemächtigt er sich des Blicks und der Macht des Penetrators. Proleptisch wird dies bereits indiziert, als er in Ethals Haus eindringt: Il avait toutes ses bagues, les perles monstrueuses et livides pareilles / des pustules de nacre, et, au m8dius, la gemme glauque 8gratign8e d’une griffe d’argent, la bague de Philippe II lui-mÞme, le modHle de l’Escurial. Et c’est / cette lueur verte qu’allait imm8diatement mon regard, en p8n8trant ce soir-l/ chez lui. (MP: 265)

Fr8neuse vollzieht mit seinem Mord eine Rache am Blick des Anderen, die weniger auf Hass denn auf Furcht vor diesem gegründet ist (»Certes, je le ha"ssais, mais je le craignais encore plus.« Ebd.). Mit dem Mord ergreift er nicht nur symbolisch Besitz vom souveränen Blick des Machthabers, er löscht auch den Blick des Engländers aus: [S]a poitrine se soulevait et s’abaissait comme un soufflet de forge, deux prunelles vitreuses avaient roul8, telles deux billes, vers les tempes tout / coup creus8es ; puis elles chavirHrent sous les paupiHres qui ne continrent plus que du blanc, et tout le corps crisp8 se d8tendit. (MP: 275)

Fr8neuse blickt hier in Ethals brechende Augen wie die Frau, die in Lorrains Novelle »Les Yeux glauques« aus der Sammlung Buveurs d’.mes (1893) ihrem sterbenden Geliebten in die Augen sieht, um sich dessen Seele einzuverleiben.158 Fr8neuse macht die leeren Augen, die ihm in seinen Imaginationen aus den Gesichtern seiner Zeitgenossen phantasmatisch entgegengetreten waren, beim bedrohlichen Anderen zur Realität, kann sich somit selbst als mächtig imaginieren und seine Paranoia überwinden. 158 Œuvres romanesques. Bd. I. Hg. v. Alain Toupin. [Paris]: Coda 2007, S. 292.

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Fr8neuses Aufzeichnungen antworten auf die Obsession der »tÞte coup8e« mit dem Mordtrieb. Der Duc will den Vertreter der übermächtigen Nachbarnation, die das paranoide Frankreich bedroht und ihm eine unterlegene, quasi-kolonisatorisch penetrable Position zugewiesen hatte, beseitigen. Der Mord am falschen Bruder begründet eine wahrhaft brüderliche Solidarität zwischen Fr8neuse und Thomas Welcime: »Welcime aussi a tu8, pr8tendait Ethal. Nous sommes deux maintenant. Oui, nous pouvons nous donner la main.« (MP: 265) Diese Solidarität verweist einerseits zurück auf 1798, andererseits auf die aktuelle politische Lage, da in der Absage an das franko-britische Bündnis auch die Solidarität mit dem irischen Unabhängigkeitsstreben zum Ausdruck kommt. Diese Deutung löst eine Inkohärenz innerhalb des Textes auf: Fr8neuse interpretiert Welcimes Visionen abgeschlagener Köpfe als Ausdruck von dessen schlechtem Gewissen infolge seines mutmaßlichen Mordes an Monsieur de Burdhes (MP: 209 u. 212). De Burdhes aber war erwürgt und nicht enthauptet worden (MP: 204). Bezieht man Welcimes Halluzinationen nun auf die Englische bzw. Französische Revolution, dann wird nicht nur die Inkohärenz der Narration ›korrigiert‹. Es lässt sich so auch besser begründen, warum Welcimes Wahnvorstellungen auf Fr8neuse übergehen, als dieser sich an die Französische Revolution erinnert: »je vois monter dans le ciel de plomb une tÞte coup8e […], le masque de d8capit8e qui hantait les nuits de Welcime : le remords mÞme du bel Irlandais, devenu mon obsession.« (MP: 212) Fr8neuse inszeniert sich selbst als Messias und Vollstrecker des Jüngsten Gerichts, wenn er meint, unter dem Einfluss einer »volont8 plus forte que [s]a propre volont8« gehandelt zu haben. Auf ähnliche Weise hatte er Welcimes Mord zu legitimieren versucht: »La lutte pour l’amour, la lutte pour la vie exigent la suppression des cr8atures, et Iaveh n’a-t-il pas dit : ›Par les morts couch8s sur ma route, vous conna%trez que je suis le Seigneur‹ ?« (MP: 208f.) Die messianische Darstellung seiner selbst und Welcimes im Gegensatz zu Ethal als Figuration des Antichristen reaktualisiert die Worte des Tyrannenmörders Lorenzo, der sich in Mussets Lorenzaccio (1834) fragt: »Suis-je le bras de Dieu ?«159 Zu Beginn des Romans, als sich der Herausgeber des Manuskripts zusammen mit seinen Bekannten an Fr8neuse erinnert, musste dieser im Vergleich mit Lorenzino de’ Medici unterliegen: Lorenzaccio, un Florentin passionn8 de rancune, un Þtre d’8nergie et de vengeance lentement couv8e et caress8e comme on caresse la lame d’une dague. Si vous comparez / ce foie vert de fiel, Fr8neuse… un fantasque, un oisif, un sans but dans la vie ! (MP: 58)

Mussets Lorenzo, der zuerst schwache und sensible Poet, der die Stadt Florenz schließlich aus eigener Energie vom Tyrannen zu befreien versuchte, ist das 159 Th8.tre complet. Hg. v. Simon Jeune. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1990, S. 220 (Akt IV, Sz. 3).

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Vorbild des französischen D8cadent.160 Nach dem Mord an Ethal kann Fr8neuse sich diesem Vergleich stellen: Er hat – scheinbar – bewiesen, dass sich unter der dekadenten Oberfläche ein potenter Held befindet, und erkennt sich selbst nicht mehr : »Est-ce le meurtre qui a d8velopp8 en moi cette puissance de sang-froid et cette singuliHre 8nergie ?« (MP: 280) Seine Kastrationsängste scheint er nun überwunden zu haben: Vor dem Mord an Ethal hatte er hinter den Smaragdaugen der kleinen androgynen Statue, die dieser ihm zukommen ließ, die verborgene Blindheit als Symbol für die mit dem Tod drohende weibliche Sexualität gesehen.161 Als er die Statue jetzt im Traum erblickt, kann er sie lustvoll betrachten und sie mit Salome und der Göttin Astart8 assoziieren, ohne sich bedroht zu fühlen.162 Nach dem Mord rückt Fr8neuse seine Krawatte zurecht (MP: 276) – es sei daran erinnert, dass seine kranke Mutter die Krawatte ihres Sohnes früher immer zerknittert hatte – und legt sich einen neuen, revirilisierten Namen zu: Monsieur de Phocas.163 Als er seinem Bekannten schließlich sein Manuskript übergibt, hat Phocas an seiner Krawatte einen riesigen Smaragd angebracht: [T]oute mon attention 8tait ailleurs, les yeux pris / l’incendie verd.tre brusquement allum8 aux plis de la cravate par une 8norme 8meraude, dont la petite tÞte hautaine s’8clairait 8trangement ; si 8trange d8j/ par elle-mÞme, la petite tÞte fine et glabre, toute en m8plats, on e0t dit, model8s dans de la cire p.le, une tÞte semblable / celles que l’on voit, sign8es Clouet ou Porbus, dans la galerie du Louvre consacr8e aux Valois. (MP: 50)

Der Smaragd in Kopfform fesselt die Aufmerksamkeit des fiktiven Herausgebers und erinnert ihn an die Porträts der Valois. Durch den Akt der Befreiung von Ethal hat Phocas alias Fr8neuse sich also sogar symbolisch seine eigene Monarchie zurückerobert und sich, wie zur Bezeugung seiner restaurierten Potenz, 160 Birkett weist darauf hin, dass Lorenzaccio die Maske der Dekadenz nur anlegt, um besser verheimlichen zu können, dass er den antirepublikanischen Tyrannen töten will (1986: S. 194). Lorrain schreibt 1896 über Lorenzaccio, dass dieser den blau-grünen Blick und den Hass an der Welt habe, an der er sich rächen möchte (siehe ebd.). 161 »Le portier a mont8 la petite caisse dans le hall. En trois coups de marteau, elle a 8t8 ouverte, et […] l’aveugle statuette androgyne a surgi. […] Voici son torse plat, ses bras luisants et frÞles, sa hanche fuyante. Hi8ratique et d8moniaque, en pur onyx noir, elle attire et reflHte en elle la flamme des bougies ; ses seins hardis et ronds pointent dans une lueur au-dessus du ventre sombre, un ventre 8troit et plat qui se renfle / la place du sexe au-dessus d’une petite tÞte de mort. La tÞte de mort ricane, symbolique, menaÅante, triomphante des maternit8s et des races ! Sous son front bas, c’est l’aveugle regard des deux prunelles vertes, des yeux d’eau morte qui ne voient pas…« (MP: 240f.) Vgl. zur Assoziation von Weiblichkeit und Tod Winn 1997: S. 201. 162 »Je n’avais pas peur et pourtant je frissonnais, mais d’un frisson voluptueux, aigu, qui n’8tait pas de l’8pouvante. […] Jamais je n’ai eu un si doux rÞve.« (MP: 281) 163 Winn macht darauf aufmerksam, dass dieser Name durch seinen maskulinen Klang die feminine Endung des Namens Fr8neuse ersetzt (1997: S. 155). Das prononcierte »Monsieur« unterstützt dies noch.

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die Gemme in Form eines Königskopfes angeheftet. Allerdings ist diese, ebenso wie der falsche neue Name (faux-cas164) nur ein Fetisch: Sie ist die Realisierung der grünen Steine, mit denen Fr8neuse die leeren Augen des Antinoos hätte füllen wollen, die Reproduktion also des Smaragds im blinden Auge der Eboli und in den Augen der Astart8-Statue, in denen er das Geheimnis seiner Heilung zu finden meinte (MP: 283). Als Fetisch verdeckt und offenbart der Smaragd zugleich den Mangel der Nation: Denn schließlich repräsentiert er nur den Kopf des Königs ohne dessen Körper, also den abgetrennten Kopf. Dementsprechend sind auch die Krawatte, die symbolisch die Illusion von Männlichkeit erzeugt, genau wie die »raideur voulue de ce long corps fluet« (MP: 49) sowie die »canne« (MP: 50), die dem Huysmans-Leser ebenfalls als Fetisch zur Verdeckung der eigenen Emaskulation bekannt ist,165 Zeichen dafür, dass die Heilung nur vermeintlich geglückt ist.166 Der Herausgeber distanziert sich deutlich von Fr8neuses Stilisierung seines Verbrechens zum Akt von politisch-gesellschaftlicher Bedeutung, wenn er hinter der Fassade des Phocas den dekadenten Fr8neuse erkennt. Der Leser kann hinter Phocas darüber hinaus auch den tyrannischen Usurpator erkennen, den Corneille in seinem H8raclius (1647) zu einer der Hauptfiguren macht. Corneilles Phocas ist durch ein Verbrechen, den Mord am legitimen Herrscher Maurice, an die Macht gekommen. Seine Revolte hat aber nur Furcht und Schrecken gesät und Phocas selbst bangt ständig um seine Macht. Er beherrscht sie nicht und muss um der eigenen Selbstbehauptung willen immer weiter töten. Dies entspricht genau der Selbstbeschreibung von Lorrains Phocas/Fr8neuse in dessen ersten Tagebucheinträgen, die Corneilles Theaterstück auf diese Weise auf die postrevolutionäre Paranoia übertragen. Birkett zufolge ist Fr8neuses Mord an Ethal kein Triumph, da er damit vor dem Bild des D8cadent kapituliere, das Ethal von ihm kreiert habe. Die Ironie des Textes liege darin, dass Phocas am Ende des Romans, als er im Begriff ist, nach Ägypten zu gehen, eine Reinkarnation Ethals sei und wie dieser seine Lebensenergie aus der kolonisatorischen Ausbeutung einer unterlegenen ›Rasse‹ beziehe.167 Der letzte Satz des Manuskripts – »Je pars demain pour l’Pgypte.« (MP: 283) – lässt sich allerdings auch aus einem anderen Grund ironisch lesen. Denn Fr8neuses Äußerung ruft die Erinnerung an die Ägyptenexpedition wach, von der Napoleon als gefeierter Retter der Nation zurückkehrte.168 BarrHs spielt im Appel au soldat (1900) hierauf an, um eine Analogie zum General Boulanger herzustellen. Dessen Popularität war der republikanischen Regierung suspekt 164 Ebd. 165 Zum Verlust der »canne«, der den Kastrationstraum in En rade auslöst, vgl. Bernheimer 1984: S. 105. 166 So beurteilt auch Winn das Ende des Romans (1997: S. 189). 167 Birkett 1986: S. 206f. Vgl. zur Kapitulation vor dem Fremdbild auch Ziegler 1990: S. 31–36. 168 Vgl. dazu etwa Garrigues 2012: S. 11 u. 24.

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geworden, weshalb er nach Clermont-Ferrand versetzt wurde. In BarrHs’ Roman heißt es an dieser Stelle: »Bonaparte, suspect au Directoire, partit pour l’Pgypte.«169 Lorrain inszeniert den scheinbar virilen Phocas augenzwinkernd als Bonaparte, der zu Eroberungsfeldzügen aufbricht. Auf diese Weise wird eine antiklimaktische Genealogie nationaler Retter aufgebaut, die bei Napoleon beginnt und, über den in der Widmung evozierten gescheiterten Boulanger, beim dekadenten Phocas endet. Der Text selbst führt diese Genealogie ad absurdum, denn in Fr8neuses Opiumhalluzination war Ägypten als Teil des gewaltigen britischen Imperiums erschienen. Die Situation Frankreichs im europäischen Mächteverhältnis hat sich im Vergleich zu 1798 grundlegend geändert. Der Blick des Herausgebers auf die Smaragdgemme, den Edelsteinkopf, der ihn an die Valois erinnert, weist den utopischen Gehalt der letzten Wendung des Textes als solchen aus. Denn die Valois, mit deren letztem Vertreter, dem prince de Sodome Heinrich III., Fr8neuse verglichen worden war, sind eine ausgestorbene Dynastie und stehen damit metonymisch für die (aus-)gestorbene französische Monarchie – Heinrich III. wurde selbst umgebracht. Die letzte Umkehr des Romans, in der die Allianz mit Ethal doch abgewehrt wird, entspricht nicht der historischen Entwicklung, sondern einer nationalen Wunscherfüllung. Funktional ähnelt sie der Figur des Chevalier de Troisville aus Balzacs Vieille Fille: Der Text bietet eine utopische, ideale Lösung seines Konflikts an und weist diese zugleich als nicht realisierbare Wunscherfüllungsphantasie aus.170 Im selben Zug wird Frankreichs fiktional ausagierter außenpolitischer Konflikt in der Gemme an Phocas’ Krawatte endgültig stillzustellen versucht. Das Dilemma, das darin besteht, dass die nationale Souveränität einerseits nur mit Hilfe von Allianzen mit eigentlich rivalisierenden Nationen wiederhergestellt werden kann, diese andererseits aber gerade den Verlust eines Teils der nationalen Autonomie und das Eingeständnis der eigenen Schwäche implizieren, ist dialektisch nicht aufzulösen und kann nur noch ästhetisch gebannt und im utopischen Modus entlastet werden. In dieser Hinsicht ist der inszenierte finale Akt des Fr8neuse zwar nur fiktionale Illusion, der literarische Akt, den der Roman durch seine konfliktgeladene Narration vollzieht, indem er gegenwärtige Spannungen in einer strategy of containment verarbeitet, ist jedoch ein socially symbolic act. Indem das Romanende den Leser an seinen Anfang zurückverweist, mündet der Text in einen Kyklos, der mittels der Herausgeberfiktion die Aufmerksamkeit auf seine eigene Textualität lenkt, die immer wieder durch die Form der Tagebucheinträge in Erinnerung gerufen wird und die Vertextung der politischen Konflikte als solche offenbart. 169 BarrHs 1994b: Bd. I, S. 801. 170 Siehe zu Balzacs Vieille Fille und dem Chevalier de Troisville als utopischer Wunscherfüllung Jameson 2008: S. 155 sowie ausführlicher unten Kap. IV.1.4.

IV.

Paradoxien im political gender: Maurice Barrès und die virile Republik

Maupassants Dimanches d’un bourgeois de Paris haben die Problematik der Körperlosigkeit der Republik in Szene gesetzt und gezeigt, dass das Subjekt nur dann seine Teilhabe an der Macht zu imaginieren vermag, wenn es die Regierung in ihrer Verkörperung ansehen kann. Koschorke et al. zeigen in diesem Zusammenhang, dass der Kaiser den Staat mit seinem corpus naturale repräsentiert und den königlichen Sakralkörper gewissermaßen ad acta gelegt hat. Die körperlose Republik dagegen setzt die nationale Gemeinschaft auf andere Weise und das heißt besonders: im Ausschluss des Anderen und im Kampf gegen innere und äußere Feinde in Szene.1 Am Ende des Jahrhunderts stellt Maurice BarrHs das revolutionäre Konzept der körperlosen Herrschaft in Frage, allerdings nicht in der Abkehr von den Prinzipien der Volkssouveränität und der Nation, sondern in deren Namen: Seines Erachtens pervertiere das System des Parlamentarismus die revolutionären Werte, da es sich mit seiner parteipolitischen Zerstückelung nicht dazu eigne, das Volk zu einen, es in seiner Gesamtheit zu repräsentieren und die Nation zu regenerieren. Ein Gegenmodell präsentiert sich in der Bewegung um den General Boulanger, der eben dies verspricht und sich als Garant der revolutionären und republikanischen Werte inszeniert. Theoretiker des Boulangismus wie etwa Alfred Naquet sprechen dem Parlamentarismus seine Legitimität ab, indem sie argumentieren, dass er ein Erbe der konstitutionellen Monarchie und kein republikanisches Regierungssystem sei.2 Das Ziel ist eine potente Republik, die dem Auftrag der Revanche sowie der Virilisierung der Citoyens gewachsen ist, und der Weg dorthin führt BarrHs zumindest teilweise über die Besetzung des leeren Zentrums durch eine autoritäre Exekutiv1 Koschorke et al. 2007: S. 252–267. Vgl. zu Maupassant oben Vorspiel, Kap. 2. 2 BarrHs steht in der Tradition der Revolution und will trotz seiner vehementen Ablehnung der aktuellen Verkörperung der Republik im Parlamentarismus nicht zum vorrevolutionären Zustand zurückkehren, wendet sich aber gegen die Abstraktionen des Jakobinismus. Siehe zu BarrHs’ politischem Denken die mittlerweile klassische, wenn auch in ihren Schlussfolgerungen nicht unkritisiert gebliebene Studie von Zeev Sternhell: Maurice BarrHs et le nationalisme franÅais [1972]. Neue, erw. Aufl. Paris: Fayard 2000, zu Naquet S. 115–117 und zur Jakobinismuskritik in der Nachfolge Taines S. 331.

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macht.3 Nachdem der Boulangismus gescheitert ist, entwickelt BarrHs die Idee eines vitalen Kollektivs, das sich durch die Verwurzelung in der heimatlichen Scholle, den Bezug auf eine gemeinsame Kultur und eine gemeinsame Vergangenheit sowie durch die Abwehr fremder Elemente von außen etabliert.4 Während Marie-AgnHs Kirscher BarrHs’ Werk auf seinen Republikanismus und seine Reflexionen über die Problematik des Contrat social und der volont8 g8n8rale hin gelesen hat,5 handelt es sich bei BarrHs’ Nationalismus Ulrich Bielefeld zufolge um eine »›antirepublikanische‹ Versöhnung mit der Revolution«.6 Versteht man die Republik als körperlose Herrschaft, dann muss man dieses Verdikt fällen. Dennoch inszeniert der Boulangismus gerade die Suche nach einer ›wahren Republik‹ – also nicht nach deren Neudefinition, sondern nach der Einlösung ihrer Ideale. Dabei muss er sich immer wieder gegen den Monarchismus abgrenzen, weil die Royalisten glauben, dass die Boulangisten, die stets weiter nach rechts rücken, auf ihrer Seite stehen.7 Vor allem in den 1900er Jahren hat Maurras die Hoffnung, den immer fanatischeren Nationalisten 3 Siehe hierzu Sternhell 2000: bes. S. 97, 114–126, 134–147, 154–157, 298 u. 380, zum Heldenkult ebd.: S. 179. Siehe zu BarrHs’ politischem Denken in Verbindung zu seinem literarischen Werk auch Roussel 1994: bes. S. XXVII–XXXV u. XL sowie Marius-FranÅois Guyard: »BarrHs et la R8volution franÅaise : La leÅon des D8racin8s«, in Andr8 Guyaux/Joseph Jurt/Robert Kopp (Hgg.): BarrHs. Une tradition dans la modernit8. Actes du colloque de Mulhouse, B.le et Fribourg-en-Brisgau des 10, 11 et 12 avril 1989. Paris: Honor8 Champion 1991, S. 131–137. 4 Vgl. Sternhell 2000: S. 164 u. 247–369, Ulrich Bielefeld: Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Frankreich und Deutschland. Hamburg: Hamburger Edition 2003, bes. S. 165 u. 170–181 sowie David Carroll: French Literary Fascism. Nationalism, Anti-Semitism and the Ideology of Culture. Princeton, New Jersey : Princeton UP 1995, S. 19–41. Siehe zum Boulangismus Kap. III, Anm. 13. 5 Relire BarrHs. Villeneuve d’Ascq: PU du Septentrion 1998. Zu BarrHs’ Republikanismus siehe bes. S. 12f., 277–279, 295–299 et passim. 6 Bielefeld 2003: S. 167. Er schreibt weiter : »Unter Einbeziehung der Revolution als ›energetisches Ereignis‹ unterläuft BarrHs […] die französische Gleichsetzung von Republik und Nation. […] Mit BarrHs bekommt die französische Rechte die Möglichkeit, die Revolution als ein historisches Ereignis, ja als Beispiel für die Größe Frankreichs in ihr Denken einzubeziehen und nicht mehr nur restaurativ auf die vorrevolutionäre Zeit zu verweisen.« (Ebd.) Bielefeld stellt deshalb in seiner Untersuchung die Modernität und die Zukunftsgerichtetheit von BarrHs’ Nationalismus heraus (ebd.: S. 159, 162 u. 180). Als antirepublikanisch bezeichnet BarrHs’ Nationalismus etwa auch Karen Offen: »Exploring the Sexual Politics of Republican Nationalism«, in Robert Tombs (Hg.): Nationhood and Nationalism in France. From Boulangism to the Great War 1889–1918. London/New York: HarperCollins Academic 1991, S. 195–209, hier S. 195. 7 Siehe hierzu Roussel 1994: S. XXVIIIf., XXX–XXXV u. XXXIXf. Dass Boulanger tatsächlich hinter der republikanischen Kulisse geheime Absprachen mit den Royalisten traf, wurde 1890 bekannt. Siehe hierzu Sternhell 2000: S. 115, zu BarrHs’ expliziter Abgrenzung von Monarchie und Empire und seinem Bekenntnis zur Republik vgl. seinen Artikel »Notes d’un nouvel 8lu«, in Le Figaro (21. Okt. 1889), wieder abgedruckt in Maurice BarrHs: Journal de ma vie ext8rieure. Hg. v. FranÅois Broche u. Pric Roussel. Paris: Julliard 1994, S. 25–29, hier S. 27, vgl. auch Wiebke Bendrath: Ich, Region, Nation. Maurice BarrHs im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland. Tübingen: Niemeyer 2003, S. 47.

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BarrHs vom Monarchismus zu überzeugen, woraufhin BarrHs dezidiert seine ›republikanisch-cäsaristische‹ Gesinnung in Abgrenzung zum Royalismus der Action franÅaise betont.8 Da BarrHs’ politisches Denken oft vage ist und da um die Jahrhundertwende jedes Streben nach der Besetzung des leeren Zentrums der Herrschaft wie ein Angriff auf die Republik anmutet,9 stellt sich die Frage nach Spuren der problematischen Synthese von Cäsarismus und Republik in BarrHs’ Romanwerk, das sein politisches Engagement begleitet und selten davon zu trennen ist. Unter dem Fokus politischer Konstruktionen von Männlichkeit hat die Forschung insbesondere BarrHs’ bekanntesten Roman, Les D8racin8s, untersucht. Patrick Bergeron etwa beschreibt, wie die sieben ödipalen Protagonisten ihre alten Väter symbolisch töten und versuchen, die Vaterfigur neu zu definieren und ihre Position gemeinsam zu besetzen.10 Judith Surkis stellt die exemplarische Bedeutung der D8racin8s für die Konstruktion eines virilen Kollektivs in der Dritten Republik heraus.11 Dietrich Scholler untersucht BarrHs’ Entwurf eines neuen, virilen Herrschertyps, der nichts mehr mit einem absolutistischen Monarchen gemein hat und der der Aufgabe, die Massen durch einen energetischen Austausch mit ihr zu virilisieren, gerecht wird.12 Über Les D8racin8s hinaus hat Jean-Michel Wittmann die Parallelen zwischen dem individuellen und dem politisch-nationalen Körperdiskurs untersucht und die Entwicklung vom dekadenten zum geheilten individuellen und nationalen Organismus in BarrHs’ Romanen dargestellt.13 Er zeigt, allerdings ohne Konzepte des politischen Körpers zu diskutieren, dass Heilung und Regeneration aus der als männlich 8 Siehe Laurent Joly : »Le c8sarisme ou le roi ? Maurice BarrHs et les d8buts de l’Action franÅaise«, in Olivier Dard/Michel Grunewald/Michel Leymarie/Jean-Michel Wittmann (Hgg.): Maurice BarrHs, la Lorraine, la France et l’8tranger. Bern u. a.: Peter Lang 2011, S. 71–92, bes. S. 72, 81–83 u. 89. Vgl. auch Roussel 1994: S. LXIV u. LXIX–LXXII. 9 Siehe zu BarrHs’ politisch unbestimmten Überzeugungen Roussel 1994: S. XXVII u. XXXIf., zur Opazität seiner Texte Kirscher 1998: S. 241 und zum »complexe de C8sar« der Dritten Republik Az8ma/Winock 1976: S. 187–189. 10 »Leur 8chec de Paris. Le parcours des fils et la mort des pHres dans Les D8racin8s de Maurice BarrHs«, in Les Lettres Romanes 53 (1999), S. 91–108, bes. S. 93, 95 u. 107f. 11 Sie untersucht BarrHs’ Kritik an der Verweiblichung und Entwurzelung der jungen Franzosen durch das republikanische Bildungssystem, das die vitalen Energien der Jugend verschwende, indem es dieser die abstrakten Ideale des Individualismus und ein utopisches Bild der Patrie vermittele, im Kontext der soziopolitischen, geschlechterideologischen und moralischen Fundierung der Dritten Republik (Surkis 2006: S. 90–103). Zur Ideengeschichte des »d8racinement« siehe Trevor J. Field: »BarrHs and the Image of ›D8racinement‹«, in French Studies 29 (1975), S. 294–299. 12 Scholler 2010: S. 262–264 u. 270–272. Vgl. auch Carroll 1995: S. 33–40. 13 BarrHs romancier. Une nosographie de la d8cadence. Paris: Honor8 Champion 2000. Wittmann schreibt bezüglich des metonymischen Charakters der Romanfiguren: »C’est peu dire que les personnages barr8siens sont faits / l’image de leur pays. Ils ne repr8sentent pas seulement le type du FranÅais, ils incarnent la nation elle-mÞme.« (Ebd.: S. 98)

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kodierten Fähigkeit zur Überwindung einer weiblich konnotierten Körperlichkeit resultieren. Da BarrHs zufolge insbesondere die Franzosen dem Spirituellen zugänglich seien, können sie sich von den Deutschen, denen diese Fähigkeit abgehe, abgrenzen. Auf diese Weise kehre BarrHs die für sein Land nachteilige Genderdichotomie vom virilen Deutschen und vom effeminierten Franzosen um.14 Mein Ziel ist es, auf diesen Studien zu metonymischen Inszenierungen von Männlichkeit aufzubauen, BarrHs’ synthetische Konstruktionen des politischen Körpers näher zu untersuchen und allegorische Reflexionen des Politischen vom Culte du moi (1888 / 1889 / 1891) bis zu den Bastions de l’Est (1905 / 1909 / 192115) auf Konflikte und Spannungen hin zu befragen.

1.

Le Jardin de Bérénice und die Deprogrammierung des Royalismus

1.1.

Rahmung und Emblemstruktur

Die Trilogie Le Culte du moi erzählt von der Selbstfindung des Protagonisten Philippe. Nachdem dieser sich in den ersten beiden Teilen, in Sous l’œil des barbares (1888) sowie in Un homme libre (1889), von den ›barbarischen‹ anderen abgegrenzt hat und durch die Bewusstwerdung seiner lothringischen Identität zum ›freien Mann‹ geworden ist, trifft er im letzten Teil, Le Jardin de B8r8nice (1891), auf seine alte Bekannte B8r8nice. Er verliebt sich in sie, versucht sie aber nicht zu erobern, obwohl auch er ihr zu gefallen scheint. Grund dafür ist B8r8nices melancholische Liebe zu ihrem verstorbenen Geliebten FranÅois de Transe: Philippe will ihre Melancholie, die er geradezu vergöttert und die für ihn B8r8nices Wesen ausmacht, nicht zerstören. Le Jardin de B8r8nice ist eine einigermaßen deutliche Transposition der politischen Aktualität der Boulangerkrise. Im noch vor dem Suizid des Generals im Jahr 1891 veröffentlichten Roman engagiert sich BarrHs’ Alter Ego Philippe im Wahlkampf als boulangistischer Kandidat. Sein politisches Ziel, das gesamte Volk zu repräsentieren, steht in Opposition zu dem seines Konkurrenten Charles Martin, einem gemäßigten, rationalistischen und technokratischen Republikaner. Martin repräsentiert den Parlamentarismus, der von den Gegensätzen der Parteien lebt und Philippe zufolge nicht um das wahre Wohl der Nation besorgt ist. Da Martin blind für das 14 Ebd.: S. 15, 19 u. 165–200. 15 BarrHs hat Le G8nie du Rhin (1921) den beiden früheren Bastions nachträglich beigefügt (siehe Vital Rambaud: »Les Bastions de l’Est. Introduction«, in Maurice BarrHs: Romans et voyages. Bd. II. Hg. v. V. R. Paris: Robert Laffont 1994, S. 195–201, hier S. 201). Da es mir hier um eine Analyse fiktionaler oder zumindest literarisierter Texte geht, werde ich diese späte Abhandlung nicht behandeln.

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kollektive Streben nach Einheit ist, verkennt er B8r8nice, die die Vergangenheit und einen unbewussten Instinkt des Volkes symbolisiert – letzterer wird in Anlehnung an die Thesen von Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (1873) gedacht.16 Als er sie schließlich heiratet, stirbt sie. Dass B8r8nice den Wunsch nach Einheit verkörpert,17 erkennt nur der empfindsame Philippe. Da er B8r8nice als Einziger verstanden bzw. zur Projektionsfläche18 seiner politischen Wünsche gemacht hat, kann ihre Seele nach ihrem Tod in ihm weiterleben. Auch kommt allein er zu der Erkenntnis, dass es keinen Ersatz für B8r8nices verstorbenen Geliebten geben kann. Da die Figur der B8r8nice darauf angelegt ist, den Instinkt des Volkes, das zur Einheit gelangen möchte, zu verkörpern, deutet Emilien Carassus sie als Symbol für den verwitweten Boulangismus, der weiterlebt, nachdem Boulanger selbst gescheitert ist. Der Boulangismus sterbe zwar äußerlich, als er sich mit dem Parlamentarismus verbündet, sei aber dazu bestimmt, wiederaufzuerstehen und einen neuen ›Chef‹ zu finden.19 Carassus’ Deutung wird erstens gestützt durch BarrHs’ spätere, explizite Analyse von Boulangers Scheitern im Appel au soldat, wo er dem General vorwerfen wird, das Spiel des Parlamentarismus gespielt und sich damit selbst verraten zu haben.20 Zweitens wird sie gestützt durch das erste Kapitel des Romans, in dem der autodiegetische Erzähler Philippe eine Unterhaltung wiedergibt, die seinen vorher inaktiven Leidenschaften Ausdruck verschafft und ihn zu seinem politischen Engagement motiviert habe und die die darauffolgende Handlung erhellen solle.21 Der Historiker Ernest Renan formuliert dort die Erwartung eines Boulanger II.: L’essentiel, c’est de ne pas contrarier l’enfantement et de laisser faire l’instinct populaire. […] Je veux dire qu’/ Boulanger, non vainqueur en d8pit de ses excellentes performances, succ8dera Boulanger II ; je veux dire que jamais une force ne se perd, simplement elle se transforme. (RV I: 193)

16 Siehe hierzu Emilien Carassus: »Id8ologie et sensibilit8 barr8siennes dans Le Jardin de B8r8nice«, in Guyaux/Jurt/Kopp 1991: S. 19–30, bes. S. 20–25. Vgl. zu BarrHs’ HartmannRezeption auch Sternhell 2000: S. 80 und Vital Rambaud: »Le Culte du moi. Introduction«, in Maurice BarrHs: Romans et voyages. Bd. I. Hg. v. V. R. Paris: Robert Laffont 1994, S. 3–13, hier S. 11. Die französische Übersetzung von Hartmanns Abhandlung erschien 1877. 17 Sie sagt: »Pour satisfaire ton besoin d’unit8, comprends qu’il faut t’en tenir / prendre conscience de moi, de moi seule […].« (RV I: 256) Mit der Sigle RV sowie der Angabe des Bandes zitiere ich BarrHs’ Romane in der Laffont-Ausgabe, vgl. Anm. 15 u. 16. 18 Vgl. Carassus 1991: S. 28. 19 Ebd.: S. 24. 20 Siehe hierzu Sternhell 2000: S. 172. 21 »Mais avant que je l’entame, je d8sire relater une conversation oF j’assistai et qui, sans se confondre dans la trame de ce petit r8cit, aidera / en d8mÞler le fil.« (RV I: 189) Das Gespräch sei für ihn eine Brücke gewesen in die Welt der B8r8nice: »Cette soir8e, c’est le pont par oF je p8n8trai dans le jardin de B8r8nice.« (Ebd.)

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Renan zufolge findet der Boulangismus seine Relevanz in der Repräsentation des Volksinstinkts, der politische Persönlichkeiten hervorbringe und dabei nicht gehemmt werden dürfe. Durch diese Äußerung erhält das prologähnliche Kapitel die Funktion eines Mottos, das seine poetische pictura – die allegorische Haupthandlung – einrahmt und zur Suche nach einem politischen Zweitsinn anregt. Der Roman mit der Struktur eines Emblems22 liefert also explizite Hinweise auf mögliche Deutungen. Carassus formuliert diese, hält eine einfache Gleichsetzung der fiktionalen Handlung mit dem politischen Geschehen allerdings für reduktionistisch.23 Tatsächlich besteht ein gewisser Konflikt zwischen Renans Überlegungen bezüglich eines »Boulanger II« und Philippes Überzeugung, dass gerade B8r8nices Melancholie ihr Wesen ausmache und ihr verstorbener Geliebter keinen Nachfolger finden solle.

1.2.

Boulanger, die Melancholie und der roi rené

Et si, aprHs avoir lu mon livre, tu veux bien, lecteur, visiter ces tombes vides aujourd’hui, tu les admireras r8tablies au lieu mÞme d’oF la R8volution croyait les avoir / jamais bannies. ArrÞte-toi devant chacune d’elles, recueille-toi un moment, et songe que sous ces c8notaphes magnifiques gisaient les corps de ceux qui avaient 8t8 grands et puissants, de celles qui avaient 8t8 belles et adul8es en ce monde, et qu’un jour, – bien prHs de nous encore, – un peuple effr8n8, enrag8 de vengeance contre ses oppresseurs, et qui n’eut pas la sagesse de respecter leurs tombes, s’en vint fouiller de ses mains avides et furieuses leurs cercueils bris8s, et jeta au vent ce qui 8tait encore rest8 de leurs corps pourris et de leurs royales cendres.24

Als Philippe B8r8nice zum ersten Mal nach langer Zeit besucht, bemerkt er in ihrem Haus einen Mangel: »Je crus y sentir une maison d’amour, glac8e par l’absence d’amour […].« (RV I: 205) Er wundert sich, dass B8r8nice die Eigentümerin des farblosen Hauses »face au soleil couchant« (ebd.) ist (RV I: 206). Er vermisst wohl einen Mann an ihrer Seite, was sich bestätigt, als er erfährt, dass B8r8nice ihren Geliebten verloren hat. Den Zusammenhang von Verlust, Melancholie und der untergegangenen Sonne, wie ihn später etwa Julia Kristeva 22 Zu den Komponenten des Emblems vgl. Dietmar Peil: »Emblematik« in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar : Metzler 2004, S. 140. Bernhard F. Scholz beschreibt »sogenannte poetische Embleme, bei denen auch die pictura sprachlich ausgeführt ist« (Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 285, kursiv im Orig.). 23 Carassus 1991: S. 25. 24 Georges d’Heylli: Les Tombes royales de Saint-Denis. Histoire et nomenclature des tombeaux, extraction des cercueils royaux en 1793, ce qu’ils contenaient, les Prussiens dans la basilique en 1871. Paris: Librairie g8n8rale 1872, S. 26f.

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beschreibt,25 hat BarrHs, bevor er ihn im Jardin de B8r8nice narrativ entfaltet, schon in zwei Zeitungsartikeln politisch kodiert: Unter dem Titel »Ploge de la m8lancolie« verfasst er im Februar 1889 eine kurze ironische Schilderung der Zustände im Parlament. In einer Situation, die seines Erachtens vom baldigen Zusammenbruch des parlamentarischen Systems zeugt, sieht er in den Abgeordneten, seinen »adversaires«, den Ausdruck einer tiefen Melancholie.26 Zwei Monate später beschreibt er Boulangers Wahlkampftour: [L]’arriv8e du g8n8ral dans une ville, c’est pour les 8lections suivantes une majorit8 assur8e. L/ mÞme oF la veille il n’y avait pas de boulangistes et oF on pr8parait des sifflets, sitit qu’il descendait du chemin de fer, c’8tait des chapeaux en l’air, des vivats, du d8lire, et toujours un merveilleux soleil.27

Wenn Boulanger in eine Stadt kommt, geht die Sonne auf; der General scheint das perfekte Heilmittel gegen die parlamentarische Melancholie und die Dekadenz zu sein.28 Als Sonne der Nation steht Boulanger in der Tradition Napoleons, dessen Tod etwa Balzac im Colonel Chabert mit dem Untergang der nationalen Sonne vergleicht.29 Die Sonne als Symbol für den homme providentiel sowie als Kopfschmuck der Allegorien der Republik von 1848 oder von Bartholdis Statue of Liberty lässt sich als Zeichen für den Ersatz des Königs – des roi soleil – deuten30 – hatte doch Musset in La Confession d’un enfant du siHcle die von 1793 blutgetränkte Sonnenscheibe beschrieben.31 In der Dritten Republik war die Sonne zum Beispiel das Emblem royalistischer Zeitungen wie Le Soleil, bis sie zum Leitstern der Futuristen wurde, die sie mit Marinettis Schlachtruf Uccidiamo il chiaro di luna! als Gegenpol zum romantisch-melancholischen Mond ausriefen.32 25 Soleil noir. D8pression et m8lancolie. Paris: Gallimard 1987. 26 »Ploge de la m8lancolie«, in Le Courrier de l’Est (8. Febr. 1889), hier aus BarrHs 1994a: S. 22f., hier S. 23. 27 »Leur bÞtise fait notre malice«, in Le Courrier de l’Est (1. Apr. 1889), hier aus BarrHs 1994a: S. 135–137, hier S. 136. 28 Vgl. zu diesem Motiv auch den Roman L’Essence de soleil (1890) des Boulangisten Paul Adam. 29 Siehe Garrigues 2012: S. 349. 30 So interpretiert Silverman das Sonnendiadem der republikanischen Allegorien (1988: S. 74). Garrigues weist auf die republikanische Suche nach einem Königsersatz hin (2012: S. 449), grenzt den Kult um Boulanger jedoch vom Napoleonkult ab: »De fait, la l8gende patriotique d’un Gambetta, d’un Clemenceau, voire d’un Boulanger, ne se dissocie / aucun moment du socle des valeurs r8publicaines qui la portent et la justifient, tandis que la mystique napol8onienne ou gaullienne est impr8gn8e de r8f8rences / la tradition chr8tienne de notre histoire pr8r8volutionnaire. A contrario, la l8gende p8tainiste est / ce point immerg8e dans la tradition contre-r8volutionnaire qu’elle appara%t totalement d8connect8e de notre v8cu r8publicain.« (2012: S. 427, kursiv im Orig.) 31 Musset 1960: S. 75. 32 Im Manifeste du futurisme begrüßt Marinetti »le premier soleil levant sur la terre«, der die

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Anders als Napoleon ist Boulanger als gefeierter Retter der Nation allgegenwärtig. Während Stendhal in der Chartreuse de Parme (1839) noch die verzweifelte Suche des Fabrice del Dongo nach Napoleon inszenieren kann,33 wird die Pariser Bevölkerung über die Massenreklame und ein regelrechtes Merchandising allerorts mit Boulangers Bild konfrontiert; es werden sogar kleine Stehaufmännchen mit seinem Abbild verkauft.34 Der General wird zum neuen Spiegel-Ich, dessen ständiger Anblick den Franzosen aufzurichten verspricht. Die Melancholie der B8r8nice lässt sich zwar nicht auf Boulangers körperlichen, wohl aber auf dessen symbolischen Tod nach seinem politischen Scheitern beziehen.35 Somit aktualisiert Le Jardin de B8r8nice auf den ersten Blick beispielhaft den Topos des verwitweten Frankreich als Standardelement des Kults um den homme providentiel:36 B8r8nice geht mit dem Tod ihres Geliebten in der Teichlandschaft von Aigues-Mortes auf, die über den sprechenden Namen der Stadt Weiblichkeit und Tod miteinander verknüpft.37 Philippe fühlt sich leidenschaftlich zu ihr hingezogen, glaubt, bereit dafür zu sein, sie zu ›besitzen‹ (RV I: 206f.) und meint, den Mangel in ihrem Leben füllen und dem ›toten Wasser‹ die verlorene Vitalität zuführen zu können: »Avec une sorte d’irritation sensuelle, nous voudrions la presser dans nos bras, la pr8server contre cette force de mort qu’elle porte dans chacune de ses cellules […].« (RV I: 206) Er denkt noch lange, dass er ihr »directeur de conscience« (RV I: 224) sein könnte, doch nachdem sie ihm von ihrer Liebe zu FranÅois de Transe erzählt hat, strebt er nach einer »forme d’amour sup8rieure / la possession« (RV I: 210, vgl. auch 214) und übernachtet im Hotel. Allmählich kommt er zu der Erkenntnis, dass es B8r8nices Wesen zerstören würde, wenn man ihr verlorenes Objekt ersetzen würde, da sie seines Erachtens zur Melancholie berufen ist: Tu as des devoirs, B8r8nice. […] [T]u dois Þtre m8lancolique. Que ton visage m’offre le plus souvent cette touchante gravit8 qu’il prend quand tu songes / M. de Transe et mÞme / rien du tout. […] Aussi je vous dirai : louez votre souffrance, n’en prenez pas de d8couragement. Votre m8lancolie est plus noble et plus utile qu’aucune alacrit8. Quelle que soit votre r8pugnance / l’admettre, croyez bien que jamais vous n’avez

33 34 35 36 37

»t8nHbres mill8naires« erhelle (»Futurisme«, in Le Figaro 51, 20. Febr. 1909, S. 1). Ich danke Dietrich Scholler für diesen Hinweis. Vgl. zur Sonne auch unten Teil 2, Kap. I.2. Siehe zu Fabrices Suche nach dem Körper des neuen Souveräns Roulin 2005: S. 21. Siehe Garrigues 2012: S. 140f. Vgl. Carassus 1991: S. 24. Siehe Garrigues 2012: S. 343–351. Vgl. dazu auch Mussets Feststellung im zweiten Kapitel der Confession: »ainsi la France, veuve de C8sar, sentit tout / coup sa blessure.« (1960: S. 67) Vgl. zur allegorischen Verbindung von B8r8nice und Aigues-Mortes Wittmann 2000: S. 72. Dass BarrHs das Wasser als Symbol für Weiblichkeit bewusst wählt, zeigt folgende Überlegung in seinem Artikel »ffmes slaves« in La Presse (29. Mai 1890): »L’.me slave est l’.me femme du monde, comme l’eau en est l’8l8ment f8minin.« (Zit. nach BarrHs 1994a: S. 270– 272, hier S. 270)

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rien 8prouv8 d’aussi pr8cieux que vos grandes tristesses de jeune veuve amoureuse. […] Non, rien ne pouvait Þtre plus f8cond que votre deuil. (RV I: 224f.)

Die Melancholie wird hier ästhetisch und moralisch überhöht und als nützliche Pflicht gefeiert. Die Fruchtbarkeit, die sie Philippe zufolge birgt, entfaltet sie insbesondere für ihn, der B8r8nice zur Projektionsfläche macht. Philippe träumt davon, sie ins Kloster zu schicken, damit sie ihrer inneren Bestimmung treu sein kann und keusch bleibt: Si je te faisais l’existence que je te rÞve, je te pousserais l’.me plus au noble encore et je la remplirais du culte de M. de Transe ; je te conduirais dans un clo%tre pour y conna%tre une exaltation d8licieuse. Mais je crois que tu aurais des regrets plus tard. C’est pourquoi, petite fille, malgr8 tout, il vaut mieux que tu 8pouses. (RV I: 243)

Im Grunde kann und sollte man den Verstorbenen auch nicht ersetzen, weswegen Philippe B8r8nice nur ungern rät, sich zu verheiraten. Es stellt sich deshalb die Frage, ob der verlorene ideale Geliebte – ein »oisif 8l8gant« (RV I: 225) – mehr als eine Figuration des gescheiterten Chefs der boulangistischen Bewegung ist und an ihm bzw. B8r8nices Beziehung zu ihm die problematische Abgrenzung des Führerkults vom Monarchismus ausgetragen wird. Indizien hierfür liefern eine ganze Reihe symbolischer Elemente. B8r8nice etwa verbrachte in ihrer Kindheit ihre Zeit gerne im »mus8e du roi Ren8«. Ihr Vater war der Hausmeister des patriotischen Museums, das nach dem provenzalischen ›Bon Roi Ren8‹ aus dem 15. Jahrhundert benannt ist und an das B8r8nice noch immer traurig zurückdenkt. Auch Philippe kennt und bewundert das Museum, das sehr alte Dinge ausstellte, aber so gut wie nie besucht wurde (RV I: 197). Als Ort des kollektiven Gedächtnisses zeugt es von einer vergangenen Größe Frankreichs, die jedoch möglicherweise nur der Konstruktion seines Gründers entspricht: Dieser nämlich hatte das Lateinische und das Französische als Tochtersprachen des Gallischen verstanden und sich über den Einfluss der italienischen Renaissance beklagt, die der französischen Kunst übergestülpt worden sei, als sie in voller Blüte gestanden habe (RV I: 198). Trotz der Bewunderung für das Museum markiert der Erzähler seine Distanz zu diesem tendenziösen Gestalter des nationalen Gedächtnisses, den er despektierlich »une faÅon de patriote« (ebd.) nennt. B8r8nice erinnert sich an eine im Museum ausgestellte Allegorie der Ehre, die aber so wurmstichig war, dass sie sie gar nicht als solche erkennen konnte: »Honneur 8tait si fort mang8 des vers que B8r8nice ne put savoir au juste ce que c’8tait ; de Noblesse, elle distingua simplement la belle parure« (RV I: 199). Man kann die wurmstichige Allegorie der Ehre wohl als Verweis auf die angeschlagene Ehre der Grande Nation lesen. Die Noblesse ist in dieser Hinsicht ambig: Über eine zeitlose Würde und Erhabenheit hinaus referiert sie auch auf den Adel, von dem im Frankreich des Fin de SiHcle tatsächlich nur noch der Schmuck übrig ist. Das Museum ist ein Ort der Erinne-

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rung, die zwar aufrecht erhalten wird, aber als solche museal bleibt. Dies suggeriert schon die Funktion von B8r8nices Vater: Als Hausmeister oder Wächter (»gardien«, RV I: 197) kam diesem die Funktion der Bewahrung, also höchstens der Denkmal- und Gedächtnispflege, nicht aber der Restauration zu. Schließlich ist Frankreichs vergangene Größe, wie sie das Museum repräsentiert, vielleicht nur eine nachträgliche Konstruktion und nur schöner Schein. Dabei ist der Name des Museums doppelsinnig: Er referiert auf den König Ren8 von Anjou, lässt sich aber auch als ›Museum des wiedergeborenen Königs‹ lesen. In diesem Sinne weist er auf das nur wenige Seiten zuvor wiedergegebene fingierte Interview zurück, in dem Renan vom »enfantement« eines Boulanger durch den ›Instinkt des Volkes‹ spricht. Dies suggeriert die Frage, ob eine Figur wie Boulanger ein roi re-n8 ist, der die Ehre der Nation restaurieren könnte, der aber eben auch Ausdruck einer Tradition ist, die eigentlich dem musealen Gedächtnis angehört. Renans Formulierung von einem Boulanger II. stellt den General in die Tradition des Kaiserreichs. Damit steht die Frage im Raum, ob das Volk in einem Garanten oder Vollstrecker der Einheit eigentlich einen Königsersatz sucht und was den General von einem König oder Kaiser unterscheidet: Inwiefern also ist Boulanger als republikanischer homme providentiel erneutes Beispiel für eine Dynastie ›von Volkes Gnaden‹, in der der Souverän wiedergeboren wird?38 Renan hatte seine Zurückhaltung gegenüber dem Boulangismus im Interview folgendermaßen begründet: »Mes raisons sont nombreuses […], mais je n’ai pas / vous les d8tailler, une seule suffira : mon hygiHne s’oppose / ce que je d8sire voir modifier avant que je meure la forme de nos institutions.« (RV I: 194) Mit Renans Skepsis ist implizit die Debatte darüber eröffnet, ob der Boulangismus die Republik in Frage stellt.39 Die von BarrHs befürwortete Revision des republikanischen Systems und der Angriff auf den Parlamentarismus sind so einfach nicht von einem Rückfall in die Monarchie, wie ihn das 19. Jahrhundert mehrfach erfahren hatte, zu trennen. Denn schließlich zeigt etwa eine konterrevolutionäre Karikatur mit dem Titel Le D8gel de la Nation, in der eine Allegorie der freien Nation unter einer strahlenden Sonne dahinschmilzt (Abb. 12), dass die erneut aufgegangene Sonne die republikanische Freiheit bedroht. Im Jardin de B8r8nice wird die Königssymbolik mit den Orts- und Personennamen fortgeführt: Der Roman spielt in Aigues-Mortes und im nahe gele38 Der Napoleonkult birgt Garrigues zufolge eine Rückkehr zu einem vorrevolutionären politischen Modell (vgl. oben Anm. 30). Vgl. auch Roulin: »Napol8on a pu faire esp8rer que le corps glorieux du souverain s’8tait r8incarn8 dans une nouvelle dynastie.« (2005: S. 21) 39 Kirscher bezieht die Frage, auf die der Titel des Kapitels »Position de la question« (RV I: 189) anspielt, auf die politische Verantwortung des Intellektuellen. Renan entzieht sich dieser mit der Begründung, dass er eine Situation erst genau analysieren müsse, bevor er Position beziehen könne (1998: S. 266–269).

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Abb. 12: Le D8gel de la Nation. Farbradierung, 1792. BibliothHque nationale de France, Paris

genen Grau-du-Roi. Der Name des Ortes bedeutet ›Passage des Königs‹ (grau: von lat. gradus) und heißt so, weil Ludwig IX. von Aigues-Mortes aus über den dortigen Kanal zu seinen Kreuzzügen aufgebrochen war, in denen er schließlich umgekommen ist.40 Die Isotopie der Passage setzt sich im Namen des verstorbenen Geliebten, FranÅois de Transe, fort: Transe stammt vom lateinischen transire (›hinübergehen‹) ab. Hier wird die geographische ›Passage‹ des nationalen Heiligenkönigs Ludwig IX. mit einem Übertritt ins Jenseits verknüpft. Der Vorname des Geliebten, um den die melancholische B8r8nice trauert, verweist in der Verbindung mit dem Grau-du-Roi zumindest konnotativ auf Franz I. Mit Franz I. wird auch Roemerspacher im Appel au soldat Boulanger vergleichen (RV I: 782), einen Vergleich, den später Ernst Robert Curtius aufgreift und an Boulangers »plastischer Heroenpose« festmacht.41 Der »plus beau prince de la Renaissance«42 zelebrierte sein Liebesleben in besonderem Maße, ebenso, wie FranÅois de Transe als der ideale Liebhaber der B8r8nice gezeichnet wird. Franz I. genoss im nationalen Gedächtnis, vor allem im 19. Jahrhundert, aufgrund seiner militärischen Selbstbehauptung sowie insbesondere seiner Kunst40 Vgl. RV I: 211 und Vital Rambaud: »Notes«, in RV I: 1217–1502, hier : 1268, Anm. 59. 41 Maurice BarrHs und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus. Hildesheim: Olms 21962, S. 105. 42 Gonzague Saint Bris: FranÅois Ier et la Renaissance. [Paris]: SuccHs du livre Pditions 2010, S. 381.

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und Wissenschaftspatronage ein hohes Ansehen.43 Er ist damit Träger der Erinnerung an eine Politik, die BarrHs bei seiner eigenen Regierung schmerzlich vermisst.44 Der Name FranÅois suggeriert auch onomastisch einen nationalsymbolischen Bedeutungsgehalt, was das Geschehen auf komplexe Weise politisiert und an die Frage nach Boulanger als möglichem roi ren8 koppelt: Ist FranÅois die Verkörperung Frankreichs, wie der König im Ancien R8gime die Nation repräsentierte, und wirkt das Haus, das er B8r8nice hinterlassen hat (RV I: 209), auf Philippe nur deshalb so leer und kalt, weil der König fehlt? Das Haus, das schließlich ein topisches Nationalsymbol ist, erinnert Philippe an England (RV I: 205), was seine nüchterne Kälte mit dem Rationalismus der von England ausgehenden Aufklärung und mit der ersten revolutionären Königstötung des neuzeitlichen Europas in Verbindung bringt. Die republikanische Kälte wird außerdem in Le D8gel de la Nation thematisiert. Die Referenzen auf den Grau-du-Roi, Ludwig IX. sowie den König Ren8 spannen die Figur des FranÅois de Transe in ein Netz der Signifikate ein, das ihn als Figuration Boulangers ambivalent macht. Le Jardin de B8r8nice lässt sich deshalb als allegorische Reflexion darüber lesen, ob ein Mann wie Boulanger, auf den die Massen ihren Wunsch nach nationaler Einheit projizieren, die Nation wie ein wiedergeborener König verkörpert. Der Roman unterscheidet sich insofern von BarrHs’ politischer Rhetorik, die Renans Skepsis nicht teilt. In seinen Zeitungsartikeln betrachtet BarrHs Boulanger als den Volkssouverän, der der Nation ihre Souveränität zurückbringen kann, bekennt sich zum Autoritätsprinzip, propagiert die Suche nach dem homme fort und vertritt die Meinung, dass es in dieser Frage nicht mehr um die alten Konflikte zwischen Republikanern, Royalisten und Bonapartisten gehe.45 Er holt im Jardin de B8r8nice gewissermaßen die Analyse des Boulangismus nach, mangels deren Renan sich vom politischen Engagement ferngehalten hatte. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Symbolik des Nachnamens des FranÅois de Transe noch weiterverfolgen. Denn unter einem Transi versteht man heute in der Kunstgeschichte eine auf Grabdenkmälern abgebildete Figur, die den Leichnam des Verstorbenen mit dem einsetzenden Verwesungsprozess realistisch, manchmal sogar hyperrealistisch mit exzessiver Betonung der Zer-

43 Siehe etwa Julian Blunk: Das Taktieren mit den Toten. Die französischen Königsgrabmäler in der Frühen Neuzeit. Köln u. a.: Böhlau 2011, S. 192. 44 Vgl. »M. le G8n8ral Boulanger et la nouvelle g8n8ration«, in La Revue ind8pendante 18 (Apr. 1888), wieder abgedruckt in BarrHs 1994a: S. 123–129, hier S. 125f. 45 Siehe ebd.: S. 126. In einem Artikel vom Dezember 1889 bekräftigt BarrHs seine Unterstützung Boulangers, auch wenn er anerkennt, dass dieser eine Gefahr für die Republik sein könnte (»L’infaillibilit8 du suffrage universel«, in La Presse, 3. Dez. 1889, abgedruckt in BarrHs 1994a: S. 138–140).

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setzung darstellt und ihren Fokus auf die Vanitas richtet.46 Veristische Repräsentationen toter Körper kennt man vor allem von den berühmten RenaissanceKönigsgrabmälern in Saint-Denis, deren erstes Franz I. in Auftrag gegeben hatte. Diese Doppeldeckergräber repräsentieren Kantorowicz zufolge das Auseinandertreten des body natural und des body politic. Während der natürliche Körper dem Verfall preisgegeben wird, kann der unsterbliche politische Körper auf den Nachfolger übergehen und sich mit dessen corpus naturale zu einer neuen Einheit verbinden. Die Verkündung Le roi est mort mündet solchermaßen in ein Vive le roi ein.47 Dass Ludwig IX., der die Tradition der Versammlung der Königsgrabmäler in Saint-Denis begonnen hat, grundlegend zur Etablierung eines identitätsstiftenden kollektiven Gedächtnisses der französischen Nation beigetragen hat,48 wurde gerade in den Gründungsjahren der Dritten Republik emphatisch hervorgehoben. So beklagt Georges d’Heylli im Jahr 1872 in seiner Monographie zu den Königsgräbern deren Verwüstung und die Schandtat, die die Revolutionäre 1793 dem nationalen Gedächtnis angetan haben.49 Allein im Jahr der Veröffentlichung des Jardin de B8r8nice sind mindestens zwei Studien zu den Königsgräbern erschienen bzw. wiederaufgelegt worden,50 was auf ein zeitgenössisches Interesse an der Thematik schließen lässt. D’Heyllis Darstellung weist ganz ähnliche Motive auf wie BarrHs’ Roman, als er die Indifferenz 46 Siehe Blunk 2011: S. 78–80. 47 Kantorowicz 1957: S. 409–437. Die Denkmäler der unteren Etagen der Doppeldeckergräber in Saint-Denis sind häufig als Transis bezeichnet worden, was Blunk zufolge nicht korrekt ist, da sie keine Spuren der Verwesung tragen (2011: S. 78). Blunk stellt Kantorowicz’ These außerdem mit einer Reihe beweiskräftiger Argumente in Frage (ebd.: S. 55–68). Er argumentiert nicht gegen die Theorie der Zweikörperlehre, hält es jedoch für unwahrscheinlich, dass die auf den Doppeldeckergräbern dargestellten Priants den politischen Körper der Könige abbilden. Seines Erachtens haben sie eine eschatologische Funktion und unterscheiden sich damit von den Effigies, die die Repräsentation des politischen Körpers übernehmen (ebd.: S. 68). Dennoch wird, wie Leopold betont, insbesondere mit Franz I., unter dem sich der souveräne Flächenstaat konstituiert und der das erste der Gräber in Auftrag gegeben hatte, die monarchische Legitimation mittels der Zweikörperlehre akut (2014: S. 141–150). 48 Vgl. dazu Blunk 2011: S. 40. Zur Bedeutung des kanonisierten Ludwigs IX. als »roi national« insbesondere wegen seiner Verdienste in Saint-Denis siehe auch Jacques Le Goff: H8ros du Moyen .ge, le saint et le roi. Paris: Gallimard 2004, S. 467ff. sowie grundlegend zu SaintDenis als lieu de m8moire Colette Beaune: »Les sanctuaires royaux«, in Pierre Nora (Hg.): Les lieux de m8moire II. La Nation 1. Paris: Gallimard 1986, S. 57–87, bes. S. 58–70. 49 Vgl. oben das Motto zu diesem Kapitel. Das Ziel seiner Studie beschreibt D’Heylli folgendermaßen: »Je d8sire qu’avant de lire le rapport de leur destruction, il [sc. le lecteur, L.Z.] ait bien sous les yeux cette longue s8rie de monuments funHbres 8lev8s par la pi8t8 des siHcles, afin qu’il puisse se rendre encore mieux compte de l’8tendue du ravage accompli.« (1872: S. 26) Siehe zu Ludwig IX. ebd.: S. 24f. 50 Ferdinand de Guilhermy : L’Abbaye de Saint-Denis. Tombeaux et figures historiques des rois de France. Paris: Arnoult L8pine a%n8 31891 und L8on-Louis Buron: Vieilles 8glises de France. Paris: C. Delagrave 1891 (zu Saint-Denis S. 59–74).

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beklagt, mit der die Besucher die leeren Königsgräber besichtigen: »On admire ces monuments magnifiques illumin8s par le soleil; mais […] l’8glise royale n’est plus une 8glise, ni mÞme une n8cropole, ni un lieu de tristesse et d’impression pour la majorit8 du public indiff8rent qui la visite : c’est un mus8e.«51 Die Motive der Sonne, des Todes, der Melancholie und des Museums begegnen dem Leser zusammen mit einer rekurrenten Königssymbolik nun wieder bei BarrHs und begleiten Philippes Bewusstwerdung der nationalen Vergangenheit. In Arles betrachtet Philippe die leeren Sarkophage auf der »m8lancolique avenue« (RV I: 204) der Alyscamps-Nekropole, bevor er in Aigues-Mortes auf die Tour de Constance steigt, um die Aussicht auf das Land zu genießen (RV I: 210). Er imaginiert dort Ludwig IX. vor dessen Aufbruch zu den Kreuzfahrten und denkt über die Bedeutung der nationalen Vergangenheit für seine Identität nach: [J]e r8fl8chis que de ce long pass8, des siHcles qui font de cette tour la v8ritable m8moire du pays, rien ne se d8gage pour moi que ceux qui m8ditHrent et ceux qui souffrirent… En r8alit8, ils ne diffHrent guHre. 5 Nos m8ditations, comme nos souffrances, sont faits du d8sir de quelque chose qui nous compl8terait. Un mÞme besoin nous agite, les uns et les autres, d8fendre notre moi, puis l’8largir au point qu’il contienne tout. Telle est la loi de la vie. Avec nos futilit8s et parmi ces fausses n8cessit8s qui nous pressent, qu’est-ce que B8r8nice et moi-mÞme ? 10 Cette tendre rÞveuse souffre d’un bonheur perdu, rÞve un peu confus et analogue / ces paradis que les peuples primitifs placent dans leur pass8. (RV I: 211)

Philippe erfährt hier die Sehnsucht nach der Integration seiner selbst in das, was später BarrHs’ nationalistische Verwurzelung, die Theorie »de la terre et des morts« werden wird.52 Dabei reflektiert er darüber, dass B8r8nice ihr Glück wie primitive Völker in ein verlorenes Paradies der Vergangenheit projiziere. So schien ihr die Liebe zu FranÅois de Transe eine Zeit der Fülle und der Erfüllung: B8r8nice, / toutes les 8poques, fut remplie d’une chHre pens8e comprim8e qui la rendait indiff8rente au monde ext8rieur. D’ailleurs, cette pens8e, elle e0t 8t8 bien incapable de la d8finir, alors mÞme qu’elle s’y livrait avec le plus de mollesse. Vous savez qu’elle naquit avec un secret dans l’.me. C’est pour mieux le caresser qu’elle s’8tait tant plu dans la solitude du mus8e du roi Ren8, et son air un peu dur d’enfant t8moignait ces dispositions chim8riques. Quand l’.ge en fut venu, cette m8lancolie qui ignorait ses motifs se fixa dans un amour. Elle s’attacha trHs sincHrement / un jeune homme, FranÅois de Transe […]. (RV I: 207)

51 D’Heylli 1872: S. 7. D’Heylli fragt: »le caveau imp8rial est ferm8; quel C8sar futur y viendra dormir un jour? …Mais j’oublie que chez nous les rois ne meurent plus sur le trine et que maintenant nous ne voulons mÞme plus de rois!« (Ebd.: S. VII) 52 Vgl. Bendrath 2003: S. 39, zur Doktrin der »Terre et les Morts« ebd.: S. 111–139.

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B8r8nices Melancholie datiert also nicht erst auf den Tod des Geliebten. Sie ist unbestimmt und fixiert sich nur auf den Verstorbenen, auf den B8r8nice ihre Chimären projizieren konnte. De Transes Körper ist nun verwest – transi –, seine Erinnerung lebt jedoch in B8r8nice weiter und beherrscht ihr Leben völlig: »le jeune homme qui n’est plus lui a laiss8 de passion ce qu’en peut contenir un cœur de femme, et cette passion, loin de s’8vaporer avec le temps, se concentre dans la souffrance.« (RV I: 222) Ihre Melancholie ist Ausdruck eines nicht verarbeiteten Verlusts; B8r8nice hat sich das verlorene Objekt einverleibt, um ihre gesamte Aufmerksamkeit darauf zu richten und es in ihrem Inneren am Leben zu erhalten.53 Philippe erfährt die »[m]agnifique m8lancolie« (RV I: 212) des »m8lancolique pays, parent de B8r8nice« (RV I: 215), als er auf dem höchsten Punkt des Turmes steht und das Land betrachtet. In diesem Zusammenhang thematisiert der Text beiläufig die Funktion der Tour de Constance für die Monarchie, als Philippe beim Abendessen gefragt wird: »Avez-vous visit8 la tour Constance ? les oubliettes ?… il faut voir Åa ! C’est l/ que Saint-Louis pr8cipitait les protestants.« Il y eut un lourd silence, puis quelqu’un reprit, exprimant le sentiment de toute la table : »Ah ! mes amis ! nous avons la R8publique, gardons-la bien !« (RV I: 216)

Der Gesprächspartner setzt Ludwig IX. irrtümlich an die Stelle Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. Der Hinweis auf deren Hugenottenpolitik kennzeichnet den Turm als Symbol für die absolutistische Souveränität, die das protestantische Andere systematisch aus der Gesellschaft aus- und im Gefängnis einschließt.54 Philippe zufolge ist der historische Lapsus irrelevant; er erkennt in der Äußerung vielmehr den Ausdruck eines Wunsches nach Toleranz und der »conciliation possible de tous les id8als« (ebd.) in der Republik. Danach sehnt er sich selbst. Philippe hat vom Turm der Monarchie aus das Geheimnis der nationalen Vergangenheit ebenso verstanden wie die Bestätigung der Republik, die ihre allegorische Entsprechung im melancholischen Land von Aigues-Mortes und dem Grau-du-Roi findet. Die ständige Wiederholung des Namens De Transe besagt – insbesondere im Zusammenhang mit dem Grau-du-Roi sowie dem Mus8e du roi Ren8 – meines Erachtens, dass es bei der Suche nach der nationalen Einheit nicht darum gehen kann, den König wieder zum Leben zu erwecken. Die Genealogie französischer Könige ist vergänglich und wurde mit dem Tod des letzten absoluten Herrschers unterbrochen. Die leeren Sarkophage zeugen von 53 Nach Freud ist die Melancholie der psychische Ausdruck einer nicht vollendeten Trauerarbeit. Das Subjekt kann die Libido, mit der es das verlorene Objekt besetzt hatte, von diesem nicht lösen und auf andere Objekte – wie etwa auch Erinnerungsstücke – richten. Es schließt das verlorene Objekt vielmehr ins Innere der Psyche ein und identifiziert sich mit ihm (»Trauer und Melancholie«, in Freud 1975: S. 193–212). 54 Siehe zum souveränen Aus- und Einschluss oben Vorspiel, Kap. 2, Anm. 102.

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einer nationalen Vergangenheit, deren musealer Wert zwar eine zentrale Bedeutung für das kollektive Gedächtnis und die kollektive Identität hat, die aber im Zustand der Melancholie verbleiben müssen. Die Rückkehr in das vermeintliche Paradies ist eine Illusion, denn angesichts der sentimentalischen Melancholie seiner Freundin versteht Philippe, dass B8r8nice sich an den verlorenen FranÅois de Transe als ein Ideal erinnert, das von einem Lebenden niemals erreicht werden kann: Et ce jeune homme mÞme, qui n’8tait qu’un oisif 8l8gant, par sa mort devient un admirable appui / notre exaltation ; la beaut8 et la noblesse sans ombre ne vÞtirent jamais un vivant, mais qui les contesterait / celui qui repose ayant pour oreiller ton cœur ! (RV I: 225)

Erst in der Erinnerung wird FranÅois de Transe zum idealen Liebhaber für B8r8nice. Er bleibt nur als idealisierte Idee zurück und wird als solche glorifiziert. B8r8nice reproduziert damit die nachträgliche Idealisierung der Vergangenheit, die das Museum ihrer Kindheit in Szene gesetzt hat. Ihre melancholische Liebe kann deshalb ebenso ambivalent bewertet werden wie das Mus8e du roi Ren8, dessen Name eine erneute Verkörperung des Königs suggeriert, das aber auch auf einer falschen, idealisierten Erinnerung beruht und an einen ›Bon Roi‹ zurückdenken lässt, während der republikanische Gedanke die ›wahre‹ Toleranz und Vereinigung aller Ideale garantiert. Freud vermutet, dass das melancholische Ich das verlorene Objekt als innere kritische Instanz am Leben erhält, weil es gegenüber dem Objekt eine Ambivalenz empfinde, die erst noch beigelegt werden müsse. Auf diese Weise verinnerlicht werde das Objekt zum Ich-Ideal.55 Übertragen auf das Politische steht die melancholische B8r8nice, in der Philippe die instinktive Suche nach der Einheit sieht, gewissermaßen »im Schatten des Königs«, den Manow in der republikanischen Repräsentation des corpus politicum ausmacht.56 Man kann ihren Wunsch, in die Vergangenheit zurückzukehren, zwar als Ausdruck der Sehnsucht nach der ›Wiedergeburt‹ des Königs interpretieren. Allerdings war die Monarchie auch nur ein Versuch gewesen, das Begehren nach Einheit zu erfüllen. Die Tour de Constance zeugt indes von den inneren Differenzen, die der Absolutismus gewaltsam auslöschen musste. In der Einverleibung transformiert sich das verlorene Objekt zum Ideal der nation une et indivisible, das seit der D8claration des Droits de l’Homme durch das französische politische Imaginäre geistert und die Republik einer fortwährenden Kritik unterzieht.57 B8r8nice

55 Freud 1975b und »Das Ich und das Es«, in ders. 1975: S. 273–330. Ich beziehe mich bes. auf Butlers Freudlektüre (2008: S. 79 u. 83–85). 56 Manow 2008, vgl. oben Einleitung, Anm. 94. 57 Maisonneuve führt die rechtsextreme »phobie du d8saccord interne / la mHre patrie« auf den

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identifiziert sich mit dem verlorenen Objekt und repräsentiert somit allegorisch den politischen Körper des Königs, der als Erinnerung oder »Schatten« noch in der Volksseele präsent ist und sich immer neu zu inkarnieren versucht. Sie ist jetzt – zumindest für Philippe – die nationale Seele58, als dessen Verkörperung im Ancien R8gime der König gelten konnte. Der Roman lässt sich als allegorische Reflexion darüber lesen, dass die restauratorischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts den vergangenen Zustand, zu dem sie zurückkehren wollen, nur nachträglich als Paradies entwerfen. Ebenso wie De Transe lediglich ein eleganter Müßiggänger gewesen war, kann auch die Monarchie nicht als das ideale System gelten, als welches sie in den Zeiten der Dekadenz beispielsweise von P8ladan oder Maurras entworfen wird: »Elle [sc. B8r8nice, L.Z.] ne te parlera que de M. de Transe ; elle croit regretter le pass8 ; simplement dans un effort douloureux elle enfante quelque chose qui sera mieux qu’elle.« (RV I: 233) Das wahre Begehren des Volkes ist Philippe zufolge nicht die Rückkehr in ein vermeintliches Paradies, denn B8r8nice hat Philippe einmal sogar gestanden, dass sie De Transe habe verlassen wollen (ebd.). Formuliert BarrHs hier im allegorischen Modus, dass sich das französische Volk in der Revolution emanzipieren wollte wie B8r8nice? Insofern ist es von zentraler Bedeutung, dass der Roman gerade keine Suche nach einem neuen Ehemann für die verwitwete B8r8nice inszeniert bzw. eine solche schließlich ablehnt. In ihrer allegorischen Unbestimmtheit ließe sich die Narration einerseits also auf die Geschichte des Boulangismus selbst beziehen, also etwa auf dessen Fixierung auf seinen Chef oder auch auf Tendenzen der Emanzipation von diesem, wie andererseits auch auf eine Reflexion, die darüber hinausgeht und sich an sekundären Konnotationen, Isotopien, Metaphern etc. festmachen lässt. Anders als ein typisches Emblem hat der Jardin nämlich gerade keine Subscriptio, die die Bedeutung der pictura explizieren und fixieren würde.

1.3.

Der deprogrammierte Royalismus und das weibliche Ideal-Ich

In Anbetracht der vorangehenden Überlegungen lautet meine These, dass der Roman allegorisch eine Deprogrammierung des Royalismus inszeniert. Jameson beschreibt mit dem Konzept der Deprogrammierung insbesondere realistische Narrative, die alte Erzählmuster als illusorisch ausweisen, sie ›deprogrammieren‹ und ihre Leser in der Konzeptualisierung historisch neuer Vor-

Verlust des politischen Vaters zurück (1992: S. 70) und unterschlägt dabei, dass das Phantasma der Einheit kein Monopol der Rechten ist. 58 BarrHs verwendet den Begriff der ».me« in diesem nicht allzu langen Roman achtzig Mal.

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stellungen und Sachverhalte trainieren.59 Im Jardin de B8r8nice kommt diese Strategie im allegorischen Modus zum Zug und betrifft dort in erster Linie Philippes Erkenntnis, dass es nicht darum geht, B8r8nices vermeintlichen Mangel zu füllen. Vielmehr weist B8r8nice seit FranÅois’ Tod alle Männer von sich,60 geht, um ihm die Treue zu halten, eine Beziehung zu ihrer Freundin Bougie-Rose ein (RV I: 238–240)61 und stirbt, nachdem sie den Parlamentarier geheiratet hat. Ein alter opportunistischer Senator hatte die junge Frau kurz vor seinem Tod an sein Bett zitiert, ihr eröffnet, dass er ihr Vater sei und ihr geraten, sich bei der Wahl eines Ehemannes gegen den boulangistischen Kandidaten Philippe und für »celui des saines doctrines« (RV I: 241) zu entscheiden. Wie sehr sich die beiden Männer unterscheiden, zeigt sich, als sie sich auf der Tour de Constance treffen. Von dort kann Philippe auf die weiblich konnotierte Region hinabblicken und seine Potenz imaginieren: »On m’indiqua le point le plus 8lev8 des remparts, la tour Constance, citadelle du treiziHme siHcle, d’oF je dominerais la r8gion.« (RV I: 210) Die solide Befestigungsanlage der Stadt mit ihrer fast vollständig rechteckigen Stadtmauer steht in eklatantem Kontrast zur Zerklüftung ihrer Umgebung und stützt Philippes Dominanzbegehren. Allerdings wird ihm hoch oben auf dem Turm bewusst, dass ihm selbst etwas fehlt: »Nos m8ditations, comme nos souffrances, sont faites du d8sir de quelque chose qui nous compl8terait.« (RV I: 211) Sein Begehren ist ziellos, was ihn von Ludwig dem Heiligen, der mit dem Kreuzzug ein klares Ziel vor Augen hatte (RV I: 212), unterscheidet. Während sein Rivale Martin das Land – und mit ihm B8r8nice – disziplinieren will, eine Hierarchie zwischen sich und dem Land bzw. B8r8nice entwirft und diese auf die Überlegenheit der Wissenschaft über die Natur gründet (vgl. RV I: 21462), etabliert sich zwischen B8r8nice und Philippe ein egalitäres Verhältnis auf Augenhöhe. Die richtungsgebende Einheit, die Philippe zu fehlen scheint, wird ihm nicht, wie es Martin suggeriert, von dessen analytischer Perspektive vermittelt, sondern durch B8r8nice: ffme triste et d8sh8rit8e de B8r8nice, je vous aime ; je ne pr8tends pas vous imposer mon .me, mais / vous qui n’avez pas boulevers8 sous mille cultures la part originelle que vous avez reÅue de votre race, je demande que vous me soyez un directeur. 59 Jameson illustriert den Begriff am Beispiel des Don Quijote (»The Existence of Italy«, in ders.: Signatures of the Visible. New York/London: Routledge 1990, S. 155–229, hier S. 166). 60 Sie ist ein »enfant charg8e de volupt8s qu’elle laisse non cueillies se faner royalement sur ellemÞme« (RV I: 222). 61 Wittmann interpretiert B8r8nices lesbische Beziehung als Darstellung einer Möglichkeit, die Sinnlichkeit auszuleben, ohne dem Instinkt der Reproduktion anheimzufallen (2000: S. 57f.). 62 »[C]e qui me frappe dans ses explications, c’est jusqu’/ quel point, en tout et sur tout, il se refuse / accepter ce pays tel qu’il est et pr8tend lui imposer sa discipline.« (RV I: 214)

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Et toi aussi, m8lancolique pays, parent de B8r8nice, enseigne-moi. L’un et l’autre, vous avez suivi le fil de votre race et l’instinct de votre sHve ; moi je suis impuissant / rien d8fendre contre la mort. Je suis un jardin oF fleurissent des 8motions sitit d8racin8es. B8r8nice et Aigues-Mortes ne sauront-elles m’indiquer la culture qui me gu8rirait de ma mobilit8 ? Je suis perdu dans le vagabondage, ne sachant oF retrouver l’unit8 de ma vie. J’espHre en vous pour me guider. (RV I: 215)

Philippe bittet B8r8nice um geistige Führung. Er wendet sich an die melancholische Landschaft, die ihn, der sich impotent und entwurzelt fühlt, die Verwurzelung lehren soll. Hier wird wie später in den D8racin8s das Gefühl der Entwurzelung mit einer mangelhaften Männlichkeit assoziiert. Der kollektive Geist, von dem sich Philippe Führung erhofft, geht allerdings von einem melancholischen Wesen aus, dem die Virilität explizit fehlt. Unter B8r8nices Einfluss verschmilzt Philippe mit dem Land (RV I: 218); B8r8nice und Philippe ergänzen sich gegenseitig: Nach einem gemeinsam verbrachten Tag konstatiert Philippe: »au sang de ses veines s’8tait mÞl8 plus de soleil, plus de sel marin, plus du parfum des fleurs, et en moi s’8tait rafra%chi l’instinct, la force vive qui produit les hommes.« (RV I: 226) Der positive Einfluss geht wechselseitig vonstatten. Philippe benötigt B8r8nice, um zum Repräsentanten des Volkes werden zu können. Sie offenbart ihm das nationale Unbewusste, das ihn die Einheit des Kollektivs imaginieren lässt (RV I: 236) und ihm hilft, sich in der ›Rasse‹ zu verwurzeln (RV I: 232).63 Philippe meint, dass sie wiederum sich weniger einsam fühle, indem sie sich ihm gegenüber öffnet (RV I: 224). Solchermaßen kann er das Unbewusste, für das sie selbst blind bleibt (vgl. RV I: 232), interpretieren, bewusst machen (vgl. RV I: 233) und als Erzähler in die symbolische Ordnung der Sprache übersetzen. B8r8nices Unterwerfung unter einen Mann führt zu ihrem Tod. Martin ist, anders als Philippe, ein »vigoureux garÅon« (RV I: 212), energisch und von einer »droiture parfaite« (RV I: 215). Nach ihrem Tod sagt B8r8nices Geist zu Philippe: »Quand tu me pr8f8ras 8pouse de Charles Martin plutit que servante de mon instinct, tu tombas dans le travers de l’Adversaire, qui voudrait substituer / nos marais pleins de belles fiHvres quelque 8tang de carpes.« (RV I: 255) Legt man die christliche Symbolik des Fischs zugrunde, fühlt sich B8r8nice also nicht erlösungsbedürftig. Der Karpfen als männliches Fruchtbarkeitssymbol steht hier überaus deutlich für die von B8r8nice nicht benötigte Virilität, mittels deren der opportunistische Republikaner, der den König auf effiziente Art und Weise ersetzen möchte, sie und ihr weiblich symbolisiertes Land beherrschen will. Die Figur des Martin steht damit für die Politik der parlamentarischen »dictature occulte«, die BarrHs im Appel au soldat (RV I: 850) geißeln wird. Martin hat das Postulat der ewigen Witwenschaft B8r8nices (RV I: 224f.) nicht erkannt: »Ainsi, remplie d’un grand amour, elle ne demande / 63 Vgl. Carassus 1991: S. 24.

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mon amiti8 d’autre passion, d’autre caresse qu’une tendre curiosit8 pour le bonheur qu’elle pleure.« (RV I: 222) Der Roman inszeniert mit der Priorität der geistigen über die sinnliche Liebe eine Überwindung des Körpers,64 die in ihrer radikalsten Form B8r8nice betrifft: Die junge Frau, die, als Philippe sie kennenlernte, eine »petite libertine« (RV I: 195) war, darf am Ende allein als Seele überleben, während ihr Leib dem Tod zum Opfer fällt. Das letzte Kapitel kann die den Roman über weite Strecken beherrschende Todesatmosphäre dann in ein Lebensprinzip überführen: Philippe glaubt zu verstehen, dass B8r8nice nur vordergründig gestorben ist, in ihrem Zweitsinn, der ehemals lasziven und nun sublimierten Bedeutung als »Petite Secousse«, jedoch fortlebt (RV I: 253–256). Jetzt kann sie sein Ideal-Ich repräsentieren: »elle est le moi que je voudrais devenir. Or, pour une .me de qualit8, il n’est qu’un dialogue, c’est celui que tiennent nos deux Moi, le Moi momentan8 que nous sommes et le Moi id8al oF nous nous efforÅons.« (RV I: 254f.) B8r8nices Seele bestätigt dies: »Pour satisfaire ton besoin d’unit8, comprends qu’il faut t’en tenir / prendre conscience de moi, de moi seule […].« (RV I: 256) BarrHs entwirft ein weibliches, jedoch körperloses – und damit von jeder Bedrohlichkeit geläutertes – Ideal-Ich, das seinem Protagonisten die gesuchte Einheit verschaffen kann. Wichtig ist für den empfindsam-intellektuellen Philippe jetzt nur (noch) die Symbolik, die er in B8r8nice zu sehen meint und in bewusste Sprache übersetzt. Auf diese Weise bestätigt sich sogar schließlich seine wiedergewonnene Potenz, als er nach B8r8nices Tod zum Wiedergänger des Prinzen wird, der Dornröschens Rosenhecke durchdringt: »La haie franchie de la villa de Rosemonde, je me retrouvai sur ce sable oF nous avions pass8 tant d’heures […].« (RV I: 254) Im Garten der B8r8nice sind die beiden Figuren zusammen nun das ideale Androgyn.65 Die Allegorisierung und Entkörperlichung der B8r8nice reproduzieren die allegorische Sublimation weiblicher Bilder in der Revolution.66 Da B8r8nices Seele Philippes Verwurzelung in der Nation dient, nähert sie sich außerdem Quinets Geist der Nation an. Dieser soll, im Gegensatz zu einem virilen Cäsar, der immer schwach werden kann, die Republik dauerhaft einen und die Nation aufrichten.67 Indem Quinet den Geist der Nation an den Platz des Souveräns 64 Vgl. Wittmann 2000: S. 57f. u. 85–87. 65 Vgl. dazu BarrHs’ Vorwort zu Sous l’œil des barbares: »N’est-ce pas plutit l’histoire d’une .me avec ses deux 8l8ments, f8minin et m.le ?« (RV I: 30) Die autonome Selbstreproduktivität eines solchen Androgyn sieht BarrHs beispielsweise in Baudelaire verkörpert, über den er sagt: »Tout vrai g8nie 8tant / la fois m.le et femelle se f8conde soi-mÞme. Il n’y faut qu’un accoucheur.« (»La Folie de Charles Baudelaire«, in Les Taches d’encre 1, Nov. 1884, S. 3–26, hier S. 11, vgl. dazu Roussel 1994: S. XIX.) 66 Siehe oben Einleitung, Anm. 23 u. 45. 67 Quinet 2009: S. 92–99.

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273

stellt,68 argumentiert er gegen die ».me du chef«69. Der Jardin de B8r8nice zeigt, dass der Königsverlust nicht rückgängig gemacht werden soll, was wohl auch ein Grund dafür ist, dass Boulanger selbst im Roman nicht in persona, sondern nur als diskursive Referenz in Erscheinung tritt: Im Interview spricht man über ihn und Philippe repräsentiert ihn als politischer Kandidat. Carassus zufolge zeigt BarrHs hierdurch, dass die Idee des Boulangismus wichtiger ist als der konkrete Führer der Bewegung und diese auch nach dem Scheitern ihres Anführers weiterlebt.70 Das Fehlen der Figur unterstützt die Entkörperlichung, die den Einheitsgaranten zur Idee der Nation transformiert, die der Roman skizziert, ohne sie ideologisch zu verdeutlichen: Philippes Ziel ist nicht die Erfahrung einer nationalen Identität, die für ihn zu partikularistisch wäre. Er sucht seine »assises de l’humanit8« (RV I: 231). Indem der Roman die tödliche Wirkung ausschreibt, die die Heirat mit dem Parlamentarier auf die allegorische Figur der B8r8nice hat, keinen besseren Ehemann präsentiert, die Melancholie verherrlicht und sie mit dem Verlust des idealen Geliebten begründet, deprogrammiert er den Royalismus und postuliert, dass die Suche nach einem Boulanger II. nicht als Suche nach einem virilen Königsersatz (miss-)verstanden werden darf.71 Die Absage an ein autoritäres politisches System formuliert BarrHs dann im folgenden Roman, dem Ennemi des lois (1893), deutlicher aus.72 Der Jardin beschreibt die Hoffnung, dass etwas Neues entstehen wird (»elle enfante quelque chose qui sera mieux qu’elle«), auch wenn er noch keine konkrete Vorstellung davon hat, wie sich dieses gestalten könnte. Im politischen Kontext des Jahres 1891 hat jedenfalls der verhasste Parlamentarismus gesiegt. Le Jardin de B8r8nice konstruiert seine politische Reflexion wie noch der Ennemi des lois (RV I: 271) vor allem ex negativo und, wie in einem letzten Schritt zu zeigen sein wird, im intertextuellen Bezug sowohl zu Racines B8r8nice als auch zu Balzacs Vieille Fille. 68 69 70 71

Vgl. ebd.: S. 97–99. Ebd.: S. 93. Vgl. Carassus 1991: S. 24. Vgl. zur historischen Beziehung Boulangers zu den Monarchisten Philippe Levillain: Boulanger, fossoyeur de la monarchie. Paris: Flammarion 1982. Jean-Charles Chapuzet schreibt: »Le g8n8ral Boulanger n’a fait que rajouter un peu de terre dans la fosse oF la d8composition du cadavre monarchique 8tait d8j/ bien entam8e.« (»Le g8n8ral Boulanger. Des passions politiques / l’oubli…«, , 2002, Stand: 26. 03. 2016) 72 Der Roman richtet sich gegen jede Unterwerfung des Subjekts unter eine Autorität, sei es eine politische Instanz oder auch nur eine postulierte »volont8 g8n8rale«, der sich der individuelle Wille beugen müsste (RV I: 267 u. 270). Er entwirft selbst nur eine utopische und ironisierte Lösung, in der die vier Protagonisten (ein Mann, zwei Frauen und ein Hund) egalitär und in gegenseitigem Respekt zusammenleben. Siehe zum Ennemi des lois Kirscher 1998: S. 261–263 u. 293f. und Pierre Citti: »Prisons fin de siHcle : Prisons pour rire, prisons pour mourir. Sur L’Ennemi des lois de Maurice BarrHs«, in Romantisme. Revue du dixneuviHme siHcle 126 (2004), S. 53–64.

274 1.4.

Paradoxien im political gender: Maurice Barrès und die virile Republik

Intertexte und strategy of containment: Racines Bérénice und Balzacs Vieille Fille

Philippe überwindet das Gefühl seiner eigenen Mangelhaftigkeit durch die Erfahrung des kollektiven Unbewussten und der »racines« (RV I: 221), auf die B8r8nice nicht zuletzt über ihren Namen verweist. Der intertextuelle Bezug auf Jean Racines B8r8nice (1671) beschränkt sich meines Erachtens nicht auf die Darstellung der Melancholie.73 Denn Racines Tragödie inszeniert wie BarrHs’ Roman eine politische Dreiecksgeschichte: Der aus Palästina stammende Antiochus liebt die ebenfalls palästinensische Königin B8r8nice, die jedoch den römischen Kaiser Titus heiraten möchte. Titus liebt sie zwar, will aber den Gesetzen des römischen Volkes treu bleiben. Weil dieses keine Königin – und schon gar keine ausländische – an der Spitze des Staates sehen möchte, trennt er sich von B8r8nice, die nun frei wäre, sich für Antiochus zu entscheiden. Sie aber akzeptiert ihr Los, weist Antiochus zurück und bezeichnet dies in den letzten Versen als vorbildlich: 1512 1513 1514 1515 1516

Bérénice Je l’aime, je le fuis. Titus m’aime, il me quitte. Portez loin de mes yeux vos soupirs et vos fers. Adieu. Servons tous trois d’exemple / l’univers De l’amour la plus tendre et la plus malheureuse Dont il puisse garder l’histoire douloureuse.74

Hier steht die von Wittmann in Bezug auf BarrHs beschriebene Abkehr von der Erfüllung der Liebe im Vordergrund.75 Die Entsagung ist bei Racine nicht in erster Linie einem körperfeindlichen Fokus auf die Spiritualität geschuldet, sondern einer politischen Notwendigkeit: Titus entscheidet sich trotz seiner Liebe zu B8r8nice gegen eine Heirat mit ihr, um dem Willen des römischen Volkes zu genügen: Titus 344 De la reine et de moi que dit la voix publique ? […] 369 Dois-je croire qu’assise au trine des C8sars 370 Une si belle reine offens.t ses regards ? Paulin 371 N’en doutez point, seigneur. Soit raison, soit caprice, 73 Vgl. dazu Carassus: »La ›tristesse majestueuse‹ des h8ro"nes raciniennes p8nHtre, en s’affadissant quelque peu, la B8r8nice en sanglots.« (1991: S. 22) 74 Œuvres complHtes. Bd. I: Th8.tre, po8sies. Hg. v. Georges Forestier. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1999, S. 508f. (Akt V, Sz. 7). 75 Vgl. oben Anm. 64. 76 Racine 1999: S. 467–469 (Akt II, Sz. 1).

Le Jardin de Bérénice und die Deprogrammierung des Royalismus

372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386

275

Rome ne l’attend point pour son imp8ratrice. On sait qu’elle est charmante. Et de si belles mains Semblent vous demander l’empire des humains. Elle a mÞme, dit-on, le cœur d’une Romaine. Elle a mille vertus. Mais, Seigneur, elle est reine. Rome, par une loi, qui ne se peut changer, N’admet avec son sang aucun sang 8tranger, Et ne reconna%t point les fruits ill8gitimes Qui naissent d’un hymen contraire / ses maximes. D’ailleurs, vous le savez, en bannissant ses rois, Rome / ce nom si noble, et si saint autrefois, Attacha pour jamais une haine puissante ; Et quoique / ses C8sars fidHle, ob8issante, Cette haine, Seigneur, reste de sa fiert8, Survit dans tous les cœurs aprHs la libert8.76

Das römische Volk lehnt die Ehe von Titus und B8r8nice ab, weil es sich auf Grundlage der Freiheit gegen eine Königsherrschaft und für eine Herrschaft der Cäsaren entschieden hat. Racines B8r8nice zieht eine klare Grenze zwischen der königlichen und der cäsaristischen Regierung, gründet letztere auf die Volkssouveränität und ist wohl auch deswegen Intertext des Jardin de B8r8nice. Während BarrHs’ Roman den Royalismus im allegorischen Modus deprogrammiert, evoziert er den Cäsarismus allein im intertextuellen Verweis auf Racines Tragödie sowie im Prologkapitel, ohne ihn allegorisch zu inszenieren. Zugleich versucht er über Philippes Bekenntnis zu den Werten der Republik, diese mit dem Cäsarismus zu amalgamieren. Racines B8r8nice enthält mit der Absage an eine Herrscherin nicht-römischen Blutes außerdem schon den Kern von BarrHs’ xenophobem und antisemitischem »nationalisme ferm8«77. Allerdings – und hierin liegt die Ambivalenz beider Texte – grenzt die Tragödie das königliche Herrschaftsprinzip zwar aus dem Politischen aus, es siegt jedoch mit der Figur der B8r8nice als Sympathieträgerin im Emotionalen.78 Auch in dieser Hinsicht ist BarrHs’ Figur eine Nachfahrin der tragischen Heldin. Die politisierte Dreiecksgeschichte verknüpft den Jardin de B8r8nice über Racines Tragödie hinaus auch mit Balzacs Vieille Fille. Balzac entwirft dort mit Rose Cormon eine allegorische Figur, die, wie BarrHs’ B8r8nice, zusammen mit ihrem Haus in Analogie zur Nation steht. Die beiden allegorischen Häuser haben 77 Siehe zum Begriff Michel Winock: Nationalisme, antis8mitisme et fascisme en France. Paris: Seuil 22004, S. 35–38. Winock möchte mit der Gegenüberstellung von »nationalisme ouvert« und »nationalisme ferm8« die problematische Spaltung in eine Rechte und eine Linke sowie einen republikanischen und einen konservativen Nationalismus überwinden (ebd.: S. 35f.). 78 Koschorke et al. lesen die Tragödie als Repräsentation des souveränen Selbstopfers, d. h. der Grablegung des natürlichen Körpers des Königs und dessen Verwandlung in seine imago, in das portrait du roi (2007: S. 210–218). Die Figur der B8r8nice, die schon Rousseau zufolge die Herzen der Zuschauer erobert, deuten sie als Verkörperung der Humanisierung des Tyrannen (ebd.: S. 215–217).

276

Paradoxien im political gender: Maurice Barrès und die virile Republik

ihr tertium comparationis insbesondere in der Kälte und der Assoziation mit England (CH IV: 923). Während B8r8nice als Witwe ihren Geliebten verloren hat, ist Rose Cormon eine alte Jungfer und wartet darauf, endlich geheiratet zu werden. Beide Frauenfiguren werden von zwei Männern umworben, die politische Gegensätze verkörpern, welche mehr oder weniger sexuell konnotiert sind, und heiraten schließlich denjenigen, den die Romane als den Falschen deklarieren79 : Rose Cormon ehelicht den politisch mächtigen, aber sexuell impotenten Revolutionsgewinnler Du Bousquier, der sich in der Revolution verausgabt hat und einen nur oberflächlichen und trügerischen Eindruck von energischer Männlichkeit erweckt. Sie lässt sich von der herkulischen Gestalt des Republikaners täuschen und verspielt damit die Möglichkeit, sich und ihren gesunden Körper, der sie zur Mutterschaft prädestiniert, mit dem sexuell potenten Repräsentanten des alten Adels und der absoluten Monarchie, dem Chevalier de Valois, zu verbinden. Bei BarrHs wie bei Balzac ist der Bund zum Scheitern verurteilt: Roses nie vollzogene Ehe zementiert ihren Kummer wie ihre Jungfernschaft und bleibt ebenso steril wie B8r8nices Ehe, die zur radikalen Sterilität des Todes führt. Beide Texte entwerfen einen idealen, aber unmöglichen Ehemann: Balzacs Vicomte de Troisville, ein leider schon mit einer Russin verheirateter napoleonischer Soldat, sowie BarrHs’ bereits verstorbener FranÅois de Transe. Die aporetische Struktur der Texte liegt dabei in der von ihnen vorgenommenen ideologischen Setzung begründet: La Vieille Fille disqualifiziert das revolutionäre Modell als impotent und damit steril und besetzt das Modell des Ancien R8gime mit dem Signifikat von Potenz und Fertilität. Da diese Setzung nicht der politischen Erfahrung der Julimonarchie und der Machtergreifung sozialer Aufsteiger entspricht – denn »[e]nfin la R8publique impuissante l’emportait sur la vaillante Aristocratie et en pleine Restauration« (CH IV: 922) – schreibt der Roman die als Widerspruch erfahrene politische Wirklichkeit als solchen aus und bannt ihn in einem Narrativ. Le Jardin de B8r8nice verarbeitet eine ganz ähnliche Situation: Die boulangistische Bewegung hatte den Parlamentarismus als impotent verschrien und den Boulangismus als den Garanten nationaler Virilität propagiert. Diese Verteilung der Charakteristika ›männlich‹ und ›unmännlich‹ auf die politischen Akteure kann im Roman jedoch nicht aufrechterhalten werden, weil das parlamentarische System den Machtkampf mit den Boulangisten gewonnen hat. Der für BarrHs als weiblich-melancholisch-mangelhaft kodierte Parlamentarismus hat also über den viril-heilsamen Boulangismus gesiegt und die französische Nation erobert. Der Roman muss nun die Spannung zwischen der ideologischen Setzung und der politischen Erfahrung eines performativ ›viril‹ agierenden Parlamentarismus und eines impotenten Boulangismus verarbeiten. Er zeichnet 79 Ich folge hier Jamesons Analyse der Vieille Fille (2008: S. 140–156).

Le Jardin de Bérénice und die Deprogrammierung des Royalismus

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Philippes politischen Gegner Martin wie oben skizziert als potent und kräftig; B8r8nice selbst versieht ihn mit den Attributen der Männlichkeit. Philippe dagegen bezeichnet sich als impotent. Um der politischen Erfahrung gerecht zu werden, kehrt der Roman also BarrHs’ ideologische Setzung um. Dennoch bestätigt er diese durch die fatale Konsequenz von B8r8nices Ehe mit dem Parlamentarier und die Konstruktion eines asymmetrischen Dominanzgefälles zwischen den beiden in Opposition zur egalitären Beziehung zwischen Philippe und B8r8nice. Auf diese Weise disqualifiziert er die parlamentarische Republik als Reproduktion des Absolutismus. BarrHs versucht außerdem, den textkonstituierenden Widerspruch über die Entkörperlichung der Liebe aufzulösen und weicht seinem Problem damit in gewisser Weise aus. Eine Lösung kann angesichts der gegenwärtigen politischen Lage nicht gelingen, weshalb eine utopische Lösung in die Hoffnung auf eine nicht erzählte Zukunft und in den Rahmentext verlegt und gleichzeitig in der narrativen pictura selbst die Melancholie ästhetisch und moralisch überhöht wird. Als B8r8nices Geist Philippe am Ende des Romans anspricht, wird die Melancholie von einem Zeichen mangelhafter Männlichkeit, das sie in BarrHs’ politischen Artikeln sowie zu Beginn des Romans war, umgewertet: Sie soll jetzt nicht mehr geheilt werden, sondern dient der Begründung eines Einheitsideals, das wiederum zur Grundlage der Erfahrung einer kollektiven Identität wird. Die Melancholie ist damit Kristallisationspunkt der politischen Problematik des Romans und zugleich das ästhetische Mittel, diese zu bannen, ohne die ideologische Setzung revidieren oder die politische Erfahrung verkehren zu müssen. Die Verherrlichung der Melancholie kann als Bedürfnis nach Kompensation infolge des politischen Scheiterns Boulangers gedeutet werden. Sie wird aber zugleich über die komplexe Königssymbolik, die sich durch den Roman zieht, politisch neu kodiert als Zeichen der Einverleibung des Einheitsphantasmas, das sich im König ebenso verkörpert hatte wie in Boulanger und das nach dessen politischem Tod schließlich als reine Idee weiterlebt. Man kann B8r8nice also durchaus wie Carassus als Allegorie des verwitweten Boulangismus lesen und FranÅois de Transe in Analogie zu Boulanger setzen. Allerdings meine ich, dass gerade die doppelte intertextuelle Referenz die grundlegende Ambivalenz des Textes unterstreicht und dass insbesondere die Bezugnahme auf Racines B8r8nice die These einer allegorischen Reflexion über die Bedeutung der Figur des Boulanger als Repräsentant der nationalen Einheit stützt. Die allegorische Narration dient damit der vertieften Auseinandersetzung mit politischen Ideen, die nach Renan jedem Engagement vorausgehen muss. Außerdem zeigt sie den Punkt auf, an dem die politischen Spannungen nicht oder noch nicht in eine dialektische Synthese überführt werden können und in der ästhetischen Bannung verharren müssen.

278

2.

Paradoxien im political gender: Maurice Barrès und die virile Republik

Les Déracinés und der schmale Grat zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären

Les D8racin8s, der erste Teil des Roman de l’8nergie nationale (1897–1902), beschreibt sechs Jahre nach dem Jardin de B8r8nice eine Generation im Zustand der kollektiven Kastration und einen zerstückelten nationalen Körper. Die Vereinigung von Republik und nationaler Virilität wird nicht durch die mangelhafte Männlichkeit der Citoyens verhindert, sondern durch eine Bildungspolitik, die BarrHs zufolge die Energien der Jugend nicht bündeln und in zielgerichtetes Handeln überführen könne.80 BarrHs schreibt hier das aus, was Freud später in Massenpsychologie und Ich-Analyse als das Bedürfnis des Kollektivs nach einer Führerfigur beschreiben wird. Der homosoziale Bund konstituiert sich schließlich über die Absage an die mortalistische Romantik, den Ausschluss des Weiblichen und die Feier der kollektiven Erinnerung an Victor Hugo und den Professeur d’8nergie Napoleon, die das Volk vitalisieren und in eine Nation transformieren soll.81 Der zentrale Wendepunkt, an dem die Hoffnung auf eine Überwindung der kollektiven Entwurzelung zum Ausdruck kommt, ist die Begegnung eines der sieben Protagonisten mit Hippolyte Taine, dem Kritiker des abstrakten Jakobinismus.82 Taine legt den jungen Männern nahe, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen, die, ähnlich wie B8r8nice für Philippe, der Verwurzelung und der Erfahrung des Kollektivs dient. Er zeigt dem jungen Roemerspacher, wie wichtig es ist, sich an einem Modell zu orientieren: Ils 8taient arriv8s devant le square des Invalides ; M. Taine s’arrÞta, mit ses lunettes et, de son honnÞte parapluie, il indiquait au jeune homme un arbre assez vigoureux, un platane, exactement celui qui se trouve dans la pelouse / la hauteur du trentiHme barreau de la grille compt8e depuis l’esplanade. Oui, de son parapluie mal roul8 de bourgeois n8gligent, il d8signait le bel Þtre luisant de pluie, inond8 de lumiHre par les destins altern8s d’une derniHre journ8e d’avril. – Combien je l’aime, cet arbre ! Voyez le grain serr8 de son tronc, ses nœuds vigoureux ! Je ne me lasse pas de l’admirer et de le comprendre. […] Cet arbre est l’image expressive d’une belle existence. Il ignore l’immobilit8. Sa jeune force cr8atrice dHs le d8but lui fixait sa destin8e, et sans cesse elle se meut en lui. Puis-je dire que c’est sa force propre ? Non pas, c’est l’8ternelle unit8, l’8ternelle 8nigme qui se manifeste dans chaque forme. (RV I: 596f.)

80 Vgl. Surkis 2006: S. 97–103 und Datta 1999: S. 122f. 81 Siehe hierzu Scholler 2010: S. 260–272. 82 Siehe zu Taines Jakobinismuskritik in den Origines de la France contemporaine und der von ihm propagierten Notwendigkeit, den Determinismus anzuerkennen, Bendrath 2003: S. 73f. Vgl. allerdings zu BarrHs’ Kritik an Taines Lehre der »acceptation« Rambaud in RV I: 1377, Anm. 268.

Der schmale Grat zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären

279

Der kräftige Baum wird zur zentralen Metapher des Romans und zu BarrHs’ Bild für die ideale Nation.83 Es besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied zwischen Taines Beziehung zu seinem Baum und dem, wie die sieben Protagonisten diese verstehen: Taine erschließt das verkörperte Modell analytisch; er setzt seine Brille auf und tritt in eine zwar auch emotionale, vor allem aber intellektuelle Beziehung zu ihm. Der Baum vermittelt Taine, dass das Leben nicht zum Stillstand kommt und das Individuum sich gemäß seiner Entelechie zu seiner eigenen Bestimmung fortentwickelt. Während der Historiker den Baum bewundert und intellektuell als Exemplum und Zeichen für ein Leben, das sein Ziel in sich selbst findet, sowie für die Bedeutung der Verwurzelung versteht, rückt der Erzähler das visuelle Bild des schönen und starken Baumes in den Vordergrund; er erotisiert und sexualisiert den »bel Þtre luisant de pluie«. Dem jungen Roemerspacher fällt nach Taines Beschreibung des Baumes die kräftige körperliche Konstitution des Historikers auf: »Roemerspacher remarqua la forte cheville du vieillard, puis observa son mollet assez d8velopp8 ; il pensa qu’il devait Þtre de constitution vigoureuse, d’une solide race des Ardennes, affaibli seulement par le travail […].« (RV I: 598) Roemerspacher schildert Taine mit den Worten, die dieser verwendet hatte, um den Baum zu beschreiben (»force«, »vigoureux«) und etabliert solchermaßen implizit eine Spiegelbeziehung zwischen den beiden. Versteht Taine den Baum als Signifikanten für ein intellektuell zu deutendes Signifikat, dient der Baum ihm also als visuelles Modell und als konkretes Exempel eines abstrakten Ideals, so begreift Roemerspacher die visuelle Beziehung als eine imaginäre Identifikation. In seinem Verständnis, das durch die Beschreibung des Erzählers unterstützt wird, präsentiert sich der Baum seinem Betrachter als ideale Gestalt, der sich der Betrachter sodann angleicht. Roemerspacher konstatiert, dass ihm ein solches Ideal fehle: Ah ! dans ce d8sert de Paris, si nous 8tions quelques-uns / penser en commun ! si nous pouvions d8couvrir la sphHre oF, dHs le germe primordial, nous f0mes destin8s / nous mouvoir ! […] Quel homme, quelle id8e peuvent aujourd’hui fournir / des imaginations le modHle, l’8lan initial, l’image exaltante ? (RV I: 604)

Er sucht nun nach einem Ideal-Ich, mit dem er sich identifizieren kann: Für Roemerspacher und seine Freunde wird Taines Baum zum Stellvertreter einer symbolischen Position, die besetzt werden muss – mit einem Mann oder einer Idee.84 Dabei vollzieht Roemerspacher Quinets Abgrenzung des cäsaristischen vom republikanischen Patriotismus nicht mit: Quinet hatte ersteren dafür kritisiert, dass er einen ›Chef‹ benötige, um seine Energie entfalten und die Einheit des Kollektivs erfahren zu können, während letzterem der Glaube an die Nation genüge.85 Anders 83 Siehe hierzu Sternhell 2000: S. 291 u. 298. 84 Vgl. zur Notwendigkeit der Verkörperung der nationalen Idee in einem Mann ebd.: S. 180f. 85 Quinet 2009: S. 91–99.

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Paradoxien im political gender: Maurice Barrès und die virile Republik

als für Taine, der im Baum das Ideal einer ›schönen Existenz‹ erkennt, fungiert er für Roemerspacher als leerer Signifikant, der nach Zˇizˇek der Signifikant der symbolischen Kastration ist: »a signifier whose very presence marks the constitutive absence of the feature in question«.86 Für die sieben Protagonisten bezeichnet der Baum den Mangel und konstituiert zugleich das Ideal, das ein Objekt erreichen muss, um seine symbolisch designierte Position zu besetzen. Der im Jardin emotional erfahrbare Geist einer kollektiven Einheit wird in Les D8racin8s konkretisiert, dabei eindeutig virilisiert, und das Fehlen einer konkreten Figur oder Idee an seiner Stelle mit einem Mangel an Männlichkeit assoziiert. Dass die sieben Protagonisten alsbald das Grab Napoleons besuchen, die Erinnerung an den französischen Cäsar heraufbeschwören und sich von dieser elektrisieren lassen (RV I: 606–616), erklärt sich schon durch die räumliche Nähe des Baumes zu Napoleons Grab.87 Der symbolische Signifikant, der für Taine rein zeichenhaft bleibt, wird von der Gruppe metonymisch verschoben und fixiert sich auf Napoleon als Ersatz für die mangelnde imaginäre Identifikationsfigur in der symbolischen Ordnung der Republik. Der Erzähler bindet die Erinnerung an den Kaiser hier auch explizit an die monarchische Interpellation, indem er eine russische Redensart zitiert, nach der ein Mann nur so lange stark ist, wie der Zar zu ihm spricht (RV I: 609). Les D8racin8s illustriert verschiedene Arten, das Bild des Baumes zu verstehen und schließt insofern an die allegorische Reflexion im Jardin de B8r8nice an. Der Baum ist eines der zentralen Symbole der Ersten Republik und verkörpert als solches die republikanische Virilität, die die dekadente Männlichkeit der Monarchie ablösen soll.88 Darüber hinaus ist er mit dem keltisch-gallischen Substrat der Nation verknüpft. So heißt es etwa in Le Tour de la France par deux enfants (1877), der patriotischen Schullektüre der Dritten Republik, dass Gallien fast gänzlich von Wald bedeckt gewesen sei.89 In Les D8racin8s kann das bewunderte Bild Taine als »conseiller« (RV I: 597) dienen. Trotz und sogar wegen des Determinismus, den die Idee der Entelechie birgt, deutet er den Baum als Symbol energetisch aufgeladener Freiheit und Selbstbestimmung: »Regardez-le bien. Il a eu ses empÞchements, lui aussi ; voyez comme il 8tait gÞn8 par les ombres des b.timents : il a fui vers la droite, s’est orient8 vers la libert8, a d8velopp8 fortement ses branches en 8ventail sur l’avenue.« (Ebd.) Während der 86 Zˇizˇek 2008a: S. xxi, Hervorh. im Orig. 87 »Roemerspacher ayant men8 son ami ›/ l’arbre de Taine‹, Sturel admira que ce platane pouss.t contre les Invalides oF repose la gloire de Napol8on.« (RV I: 600) Vgl. zum energetischen Austausch der Gruppe mit Napoleon Carroll 1995: S. 35f. und Scholler 2010: S. 262f. Zum Vitalismus vgl. grundlegend Stöber 2006. 88 Zum Freiheitsbaum in der Revolution vgl. Ozouf 1976: S. 294–310. 89 G. Bruno (Pseudonym v. Augustine Fouill8e): Le Tour de la France par deux enfants. Devoir et patrie. Paris: Belin FrHres 3861922, S. 132.

Der schmale Grat zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären

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Baum hier das Bild einer revolutionären Befreiung – und der metaphorisch lesbaren Flucht nach rechts – vermittelt, ähnelt das Selbstbild, das er bei den sieben Protagonisten hervorruft, eher dem entwurzelten Revolutionsbaum, wie er etwa in einer Karikatur der Mainzer Republik mit der Subscriptio »Nau wie soll mir’s gefallen, s’is außer a Baeumche ohne Wurtzel, un a Kaepla ohne Kopf« (1793)90 dargestellt wird. Darüber hinaus liest sich Taines Baum als Vervollkommnung von Zolas Familienstammbaum, als implementum, das in einer säkularisierten typologischen Struktur auf die figura dekadenter Sukzession folgt.91 Über Zolas Stammbaum verweist er mit seiner typologischen Konnotation auch auf den Baum Jesse als Symbol für Jesu königliche Abstammung, drückt einen dynastischen Gedanken aus und verheißt einen zukünftigen Messias.92 Insofern verweist er zurück auf die monarchische Tradition, in der der königliche Stamm den französischen König zum Nachfolger Davids machte.93 Die Verkörperung des Ideals, nach der Roemerspacher sucht, gerät also wieder in den Bannkreis der Monarchie. Die symbolische politische Ordnung der Republik, die in Les D8racin8s immer wieder auch durch den Titel der von den sieben gegründeten Zeitschrift La Vraie R8publique beglaubigt wird, ist stets vom Umkippen in eine imaginäre Ordnung bedroht. Auf der symbolischen Ebene bleibt die Verkörperung des Schattens des Königs nur insofern, als sie sich allein in der Erinnerung an Napoleon und beim Staatsbegräbnis Hugos in der Evokation eines weiteren verstorbenen Nationalhelden aktualisiert.94 Mit der Erkenntnis, dass die Idealität eines Mannes insbesondere in der Erinnerung besteht, schließt Les D8racin8s an den Jardin de B8r8nice an. Zugleich reflektiert 90 Abgebildet in Franz Dumont (Bearb.): Deutschland und die Französische Revolution 1789/ 1989. Eine Ausstellung des Goethe-Instituts zum Jubiläum des welthistorischen Ereignisses. Stuttgart: Cantz 1989, S. 158. 91 Zur figura-und-implementum-Struktur siehe knapp Andreas Kablitz: »Allegorische Interpretation«, in Nünning 2004: S. 9–11, hier S. 10. 92 Vgl. die Generationenfolge in Jes. 11, 1–10. Vgl. zum Baum Jesse bei Zola Emery 1998. 93 Vgl. zum gottgeweihten, heiligen französischen Königshaus, dem »royal stock«, Kantorowicz 1957: S. 333 und zum karolingischen Konzept eines davidischen Königtums ebd.: S. 77. Die Symbolik des Baums führt hier ein Element ein, das angesichts von BarrHs’ in der Dreyfusaffäre wachsendem Antisemitismus zur Ironie des Textes wird. Nicht nur die Wurzel Jesse verweist auf eine Dynastie jüdischer Könige, ist doch auch die Zahl Sieben, hier die Anzahl der Protagonisten, ein insbesondere jüdisches Symbol der Vollkommenheit. Darüber hinaus konnotiert sie die in Jesaja 11 beschriebenen Folgen von je vierzehn Generationen von Abraham über David und die babylonische Gefangenschaft. Umso bemerkenswerter ist es, dass diese symbolische Zahl in den Folgeromanen abgelöst und damit gewissermaßen korrigiert ist: Im Appel au soldat und in Leurs figures überleben nach Racadots Tod nur noch sechs Protagonisten. Statt der Hälfte der jüdischen Generationenfolge Christi konnotiert die Sechs die doppelte Dreifaltigkeit. Auch hier wird die figura-und-implementum-Struktur der Bibel also implizit reaktualisiert. 94 Es geht den sieben um den »Napol8on de l’.me« (RV I: 608, kursiv im Orig.), um das mythische Bild Napoleons und nicht um die historische Figur. Vgl. Carroll 1995: S. 33.

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Paradoxien im political gender: Maurice Barrès und die virile Republik

der Erzähler darüber, dass ein Erinnerungsbild allein den jungen Männern im Jahr 188495 nicht genügen kann: »Quelque chose d’imaginaire, comme la figure de Napol8on en 1884, ne peut pas fournir / des unit8s juxtapos8es la facult8 d’agir ensemble.« (RV I: 616) Es bedarf deshalb eines »homme national« als »point de coordination« (RV I: 617). Den cäsaristischen Imitationstrieb der Franzosen, die sich einem Diktator zuwenden, bezeichnet der Erzähler allerdings als »instinct de malades« (RV I: 620);96 der homme providentiel ist »dangereux« (RV I: 622); er ist ein gefährliches Supplement, ein pharmakon, der die politische Synthese verspricht und zugleich bedroht. Es stellt sich deshalb die Frage, wie BarrHs in seinem folgenden Roman, dem Appel au soldat, mit der Verkörperung des durch den Baum etablierten Männlichkeitsideals durch einen säkularisierten Messias wie Boulanger umgeht und wie er die im Jardin und in Les D8racin8s reflektierte Spannung zwischen symbolisch-republikanischer und imaginär-monarchischer Ordnung weiter inszeniert. Nach dem Jardin de B8r8nice, der noch eine allegorische Struktur politischer Reflexion aufgewiesen hatte, die in den D8racin8s einer metonymischen Inszenierung kollektiver Identitätserfahrung gewichen ist, bewegt sich die Diegese im Appel au soldat sehr nah an den historischen Ereignissen. Ich behandle diese literarisierte Chronik der Boulangerkrise hier deshalb, weil sie zeigt, wie BarrHs den Versuch der dialektischen Synthese in die Aporie überführt.

3.

L’Appel au soldat und die Aporie des postrevolutionären politischen Körpers

Die dem Appel au soldat (1900) vorangestellten Mottos, ein Zitat aus Adam Mickiewicz’ Büchern des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft und ein Zitat des Republikaners Louis M8nard,97 schreiben die Schilderung der Boulangerkrise in eine republikanisch-patriotische Tradition ein. Das M8nardZitat setzt das Frankreich von 1793 mit den Perserkriegen in Analogie und erinnert an eine nationale Krise, in der sich die demokratische Republik im gemeinsamen Abwehrkampf eines heroischen Volkes gegen die Despotie etablierte.98 BarrHs bietet mit diesem Bezug auf ein Gewinnernarrativ eine alterna-

95 Siehe zum Jahr 1884 oben Kap. I.1. 96 Vgl. Carroll 1995: S. 36, Kirscher 1998: S. 298 und Wittmann 2000: S. 112. 97 Siehe Rambaud in RV I: 1407, Anm. 14 u. 15. Rambaud identifiziert das M8nard-Zitat nicht näher. Siehe zu BarrHs’ Bewunderung für M8nard das erste Kapitel des Voyage de Sparte (1906) (RV II: 391–402) und Curtius 1962: S. 11–13. 98 Die Perserkriege als erster gemeinsamer Kampf eines großen Teils der Griechen gelten in der Rezeption seit Herodot als Abwehr der orientalischen Despotie und als Rettung Griechen-

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tive Erzählung an, die 1793 neu besetzt und dazu antritt, die narrative Struktur etwa von Lucans Pharsalia in die zielgerichtete Erzählung von der nationalen Regeneration zu überführen. Implizit wird damit der athenische Held Themistokles, der die griechische Seemacht gegen die Perser befördert hatte und als Wegbereiter der attischen Demokratie gegen die Tyrannis gilt,99 zum Vorbild des homme providentiel, den man in Boulanger zu sehen glaubte. Der BoulangerKult wird auf diese Weise vom Napoleon-Kult und von einem starken Kaiserreich abgrenzt, gegen das sich M8nard vehement ausgesprochen hatte.100 Boulanger bestätigt dieses ideale Bezugsmodell im Roman zunächst. Er wird als »soldat au service de la r8publique« (RV I: 780), als »protecteur de la r8publique« (ebd.) vorgestellt, der das abstrakte Ideal der Brüderlichkeit greifbar macht (RV I: 776) und die bislang in Parteien zersplitterten Franzosen im Bewusstsein ihrer nationalen Identität angesichts des gemeinsamen Feindes Deutschland vereint (RV I: 779). Die ehemaligen d8racin8s sind jetzt begeisterte Apostel geworden, die ihre Energien im politischen Engagement endlich zielgerichtet einsetzen können (vgl. RV I: 825f.). Der General verkörpert Roemerspacher zufolge das Versprechen von einer Vereinigung von Demokratie und außenpolitischem Prestige: Au total, il faut comprendre Boulanger dans l’imagination populaire comme optimiste et vulgaire ; comme un soldat brave et galant, qui nous rend du prestige / l’8tranger, un g8n8ral Revanche ; et, en mÞme temps, comme un serviteur des ambitions et des jalousies d8mocratiques. (RV I: 782)

Roemerspachers »en mÞme temps« signalisiert allerdings, dass die Synthese zweier Ideale, die Boulanger zu leisten hat, zumindest von einer Spannung gekennzeichnet ist. Denn die »foule« verehrt Boulanger, wie sie Franz I. oder Heinrich IV. verehrt hatte (ebd.). Zwischen der Menge und dem General etabliert sich eine stark affektive, bald auch erotisierte Beziehung,101 die das Bild lands. Siehe Wolfgang Will: Die Perserkriege. München: Beck 2010, bes. S. 8, 11, 38–48 u. 104–118. 99 Ebd.: S. 23–26, 36f., 53–55, 69ff. u. 106–108. 100 In Le Voyage de Sparte beschreibt BarrHs M8nards Idealvorstellungen folgendermaßen: »la source du droit se trouve dans les relations normales des Þtres et non dans une autorit8 sup8rieure : HomHre et H8siode prononcent la condamnation de Napol8on III.« (RV II: 395) BarrHs fasst M8nards politisches Programm zusammen als »la l8gislation directe et le gouvernement gratuit, qu’il emprunte aux r8publiques de l’antiquit8« (RV II: 396). 101 »Elle [sc. la France, L.Z.] avait vu son chef cr.ne, actif et confiant […]. Illusion d’une amoureuse, elle lui aurait dit volontiers: ›Quand on a pass8 de tels instants ensemble, on ne se quitte plus.‹ […] Comme il 8tait jeune, et brave, et cher / cet immense public !« (RV I: 780) »La vague immense, l’animal puissant qu’est cette foule se jette avec son frÞle h8ros, de droite et de gauche, par formidables ondulations qui trahissent des pouss8es de d8sir et de craintes […]. Ces […] forces du subconscient national […] 8treignent d’amour un Boulanger. […] [L]a foule, heureuse, […] lui jette ses chant, ses cris, ses gestes violents, elle se

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von der Heirat der Nation mit ihrem König und damit die Herrschaftssymbolik des Ancien R8gime aufruft, insbesondere auch durch die grammatikalische und konnotative Verweiblichung der Nation als »foule« (RV I: 787, 789) »amoureuse« (RV I: 780) und »masse« (RV I: 788) statt als »le peuple«. Nicht nur dies droht die Virilisierungsbeziehung zwischen Boulanger und dem Volk, die der Roman insbesondere auf den energetischen Blickkontakt zurückführt (vgl. RV I: 817f.),102 in Frage zu stellen. Die Huldigung des Ideals birgt außerdem die Gefahr, dass der Einzelne angesichts der Figur, die eine ideale Männlichkeit zu verkörpern scheint, sich selbst in Frage stellt: »Comment ne l’ex8crerais-je pas ? Il est ce que j’aurais voulu Þtre.« (RV I: 783), stellt eine der Figuren fest. Der Erzähler sieht das Problem, das der Verehrung eines konkret körperlichen Ideal-Ich eignet: »Un tel d8sordre a quelque chose d’animal et de profond8ment m8lancolique, comme des excHs mÞl8s d’impuissances.« (RV I: 787, meine Hervorh.) Vor allem Boulangers Gegenspieler Bouteiller, der in Les D8racin8s als falsches Idol der sieben Protagonisten entlarvt wurde, formuliert die Einsicht, dass die Feier des einen von der Impotenz der vielen zeugt (»Il jouit de voir nettement l’impuissance de cette foule et de ce roi des halles.« RV I: 793), und disqualifiziert Boulanger als eine Art Karnevalskönig.103 Vor einem passiven Volk, das den General als einen Ersatzkönig verehren und seine Souveränität und Handlungsmacht blind an ihn delegieren zu dürfen meint (vgl. RV I: 800) und das damit im Zustand der Melancholie verbleibt, flieht Boulanger schließlich selbst. Bouteiller will Boulanger als »Versaillais«, als »C8sar« denunzieren (RV I: 853) und propagiert einen autoritären Parlamentarismus als Mittel gegen den Boulangismus (ebd.), was der Erzähler als »dictature occulte« (RV I: 850) hinter der Fassade des Parlamentarismus bezeichnet. So bezichtigt der Erzähler den Parlamentarismus eben dessen, was man Boulanger vorgeworfen hatte. Weil dieser gerade nicht autoritär herrschen will, lehnt er den Staatsstreich ab, zu dem jette elle-mÞme vers lui et ne sait par quelle invention prouver l’intensit8 de son amour. […] L’intimit8 est grande entre le h8ros et sa foule.« (RV I: 787–789) 102 Vgl. zum Blickkontakt des faschistischen Führers mit der erotisierten Menge Theweleit 1980: S. 130–140 und Georges Bataille: »La structure psychologique du fascisme«, in La Critique Sociale 1931–1934. R8impression. Paris: Pdition de la Diff8rence 1983, S. 137–160, hier S. 153. Vgl. im Gegensatz zu Boulangers phallischem Blick den nicht-penetrierenden Blick des parlamentarismustreuen Republikaners Bouteiller, dessen Blick sein Gegenüber gar nicht erst trifft: »Son regard passe par-dessus la tÞte de son interlocuteur […].« (RV I: 849, vgl. auch RV I: 792f.) Bouteiller kennzeichnet darüber hinaus im Gegensatz zu Boulanger (vgl. RV I: 777, 780 et passim) eine falsche, antrainierte und überhebliche aufrechte Haltung: »Bouteiller, dans sa chaire de philosophie, adoptait une certaine tenue glaciale et hautaine, mais c’8tait une attitude professionnelle, une tradition reÅue / l’Pcole normale.« (RV I: 842) 103 Zum Karnevalskönig, der die Umkehr der normativen Ordnung verkörpert, siehe Bachtin 1990: S. 51. Bouteiller wird hierdurch allerdings nicht rehabilitiert. Der Erzähler beschreibt ihn vielmehr als aristokratisch, da er sich von den Bedürfnissen der Menge distanziert und sie von oben herab analysiert (RV I: 793).

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ihm seine Anhänger raten, nachdem er 1889 in den Parlamentswahlen mit einer überwältigenden Anzahl von Stimmen zum Abgeordneten von Paris gewählt wurde. Während Boulanger Napoleon III. als Modell für sein Handeln zurückweist und sich insbesondere auf die Erinnerung an Hugos Ch.timents (RV I: 857 u. 861–863) beruft,104 deutet Bouteiller den Verzicht auf die Machtdemonstration als Mangel an Männlichkeit: Mais oF le d8dain de Bouteiller d8borda, c’est quand il apprit au ministHre de l’Int8rieur que l’8lu du 27 janvier, pour se reposer, passait les premiers jours de f8vrier, incognito, chez la Belle MeuniHre / Royat, dans les bras de Mme de Bonnemains, et cependant suivait un r8gime tonique de kola. Certaines cr8atures irr8prochables de 5 mœurs sourient, se gaussent d’un homme qui, / l’occasion, montra une retenue trop vertueuse. Le sentiment des puissances de l’amour – pr8cisons : la notion du v8ritable m.le – subsiste en elles, nullement affaibli par leur indiscutable chastet8 et parfois la domine. […] Bouteiller […] aimait trop le pouvoir pour admettre que, prHs de le saisir, on recul.t. Il ne sut aucun gr8 au g8n8ral Boulanger de s’Þtre abstenu d’un coup 10 de force le soir du 27 janvier. »C’est un l.che, disait-il, et, d’ailleurs, il savait bien que nous le fusillerions.« MÞme / la premiHre minute oF tant de politiciens, qui ne jugent jamais que par l’8v8nement, s’8merveillaient de ce »diable d’homme«, Bouteiller marqua une piti8 d8go0t8e. (RV I: 869f.)

Bouteiller hält Boulanger für einen Feigling, weil dieser das Bild eines starken Mannes abgeben möchte – und tonische Lebensmittel zu sich nimmt (Z. 4) – dieses Bild im entscheidenden Augenblick aber nicht performativ bezeugt. Er assoziiert die politische mit einer sexuellen Abstinenz und verleiht ihr eine Symbolik der Impotenz. Constans, der Boulanger des Hochverrats an der Republik anklagen wird, performiert eine effiziente Männlichkeit, die schließlich über den General triumphiert. Der Erzähler allerdings führt den Anschein, dass die parlamentarische Republik ›viriler‹ agiert als Boulanger, darauf zurück, dass letzterer aufgrund seiner nationalen Mission nicht für das anti-nationale parlamentarische Spiel geeignet sei: »Magnifique image d’Ppinal, il fait au Palais-Bourbon une m8diocre figure. L’8lu de Paris, de la France, ne peut plus Þtre un collHgue qui fait sentir sa force, mais un homme d’Ptat. […] Dans ce rile, Boulanger para%t inf8rieur.« (RV I: 870) Der Widerspruch, den der Jardin de B8r8nice narrativ zu bannen versucht hatte, wird hier insofern aufgelöst, als der Erzähler behauptet, dass die Minderwertigkeit sich mit der Situation begründe, nicht aber mit dem Sein des Helden (vgl. auch RV I: 966). Während die boulangistische Bewegung gewissermaßen von außen beschnitten und schließlich entwurzelt worden sei (vgl. RV I: 975f.), sei die performierte Potenz der Regierung Ausdruck einer quasi-absolutistischen Macht, die allein dem Staat nütze, was im Text etwa die bedrohliche Hand Constans’ ausdrückt: »Ah, dit l’autre [sc. Constans, L.Z.], en la secouant en l’air, cette main 8norme et poilue, aux doigts carr8s, outil 104 Vgl. hierzu Curtius 1962: S. 108 und Sternhell 2000: S. 167–170.

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d’8trangleur c8lHbre, serrez-la ou non, je vous promets qu’elle vous serrera, elle !« (RV I: 871) Die Fiktionalisierung des historischen Geschehens trägt hierzu bei, indem insbesondere diejenigen von Boulangers Anhängern, die wie etwa der Mörder Mouchefrin oder der Verräter Suret-Lefort einen – diesen Namen Lügen strafenden – schwächeren Charakter aufweisen, jetzt die Seiten wechseln (RV I: 871–873). Dennoch beeinträchtigt der Triumph des Parlamentarismus auch die Virilisierungsbeziehung zwischen dem General und seinen Getreuen. So verliert sich Boulangers Blick zeitweise im Vagen (RV I: 877, vgl. auch 984 u. 995) und der treue Sturel erfährt eine Verweiblichung (»Saviezvous madame, que notre Sturel 8tait une jeune fille ?« RV I: 878). Eine Figur wie Boulanger muss dem Roman zufolge mit dem Konflikt umgehen, dass er, der sich auf einer ständigen Gratwanderung als Republikaner legitimieren muss, nur entweder wie ein richtiger Cäsar handeln kann, was die Nation um sein Bild als Verteidiger der »vraie R8publique« bringt, oder aber, wenn er es unterlässt, in ihren Augen seine Männlichkeit verliert. Immer wieder durchziehen den Roman Zweifel an Boulangers persönlicher Virilität, und zwar schon bevor er von seinen Gegnern dekonstruiert wird: Dem vermeintlichen »casse-cou« (RV I: 818) wurde bereits zu Beginn seiner Karriere in einem Duell der Hals durchbohrt (RV I: 841). Sturel macht sich begründete Sorgen darüber, ob der Hals des Generals vernarben wird (RV I: 845). Dies wäre symbolisch äußerst ungünstig, würde er dann doch die traumatische Erinnerung an 1793, deren Heilmittel er hätte sein sollen, deutlich zur Schau tragen. Darüber hinaus hatte ihn nicht etwa ein gestandener Soldat verwundet, sondern ein ›effeminierter‹ Anwalt (»Voil/ le soldat bless8 par l’enjuponn8 !« Ebd.) Bald schon fragen sich die Figuren, ob Boulanger vielleicht nur ein Fetisch ist (RV I: 867). Er genügt den Ansprüchen an einen perfekten Körper nicht vollständig. Wittmann zufolge zeigt BarrHs in seinem Roman, dass der Nationalheld wegen seines nervös-empfindsamen Egotismus und der Unfähigkeit der boulangistischen Bewegung, ihre Körperlichkeit zu überwinden, nicht vom Idol zum Messias werden könne.105 Dass die Vergöttlichung des Generals, der sich direkt auf der Schnittstelle von Körper und Geist situiere, scheitert, begründet Wittmann folgendermaßen: »Il h8site de devenir un dieu et court le risque de redevenir un homme, peut-Þtre mÞme un corps. […] Il y a deux Boulanger, ce qui est un de trop pour un homme dont le rile devrait Þtre d’incarner et de r8aliser l’unit8 nationale.«106 Meines Erachtens hat man hier die narrative Re105 Wittmann 2000: S. 124–127 u. 140–142. Gestützt wird dies durch die Evaluationen des Erzählers (vgl. RV I: 862f.). Kirscher notiert, dass eine übersteigerte »volont8 individuelle« BarrHs zufolge auch schon das Scheitern Napoleons I. verursacht habe (1998: S. 298f.). 106 Wittmann 2000: S. 141f. Boulanger kippe ins rein Körperliche, weil er die sinnliche Liebe zu Madame de Bonnemains suche und das Spiel des Parlamentarismus spiele (vgl. ebd. u. S. 124–127).

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flexion über den politischen Körper mitzubeachten, auf den ja die Vorstellung von den zwei Körpern Boulangers hinweist. Denn es stellt sich die Frage, ob Boulanger die Wahl hatte, zum ›Gott‹ zu werden – schließlich ist der alte politische Körper, der für die Apotheose gebürgt hätte, tot und soll dies auch bleiben. Erst durch die Idee des politischen Körpers entstand im Ancien R8gime die Vorstellung des perfekten Körpers einer persona idealis, der die Unzulänglichkeiten des natürlichen Körpers des Königs kompensiert.107 Schon im Jardin de B8r8nice hatte BarrHs die Frage gestellt, ob eine lebende Person das Ideal erfüllen kann, das der verstorbene FranÅois de Transe in B8r8nices Erinnerung verkörpert. Im Appel au soldat leugnet Boulanger seine Wunde (vgl. RV I: 1028) und versucht, das perfekte Bild seiner Legende zu bewahren (vgl. RV I: 979 u. 1014): Er verteilt signierte Photographien von sich an seine Anhänger (RV I: 994), was deutlich belegt, dass er mittels der Errungenschaften eines modernen Massenmediums die imaginäre Beziehung zwischen Führer und Volk, die die Grundlage der nationalen Virilisierung ist, aufrechtzuerhalten versucht.108 Er scheint zu glauben, dass das massenmedial erzeugte Abbild seiner selbst den politischen Körper zu fixieren vermag und dass die Techniken der Moderne der Zweikörperlehre eine neue, säkular-materialistische Form geben können. Der Roman zeigt dagegen, was geschieht, wenn die perfekte Männlichkeit dem homme providentiel nicht über den transzendental verbürgten politischen Körper verliehen wird, sondern vom Volk, dessen Begehren Boulanger transformiert: »Par la force du d8sir des masses, il venait de subir une transformation.« (RV I: 782) Roemerspacher erkennt die Projektion, die das Volk in Boulanger einen Helden sehen lässt.109 Der politische Körper ist jetzt mehr performativer als repräsentativer Natur und, da das corpus mysticum nicht mehr von Gott, sondern vom Volk verliehen wird, von Unwägbarkeiten bedroht: Die Boulangisten werden abgeworben, manipuliert und folgen oft weniger der Stimme des nationalen Interesses als der ihres eigenen Wohls. Boulanger, extraordinaire force de sentiment, se chargeait d’8nergie, au contact de l’arm8e et de la d8mocratie ; il vivait de nos grandes passions nationales pour la gloire, pour l’8galit8 et pour l’autorit8, du boulangisme enfin. Il tombe sur les genoux quand se dispersent les foules desquelles il participait. (RV I: 1031)

107 Vgl. oben Vorspiel, Kap. 2. Manow bemerkt, dass heute noch jeder Hinweis auf die Unzulänglichkeit des natürlichen Körpers eines Herrschers irritiere (2008: S. 141). 108 Vgl. oben Anm. 34 zu Boulangers Merchandising-Politik. 109 »Ce qui caract8rise et actionne les h8ros populaires, c’est, bien plus que leur volont8 propre, l’image que se fait d’eux le peuple.« (RV I: 782) Vgl. zur Projektion auch Rambaud in RV I: 1416f., Anm. 93. Curtius beschreibt Boulanger als »[repräsentative] Persönlichkeit, die von der Nation emporgehoben wird und in der die Nation sich wiedererkennen kann« (1962: S. 100f.).

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Die Energetisierung und Vitalisierung ist reziprok und wenn sich die ihn feiernde Masse auflöst, hat das dieselben Konsequenzen für Boulanger, wie wenn er für sie nicht zugänglich ist: Er geht zu Boden. Der Verlust des Gegenübers führt zu einer wechselseitigen Kastrationserfahrung. Nachdem seine Anhänger ihn verlassen haben, offenbart sein Blick einen Abgrund (RV I: 973 u. 995) und sein »corps tout mol« (RV I: 983, vgl. auch RV I: 1027) zeugt von der »impuissance« (RV I: 984). Dass das Comit8 national den General verlässt, versetzt diesem den Todesstoß (vgl. RV I: 1003f.). Das Comit8 selbst löst sich anschließend in der »rue de l’Arbre-Sec« auf (RV I: 1006): Der boulangistische Baum ist vertrocknet, die nationale Energie versiegt und auch Sturel hat nun keinen Erfolg mehr bei seiner Geliebten (vgl. RV I: 1008 u. 1011). Außer der oberflächlichen Erkenntnis, dass Boulanger nicht ›der Richtige‹ gewesen ist,110 offenbart der Roman also die Probleme bei der Übertragung der Beziehung zwischen Nation und Herrscher auf die von einem Volk und einem Helden, der die nationale Einheitsidee als republikanische Fortführung des königlichen politischen Körpers inkarniert. Boulanger büßt außerdem seine Virilität ein, als er dem morbiden Einfluss seiner an Tuberkulose erkrankten Geliebten ausgesetzt ist111 – ebenso wie die boulangistische Bewegung, die parallel dazu unter dem fatalen Wirken des weiblich konnotierten Parlamentarismus leidet. Bezeichnenderweise wird im Roman der Verdacht geäußert, Madame de Bonnemains sei von Deutschland geschickt worden, um Boulanger zu schwächen (vgl. RV I: 986f.),112 ein Verdacht, der einer fortgesetzten Paranoia im Appel au soldat entspricht: Auch die aktuelle Regierung solle aus demselben Grund von Deutschland eingesetzt sein (RV I: 785). Indem er einen Boulanger beschreibt, der sich bei Madame de Bonnemains geradezu ›verligt‹, führt BarrHs nicht nur den Topos der tuberkulosekranken Frau, sondern auch die aus dem Ancien R8gime überkommene Indienstnahme des Mythos von Herkules und Omphale fort.113 Madame de Bonnemains kann den Volksanführer nicht stärken und regenerieren, also die Rolle einer idealen Ehefrau des 19. Jahrhunderts einnehmen, die ihren Mann entlastet. Als Mätresse bewirkt ihre Anwesenheit vielmehr, dass der homme national sein persönliches Kontingent an Liebe auf sie und sein Volk aufteilt, was angesichts der im 19. Jahrhundert vollzogenen Trennung von Politischem und Privatem besonders 110 Vgl. Sternhell 2000: S. 181. 111 Zu Boulangers Kontamination durch die Krankheit der Madame de Bonnemains vgl. Wittmann 2000: S. 124. 112 Vgl. hierzu Rambaud in RV I: 1462, Anm. 514. 113 Dieser Mythos wird im Ancien R8gime in politischen Krisen immer wieder reaktualisiert (vgl. Leopold 2014: S. 11–30). Die bedrohliche Frau ausländischer und dabei insbesondere germanischer Herkunft reproduziert auch die Ressentiments gegenüber der Österreicherin Marie-Antoinette. Siehe zum ›verligen‹ im Erec Hartmanns von Aue Joachim Bumke: Der Erec Hartmanns von Aue. Eine Einführung. Berlin u. a.: De Gruyter 2006, S. 34.

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problematisch ist. Anstatt auf die symbolische Allianz des Herrschers mit der Nation zu verweisen, unterminiert die ›effeminierende‹ Liaison hier die virilisierende Begegnung mit dem Volk. Der republikanische homme providentiel hat nur noch einen natürlichen Körper, dessen Unzulänglichkeiten nicht mehr durch den Sakralkörper kompensiert werden können. Boulanger muss ein Ideal erreichen, dem er qua Korporalität niemals genügen kann. Der Appel au soldat zeigt die Kluft zwischen dem in den D8racin8s etablierten Ideal des Baumes, das man als Analogon zum Signifikanten des Phallus deuten kann, und seiner materiellen Verkörperung im natürlichen Körper.114 Deswegen ist der Entwurf des neuen Herrschertyps fernab des Gottesgnadentums auch nur ein Ideal, das dem Bild des Baumes entspricht und nur so lange euphorisch besetzt bleiben kann, wie es nicht durch eine reale Person verkörpert wird. Meine These ist deshalb, dass der Roman den Konflikt ausstellt, in dem das Politische zur Zeit der Boulangerkrise gefangen war : Die Aporie der virilen Nation, die sich im energetischen Austausch mit dem starken Mann konstituiert, besteht darin, dass dessen natürlicher Körper erst durch die Energetisierung durch das Volk und als dessen Projektionsfläche dem Männlichkeitsideal entsprechen kann. Die Virilität wird sowohl dem nationalen Kollektiv als auch dem Mann an dessen Spitze – entsprechend dem lacanianischen Phallus – von ihrem jeweiligem Gegenüber verliehen. Sie ist grundsätzlich eine prekäre Größe, die bewiesen werden muss. Wenn allerdings der republikanische homme providentiel seine Potenz im politischen Handeln bezeugt, um sie auf das Kollektiv übertragen zu können, läuft er Gefahr, zum Cäsaren zu werden, die Volkssouveränität zu beschneiden115 und die Republik in Frage zu stellen. Anderenfalls zerstört er den energetischen Austausch. BarrHs versucht diesen Konflikt politisch zu lösen. Er führt das Scheitern des Boulangismus darauf zurück, dass der Bewegung eine Ideologie, die den Staatsstreich legitimiert hätte, gefehlt habe, dass sie also die revolutionäre Energie nicht genutzt, sondern ihre Ziele auf dem Feld des Parlamentarismus zu erreichen versucht habe (vgl. bes. RV I: 998f.).116 »On est d’accord pour rÞver toujours Boulanger chef 8lu de la d8mocratie. Mais au service de quelle .me se 114 Vgl. zur symbolischen Kastration, die ein Subjekt erfährt, wenn es ein politisches Amt innehat, Stavrakakis 1999: S. 45–51 und Santner 2011: S. 77f. Vgl. auch Judith Butler : Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«. New York/London: Routledge 1993, S. 61, 63 u. 85. 115 Siehe zu dieser Vorstellung BarrHs’ Bild des Kaiserschnitts: »En latin, C8sar, de coedere, couper, fut d’abord le surnom des enfants que l’on tirait du sein de leur mHre par une incision, dite »c8sarienne«. – Pour extraire de la d8mocratie un homme et le porter / l’empire, il faut, avec les formules de droit, un fer audacieux.« (RV I: 818) 116 Siehe hierzu Sternhell 2000: S. 168–184.

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propose cette autorit8 ? et quel esprit souffler / cette nouvelle r8publique ?« (RV I: 993) Hier taucht der im Jardin de B8r8nice so häufig bemühte Begriff der Seele wieder auf. Die Seele ist die neue Metapher, die die alte Metapher des politischen Körpers des Königs in eine Ideologie transponieren kann, die dann als Legitimationsgrundlage der neuen Regierung dient. Doch die organisch-nationalistische, rassistische Ideologie als neues corpus mysticum wird gerade erst erfunden.117 In Ermangelung dieser Ideologie kritisiert der Erzähler den außerordentlichen »caractHre personnaliste du boulangisme« (RV I: 999). Die persönliche Beziehung war von Beginn an zentral für die Bewegung.118 Denn erst in der erotisierten Beziehung zum General entwickelt sich das Nationalgefühl, das BarrHs unter Verwendung der Metapher des Fiebers beschreibt (vgl. bes. Kap. I: »La fiHvre est en France et en chaque FranÅais«, RV I: 761). Im Culte du moi führen körperlicher Schmerz und fieberhafte Hypochondrie zur Entdeckung des individuellen Ich und zu dessen Abgrenzung gegen bedrohliche Einflüsse von außen.119 Im Jardin de B8r8nice symbolisiert das aus den Feuchtgebieten von Aigues-Mortes aufsteigende Fieber sowohl eine innere Kraft, die es zu nutzen gilt und die das Ich zu überwinden hilft, als auch ein zu erreichendes Gefühl bei der Suche nach der Einheit.120 Außerdem wird es sexuell konnotiert und überwindet als affektisches Phänomen die Kälte der abstrakten republikanischen Werte.121 In Les D8racin8s werden Sturel und Roemerspacher nach ihrem Besuch bei Taines Baum von einem Fieber ergriffen (vgl. RV I: 602), das sie nach einer gemeinsamen Idee und einem begeisternden Bild suchen lässt, was schließlich in die Evokation Napoleons mündet. Im Appel au soldat vereint sich das boulangistische Fieber im Volk mit einem sinnlichen Begehren und vermittelt die nationale Vereinigung: Chaque quartier, en connaissant par les chiffres que sa majorit8 8tait boulangiste, le devint unanimement et attendit quelque chose. Un fr8missement nerveux n’exaltait pas seulement les fidHles enr8giment8s mais tout le Paris romanesque, cette foule immense 117 Sternhell hat gezeigt, dass BarrHs den organischen Nationalismus und den Antisemitismus vor allem nach der Erfahrung von Panamaskandal und Dreyfusaffäre rückblickend auf den Boulangismus projiziert und mit diesem amalgamiert (ebd.: S. 146f., 174 u. 262ff.). 118 »Qu’importe son programme, c’est en sa personne qu’on a foi. Mieux qu’aucun texte, sa pr8sence touche les cœurs, les 8chauffe. On veut lui remettre le pouvoir, parce qu’on a confiance qu’en toute circonstance il sentira comme la nation.« (RV I: 847) 119 Siehe zur Symbolik des Fiebers im Culte du Moi Wittmann 2000: S. 43–48, hier S. 44, und S. 75. 120 Ebd.: S. 46f. Wittmann zufolge bedeutet dies das Versprechen, den Körper zu überwinden und zum Spirituellen zu gelangen (ebd.: S. 48). 121 Vgl. oben Kap. 1.2. Als Philippe von seinem Besuch bei B8r8nice berichtet, schreibt er : »Je crus sentir une maison d’amour, glac8e par l’absence d’amour ; mais la petite main br0lante qu’elle me tendit plusieurs fois pour me t8moigner son contentement de me revoir me donnait la fiHvre.« (RV I: 205)

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de curieux, d’imaginatifs et de m8contents qui, dHs leur d%ner, se dirigHrent sur les boulevards, les obstruant, les enfi8vrant d’un mÞme d8sir d’acclamer le vainqueur et de prendre son mot d’ordre. (RV I: 860) [C]ette fiHvre nationale […], si elle ne porte pas avec elle sa doctrine trHs nette, […] est pourtant le premier effort de ce pays pour r8aliser dans le monde politique et / l’8tat de fait ce qui existe / l’8tat de sentiment. (RV I: 980)

Der Text beschreibt hier einen Integrationsprozess. Sobald ein Pariser Stadtviertel erfährt, dass dort die Boulangisten die Mehrheit erzielt haben, fühlen sich alle seine Einwohner unmittelbar von Boulanger interpelliert122 und warten auf seine Losung, um aktiv zu werden. Somit werden die Pariser Individuen zu politischen Subjekten in einem vereinigten Kollektiv – das im Übrigen immer nur die männliche Hälfte der Franzosen meint, denn wie es das Beispiel der Madame de Nelles zeigt, entgeht Frauen die ganze Euphorie, sie imaginieren Boulanger nicht als Ideal-Ich oder können ihn gar nicht als solches imaginieren (vgl. RV I: 867). Wittmann beschreibt das boulangistische Fieber nach BarrHs als ambivalente Kraft, die zuerst zwischen einer nationalen Krankheit und einem vitalistischen Elan oszilliere, sich aber zur negativ besetzten Pathologie entwickle, als seine Körperlichkeit nicht überwunden wird.123 Er interpretiert das Fieber als Zeichen dafür, dass das Volk nach einer Sensualität strebe, die »sans doute dissolvante« sei.124 In der zitierten Schilderung finde ich nun aber keine Anzeichen für eine drohende Auflösung. Dass die politische Einigung mit einem sinnlichen Begehren verknüpft wird, zeigt, wie sich ganz Paris in den vitalistischen, von Beginn an erotisierten Bund um Boulanger integriert. Man könnte hier zwar mit Rousseau argumentieren, dass sich der politische Körper eines Volkes auflöst und als Kategorie zerstört wird, sobald es sich einem »ma%tre« unterwirft (CS2 : 369).125 Das nationale Körpergefühl entsteht aber auch erst durch die Wirkung der erotisierten fieberhaften Hypochondrie und der affektiven Beziehung zum General. Judith Butler zeigt in ihrer Lektüre von Freuds »Einführung des Narzißmus« (1914) und »Das Ich und das Es« (1923), dass Freud zufolge ein Körperbewusstsein erst entstehen kann, wenn die Libido auf einen Körperteil konzentriert werde.126 Die Vorbedingung für diese Konzentration und daher für die körperliche Selbstentdeckung ist Schmerz.127 Vom Schmerz schlage Freud eine 122 123 124 125

Zur Interpellation durch die Ideologie nach Althusser vgl. Vorspiel, Kap. 3, Anm. 149. Wittmann 2000: S. 122–127. Ebd.: S. 125. Vgl. dazu Andrieu Bernard: »Corps politique et contrat social«, in Robert Thi8ry (Hg.): Jean-Jacques Rousseau, politique et nation. Actes du IIe colloque international de Montmorency (27 septembre-4 octobre 1995). Paris: Honor8 Champion 2001, S. 17–26, hier S. 20. 126 »Zur Einführung des Narzißmus«, in Freud 1975: S. 37–68, hier S. 49f. Siehe hierzu Butler 1993: S. 58. 127 Freud 1975f: S. 294 und Butler 1993: S. 58f.

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Brücke zur Erogenität, die er als Oszillation zwischen realen und imaginierten Körperteilen definiere und über die eine Körperzone konzeptualisiert werden könne. Das männliche Genital werde dann zum Vorbild für den Prozess, in dem Teile des Körpers epistemologisch zugänglich werden. Erst die Idee, die man sich von einem Körperteil macht, ermögliche also dessen epistemologische Zugänglichkeit.128 Vor dem Hintergrund von Butlers Freudlektüre lässt sich der homme national Boulanger als das Organ beschreiben, das erst durch die erogene Konzentration der nationalen ›Libido‹ erfahrbar wird. Aus dieser Perspektive ist er das Produkt des Nationalgefühls und diesem nicht vorgängig. Zugleich kann das Volk erst dann das Gefühl eines einheitlichen Nationalkörpers entwickeln, wenn es diesen im Garanten der nationalen Virilität verkörpert sieht, letzteren also – wie ehemals den König – als Vorbild für den nationalen Körper erkennt.129 Der Nationalkörper kann dann an seinem Vorbild modelliert werden. Im boulangistischen Fieber konzentriert sich jeder Einzelne affektisch auf den General, bis das Fieber schließlich den gesamten Körper ausfüllt und ihn in seiner Einheit erfahrbar macht. Problematisch – und hier situiert sich der Unterschied zur Körpersymbolik des Ancien R8gime – wird es dann, wenn das nationale Fieber seine Funktion verliert: Als sich die boulangistische Bewegung nach ihrem Scheitern nur noch auf den General fokussiert und darüber dessen Bedeutung als Vermittler des Nationalgefühls vergisst, beschreibt der Roman sie als eine Pathologie.130 Diese Fehlentwicklung stellt den revolutionären Anteil der dialektischen Synthese allzu sehr in Frage. Als rein materieller Körper im Zentrum der Nation oder an der Spitze einer Fraktion wäre Boulanger die Negation der republikanischen Ideale. 128 Siehe ebd.: S. 59–61. Freud erklärt zwar, dass das männliche Genital durch andere erogene Körperzonen substituiert werden könne, beschreibt den Penis jedoch sowohl als Beispiel unter vielen für eine erogene Zone als auch als deren Vorbild (vgl. ebd.: S. 60). 129 Zur grundlegenden Ähnlichkeit zwischen Boulanger und den Franzosen vgl. Wittmann 2000: S. 129: »Il n’y a pas de diff8rence profonde, au fond, entre le g8n8ral et les FranÅais et c’est la mÞme raison pour laquelle les seconds peuvent s’enthousiasmer pour le premier.« 130 Vgl. ebd.: S. 128f. Später wird BarrHs den Boulangismus als Geschwür bezeichnen: »Il faut faire une fortune / ce mot ›tumulte‹, bien sup8rieur / fiHvre franÅaise que j’employai / plusieurs reprises dans le Roman de l’8nergie nationale. Le latin tumultus qui est de mÞme radical que tumor, gonflement, rend si bien la sorte de ph8nomHne social que nous voulons signifier (boulangisme, affaire de Panama, affaire Dreyfus) ! […] Appelez telle de nos ›r8volutions‹ un tumulte, et voil/ des clart8s qui s’allument et se r8pondent le long de notre histoire.« (ScHnes et doctrines du nationalisme. Bd. I. Paris: Plon 1925, S. 7, Anm. 1, vgl. auch Rambaud in RV I: 1434, Anm. 261) BarrHs setzt den Boulangismus hier in Analogie zur Revolution und referiert in einem Atemzug mit der Panama- und der Dreyfusaffäre wohl auf die letzte Phase des Boulangismus, als dieser wie ein Tumor ein Körperteil in Abgrenzung zum Rest hervorhebt und darüber die Idee der nationalen Einheit vergisst. Es ist auf diese eingeschränkte Perspektive zurückzuführen, dass BarrHs hier den Begriff des Fiebers revidiert und gleichsam selbst vergisst, dass er mit der Fiebermetapher den Ausdruck des nationalen Körpergefühls beschrieben hatte.

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Im Appel au soldat konfrontiert BarrHs den Boulangismus, die Idee einer virilen republikanischen Nation und das in Les D8racin8s entworfene Konzept einer energetischen Beziehung von Volk und nationaler Spiegelfigur mit den politischen Konflikten, denen sie begegnen. Diese erklären möglicherweise, warum er sich nach der Publikation des Appel vom Napoleonkult abwendet.131 Im Roman scheint allerdings immer wieder die Hoffnung darauf auf, dass die Nation aus einer »pens8e virile« (RV I: 968) heraus neue Boulangismen finden und sich selbst revirilisieren könne. Leurs figures (1902), der letzte Teil des Roman de l’8nergie nationale, propagiert dann eine Reinigung der Nation von ihren ›korrumpierenden‹ Elementen,132 ähnlich wie Emmanuel SieyHs’ Qu’est-ce que le tiers 8tat ? (1789), wo die Elimination des zum dekadenten Korrupteur deklarierten Adels das corpus politicum automatisch virilisiert.133 Den geheilten Nationalkörper erschreibt BarrHs anschließend synekdochisch am Beispiel von Elsass-Lothringen in seinem dritten Romanzyklus Les Bastions de l’Est. Hier findet er Bilder, mit denen er das Problem der Repräsentation des virilen IdealIch löst und dabei der Republik treu bleibt.

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Mit der patriotischen Heldin aus seinem gleichnamigen Lothringenroman Colette Baudoche (1909) entwirft BarrHs eine Wiedergängerin der Jeanne d’Arc und der Verginia und erschreibt eine hermetisch geschlossene Grenze gegen die Durchlässigkeit des französischen Nationalkörpers in den annektierten Regionen:134 Die junge Colette muss den deutschen Lehrer Asmus zwar als Unter131 Dies notiert Philip Ouston: The Imagination of Maurice BarrHs. Toronto: U of Toronto P 1974, S. 147. 132 Siehe zum Ausschluss des Jüdischen und des Weiblichen Wittmann 2000: S. 171–200, Sternhell 2000: S. 12–35, bes. S. 19f., 27–31 u. 35, Bielefeld 2003: S. 168–186 und Bendrath 2003: S. 94–139. Vgl. zu ähnlichen Reinigungsritualen in Les D8racin8s Carroll 1995: S. 37f. und Scholler 2010: S. 268–270. 133 »Qui donc oserait dire que le Tiers 8tat n’a pas en lui tout ce qu’il faut pour former une nation complHte ? Il est l’homme fort et robuste dont un bras est encore encha%n8. Si l’on itait l’ordre privil8gi8, la nation ne serait pas quelque chose de moins, mais quelque chose de plus. Ainsi, qu’est-ce le Tiers ? Tout, mais un tout entrav8 et opprim8. Que serait-il sans l’ordre privil8gi8 ? Tout, mais un tout libre et florissant. Il ne suffit pas d’avoir montr8 que les privil8gi8s, loin d’Þtre utiles / la nation, ne peuvent que l’affaiblir et lui nuire ; il faut prouver encore que l’ordre noble n’entre point dans l’organisation sociale ; qu’il peut bien Þtre une charge pour la nation, mais qu’il n’en saurait faire une partie.« (Qu’est-ce que le tiers 8tat ? Paris: Le Boucher 2002, S. 4, kursiv im Orig.) Vgl. zu den analogen Strategien in Terreur und Nationalismus Koschorke et al. 2007: S. 261–264. 134 Der Kult der Jeanne d’Arc löst ab ca. 1900 in BarrHs’ politischen Schriften den Napoleonkult

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mieter in ihr nationalallegorisch kodiertes Haus einziehen lassen, sie verweigert ihm jedoch ihren Körper und die Herrschaft über ihr Heim. Asmus versucht hier wie Charles Martin im Jardin de B8r8nice, die leere Position des Mannes zu besetzen und Lothringen zu revirilisieren, doch statt zu lehren wird er bald zum Schüler der französischen Sprache und Zivilisation (vgl. RV II: 329, 352 et passim).135 Grotesk-offen im bachtinschen Sinne ist hier nicht mehr der eigene, geschändete Nationalkörper, sondern der des Deutschen, der laut lacht und bis zum Erbrechen isst und trinkt.136 Au service de l’Allemagne (1905) knüpft an den Jardin de B8r8nice an, indem auch hier über die Melancholiemetapher (vgl. RV II: 212) ein Mangel an männlicher Herrschaft zum Ausdruck kommt. Die Landschaft des von den ›Barbaren‹ besetzten Lothringens (vgl. RV II: 215) ist dort von Wiesen und Ebenen »sans un arbre« (RV II: 211) bzw. mit nur wenigen, gebeugten Bäumen (ebd.) geprägt. Der Erzähler zitiert bei der Schilderung seiner Besuche der Ruine G8roldseck das berühmte erste Distichon von G8rard de Nervals »El Desdichado«: »Je suis le t8n8breux, le veuf, l’inconsol8, / Le prince d’Aquitaine / la tour abolie…« (RV II: 215) Allerdings überschreibt BarrHs den Topos der Witwenschaft und des Verlusts der Herrschaft, den Nervals Sonett mit der schwarzen Sonne der Melancholie verknüpft:137 Jusqu’en 1791, [F8n8trange] 8tait le chef-lieu d’une grande seigneurie passablement importante. Aujourd’hui encore, assez allHgre et forte dans sa d8ch8ance, elle semble un bon arbre dru, dont les racines, / chaque saison, descellent davantage une vieille pierre tombale 8cussonn8e. Quand on arrive par la route de Phalsbourg, […] la dure, la guerriHre, l’8trange F8nab (vgl. Ouston 1974: S. 147 und Bendrath 2003: S. 170). Schon 1890 bezeichnet BarrHs den Kult um die Nationalheilige als neuen Boulangismus (»Jeanne d’Arc ou La R8publique ouverte«, in Le Figaro 36, Nr. 185, 4. Juli 1890, S. 1, vgl. Datta 2011: S. 150 – der Begriff der »R8publique ouverte« zielt hier auf die parteiübergreifende Einheit ab. Vgl. zu Jeanne d’Arc als Repräsentantin des impenetrablen nationalen Körpers ebd.: S. 169 und Jeanne Bem: »Colette Baudoche et la ›matrie‹ de Barres«, in Guyaux/Jurt/Kopp 1991: S. 193–202, hier S. 197). Den Verginia-Topos ruft implizit BarrHs’ Vorwort zu Colette Baudoche von 1923 auf. Dort zitiert er eine lothringische Schülerin, die sich mit den Worten »Plutit que de me voir 8pouser un officier prussien, mon pHre pr8f8rerait me noyer de ses mains dans la Moselle« (RV II: 205), deutlich zu einer Verginia stilisiert. 135 Vgl. zur scheiternden Revirilisierung Lothringens Bem 1991: S. 197f. 136 Zum grotesken im Gegensatz zum klassischen Körper, der seine Öffnungen kontrollieren und verschlossen halten und somit die Differenz von Eigenem und Fremdem garantieren kann, siehe Bachtin 1990: S. 15–23. Wittmann betont die Spiritualität des lothringischen im Kontrast zum kreatürlichen deutschen Körper und führt den klassischen Körper der Dames Baudoche auf das ästhetische Modell des hellenistischen Attizismus zurück (2000: S. 104, 173 u. 197–199). 137 »Ma seule 8toile est morte, – et mon luth constell8 / Porte le Soleil noir de la M8lancolie.« (Œuvres complHtes. Bd. III. Hg. v. Jean Guillaume u. Claude Pichois. Paris: Gallimard [Pl8iade] 1993, S. 645)

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8trange se dresse comme une tour […]. Le ch.teau, bien qu’une pourriture, 8crase de sa haute masse tout le p.t8 confus des maisons ; ses fenÞtres sont / demi bouch8es de briques ignobles, mais leur style Renaissance int8resse ; ses murs sont l8preux, ils gardent du moins de beaux mouvements et se renflent comme des poitrines ou des boucliers. (RV II: 214)

F8n8trange trägt als Signatur des im Jahre 1791 untergegangenen Ancien R8gime die Zeichen des Verfalls; die Mauern ihres Schlosses verbergen ihre Löcher nur mit Mühe. Dennoch wahrt die Stadt ihre Haltung und ersetzt mit ihrer Physiognomie, der der Erzähler die Attribute »dure« und »guerriHre« verleiht und die er assoziativ über den Namen Phalsbourg als männlich kodiert, den verlorenen Turm des Prinzen von Aquitanien. Ähnlich klingt die Beschreibung des Ottilienberges im Elsass: Vu de la plaine, le couvent de Sainte-Odile semble une petite couronne de vieilles pierres sur la cime des futaies. Il occupe, au sommet de la montagne, un 8norme rocher coup8 / pic vers l’Est, accessible d’un seul cit8, et qui surplombe trois pr8cipices de forÞts. (RV II : 235)

Die Krone, deren sich das corpus politicum entledigt hat, wird hier in die Elsässer Landschaft projiziert. Sie krönt als Kloster einen riesigen, steil aufragenden und spitzen Felsen, der den Wald überragt und nach Osten – in Richtung Deutschland – zeigt. Der Erzähler verehrt diesen virilen Berg, »[qui] suscite la v8n8ration« (ebd.) und der über die melancholische Ebene herrscht wie über ein Königreich: [Quand] le soleil atteigne la montagne si noire, elle s’8claire, devient jeune / son tour […]. Parfois, vers midi, notre montagne est dans le soleil, mais la plaine passera la journ8e sous un brouillard imp8n8trable. f quelques mHtres au-dessous de nous, commence sa nappe couleur d’opale. Sur ce bas royaume de tristesse reposent nos glorieux espaces de joie et de lumiHre. C’est un charme / la CorrHge, mais 8pur8 de langueur, un magnifique mystHre de qualit8 auguste. (RV II: 238)

Anstelle einer romantischen Korrespondenzlandschaft entsteht ein landschaftlicher Körper, dessen Identifikationsangebot das schwache Subjekt stärkt und dessen immer unzulänglichen natürlichen Körper perfektioniert: »je multiplie mes faibles puissances par des puissances collectives« (RV II: 237).138 Die gestärkte Subjektivität gründet auf der restaurierten Spiegelbeziehung: Das Panorama des sonnenbeschienenen Berges, der den homme fort an der Spitze der Nation ersetzt, hat den schwarzen Vulkankrater, in den Chateaubriands Ren8 hatte blicken müssen, abgelöst und auch den Blick in die Niagarafälle überschrieben. Der Blick des Erzählers fällt jetzt überall auf Felsen und Baumspitzen, auf 138 Wittmann deutet die Natur der Bastions als gereinigte Landschaften, als »foyers d’8nergie spirituelle« und als Zentren, um die herum eine organische Einheit erkannt und geschaffen werden kann (2000: S. 191–195, das Zitat befindet sich auf S. 194).

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Bergketten, die ferne Hochkönigsburg, die Spesburg, die zwei feudalen Türme von Andlau und auf Kolonnaden von Tannen (RV II: 239) gleich einer »arm8e des arbres« (R II: 237),139 die dem nunmehr verwurzelten Subjekt als militärischviriler Spiegel dient: Par le plateau de la Bloss, on arrive de plain-pied sur les roches de Mænnelstein et du Wachstein et, brusquement, on trouve le vide, tout un immense pr8cipice. C’est une vue sur la douce, riche et diverse plaine d’Alsace, et sur le groupe puissant des montagnes solitaires et bois8es. […] Sur la pierre plate du Schafstein, sans aucun garde-fou, je suis en face des libres espaces. Tout prHs de ma main, frÞles dans la brise, voici des rameaux verts et jaunes, pointes des arbres qui surgissent de l’ab%me, ayant pouss8, Dieu sait comment, dans les interstices de la dure roche. (RV II: 239)

Nachdem der Betrachter sich an so vielen Erhebungen ergötzen konnte, wirkt nicht einmal mehr der Abgrund bedrohlich: Hinter diesem eröffnet sich die Aussicht auf ein neues bewaldetes Bergpanorama und aus der Kluft tauchen immer neue Zweige und Baumspitzen auf. Ein »mortel plaisir« (RV II: 240) verspürt der promeneur solitaire, wenn er an Regentagen das Hagelschloss sieht: »Depuis la t8n8breuse vall8e qui g%t / ses pieds, il appara%t, magnifique de force, de sauvegarde, ouvrant et dressant, sur les roides rochers et sur ses propres d8combres, un vaste porche oF deux platanes et trois acacias 8tonnent.« (Ebd.) BarrHs schreibt das Phantasma des Königs, das im Jardin de B8r8nice noch melancholisch internalisiert blieb, hier in die Landschaft ein. Sein Erzähler wird damit zum Wiedergänger des Sprechers aus Joachim du Bellays Sonett »Seul et pensif«, der das unerreichbare und verbotene Phantasma erotischer Erfüllung überall in der Natur erblickt.140 Diskursiv wertet BarrHs dieses Phantasma dann um zur euphorischen Erfahrung der Verwurzelung in der historisch verbürgten nationalen ›Rasse‹.141 Ein geradezu medusenhafter Text präsentiert den Deutschen hier einen Anblick proliferierender Phalli und wiederholt damit die Kastrationsdrohungen der Revolutionäre gegenüber den europäischen Monarchien: »Des dolmens et des menhirs, une puissante muraille druidique, un castellum romain, un couvent, des burgs moyen.geux peuvent distraire, sans plus, des passants 8trangers […].« (RV II: 241) Was dem Erzähler zufolge den Fremden höchstens ablenkt, hat durchaus seine 139 Vgl. zur Vertikalität der Landschaft und der nietzscheanischen »tentation des sommets« in Au service de l’Allemagne im Kontrast zu den flachen deutschen Bauten in Colette Baudoche Sarah Al-Matary : »f la frontiHre des ›races‹: La g8ographie morale de Maurice BarrHs«, in Romantisme. Revue du Dix-NeuviHme SiHcle 130 (2005), S. 95–109, hier S. 104f. 140 Siehe zum Phantasma bei Du Bellay Stephan Leopold: Die Erotik der Petrarkisten. Poetik, Körperlichkeit und Subjektivität in romanischer Lyrik früher Neuzeit. München: Fink 2009, S. 182. 141 Siehe zur historischen Tiefe, die die lothringische Landschaft bei BarrHs ausdrückt, AlMatary 2005.

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ideologische Funktion. Die Landschaft bezeugt den elsässischen Widerstand gegenüber den Deutschen und ist für den Franzosen die vollkommene Verkörperung des Ideals, das der Baum aus Les D8racin8s etabliert hat: Ein organisches Ideal-Ich anstelle unzulänglicher Generäle oder Könige bzw. Cäsaren von Fleisch und Blut, die das Subjekt einschränken und schwächen würden. Angesichts dieser republikanischen Version von Bud8s Fürstenspiegel kann sich der Erzähler für die Republik aussprechen und sich von der Figur des antirepublikanischen und antidemokratischen Monsieur d’Aoury distanzieren (RV II: 217). Als Exempel dafür, wie der erotisierte Blick auf die Natur, der heroische Gefühle auslöst und den Spaziergänger »d’un degr8« (RV II: 241) erhebt,142 in Handlung überführt werden kann, dient nun die Geschichte des Elsässers Ehrmann. Der Patriot mit dem sprechenden Namen leistet seinen Wehrdienst in der deutschen Armee ab, anstatt die annektierte Region wie viele seiner Leidensgenossen zu verlassen. Sein Ziel ist es, die Deutschen von der überlegenen »intelligence virile« (RV II: 241) der Franzosen zu überzeugen. Auf diese Weise kann, wie es Wittmann gezeigt hat, der französische Geist über den vormals als maskulin bewunderten und nun mit einer obszönen Körperlichkeit assoziierten deutschen Körper triumphieren und die individuelle und nationale Integrität restaurieren:143 Je resterai, me dis-je. Ce sera plus dur que je n’imaginais ; trHs dur, mÞme. Eh bien ! Je me donnerai beaucoup de mal. Toutes mes r8voltes que je contiendrai me tonifieront, et la haine me fera plus de virilit8… […] ce qui m’a soutenu, c’est une constante exaltation de l’.me. (RV II: 261)

Ehrmanns heroische Revolte stärkt seinen Körper und sein Hass verleiht ihm eine Virilität, die man hier nur schwer noch als ›spirituell‹ bezeichnen kann. Das hassende Subjekt bedarf der monarchischen Stütze nicht mehr. Bei der Zivilisierung der minderbemittelten deutschen Barbaren können die französischen Citoyens ihr neues Penetrationsvermögen beweisen. Endlich ist der »chant civilisateur« (RV II: 241), der die französische Potenz bislang nur kompensierend in den Kolonien demonstrieren konnte, auch auf Deutschland anwendbar, das Land, das das Elsass selbst auf quasi-kolonisatorische Weise unterworfen hatte. 142 Dies hatte BarrHs in Les Amiti8s franÅaises (1903) als Wunschvorstellung geäußert: »Ces grands 8tats d’8motivit8 que chacun connut de l’amour, qu’un homme viril reÅoit des h8ros et des chefs de sa race, je voudrais que la terre franÅaise charg8e de tombes les communiqu.t au promeneur pensif.« (RV II: 183) 143 Wittmann 2000: S. 104, 171–173, 178–180, 185, 188 u. 196. In den ScHnes et doctrines beschreibt BarrHs das Elsass als »moyen de p8n8tration pour les id8es franÅaises en Allemagne. […] Dans l’Empire d’Allemagne, ils [sc. les Alsaciens, L.Z.] ont introduit des id8es et des go0ts franÅais : un peu de France, en un mot. Au rapt du sol par la violence, ils ont r8pondu par une lente et s0re conquÞte morale.« (1925: Bd. II, S. 16, Hervorh. im Orig.). Siehe dazu Rambaud in RV II: 198. Den Begriff der »virilit8 intellectuelle« verwendet BarrHs in Mes cahiers. Bd. I: Jan. 1896–Febr. 1898. Paris: Plon 1929, S. 159 und Bd. II: Febr. 1898–Mai 1902. Paris: Plon 1930, S. 29.

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Wolfgang Schivelbusch hat festgestellt, dass BarrHs den Deutschen in den Bastions de l’Est Eigenschaften wie Wendigkeit, Anpassungsfähigkeit, Servilität, Imitation und Charakterlosigkeit zuschreibt, die bis dato im antisemitischen Diskurs den Juden zugesprochen wurden.144 Implizit werden die Deutschen damit ebenso wie die Juden diskursiv verweiblicht.145 Den von Wittmann und Schivelbusch beschriebenen Strategien zur Umkehrung der nationalen Genderdichotomie lässt sich eine weitere hinzufügen: Denn Ehrmann nimmt die obligatorischen Übungen während seines Militärdienstes zum Anlass einer exzessiven, subversiven Mimikry und versucht gar nicht erst, die deutsche militaristische Virilität zu übernehmen: J’8tais un bon soldat. […] Je valais surtout pour la parade-marche, qui est une grande affaire dans l’arm8e allemande. Les avez-vous vus d8filer ? Le soldat lHve le pied en tenant la pointe en bas, tandis que sa jambe et sa cuisse forment un angle droit. Tout cela, pied, jambe et cuisse, il le lHve 5 trHs haut, trHs haut, le plus haut, puis, soudain, par un deuxiHme mouvement, il projette violemment sa jambe et son pied, et, au mÞme instant, de tout son corps se porte en avant. Le pied, bien / plat, retombe / terre et la jambe se tend violemment, de maniHre / bomber en arriHre une belle courbe. En principe, les gymnastes allemands valent mieux que nous [sc. les Alsaciens, L.Z.] dans les exercices de force musculaire, 10 par exemple, / la barre fixe, mais, plus agiles et plus d8li8s, nous les primons dans les exercices d’assouplissement. Leur lourdeur de corps et leur taille courte les embarrassent. Mes »camarades« avaient plus de biceps et moi plus de jarret. J’ai imm8diatement compris la parade-marche comme une com8die, car / vouloir trop bien faire, les Germains toujours exagHrent. Le grand secret, c’est d’avoir le genou 15 rompu et de mettre toutes ses forces dans le jarret ; un merveilleux raffinement, c’est de sortir sa poitrine et de rentrer son ventre, ce qui pousse le menton en l’air et les reins en arriHre. Plus je chargeais, plus je leur plaisais. Tout de mÞme, monsieur, s’il y avait eu l/ un second Alsacien, nous aurions, quelquefois, bien ri. (RV II: 263)

Die karikatureske Schilderung weist die Bemühungen der steifen und ungelenkigen Deutschen, ihr Bein beim Marschieren möglichst weit anzuheben (Z. 4f.), als den verkrampften Versuch aus, eine symbolische Erektion darzustellen. Ehrmann parodiert die solchermaßen zur Schau gestellte Virilität, übersteigert die dem Franzosen zugesprochene Effeminierung und demonstriert durch seine Travestie, dass auch die deutschen Soldaten nur ein Ideal nachzuahmen versuchen. Butler beschreibt Mimikry und Travestie als Strategien, mittels derer das kontingente Verhältnis von sex und gender aufgedeckt werden könne.146 Ehr-

144 Schivelbusch 2001: S. 190. 145 Zum cross-referencing zwischen Juden und Weiblichkeit bzw. effeminierter Männlichkeit im zeitgenössischen Diskurs siehe Christopher E. Forth: The Dreyfus Affair and the Crisis of French Manhood. Baltimore/London: The Johns Hopkins UP 2004, bes. S. 18–22 u. 33–41. 146 »The performance of drag plays upon the distinction between the anatomy of the performer and the gender that is being performed. […] In imitating gender, drag implicitly reveals the imitative structure of gender itself – as well as its contingency. […] [T]he original identity

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manns Nachahmung legt den kontingenten Bezug zwischen nationaler Identität und Gender offen und dekonstruiert die deutsche Männlichkeit als Maskerade. Ehrmann weist seine Imitation eindeutig als parodistische Deformation aus; seine gelenkige Agilität verbessert die Performanz der Deutschen nur vordergründig und entfernt sich eher vom zu erreichenden Modell. Auf diese Weise subvertiert er die Bedeutung der imitierten Bewegung: In ihrer Übertreibung ähnelt diese der transgressiven Genderperformanz etwa von Prousts Jupien, der Charlus beim Paradieren im Hof der Guermantes seinen Hintern auf ganz ähnliche Weise präsentieren wird wie hier Ehrmann (Z. 15–17). Der abgehackte Stil und die Wiederholungen, mit denen Ehrmann die rhythmischen Bewegungen beschreibt (»trHs haut, trHs haut, le plus haut possible«) unterstreichen die mangelnde Gelenkigkeit der Deutschen und sexualisieren deren Übungen zugleich. Man muss sich nur ausmalen, wie die Rekruten beim Parademarsch hintereinander laufen und wie Ehrmanns ausgestellte Lenden vom Bein des hinter ihm marschierenden und sich rhythmisch nach vorne werfenden Deutschen berührt werden, ebenso wie sein Bein das Gesäß seines Vorgängers berührt. Auf diese Weise droht Ehrmanns Performanz147 die Grenze zwischen militaristischer Homosozialität und Homosexualität zu Fall zu bringen. Ehrmanns Deformation des Marsches beweist nicht, dass er als Franzose nicht in der Lage wäre, die ideale Virilität zu performieren. Denn erstens sind die Deutschen weit davon entfernt, beim Marschieren einem Ideal gerecht zu werden, und zweitens gefällt ihnen Ehrmanns Performanz; sie erkennen seine parodistische Intention nicht. Ehrmanns »je leur plaisais« (Z. 17) erhält nach der Beschreibung seiner Bewegungen vielmehr eine besonders ironische Ambivalenz, macht es ihn doch zum Objekt des deutschen Begehrens. Die MimikryHandlung homosexualisiert sowohl den Deutschen als auch den Elsässer, doch nur letzterer ist sich der Subversion bewusst, hält er doch die Fäden der Komödie (Z. 13) in der Hand und beweist mit dem Lachen, das er mit seinen Landsleuten teilen würde (Z. 18), seine reflexive Überlegenheit. Der Franzose, der sich auf das virile Landschaftsbild stützen kann, subvertiert hier ganz souverän die deutsche Männlichkeit. So, wie Ehrmann beim Marschieren Komödie spielt, verkehrt der Erzähler die symbolischen Koordinaten der internationalen Beziehungen und macht aus den Deutschen kleine Karnevalskönige. Da Frankreich sich nach 1870 die als überlegen anerkannte preußische Disziplin aneignen wollte und damit gewissermaßen die Position eines kolonialen […] is a production which, in effect – that is, in its effect – postures as an imitation.« (Butler 2008: S. 187f., Hervorh. im Orig.) 147 Siehe zum Begriff Butler, die Performanz als »dramatic and contingent construction of meaning« (2008: S. 190) beschreibt, und John L. Austin: How to Do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955. Hg. v. James O. Urmson u. Marina Sbis/. Oxford/New York: Oxford UP 2(2004), bes. S. 4–11.

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Objekts eingenommen hatte, ließe sich hier auch mit Homi Bhabhas MimikryBegriff argumentieren. Bhabha zufolge versucht die disziplinierende, unterwerfende Macht, sich den Anderen anzueignen und ihn als narzisstisches Abbild des Selbst zu konstruieren. Zugleich wolle er ihn aber als Anderen erkennen können. Koloniale Mimikry – die Assimilation des Anderen an das Selbst – könne nur erfolgreich sein, wenn sie einen Überschuss und mit ihr eine Differenz produziere, die dem narzisstischen Abbild gerade zuwiderlaufe. Dies mache die Mimikry bedrohlich.148 Aus der Position zwischen Mimikry und Spott, die Ehrmann mit seiner Performanz einnimmt, wird die preußische Disziplinierung bedroht vom verlagerten Blick der disziplinierten Kopie. Verdeutscht werden heißt für den Elsässer, auf emphatische Weise nicht deutsch zu sein und dem Deutschen seine Vorbildfunktion zu nehmen.149 Wenn BarrHs auf die Beschreibung einer männlich konnotierten Landschaft zurückgreift, um die Fähigkeit zu intellektueller Penetration mit einem körperlichen Imaginären zu unterfüttern, das allzu deutlich den Monarchen als viriles Spiegelbild des französischen Citoyens ersetzt, ist (nationale) Männlichkeit als Metapher der Überlegenheit endgültig substanzlos geworden. BarrHs hat damit die Vorstellung eines ›natürlichen‹ nationalen Geschlechts, das auf destabilisierende Weise von den Staatsformen des corpus politicum abgeleitet werden kann, von der Genderperformanz einer Nation gelöst. Er vollzieht also den Schritt von der politischen Anatomie zur Symbolik – ähnlich wie Lacan, der Freuds an die Anatomie gebundene Kastrationstheorie einer symbolisch-semiotischen Reformulierung unterzogen hat.150 Zugleich trennt BarrHs mit Colette und Ehrmann, den Protagonisten seines Diptychons – ganz ähnlich wie Zola in F8condit8 – die Metapher und die Metonymie der Nation fein säuberlich voneinander.

148 The Location of Culture. London/New York: Routledge 1994, S. 86–88. 149 Bhabha beschreibt die koloniale Mimesis als Paradoxon: »[T]o be Anglicized is emphatically not to be English.« (Ebd., S. 87, kursiv im Orig.) 150 Eine knappe Unterscheidung der Kastrationstheorien Freuds und Lacans bietet Gayle Rubin: »The Traffic in Women: Notes on the ›Political Economy‹ of Sex«, in: Rayna Reiter (Hg.): Toward an Anthropology of Women. New York/London: Monthly Review Press 1975, S. 157–210, hier S. 187–191.

Teil 2: Auf-Lösungen und Dekonstruktionen

I.

Ikonoklastische Dekonstruktion: Alfred Jarry und die Reformulierung der Zweikörperlehre

Die Suche nach der verlorenen Männlichkeit ist um 1900 an einem Punkt angekommen, an dem sie sich für die satirische Verzerrung anbietet. Alfred Jarry bemächtigt sich der zeitgenössischen Diskurse und deren Assoziation von Virilität und Herrschaftsanspruch und überführt sie in die Karnevaleske: Die absolute Souveränität seines Ubu etwa gründet auf einer grotesken Körperlichkeit und tritt in Form fetischistischer Attribute wie dem »b.ton / physique«, der »chandelle verte« oder dem »petit bout de bois«, in Erscheinung.1 In L’Ile du Diable. PiHce secrHte en 3 ans et plusieurs tableaux (1899) verknüpft Jarry die Allmachtsphantasie der Ubu-Figur mit der Dreyfusaffäre, die sich nicht zuletzt als Kampf um die Definitionsmacht über die nationale Männlichkeit offenbart hat.2 Jarry inszeniert die Affäre als groteskes Spektakel, in dem Ubu den »capitaine Bordure«3 – der Name verweist auf den bordereau, der Dreyfus zum Verhängnis wurde – verhaften lässt, obwohl er den wahren Schuldigen kennt: Notre fils Malsain Athalie-Afrique est le vrai coupable, mais il est l’h8ritier de notre savoir th8ologique et de nos 8tudes au s8minaire de Saint-Sulpice ; il s’est confess8 de son crime / notre Chanoine, il en a 8t8 absous, il n’est plus coupable, il ne l’a jamais commis. (JŒ I: 545f.)

1 Siehe zur Repräsentation von Herrschaft und Souveränität im Ubu-Zyklus Kurt Hahn: »Zerrbilder zwischen Vitalismus und Mortalismus – Alfred Jarrys Ubu-Figur und die Komik im Ausnahmezustand«, in Leopold/Scholler 2010: S. 191–210. Siehe zu den phallischen Konnotationen und Attributen Arriv8 1976: S. 49–60, bes. S. 59. Zur metadiskursiven, karnevalesken Satire siehe etwa Andreas Mahler : Moderne Satireforschung und elisabethanische Verssatire. Texttheorie, Epistemologie, Gattungspoetik. München: Fink 1992, bes. S. 58–60 u. 72f. 2 Siehe zur zentralen Rolle der Affäre in Bezug auf Männlichkeitskonstruktionen Datta 1999: S. 3f. u. 133 und Forth 2004: bes. S. 5, 213, 230 et passim. Beide Lager des gespaltenen Landes – die Dreyfus-Verteidiger und seine Gegner – bezeichnen ihre Gegner als effeminiert. 3 Œuvres complHtes. Bd. I. Hg. v. Michel Arriv8. Paris: Gallimard (Pl8iade) 1972, S. 545. Ich zitiere Jarrys Werke im Folgenden im Fließtext mit der Sigle JŒ und der Angabe des jeweiligen Bandes aus dieser Ausgabe (1972–1988).

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Kirche und Exekutive üben hier ihre performative Macht aus und produzieren die Wahrheit, die ihren Interessen dient. Denn das Dokument, auf dessen Grundlage Bordure des Hochverrats angeklagt wurde, vereitelt Ubus Plan, nach einem militärischen Triumph über die Engländer in Faschoda zum König von Frankreich zu werden (JŒ I: 546). Ubu schaltet den unschuldigen capitaine deshalb in einem Fest des d8cervelage aus, um ihn zum homo sacer zu machen und auf dem Weg dieser Politik des souveränen Ausschlusses doch noch die Macht zu ergreifen: »Justice est faite ! Le capitaine 8tait bien coupable, puisque le PHre Ubu, en son omniscience, l’a d8cervel8.« (JŒ I: 549) Indem Jarry scheinbar voneinander unabhängige politische Ereignisse miteinander verknüpft, legt er offen, dass es in der Debatte um Dreyfus eigentlich um die Bedeutung Frankreichs in Europa geht.4 Seit 1900 schreibt Jarry regelmäßig für die Revue blanche, deren Redaktion Treffpunkt der Dreyfus-Anhänger war.5 In deren Feuilleton und in dem der Zeitschrift zugehörigen Buchverlag publiziert er seine Romane Messaline. Roman de l’ancienne Rome (1900) und Le Surm.le. Roman moderne (1902).6 Das Diptychon über die mythisierte antike Nymphomanin und den modern-futuristischen, hypervirilen Übermann, das sich um den leeren Punkt der Gegenwart konfiguriert, rückt auf diese Weise in einen politischen Kontext. Ohne diesen Sitz im Leben sind die Virilitätsphantasien beider Romane nicht zu lesen, denn dass es Jarry um eine Reflexion des politischen Imaginären seiner Zeit geht, beweist nicht nur die Ubu-Figur, sondern auch ein Artikel über die Blinddarmentzündung des englischen Königs Eduard VII., den Jarry kurz nach der Veröffentlichung des Surm.le in der Revue blanche publiziert. Seine Ausführungen legen den sexualisiert-körperlichen Subtext der Politik im satirischen Modus offen und bilden damit in gewisser Weise das Gegenstück zu den fiktionalen Versionen dieses Imaginären in den beiden ›erotischen‹ Romanen. 4 Vgl. dazu den Artikel »L’Affaire« im Canard sauvage vom 9.–15. August 1903: »Le ›traitre‹ fut un bon sujet et une bonne affaire. Cela 8voquait l’id8e de frontiHre, de l’8tranger, de voyage, toutes suggestions exquises pour ceux des touristes / qui la modicit8 de leurs ressources interdit le d8placement vers d’autres coins du monde que celui de leur feu. Il n’est vieillard si cacochyme, en pareil cas, qui ne s’applaudisse, le bon cocu, / tout enfant m.le nouveau qui lui tombe du ciel, et qui ne le voue / la Revanche.« (JŒ I: 497–499, hier : 498) Zu Jarrys Haltung in der Dreyfusaffäre siehe auch Ilse Pollack: Pataphysik, Symbolismus und Anarchismus bei Jarry. Wien u. a.: Böhlau 1984, S. 249–258. 5 Siehe zur Rolle der Revue blanche in der Dreyfusaffäre Datta 1999: S. 31 u. 104 und Michel Winock: La Belle Ppoque. La France de 1900 / 1914. Paris: Perrin 2003, S. 316. Jarrys in der Revue blanche publizierte Artikel sind in den Rubriken »Sp8culations« und »Gestes« posthum unter dem Titel La Chandelle verte erschienen (siehe hierzu Michel D8caudin: »La Chandelle verte. LumiHres sur les choses de ce temps. Introduction«, in Alfred Jarry : Œuvres. Hg. v. M. D. Paris: Robert Laffont 2004, S. 899–903, hier S. 901). 6 Siehe zu den Publikationsdaten Henri Bordillon: »Messaline. Notice«, in JŒ II: 721–730, hier: 723 sowie Patrick Besnier : »Le Surm.le. Notice«, in JŒ II: 769–775, hier: 769.

Königsverehrung in der Schwundstufe: »L’Appendice du Roi«

1.

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Königsverehrung in der Schwundstufe: »L’Appendice du Roi«

Am 15. Juli 1902 berichtet Jarry in seinem Artikel »L’Appendice du Roi« davon, dass die Krönung des englischen Königs aufgrund von dessen Blinddarmerkrankung hinausgezögert worden ist. Jarry deutet die Ereignisse jedoch um: »La maladie du roi d’Angleterre ne fut pas un obstacle au couronnement, comme l’a inf8r8 la totalit8 du public superficiellement inform8, mais l’une des c8r8monies, la pr8liminaire et l’indispensable, de ce couronnement.« (JŒ II: 364) Seine Interpretation der medizinischen Diagnose als protokollarisch notwendiger Bestandteil der Krönungszeremonie begründet er folgendermaßen: Nul ne peut Þtre roi, en effet, s’il ne justifie d’un appendice vermiculaire du cæcum, de mÞme qu’on exige du pape certaines preuves qu’il est tenu de pr8senter / toute r8quisition. Qu’on se souvienne que le roi est par d8finition le premier gentilhomme de son royaume, et comme tel doit poss8der les parchemins de la noblesse la plus ancienne. Or qu’est-ce que l’appendice vermiculaire du cæcum, organe rudimentaire, comme on sait, sinon la preuve que celui qui en est pourvu descend d’a"eux si recul8s qu’ils existaient mÞme avant l’homme ? Qu’on ne s’8bahisse donc plus si le peuple anglais, avant de couronner son roi, a d8sir8 s’assurer qu’il n’y manquait rien pardedans et, comme un enfant anatomise son jouet, l’a ouvert, pour voir. (JŒ II: 364f.)

Die Würde des Königs bedarf ebenso wie die des Papstes einer Beglaubigung. Während man sich bekanntlich, gemäß der Legende der Päpstin Johanna,7 auf einem gelochten Stuhl vergewisserte, ob der Vertreter Christi auf Erden auch wirklich männlichen Geschlechts sei, so wolle das englische Volk sicher gehen, dass ihr zukünftiges Oberhaupt einen Blinddarmwurmfortsatz besitzt. Es geht also um die Frage: Haben oder nicht haben? Jarry analogisiert den Nachweis der adligen Abstammung des Thronanwärters, also die dynastisch-genealogische Idee, mit der darwinistischen Theorie des Rudiments als Evolutionsbeleg, als Beweis der menschlichen Abstammung vom Primaten.8 Der politische Körper des Königs, in dem sich die dynastische Idee hypostasiert, überlebt hier nur noch im Rudiment. Den Blinddarm als Abstammungsbeleg assoziiert Jarry dabei nicht nur über das Partizip »recul8s« mit dem cul, sondern über die Analogie zur Verifizierung der päpstlichen Männlichkeit implizit auch mit dem männlichen Geschlechtsteil. Dass der solchermaßen demontierte politische Körper nur noch in der Schwundstufe besteht, verleitet Jarry im Folgenden zu einem weiteren Vergleich: 7 1905 übersetzt Jarry zusammen mit Jean Saltas den Roman La Papesse Jeanne von Emmanouil Roidis. 8 Zu Jarrys Darwinrezeption insbesondere im Ubu-Zyklus, aber auch im Surm.le siehe Rae Beth Gordon: Dances with Darwin, 1875–1910. Vernacular Modernity in France. Farnham u. a.: Ashgate 2009, S. 243–263 und unten Anm. 86. Den hier zitierten Artikel erwähnt Gordon nicht.

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Il suit de ces consid8rations que le respect attach8 / l’appendice vermiculaire en tant que document du pass8 doit s’accorder d’autant plus aux Þtres chez qui cet organe rudimentaire n’est pas rudimentaire, mais tel qu’il 8tait avant son atrophie. Ainsi s’8lucide Apis, et l’adoration des taureaux sacr8s et autres ruminants. […] Il est rare aujourd’hui que l’on ait assez de foi pour adorer un taureau tout entier : la d8votion s’est recroquevill8e sur l’Appendice. Que r8alise en effet le Drapeau, sinon la ressemblance merveilleusement parfaite de quelque Chose qui Pend ? (JŒ II: 365)

Angesichts der Bedeutung des Wurmfortsatzes wären vor allem die Wesen wahrer Verehrung würdig, die ein nicht nur rudimentäres Organ besitzen. Der englische König verliert deshalb im Vergleich mit dem Stier Apis, den die alten Ägypter wie einen König verehrten und der – im Gegensatz zu Eduard VII. – einen vollausgebildeten Schwanz hat.9 Man begnüge sich nun mit einer Verehrung des Fortsatzes, weil der Glaube in der Moderne nicht mehr stark genug sei, um einen ganzen Stier anzubeten. Der Kult des Tieres verengt sich synekdochisch auf einen Teil seines Körpers, was Jarry auf die Verehrung des Königs überträgt. Mit dem Bezug auf die Flagge in ihrer Ähnlichkeit mit ›etwas, das hängt‹ ruft Jarry mehr als andeutungsweise wiederum die Assoziation mit dem männlichen Genital auf, ist doch der homme drapeau in der patriotischen Tradition der starke Mann, der die Nation aufrichtet. Sexualisiert wird der königliche Wurmfortsatz auch im Vergleich mit dem Stiergott Apis, der als Symbol für sexuelle Potenz und Fruchtbarkeit in Repräsentationen häufig eine Sonnenscheibe zwischen den Hörnern trägt.10 Die Sonne verwendet auch Jarry, etwa in Messaline, als Männlichkeitssymbol.11 Die Königsverehrung beschränkt sich um 1900 also auf die Huldigung eines Organs, das zumindest in metonymischer Kontiguität zum männlichen Genital steht. Während Norman Brown den König als »an erection of the body politic«12 bezeichnet, repräsentieren sowohl Flagge als auch Wurmfortsatz in Jarrys »parasitäre[r] Gegenkonstruktion«13 allerdings nur einen Zustand der Schlaffheit. In seiner Interpretation der königlichen Blinddarmentzündung reflektiert Jarry das politische Imaginäre sowie die symbolische Bedeutung der königlichen Potenz. Indem der Blinddarmwurmfortsatz gewissermaßen zu deren rudimentärem Supplement in der Moderne wird, dekonstruiert seine Deutung diese Vorstellung 9 Eduard VII. war vor seiner Krönung in der Rolle des Prince of Wales in Frankreich ein wichtiges Vorbild für die Inszenierung von Männlichkeit durch die Mode (vgl. oben Teil 1, Kap. III, Anm. 83). 10 Siehe zur Symbolik königlicher Stiergötter im alten Ägypten den Artikel »Bull Gods«, in Donald B. Redford (Hg.): The Oxford Encyclopedia of Ancient Egypt. Bd. I: A-F. Oxford: Oxford UP 2001, S. 209–213. 11 Zur Männlichkeitssymbolik der Sonne in Messaline siehe Bordillon in JŒ II: 728 und unten Kap. 2. 12 Love’s Body. New York: Random House 1966, S. 133. 13 Siehe zum Begriff Mahler 1992: S. 59.

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gleichzeitig. Er kommt schließlich in der Ausgabe vom 15. August noch einmal auf Eduards Erkrankung zurück. Jarry bemerkt dort, dass die königlichen Ärzte kraft ihres Berufs darüber entscheiden dürfen, welches Organ nützlich ist und welches nicht. Unnützes dürfen sie ersatzlos entfernen (JŒ II: 369). Dies sei jedoch nicht unproblematisch, »8tant donn8 d’aprHs nos conclusions qu’un roi sans appendice n’est plus un roi« (ebd.). Da erst der Wurmfortsatz den König als solchen legitimiert, hätte man ihn Eduard zurückgeben oder zumindest aufbewahren müssen: »un appendice royal est une piHce anatomique curieuse / conserver.« (Ebd.) Jarrys Deutung stellt die Legitimität des neuen englischen Königs, der trotz des chirurgischen Eingriffs gekrönt worden war, in Frage. Dies darf angesichts der ironischhumoresken Inszenierung wohl kaum als strategischer Angriff auf die englische Monarchie verstanden werden, sondern vielmehr als Reflexion über die körperliche Fundierung des Politischen sowie als Demontage der Verehrung königlicher Virilität.14

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Im Zeichen des Mangels beginnt auch der im Jahr 1900 publizierte Roman Messaline über die sexuell unbefriedigte Gattin des Kaisers Claudius. So opak der Text über weite Strecken auch ist, so deutlich ist er an anderen Stellen: »Phallus manque.« (JŒ II: 85, Hervorh. im Orig.) Claude ist ein narzisstischer, unscheinbarer Herrscher, bei dem man nicht sicher weiß, ob er ein Genie oder ein Idiot ist (JŒ II: 80), Messaline hingegen eine Wölfin, eine »Louve« (JŒ II: 75), die davon träumt, endlich den Gott des Glücks, »la bÞte-dieu« (JŒ II: 77), den nie schlafenden und allzeit potenten Mann zu finden. Doch dieser entweicht ihr, anstatt zum Zwecke ihrer Befriedigung auf die Erde zu kommen (JŒ II: 79f.). Die Gattin des Kaisers glaubt schließlich, dass er in den lukullischen Gärten zu 14 Jarrys grundsätzlich ikonoklastische Haltung drückt sich publikumswirksam vor allem in seinen Bühnenstücken aus. Auch in seinen politischen Artikeln zerstört er immer wieder patriotische Konstruktionen nationaler Identität. Am 15. Mai 1901 zum Beispiel schreibt er in der Revue blanche unter dem Titel »Essai de d8finition du courage«: »chaque peuple se r8pHte qu’il est le plus puissant et le plus courageux de la terre, qu’il est ›/ la tÞte‹ de l’humanit8. Malheureusement, l’humanit8 est une espHce de bÞte ronde avec des tÞtes tout autour.« (JŒ II: 297) Im Canard sauvage dekonstruiert er 1903 die Bedeutung der nationalen Flagge: »Deux mots de l’invention du drapeau. Nous connaissons un paysan qui ne tolHre point, ou qui retarde, ou qui 8vite de n8cessiter – l’ing8rence de certaine pompe sanitaire dans les culs-de-basse-fosse de sa maison. Pour en refr8ner les d8bordements, il s’8vacue sur la voie publique, dans la grande nature. Mais, s’8tant 8vacu8, il marque la place, ensuite, en ing8nieux philanthrope, d’un papier, naguHre blanc, au bout d’un b.ton fich8. Car c’est bien la signification du drapeau : qu’on ne marche pas dessus ! Ne foulez pas le territoire.« (JŒ II: 507)

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finden sein müsse, da über diese Gärten der ›Asiate‹15 Val8rius herrscht und Messaline meint, dass der von ihr gesuchte »dieu solaire« sich wohl zuerst in die Gegenwart derjenigen Menschen begebe, in deren Heimat die Sonne aufgeht (JŒ II: 91). Vielleicht, so mutmaßt Messaline, ist der mächtige Val8rius l’Asiatique sogar selbst der ersehnte Gott (ebd., vgl. auch JŒ II: 94f.). Allerdings besagen Gerüchte, dass er der Liebhaber der Bürgerin Popp8e Sabina sei. Aus Neid und Rache lässt Messaline Val8rius von einigen Denunzianten beschuldigen, Claude töten und die Germanen gegen Rom hetzen zu wollen, woraufhin der Kaiser den ›Asiaten‹ zum Tode verurteilt. Val8rius macht sein Testament und begibt sich in seinen Garten, wo er folgendes Ritual vollzieht: Nachdem er auf einer Lichtung eine geeignete Stelle für ein Feuer ausgewählt hat, weist er seine Diener an, seinen Leichnam nach seinem Tod den Flammen zu übergeben, dann den Garten zu verlassen und den Schlüssel zu diesem Messaline zu übergeben. Anschließend tötet er sich: Alors, sur son lit de sieste, il enfonÅa obliquement le rasoir dans le cit8 de son cou et commenÅa, soulev8 sur son s8ant et la gorge raidie, de balancer de droite et de gauche la nudit8 de son cr.ne et la transparence de sa face qui laissait d8j/ voir au-dedans la mort, imitant un ver qui monte pour filer. Et la soie t8nue du sang de l’artHre, par ce mouvement de navette, tissa sur le corps subitement s8nile et les coussins blancs comme une barbe son linceul de pourpre. (JŒ II: 101)

Die Diener führen seine Anweisungen aus, woraufhin aus den Flammen ein Phönix aufsteigt, dem Text zufolge eine Allegorie der Wiedergeburt der Kunst (ebd.): »l’8blouissement de plumes fabuleuses prit sur lui et porta l/-haut, selon le rite, le corps de son pHre vers le soleil oriental.« (JŒ II: 102, Hervorh. im Orig.) Messaline findet den Weg zur Lichtung und sieht dort, wie ein zusammengerollter Mann seine Glieder entfaltet, bevor er ein paar unbeholfene Schritte geht. Sie erkennt in ihm den Pantomimen Mnester, der, so hatte der Erzähler zuvor bemerkt, wohl ein Alibi für Val8rius war und als vermeintlicher Geliebter der Popp8e Sabina deren Affäre mit dem Asiatique verdecken sollte (vgl. JŒ II: 97). Messaline glaubt sich dennoch in Gegenwart des gesuchten Sonnengottes, welcher seine ersten, unsicheren Schritte auf der Erde macht. Plötzlich streckt sie ihre Arme aus: Messaline 8tendit les mains, moins par curiosit8 ou d8sir que par geste de se garer d’un corps qui tombe. Et comme Priape lui-mÞme, ou un jongleur acrobate, se fatigue / la fin de tenir en 8quilibre un grand arbre, le sexe du dieu chut entre les mains de l’imp8ratrice. 15 Zur anachronistischen Modernisierung der Figur des Valerius Asiaticus, den Jarry zum neuzeitlichen Chinesen mit österreichischer Herkunft macht, siehe Henri Bordillon: »Pr8face«, in JŒ II: IX–XXVI, hier: XVf.

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Ce fut si brutal et si lourd et si 8pouvantablement la pr8sence r8elle de PhalHs, que Messaline s’enfuit […]. (JŒ II: 106)

Wie ein riesiger Baum fällt Mnesters Genital in Messalines Hände. Obwohl sie genau danach gesucht hatte, ist die Konfrontation mit dem realen Objekt, der »pr8sence r8elle« des göttlichen Penis, zu brutal, als dass sie sie aushalten könnte – sie muss fliehen. Beim Weglaufen tritt Messaline versehentlich auf etwas, das beim näheren Hinsehen der Kopf des »Ma%tre des Arbres« (JŒ II: 107) sein könnte – als solcher war Val8rius zuvor bezeichnet worden (JŒ II: 91). Von Val8rius, der die Virilität in Assoziation mit der Sonne für Messaline auf ideale Weise repräsentiert hatte, bleibt also nur der Kopf übrig, während sein Körper in Gestalt des hypervirilen Mnester wiedergeboren wird. Die phönixgleiche Reinkarnation des Gottes PhalHs treibt Messaline in die Flucht. Sie kann mit der nicht-symbolisierten ›Realpräsenz‹, dem konkreten, fleischgewordenen Phallus, nicht umgehen – das Reale ist inkommensurabel.16 Vor der Schilderung des Reinkarnationsrituals hat der Leser erfahren, dass eine Verbindung zwischen Mnester und einer Frau unwahrscheinlich sei (vgl. JŒ II: 97) – der Text suggeriert damit wie Sueton, den Jarry zusammen mit Tacitus, Juvenal und Cassius Dio als Quellen für seinen Roman verwendet, Mnesters homosexuelle Beziehung zu Caligula.17 Die Unwahrscheinlichkeit einer Vereinigung Mnesters mit einer Frau kann allerdings unabhängig von Mnesters Objektwahl auch darauf hinweisen, dass die schieren Ausmaße seines Genitals jeglichen Sexualakt undenkbar machen, da sie die Symbolisierung verunmöglichen, deren dieser bedarf.18 Brunella Eruli folgt der expliziten Rezeptionsanweisung des Textes und liest das zentrale Bild des Phönix’ als Allegorie für die Kunst und die Polysemie eines Textes, der mit seinen Bedeutungen immer wieder ›stirbt‹ und im Akt des Lesens ›neugeboren‹ wird: »Jarry indique que toute œuvre n’existe que par et / travers la recr8ation du lecteur ; les hallucinations et les 8garements de ce dernier en font partie int8grante […].«19 Die Leerstellen von Jarrys opakem Text bedürfen zwar der Füllung durch den Rezipienten, diese wird allerdings durch die verwendeten Motive gelenkt. Dabei stellt der Phönix nicht nur allegorisch die Vieldeutigkeit des Textes dar. Es ist aufgrund seiner langen Geschichte selbst bedeutungsschaffend und -multiplizierend: In Frankreich symbolisiert der Phönix seit dem 15. Jahrhundert 16 Vgl. Lacan 1994: S. 31, 56 u. a. und Slavoj Zˇizˇek: Lacan. Eine Einführung. Übers. v. Karen Genschow u. Alexander Roesler. Frankfurt am Main: Fischer 2008, S. 79. Anders als in Messaline war der Phallus in Jarrys früheren Texten über symbolische Attribute und Grapheme repräsentiert geworden. Vgl. Riewert Ehrich: Individuation und Okkultismus im Romanwerk Alfred Jarrys. München: Fink 1988, S. 112. 17 Siehe Brunella Eruli: »Notes. Messaline«, in Jarry 2004: S. 1301–1309, hier S. 1305, Anm. 83. Zu Jarrys Quellen siehe Bordillon in JŒ II: 723. 18 Vgl. zum letzten Punkt Zˇizˇek 2008b: S. 72, 82 u. 148. 19 »Le ph8nix du texte«, in Henri Bordillon (Hg.): Alfred Jarry. Colloque de Cerisy. Paris: Belfond 1985, S. 191–203, hier S. 194.

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die unsterbliche königliche Dynastie.20 Das Bild greift zwei Traditionen auf, einmal einen politischen Symbolismus, der im Rom der Cäsaren entsteht und erstmals in Ovids Metamorphosen verwendet wird. Dort versinnbildlicht der mythische Phönix – ein Symbol für den Sonnengott im alten Ägypten – dass die Macht durch den Gründungsvater der Dynastie, den vergöttlichten Cäsar, erblich vom Vater zum Sohn weitergegeben wird. Ovid stellt auch die Assoziation zum Konzept der Roma aeterna und der Wiederauferstehung aus dem verbrannten Troja her.21 Parallel zum Bild für die kaiserliche Nachfolge entsteht zur gleichen Zeit ein religiöser Symbolismus, der mit dem Phönix die Wiederauferstehung und Christus selbst repräsentiert.22 Im französischen Ancien R8gime vereinigen sich das christliche und das politische Symbol in der Theorie der Zweikörperlehre.23 Man kann angesichts von Jarrys vorbereitenden Lektüren, seinen Kenntnissen der antiken Literatur24 sowie dem Artikel zu König Eduards Blinddarmentzündung, der von einem reflektierten Bewusstsein über Traditionen königlicher Repräsentation zeugt, davon ausgehen, dass das Phönixmotiv in Messaline politisch konnotiert ist. Denn Plinius der Ältere, der wie Cassius Dio die politische Bedeutung des Phönixmotivs hervorhebt, berichtet, dass bei den Feierlichkeiten zum 800. Jahrestag der Gründung Roms, unter der Herrschaft Kaiser Claudius’, ein Phönix in die Stadt gebracht und dort öffentlich ausgestellt worden war. Dieser Akt politischer Propaganda scheiterte daran, dass der Phönix als falsch erkannt worden war, was Claudius’ Lächerlichkeit in den Augen der Öffentlichkeit wohl noch verstärkt hat.25 Eruli zufolge stirbt Val8rius l’Asiatique in Jarrys Roman so wie bei Tacitus.26 Dem ist jedoch nur bedingt zuzustimmen, denn Jarry fügt Tacitus’ Darstellung ein bedeutsames Detail hinzu. Während die Annalen allein davon sprechen, dass Valerius Asiaticus seine Venen geöffnet habe (»venas exsolvit«27), bevor er den Flammen des Scheiterhaufens übergeben wurde, fügt sich Jarrys Asiate mit einem Rasiermesser einen tödlichen Schnitt in den Hals zu. Dass daraufhin nicht der gesamte Leichnam verbrannt und wiedergeboren wird, sondern der Kopf übrig bleibt, spricht dafür, dass Val8rius sich vollständig enthauptet hat. Der Text 20 Siehe Kantorowicz 1957: S. 385–401 und Pierre Gouhier : »Le roi est mort, vive le roi«, in Silvia Fabrizio-Costa (Hg.): Ph8nix. Mythe(s) et signe(s). Actes du colloque international de Caen (12–14 octobre 2000). Bern u. a.: Peter Lang 2001, S. 141–157, hier S. 152–155. 21 Siehe hierzu FranÅoise Lecocq: »L’empereur romain et le Ph8nix«, in Fabrizio-Costa 2001: S. 27–56, hier S. 34f. Ovid integriert die Beschreibung des mythischen Vogels in das letzte Buch seiner Metamorphosen, das in die Glorifizierung des Augustus mündet (siehe ebd.). 22 Ebd.: S. 27f. 23 Vgl. Jean-Marie ApostolidHs: Le roi-machine. Spectacle et politique au temps de Louis XIV. Paris: Minuit 1981, S. 12. 24 Zu Jarrys klassischer Bildung siehe u. a. Bordillon in JŒ II: 726. 25 Siehe hierzu Lecocq 2001: S. 35–38. 26 »[L]’Asiatique meurt selon les indications de Tacite […].« (Eruli 1985: S. 193) 27 P. Cornelius Tacitus: Annales. Hg. v. Heinz Heubner. Stuttgart: Teubner 1994, S. 214 (Annales XI, 3).

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erklärt nicht, warum der Kopf, auf den Messaline bei ihrer Flucht tritt, nicht Teil des Reinkarnationsrituals ist;28 diese Leerstelle ist vom Leser zu füllen. Darüber hinaus ist auch das Moment der Reinkarnation hinzugefügt. Durch dieses rückt Val8rius symbolisch an die Position des Kaisers bzw. des Königs. Bei der Schilderung der Wiedergeburt selbst lehnt sich Jarry stark an die von Tacitus wiederaufgenommene Beschreibung des Phönix’ aus Herodots Historien an. Herodot fokussiert dabei die Beschreibung des mythischen Vogels, der beim Tod des eigenen Vaters erscheint und dessen sterbliche Überreste zur Sonne trägt.29 Jarry übernimmt dies und hebt graphisch hervor, dass es der Körper des Vaters ist, den der Phönix in Richtung Osten, zur Sonne, trägt. Er unterstreicht damit die Vater-Sohn-Symbolik, die in der Antike grundlegend für die Politisierung des Phönixmythos war. Jarrys Erzähler weist außerdem explizit darauf hin, dass es sich um ein Ritual handelt. Mit einem rituellen Akt ist die Phönix-Symbolik schon über die römischen Einäscherungsriten verknüpft, was insbesondere im Bestattungszeremoniell der französischen Könige und der performativen Verkündung Le roi est mort, vive le roi ! wiederauflebt. Jarrys Text beschreibt also ein Ritual, bei dem nur der Körper des ›Vaters‹ der Sonne bzw. dem Sonnengott zurückgegeben und als hypertrophes Genital wiedergeboren wird, während der Kopf bzw. der Schädel auf der Erde zurückbleibt und von Messaline zertreten wird. Dieses Bild lässt sich nun angesichts des in der Literatur ständig wiederkehrenden abgetrennten Kopfes als Reminiszenz des königlichen Haupts, das im kollektiven Imaginären spukt, lesen. Der rasoir national hat dieses in der Revolution vom natürlichen Körper des Königs abgetrennt, nachdem der Sakralkörper symbolisch und diskursiv zerstört, sinnbildlich also Gott wieder überantwortet worden war. Messaline, die als Frau des sexuell ungenügenden Kaisers die Stadt Rom verkörpert,30 tritt in eine Rivalitätsbeziehung zur bürgerlichen Maitresse des Val8rius (vgl. JŒ II: 88–91). Als Allegorie der polis begehrt sie den idealen Mann, der über den Phönix und die Sonne mit dem Monarchen oder mit dessen 28 »[U]ne petite chose craqua sous son talon, avec un bruit infiniment moins perceptible que la fÞlure des coupes murrhines, une petite chose d’oF s’8pancha, quand elle la prit, une t8nue poussiHre d’ombre ; elle ne sut pas si c’8tait le cr.ne d’un pavot ou cette capsule d’ivoire dont le b0cher pr8cieux avait, mieux que des doigts de ciseleur sHre, 8labor8 la fragilit8 : la tÞte du Ma%tre des Arbres.« (JŒ II: 107) 29 Vgl. Herodot: Historien II, 73, 1 (in franz. Übers. zit. bei Lecocq 2001: S. 29). Jarry stellt seinem Kapitel ein Motto aus Tacitus’ Annales VI, 28 voran (JŒ II: 100). 30 »[L]a seule femme qui incarne absolument le mot que, bien avant la Ville fond8e, dHs la premiHre parole latine, on jette / la face des prostitu8es dans un crachat ou un baiser : Lupa, et cette abstraction vivante est un pire prodige que l’.me subitement infuse / une effigie sur un socle.« (JŒ II: 75f., kursiv im Orig.) In der Bezeichnung »Louve« amalgamieren sich die Prostituierte und die Stadt Rom in der Allegorie der Messaline. Siehe hierzu Thieri Foulc: »Jarry et les hautes œuvres de PhalHs (I)«, in Alfred Jarry : Messaline. Roman de l’ancienne Rome. Hg. v. T. F. Paris: Losfeld 1977, S. 5–28, hier S. 25f.

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idealem Ersatz assoziiert wird – war der historische Valerius doch ein Aufsteiger aus einer gallischen Familie,31 ein homo novus. Der Körper des Asiaten repräsentiert für Messaline die vollkommene virile Potenz. Obwohl sie sich niemals vergewissert hat, ob ihre Vorstellung der Realität entspricht, ist Messaline überzeugt davon, dass Val8rius sie befriedigen könnte. Es genügt, dass er metonymisch durch seine Herkunft mit der Sonne und PhalHs, dem Gott der Virilität, verknüpft ist – eben wie der absolute Monarch, der qua Dynastie und unter Rückgriff auf die Sonnensymbolik als der ideale Ehemann der Nation gefeiert worden war. Der aktuelle Machthaber jedenfalls ist nicht potent genug, das Begehren der polis zu stillen und muss deshalb ersetzt werden. Jarrys Roman reaktualisiert das überlieferte Bild des lächerlichen Kaisers Claudius insbesondere unter Verweis auf dessen sexuelle Minderwertigkeit. Der knieschlotternde, kurzsichtige, fast schon blinde (JŒ II: 82f.) Claude genügt – der Überlieferung entsprechend – Messaline nicht und muss auch im politischen Leben um Unterstützung bitten. So ruft er etwa Herkules an, um ihn um Inspiration für ein richtiges Urteil im Fall Val8rius zu bitten (JŒ II: 94), was seine Unvollkommenheit im Vergleich zum ›Asiaten‹ noch unterstreicht. Das Reinkarnationsritual figuriert als Kristallisationspunkt des politischen Imaginären: Jarrys Bild des Val8rius, dessen Körper nach seiner (Selbst-)Enthauptung als übergroßes Genital wiedergeboren wird, während Messaline seinen Kopf mit Füßen tritt, führt dem Leser das politische Begehren der Nation vor Augen. Diese will die impotente Regierung durch eine potente Macht ersetzt wissen und sucht seit der Revolution nach einem adäquaten Ersatz. Jarry produziert ikonoklastische Bilder für die Hoffnung darauf, die symbolische Stärke des Königs und der in der Transzendenz verankerten Monarchie in einem homme fort reinkarniert zu finden, dessen Virilität gehuldigt und vergöttlicht wird, ohne dass jedoch die Monarchie als politisches System restauriert werden soll: Der Kopf bleibt abgetrennt. Der Roman setzt den Kult der reinen Immanenz in der positivistischen, materialistischen Republik ins Bild und treibt das von Jameson beschriebene »libidinal investment«32 ins Politische auf die Spitze. Claudes Appell an Herkules im Val8rius-Prozess eignet vor diesem Hintergrund insofern ein politisches Konnotat, als die französischen Revolutionäre die Übertragung der königlichen Potenz auf die Republikaner mit dem Bild des Herkules zu garantieren versuchten.33 Die Nation hat den Tod des Männlichkeitsidols hier selbst zu verantworten. Sie ist eine Messalina wie Marie-Antoinette, die immer wieder mit der antiken Nymphomanin verglichen und als 31 Vgl. zu Valerius Asiaticus knapp den entsprechenden Artikel von Werner Eck in Hubert Cancik/Helmut Schneider (Hgg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. XII.1: TamVel. Stuttgart u. a.: Metzler, Sp. 1106f. 32 Jameson 1986: S. 72. 33 Siehe hierzu oben Einleitung, Kap. 1.

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Wölfin bezeichnet worden war.34 Mit Rom ist aber ebenso sehr die Republik aufgerufen, was Jarrys Messaline zu einer r88criture der France foutue macht – ganz ähnlich wie in einem wenig später in der Revue blanche veröffentlichten Beitrag, in dem Jarry die Repräsentation der Marianne auf einer neuen Briefmarkenserie umdeutet zur Darstellung einer »dame, aveugle et le bras en 8charpe, assise sur un pliant, [qui] apitoie les passants au moyen d’une pancarte qui promet / l’homme, sur sa personne, tous les droits ; au-dessus de sa tÞte se balance une lanterne avec le num8ro de sa maison«.35 Die in La France foutue ausgestalteten antirepublikanischen Phantasien werden in Messaline umgewertet zu einer allegorischen Reflexion nationaler Sehnsüchte. Im ersten Kapitel, das beschreibt, wie Messaline sich aus dem gemeinsamen Schlafgemach mit Claude stiehlt und ein Bordell aufsucht, wird dessen Aushängeschild, ein großer Phallus, mit der Fahnenstange eines ›provinziellen Polizeireviers‹ verglichen.36 Zusammen mit der durchgängigen Erotisierung des antiken Roms kann man diese anachronistische »comparaison […] fugitive«37 als augenzwinkernde Anspielung auf die generalisierte Suche nach politischer Männlichkeit um 1900 verstehen. Mnester, der hypermaskuline Ersatz für den ideal-virilen Val8rius l’Asiatique, soll an Claudes Geburtstag vor dem römischen Volk tanzen. Das Begehren des Volkes danach, Mnester tanzen zu sehen, deckt sich in dieser Passage mit dem Begehren der Messaline, was deren Funktion als pars pro toto für das Kollektiv bestätigt. Mnester lehnt im Theater an einem rosafarbenen Obelisken und kann bzw. könnte so in eine bestätigende Reflexions- und Identifikationsbeziehung mit dem Volk treten, das ihm gegenübersitzt und ihn zum Tanz aufruft. Er weist diese Funktion jedoch von sich und provoziert die Menge: D8ferlant contre ce phare qui portait au pied sa lampe, les sifflets et les paroles se cadencHrent et prirent une forme, qui bondit en assauts successifs de bÞte par le cirque : – Danse, Mnester ! 5 Alors Mnester s’avanÅa jusqu’au bord de l’estrade, et avec le geste fatigu8 d’un dormeur au soleil qui s’8tire hors d’un bourdonnement de mouches : – Excusez-moi, je ne puis : je viens de coucher avec Oreste. 34 Siehe z. B. Hunt 1991a: S. 120 u. 122 und Vinken 2003: S. 91. 35 »Les nouveaux timbres«, 15. Jan. 1901 (JŒ II: 275f., hier : 275). Die Briefmarken stellten die Droits de l’homme dar und Frankreich, wie es sich »repose dans sa force« (siehe Michel D8caudin: »Notes. La Chandelle verte«, in Jarry 2004: S. 1317–1332, hier S. 1317, Anm. 1). 36 »Entre ces courbes flottantes, du fouet qui harcHle la fuite de la brise nocturne, et des replis colori8s du serpent, quelque chose comme une hampe, qui semble plus droite par ces contrastes inconsistants, mais s’affirme un peu plus grosse qu’une hampe, comme si un drapeau y 8tait roul8, s’8rige au-dessus de la porte du Bonheur./Aux yeux d’un passant d’aujourd’hui, la faÅade pr8senterait l’aspect, sans plus, d’une gendarmerie provinciale, quand il n’est pas dimanche.« (JŒ II: 76) 37 Foulc 1977a: S. 19.

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Et il s’8tendit de nouveau sur son lit vertical. Dans un demi-silence de chuchotements, les m8decins et philosophes, et Claude 10 estimHrent que le mot du mime exprimait ing8nieusement l’8puisement de la cr8ation d’un prodigieux rile ; le peuple et Messaline, trop passionn8s pour chercher si loin, se levHrent, le peuple invectivant avec menaces C8sar et d8signant l’Oreste que d8j/ croyait deviner la rumeur publique : Messaline, l’enleveuse de portefaix, d’acteurs et de gladiateurs, qui opposait aux clameurs le bouclier froid de ses yeux impudents et 15 impudiques. […] [D]anse, Mnester, ce que tu voudras, pour moi, je t’en supplie, roucoula Messaline. – Il pla%t / ma femme et au Peuple et moi je t’ordonne que tu danses, dit Claude. (JŒ II: 108f., kursiv im Orig.)

Das Volk und Messaline stehen in einer affektiven, libidinösen Beziehung zu Mnester. Sie erwarten von ihm einen Tanz, den er aus Erschöpfung infolge seiner sexuellen Verausgabung mit Oreste nicht zu vollbringen vermag (Z. 1–7). Mnesters Weigerung zieht unmittelbar die Destabilisierung von Claudes Autorität nach sich: Das Volk beschimpft und bedroht den schwachen Kaiser. Eine kompensatorische Erfahrung kollektiver Einheit ist nun nur noch über ein Sündenbockritual möglich, wie es in der Suche nach ›dem Oreste‹ anklingt (Z. 12f.). Dieser – Messaline? – hat in den Augen des irrationalen Volkes die affirmative Spiegelbeziehung scheitern lassen und damit den drohenden Zerfall des Kollektivs hervorgerufen. Mnester beugt sich sodann scheinbar dem Befehl des Kaisers, provoziert Claude aber, indem er während seines Tanzes von den Leistungen seines Geliebten, des Kaisers Caligula, singt. Vor den Augen des Publikums jongliert er mit der Sonne oder vielmehr mit deren Überresten (den »d8bris du soleil«, JŒ II: 111). Plötzlich erlischt das Licht der Sonne, die vom Mond verdeckt wird. Claude, dessen Herrschaft immer fragiler wird, beruhigt die erregte Menge: [Claude, s]e dressant, d8signa sa tÞte / la foule en coiffant r8solument la derniHre couronne du sang du soleil: »[…] C’est l’Éclipse ! […] Restez tranquilles, Messieurs ! […] Reprenez vos places ! L’8clipse ne doit durer qu’un demi-quart d’heure, il n’y a mÞme pas besoin d’allumer des torches ! La lune va d8tacher son bandeau du soleil !« (JŒ II: 113f., Hervorh. im Orig.)

Jarry erwähnt mit der Sonnenfinsternis zwar ein schon bei Cassius Dio erwähntes Ereignis,38 integriert dieses aber in seine Narration über den impotenten Claude. Dieser bedarf offenbar der Sonne, mit deren blutrotem Licht er sein Haupt krönt, um der Stabilisierung seiner Herrschaft willen. Er zählt deshalb auf die kurze Dauer der Sonnenfinsternis und prophezeit dem Volk die baldige Rückkehr des Lichts. Den Leser allerdings kann das Bild der blutroten

38 Siehe Henri Bordillon: »Messaline. Notes et variantes«, in JŒ II: 733–763, hier 752.

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Sonne kaum täuschen, kennt er es doch aus Mussets Confession d’un enfant du siHcle als Sinnbild für 1793.39 Das Tanz-Spektakel mit Mnester verläuft also kontrastiv zu den ballets de cour des Ancien R8gime, die Jean-Marie ApostolidHs als Kollektiverfahrung der Nation beschreibt. Insbesondere Ludwig XIV. stellte sich und sein selbstgewähltes Symbol der Sonne im Tanz dar und präsentierte dem Publikum seine spektakuläre Macht, die das Hofleben sowie die gesamte Nation auf ihn ausrichtete.40 Der Nachwelt sind von diesen Spektakeln vor allem die Abbildungen geblieben, auf denen der junge Ludwig im Sonnenkostüm die Rolle des Apollo im Ballet de la Nuit (1653) tanzt.41 Marc Franko hat die in den Balletten inszenierte Androgynie als Bild für die Selbstgenügsamkeit des königlichen Körpers und der selbstreproduzierenden Macht der Monarchie gedeutet. Als Beispiel hierfür nennt er das »Ballet des Androgynes« im Ballet de Madame von 1615. Vor dem Hintergrund der Heirat Elisabeths von Bourbon mit dem spanischen Thronfolger im selben Jahr sowie der Ermordung Heinrichs IV. fünf Jahre zuvor demonstriert das Ballet die Autonomie der französischen Monarchie. Es inszeniert die symbolische Vereinigung der Nation in Liebe zum König – hier Ludwig XIII. – als dem erigierten Glied, wobei die Verbindung des Herrschers mit seiner männlichen Entourage als Metonymie der Nation eine homosexuelle Objektwahl impliziert.42 Nicht zuletzt die Tatsache, dass das »Ballet des Androgynes« die Motive von Phönix und Sonne für die königliche Herrschaft verwendet,43 spricht dafür, Jarrys Messaline vor der Folie dieses oder ähnlicher Ballette zu lesen. Mit der Figur des Mnester zitiert Jarry die in den Hofballetten ausgestellte 39 Vgl. oben Teil 1, Kap. IV.1.1. 40 ApostolidHs 1981: S. 59–65. 41 Vgl. z. B. die Farblithographie in Gustave Toudouzes Roy soleil (1904), abgebildet in Schultz 2002: S. 16. 42 »The King Cross-Dressed. Power and Force in Royal Ballets«, in Melzer/Norberg 1998: S. 64– 84, hier bes. S. 73f. u. 81. Die entsprechenden Begleitverse zum Ballett lauten: »Mais sutout [sic] ces eslans, ces effets et ces fl.mes / […] ont paru / la mort de nostre grand Henry : / […] Puis, comme si un nœud les mariast ensemble, / A mesme temps ce zele en un corps les assemble / PrHs le Ciel oF souloit luire son beau Soleil. / L/, chacune, / l’envi, promtement se vient rendre, / Pour garder le phenix qu’avoit produit sa cendre / En courage / son pHre, et en vertus pareil. […] Ainsi voit-on la France en son peuple fidelle / Autour de nostre Roy faire la sentinelle, / L’accompagnant tousjours du cœur et du regard. / Partant, continuons, celestes Androgynes, / A nourrir ce brandon tousjours dans nos poitrines, / Sans promettre jamais qu’il s’aille amortissant: / Car ainsi nous verrons avec telle abondance, / Multiplier en nous son heureuse semence, / Que sans cesse nos mains s’en iront emplissant.« (Ballets et Mascarades de Cour de Henri III / Louis XIV (1581–1652). Bd. II. Hg. nach den Originalausgaben v. Paul Lacroix. Genf: Slatkine Reprints 1968, S. 82f.) Franko notiert, dass der »nœud« im 17. Jahrhundert das männliche Genital bezeichnen konnte (1998: S. 73). 43 Siehe die vorangegangene Anm. sowie zur Sonnensymbolik bes. auch Ballets et mascarades: S. 71–73 u. 76.

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Androgynie und wertet sie um, indem er die homosexuellen Implikationen expliziert und den Tänzer, der mit Halbmonden geschmückt ist (vgl. JŒ II: 107), verweiblicht.44 Ironischer Indikator für die subversive Reflexionsbeziehung zwischen Tänzer und Volk ist schon der Obelisk, dessen rosa Farbe die männliche Symbolik unterläuft. Statt die Macht zu stabilisieren und dem Kollektiv ein kohärenzstiftendes Spiegelbild zu bieten, bedroht Mnesters Tanz das Publikum wie die tanzende Salome: Angesichts der subversiven Umgestaltung der spekularen Zentripetalkraft läuft das Volk Gefahr, sich aufzulösen. Auch Claudes hilflose Intervention kann dies nicht unterbinden. Wie Mnester jongliert Jarry mit der erlöschenden Sonne der politischen Repräsentation, sodass die Sonnenfinsternis sowie die Kastrationssymbolik des Mondes als Sinnbilder für die Republik gelesen werden können. Jarry schreibt politische Mythen und Symbolismen um und legt die Symptomatik kollektiver Diskurse und Imaginationen offen. Die Suche nach einem virilen Herrscherersatz, einem nationalen Phallus, zeugt von der Sexualisierung einer Politik, deren Repräsentation sich bei Jarry kaum noch im Sinne einer Zweikörperlehre deuten lässt: Der Fokus auf den natürlichen Körper drängt jede Repräsentation eines politischen Körpers in den Hintergrund. Es bleibt zu fragen, wie Jarry dies in Le Surm.le, dem komplementären Gegenstück zu Messaline, fortführt.

3.

Produktion und Dekonstruktion von Souveränitätsphantasmen in Le Surmâle

Le Surm.le entfaltet seinen Plot um zwei surreale Szenarien,45 in denen der Protagonist Andr8 Marcueil in verschiedenen Verkleidungen Hochleistungen auf sportlichem und sexuellem Gebiet vollbringt und alle Rekorde bricht: Er schlägt in einem 10.000-Meilen-Radrennen von Paris nach Sibirien und zurück nicht nur ein Rennrad, das von fünf Hochleistungssportlern angetrieben wird und die mit einem hierfür entwickelten Perpetual-Motion-Food versorgt werden, sondern auch den Hochgeschwindigkeitszug, gegen den die fünf Radler angetreten waren. Anschließend übertrifft er jegliche Vorstellungen sexueller Potenz, als er mit seiner Partnerin Ellen 82 Mal innerhalb von 24 Stunden den Koitus vollzieht und selbst dann noch nicht erschöpft ist. Textkonstituierend sind außer diesen beiden narrativen Höhepunkten zwei zentrale, miteinander verknüpfte 44 Vgl. zur Weiblichkeitssymbolik des Mondes in Messaline Bordillon in JŒ II: 728. Siehe zum Mond als Emblem des Kastraten in Sarrasine Barthes 1970: S. 31. Zur ewigscheinenden Sonne der Monarchie im Ballet de Madame siehe Anm. 42 u. 43. 45 Vgl. zum surrealen Aspekt des Romans Marianne Kesting: Auf der Suche nach der Realität. Kritische Schriften zur modernen Literatur. München: Piper 1972, S. 35 und Jill Fell: Alfred Jarry. London: Reaktion Books 2010, S. 163.

Produktion und Dekonstruktion von Souveränitätsphantasmen in Le Surmâle

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Widersprüche. Erstens erscheinen die außergewöhnlichen Leistungen unvereinbar mit Marcueils Charakterisierung zu Beginn des Romans. Der Protagonist, den der Erzähler als so banal und unauffällig wie nur irgend möglich beschreibt, ist ein Jedermann. Seine Normalität ermisst sich dabei in erster Linie an seiner Mangelhaftigkeit: Marcueils Gesicht erscheint wie ein Loch (»trou«, JŒ II: 190), er ist bleich, hat schwache Augen, die sich hinter einem Zwicker verstecken, eine gebeugte Körperhaltung, muss seinen beginnenden Haarausfall verdecken und scheint insgesamt körperlich labil zu sein. Der Erzähler schließt von Marcueils Äußerem auf seine sexuelle Impotenz: »Il 8tait supposable que l’8tat de sa sant8 lui interdisait l’amour.« (Ebd.) Diese vermeintliche Reinkarnation der Figur des Claude stellt jedoch gleich zu Beginn des Romans eine herausfordernde These auf, die die folgenden Spekulationen über das Maximalmaß männlicher Potenz und schließlich die Handlung des Romans auslöst: »L’amour est un acte sans importance, puisqu’on peut le faire ind8finiment.« (JŒ II: 189) Angesichts seiner Physiognomie macht Marcueils Zitat des aristokratisch-libertinen Liebesdiskurses, der die Liebe rein körperlich definiert,46 auf seine Zuhörer einen geradezu kläglich ironischen Eindruck. Der andere Widerspruch wird im zweiten Kapitel formuliert. Es berichtet davon, wie der junge Andr8 Marcueil sich beim Anpassen seines Kommunionsanzuges mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass sein Körper nicht der Norm entspricht, sondern eine ›Difformität‹ aufweist: ein überdimensioniertes Genital. Angesichts der beschämten Reaktionen der Erwachsenen wird es Andr8s Ziel, normal zu sein. Da seine Mutter – dem Erzähler zufolge wie alle Mütter – wünscht, dass ihr Sohn Soldat wird (JŒ II: 201), fürchtet Andr8 ganz besonders das Musterungskomitee, vor dem er seine Anomalie entblößen werden muss. Er verleugnet deshalb lange Zeit seine Sexualität und versucht, sich durch Diäten und gymnastische Übungen gegen die »r8volte de la BÞte« (JŒ II: 202) aufzulehnen. Damit entspricht er den Anforderungen einer Gesellschaft, die die Jugend von Geburt an von jeglicher Erotik fernzuhalten versucht: »Sauf pour na%tre, Andr8 Marcueil n’eut d’abord point de contact avec la femme, 8tant allait8 par une chHvre, comme un simple Jupiter.« (JŒ II: 200) Um ihn in einer asexuellen Reinheit zu halten, wird er von einer Ziege gesäugt, was der erzählerischen Ironie zum Opfer fällt, ist Jupiter doch gerade nicht für seine Enthaltsamkeit bekannt. Andr8 beginnt dann auch bald, den Gott nachzuahmen und seine Hypervirilität sowie seine Überlegenheit auszutesten. Hinsichtlich seines Auftretens im Eingangskapitel fragt sich der Erzähler : »Mais pourquoi Marcueil 8prouvait-il le besoin de se cacher et de se trahir / la fois ? De nier sa force et de la 46 Dass schon der Name des Helden auf die libertinen Helden par excellence verweist – Laclos’ Marquise de Merteuil und Sades Noirceuil (aus Juliette ou les prosp8rit8s du vice) – notiert Patrick Besnier : »Le Surm.le. Notes et Variantes«, in JŒ II: 777–787, hier: 778.

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prouver ?« (JŒ II: 203) Es wird deshalb zu fragen sein, was diese Widersprüchlichkeiten über das politische Imaginäre offenbaren, wie der Text mit ihnen umgeht und ob und wie er sie auflöst.

3.1.

Das Phantasma nationaler Überlegenheit

Vor dem Radrennen, das der amerikanische Chemiker William Elson und der Ingenieur Arthur Gough geplant haben, behauptet der Franzose Marcueil, dass es eines chemischen Dopingmittels nicht bedürfe: Beim Radfahren, so argumentiert er, ruhen sich die Beine abwechselnd aus, was Ermüdungserscheinungen entgegenwirke (JŒ II: 192). Während des Rennens bemerkt der dem Fünf-Mann-Rad zur Bodenhaftung angehängte zwergwüchsige Bob Rumble mehrfach, dass dem Rad etwas folge (JŒ II: 220 u. 224). Weil dies so unwahrscheinlich ist, glaubt ihm niemand, bis der hinterste Radfahrer, Ted Oxborrow, der das Rennen aus seiner Perspektive schildert, in einiger Entfernung vor der Fünf-Mann-Maschine einen ›Schatten‹ bemerkt, der dort, mangels Licht, eigentlich nicht sein dürfte: Es ist der »Pédard« (JŒ II: 229), scheinbar ein unsicherer Radfahrneuling auf einem alten Drahtesel. Um nicht mit ansehen zu müssen, wie der P8dard von der Lokomotive, die mit 300 Stundenkilometern von hinten auf ihn zufährt, zerstückelt wird, schließt Oxborrow die Augen, nachdem sich folgendes Bild in seine Netzhaut eingebrannt hat: Il portait lorgnon, n’8tait pas barbu si l’on veut, mais sali d’une barbe clairsem8e et frisott8e. Il 8tait vÞtu d’une redingote et coiff8 d’un chapeau haut de forme gris de poussiHre. La jambe droite de son pantalon 8tait retrouss8e, comme s’il e0t fait exprHs afin d’avoir 5 plus de chances de s’empÞtrer dans sa cha%ne ; et la jambe gauche serr8e d’une pince de homard. Ses pieds, sur leurs p8dales en caoutchouc, 8taient chauss8s de bottines / 8lastiques. Sa machine 8tait un corps-droit / caoutchoucs pleins, comme on n’en trouverait plus au poids de l’or… et elle devait peser lourd ! Bon nombre de ses rayons – des rayons directs – avaient 8t8 industrieusement remplac8s par des baleines 10 de parapluie, dont les fourchettes, qu’on n’avait point it8es, ballaient au gr8 des roues en forme de 8. Surpris d’en entendre le r8gulier cliquetis, ainsi que le grincement des roulements us8s, une bonne demi-minute aprHs ce que je supposais Þtre la catastrophe, je rouvris les yeux et n’en pus les croire, ne pus mÞme les croire ouverts : le P8dard se pr8lassait 15 toujours / gauche, sur le ballast ! (JŒ II: 230)

Was Oxborrow hier vor seinem inneren Auge sieht, ist ein Deckbild, das den zerstückelten Körper des Radfahrers verbergen soll. Es repräsentiert einen altmodischen französischen Bourgeois mit Gehrock, Zylinder und Stiefeletten mit Gummieinsätzen (Z. 3 u. 6f.) – aus der Mode gekommene und als Sportkleidung

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lächerliche Kleidungsstücke.47 Der unsichere Radfahrer, der mit Zwicker und schütterem Bart (Z. 1f.) die Zeichen mangelhafter Virilität trägt, kann das Fünferrennrad wohl kaum überholt haben. Oxborrow macht sich vor, dass der Radfahrer zerstückelt wird (Z. 13), indem er vor seinem inneren Auge das Bild des P8dards vor der Lokomotive arretiert. Nur so kann er die Vorstellung von seiner Überlegenheit und der seiner Mitstreiter aufrechterhalten. Das Bild funktioniert also wie das lacanianische Phantasma, das eine erlebte oder drohende Minderwertigkeit abwehrt und mit einem schützenden Bild überdeckt.48 Oxborrow traut folglich seinen Augen nicht, als er erkennen muss, dass die imaginierte Katastrophe nicht stattgefunden hat (Z. 14f.). Während sich sein Phantasma in Luft auflöst, formuliert der Text ein weiteres phantasmatisches Bild.49 Statt eines lächerlichen P8dards sieht Oxborrow nun Folgendes: [U]n coureur 8trange pr8c8dait la locomotive ; mais il ne montait pas un corps-droit / caoutchouc pleins ! mais il ne portait pas de bottines / 8lastiques ! mais sa bicyclette ne grinÅait pas, sinon dans mes oreilles qui bourdonnaient ! Mais il n’avait pas cass8 sa cha%ne puisque sa bicyclette 8tait une machine sans cha%ne ! Les bouts d’une ceinture 5 l.che et noire flottaient derriHre lui et caressaient l’8peron de la locomotive ! C’8tait ce que j’avais pris pour un garde-boue et pour les pans d’une redingote ! Sa culotte courte 8tait 8clat8e sur les cuisses par le gonflement de ses muscles extenseurs ! Sa bicyclette 8tait un modHle de course dont je n’ai jamais vu le pareil, aux pneus microscopiques, au d8veloppement sup8rieur / celui de la quintuplette ; il l’actionnait en se jouant et en 10 effet comme s’il e0t p8dal8 / vide. L’homme 8tait devant nous : je voyais sa nuque, houleuse de cheveux longs ; le cordon de son lorgnon – ou une boucle noire de sa chevelure – 8tait rabattu en arriHre par le vent de la course jusque sur ses 8paules. (JŒ II: 231)

Der Andere – hier der Amerikaner – sieht also im Franzosen nur den schwachen Intellektuellen – ein Trugbild, hinter dem sich in Wirklichkeit ein herkulischer Körper verbirgt, für den es ein Leichtes ist, sowohl die Lokomotive als auch die »quintuplette« zu überholen. Als Marcueil, der vermeintliche P8dard, schließlich als erster ins Ziel fährt, erfasst ihn das Fanal wie eine Apotheose (ebd.). Er hat allerdings kein Publikum, da das Rennen weniger lang als erwartet gedauert 47 Um 1900 haben Jackett und Sakko die Redingote in der Alltagsmode größtenteils abgelöst. Letztere wird jetzt nur noch zu festlichen Anlässen getragen, wirkt im Alltag lächerlich und gilt als »savante«. Siehe dazu Chenoune 1993: S. 121f. Stiefeletten mit Gummieinsätzen waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts modern (siehe ebd.: S. 126); den Zylinder beschreibt Chenoune als den »couvre-chef du bourgeois louis-philippard fix8 par Daumier« (ebd.: S. 127), um 1900 wird er immer mehr zum Hut für besondere Anlässe (siehe ebd.). Vgl. zur Lächerlichkeit des P8dard auch Philip G. Hadlock, der sie allerdings damit begründet, dass der Übermann Körperkraft als Substitut für Wissen über den Körper akzeptiere (»Men, Machines, and the Modernity of Knowledge in Alfred Jarry’s Le Surm.le«, in SubStance. A Review of Theory and Literary Criticism 35, Heft 3, 2006, S. 131–148, hier S. 146). 48 Beispiel für ein Phantasma ist der Fetisch als Schutz vor dem Bild der Kastration. Vgl. oben Einleitung, Kap. 2, Anm. 80, Vorspiel, Kap. 2, Anm. 45 sowie Teil 1, Kap. III. 49 Annie Le Brun spricht von einer »pr8sence fantime ou fantasm8e« (»Comme c’est petit un 8l8phant !«, in Alfred Jarry : Le surm.le. Paris: Ramsay 1990, S. 141–214, hier S. 173).

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hat. Die »quintuplette« findet bei ihrer Ankunft im Ziel nur rote Rosen und damit den Beweis dafür, dass der Konkurrent das Ziel längst erreicht hat. Marcueil hatte während des Rennens inkognito Rosenblätter an der Fensterscheibe des Zugabteils verteilt, in dem Ellen, die Tochter des Chemikers Elson, reiste. Ellen hatte Marcueils Thesen als Einzige Glauben geschenkt und ihn vor dem Rennen besucht, um ihm dies mitzuteilen. Dabei hatte sie eine Rose in seinem Garten abgebrochen, aber weitere Blumen, die ihr Marcueil schenken wollte, mit dem Argument abgelehnt, sie würden während des Rennens welken. Die französische Panik angesichts einer angelsächsischen Überlegenheit nicht nur in Bezug auf Fahrradrennen50 kommt etwa in Edmond Demolins’ vielbeachteter Schrift A quoi tient la sup8riorit8 des Anglo-Saxons (1897) zum Ausdruck. Demolins führt die Unterlegenheit seiner Nation auf die exzessive intellektuelle Beschäftigung und die einseitige Schulbildung der Franzosen zurück, die die körperliche Ertüchtigung vernachlässige und zu einem zerebralen »surmenage« führe.51 Dem Begriff des Intellektuellen eignet deshalb zur Zeit der Dreyfusaffäre, als Frankreich nach seiner nationalen Identität und nach Strategien sucht, wie man im Wettstreit der imperialen Mächte mit den potenten Rivalen mithalten könnte, eine Ambivalenz bis hin zur pejorativen Konnotation.52 Vor dem Hintergrund dieses diskursiven Kontexts hat man die Stilisierung Marcueils zum bürgerlichen Intellektuellen durch Zwicker und Kleidung wohl zu lesen, ebenso wie die Figur des herkulischen Radfahrers, die sich insofern als Wunscherfüllungsphantasie der bürgerlich-republikanischen Gesellschaft ausweist: Marcueil, der in seinem Alltagsleben als schwächlicher Intellektueller auftritt und in Gesellschaft vorzugsweise mit literarischen Kenntnissen glänzt, überbietet seine Rivalen allein aufgrund seiner Körperkraft und der hervorragenden Technik53 seines Rades. Er zerstört dadurch das Überlegenheitsgefühl des Amerikaners, der die für ihn desillusionierende Wirklichkeit erkennen muss. Marcueil verkörpert den modernen Helden, wie er in der Tour de France gefeiert werden wird, einem Ereignis nationaler Selbstvergewisserung und pa50 Bei Langstreckenrennen zu Jarrys Zeiten triumphierten gewöhnlich englische und amerikanische Radsportler. Siehe hierzu Keith Beaumont: Alfred Jarry. A Critical and Biographical Study. Leicester : Leicester UP 1984, S. 245. 51 f quoi tient la sup8riorit8 des Anglo-Saxons. Paris: Librairie de Paris [1897], siehe bes. das Kapitel »Le r8gime scolaire franÅais forme-t-il des hommes ?«, S. 3–14. Siehe dazu auch Datta 1999: S. 122 und Forth 2004: S. 209–211. Zur zeitgenössischen Debatte über die fortschreitende Zivilisation in ihrem negativen Einfluss auf die männliche Genderperformanz siehe ebd.: S. 9–13 u. 70–81 sowie ders. 2007. 52 Siehe das Kapitel »The Jew as Intellectual, the Intellectual as Jew« in Datta 1999: S. 85–116. Vgl. auch Forth 2004: S. 71 u. 77–80. 53 Inwiefern der technische Fortschritt als Ersatz für politische Stärke und als Instrument der nationalen Überlegenheit gesehen wird, erkennt man besonders auf den Werbeplakaten für die olympischen Spiele 1900 in Paris, die ganz vom Eiffelturm beherrscht werden, der die Revolution euphorisch besetzt. Vgl. oben Teil 1, Kap. III, Anm. 46.

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triotischer Selbstdarstellung, dessen Idee während der Dreyfusaffäre geboren worden war.54 Die Rosen auf der Zielgeraden sind insofern weniger an Ellen als Individuum adressiert als vielmehr einerseits an den französischen Leser, der seine Wunscherfüllung genießen kann, sowie andererseits an die Amerikaner, die durch ihren Anblick ihre Unterlegenheit eingestehen müssen. Denn schließlich wird das Rennen aus der Perspektive eines der Radfahrer geschildert, dessen Bericht im New York Herald erscheint.55 Der Text bedient die kollektiven Hoffnungen noch weiter, als Marcueil einen Tag später auf sein Schloss einlädt. Anlass ist die Demonstration der Großtaten des »Indien« (JŒ II: 197 et passim) – ein unter anderem von Theophrast von Eresos beschriebener Hindu, der es auf siebzig Vollzüge des Geschlechtsakts innerhalb eines Tages gebracht haben soll. Marcueil selbst bedarf nach dem Radrennen keiner Erholung, während der Amerikaner Elson sich ausruhen muss, auch wenn er – ganz im Gegensatz zu Marcueil – nur zugeschaut und sich körperlich nicht betätigt hat (JŒ II: 233). Der Roman höhlt das Überlegenheitsgefühl des Amerikaners noch weiter aus, als William Elson im zweiten zentralen Wettkampfkapitel die patria potestas über seine Tochter Ellen verliert. Die – zumindest im Glauben ihres Vaters – jungfräuliche Ellen bietet sich dem als Indianer verkleideten Marcueil zu dessen Überraschung als Partnerin an – anstelle der für diese Aufgabe vorgesehenen sieben Prostituierten. Mit ihm zusammen will Ellen den Rekord des »Indien« brechen. Nach vollendeter Performanz fühlt sich der »Surm.le«, wie er jetzt erstmals genannt wird, den Menschen weit überlegen: Et le Surm.le salua, dans un rugissement de bÞte troubl8e dans sa bauge, Bathybius de la mÞme phrase (parce qu’il n’y en avait pas d’autre / dire) dont l’8frit TonnerreTonitruant, dans les Mille et Une Nuit, accueille l’ambassade du vizir : »Qui es-tu, Þtre humain ?« La foule fourmillait par les galeries, et, tout au bout du dernier salon, minuscules, des hommes, joueurs d’instruments, stridulaient, comme des grillons dans une bo%te. (JŒ II: 252) 54 Siehe zur Idee der Tour de France Duclert 2010: S. 671. Zum Zweck der Tour als Selbstvergewisserung nach innen und als Selbstdarstellung nach außen siehe Dietrich Scholler : »Die Geburt der Tour de France aus dem Geist des Sportjournalismus. Zur medialen Konstruktion eines Kollektivsymbols«, in PhiN. Philologie im Netz 57 (2011), S. 34–48, bes. S. 39f. u. 43f. 55 Der Bericht endet folgendermaßen: »C’est ainsi que la quintuplette du Perpetual-MotionFood a gagn8 la course des Dix Mille Milles ; mais ni Corporal Gilbey, ni Sammy White, ni George Webb, ni Bob Rumble, ni je pense, Jewey Jacobs dans l’autre monde, ni moi qui signe pour eux tous cette relation : Ted Oxborrow, nous ne nous consolerons jamais d’avoir trouv8, en arrivant au poteau – oF personne ne nous attendait, car personne ne pr8voyait une arriv8e si prompte – ce poteau couronn8 de roses rouges, les mÞmes obs8dantes roses rouges qui avaient jalonn8 toute la course… Personne n’a pu nous dire ce qu’8tait devenu le fantastique coureur.« (JŒ II: 232)

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Marcueils überlegene Perspektive, aus der er über der Menge ameisengroßer Menschen steht und sich selbst als den furchteinflößenden Ifriten aus der Geschichte vom Fischer und dem Dschinn imaginiert, wird im folgenden Kapitel von der Reaktion der Gesellschaft auf die Großtaten des ›Indianers‹ bestätigt: L’Indien nu et vermillonn8 fut emport8 dans une cohue accaparante, la mÞme qui acclame un champion, un acteur ou un roi. L/-bas, au bout de la file illumin8e des salons, des archets s’8nervaient / faire jaillir des cordes quelque chose comme le Te Deum de l’amour exasp8r8. 5 Un habit noir fleuri d’un parterre de d8corations exub8rantes et mal soign8es – car, comme une mauvaise herbe, s’y glissait le M8rite agricole – s’empressa vers Marcueil, qui, / l’abri de son faux 8piderme de Peau-Rouge, reconnut Saint-Jurieu. – La d8population n’est plus qu’un mot, larmoya d’admiration le s8nateur. – A peine un mot, chantonna le g8n8ral. 10 – La patrie peut compter tous les jours sur une centaine de d8fenseurs de plus, s’8criHrent-ils ensemble. (Ebd.)

Indem die Menge dem ›Indianer‹ zu Ehren eine Art Te Deum anklingen lässt, vollendet sie gewissermaßen die Apotheose, die schon im Kapitel »La course des dix mille milles« vorbereitet worden war. Die Normalsterblichen erheben den ›Indianer‹ zum Messias, was allerdings spätestens dann der Ironie zum Opfer fällt, als der Erzähler bemerkt, dass sich Vertreter des Landwirtschaftsverdienstordens unter die Menge gemischt haben. Mit dem Bezug auf die Entvölkerungsdebatte und ideologische Schriften wie etwa Zolas wenige Jahre zuvor erschienenem Roman F8condit8 stellt der Text dar, wie die Gesellschaft sofort versucht, Marcueils Potenz für das Vaterland zu vereinnahmen. Über Marcueils Vergöttlichung, den Vergleich mit der Ehrerbietung gegenüber einem König und das Te Deum, das im Ancien R8gime für höfisches und staatliches Zeremoniell verwendet und bei Festlichkeiten zu Ehren des Königs und etwa bei der Geburt des Dauphin angestimmt wurde, bis die Marseillaise es ablöste,56 legt Jarrys Roman den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen dem Streben nach nationaler Männlichkeit und der Suche nach einem virilen Königsersatz offen.

3.2.

Herkules und das virile Erbe der Revolution

Liest man den Roman als nationale Wunscherfüllungsphantasie, so eröffnet sich eine politisch-allegorische Perspektive gerade an einer Stelle, die die Forschung 56 Siehe Albert Gerhards/Friedrich Lurz: »Te deum«, in: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. IX. Freiburg u. a.: Herder 31993, Sp. 1306–1308, hier Sp. 1307f. und Jean Meyer : La naissance de Louis XIV: 1638. Brüssel: Complexe 1989, S. 144f. Das Te Deum erinnert auch an die sexuelle Vereinigung des Docteur Pascal mit seiner Nichte Clotilde im Schlussroman der Rougon-Macquart und an deren forcierten Anklang an das biblische Hohelied.

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immer biographisch gedeutet hat: Im zweiten Kapitel findet sich folgender Hinweis auf einen Großonkel Marcueils, der zu früh gestorben sei und dem Jungen wahrscheinlich seine Potenz vermacht habe: Auguste-Louis-Samson de Lurance, mort le 15 avril 1849, / l’.ge de vingt-neuf mois et treize jours, par suite de vomissure verte non interrompue ; ayant conserv8 jusqu’au dernier soupir une fermet8 de caractHre beaucoup au-dessus de son .ge, l’imagination beaucoup trop f8conde (sic), joint / cela son organisme trop pr8coce sous le rapport de certain d8veloppement, ont puissamment contribu8 aux regrets de douleur oF il a plong8 sa famille pour toujours. Que Dieu lui soit en aide ! (JŒ II: 202, kursiv im Orig.)

Die »Sous-Commission des Interpr8tations« hat in der Surm.le-Exegese der Zeitschrift Subsidia Pataphysica darauf hingewiesen, dass ein Großvater von Jarry den Namen Auguste-Samson Coutouly trug.57 Thieri Foulc bedauert allerdings, dass man Marcueils seltsamen Vorfahren in der Genealogie seines Erfinders noch nicht gefunden habe. Jarry habe gegen Ende seines Lebens obsessiv Erinnerungen an seine Familie und mögliche adlige Ahnen gepflegt. Auch Marcueil habe er ursprünglich zum Aristokraten machen wollen, sich aber dann doch gegen die Partikel vor seinem Namen entschieden.58 Die biographische Erklärung bezieht sich allerdings nur auf einen Teil des Namens von Marcueils Großonkel. Denn Jarry hat den beiden Vornamen seines eigenen Verwandten noch einen dritten hinzugefügt: Louis. Dieser hochgradig besetzte Name politisiert zumindest konnotativ auch die beiden anderen: »Auguste« denotiert als Adjektiv majestätische Erhabenheit und verweist auf den ersten römischen Kaiser Augustus, als dessen Nachfolger sich Ludwig XIV. inszenierte,59 sowie auf den Frankenkönig Philippe Auguste (1165–1223), der in der kollektiven Erinnerung nach 1870 zum »professeur d’8nergie« stilisiert wurde.60 Den Namen »Samson« trägt der herkulische Held aus dem Buch der Richter.61 Außerdem konnotiert der Name für den französischen Leser auch Sanson, den berühmten Henker unter anderem Ludwigs XVI.62 Die Assoziation mit der Revolution mag 57 »Fictions et moutures«, in Subsidia Pataphysica 20–21 (1973), S. 77–81, hier S. 81. 58 »Notes«, in Alfred Jarry : Le Surm.le. Hg. v. T. F. Paris: Losfeld 1977, S. 151–177, hier S. 153, Anm. 21 u. 160, Anm. 41. Foulc spricht von einem Urgroßvater Jarrys anstelle eines Großonkels oder -vaters, was angesichts der Lebensdaten (1789–1830, vgl. La Sous-Commission des Interpr8tations 1973: S. 81) wahrscheinlicher ist. 59 Vgl. G8rard Sabatier : Versailles ou la figure du roi. Paris: Albin Michel 1999, bes. S. 553f. und das dort abgebildete ParallHle de Louis et d’Auguste aus Jean Puget de La Serres Histoire d’Auguste von 1664 (ebd.: S. 553). 60 Siehe Christian Amalvi: Les h8ros des FranÅais. Controverses autour de la m8moire nationale. [Paris]: Larousse 2011, S. 181f. 61 Vgl. zum biblischen Vorfahren des Übermannes FranÅois Raymond: »Du poteau rouge / la chandelle verte. Essai de ’Pataphysique ondulatoire«, in Subsidia Pataphysica 20–21 (1973), S. 19–49, hier S. 25. 62 Sieben Generationen von Henkern folgten einander unter dem Namen Sanson. In der

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für Jarry nicht zuletzt deshalb nahegelegen haben, weil sein Groß- oder Urgroßvater Auguste-Samson im Revolutionsjahr 1789 getauft wurde und 1830 starb.63 Die Vorstellung vom kleinen Auguste-Louis-Samson, der an einem ununterbrochenen Brechschwall stirbt, lehnt sich bildlich an den Tod eines Guillotinierten an. Bezüglich der grünen Farbe des Erbrochenen sei daran erinnert, dass Jarrys Ubu ständig mit der Formel »de par ma chandelle verte« (z. B. JŒ I: 353) flucht.64 Jarry spielt hier möglicherweise unter anderem mit dem Phänomen der Rotgrünblindheit, denn die grüne Farbe irritiert im Zusammenhang mit Talgkerzen, die in der Regel weiß sind; bei gefärbtem Wachs würde man eher die Farbe Rot erwarten, eine Farbe, die den Surm.le wie keine andere beherrscht und an späterer Stelle direkt mit dem Grünen assoziiert wird.65 Setzt man nun den grünen Brechschwall in Analogie zur grünen Kerze, so lässt er sich mit dem roten Blutschwall verknüpfen, den Sanson bei Ludwig ausgelöst hat und der auch an eine Episode in Rachildes einige Jahre zuvor erschienenem Roman Les Hors Nature erinnert. Dort erbricht ein Hund einen Schwall dunkelroten Blutes, nachdem man auf ihn geschossen hat.66 Es ist gewiss gewagt und spekulativ, eine Assoziationskette zu rekonstruieren, die die Imaginationskraft des Lesers so ›fruchtbar‹ erscheinen lässt wie die des verstorbenen Vorfahren des Surm.le.67 Erstens ist Jarry jedoch in seinen Texten bekanntermaßen äußerst spielerisch. Zweitens heißt es im Roman, dass der adlige Vorfahre des Übermannes vorzeitig gestorben sei. Er habe seinen Nachkommen – den nunmehr bürgerlichen Marcueil, der die Adelspartikel

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Schreibung »Samson« referiert etwa Louis-S8bastien Mercier auf Ludwigs Henker (Le Nouveau Paris. Bd. III. Brunswick: Chez les principaux libraires 1800, S. 186). Vgl. auch Victor Hugo: Le Dernier jour d’un condamn8, in ders.: Œuvres complHtes. Roman I. Hg. v. Jacques Seebacher. Paris: Robert Laffont 2002, S. 399–484, hier S. 412 u. 482. Vgl. oben Anm. 58. Unter dem Titel La Chandelle verte wollte Jarry später auch einige seiner Zeitungsartikel zusammenfassen (vgl. D8caudin 2004a: S. 899), was die Relevanz des Bildes der grünen Kerze innerhalb seines Werks belegt. Ich zitiere die Stelle (JŒ II: 265) unten in Kap. 3.6. Schon Charles Baudelaire erwähnt im Salon de 1845 und im Salon de 1846 mehrfach nicht nur die Harmonie von rot und grün, sondern auch die Transformation des Grünen in das Rote: »Quand le grand foyer descend dans les eaux, de rouges fanfares s’8lancent de tous cit8s ; une sanglante harmonie 8clate / l’horizon, et le vert s’empourpre richement.« (Œuvres complHtes. Bd. II. Hg. v. Claude Pichois. Paris: Gallimard [Pl8iade] 1976, S. 423, vgl. auch S. 355 u. 422) »La gueule rose, la gueule d’hydre s’ouvrit toute grande, vomissant un flot pourpre avec un hurlement lugubre, puis la seconde victime tomba, demeura 8tendue en sa suprÞme gr.ce h8raldique, les pattes raides.« (Rachilde 1999: S. 820) Rachilde war mit Jarry befreundet. Die politische Lektüre steht vor der Frage, ob die Lebensdaten des Großonkels auf bestimmte politische Ereignisse zurückverweisen. Seine Lebenszeit fällt teilweise in die Zweite Republik, aber weder am 15. April 1849 noch am 2. November 1846 (29 Monate und 13 Tage früher) fand Bedeutsames statt. Erwähnenswert ist angesichts von Jarrys Namensalmanachen höchstens, dass der Todestag auf den Namenstag Cäsars fällt.

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verloren hat – zwar nicht gezeugt, ihm aber zweifellos seine »pouvoirs« vermacht (JŒ II: 202). Es handelt sich also um eine symbolische Vererbung. Die assoziativen Verknüpfungen bringen das diskursive Konstrukt einer Übertragung der königlichen Potenz auf den Citoyen als neuen Herkules zum Vorschein, die Idee einer symbolischen Vererbung also, die eine zentrale Rolle innerhalb der Diskurse zur Legitimation der Revolution und dabei insbesondere der Enthauptung des Königs gespielt hatte.68 Herkules ist schließlich eine der Vergleichsfolien, an denen die Meisterleistungen des Andr8 Marcueil gemessen werden. Die Notiz im Surm.le ließe sich dann in etwa so lesen: Erst kam Augustus, dann Ludwig, dann Sanson – und schließlich Samson/Marcueil. Der Roman entfaltet also narrativ das Bild von der Inkarnation des Gottes PhalHs als Nachfolger des enthaupteten Val8rius aus Messaline. Die im nationalen Männlichkeitswahn produzierte Wunschvorstellung gelangt mit der Figur des Marcueil zur allegorischen Verkörperung: Endlich ist die im Fin de SiHcleRoman obsessiv wiederholte Impotenz und das Leiden daran, die Rolle des hypervirilen Herkules nicht zu erfüllen, überwunden. Die Figur kann insofern als Produkt einer kollektiven Fantasie gelten, die das Versprechen der Revolution einlöst, nach dem in der republikanischen Gesellschaft jeder zum Herkules werden kann und mit seinem Körper Teil des virilen Körpers der Nation ist. Auf diese Weise würde ich die im Roman deutlich herausgestellte Fiktionalität des Übermannes lesen.69 Vor diesem Hintergrund lässt sich der erste oben geschilderte Widerspruch, um den sich die Narration des Romans entfaltet, im Sinne einer politisch-allegorischen Konstruktion begründen. Denn Andr8 Marcueil erscheint ebenso wie die französische Nation um 1900 nach außen hin impotent und schwach. Die mangelhafte Fassade entpuppt sich allerdings als nur vermeintliche Schwäche, hinter der sich in Wahrheit die potente Virilität eines Hypermannes verbirgt. Auf diese Weise gelangt der Hercules gallicus, eine von den Humanisten geprägte Figur, die den körperlich starken Herkules der Antike umdeutet zur Gestalt eines eloquenten Führers der unterworfenen Völker,70 zu einer neuen Verkörperung. Damit ist Marcueil nicht nur Jarrys Alter Ego, eine Deutung, die unter an68 Vgl. oben Einleitung, Kap. 1. 69 Silvia Henke nennt den »Surm.le« ein »Produkt literarischer Phantasie« (»Verglaste Texte: Zur Wirklichkeit des Junggesellenmythos bei Alfred Jarry, Hermann Burger und Martin R. Dean«, in Beate Ochsner [Hg.]: Jarry : Le monstre 1900/Jarry : Das Monster 1900. Aachen: Shaker 2002, S. 121–139, hier S. 126), bezieht diese Phantasie aber nicht auf politische Sehnsüchte der französischen Gesellschaft um 1900. Vgl. auch Beaumont zu Jarrys »works of pure ›imagination‹« (1984: S. 261). 70 Du Bellay schreibt in der Deffense et illustration: »Vous souvienne […] de votre Hercule Gallique, tirant les Peuples apres luy par leurs Oreilles avesques une Chesne attach8e / sa langue.« (La Deffense, et illustration de la langue franÅoyse. Hg. v. Jean-Charles Monferran. Genf: Droz 2001, S. 180, siehe auch die dortige Anm. 184)

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derem auch daran festgemacht wird, dass die Figur wie ihr Erfinder ohne Vater aufgewachsen und mit ihren dreißig Jahren ungefähr so alt ist wie der Autor, der seinen Roman im Alter von 28 Jahren schrieb.71 Vom Jahr 1901 aus gerechnet, in dem Jarry den Roman verfasst, ist Marcueils Geburt allerdings exakt solange her wie die Niederlage 1871, auch wenn der Text dies verschleiert, indem er das Geschehen auf das Jahr 1920 vordatiert. Der Übermann wird zur Wunschprojektion der Gesellschaft der Dritten Republik, die wie er ›vaterlos‹ ist.72 Der Roman bestätigt die Vorstellung, nach der die französische Republik ihre nationale Überlegenheit immer schon hat und nur noch beweisen muss, auch wenn man sie ihr auf den ersten Blick – mangels eines starken Mannes an ihrer Spitze – nicht ansieht. Jarrys Pataphysik – »la science de ce qui se surajoute / la m8taphysique, […] la science des solutions imaginaires«73 (JŒ I: 668f., kursiv im Orig.) – erlangt insofern eine politische Bedeutung, als mit dem mangelhaften Jedermann Marcueil in der Figur des herkulischen Radfahrers und Sexgottes die imaginäre Lösung des Problems der Republik aufblitzt. Hier erfüllt sich die Vorstellung von den zwei Körpern des bürgerlichen Citoyens, der neben einem natürlichen, grundsätzlich mangelhaften Körper einen perfekten zweiten Körper besitzt, der den politischen Erfolg der Republik garantiert. Dabei übertrifft Marcueil noch Napoleon, auf dessen Modell die Faszination des homme providentiel gründet: Der Übermann kommt von seinem ›Russlandfeldzug‹, dem Radrennen nach Sibirien, als Sieger zurück. Schließlich ersetzt die erotische Eroberung von Ellen Elson, die Marcueil selbst mit Helena assoziiert (JŒ II: 262ff.), über den Verweis auf die Ilias die politische Eroberung und steht damit schließlich auch sinnbildlich für den imperialistischen Triumph. In Jarrys Version der Zweikörperlehre zeigt sich allerdings zugleich auch der Widerspruch zwischen einerseits der Entkörperlichung der Individuen in einer körperlosen politischen Ordnung,74 die ihren Widerhall in der anfänglichen Charakterisierung des Marcueil findet, und andererseits dem hyperkorporalisierten Virilitätsideal. Außerdem deutet sich ein Bruch in der literarischen 71 Vgl. zur Alter Ego-Lektüre Beaumont 1984: S. 257, Besnier in JŒ II: 780, Henke 2002: S. 126 und Fell 2010: S. 167. 72 Marcueils Vater ist tot – über die Umstände dieses Todes wird nichts bekannt; der Leser erfährt nur, dass Andr8 von seiner Mutter und seiner Schwester erzogen wurde (JŒ II: 200). Zur problematischen Individuation, die sich daraus bei Marcueil ergibt, vgl. Ehrich 1988: S. 124, sowie zum Narzissmus als Symptom der vaterlosen Gesellschaft Zima 2009: S. 131– 139. Dass die republikanische Gesellschaft sich selbst als mangelhaft sieht, erkennt man nicht zuletzt daran, dass Marcueil und seine Gäste Hemdeneinsätze tragen, die den Brustkorb auswölben (JŒ II: 190) und wohl für den Anschein von viriler Muskelkraft sorgen sollen. 73 So definiert Jarry die Pataphysik in Les Gestes et opinions du docteur Faustroll, pataphysicien (1911). Siehe dazu Aur8lie Briquet: »Une entreprise de d8construction des autorit8s du tournant du siHcle : les romans d’Alfred Jarry«, in Litt8ratures 65 (2011), S. 37–48, hier S. 39. 74 Vgl. zur »Desinkorporation« von Macht und Subjekt oben Einleitung, Kap. 1 und Vorspiel, Anm. 127.

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Konstruktion des Übermannes schon an, als während des Radrennens einer der Radsportler, Jewey Jacobs, stirbt. Sein verwesender Körper verpestet den Wettkampf daraufhin mit einem beißenden Gestank. Der Text zeigt sich damit einsichtig über die Folgen des nationalnarzisstischen Wettstreits um die Jahrhundertwende, dem als Erstes der Jude75 zum Opfer fällt. Dass die Dreyfusaffäre Bezugshorizont des Romans ist, suggeriert dieser gleich im Incipit, wo eine explizite Thematisierung der Affäre offensiv zurückgewiesen wird: Les hites d’Andr8 Marcueil, au ch.teau de Lurance, en 8taient arriv8s, ce soir-l/, / une conversation sur l’amour, ce sujet paraissant, d’un accord unanime, le mieux choisi, d’autant qu’il y avait des dames, et le plus propre / 8viter, mÞme en ce septembre mil neuf cent vingt, de p8nibles discussions sur l’Affaire. (JŒ II: 189)

Jarry situiert seinen Roman in der Zukunft, geht aber davon aus, dass das Thema Dreyfus auch knapp zwanzig Jahre später noch nicht erschöpft sein wird. Das reflexive Textelement des abjekten76 Jüdischen lädt dazu ein, die thematische Absage als rhetorische Praeteritio zu deuten, die ihren pragmatischen Rahmen nur oberflächlich desavouiert. Wie der Leser schon bald bemerkt, leben der Roman und die in ihm geschilderten Unterhaltungen in großem Maße von Andeutungen und der Verwendung von Codewörtern.77 Insofern wäre die über den Plot entfaltete Reflexion über Männlichkeit und Potenz nicht als Gegenentwurf zur Dreyfusaffäre zu lesen, wie es das Incipit behauptet, sondern in diese einzubetten. Die Thematisierung des Abjekten könnte man daher auch als Seitenhieb auf das Amnestiegesetz vom Dezember 1900 lesen, das alle Akteure im Rahmen der Dreyfusaffäre von ihrer Schuld befreite und die Affäre aus dem öffentlichen Interesse zu verdrängen versuchte. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Surm.le war Dreyfus noch nicht rehabilitiert und, trotz seiner Begnadigung, in Rennes zum zweiten Mal schuldig gesprochen worden.78

75 Zum Verweis auf den Juden vgl. Besnier in JŒ II: 784, dessen Kommentar sich allerdings auf den Satz »Le nom de Jewey Jacobs souligne que celui qui meurt est juif« beschränkt. 76 Vgl. Hadlock zu Jewey Jacobs als dem abjekten Element des Textes (2006: S. 144). Hadlock geht allerdings nicht auf den nationalpolitischen Bezug ein. 77 Vgl. etwa den »Indien«, der die hypervirilen Fähigkeiten des Übermannes andeutet, sowie das Wort »cœur«, das im zweiten Kapitel für den jungen Marcueil das Wort Penis ersetzt und sich damit als Sarrasine-Zitat erweist, denn Zambinella sagt dort: »Je n’ai pas de cœur !« (CH VI: 1070). 78 Siehe zur Verdrängung der Dreyfusaffäre aus dem öffentlichen Interesse zwischen 1899/1900 und 1902 Vincent Duclert: »Un engagement d8mocratique : JaurHs et la troisiHme affaire Dreyfus (1900–1906)«, in ders. (Hg.): Avenirs et avant-gardes en France XIXe et XXe siHcles. Hommage / Madeleine Reb8rioux. Paris: La d8couverte 1999, S. 307–325, bes. S. 307f. u. 316– 318.

328 3.3.

Ikonoklastische Dekonstruktion: Alfred Jarry und die Zweikörperlehre

Intellektuelle Sublimation vs. wilde Körperlichkeit?

Intellektualität wird im Fin de SiHcle einerseits als Ursache für körperliche Schwäche und nationale Impotenz problematisiert. Esprit ist zugleich aber auch die Grundlage der nationalen Identität und legitimiert die kolonialistische mission civilisatrice, um die auch die im ersten Kapitel des Surm.le geschilderte Unterhaltung kreist. Während Marcueil seine Beschäftigung mit der Frage nach der Obergrenze viriler Potenz hier explizit ausstellt, verhüllen die von ihm provozierten Diskussionspartner ihre Neugier, indem sie den rein wissenschaftlichen und intellektuellen Aspekt ihres Interesses am Thema betonen. Die krude Sexualität verschwindet bei ihnen hinter Verweisen auf Cato den Älteren, Diodor von Sizilien, Theophrast, Rabelais, die Geschichten aus 1001 Nacht, den Koran und andere. Eine exzessive sexuelle Betätigung ist für sie entweder Ausdruck einer psychischen Pathologie79 (JŒ II: 196) oder das typische Verhalten der ›Wilden‹. Die bürgerliche Gesellschaft versteht sich darauf, »la bÞte«, das tierisch-triebhafte Es, zu unterdrücken und zu sublimieren. Folglich ist die Frage, die die Schauspielerin Henriette Cyne dem General Sider stellt, als sie wissen möchte, ob er keine Geschichten über den Beweis soldatischer Potenz in den Kolonien zu erzählen habe, auch so verfänglich: – Personne n’ench8rit plus ? dit le g8n8ral. Je crois que nous jouons / la manille ! Et ce jeu-ci est moins s8rieux. Je m’abstiens. « Ce fut un cri : »Oh ! g8n8ral ! 5 – Quand vous 8tiez en Afrique, pourtant ? lui susurra insidieusement sous la barbiche Henriette Cyne. – En Afrique ? dit le g8n8ral. C’est diff8rent. Mais je n’y ai pas 8t8 pendant la guerre. Il peut y avoir des viols, une fois ou deux, pendant la guerre… – Une fois ou deux ? C’est un chiffre, ce sont mÞme deux chiffres, mais pr8cisez lequel, 10 dit Saint-Jurieu. – FaÅon de parler ! je continue, reprit le g8n8ral. Donc, je n’ai 8t8 en Afrique qu’en temps de paix ; et quel est le devoir d’un militaire franÅais / l’8tranger en temps de paix ? Est-ce de se conduire comme un sauvage ou n’est-ce pas plutit d’importer la civilisation et, ce qu’elle a de plus s8duisant, la galanterie franÅaise ? Aussi, quand les 15 moukHres d’Alger apprennent l’arriv8e de nos officiers, Åa les change des brutes d’Arabes qui ne connaissent point les bonnes maniHres, et elles s’8crient : ›Ah, voil/ les FranÅais, ils vont…‹ – G8n8ral, j’ai une jeune fille, dit avec quelque s8v8rit8 et juste / temps William Elson. (JŒ II: 195f., meine Hervorh.)

Der General ist hier darauf bedacht, die mission civilisatrice hervorzuheben, die die französische Kolonialisierung seines Erachtens auszeichnet. Er muss zwar zugeben, dass es dann und wann, allerdings nur im Krieg, zu Vergewaltigungen kommen 79 Siehe Foucault 1976: S. 42–44, 50–67, 90 et passim zur Pathologisierung der Sexualität im 19. Jahrhundert.

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kann, sonst jedoch legt er sein Augenmerk auf die Überlegenheit der französischen Galanterie gegenüber der plumpen Triebhaftigkeit der ›Araber‹. Schon im Ancien R8gime war die Galanterie zum Argument für die Begründung der französischen Überlegenheit geworden. Frankreich hatte sich als die Nation mit dem distinguiertesten Esprit angesehen und sich hierdurch von den ›barbarischen anderen‹ abgegrenzt.80 (Französische) Intellektualität einerseits und sexuelle Triebhaftigkeit sowie die exzessive Darstellung körperlicher Potenz andererseits schließen einander im politisch korrekten Diskurs der bürgerlichen Gesellschaft aus. Dies bekommt auch Marcueil zu spüren, als er, vom General provoziert, seinem Ärger Luft machen will und einen Kraftmesser im Jardin d’Acclimatation demoliert. Nachdem er die von ihm als Bestie bezeichnete Maschine (»C’est une femelle, dit gravement Marcueil… Mais c’est trHs fort.« JŒ II: 212) ›getötet‹ hat, bezeichnet der General ihn abfällig als Tier (JŒ II: 213) und rückt ihn damit in die Nähe der zu zivilisierenden ›Wilden‹. Dass die Galanterie aber nur eine heuchlerische Strategie ist, um die sexuellen Ziele der französischen Offiziere als sublimierte Gutmenschentat auszuweisen, suggeriert spätestens Elsons Einwand, der den General gerade noch rechtzeitig unterbricht. Damit verhindert er, dass die Idee, die schon Henriette Cynes Frage suggeriert, an die diskursive Oberfläche gerät. Cyne gibt zu verstehen, dass der Kolonialismus mehr dem Beweis der soldatischen Potenz der Franzosen dient als der Zivilisierung der Anderen.81 Tatsächlich stellt der General seine eigene Virilität immer wieder auf subtile Weise heraus, nicht zuletzt durch seine Präferenz für dunkles Starkbier, die ihn vom intellektuellen Arzt unterscheidet, der zu Pale-Ale tendiert (JŒ II: 204). Marcueils Virilitätsphantasien, die dem Erzähler zufolge seiner eigenen Schwäche geschuldet sind und die auch die Forschung häufig als Ausdruck eines 80 Siehe Alain Viala: La France galante. Essai historique sur une cat8gorie culturelle, de ses origines / la R8volution. Paris: PUF 2008, S. 374–383 u. 391. 81 Dieses Verständnis von Galanterie als Verführungsstrategie macht aus dem »galant homme« einen »homme galant«. Siehe zur Unterscheidung Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Heidelberg: Winter 2011, S. 82. Viala nennt diese Form von Galanterie »galanterie licencieuse« (2008: S. 375 u. 481). Die Figur der Henriette fungiert immer wieder als diejenige, die die Inkonsistenzen der Darlegungen der Männer aufzudecken droht, z. B. wie folgt: »J’ai observ8, dit Bathybius, / BicÞtre un idiot, 8pileptique en outre, qui s’est livr8 toute sa vie, laquelle dure encore, / peu prHs sans interruption / des actes sexuels. Mais… solitairement, ce qui explique bien des choses. – Quelle horreur ! dirent plusieurs femmes. – Je veux dire que l’excitation c8r8brale explique tout, reprit le docteur. – Alors, ce sont les femmes qui vous la coupent ? questionna Henriette. – Je vous ai pr8venue que c’8tait un idiot, mademoiselle. – Mais… vous parliez de ses… capacit8s c8r8brales ! Alors il n’8tait pas si idiot que Åa, dit Henriette. – Ce n’est d’ailleurs pas le cerveau, c’est la moelle qui est le centre de ces 8motions-l/, rattrapa Bathybius.« (JŒ II: 196) Wie man sieht, muss Bathybius seine Äußerungen drehen und wenden, um die sichere Distanz zum besprochenen pathologischen Fall zu wahren, während Henriette sie aufzubrechen versucht.

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individuellen, auf einem Minderwertigkeitskomplex gründenden Narzissmus gedeutet hat,82 können durchaus als beispielhaft für die Gesellschaft, die hier exemplarisch durch einige typische Vertreter repräsentiert ist,83 bezeichnet werden. Nicht allein Marcueil muss ständig seine Überlegenheit beweisen; sein Minderwertigkeitskomplex ist ein kollektives Phänomen. Daher ist der Verweis auf die Dreyfusaffäre auch insofern bedeutsam, als in deren Zuge die Armee und insbesondere der Kolonialismus als Garanten für die Potenz der Nation herangezogen wurden.84 Le Surm.le stellt also heraus, dass die vom General entworfene kulturelle Grenze zwischen dem kultivierten französischen ›Wir‹ und den wilden Anderen zusammenzubrechen droht: Eine Begründung des Kolonialismus mit der mission civilisatrice und der französischen Sublimationsfähigkeit läuft Gefahr, sich selbst zu widersprechen, wenn dieser gleichzeitig der Kompensation mangelnder nationaler Virilitätsbeweise dient. Auch Marcueil selbst stellt die Grenze mehrfach in Frage, etwa als sich die Gesprächsteilnehmer schließlich darauf einigen, dass den Rekord sexueller Performanz ein von Theophrast beschriebener »Indien« hält. Cynes Frage, ob es sich um einen »homme rouge avec un tomahawk et des scalps, comme dans Fenimore Cooper« (JŒ II: 197f.) handele, also um einen ›Wilden‹, wird von der Gesellschaft als kindische Naivität zurückgewiesen. »Indien« referiere vielmehr auf einen Hindu, dessen sexuelle Potenz in ein dichtes Netz literarischer Verweise auf Plinius, Athenaios und Rabelais eingebettet wird, was die Gesprächsteilnehmer wiederum ihrer Intellektualität versichert. Die geschilderte Unterhaltung führt vor, wie sich die Gäste von Darwins Thesen abzugrenzen versuchen und sich für Vertreter des nietzscheanischen Übermenschen halten, der sich vom Tier entfernt und seine Überlegenheit durch die besondere Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten beweist.85 Nachdem der Arzt den Hindu in 82 Der Erzähler stellt fest, dass es ein häufig beobachtetes Faktum sei, dass gerade die Schwächsten sich in ihrer Phantasie besonders häufig mit physischen Heldentaten befassen (JŒ II: 191). Zu Minderwertigkeitskomplex und Narzissmus im Surm.le vgl. Linda Klieger Stillman: »Machinations of Celibacy and Desire«, in L’esprit cr8ateur 24 (Heft 4, 1984), S. 20– 35, hier S. 35, Ehrich 1988: S. 121 und Fell 2010: S. 164–167. 83 Versammelt sind unter anderem ein General, ein Senator, ein Mediziner, eine Aristokratin, ein Ingenieur, ein Kardinal, eine Schauspielerin und ein amerikanischer Chemiker. Abgesehen von der Aristokratin und der Schauspielerin spielen die anwesenden Frauen keine gesellschaftliche Rolle und werden nur als Satelliten ihrer männlichen Bezugspersonen erwähnt (JŒ II: 189). 84 Siehe Forth 2004: S. 12 sowie De Vogü8s Roman Les Morts qui parlent. 85 Dass sich Le Surm.le auf den Übermenschen bezieht, bezeugt schon der Titel unmissverständlich. Jarry kannte Nietzsche seit 1889 aus dem Philosophieunterricht. Siehe dazu Foulc 1977b: S. 174. Vgl. zur Nietzsche- und Darwinrezeption der vitalistischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts Reinhard Krüger: »›Potente vitalit/‹ oder der Übermensch in seiner Kunstwelt. Androiden, Athleten und Aviatiker bei Jarry, Apollinaire und Marinetti«, in Leopold/Scholler 2010: S. 295–316, hier S. 297–299.

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eine exotische Ferne gerückt hat, stellt Marcueil fest, dass es ganz egal sei, woher der »Indien« komme: »le pays n’y fait rien. Je suis de votre avis, cette phrase de Rabelais sonne majestueusement : ›l’Indien tant c8l8br8 par Th8ophraste‹, et il serait regrettable que ce ne f0t pas un vrai Indien, Delaware ou Huron, afin de r8aliser votre d8cor imaginaire.« (JŒ II: 198) Marcueil suggeriert, dass die Literarisierung zwar einen gebildeten Eindruck mache, die Vorstellung seiner Gesprächspartner in Wirklichkeit aber dem Bild eines wilden Indianers, wie es Coopers Romane zeichnen, näher komme. Er lässt den Unterschied zwischen sublimiertem Surhomme und triebhaft-sexuellem, exotischem Surm.le auf provokante Weise in sich zusammenfallen, indem er meint, dass es unerheblich sei, woher der »Indien« komme und dass jeder, auch ein Weißer, seine »prouesse« performieren könne (ebd.). Er dekonstruiert die Differenz zwischen ›Über-‹ und ›Untermenschen‹, als seine Gäste die männliche Potenz an der maximalen Zahl der Geschlechtsakte festmachen wollen: »les savants, vous l’avez entendu, s’en tiennent / l’avis des sauvages du centre de l’Afrique, lesquels, pour exprimer les nombres sup8rieurs / cinq – qu’il s’agisse de six ou de mille – agitent leurs doigts en disant : ›Beaucoup, beaucoup‹ […].« (JŒ II: 196f.)86 Marcueil greift nationale Identitätsentwürfe gezielt an und provoziert seine Zuhörer, wenn er ganz nebenbei bemerkt »que les nations sont dues au rassemblement d’un trHs grand nombre de premiers venus« (JŒ II: 206). Die Inkonsistenzen des französischen Überlegenheitsdiskurses werden noch weiter ausgeführt, als Marcueil und Ellen den Rekord des Hindu brechen. Der als Indianer verkleidete Marcueil fungiert zuerst deutlich als Gegenbeispiel für die 86 Gordon zeigt, dass Jarry immer wieder Fortschritt und Atavismus engführt (2009: S. 245f.). Zu Le Surm.le schreibt sie: »Le Surm.le (1901), qualified by Jarry as ›Roman moderne‹, is a paean on Darwin and Spencer’s idea of the survival of the fittest. The hero, Andr8 Marcueil, represents a perfected representative of the evolution of the species […]. In a strange way, the man of the future is a throwback, comparable in prowess to a monkey. Would modern progress in fact be the equivalent of atavism, regression? […] The ink drawing that illustrates Le Surm.le portrays a naked man with a wooden club, a clear reference to prehistoric man.« (Ebd.) Sie bezieht sich auf folgende Äußerung des Arztes in Jarrys Roman: »en ce temps oF le m8tal et la m8canique sont tout-puissants, il faut bien que l’homme, pour survivre, devienne plus fort que les machines, comme il a 8t8 plus fort que les fauves… Simple adaptation au milieu… Mais cet homme-l/ est le premier de l’avenir…« (JŒ II: 269). Auch Bettina L. Knapp stellt die Frage nach der Anpassungsfähigkeit des Surm.le in einem Aufsatz, der allerdings einige inhaltliche Fehler aufweist (»Jarry’s The Supermale: The Sex Machine, the Food Machine, and the Bicycle Race. Is it a Question of Adaptation?«, in Nineteenth Century French Studies 18, Heft 3–4, 1990, S. 492–507). Falsch sind die Behauptungen, dass Marcueil einer der fünf Radfahrer auf der »quintuplette« sei und das Rennen aus seiner Perspektive schildere, sowie die Beschreibung der Einnahme des Dopingmittels und der Hinweis auf die geplante Dauer des Rennens und das Alter des Protagonisten (ebd.: S. 497–500). Außerdem bezeichnet nicht Marcueil Ellen als Reinkarnation einer antiken Königin (ebd.: S. 503), sondern umgekehrt. Zumindest fragwürdig ist die These, dass die Protagonisten keinerlei Emotionen zeigen (ebd.: S. 493).

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in den ersten Kapiteln des Romans ausgestellte »galanterie franÅaise«. Im Kapitel »Dames seules« erscheint er in den Augen der versammelten Prostituierten als unhöflicher Wilder (»Il n’est pas poli, le sauvage. […] – Il n’a pas d’usage, expliqua Virginie, qui se piquait d’8ducation.« JŒ II: 240), der den Frauen zufolge sicherlich noch nie in Berührung mit der Zivilisation gekommen ist: »C’est idiot, dit Virginie. Ce sauvage qui ne sait pas le franÅais doit n’avoir jamais vu de serrure : il l’a manœuvr8e / l’envers. Il a cru nous ouvrir.« (Ebd.) Aus der überlegenen Position der Nation mit der mission civilisatrice heraus kann Virginie annehmen, dass der ›Indianer‹ sicherlich kein Französisch spricht. Ihm wird schließlich sogar seine Menschlichkeit abgesprochen, als eine der Frauen von seinem Schausteller (»montreur«, ebd.) spricht und ihn damit implizit zum Zirkusaffen herabwürdigt. Nach vollendeter Performanz jedoch singt man Marcueil zu Ehren das Te Deum und preist seine Potenz als Rettung der Nation: Paradoxerweise soll der Wilde nun die französische Souveränität garantieren.

3.4.

Hysterie und Tragik der modernen Männlichkeit

Warum muss Marcueil seine Hypervirilität sowohl verbergen als auch ausstellen? Philip G. Hadlock hat überzeugend dargelegt, dass sich das männliche Subjekt in Jarrys Roman immer nur performativ der ihm zugeschriebenen Autonomie vergewissern könne, aber kein echtes Wissen über seinen Körper und seine Sexualität erlangen dürfe. Hadlock beschreibt die Maschine deshalb als einen Fetisch, der den Mangel an echter Kenntnis verdeckt und die Hysterie darüber, worin die männliche Geschlechtsidentität eigentlich bestehe, durch die selbstversichernde Demonstration von Virilität und Stärke zu beruhigen versuche.87 In diesem Sinne liest er den Anzug, der den Körper des jungen Marcueil kaschiert und sein Genital notdürftig verbirgt, als Symbol für das verbotene Wissen über den männlichen Körper.88 Die Szene beim Schneider zeigt außerdem, dass Marcueil im Gegensatz zu seinen Altersgenossen den Sinn des Übergangsritus89, der mit dem Tragen des Kommunionsanzuges markiert wird, nicht versteht: Le petit Andr8 ne comprit pas trHs bien pourquoi les hommes, – qui sont les petits garÅons qui ont plus de douze ans – ne peuvent plus Þtre habill8s par une couturiHre… et il n’avait jamais vu son sexe. Il ne s’8tait jamais regard8 que tout vÞtu dans une glace, au moment de sortir. Il se jugea

87 Hadlock 2006: bes. S. 133–136, 140 u. 146. 88 Ebd.: S. 134. 89 Siehe grundlegend Arnold van Gennep: Les rites de passage. Ptude syst8matique des rites. Paris: Picard 1991.

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trHs laid sous le pantalon noir… et pourtant ses jeunes camarades 8taient si fiers de l’inaugurer. (JŒ II: 201)

Marcueils Kameraden sind stolz darauf, ihr »costume d’homme« (JŒ II: 200) einzuweihen, er aber versteht nicht, dass ihr Stolz darin gründet, dass sie hierdurch als sexualisierte Subjekte wahrgenommen und in die Männerwelt aufgenommen werden. Er scheint jedoch bald etwas anderes zu verstehen: [Q]and il en vint / conna%tre les filles – ce qui est rituel aprHs le baccalaur8at de rh8torique, et Marcueil avait une dispense d’un an, soit un an d’avance – les filles durent s’imaginer qu’il n’8tait, comme les hommes, »homme« que quelques instants, puisqu’il n’8tait mont8 chez elles que »pour un moment«. (JŒ II: 201)

Der Erzähler stellt hier fest, dass das Mann-sein an den Akt gebunden ist, der dieses beweist: Ein Mann ist immer nur in dem Moment ›Mann‹, in dem er seine Virilität performativ in Szene setzt. Damit steht die Männlichkeit als solche in Frage und die Tatsache, ein »costume d’homme« zu tragen, sagt allein noch nichts über seinen Träger aus. Der unmittelbare Konnex von biologischer Maskulinität und sozialer Männlichkeit ist auseinandergebrochen; Virilität wird einem Mann nicht als essentiell zugeschrieben.90 Der Leser erfährt dies schon im Eingangskapitel, als Marcueil zwar den Inbegriff des normalen Mannes verkörpert, aber zugleich als mangelhaft dargestellt und für impotent gehalten wird. Marcueil hat verstanden, dass Virilität erst bewiesen werden muss und dem modernen Mann keineswegs allein auf der Grundlage sozialer Riten zukommt. Deshalb kann er auch bewusst »le neutre« (JŒ II: 204) praktizieren, wie es der Erzähler feststellt, als Marcueil in Gesellschaft eine Mischung aus Pale-Ale und Stout bestellt: »le half-and-half« (ebd.). Der junge Marcueil erfährt beim Schneider erstmals, dass sein Geschlechtsorgan und damit metonymisch seine Männlichkeit dem Vergleich ausgesetzt sind und dass er Normen zu entsprechen hat. Da er bald die Erfahrung macht, dass seine Potenz die der anderen bei weitem übertrifft (vgl. JŒ II: 202), kann sein Streben nach Hyperperformanz zwar als Ausdruck einer Genderrollenunsicherheit gelesen werden. Dies muss aber nicht allein einem persönlichen Minderwertigkeitskomplex entspringen.91 Marcueil steht angesichts der beschämten Reaktionen des Schneiders und seiner Mutter vor allem vor der Frage, wann er seine Männlichkeit beweisen soll und wann nicht. Sein Ziel ist es, seinen Körper so zu formen und zu disziplinieren, dass er dem Wunsch seiner Mutter entsprechend Soldat werden kann; sein Mittel hierfür ist die Gymnastik, die im Fin de SiHcle der Austragungsort der von Hadlock 90 Vgl. im Gegensatz dazu beispielsweise Sades 120 journ8es de Sodome, wo die mangelnde Erektionsfähigkeit des Bischofs keineswegs zu dessen sozialer Entmächtigung führt. Seine gesellschaftliche Macht beruht auf seinem Stand und garantiert seine nicht hinterfragte Männlichkeit. Vgl. hierzu oben Einleitung, Kap. 2, Anm. 113. 91 Diese beiden Aspekte fokussiert Ehrich 1988: S. 121.

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beschriebenen Problematik ist. So wird die sportliche Betätigung in der Schule einerseits damit begründet, die erwachende Sexualität der Jugend zu kontrollieren und diese von ihr abzulenken.92 Andererseits macht die Regierung den gymnastischen Körperkult zum Instrument der nationalen Revirilisierung.93 Insbesondere seit der Verbreitung von Demolins’ Thesen verfolgt die sportliche Erziehung der Jugend das vorrangige Ziel, die nationale Männlichkeit zu beweisen.94 Die hierfür ins Leben gerufenen »bataillons scolaires«95 kommentiert Jarry explizit. Bei einer Umfrage des Mercure de France im Jahr 1897 zum Thema L’Alsace-Lorraine et l’8tat actuel des esprits antwortet er auf die Frage »Pr8voit-on un moment oF l’on ne consid8rerait plus la guerre de 1870–1871 que comme un 8v8nement purement historique ?« (JŒ I: 1030, im Orig. kursiv) folgendermaßen: »Ptant n8 en 1873, la guerre de 1870 est dans mon souvenir trois ans au-dessous de l’oubli absolu. Il me para%t vraisemblable que cet 8v8nement n’a jamais eu lieu, simple invention p8dagogique en vue de favoriser les bataillons scolaires.« (Ebd.) Im Surm.le inszeniert er mit Marcueils hysterischem Verhalten dann die Widersprüche im zeitgenössischen Verhältnis zum männlichen Körper, wie sie sich etwa in den paradoxen Zielsetzungen des Sportunterrichts äußern.96 Marcueils Verhalten hält auch in seinem Erwachsenenleben noch an. Bevor er 92 Siehe dazu Richard Holt: »Premiers sports«, in Alain Corbin (Hg.): Histoire du corps. Bd. II: De la R8volution / la Grande Guerre. Paris: Seuil 2005, S. 331–364, hier S. 343. 93 Zur Rolle der Gymnastik in der postrevolutionären Gesellschaft siehe Vigarello 2005. Die Zeitschrift Le Gymnaste. Revue des soci8t8s de gymnastique etwa schreibt im Jahr 1888: »Nos gymnastes ont prouv8 que la France n’est pas la nation eff8min8e que certains esprits chagrins ont dit et qu’elle compte des fils vigoureux, prÞts / la d8fendre quand l’heure sonnera.« (S. 55, zit. nach Vigarello 2005: S. 369) Siehe auch Pierre Arnaud/Andr8 Gounot: »Mobilisierung der Körper und republikanische Selbstinszenierung in Frankreich (1879– 1889). Ansätze zu einer vergleichenden deutsch-französischen Sportgeschichte«, in Etienne FranÅois (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich; 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 300–320. 94 In der ersten Ausgabe der 1898 neu gegründeten Zeitschrift La Jeunesse militaire spricht der Herausgeber Dusseau davon, dass die Armee mit der Nation identisch sei und die Jugend um des Ziels der Revanche willen eine spezielle Ausbildung erfahren müsse: »L’id8e premiHre de la pr8paration anticip8e de la jeunesse est n8e le lendemain de nos d8sastres. Mise en pratique, depuis cette 8poque, par des moyens diff8rents, son but est rest8 unique. DHs que l’arm8e a cess8 d’Þtre une caste isol8e dans la Nation, pour devenir la Nation elle-mÞme, l’obligation imp8rieuse d’une 8ducation sp8ciale a 8t8 la cons8quence de cette transformation. […] Le service / court terme ne demande pas seulement des corps assouplis et vigoureux, il exige aussi une 8ducation militaire d8j/ avanc8e […].« (»Notre but«, in La Jeunesse militaire. Bulletin mensuel d’instruction militaire pr8paratoire, 1. Dez. 1898, S. 1f., hier S. 1) 95 Bataillons scolaires war die Bezeichnung der im militaristischen Schulsport von 1881 bis 1890 ausgebildeten Bataillone, in denen der »citoyen-soldat« nach dem Geist der Revolutionäre kreiert werden sollte (siehe Vigarello 2005: S. 368). 96 Siehe zur Hysterie als Ausdruck eines Konflikts zwischen zwei einander ausschließenden Interpellationen oben Teil 1, Kap. I.1, Anm. 38. Vgl. auch oben Jarrys Bemerkung zur Revanche (Anm. 4).

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sich anschickt, den Rekord des Hindu zu brechen, vergewissert er sich der Grenze, die seinen Raum von dem der Gesellschaft trennt: On p8n8trait dans le hall par une double porte. L’Indien ouvrit la premiHre, qu’il referma derriHre lui. Il entendit, au dehors, le bruit du verrou pouss8 par Bathybius et qui ne serait it8 que dans vingt-quatre heures. De son cit8 il tira le verrou int8rieur et 8tendit les bras vers la seconde porte… […]. C’8tait l’Enfin seuls de l’homme et de la femme renonÅant / tout pour se clo%trer dans les bras l’un de l’autre. (JŒ II: 246, kursiv im Orig.)

Marcueil überschreitet die Schwelle und ist besorgt darum, dass die Grenze intakt bleibt.97 Er versucht, sich der Gesellschaft zu entziehen und einen autonomen Raum der Freiheit zu errichten, in dem er und Ellen als reine Individuen agieren können, die als selbstbezüglicher, wiedervereinter Kugelmensch keiner Ideologie unterworfen sind und nicht zu Subjekten werden.98 Dass diese Vorstellung eine Illusion ist und Marcueil unter dem kontrollierenden Blick der Wissenschaft steht, erkennt er allerdings selbst. Die Beobachtung der beiden durch den Arzt inszeniert das von Foucault beschriebene gesellschaftliche Überwachungsdispositiv, das insbesondere mit der bürgerlichen Moderne in den privaten Raum eindringt und das nichtöffentliche Leben ausforscht.99 Ellens Wortspiel – »la Science vous observe, la Science avec un grand S, ou plutit, car ce n’est pas encore assez imposant… : la science avec une grande scie…« (JŒ II: 247) – trifft es auf den Punkt: Die gesellschaftliche Kontrolle beschneidet Marcueils Autonomie, indem sie erstens seine Potenz dem Vergleich aussetzt und damit seine Männlichkeit grundsätzlich in Frage stellt. Sie kastriert ihn außerdem zweitens symbolisch dadurch, dass sie seine gerade bewiesene Potenz z