Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft ?: Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR 9783050071534, 9783050028118

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Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft ?: Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR
 9783050071534, 9783050028118

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
1. Teil. Theoretische und historische Überlegungen zur Sozialstruktur der DDR (1945-1989)
Kapitel 1. Status - Stand - Klasse
Kapitel 2. Die Klassenlagen der DDR-Gesellschaft
Kapitel 3. Die Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft: Zufallsprodukt der Geschichte oder Ergebnis eines planmäßigen Prozesses?
II. Teil. Intergenerationale Mobilität: Die Etablierung und Reproduktion der DDR als Klassengesellschaft
Kapitel 4. Intergenerationale Mobilitätsanalyse: Methodische Überlegungen
Kapitel 5. Mobilitätschancen im historischen Kontext: Offenheit und Rigidität der Klassenstruktur der DDR
Kapitel 6. Die DDR: Von der Aufsteiger- zur Etabliertengesellschaft
Anhang
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Heike Solga Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft?

Heike Solga

Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? : Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR / Heike Solga. - Berlin : Akad. Verl., 1995 ISBN 3-05-002811-4

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: Dagmar Stenzel Druck und Bindung: GAM Media GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

11

I. Teil Theoretische und historische Überlegungen zur Sozialstruktur der DDR (1945-1989) Kapitel 1 Status - Stand - Klasse 1.1 1.2 1.3 1.4

Sozialstrukturforschung in der DDR: Legitimation versus reale Analyse? Sozialstrukturmodelle in der soziologischen Diskussion der anderen sozialistischen Länder Wer ist die herrschende Klasse im real-existierenden Sozialismus? Eigentumsverhältnisse als Strukturdimension staatssozialistischer Gesellschaften

Kapitel 2 Die Klassenlagen der DDR-Gesellschaft 2.1 2.2 2.3 2.4

Einzahl oder Mehrzahl? Die Eigentumsformen der DDR-Gesellschaft Die Klassenlagen des staatlichen Eigentums Die Klassenlagen des genossenschaftlichen Eigentums als Sonderform der sozialistischen Warenproduktion Die Klassenlagen der untergeordneten Produktionsweisen

19 21 35 48 58

63 64 67 78 83 5

Kapitel 3 Die Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft: Zufallsprodukt der Geschichte oder Ergebnis eines planmäßigen Prozesses? 3.1 3.2 3.3

Die Periode der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR (1945-1961) Die Stabilisierungsphase (1961 bis Ende der 1970er Jahre) Die Periode sozialer Redifferenzierung (1980-1989)

93 95 107 119

II. Teil Intergenerationale Mobilität: Die Etablierung und Reproduktion der DDR als Klassengesellschaft Kapitel 4 Intergenerationale Mobilitätsanalyse: Methodische Überlegungen .. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Intergenerationale Mobilitätsanalysen: Instrument der Analyse der Formierung und Reproduktion der Klassenstruktur Datenbasis Operationalisierung des DDR-Klassenschemas Vergleichszeitpunkte Intergenerationale Mobilitätsanalysen der DDR-Gesellschaft im Konflikt mit dem traditionellen Vergleich von Vater und Sohn .. Historische Entwicklung und individueller Lebensverlauf

Kapitel 5 Mobilitätschancen im historischen Kontext: Offenheit und Rigidität der Klassenstruktur der DDR 5.1 5.2 5.3 5.4

Trends in den absoluten Mobilitätsraten: Gab es intergenerationale Mobilität in der DDR? Klassenbarrieren in der DDR-Gesellschaft Reproduktionsmechanismus „Heirat" Rekrutierungsmechanismen der sozialistischen Dienstklassen im Wandel

127 128 130 134 138 141 154

159 160 166 173 180

Kapitel 6 Die DDR: Von der Aufsteiger- zur Etabliertengesellschaft

207

6.1 6.2 6.3

207 214 228

6

Zusammenfassende Thesen Erkenntniszuwachs und Grenzen Weiterführende Fragestellungen

Anhang Anhang 1 Codierung der Klassenlagen der DDR-Gesellschaft

231

Anhang 2 Tabelle 1: Klassenlagen in der DDR - Männer und Frauen aus vier KohortenTabelle 2: Bildungs- und Ausbildungsniveau in der DDR - Männer und Frauen aus vier Kohorten Tabelle 3: Intergenerationale Mobilität in der DDR - Männer und Frauen aus vier Kohorten Tabelle 4: Intergenerationale Mobilität der Männer in der DDR Tabelle 5: Intergenerationale Mobilität der Frauen in der DDR Tabelle 6: Historische Veränderungen in Umfang und Qualität der intergenerationalen Mobilität in der DDR Tabelle 7: Vererbungsindizes der einzelnen Klassenlagen für vier Geburtskohorten der DDR Tabelle 8: Klassenzuweisung durch abgeleitete Klassenlagen Tabelle 9: Spezifizierung des Logit-Modells hinsichtlich der Einflußfaktoren für den Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufstätigkeit - Männer Tabelle 10: Ergebnisse der Logit-Regression hinsichtlich der Einflußfaktoren für den Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufstätigkeit - Männer Tabelle 11: Spezifizierung des Logit-Modells hinsichtlich der Einflußfaktoren für den Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufstätigkeit - Frauen Tabelle 12: Ergebnisse der Logit-Regression hinsichtlich der Einflußfaktoren für den Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufstätigkeit - Frauen Tabelle 13: Erwartungswerte der Zugangschancen zu den sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufstätigkeit

232 233 234 235 236 237 238 239

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Literaturverzeichnis

245

Personenregister

263

7

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1 :

Verteilung der Hauptfunktionen der Mitglieder und Kandidaten bei ihrem Eintritt in das ZK der SED Tabelle 2: Datenbasis der empirischen Analyse Tabelle 3: Alternativen der Festlegung des Meßzeitpunktes für die Klassenlage der Befragten für die vier analysierten Geburtskohorten der DDR - Historische Zeitangaben Tabelle 4: Bildungs- und Ausbildungsniveau der Frauen und Männer in der DDR im Vergleich Tabelle 5: Kontinuität der Erwerbsbeteiligung der Frauen in der DDR Tabelle 6a: Klassenzuweisung durch abgeleitete Klassenlagen in der Elterngeneration Tabelle 6b: Klassenzuweisung durch abgeleitete Klassenlagen bei den befragten Männern und Frauen Tabelle 7: Historische Veränderungen in den kohortenspezifischen Mobilitätschancen in der DDR Tabelle 8: Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken in der DDR Tabelle 9: Umfang an öffentlich bekundeter Systemloyalität in der DDR

8

73 134

140 145 147 150 151 162 168 193

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4:

Abbildung 5: Abbildung 6:

Abbildung 7: Abbildung 8:

Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14:

Szelenyis - revidiertes - Klassenmodell staatssozialistischer Gesellschaften Die Klassenlagen der DDR-Gesellschaft, unabhängig von ihrer kistorischen Existenz Die Verfügungsgewalten der einzelnen Klassenlagen . . . Modifiziertes Klassenschema der DDR-Gesellschaft für die Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung (1945-1949) Modifiziertes Klassenschema der DDR-Gesellschaft für die „Übergangsperiode" zum Sozialismus (1949-1961). Modifiziertes Klassenschema der DDR-Gesellschaft für die Phase der „Dezentralisierung der Wirtschaft" zum Sozialismus (1961-1971) Die staatssozialistische Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft (1971-1989) Forschungsprojekt „Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel" des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR" - Fragebogenschema Wanderungsverluste der DDR von 1949 bis 1989 Klassenschema der empirischen Analyse Historische Verortung des Zeitraums zwischen Berufseinstieg und dem Alter von 30 Jahren Historische Veränderungen in der absoluten und strukturellen Mobilität in der DDR Vererbungsindizes der einzelnen Klassenlagen für vier Geburtskohorten der DDR

52 66 67

97 101

114 118 131

133 135 136 155 161 171

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Abbildung 15:

Abbildung 16:

Abbildung 17:

Abbildung 18: Abbildung 19:

Abbildung 20:

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Kompensationseffekte von Heirat zur Vermeidung von sozialen Abstiegen in die Arbeiterklasse - Frauen aus vier Geburtskohorten der DDR Historische Veränderungen in den geschlechtsspezifischen Zugangschancen zu den sozialistischen Dienstklassen - Heirat versus eigene Berufstätigkeit Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen bis zum Alter von 30 Jahren in Abhängigkeit vom erreichten Bildungsabschluß - Männer und Frauen aus vier Geburtskohorten der DDR Historische Veränderungen der klassenspezifischen Bildungschancen in der DDR Historische Veränderungen in den erwarteten Zugangschancen zu den sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufskarriere in Abhängigkeit von Herkunft und Systemloyalität - Männer Historische Veränderungen in den erwarteten Zugangschancen zu den sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufskarriere in Abhängigkeit von Herkunft und Systemloyalität - Frauen -

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182

186 189

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Einleitung

Vom real-existierenden Sozialismus zum historischen Studienobjekt - Ein kurzer Weg?

Vor 1989 schien vieles klarer zu sein. Wenngleich die theoretischen Reflexionen und empirischen Beschreibungen der Sozialstruktur der damals staatssozialistischen Länder keineswegs einheitlich, sondern je nach Standort und Forschungsperspektive eher kontrovers ausfielen, schienen doch die einzelnen Positionen relativ gesichert und argumentativ ausgereizt zu sein. Diese Gewißheiten sind mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, die Ende der 1980er Jahre in den osteuropäischen Staaten begonnen haben und im Falle der DDR in die deutsche Wiedervereinigung mündeten, brüchig geworden. Zum einen ist sehr schnell deutlich geworden, wie wenig das offiziell produzierte und verfügbare Selbstbild der DDR mit den realen gesellschaftlichen Verhältnissen in diesem Lande zu tun hatte. Zum anderen hat sich auch die Fremdwahrnehmung (aus der Außenperspektive) als lückenhaft und selektiv erwiesen. Gleichzeitig ließen sich die Standards entwickelter Sozialstrukturforschung aus modernen Industriegesellschaften nicht schnell und nahtlos auf eine nun größere Grundgesamtheit übertragen. Das „Desinteresse" des SED-Regimes an der Erforschung seiner eigenen Probleme hatte eine Datenbasis hinterlassen, die sich für rekonstruierende Sozialstrukturanalysen nur wenig eignete. Gleichwohl war gerade im Zuge der in Gang gekommenen Veränderungen das Interesse an wissenschaftlich fundierten Analysen über die gesellschaftliche Verfaßtheit der DDR-Gesellschaft massiver und dringlicher als jemals zuvor. Ein Ausdruck dessen sind eine Reihe von Publikationen, die sich mit den Transformationsprozessen auseinandersetzen1. Ihnen allen gemeinsam ist die Grundannahme, daß, obwohl der Staat DDR mit der Wiedervereinigung verschwunden ist,

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Stellvertretend genannt seien hier: Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch (Giesen und Leggewie, 1991); Rückweg in die Zukunft (Reißig, 1993); Die DDR 1989/90 Zusammenbruch einer Sozialstruktur? (Zapf, 1991); Aufbruch und Abbruch (Thomas, 1992); Unsere Erbschaft. Was war die DDR - was bleibt von ihr? (Bender, 1992); Der schwierige Weg zur Demokratie. Vom Ende der DDR zur Deutschen Einheit (Glaeßner, 1991); Lebensweise und gesellschaftlicher Umbruch in Ostdeutschland (Meyer, Riege und Strützel, 1992); Legitimation und Parteiherrschaft: Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989 (Meuschel, 1992).

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gesellschaftliche Strukturen, die ihn über Jahrzehnte geprägt haben, nicht einfach „gelöscht" wurden, sondern vielmehr auf längere Sicht den Verlauf der Transformationsprozesse beeinflussen werden. Die theoretische und empirische Beschäftigung mit der DDR ist somit keineswegs nur von historischem Interesse im Sinne von nachsorgender Faktenaufbereitung und Klarstellung. Sie ist im Gegenteil unumgänglicher Bestandteil für die Antizipation der Integrationspotentiale und -probleme im Vereinigungsprozeß. Sie ist eine wichtige Voraussetzung, um aufklären zu können, „wie und mit welchen Folgen sich eine über Jahrzehnte gewachsene Gesellschaft und ihre Sozialcharaktere unter den Bedingungen eines vollständigen Austausches der Institutionen verwandeln" (Mayer, 1991c, S. 8 7 ) auch wenn Lötsch die Meinung vertritt, daß sich aus der Besonderheit der Vereinigung Deutschland ableitet, daß „die hiesigen [ostdeutschen] Verhältnisse eigentlich nicht,transformiert' (...), [sondern] einfach beendet (werden)" (Lötsch, 1993, S. 31). Inzwischen liegen eine Reihe von Rekonstruktionsversuchen bezüglich der gesellschaftlichen Verfaßtheit der DDR-Gesellschaft vor. Erinnert sei hier - um die prominentesten zu nennen - an die „paternalistische Monosubjekttheorie" von Adler (1991, 1992), die „DDR als Organisationsgesellschaft" von Pollack (1990, 1993), die „neotraditionalistische Gesellschaft" von Ettrich (1992a, 1992b), die „Ständegesellschaft" von Meier (1990) oder die eher kultursoziologische Deutung der „DDR als Kleiner-Leute-Staat" von Engler (1992, 1994). Diese haben viel zum Verständnis der DDR-Vergangenheit beigetragen, so zum Beispiel über das Verhältnis von Partei, Staat und Gesellschaft oder über individuelle „Anpassungs"- und „Widerstands"leistungen. Dennoch lassen diese Erklärungsversuche viele Fragen offen. So fällt die Reflexion der DDR-Gesellschaft als strukturelle Konstruktion, die sich über 40 Jahre entwickelt hat, merkwürdig blaß aus. Häufig wird ein Bild von DDR-Geschichte vermittelt, das sich in seinem analytischen Gehalt lediglich für die 1980er Jahre bestätigen läßt. Aus einer solchen Perspektive ist es dann nahezu unvermeidlich, die Ursachen für den Systemzusammenbruch vornehmlich exogen zu verorten und sie veränderten äußeren Kräfteverhältnissen zuzuschreiben. So ist Lepsius zuzustimmen, daß man die Transformation Ostdeutschlands nur dann adäquat beobachten kann, wenn „man irgendeinen Ausgangspunkt (kennt). Und dieser Ausgangspunkt ist die funktionierende DDR. Man wird schon in einen Zeitpunkt gehen müssen, in dem das System immerhin noch die ökonomische Reproduktion der wichtigsten Bedürfnisse und Investitionen erfolgreich zustande gebracht hat, man wird nicht erst 1989 oder 1985 ansetzen dürfen." (1990, S. 6 f.) Die vorliegende Arbeit nimmt auf der Basis eines klassentheoretischen Ansatzes die der DDR-Gesellschaft innewohnende Widersprüchlichkeit zum Ausgangspunkt der Analyse. Ihr Anliegen ist es, entsprechend Lepsius zu versuchen, die konstitutiven Kontroll-, Steuerungs- und Integrationsmechanismen in 40 Jahren DDR-Existenz nachzuzeichnen. Damit öffnet sich eine Forschungsperspek12

tive, mit der es gelingt, auch den endogenen Ursachen des Systemzusammenbruchs differenzierter auf die Spur zu kommen. Dies schließt ein, genauere Einsichten darüber zu gewinnen, welche Ressourcen als Ausgangspunkt des Transformationsprozesses auf Seiten der neuen Bundesbürger zur Verfügung stehen und aktiviert werden können. Sie setzt an der Verfaßtheit und Relevanz der Eigentumsverhältnisse der DDR-Gesellschaft und damit an einer Analysedimension an, die in den anderen Angeboten kaum eine Rolle spielt. Insgesamt ist - bei aller Vielfalt - die Abwesenheit klassentheoretischer Erklärungsansätze für die Identifikation struktureller Konflikt- und Krisenpotentiale zu konstatieren. Relativ unreflektiert bleibt das Selbstbild der DDR als „klassenlose" Gesellschaft, in der unterschiedliche Klassenlagen lediglich noch nicht überwundene Relikte aus der kapitalistischen Vergangenheit sind und sich auf keinen Fall mehr mit Ausbeutungsverhältnissen verbinden. Dieses Selbstbild, das gleichzeitig auch Programm war, kommt prononciert in der Verfassung der DDR sowie im Parteiprogramm der SED zum Ausdruck: „Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten im vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gesellschaft ungehindert zu entfalten." (Art. 19 § 3 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968) „Die Beziehungen zwischen den Menschen in der sozialistischen Gesellschaft, in der alle Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt sind und das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln die Vorherrschaft gewonnen hat, sind Beziehungen wahrer Gleichberechtigung, Freiheit und sozialer Sicherheit." (Programm der SED 1976, Abschnitt E: Die sozialistische Lebensweise)

Inwieweit diese selbstdefinierte Sinngebung und Zielbestimmung den Realitäten in der DDR tatsächlich entsprochen haben, ist die zentrale Fragestellung dieser Arbeit. Konnten „Ausbeutungsverhältnisse" in der DDR eliminiert werden, oder stellten sie nicht doch den eigentlich konstitutiven Strukturzusammenhang dieses Gesellschaftssystems dar? Zugespitzt heißt dies: War die DDR eine Klassengesellschaft? Definierten „Klassen" wesentliche „institutionalisierte Formen der Ungleichverteilung von Zugangsbedingungen zu sozialen Gütern" (Kreckel, 1992b, S. 77)? War das Ziel sozialer Chancengleichheit überhaupt mit der Grundkonstruktion des Gesellschaftssystems kompatibel, oder lassen sich nicht vielmehr strukturelle und sich stets reproduzierende Ungleichheitslinien nachzeichnen? Letzteres würde bedeuten, daß sich die DDR-Gesellschaft als ein Gefüge von Positionen kennzeichnen läßt, in dem die einzelnen Positionen aufgrund ihrer strukturellen Verortung innerhalb des Gesamtzusammenhangs mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ressourcen verbunden waren - und zwar unabhängig davon, welche (konkreten) Personen sie besetzten. Dabei gilt es zu betonen, daß es nicht Gegenstand und Fokus dieser Arbeit ist, detailliert darauf einzugehen, in welchem Maße sich die basalen Ungleichheitsstrukturen von Positionen in faktische soziale Ungleichheit auf der individuellen Ebene umgesetzt haben. 13

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf drei Schwerpunkte: Im ersten Teil wird die sozialstrukturelle Grundkonstruktion der DDR-Gesellschaft einer theoretischen Analyse unterzogen. Unterschiedliche Ansätze werden auf ihre Erklärungskraft hinsichtlich der hier interessierenden Fragestellung diskutiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit theoretischen Angeboten der DDR-Sozialstrukturforschung sowie den Sozialstrukturansätzen der anderen ehemals staatssozialistisch verfaßten Länder. Als Ergebnis dieser Diskussion werden die staatssozialistischen Eigentumsverhältnisse als basale Ungleichheitsstrukturen dieser Gesellschaften definiert und ihr Wesen spezifiziert (Kap. 1). Ausgehend von den unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen, die in der 40jährigen Geschichte der DDR existiert haben, werden anschließend ein Klassenmodell für die DDR-Gesellschaft entwickelt und ihre „Klassenlagen" definiert (Kap. 2). Wie bereits in den Definitionen und Beschreibungen der einzelnen Klassenlagen deutlich wird, haben zahlreiche Veränderungen in der Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft stattgefunden. Zur Abbildung dieses Etablierungs- und Konsolidierungsprozesses der „staatssozialistischen Klassenstruktur" werden diese Veränderungen in drei Perioden der sozialstrukturellen Entwicklung der DDR eingeordnet. Im Rahmen dieser Periodisierung wird die intervenierende Wirkung von Politik und Wirtschaft auf die Entwicklung der Klassenstruktur thematisiert (Kap. 3). Im zweiten Teil der Arbeit wird gezeigt, inwieweit strukturell verursachte Vorund Nachteile von einer Generation auf die nächste übertragen wurden. Solche intergenerationalen Mobilitätsanalysen sind eine bewährte empirische Methode, um die Etablierung und Reproduktion von Klassenstrukturen in einer Gesellschaft zu analysieren (S0rensen, 1991a, S. 73). Unterstellt wird dabei Verständnis von Mobilität, das beiden Prozessen gerecht zu werden versucht. Erstens wird davon ausgegangen, daß neue gesellschaftliche Strukturen, so auch Klassenstrukturen, durch das Handeln von Menschen produziert werden (Giddens, 1973, S. 99-112). In diesem Zusammenhang dienen intergenerationale Mobilitätsprozesse dazu, neue Klassen zu etablieren und alte Klassen aufzulösen. Für die Reproduktion der Klassenstruktur ist zweitens hervorzuheben, daß die jeweilige Klassenzugehörigkeit ihrerseits Mobilitätschancen strukturiert (Goldthorpe, 1980, S. 251 ff.), da sie (Handlungs-)Optionen „als in sozialen Strukturen gegebene Wahlmöglichkeiten, Alternativen des Handelns" (Dahrendorf, 1979, S. 40) bereitstellt oder verschließt. Dementsprechend werden die jeweiligen Mobilitätschancen bzw. -optionen sowohl als Funktion der Opportunitätsstruktur einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als auch der Wahrnehmung und Umsetzung dieser Opportunitäten im individuellen Handeln begriffen (in Anlehnung an Blau, 1994, S. 11). So definiert, widerspiegelt die Mobilitätsanalyse, ob sich die im ersten Teil der Analyse definierten Klassenlagen auch für das soziale Handeln der Menschen in der DDR als handlungsrelevant erwiesen haben, das heißt, ob bereitgestellte Optionen ergriffen wurden oder nicht, ob klassenspezifische Anrechte in Form von Barrieren installiert wurden oder nicht (vgl. Dahrendorf, 1979, S. 40). Für die Analyse dieser Prozesse ist die Bedeutung der methodischen Herangehensweise nicht zu unter14

schätzen. Sie ist mehr als ein „bloßes Anhängsel" empirischer Analysen. Vielmehr stellt sie einen integralen Bestandteil von Mobilitätsanalysen dar, da sie die Umsetzung des theoretischen Konzepts in Fragestellungen, Analysestrategien und Operationalisierungen bestimmt. Daher wird im Vorfeld der Mobilitätsanalysen zunächst der gewählten Vorgehensweise besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Neben der Datenbasis, der Definition der Untersuchungseinheit, der Operationalisierung der Klassenlagen sowie der Festlegung der jeweiligen Meßzeitpunkte wird insbesondere die Anwendbarkeit des in der Mobilitätsforschung immer noch vorherrschenden Leitsatzes, „der Mann ist das Oberhaupt der Familie", für die DDR-Gesellschaft problematisiert (Kap. 4). Basierend auf diesen methodologischen Prämissen werden anschließend die intergenerationalen Mobilitätsprozesse von Männern und Frauen aus vier Geburtskohorten der DDR analysiert. Die Arbeit greift dabei auf Daten über die Lebensverläufe von Männern und Frauen der Geburtsjahrgänge 1929-31, 1939-41, 1951-53 und 1959-61 zurück, die im Rahmen des Projekts „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin zwischen September 1991 und September 1992 erhoben wurden. Es wird gezeigt, welche Mobilitätsoptionen es in den einzelnen Perioden der DDR-Entwicklung gegeben hat, wo die Differenzierungslinien bezüglich dieser Optionen sowohl zwischen den Kohorten als auch zwischen den Klassenlagen verliefen, und schließlich, über welche Mechanismen (Heirat und Berufsverläufe) und Selektionskriterien (Kohorte, Herkunft, Geschlecht, Bildung, Systemloyalität) eine Allokation in die Klassenstruktur erfolgte (Kap. 5). Abschließend werden das klassentheoretische Erklärungsmuster und die Ergebnisse der empirischen Analyse auf einen breiteren soziologischen Diskussionsrahmen zurückbezogen. Ausgehend von zusammenfassenden Thesen werden weiterführende Aspekte zur theoretischen und empirischen Sozialstrukturforschung, aber auch Grenzen des gewählten Ansatzes thematisiert. Dabei wird vor allem davon ausgegangen, daß „sich die Analyse der DDR-Gesellschaft nicht verstehen (sollte) als die Untersuchung eines .abgelaufenen Modells' von Gesellschaft, sondern von Strukturprinzipien, aus denen sich verallgemeinerbare Einsichten für die Formation sozialer Ordnung und der in ihnen sich herausbildenden Handlungskontexte ergeben. Insofern scheint die DDR-Forschung auch für die Theorieentwicklung vielversprechend." (Lepsius, 1993, S. 335) Unter diesem Aspekt wird der Standort des hier gewählten klassentheoretischen Ansatzes im Kontext der gegenwärtigen Transformationsdebatte bestimmt. Er ist weniger als ein weiterer Rekonstruktionsversuch in der Reihe der oben genannten Ansätze zu verstehen. Vielmehr erlaubt die hier gewählte Sichtweise, wichtige Befunde der anderen Ansätze zu untersetzen und auf basale Strukturen der DDR-Gesellschaft zurückzuführen, da sie gerade an diesen ansetzt und sie unter Beachtung ihrer jeweiligen historischen Spezifik analysiert (Kap. 6). ***

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Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Projekts „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin. Während meiner dreijährigen Arbeit an dieser Dissertation wurde mir umfangreiche Hilfe und Unterstützung unterschiedlichster Art zuteil. Mein besonderer Dank gilt Karl Ulrich Mayer für die intensive Betreuung dieser Arbeit, in der er stets ein kritischer und interessierter Gesprächspartner gewesen ist. Für ihre hilfreichen Diskussionen und Kommentare danke ich Sabine Schenk und meinen Kollegen und Kolleginnen aus dem DDR-Projekt, Martin Diewald, Johannes Huinink, Annemette S0rensen und Heike Trappe. Des weiteren möchte ich Aage S0rensen danken, der mir während seines Gastaufenthalts am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in vielen Gesprächen wertvolle Anregungen gab. Für die kompetente und intensive Hilfe bei der Datenaufbereitung bzw. bei statistischen Fragestellungen gilt mein besonderer Dank Ralf Künster und Ulrich Pötter. Die redaktionelle Arbeit lag bei Jürgen Baumgarten; Peter Wittek las den Text Korrektur; Dagmar Stenzel im Zentralen Sekretariat des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin, gestaltete den Satz, die Tabellen und Graphiken und stellte die Druckvorlage her.

Heike Solga Berlin, Mai 1995

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1. Teil Theoretische und historische Überlegungen zur Sozialstruktur der DDR (1945-1989)

Kapitel 1

Status - Stand - Klasse

Lassen sich in den gesellschaftlichen Strukturen staatssozialistischer Gesellschaften Ursachen für soziale Ungleichheit finden? Zugespitzt für die Selbstdarstellung der DDR formuliert: War die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im Staatssozialismus wirklich beseitigt? Oder ist Dahrendorf zuzustimmen, daß „für die Mehrheit der real existierende Sozialismus eine ziemlich reine Form dessen (war), was er überwunden zu haben vorgab, nämlich der Ausbeutung, außer daß es angesichts der ökonomischen Inkompetenz der Nomenklatura nicht viel auszubeuten gab" (1992, S. 139)? Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig, teilweise kontrovers, teilweise komplementär. Im ersten Kapitel soll daher in der Auseinandersetzung mit theoretischen Reflexionen zur Sozialstruktur der ehemals staatssozialistischen Länder im allgemeinen und der DDR im besonderen versucht werden, die ihr innewohnenden Ursachen sozialer Ungleichheit herauszustellen. Das Anliegen dieser Auseinandersetzung ist es, für die staatssozialistische Gesellschaft ein Geflige sozialer Positionen zu kennzeichnen, durch das soziale Ungleichheit erzeugt und reproduziert wurde, da Belohnungen und Opportunitäten in dieser Gesellschaft an diese Positionen gebunden waren. Die Aufmerksamkeit der Diskussion richtet sich insbesondere darauf, wie die Eigentumsverhältnisse und Machtstrukturen staatssozialistischer Gesellschaften in den einzelnen Ansätzen thematisiert wurden, welche Rolle dem Eigentum für die Ausdifferenzierung sozialer Ungleichheit zugeschrieben wurde. Ziel ist es - entsprechend der eingangs formulierten Fragestellung-, den Klassencharakter staatssozialistischer Gesellschaften und die Bedeutung des staatlichen Eigentums als dessen strukturelle Ursache explizit zu hinterfragen. In der Diskussion der Sozialstrukturmodelle der DDR-Soziologie sowie der Soziologie der anderen ehemals staatssozialistischen Länder wird daher vor allem auf folgende Aspekte eingegangen: - Wurden Lebenschancen als die „von den Strukturen bereitgestellten Möglichkeiten individueller Entfaltung" (Dahrendorf, 1979, S. 92), als Chancen der „Verwirklichung von Lebenszielen, die in einer Gesellschaft im allgemeinen 19

als erstrebenswert angesehen werden" (Geißler, 1987a, S. 3) über den Zugang zu sozialen Positionen verteilt? - Wie wurden diese sozialen Positionen definiert, welche basalen Strukturen staatssozialistischer Gesellschaften waren hierbei von zentraler Bedeutung? Kam den Eigentumsverhältnissen dabei eine besondere Rolle zu? - Gab es Ausbeutung in staatssozialistischen Gesellschaften und wie definierte sie sich ? Sozialstrukturelle Arbeiten der westdeutschen DDR-Forschung sowie der internationalen Sozialstruktur- und Sozialismusforschung werden vorwiegend als Diskutanten der vorgestellten Modelle und Überlegungen eingebracht, ohne all diesen Ansätzen einen eigenständigen Platz zukommen zu lassen1. Diese Herangehensweise wurde aus folgendem Grund gewählt: Um den Rahmen der Analyse nicht zu sprengen, ist eine Eingrenzung der Diskussion erforderlich, so daß nur eine Auswahl von Sozialstrukturmodellen behandelt werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt liegt es nahe, denjenigen den Vorrang zu geben, deren „ausschließliches" Forschungsfeld die Sozialstruktur staatssozialistischer Gesellschaften darstellte, das heißt der Soziologie der sozialistischen Länder. Aufgrund der Geschlossenheit dieser Gesellschaften für „Außenstehende" blieb der Beitrag, den die ausländische Soziologie leisten konnte, notwendigerweise beschränkt. Eigenständige empirische Analysen blieben diesen Soziologen größtenteils verwehrt, so daß Sekundäranalysen der offiziellen Statistik oder der veröffentlichten empirischen Ergebnisse (z.B. von DDR-Soziologen) vorgenommen wurden (werden mußten). In bezug auf letztere kennzeichnete Zimmermann - als DDR-Forscher in der BRD direkt betroffen - die Situation vor 1989 folgendermaßen: „Bei den in der DDR veröffentlichten Ergebnissen eigener empirischer Sozialforschung fehlten nicht selten noch immer genauere Angaben über die verwendete Methode, den Erhebungszeitraum und -umfang, die den Befragungen zugrundeliegenden Fragebögen, so daß sie im einzelnen schwer nachzuprüfen" waren (Zimmermann, 1989, S. 703).

Infolgedessen sind ihre Analysen und Überlegungen vorwiegend theoretischer Natur und zwar derart, daß sie entweder direkt Kritik an den in diesen Ländern intern entwickelten Sozialstrukturmodellen übten und zeigten, wo deren Unzulänglichkeiten liegen, oder die dort entwickelten Modelle in ihrer eigenen Sozialismusreflexion aufgriffen. Hingegen sind eigenständige Sozialstrukturmodelle der ausländischen Soziologie, die die Komplexität der staatssozialistischen Gesellschaft widerspiegeln und nicht nur ausgewählte Gruppen, wie zum Beispiel die Parteielite, den Staatsapparat, die Intelligenz oder die Arbeiterklasse, zum Gegenstand haben, eher schwer auszumachen. Daher werden hier vor allem die Sozialstrukturforschung der DDR-Soziologie und die Konsequenzen ihrer theoretischen Grundannahmen und empirischen Be1

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Eine detaillierte Darstellung dieser Theorieansätze findet sich in der Habilitation von Pollack (1993, insbesondere Kap. 2).

funde reflektiert und in einem zweiten Teil den Sozialstrukturansätzen der Soziologie der anderen ehemals staatssozialistischen Länder gegenübergestellt, unter denen insbesondere die herrschaftstheoretischen Ansätze einen markanten Unterschied zur DDR-Soziologie darstellen. Im Fazit dieser Diskussion werden die theoretischen Grundannahmen, die für die Charakterisierung der DDR-Gesellschaft als Klassengesellschaft und die Ableitung der Klassenlagen der DDR im zweiten Kapitel verwendet werden, dargestellt.

1.1 Sozialstrukturforschung in der DDR: Legitimation versus reale Analyse? Verglichen mit den anderen „sozialistischen" Ländern2, setzte die Etablierung der Soziologie in der DDR Mitte der 1960er Jahre verspätet ein. Dagegen kam es in Polen bereits 1956 und in der Sowjetunion 1958 zu ihrer Institutionalisierung. Für die SED standen „die Soziologie wie die Kybernetik aufgrund ihrer forschungsimmanenten Tendenz zur intellektuellen Grenzüberschreitung in dem Verdacht, ideologisches Feindgut in die DDR zu holen" (Staritz, 1985, S. 179). Diese Behinderung der Institutionalisierung der Soziologie als eigenständige Wissenschaft in der DDR bedeutete jedoch nicht, daß damit grundsätzlich alle Resultate soziologischer Forschung abgelehnt wurden. Im Gegenteil, aus dem Anspruch, die gesamte Gesellschaft in all ihren Bereichen zu planen, entsprang geradezu ein Interesse an soziologischen Forschungsergebnissen, wie es unter anderem auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 formuliert wurde: „Von den Gesellschaftswissenschaften werden verstärkt soziologische Forschungen durchgeführt" (VI. Parteitag der SED, 1963, S. 346). Die soziologische wie die gesellschaftswissenschaftliche Forschung insgesamt dienten insbesondere dazu, „die Entscheidungen der Partei als Ausdruck der Kenntnis und bewußten Nutzung der objektiven Gesetzmäßigkeiten erscheinen zu lassen" und damit die „Wissenschaftlichkeit" ihrer Politik zu beweisen (Neugebauer, 1978, S. 48). Aus diesem Grunde wurde die soziologische Forschung in der DDR bis zu ihrer Institutionalisierung unter dem Dach der Philosophie sowie der Wirtschaftswissenschaften, und hier vor allem der Politischen Ökonomie, betrieben. Daraus erklärt sich auch die berufliche Herkunft der ersten Generation von DDR-Soziologen, die ihren Weg zur Soziologie über die Philosophie bzw. Ökonomie fanden. „Mit dem Rückenwind einer auf Modernisierung und Verwissenschaftlichung zielenden Orientierung der .Technokraten' in Ulbrichts Apparat konnte [dann] 1964 ein wissenschaftlicher Rat

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Die Begriffe „sozialistische Länder", „Länder des real-existierenden Sozialismus", „staatssozialistische Länder", „sozialistische Länder sowjetischen Typs", „Staatssozialismus" und ähnliches werden synonym verwendet.

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für Soziologie gebildet werden, der die akademische und universitäre Forschung und Lehre zu koordinieren und das wissenschaftliche Leben zu organisieren hatte." (Niemann, 1993, S. 16)3

Zu welchen Ergebnissen gelangte die Sozialstrukturforschung in der DDR angesichts dieser institutionellen Situation? Wenn man davon ausgeht, daß die Untersuchung sozialer Unterschiede in einer Gesellschaft eine Betrachtung der Verteilung der Verfügungsgewalten über die ökonomischen Ressourcen sowie eine Auseinandersetzung mit den bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen verlangt, dann resultierte daraus für die Soziologie der DDR ein Dilemma hinsichtlich ihrer sozialstrukturellen Analysemöglichkeiten, und zwar zwischen der „soziologischen Legitimation der Machtverhältnisse" einerseits und der Analyse der „realen Funktionsweise der Gesellschaft" andererseits (Lötsch, 1992, S. 122). Dieses Dilemma widerspiegelte sich im Spannungsfeld der Leitsätze, die von den unterschiedlichen sozialstrukturellen Ansätzen favorisiert wurden: „Annäherung der Klassen und Schichten" versus „Reproduktion wesenseigener sozialer Unterschiede", „Interessenidentität der Gesellschaft" versus „soziale Besonderheiten und daraus resultierende Sonderinteressen der Klassen und Schichten" ( S. 122). Während in den 1960er Jahren eine auf die Homogenisierung der Gesellschaft gerichtete Sichtweise dominierte, gelang es, mit der politischen Kursänderung in den 1970er Jahren und endgültig in den 1980er Jahren eine Sichtweise zu etablieren, die soziale Unterschiede als notwendige Erscheinung im Sozialismus anerkannte. Inwieweit sich die dahinterstehenden Konzeptionen wirklich kontrovers gegenüberstanden, wird im folgenden behandelt. Vorab soll bereits darauf hingewiesen werden, daß auch die zuletzt genannte Sichtweise, die von einer funktionalen Wirkungsweise sozialer Unterschiede für die gesellschaftliche Entwicklung ausging, das Postulat der „Arbeiterklasse als produzierende und machtausübende Klasse im Sozialismus" nicht in Frage stellte. Vielmehr lieferte sie mit ihrer, auf den systemrationalen Aspekt verkürzten Betrachtungsweise sozialer Unterschiede eine herrschafts„neutrale'\ scheinbar aus rationalen „Sachnotwendigkeiten" abgeleitete (und in diesem Sinne: technokratische) Rechtfertigungsgrundlage für die Existenz sozialer Ungleichheit unter sozialistischen Bedingungen.

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Mit der Institutionalisierung der Soziologie kam es auf Beschluß des Sekretariats des Zentralkomitees (ZK) der SED vom 21. April 1964 auch zur Gründung eines Instituts für Meinungsforschung beim ZK der SED, das, „unbeschadet der klaren politischen Instrumentalisierung, (...) jeweils ein möglichst getreues Spiegelbild der Bevölkerungsmeinung ermitteln (sollte)" (Niemann, 1993, S. 17 f.). Dieses existierte „von der Soziologie (bewußt) abgehoben und weitgehend unabhängig" (S. 17). Die Ergebnisse der Umfragen dieses Instituts konnten aufgrund ihrer Geheimhaltung nicht in die soziologische Forschung eingehen. „Mit dem Ende der Ulbricht-Ära (schwand) das Interesse der Führung an den Ergebnissen in dem Maße, wie anstelle des Strebens nach wissenschaftlich fundierter Führungstätigkeit ein monarchischer Regierungsdilettantismus trat" (S. 26), so daß es im Januar 1979 zur Schließung des Instituts für Meinungsforschung kam. Eine detaillierte Darstellung der Aufgaben, Umfragen und Ergebnisse dieses Instituts ist in dem Buch von Niemann (1993) zu finden.

Die Soziologie der DDR in den 1960er Jahren: Das „2 Klassen - 1 Schicht - Modell" Gestützt auf seine Erfahrungen aus betrieblichen Mobilitätsanalysen (Braunreuther, 1966; Braunreuther, Oelssner und Otto, 1967; Braunreuther und Steiner, 1964a, 1964b) und seine Auseinandersetzung mit der „bürgerlichen Soziologie" (Braunreuther, 1961, 1962a, 1962b), versuchte der Politökonom und Leiter der Abteilung Soziologie am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften Braunreuther als erster, ein theoretisches Modell der Sozialstruktur der DDR zu konzipieren (Braunreuther, 1968; Braunreuther, Thiel und Meyer, 1967). Er definierte Sozialstruktur als „ein Modell mit einer begrenzten Anzahl sozialer Dimensionen (...), [die] zur Ermittlung der objektiven sozialen Position von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen geeignet [sind]" (Braunreuther, 1968, S. 248). Diese Dimensionen bestimmte er mit den vom Reproduktionsprozeß definierten sozialökonomischen Merkmalen, den Distributionsbefugnissen und den bildungsgraduellen Abstufungen (S. 256). Unter diesen betonte er insbesondere den Bildungsgrad als „eine wesentliche Voraussetzung für eine bestimmte Position im sozialstrukturellen Gefüge" sozialistischer Gesellschaften (S. 250). Diese Überlegungen waren vor allem das Resultat seines 1964 am Institut für Wirtschaftswissenschaften durchgeführten Untersuchungsprojekts 4 „Die sozialökonomische und gesellschaftliche Mobilität der Beschäftigten in der Industrie". In der Begründung 5 dieses Projekts wurde das überlieferte Begriffssystem der Sozialstatistik kritisiert, welches „Arbeiter", „Angestellte" und „Intelligenz" sowie einige weiterführende Gliederungen unterschied. Nach Meinung von Braunreuther und Steiner waren die dieser Klassifikation zugrundeliegenden Bestimmungskriterien den Bedingungen in der DDR nicht adäquat. Sie vertraten die Auffassung, daß eine angemessene Bestimmung der sozialökonomischen Strukturlinien nur mittels dynamischer Mobilitätsuntersuchungen und nicht durch statische Strukturuntersuchungen möglich sei. Neben dem offiziellen Ziel, Folgerungen für die Leitungstätigkeit ableiten und einen Beitrag für die Qualifizierungsproblematik in den Betrieben leisten zu können, bestand das genuin soziologische Interesse dieser Untersuchung vor allem darin, eine empirische Klassenanalyse durchzuführen, die zugleich Ansatzpunkte für eine neue theoretische Begriffsbestimmung und Abgrenzung sozialer Gruppen liefern sollte. Dementsprechend erhoben sie in ihrer Befragung folgende Angaben: die soziale Herkunft, den Beruf, die ausgeübte Tätigkeit zu verschiedenen Zeit-

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Befragt wurden insgesamt 14.035 Beschäftigte in 27 Betrieben der zentralgeleiteten Industrie. Der Fragebogen, die Begründung sowie die methodische Anlage der Untersuchung „Die sozialökonomische und gesellschaftliche Mobilität der Beschäftigten in der Industrie" liegen der Autorin als Manuskript vor (Braunreuther und Steiner, 1964b).

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punkten 6 sowie die Schulbildung, die soziale Stellung, die Einkommenshöhe, die Größe des Wohnortes und seine territoriale Lage. Ihre Kritik an der in der Sozialstatistik verwendeten Klassifikation versuchten die Autoren, mit Hilfe einer gezielten Erfassung der Vorgesetztenstellungen und Dispositionsbefugnisse in der jeweiligen Tätigkeit1 umzusetzen. Ihre Klassifikationskriterien der Leitungstätigkeiten beschränkten sich jedoch auf den organisatorischen Aspekt von Leitung und schlössen die Möglichkeit einer direkten politischen Dimensionierung aus. So unterteilten sie die Leitungstätigkeiten hauptsächlich nach dem quantitativen Umfang der zu leitenden Gruppen - wie zum Beispiel Anleitung kleinerer Gruppen versus größerer Gruppen, Leitung kleinerer versus größerer Betriebe und Einrichtungen versus Leitung volkswirtschaftlicher Bereiche. Auf die gerade für sozialistische Gesellschaften bedeutsame qualitative Unterscheidung der Einsatzfelder, wie zum Beispiel Partei- und Staatsapparat, produzierende und nichtproduzierende Bereiche, wurde verzichtet. Wenngleich auch in dieser Untersuchung die asymmetrischen politischen Machtverhältnisse nicht thematisiert wurden, war es durchaus ein Verdienst dieser beiden Soziologen, die Existenz einer hierarchischen Ordnung innerhalb der Sozialstruktur zu konstatieren, auch wenn diese in ihrer Untersuchung auf die Ebene der Arbeitsteilung beschränkt blieb. Offensichtlich wird ihre „Halbherzigkeit" - hierarchische Ordnung unter Ausschluß asymmetrischer Machtverhältnisse auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene - in ihrer Bestimmung der Ursachen für eine derartige, wie sie es nennen, „Pyramide der Sozialstruktur", wonach diese aus der „Dialektik von politisch-rechtlicher Gleichheit und sozialer Ungleichheit abzuleiten" sei (Steiner, 1965, S. 47). Obwohl das Braunreuthersche Modell auf der Leninschen Klassendefinition8 beruhte und die Thematisierung ge-

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Die Auswahl dieser Zeitpunkte wurden damit begründet, daß sie wichtige „Knotenpunkte in der ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklung der DDR" seien. Es handelt sich um die Jahre: 1919 - Erster Weltkrieg, 1925 - Relative Stabilität des kapitalistischen Wirtschaftssystems, 1932-Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, 1939 - Kriegsausbruch, 1946-Situation nach dem Zweiten Weltkrieg, 1950 - Abschluß der antifaschistisch-demokratischen Etappe, 1957-ohne Begründung, 1964-Untersuchungszeitpunkt (Braunreutherund Steiner, 1964b). Das in der Untersuchung verwendete Klassifikationsschema der „sozialen Stellung" sah folgendermaßen aus: Arbeiter, Angestellter, Beamter (im Sinne von Staatsangestellter: Staatliche Verwaltung, Polizei, Post-, Fernmelde- und Transportwesen, Bildungswesen, Sonstige), Selbständiger, Freischaffender, mithelfender Familienangehöriger, Schüler/Lehrling/ Student, Rentner, Hausfrau, Arbeitsloser, Gefangener/Internierter. Nach Lenin (1914, S. 410) sind Klassen „große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe ihres Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen sich die eine die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft."

sellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse weitgehend ausschloß, konnte sich dieser Ansatz in der Sozialstrukturforschung der DDR (zunächst) nicht durchsetzen, denn er bot die Möglichkeit, zumindest auf der betrieblichen Ebene Entscheidungsstrukturen zu problematisieren. Während Braunreuther sein Modell zwischen „dem historisch akzentuierten Klassenmodell und dem Modell beruflicher Arbeitsteilung" (1968, S. 262) ansiedelte, basierten die nachfolgenden Konzeptionen auf einer a priori unterstellten Gleichsetzung von Sozialstruktur und nichtantagonistischer Klassenstruktur (Röder, 1975, S. 7). Auf diese Weise wurde den ideologischen Postulaten der SED, daß die „Machtfrage" in der DDR gelöst, der Antagonismus zwischen den Klasseninteressen aufgehoben, die Interessen der Arbeiterklasse das „gesellschaftliche Grundinteresse aller" seien und man sich daher auf dem Wege zu einer klassenlosen Gesellschaft befände, uneingeschränkt Rechnung getragen. Aufgrund derartiger Postulate wurden klassische Themen der Soziologie, wie zum Beispiel die Macht der herrschenden Partei und die Konfliktpotentiale einer Gesellschaft, von vornherein ausgegrenzt. Damit wurde die Soziologie auf die Rolle einer „Sozialtechnologie" und „Legitimationswissenschaft" im Dienste der SED reduziert. Der Ausgangspunkt des nichtantagonistischen Klassenmodells bestand in der durch die SED definierten „Wahrheit", wonach die noch bestehenden unterschiedlichen Eigentumsformen im Sozialismus (das staatliche, das genossenschaftliche und das private Kleineigentum) zwar unterschiedliche Klassen und Schichten definierten. Mit der nahezu vollständigen Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln9 sah man aber jegliche Form der Ausbeutung als beseitigt an, so daß diese Klassen und Schichten als Produzenten freundschaftlich miteinander verbunden seien. Damit wird im Gegensatz zur Marxschen Klassentheorie ein Klassenbegriff unterstellt, der - anstatt auf Interessenwidersprüchen - auf der Annahme einer Identität der allgemeinen Grundinteressen basiert. Der von Marx konstatierte Zusammenhang zwischen Klassenstruktur, Interessenwiderspruch und Konfliktpotential wird durch die Leninsche „Diktatur des Proletariats unter Führung der Partei" außer Kraft gesetzt. Die „soziale Annäherung der Klassen und Schichten" wurde zum Strukturgesetz sozialistischer Gesellschaften erhoben. Die daraus resultierende praktische Seite der Beschäftigung mit der Sozialstruktur in der DDR bestand in der Bereitstellung von Erkenntnissen zur Überwindung der „noch bestehenden" Unterschiede. In offiziellen Verlautbarungen der SED wurde die Existenz von Unterschieden im Sozialismus einerseits durch die „Nachwirkungen der kapitalistischen Vergangenheit", andererseits durch die „noch" vorhandene technologische Unvollkommenheit der Produktionsmittel begründet. Die aus diesem Grunde seitens der SED in Gang gesetzten politischen Maßnahmen zur Veränderung der Sozialstruktur (wie z.B. die Enteignung, Ein-

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Vgl. dazu die historischen Ausführungen in Kapitel 3.

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gliederung und Eingrenzung der Reste des privaten Kleinunternehmertums und Handwerks, der Aufbau eines einheitlichen Bildungssystems, die Ausbildung einer neuen, sozialistischen Intelligenz, die Kollektivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft) galt es, auch durch s o z i o l o g i s c h e Erkenntnisse, zu unterstützen. D i e durch das Programm der S E D und die zentrale Forschungsplanung „vorgegebenen" Fragestellungen der Sozialstrukturforschung in der D D R bestanden d e m z u f o l g e in der Analyse: (1) „der Höherentwicklung der Arbeiterklasse und der weiteren Festigung ihrer führenden Rolle, (2) der Annäherung der Klassen und Schichten und (3) der allmählichen Überwindung anderer sozialer Unterschiede (Stadt-Land, geistige-körperliche Arbeit, Qualifikation und Bildung, Kulturniveau etc.)" (Lötsch und Meyer, 1974, S. 27). D a m i t wurden die Fragen nach d e m Verhältnis zu den Produktionsmitteln, d e m Verhältnis der Klassen und Schichten zueinander und der Machtverteilung a priori entschieden und klare Richtlinien für die Entwicklung eines Sozialstrukturm o d e l l s für die D D R vorgegeben. In der U m s e t z u n g dieser Anforderungen entstand das „2 Klassen - 1 Schicht - Modell", deren Klassen bzw. Schichten f o l g e n dermaßen definiert wurden: (1) Die Arbeiterklasse: Als kollektive Eigentümerin der Produktionsmittel ist sie die „führende Klasse". „Sie umfaßt vor allem all jene Werktätigen der sozialistischen Gesellschaft, die durch ihre körperliche und geistige Arbeit den auf dem gesellschaftlichen Eigentum beruhenden materiellen Reproduktionsprozeß unmittelbar vollziehen." (Weidig, 1976, S. 126) (2) Die Klasse der Genossenschaftsbauern: Zu ihr gehören alle Werktätigen (nicht nur Bauern), die Mitglied einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) sind. Aufgrund des sie kennzeichnenden genossenschaftlichen Eigentums bilden die Genossenschaftsbauern die zweite Klasse in der DDR. Da das genossenschaftliche Eigentum neben dem staatlichen als eine weitere Form von sozialistischem Eigentum definiert wurde, unterstellte man gleichzeitig, daß sich die Arbeiterklasse und die Genossenschaftsbauern nicht „feindlich" gegenüberstünden. Hierbei handele es sich um freundschaftlich miteinander verbundene Klassen, die als „Hauptverbündete" beim Aufbau des Sozialismus „kameradschaftlich" zusammenwirkten. (3) Die Schicht der Intelligenz: Zu ihr gehören „all jene Werktätigen, die vorwiegend geistige, eine hohe Qualifikation erfordernde Arbeit leisten" (Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, 1977, S. 307). Operationalisiert hieß das: alle Hoch- und Fachschulkader10. Da ihre Angehörigen sich nicht durch eine einheitliche Stellung zu den Produktionsmitteln, sondern nur durch eine gemeinsame Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung 10 Diese Breite der Definition der Intelligenz war einer der Hauptkritikpunkte des StrukturFunktion-Paradigmas der 1980er Jahre (siehe folgenden Abschnitt). Mit der zunehmend inflationären Vergabe des Fachschulabschlusses (z.B.: Kindergärtnerin, Horterzieherin, Unterstufenlehrerin, Stomatologische Schwester, Ingenieurökonom, Ingenieurpädagoge) schien es nicht mehr gerechtfertigt, diese generell unter die Gruppe der vorwiegend geistig Tätigen zu fassen. Bemängelt wurde, daß durch eine Beibehaltung dieser Definition soziale Unterschiede, die sich aus der Heterogenität der beruflichen Tätigkeiten von Hoch- und Fachschulabsolventen ergaben, nivelliert wurden.

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definieren ließen, wurde der Intelligenz der Platz einer „sozialen Schicht" in der Klassenstruktur der DDR zugewiesen. Im Sprachgebrauch der DDR wurde diese Schicht als „sozialistische" Intelligenz 11 bezeichnet, da sie nur noch im Dienste der Arbeiterklasse wirke. Demzufolge habe sie ihre Nähe zu irgendeiner bürgerlichen Klasse verloren und könne somit auch keine bürgerlichen Interessen mehr herausbilden. (4) Die soziale Gruppe der privaten Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden: Gekennzeichnet durch die Doppelstellung als Privateigentümer von Produktionsmitteln und Produzent, wurden die kleinen Gewerbetreibenden und privaten Handwerker als eine soziale Gruppe in die Sozialstruktur der DDR aufgenommen, zu denen noch eine geringe Zahl privater Kleinbauern gerechnet wurde. Obwohl sie sich durch eine gleiche Stellung zu den Produktionsmitteln auszeichneten, wurden sie aufgrund ihrer geringen Anzahl nicht als Klasse definiert. In den 1960er Jahren noch als Überbleibsel der kapitalistischen Klassengesellschaft deformiert, wurde ihnen doch seit Mitte der 1970er Jahre und verstärkt in den 1980er Jahren eine „gesicherte historische Perspektive" (Hümmler, zit. in Weidig, 1988, S. 160) im Sozialismus zugestanden. Es stellte sich heraus, daß sie - einbezogen in das zentralistische Planungssystem sowohl für bestimmte Zulieferungen für die Industrie als auch für die Versorgung der Bevölkerung mit bestimmten Waren und Dienstleistungen unverzichtbar waren.

Hervorzuheben ist insbesondere die Definition der Arbeiterklasse. Diese implizierte zugleich, daß der politische Apparat von Partei und Staat, deren Angehörige ihre berufliche Tätigkeit „im Dienste der Arbeiterklasse" ausübten, Bestandteil der Arbeiterklasse war. Da die Arbeiterklasse, einschließlich ihrer Partei, als der ausschließliche Träger politischer Macht definiert wurde, konnte es andere Gruppen als Träger politischer Macht in diesem Modell nicht geben. Dieses 2 Klassen - 1 Schicht - Modell dominierte nicht nur in der DDR-Soziologie. Es kann vielmehr als das generelle „Klassenparadigma der sozialistischen Gesellschaft" in der marxistisch-leninistischen Soziologie betrachtet werden (siehe Abschnitt 1.2). Seinem theoretischen Gehalt nach stellt es ein „Integrationsmodell für sozialistische Gesellschaften dar, das von der Annahme des Fehlens strukturell erzeugter gesamtgesellschaftlicher Konflikte ausgeht (...) Konflikte sind daher nur noch in Form der .Abweichung' faßbar, die es zu überwinden gilt." (Röder, 1972, S. 163) Die entsprechende Operationalisierung und rein quantitative Interpretation dieses Modells konnten dann auch den „Auftrag erfüllen", eine zunehmende Homogenisierung der Gesellschaft „nachzuweisen". Danach suggerierte die so definierte Größe der Arbeiterklasse - mit einem Anteil an der berufstätigen Bevölkerung von 77,2 Prozent im Jahre 1970 (Belwe, 1989, S. 131) - zugleich eine weitgehend homogene Struktur der Ge11 Erika M. Hoerning, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin, benutzt in ihrem Forschungsprojekt „Bürgerliche Intelligenz und Aufsteiger in der DDR. Eine soziologische Untersuchung biographischer Umbrüche im Zeitablauf' zur Abgrenzung der DDR-Intelligenz den Begriff der „nicht-bürgerlichen Intelligenz". Dieser Begriff scheint insofern gerechtfertigt zu sein, da er sowohl den Entstehungsprozeß dieser Intelligenz (deren erste Generation großteils aus Arbeiterfamilien stammte) als auch die ideologische Prämisse („im Dienste der Arbeiterklasse", ohne „bürgerliche Interessen") einzufangen vermag.

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sellschaft sowie eine Marginalisierung aller anderen Klassen und Schichten aufgrund ihrer Größe 12 . Ob sie damit aber auch wirklich die „herrschende Klasse" und „Eigentümerin der Produktionsmittel" war, wurde nicht hinterfragt.

Politischer Kurswechsel der DDR - Eine Wende in der Sozialstrukturforschung? Mit dem politischen Kurswechsel - personifiziert in der Machtablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker - auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 erfolgte die Ersetzung des Konzepts des „entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus" durch die Konzeption der ,jich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft". Dieser Kurswechsel ist im Hinblick auf die Sozialstrukturforschung vor allem deswegen interessant, weil mit ihm seitens der Parteiführung das Ideal der „sozialistischen Menschengemeinschaft" (Ulbricht, 1968, S. 13) aufgegeben wurde. In der offiziellen Ideologie wurde nun der Übergangscharakter des Sozialismus hervorgehoben und das Primat der sozialen Revolution zugunsten einer Orientierung auf die „wissenschaftlich-technische Revolution" (wtR)13 entschärft. Dementsprechend entwickelte sich in der Sozialstrukturforschung der DDR das Verhältnis von Arbeiterklasse und Intelligenz zu einem zentralen Forschungsthema, galt es doch, die Leistungspotentiale der Intelligenz für die wtR nutzbar zu machen. Das bisherige Gerechtigkeitsparadigma, mit dessen Hilfe die gesellschaftlichen Veränderungen der Aufbauphase des Staatssozialismus in der DDR (z.B. die Schaffung des „Volkseigentums oder die Kollektivierung der Landwirtschaft) sowie der restriktive Machtgebrauch zur Durchsetzung dieser Veränderungen legitimiert wurden, wurde durch ein Funktionalitätsparadigma abgelöst. Dieses sollte nun die geschaffenen Ungleichheitsstrukturen und die damit verbundenen Allokationsmechanismen legitimieren. In der Folge des neuen politischen Kurses begannen sich erste Veränderungen in der Sozialstrukturforschung der DDR abzuzeichnen, in denen die Überlegungen von Braunreuther aus den 1960er Jahren neu belebt wurden. Auf dem „Kolloquium zu Fragen der Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft" im November 1972 wurden drei Dimensionen der Sozialstruktur definiert, unter denen 12 Auf der Grundlage dieser Operationalisierung sah die Verteilung der anderen Gruppierungen - laut Sozialstatistik der DDR - 1970 folgendermaßen aus: Klasse der Genossenschaftsbauern 8,6 Prozent, Schicht der Intelligenz 8,0 Prozent, Gruppe der kleinen Gewerbetreibenden und privaten Handwerker und Bauern 3,1 Prozent sowie die Gruppe der Genossenschaftshandwerker 3,1 Prozent (Belwe, 1989, S. 131). 13 Zur Abgrenzung gegenüber dem „kapitalistischen" Prozeß und den Erfolgen der „zweiten industriellen Revolution" in den westlichen Industriegesellschaften wurde in den Ländern des real existierenden Sozialismus der Begriff der „wissenschaftlich-technischen Revolution" verwendet.

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die „nichtantagonistischen" Eigentumsverhältnisse nur noch eine darstellten: (l)die Klassen- und Schichtstruktur, die durch die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse erzeugt wurde, (2) die Struktur, die sich aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ergab, und (3) die Strukturen, die durch soziale Differenzierungen in anderen Lebensbereichen verursacht wurden (Laatz, 1974, S. 200). Die 1972/73 durchgeführte „Sozialstrukturuntersuchung 1973" (SU '73) folgte dieser neuen Herangehensweise. Träger der Untersuchung war der Lehrstuhl für marxistisch-leninistische Soziologie am Institut für Gesellschaftswissenschaften Berlin unter Leitung von Buhr und Weidig. Die Untersuchungspopulation umfaßte „Werktätige in der zentralgeleiteten sozialistischen Industrie" einschließlich der dort arbeitenden Angestellten. Trotz ihrer neuen Herangehens weise war auch diese Untersuchung durch eine für sie unlösbare Ambivalenz gekennzeichnet, indem einerseits die Dogmen über die „gesellschaftlichen Grundlagen des Sozialismus"14, die eine weitgehende Homogenität unterstellten, beibehalten werden mußten, man andererseits jedoch daran interessiert war, die Gesellschaft in ihrer Differenziertheit zu erfassen. Nur unter Betonung der „Dialektik von Einheitlichkeit und innerer Differenziertheit" der Arbeiterklasse und mit der Formulierung des Forschungsanliegens, tiefere Einsichten in „strukturelle Entwicklungsgesetze" für den Aufbau der klassenlosen Gesellschaft zu gewinnen, schien es möglich, das Forschungsinteresse auch in den Differenzierungen zu definieren. Diese Untersuchung verdeutlicht erneut sowohl den eigenen als auch den fremdbestimmten Anspruch der Sozialstrukturforschung in der DDR, zu einer Gesellschaftsprognose und Sozialplanung beitragen zu müssen und zu wollen. Die in dieser Untersuchung zugrunde gelegte Strukturdimension „der Stellung im Reproduktionsprozeß" stellte eine wesentliche Neuerung in der Sozialstrukturforschung der DDR dar. Sie wurde durch drei Kriterien definiert: (1) die unmittelbare Tätigkeit (Fertigen, Verwalten, Leiten), (2) das Qualifikationsniveau und (3) die Dispositionsbefugnisse (gestaffelt nach dem Umfang der Weisungsbereiche) (vgl. Laatz, 1974, S. 199 ff; Laatz, 1990, S. 87 f.). Daraus wurden 13 Funktionsgruppen in der Industrie abgeleitet, die das methodische Gerüst für die Erfassung und empirische Auswertung der Daten bildeten. Mit diesen Funktionsgruppen wurde nach Meinung bedeutender DDR-Soziologen (z.B. Steiner, 1966, S. 443 f.) eine Konstruktion gefunden, die ausgehend von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sowohl Rückschlüsse auf die Klassen- und Schichtstruktur der DDR als auch Einblicke in wesentliche Unterschiede verschiedener Arbeits- und Lebensbereiche erlaubte. Richtig ist, daß es sich bei der Klassifizierung nach der „Stellung im 14 Als derartige Grundannahmen wurden in der „Ersten Zwischenauswertung der Sozialstrukturuntersuchung 1973" (zit. in Laatz, 1990, S. 224) die folgenden formuliert: „Die Arbeiterklasse (ist) in ihrer Stellung zum Eigentum und zur politischen Macht eine einheitliche Klasse; sie ist als einheitliche Klasse der Träger der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und sie besitzt in ihrer marxistisch-leninistischen Partei die entscheidende Kraft zur politischen Führung der Gesellschaft."

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Reproduktionsprozeß" um einen erfolgreichen Versuch handelte, der dogmatischen Handhabung der Leninschen Klassendefinition und ihrer „sozialismusadäquaten Umdeutung" - der Existenz von Klassen ohne Antagonismus und Ausbeutung - zu entgehen. Dies geschah vor allem dadurch, indem man Theorie und Empirie auf die Ebene des Betriebes verlagerte/reduzierte. Andererseits muß festgestellt werden, daß es sich um eine „systemfunktionale Sozialstrukturtheorie" (Laatz, 1990, S. 102) handelte, mit der die Rolle und Bedeutung der Partei der Arbeiterklasse gesichert werden konnte (S. 104). Sie leistete einer erneuten Rückbesinnung auf die Arbeiterklasse als der „führenden gesellschaftlichen Kraft unter Leitung der SED" Vorschub. Unveränderter Ausgangspunkt war auch hier die Theorie der Annäherung der Klassen und Schichten, nun jedoch mit einer Schwerpunktverschiebung von der Untersuchung des Ausmaßes der Gemeinsamkeiten hin zur Analyse der (noch bestehenden) sozialstrukturellen Unterschiede, deren Notwendigkeit mit der technischen Arbeitsteilung begründet wurde. Der eigentliche „politisch-ideologische Paukenschlag" (Laatz, 1990, S. 110) kam im März 1980, und zwar aus dem Institut für marxistisch-leninistische Soziologie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, mit dem Vortrag von Lötsch auf dem 3. Soziologiekongreß der DDR. Er formulierte erstmals, daß das Ziel der Sozialstrukturentwicklung gerade nicht in der möglichst raschen Verringerung der bestehenden Unterschiede zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz bestehe, sondern es vielmehr darum gehe, diese sozialen Unterschiede für eine effektive schöpferische Arbeit der Intelligenz zu nutzen (Lötsch, 1981, S. 217 f.). Diese neuen, maßgeblich von Lötsch getragenen konzeptionellen Überlegungen mündeten in das Struktur-Funktion-Paradigma, dessen Grundlage die Typologisierung von Unterschieden entsprechend ihrem sozialen Differenzierungsgrad war. Nach Lötsch (1985, S. 33) existierten drei Typen sozialer Ungleichheit: (1) Soziale Verschiedenartigkeiten ohne wesentliche Niveauunterschiede: strukturelle Erscheinungen in Form „sozialer Besonderheiten, die keine Niveauunterschiede innerhalb der objektiven Lebensbedingungen einschließen". (2) Soziale Unterschiede, die nicht mehr die Qualität sozialer Ungleichheit aufweisen: „Differenzierungen, die durch ein relativ geringes Maß an Niveauunterschieden und durch geringe Bündelung charakterisiert sind". (3) Soziale Ungleichheiten im Sinne wesentlicher Niveauunterschiede in Lebenslagen und -bedingungen: „Differenzierungen, für die große Niveauunterschiede und hochgradige strukturelle Konsistenz (Bündelung) charakteristisch sind".

Das mögliche Maß an sozialer Gleichheit in der sozialistischen Gesellschaft umfaßte nun nicht mehr alle Ungleichheitsdimensionen, sondern wurde auf gleiche soziale Sicherheit, gleiche Bildungsmöglichkeiten und gleiche staatsbürgerliche Rechte, das heißt auf die Beseitigung der - unter drittens genannten - wesentlichen Niveauunterschiede in den Lebenslagen und -bedingungen begrenzt (S. 34). Neben diesen Gleichheitszielen betonte Lötsch (1988, S. 14), daß die Effektivitätserfordernisse ebenfalls Zielkriterien der sozialstrukturellen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft seien. Während erstere dem Kriterium der sozialen Gerech30

tigkeit unterlagen, müßten letztere auf dem Kriterium der Funktionalität sozialer Unterschiede und damit der konsequenten Anwendung des sozialistischen Leistungsprinzips , Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" basieren (Lötsch, 1992, S. 127). Diesbezüglich gelte es, sowohl soziale Besonderheiten (Typ 1) als auch soziale Differenzierungen (Typ 2) als notwendige Anreizstrukturen für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR-Gesellschaft zu nutzen. Diesem Ziel werden soziale Unterschiede seiner Meinung nach dann gerecht, wenn sie „funktional [wirken, das heißt] wenn sie .übergreifende Systemfunktionen' erfüllen". Abzubauen seien sie hingegen dann, wenn sie „dysfunktional [wirken, das heißt] wenn sie diesen widersprechen" (Lötsch, 1992, S. 128; 1985, 1988). Unbeanwortet blieb jedoch die Frage, wer diese „übergreifenden Systemfunktionen" einer Gesellschaft definiert. Entsprechend diesem neuen Paradigma wurde „die stärkere Ausprägung sozialer Unterschiede seit dem 4. Soziologiekongreß 1985 als Voraussetzung für den in der DDR dringend notwendigen Effektivitätsschub" betrachtet (Belwe, 1990, S. 1). 1989 wurde diese Aussage sogar noch erweitert, indem man die Unterschiede zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz als „für den Sozialismus lebensnotwendige Unterschiede" charakterisierte. Bei all dem befand man sich in weitgehendem Einklang mit der offiziellen Parteimeinung, da diese eher funktionalistische, auf rein sachlogischen Erklärungszusammenhängen basierende Sichtweise sozialer Unterschiede die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht in Frage stellte. Diese 1980 formulierte und auf dem 4. Soziologiekongreß bekräftigte These von der „Triebkraftfunktion sozialer Unterschiede" ist - bei all ihrer Fortschrittlichkeit gegenüber den gleichmacherischen Tendenzen in der Theorie der Annäherung der Klassen und Schichten - dennoch ambivalent. Trotz ihres Verdienstes, einen Umdenkungsprozeß in der Sozialstrukturforschung der DDR eingeleitet zu haben, ist sie nicht frei von der Kritik, der SED damit eine „Legitimationsformel für den notwendigen Differenzierungsprozeß geliefert (zu haben)" (Belwe, 1990, S. 1). Es ist nicht verwunderlich, daß das „Struktur-Funktion-Paradigma" weder mit dem „2 Klassen - 1 Schicht - Modell" noch mit der offiziellen Parteiideologie in Konflikt geriet, da es auch gemäß diesem Paradigma „der Grad der Entwicklung der materiellen Produktion (war), der über das Ausmaß und die Zeit der Beseitigung sozialer Unterschiede entschied (...) Damit (suchte es) das Heil im ökonomischen Wachstum (...) und nicht in den Macht- und Herrschaftsstrukturen" (Röder, 1975, S. 16) - und ließ genau diese Strukturebene unangetastet. Im Unterschied zum „2 Klassen 1 Schicht - Modell" legitimierte es ein Anwachsen der Schicht der Intelligenz - und zwar von 8,6 Prozent 1970 auf 15,0 Prozent 1982 (Belwe, 1989,S. 131)-sowiedie seit Beginn der 1980er Jahre einsetzende Stabilisierung der Sozialstruktur15, indem

15 Nach 1982 pendelten sich die Anteile auf folgende Niveaus ein: Arbeiterklasse 75,0 Prozent, Genossenschaftsbauern 6,5 Prozent, Intelligenz 15,0 Prozent, Genossenschaftshandwerker 1,8 Prozent und kleine Gewerbetreibende und Handwerker 1,7 Prozent (vgl. Belwe, 1989, S. 131).

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allen darin integrierten Gruppierungen eine berechtigte Existenz zugesprochen wurde.

Konsequenzen für die Mobilitätsanalysen der DDR-Soziologie Wenn man davon ausgeht, daß sich Stabilität bzw. Veränderungen in der Sozialstruktur einer Gesellschaft in ihren inter- sowie intragenerationalen Mobilitätsprozessen widerspiegeln bzw. über das Mobilitätsregime dieser Gesellschaft realisiert werden, dann sollten Mobilitätsanalysen stets ein integraler Bestandteil von Sozialstrukturforschung sein16. Betrachtet man das verwendete Instrumentarium der DDR-Soziologie zur Analyse der historischen und qualitativen Veränderungen der Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft, so ist festzustellen, daß - im Gegensatz zur soziologischen Forschung in der Sowjetunion, Polen und Ungarn - Mobilitätsanalysen in der DDR eine marginale Rolle spielten. Auch durch die Anerkennung der Triebkraftfunktion sozialer Unterschiede nahm ihre Bedeutung nicht wesentlich zu. Dafür lassen sich (mindestens) zwei Gründe anführen. Zum einen wurde der sozialen Mobilität entsprechend der Ideologie der Parteiführung als einer „bürgerlichen Erscheinung" ihre Relevanz für sozialistische Gesellschaften abgesprochen. Zum anderen setzte man soziale Mobilität in der DDR-Soziologie - und zwar in viel stärkerem Maße als in den anderen osteuropäischen Ländern - mit der „sozialen Annäherung der Klassen und Schichten" gleich, so daß eine gesonderte Thematisierung nicht mehr erforderlich war. Um dennoch ein solches Unterfangen durchführen zu können, galt es, genau diesen Argumenten in diplomatischer Weise zu begegnen. So versuchten Braunreuther und Steiner in ihrer Argumentation hinsichtlich der Notwendigkeit der bereits erwähnten empirischen Untersuchung „Die sozialökonomische und gesellschaftliche Mobilität der Beschäftigten in der Industrie", an wirtschaftspolitische und ideologische Interessen der Parteiführung anzuknüpfen. In ihrer Begründung17 stellten sie folgende Bezugspunkte zum strategischen Bedürfnis der SED nach Sozialplanung her: (1) Eine derartige Mobilitätsuntersuchung sei von unmittelbarem Wert für die Leitungstätigkeit, da sie dem jeweiligen Leiter Angaben über die soziale Struktur der Beschäftigten (einschließlich ihrer sozialen Herkunft und Entwicklungswege) liefere. (2) Sie bilde den Ausgangspunkt für die Entwicklung eines fundierten sozialen Bezugssystems, das es gestatte, Kooperations- und Kommunikationsstrukturen für eine wissenschaftliche Leitungstätigkeit adäquat abzubilden.

16 Zur theoretischen Erklärung des Zusammenhangs von Sozialstruktur- und Mobilitätsanalyse siehe Abschnitt 4.1. 17 Die Begründung der empirischen Untersuchung „Die sozialökonomische und gesellschaftliche Mobilität der Beschäftigten in der Industrie" liegt der Autorin als Manuskript vor.

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(3) Sie sei Ausgangspunkt für eine umfassende empirische Erfassung der sozialen Struktur und ihrer Veränderung und insofern von besonderer Bedeutung für die Arbeit der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik. (4) Sie biete die Grundlage für eine neue Qualität in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie, da sie anhand eigener empirischer Untersuchungen einen Vergleich mit Umfang und Qualität der Mobilität mit Westdeutschland erlaube.

Zwar gelang es den beiden Soziologen, die Genehmigung dieser empirischen Untersuchung durch die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik im Auftrag des Ministerrats der DDR zu erwirken, ihre genuin soziologischen Forschungsinteressen vermochten sie jedoch nicht zu realisieren. Auch in der Folgezeit blieb es bei dem herkömmlichen Strukturschema, das nur zwischen „Arbeitern und Angestellten", „Bauern" und „Intelligenz" als „befreundete" Klassen und Schichten unterschied. Zum anderen setzte man weiterhin bei der Bestimmung der sozialökonomischen Strukturdimensionen in der sozialistischen Gesellschaft auf statische Strukturanalysen (wie die „Sozialstrukturuntersuchung 1973" zeigt) anstatt auf dynamische Mobilitätsuntersuchungen. Mit dem „Struktur-Funktion-Paradigma" und der Postulierung der Triebkraftwirkung sozialer Unterschiede wurde soziale Mobilität nun zumindest insoweit berücksichtigt, wie sie für die Reduzierung bzw. die Reproduktion sozialer Differenzierung eine Rolle spielte. Als theoretisch-methodologische Prämisse für „marxistische" Mobilitätsanalysen definierten Lötsch und Freitag (1981, S. 90 ff.) soziale Mobilität als Verschiebungen zwischen Klassen und Schichten und nicht zwischen Tätigkeiten, die demnach nicht als die Summe individueller Bewegungen innerhalb eines festgefügten Rahmens sozialer Gruppierungen gefaßt werden könne, sondern nur als wesentliches Moment und Instrument struktureller Veränderungen. Damit definierten sie Mobilität als einen sozialen und nicht als einen technischen und instrumentell geplanten sowie als einen entwicklungsnotwendigen und nicht als einen zufalligen Prozeß. Unangetastet blieb allerdings die Konflikthaftigkeit von Mobilitätsprozessen, die sich aus Tendenzen der „sozialen Schließung bzw. Abschottung" der Klassen und Schichten18 und den damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Überwindung von Barrieren zwischen den Klassen ergibt. Mit diesen Prämissen wurden die „politische Inszenierung" und der Zusammenhang von strukturellen Veränderungen und Sozialstrukturentwicklung anerkannt, deren Auswirkungen jedoch nicht herrschaftstheoretisch hinterfragt. In ähnlicher Weise blendete auch Bathke (1985) in seiner Studie „Sozialstrukturelle Herkunftsbedingungen und Persönlichkeitsentwicklung von Hochschulstudenten"19 den Zusammenhang zwischen vorhandenen Machtstrukturen und 18 Vgl. Parkins „Concept of Social Closure" (1979a, 1979b). 19 Die empirische Basis der Studie sind die Befragung „Student 79" (6.000 Hochschulstudenten aus 65 Sektionen an 6 Universitäten und 13 Hochschulen) und die zweite „Studentenintervallstudie Leistung - SIL" (4.830 Studienanfänger von 16 Universitäten und Hochschulen) des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig.

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Reproduktionstendenzen aus. Ohne nach den herrschaftstheoretischen Ursachen zu fragen, konstatierte er - was durchaus nicht selbstverständlich war - eine Abhängigkeit zwischen dem Zugang zum Hochschulstudium und den sozialstrukturellen Merkmalen der Eltern (berufliche Qualifikation, soziale Stellung und SEDMitgliedschaft): „Aus der Sicht der Qualifikation und Tätigkeit stammen Hochschulstudenten überproportional aus der sozialen Schicht der Intelligenz und aus politischer Sicht häufig aus hochqualifizierten im Partei- und Staatsapparat tätigen Arbeitern und Angestellten. Diese Reproduktionstendenzen haben sich in den letzten Jahren (...) verstärkt." (Bathke, 1985, S. 36)

Fast im gleichen Atemzug lieferte er eine Legitimierung für diese Befunde. Diese Reproduktionstendenzen seien das Resultat der „sozialen Errungenschaften des Sozialismus": „Anhand der sozialen Herkunft der Eltem werden nachhaltig die bildungspolitischen Maßnahmen, die in unserem Lande nach 1945 mit der Brechung des Bildungsprivilegs, der Förderung der Arbeiter- und Bauemkinder usw. eingeleitet wurden, bestätigt. Damit muß konstatiert werden: Die Hochschulstudenten rekrutieren sich in starkem Maße aus der neuen sozialistischen Intelligenz." (S. 36) „Während sich die ersten Jahrgänge [der Intelligenz] aus den dargestellten Gründen überwiegend aus Arbeitern und Bauern bzw. deren Kindern rekrutieren, geht mit der Verjüngung der Alterskohorten eine Einengung der sozialen Rekrutierungsquellen einher." (S. 65)

Dies ist im Kern der Sache sicherlich richtig. Die Positionen der Intelligenz waren besetzt, ihre Selbstreproduktion ist, wenn die Leistungspotentiale der anderen sozialen Gruppen ausgeschöpft sind, die logische Konsequenz. Kritikwürdig an dieser Aussage ist die Verklärung dieser Prozesse als Errungenschaft, ohne auch nur ansatzweise den privilegiensichernden Aspekt dieser Tendenzen für die „neue sozialistische Intelligenz" und die Verletzung der proklamierten Chancengleichheit zu problematisieren. Zur Bewertung dieser Selbstreproduktion heißt es bei Bathke: „Hier reproduziert sich keine ,Elite', eine von der Arbeiterklasse losgelöste soziale Schicht, sondern eine durch die Macht der Arbeiterklasse geschaffene soziale Schicht der Intelligenz, ihre .eigene' Intelligenz." ( S. 53 f.) Auch wenn hier abermals kritisch festgestellt werden muß, daß die in der politischen Machtstruktur begründeten Ursachen für derartige Schließungsprozesse außer acht gelassen bzw. sogar noch legitimiert wurden, so ist doch eines hervorzuheben: Bathke thematisierte zwei Probleme, die in der Sozialstrukturforschung der DDR - außer bei Meier (1981) - weitgehend tabuisiert waren, nämlich die sozialstrukturellen Herkunftsbedingungen als konkrete soziale Entwicklungsbedingungen und die Selbstrekrutierungstendenzen der Sozialstruktur der DDR. Im Fazit ist festzustellen: Trotz des Paradigmawechsels Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre, aufgrund dessen soziale Unterschiede nun als konstruktiv und für die sozialistische Gesellschaft „lebensnotwendig" bzw. funktional angesehen wurden, ist für die Sozialstrukturforschung sowie die DDR-Soziologie insgesamt charakteristisch, daß Macht- und Herrschaftsverhältnisse, insbesondere deren Ursachen und Folgen, weder explizit noch implizit analysiert wurden. Die 34

Macht der herrschenden Partei wurde mit der definitorischen Gleichsetzung der Interessen der Arbeiterklasse und derjenigen „ihrer" Partei aus der Strukturanalyse ausgegrenzt (Röder, 1975, S. 8). Damit wurden sowohl im „2 Klassen 1 Schicht - Modell" als auch im „Struktur-Funktion-Paradigma", die beide Versionen einer nichtantagonistischen Klassentheorie darstellen, die sozialen Träger gesellschaftlicher Konflikte eliminiert. Damit soll nicht unterstellt werden, daß dies aus der „intellektuellen Unfähigkeit" der DDR-Soziologen resultierte. Mit den Worten von Ingrid und Manfred Lötsch ist zur „Begründung" dieser Abstraktion von den Macht- und Herrschaftsverhältnissen anzuführen, daß „die in der DDR betriebene Soziologie konzeptionell nicht autonom war. Ideologie, verstanden als erstarrtes und auf spezifische Weise institutionalisiertes Bewußtsein (und insofern als .falsches Bewußtsein'), ging auch an der Soziologie im allgemeinen und an der soziologischen Beschäftigung mit dem Thema .Sozialstruktur' im besonderen nicht spurlos vorüber." (Lötsch und Lötsch, 1992, S. 94)

1.2 Sozialstrukturmodelle in der soziologischen Diskussion der anderen sozialistischen Länder Während die DDR-Soziologie hinsichtlich der sozialökonomischen Strukturierung der sozialistischen Gesellschaften am „2 Klassen - 1 Schicht - Modell" festhielt20, gab es in anderen sozialistischen Ländern auch alternative Sozialstrukturmodelle. Eine dieser alternativen Herangehensweisen bestand darin, daß - aufgrund der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und damit der gleichen Stellung aller zu den Produktionsmitteln als „Eigentümer" - das Klassenmodell für die eigene Gesellschaft als nicht adäquat angesehen wurde. An seine Stelle trat eine Strukturierung sozialistischer Gesellschaften entlang von Statushierarchien. Andere Ansätze hingegen hielten an der Relevanz der Eigentumsverhältnisse als Strukturdimension und - im Gegensatz zum „nichtantagonistischen Klassenmodell" - als soziale Träger von strukturellen Konflikten im Sozialismus fest. Wie diese Sozialstrukturmodelle im einzelnen aussahen, wird im folgenden dargestellt.

Die Klassentheorie „marxistisch-leninistischer" Prägung Die Sozialstrukturforschung auf dem Boden des Marxismus-Leninismus in den anderen sozialistischen Ländern unterschied sich in ihrem Wesen nicht von der in 20 Arbeiten ausländischer Soziologen, die das „2 Klassen - 1 Schicht - Modell" in Frage stellten, wurden in der DDR gar nicht oder in stark zensierter Form veröffentlicht.

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der DDR, abgesehen von einigen Modifizierungen des „2 Klassen - 1 Schicht Modells", die aus landeseigenen Besonderheiten21 resultierten. Da dieses Modell bereits ausführlich dargestellt wurde, wird hier auf eine wiederholte Beschreibung verzichtet. Vielmehr sollen an dieser Stelle die wesentlichen Prämissen des offiziellen marxistisch-leninistischen Klassenmodells sozialistischer Gesellschaften zusammengefaßt werden. Dieses Modell basierte - ganz gleich ob in der DDR oder der Sowjetunion, in Polen oder Ungarn - auf folgender Argumentationskette22: Marx bestimmte Klassen auf der Basis der Eigentumsverhältnisse, daher sollte dieselbe Methode auch für die sozialistische Gesellschaft angewendet werden. Das heißt, im Sozialismus existieren, abgesehen von den Resten an Privateigentum, zwei Formen von Eigentum: staatliches und genossenschaftliches. Folgerichtig gäbe es zwei Klassen: die Arbeiterklasse und die Klasse der genossenschaftlich zusammengeschlossenen Bauernschaft. Diese beiden Klassen sind damit produzierende Klassen, deren Reproduktion und Entwicklung tendenziell zur Homogenisierung der Gesellschaft führte 23 . Die Machtfrage „löste" man in diesem Modell dadurch, daß man den Staat und die Partei als einen Teil der Arbeiterklasse definierte. Das „2 Klassen - 1 Schicht - Modell" stellt eine mildere Form innerhalb der nichtantagonistischen klassentheoretischen Argumentationslinie dar. „Mildere Form" in dem Sinne, als es - wie in der Diskussion der Sozialstrukturforschung der DDR deutlich wurde - nicht unterstellte, daß die Abschaffung des Privateigentums automatisch zu einer Eliminierung aller sozialen Unterschiede in sozialistischen Gesellschaften führe, und somit soziale Ungleichheit und Interessenunterschiede auch diesen Gesellschaften immanent seien. Sie resultierten entsprechend den Vertretern dieses Modells aus der Verschiedenheit der sozialökonomischen Basis der Klassen und Schichten (staatliches, genossenschaftliches und Privateigentum) sowie der Unvollkommenheit der technischen (Produktivkraft-)Entwicklung. Damit wurden zwar soziale Unterschiede zugelassen, jedoch ihres antagonistischen und konflikthaften Charakters beraubt. Die Quintessenz war: Es gab Widersprüche, aber keine Konflikte in staatssozialistischen Gesellschaften.

21 Im Unterschied zur Definition der Klasse der Genossenschaftsbauern in der DDR-Soziologie begründete in der Sowjetunion die „Mitgliedschaft im Kolchos" noch nicht die Zugehörigkeit zur Klasse der Kolchosbauern. Agronomen, Zootechniker und ähnlich qualifizierte Kolchosmitglieder wurden ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung nach der Intelligenz zugeordnet (vgl. Rutkewitsch und Filippow, 1979). 22 Die folgende Darstellung basiert im wesentlichen auf der Kritik von Szelenyi (1978, S. 69; 1982, S. 292). 23 Anzumerken ist, daß im gleichen Atemzug, wie die Vertreter dieses Modells die homogenitätsstiftende Wirkung der sozialistischen Eigentumsordnung für ihre Gesellschaften betonen, sie für kapitalistische Gesellschaften genau das Gegenteil behaupteten, nämlich die sozial differenzierende Wirkung der kapitalistischen Eigentumsordnung.

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Alternative Herangehensweisen Innerhalb der alternativen Herangehensweisen der Untersuchung der Sozialstruktur staatssozialistischer Gesellschaften lassen sich vor allem zwei unterschiedliche Theorieangebote ausmachen: Statusmodelle und Klassenmodelle, insbesondere neo-marxistischer Prägung. Von ihrem theoretischen Gehalt her zielen erstere primär auf die Erklärung des Ausmaßes an tatsächlicher Ungleichheit, letztere auf die Erklärung der strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit (S0rensen, 1991a, 1994). Obwohl diese Ansätze aus theoretischer Sicht daher eher als komplementäre denn als kontroverse Herangehensweisen zu betrachten sind, traten sie in der Sozialstrukturforschung staatssozialistischer Gesellschaften als rivalisierende Ansätze auf. Beide nahmen für sich in Anspruch - bei Ausgrenzung des jeweils anderen Erklärungsansatzes - , die angemessenere Reflexion der Verfaßtheit staatssozialistischer Gesellschaften liefern zu können und nicht nur komplementäre analytische Fragestellungen in diesem Zusammenhang zu beantworten. Beide Ansätze konstatieren zwar, daß soziale Ungleichheit in den Ländern des real-existierenden Sozialismus existiert hat, und es demzufolge keine homogene Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums gab. Der Unterschied besteht darin, daß sie diese Schlußfolgerung aus unterschiedlichen Grundannahmen ziehen: Die Vertreter der Statusmodelle gehen von einer Realisierung des gesellschaftlichen Eigentums als „Völks"eigentum aus. Sie sehen die Ursache sozialer Ungleichheit in der konkreten Realisierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in diesen Ländern und damit in der sozial ungleichen Bewertung funktionaler Unterschiede. Im Gegensatz dazu begreifen die Vertreter der Klassenmodelle das gesellschaftliche Eigentum als Staats- und letztlich als „Partei"eigentum, was eine ungleiche Verteilung von Verfilgungsgewalten über die Produktionsmittel impliziert. Für beide Herangehens weisen soll im folgenden dargestellt werden, warum sie diese unterschiedlichen Strukturdimensionen als strukturelle Ursache sozialer Ungleichheit in der staatssozialistischen Gesellschaft definieren, wie sich ihre so gegensätzlich erscheinenden Befunde erklären und in Einklang bringen lassen, und schließlich, inwieweit sie zu einer sinnvollen Charakterisierung der strukturellen Verfaßtheit der DDR-Gesellschaft herangezogen werden können. Statusmodelle Die Vertreter der Strukturierung der sozialistischen Gesellschaft entlang von Statushierarchien begründen ihre Auffassung damit, daß, wenn die Beziehung zu den Produktionsmitteln im Sozialismus für alle gleich ist, Unterschiede in den Einkommen, in der Art der Arbeit usw. nicht mehr durch Eigentumsverhältnisse determiniert werden können (Wesolowski, zit. in Röder, 1972, S. 112). Infolgedessen sprechen sie dem Klassenparadigma seine Relevanz für sozialistische Gesellschaften ab und sehen in Statusanalysen den adäquaten Weg für die Abbildung ihrer Sozialstruktur. 37

Nach Auffassung der polnischen Soziologen Wesolowski und Mach beruht die sozialistische Gesellschaft auf einem Verteilungsmechanismus, der für die Existenz sozialer Ungleichheit verantwortlich ist (zit. in Röder, 1972). Das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" definiert eine Verteilung der materiellen Güter entsprechend einer vertikalen sozialen Differenzierung, die durch Unterschiede in den beruflichen Qualifikationen und intellektuellen Fähigkeiten verursacht wird (S. 174). Damit wird das Konfliktpotential der Gesellschaft in der sozial ungleichen Belohnung der unterschiedlichen Positionen im Gefüge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gesucht24. Im Ergebnis seiner Analyse kommt Wesolowski (1979, S. 101) zu der Schlußfolgerung, daß trotz der einheitlichen Eigentumsverhältnisse - von denen er ausgeht - soziale Unterschiede in sozialistischen Gesellschaften existieren. Deren Ursache können nun aber nicht mehr die Eigentumsverhältnisse sein, verursacht werden sie vielmehr durch das sozialistische Verteilungsprinzip, da hier der Widerspruch zwischen Egalisierungs- versus Differenzierungstendenzen fortbesteht15. Dieser Verteilungsmechanismus basiert einerseits auf Tendenzen der Egalisierung, wie zum Beispiel auf dem einheitlichen Bildungssystem, den staatlich festgelegten Löhnen und Preisen, durch die Einkommensunterschiede im Sozialismus an Bedeutung verlieren. Andererseits verursacht die sozial ungleiche Bewertung funktionaler Unterschiede Gegentendenzen, wie zum Beispiel den Bedeutungszuwachs von Qualifikation und den Bedeutungsverlust von Einkommen in der Bestimmung von Sozialprestige, durch die das bestehende System der sozialen Schichtung reproduziert wird26. Die Zunahme vertikaler sozialer Differenzierung hinsichtlich der beruflichen Qualifikationen bei gleichzeitiger Abnahme von Einkommensunterschieden wird durch den Prozeß der Statusdekomposition erklärt (Wesolowski, 1979, Wesolowski

24 Damit greift Wesolowski die Überlegungen von Davis und Moore (1973) auf. Soziale Schichtungen entstehen in jeder Gesellschaft, da die unterschiedlichen Positionen, die es in einer Gesellschaft aufgrund der Arbeitsteilung zu besetzen gilt, ungleich „belohnt" werden. Die Tatsache der „Ungleichheit der Rewards" wird aus der Verschiedenheit der funktionalen Bedeutung der einzelnen Positionen für die Gesellschaft, der unterschiedlichen Verfügbarkeit von Personen für die einzelnen Positionen und den mit den jeweiligen Positionen verbundenen Ausbildungsnotwendigkeiten erklärt. 25 Diese Zeitweiligkeit des Fortbestehens sozialer und kultureller Ungleichheit im Sozialismus ist einer der wesentlichen Kritikpunkte der herrschaftstheoretischen Erklärungsversuche. Im Unterschied zu der oben vertretenen Auffassung versuchen sie nachzuweisen, daß die vorhandenen Unterschiede durch dem Sozialismus eigene Mechanismen produziert und, solange dieses System existiert, reproduziert werden. 26 Der Autorin ist nicht bekannt, inwieweit Wesolowski und Lötsch direkt oder indirekt Kenntnis voneinander hatten. Auffällig ist jedoch, daß Wesolowskis Unterscheidung zwischen Egalisierungs- und Differenzierungstendenzen des sozialistischen Verteilungsprinzips dem StrukturFunktion-Paradigma von Lötsch gleicht (siehe Abschnitt 1.1). Letzterer unterscheidet ebenfalls zwischen dem Kriterium der sozialen Gerechtigkeit und dem Kriterium der Funktionalitat sozialer Unterschiede und definiert in ihnen die grundlegenden Bestandteile des sozialistischen

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und Mach, 1985)27. Diese These der Dekomposition von Statusmerkmalen in sozialistischen Gesellschaften vertraten auch andere Soziologen, wie zum Beispiel der Pole Szczepanski (1970) oder die Tschechen Mateju (1990), Machonin und Tucek (1992), wobei letztere für die Bezeichnung des gleichen Sachverhalts den Begriff der „Ent-Stratifizierung" eingeführt haben. Die Theorie der Statusdekomposition basiert auf der Annahme, daß im Sozialismus keine Bündelung von niedrigem Ausbildungsniveau, niedrigem Einkommen und niedrigem Berufsprestige mehr existiert. Gestützt wurde diese These durch die Beobachtung, daß in sozialistischen Gesellschaften die Teilhabe an politischer Macht weder mit dem höchsten Einkommen noch mit höherer Bildung gleichbedeutend war: die sozialistische Gesellschaft demnach eine Gesellschaft war, in der die Besetzung von Positionen nach Qualifikationskriterien sowie die Entsprechung von Bezahlung und Qualifikation auf „einer breiten Basis zerstört worden ist" (Wesolowski und Mach, 1985, S. 222 und 225): „Gewiß die breite Masse der Arbeiter und Angestellten (wurde) auf die verschiedenen Berufe und Positionen nach dem Grad ihrer Ausbildung verteilt. In dieser Hinsicht könnte Polen als äußerst meritokratische Gesellschaft beschrieben werden (...) Bei der Besetzung von Fiihrungspositionen (waren jedoch) Parteimitgliedschaft oder informelle Freundschaftsnetzwerke oft wichtiger als Qualifikationen" (S. 222).

Zugleich traten gravierende Verzerrungen in der Einkommensskala auf, so daß sie „weder den Schwierigkeitsgrad der Arbeit noch die vom Arbeiter verlangten Fähigkeiten (widerspiegelte)" (S. 225). Diese Dekomposition von Einkommen und Prestige werteten Wesolowski und andere als einen entscheidenden Indikator für die Eliminierung von Eigentum als Determinante der Sozialstruktur: „Now the shift from a social hierarchy based on property to a social hierarchy based on occupation can be seen." (Szczepanski, 1970, S. 140) Ihre Herangehensweise beruht auf der Annahme, daß „die Arbeitsteilung und die Machtverteilung eindeutig die Stellung eines Individuums in der Gesellschaftsstruktur (angeben)", da diese beiden Mechanismen letztlich „den Zugang zu Gütern und Werten (begrenzen) und seine Einstellungen und sein Verhalten

Verteilungsprinzips. Im Gegensatz zu Wesolowski nahm Lötsch jedoch eine ideologische Bewertung der sozialen Unterschiede mit seiner Differenzierung nach systemfunktionalen und systemdysfunktionalen Unterschieden vor: Erstere galt es für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR zu nutzen, letztere galt es zu beseitigen (Lötsch, 1985, 1988). Einen derartigen - möglicherweise nur aus taktischen Gründen notwendigen - Rückzug in die offizielle Parteiideologie vollzog oder hatte Wesolowski nicht zu vollziehen, wie anhand der weiteren Ausführungen deutlich wird. Ferner thematisierte Lötsch Differenzierungen nur in ihrer qualifikatorischen Dimension sowie im Zusammenhang mit ausgewählten Aspekten der Lebensweise, wie zum Beispiel Stadt und Land. Im Gegensatz zu Wesolowski blieb bei ihm der politische Aspekt sozialer Differenzierung ausgeblendet. 27 In der internationalen Forschung wird dies mit dem Weberschen Begriff der „Status-Inkonsistenzen" bezeichnet.

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(bestimmen)" (Wesolowski und Mach, 1985, S. 206). Damit definieren sie - im Gegensatz zum nichtantagonistischen Klassenmodell - die Machtverteilung explizit als eine der entscheidenden Schichtungsdeterminanten in sozialistischen Gesellschaften. In seinen Arbeiten thematisiert Wesolowski vor allem die Auswirkungen der politischen Machtverhältnisse auf die Mobilitätsprozesse im Sozialismus, wie zum Beispiel die Besetzung von Leitungspositionen in Staat und Wirtschaft durch Parteimitglieder oder die Substitution von Kompetenz durch politische Loyalität als Grundlage sozialer Wertungen. Ein Ergebnis dieser Analysen - in Zusammenarbeit mit Mach - ist die These von der Existenz unterschiedlicher Mobilitätsmuster in den verschiedenen Entwicklungsperioden der sozialistischen Gesellschaft: „Nach einer anfänglichen Periode der kollektiven Mobilität benötigen sozialistische Gesellschaften, die in Industrialisierung begriffen sind, in zunehmendem Maße individuelle Mobilität." (Wesolowski und Mach, 1985, S. 211) Die Veränderungen der Mobilitätsmuster und der zugrundeliegenden Ungleichheitsstrukturen in den Ländern des real-existierenden Sozialismus führen die Autoren vor allem auf politische Maßnahmen zurück. Wodurch diese ungleiche Machtverteilung verursacht wird und warum Politik gerade in diesen Gesellschaften zu derartig tiefgreifenden Interventionen fähig ist, erklären sie nicht. Ähnlichen Überlegungen folgend, definiert Machonin (1967, 1970) ein multidimensionales Schichtungskonzept für die sozialistische Gesellschaft, das von fünf Strukturdimensionen ausgeht, die für die Statusbestimmung als relevant erachtet werden: (1) Ausbildung und Qualifikation, (2) Komplexität der Arbeit, (3) Teilhabe an Macht, (4) Einkommen und (5) Lebensniveau (materieller Lebensstandard und kulturelles Niveau der Freizeitgestaltung) (Machonin und Tucek, 1992, S. 2). Empirisch versuchten Machonin und seine Kollegen (1967, 1970; Machonin und Tucek, 1992) mit Hilfe dieses multidimensionalen Schichtungskonzepts, die Entstratifizierung sozialistischer Gesellschaften zu zeigen. In ihren Analysen kamen sie für die (ehemalige) Tschechoslowakei28 zu folgenden Ergebnissen (Machonin und Tucek, 1992, S. 4 ff.)29: Insgesamt hat unter den Bedingungen

28 Für die DDR liegen derartige Untersuchungen nicht vor. Grund dafür ist unter anderem der im Vergleich zu anderen sozialistischen Ländern - wesentlich stärkere Eingriff der Partei in die sozialwissenschaftliche Forschung. Ähnliches trifft auch für die Soziologie in der Sowjetunion zu. Dieser Mangel konnte nur sehr begrenzt durch die westdeutsche DDR-Forschung aufgefangen werden. Die Einschränkungen, die sich aus dem Datenzugang ergaben,waren in der DDR wesentlich größer als zum Beispiel in Polen, Ungarn oder in der CSSR. Man war ausschließlich auf die Datenerhebungen der DDR selbst und deren zensierte Veröffentlichungen angewiesen, die jedoch nicht durch externe Kontrollmöglichkeiten auf Validität hin geprüft werden konnten. Der externe Zugang zu Primärdaten blieb verwehrt. 29 Die hier vorgestellten Resultate beziehen sich vor allem auf die Sozialstrukturerhebung von 1984 des Instituts für Philosophie und Soziologie der Akademie der Wissenschaften in Prag. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Machonin und andere jedoch auch für die Zeit vor dem

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der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft" die Interdependenz der einzelnen statusgenerierenden Dimensionen abgenommen (mit einer Ausnahme: Es bestand auch weiterhin ein starker Zusammenhang zwischen Qualifikation und Komplexität der Arbeit). Dies führten sie auf zwei Ursachen zurück. Zum einen führte die Vorherrschaft des „sozialistischen Staates", das heißt die totale Kontrollgewalt der Partei und Staatsbürokratie, zu einer Dominanz der Machtdimension gegenüber den anderen Statusdimensionen. Dies führte zu einer extremen Ungleichheit zwischen dem herrschenden und dem beherrschten Teil der Gesellschaft (Machonin und Tucek, 1992, S. 4). Zum anderen wurden die meritokratischen Prinzipien bei der Zuordnung von Personen zu Positionen30 aufgrund extrem hoher Einkommensgleichheit (sowohl hinsichtlich der Löhne als auch der sozialen Sicherheit) zunehmend außer Kraft gesetzt (S. 4 f.). Im Ergebnis konnten nur für die oberste und die unterste Schicht der tschechischen Gesellschaft konsistente Statusallokationen festgestellt werden. Für die Mehrheit jedoch, das heißt ungefähr 65 Prozent der Bevölkerung, waren eher hohe Inkonsistenzen zwischen der Position in der Machthierarchie, dem Einkommen sowie dem materiellen und kulturellen Lebensstandard charakteristisch (S. 7 f.). Erklärt wurde diese Spaltung in einen stratifizierten und einen entstratifizierten Teil damit, daß sich die totalitäre, bürokratische Macht und die egalitären, antimeritokratischen Prinzipien ergänzten bzw. zu ergänzen hatten, da vor allem letztere der Selbstlegitimation des politischen Systems dienten. Machonin und Tucek charakterisieren daher die staatssozialistische Gesellschaft als entstratifizierte Gesellschafte mit einem totalitären und zugleich antimeritokratischen Charakter, in der materielle Ungleichheit für breite Teile der Bevölkerung abgenommen hat und zunehmend durch kulturelle Differenzierungen ersetzt wurde (S. 8). Ihre Ergebnisse werten sie auch als Indikator dafür, daß eine Destrukturierung des Systems von innen heraus stattgefunden hat. Die zunehmende Spannung zwischen der herrschenden und der untersten Schicht als auch die zwischen der herrschenden Schicht und den entstratifizierten Schichten verursachten permanente Konflikte und politische Krisen (S. 8). Zu einem ähnlichen Resümee ihrer Analysen kommen auch Mach und Wesolowski für Polen (Wesolowski, 1979; Wesolowski und Mach, 1985). Sie sehen ebenfalls in der

Prager Frühling, das heißt kurz nachdem sich das neue System etabliert hatte, wie die Ergebnisse der Untersuchung zur vertikalen Differenzierung und Mobilität in der Tschechoslowakei von 1967, durchgeführt vom Institut für Politik- und Sozial Wissenschaften der Karls-Universität in Prag, zeigen (Machonin, 1967; Machonin und Tucek, 1992). 30 Meritokratie heißt, „Belohnungen", wie zum Beispiel Einkommen, Prestige oder Beförderung, werden eindeutig nach den Regeln des Besitzes von Qualifikationen verteilt. „Der Erwerb von gehobenen Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen gilt (...) als die beste Voraussetzung für beruflichen Erfolg und gutes Einkommen." (Kreckel, 1993, S. 53) Mit anderen Worten, die hierarchische Qualifikationsdimension der Berufsstruktur widerspiegelt sich in einer entsprechend stratifizierten Einkommensverteilung.

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Statusdekomposition eine der internen Ursachen für den „Legitimations- und Legalitätsverlust der politischen und gesellschaftlichen Ordnung" in Polen (Wesolowski und Mach, 1985, S. 210). Die Auseinandersetzung mit der statustheoretischen Reflexion der Sozialstruktur staatssozialistischer Gesellschaften führt zu zwei generellen Fragestellungen. Erstens: Müssen Analysen, die dem Statusparadigma folgen, überhaupt eine Annahme über die Relevanz der Eigentumsverhältnisse für die soziale Strukturierung einer Gesellschaft formulieren? Zweitens: Ist ihre Schlußfolgerung, wonach aus der „Entstratifizierung" staatssozialistischer Gesellschaften die Eliminierung der Eigentumsverhältnisse als Strukturdimension abzuleiten ist, zutreffend und zwingend? Die erste Frage läßt sich ziemlich schnell und einfach mit einem „Nein" beantworten. Die analytische Fragestellung der Untersuchung von Statusunterschieden besteht vor allem in der Beschreibung des Ausmaßes sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft und nicht in der Erklärung, wie diese Ungleichheit verursacht wird (Blau und Duncan, 1967). Erklärungen für das beschriebene Maß sozialer Ungleichheit suchen Statusmodelle in den Allokationsprozessen von Personen in vorhandene Positionen sowie in ihren individuellen Eigenschaften, ohne zu fragen, warum es diese Positionen überhaupt gibt und warum funktionale Unterschiede sozial ungleich belohnt werden. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit die vorgestellten Ergebnisse der Statusanalysen eine generelle Schlußfolgerung über die Relevanz von Eigentumsverhältnissen in staatssozialistischen Gesellschaften zulassen. Ist es gerechtfertigt, die abnehmende Wirkung meritokratischer Prinzipien bei gleichzeitig zunehmender kultureller Differenzierung als Anzeichen einer zunehmenden „Klassenlosigkeit" staatssozialistischer Gesellschaften zu werten? Oder wurde diese eigentümliche Verzahnung von Egalisierung und Differenzierung nicht vielmehr durch bestimmte Klasseninteressen verursacht, bei denen es darum ging, auch für diese Gesellschaften eine Ungleichheit in Besitz und Kontrolle über die produktiven Ressourcen zu legitimieren und zu reproduzieren? Liegt diesem Wechselspiel von Egalisierung und Differenzierung letztlich nicht gerade der Widerspruch zwischen ideologischem Anspruch und tatsächlicher Situation zugrunde, dem in den Analysen von Statusunterschieden nicht systematisch nachgegangen wurde? Stellt man die Frage so, dann liegt die Vermutung nahe, daß die vorgefundene Statusdekomposition gerade den Widerspruch zwischen dem gesetzlich fixierten Volkseigentum und der tatsächlichen Verfügungsgewalt über die verstaatlichten Produktionsmittel durch eine exklusive Gruppe, bestehend aus denjenigen, die den Staat personifizierten, widerspiegelt (Djilas, 1957, S. 65 f.). Hinterfragt man daher das Wesen des gesellschaftlichen Eigentums und geht nicht von seiner ideologisch gesetzten Realisierung aus, dann wird ein systemimmanenter Legitimationszwang sichtbar, der auch die dargestellten Tendenzen der Statusdekomposition zu erklären vermag - und zwar gerade aus den Eigentumsverhältnissen staatssozialistischer Gesellschaften, dem „staatlichen Eigentum". Dieser Legitimationszwang bestand darin, daß die Eigentümer der verstaatlichten Produktionsmittel zu

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„einem vor allem volkswirtschaftlich riskanten Balanceakt zwischen ihren gesellschaftlichen Zielen und einer möglichst permanenten sozialen Befriedigung der Arbeiterschaft, gewissermaßen zu einem sozial gesteuerten Burgfrieden" (Hübner, 1993, S. 15 f.) gezwungen waren. In der Konsequenz hieß das: „Die Daseinsvorsorge und Existenzsicherung durch das parteistaatliche System (wurde) gegen den Verzicht auf autonome Gestaltungschancen (eingetauscht) (...) Diese Versorgungs- und Zuteilungsmaschinerie reichte von der formalen Sicherheit eines Arbeitsplatzes über die Lenkung beruflicher Karrieren mit Qualifikationsmöglichkeiten bis hin zur Versorgung mit Wohnraum oder zur Subvention des Grundbedarfs bei Konsumgütern, Verkehrstarifen und Dienstleistungen." (Gutmann, 1993, S. 13)

Insgesamt unterstellen diese Modelle die gleiche Stellung aller zu den Produktionsmitteln, ohne zu fragen, ob nicht doch eine Kluft zwischen den politisch propagierten und den tatsächlichen Eigentumsverhältnissen existierte. In der so definierten „klassenlosen" Gesellschaft werden zwar soziale Unterschiede und Interessenwidersprüche nicht ausgeschlossen, jedoch auf das Maß von Statusunterschieden reduziert, womit ihr Klassencharakter verlorengeht. Damit wird die Analyse des Konfliktpotentials auf die aus dem Verteilungsmechanismus der sozialistischen Gesellschaft erwachsenen Gegensätze beschränkt. Die strukturellen Ursachen, die diesem Verteilungsmodus zugrunde liegen, bleiben im verborgenen. Herrschaftstheoretische

Modelle

Die Modelle, die in erster Linie die Teilung der sozialistischen Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte reflektieren, stellen eine weitere Alternative zu dem offiziellen „2 Klassen - 1 Schicht - Modell" dar. Innerhalb dieser Modelle lassen sich unterschiedliche Herangehensweisen kennzeichnen. Einige von ihnen basieren auf Grundannahmen des Marxschen und/oder Weberschen Klassenbegriffs. Andere kommen in ihrer Kritik gegenüber Ansätzen, die die sozialistische Gesellschaft als fortschrittlich und modern auffassen, zu der Schlußfolgerung, daß sie als eine „Ständegesellschaft" zu charakterisieren sei. Klassenmodelle. Da die einzelnen Klassenmodelle Schwerpunkt des anschließenden Abschnitts (siehe Abschnitt 1.3) sein werden, soll an dieser Stelle auf ihre detaillierte Darstellung verzichtet werden. Im Rahmen der hier zu leistenden Auseinandersetzung mit sozialstrukturellen Ansätzen in den anderen sozialistischen Ländern soll eine kurze Zusammenfassung ihrer Grundannahmen genügen. Die Vertreter des klassentheoretischen Ansatzes gehen von der Relevanz der Eigentumsverhältnisse für die Spaltung der sozialistischen Gesellschaft in eine Mehrheit von Produzierenden und eine Minderheit von Nichtproduzierenden aus. Als „oberflächlich marxistisch" bezeichnen die Polen Kuron und Modzelewski (1969) die Gleichsetzung von staatlichem und gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln. Ihrer Auffassung nach handelt es sich beim „staatlichen Eigentum" vielmehr um eine spezifische Form des Eigentums, das „denjenigen gesellschaftlichen Gruppen (gehört), denen der Staat gehört (...) Die politische 43

Macht verbindet sich so mit der Macht über den Produktions- und den Verteilungsprozeß." (Kuron und Modzelewski, 1969, S. 11) Gegen den verengten Begriff des Privatbesitzes setzen sie eine Definition von Eigentum basierend auf der tatsächlichen Verfügungsgewalt über den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß und charakterisieren diese Verfügungsgewalt in der sozialistischen Gesellschaft als Teilhabe an der kollektiven Verfügungsgewalt über das „Volks"- bzw. das Staatseigentum. Des weiteren kennzeichnen sie als den grundlegenden Mechanismus, der auch in der sozialistischen Gesellschaft eine Ausbeutung ermöglicht, die Redistribution des produzierten Mehrwerts. Das Klasseninteresse der (neuen) herrschenden Klasse besteht daher nicht mehr in erster Linie in der Profitmaximierung, sondern in der Aufrechterhaltung und dem Ausbau ihrer redistributiven Macht. Eine Antwort auf die Frage, inwieweit dieses Interesse den Interessen der Produzierenden - zum Beispiel Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, Verbesserung ihres materiellen und kulturellen Lebensstandards antagonistisch gegenübersteht und damit Klassencharakter im Marxschen Sinne annimmt, wird Schwerpunkt der Bestimmung der herrschenden Klasse sein (siehe Abschnitt 1.3). Obwohl diese Klassenmodelle auf diesen theoretischen Grundannahmen basieren, unterscheiden sie sich durch die Definition der „herrschenden Klasse". So bestimmen Djilas (1957) und Voslensky (1980) die Parteibürokraten bzw. die Nomenklatura als die neue herrschende Klasse im Sozialismus. Djilas (1969, S. 14) geht davon aus, daß „die Gesellschaft, die aus den kommunistischen Revolutionen oder den Kriegshandlungen der Sowjetunion hervorgegangen ist, von den gleichen Gegensätzen zerrissen (wird) wie andere Gesellschaftsformen. Sie hat sich nicht zur menschlichen Brüderlichkeit und Gleichheit hin entwickelt, im Gegenteil: Es bildet sich in der Parteibürokratie eine privilegierte Schicht, die ich - im Einklang mit den marxistischen Ansichten - die ,neue Klasse' nannte." Konrad und Szelenyi (1979) hingegen sehen in der Macht des Parteiapparates nur eine vorübergehende Erscheinung. Sie vertreten die These, daß mit der Entwicklung des Sozialismus zu einer „rationalen Bürokratie" die Notwendigkeit entsteht, den Zugang zur redistributiven Macht auf den Besitz von technokratischem Expertenwissen - personifiziert in der Intelligenz - zu begründen. Als Schlußfolgerung definieren sie die Intelligenz als die neue herrschende Klasse im Sozialismus, die sich im Prozeß ihrer Formierung befindet. Die Gemeinsamkeit beider Definitionen besteht in der Annahme, daß der Zugang zu ökonomischer aufgrund politischer Verfügungsgewalt innerhalb der staatssozialistischen Gesellschaft eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung der Klassen spiele. Ob durch Fachkompetenz oder administrative Monopolansprüche legitimiert, die politische Herrschaft, vergegenständlicht im „Staatseigentum, stelle die wesentliche Determinante für den Besitz von redistributiver und damit ökonomischer Macht bzw. Verfügungsgewalt über den produzierten Reichtum dar. Die sozialistische Gesellschaft als „Ständegesellschaft". Aus der Kritik der Darstellung der staatssozialistischen Gesellschaften als „moderne Gesellschaften"

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entstand die These von der „Ständegesellschaft". Ihr Ausgangspunkt ist die Behauptung, daß die sozialistische Gesellschaft ihrem Wesen nach „vorkapitalistisch" sei. Dieser These folgend, bestimmen Feher, Heller und Markus (1983) die Ursache sozialer Ungleichheit in der Existenz einer korporativen Machtoiganisation, dem Parteistaat, der auf traditionell legitimierten Herrschaftsstrukturen und damit einer hierarchischen Ordnung von Herren-Dienerschaft-Untertanen basiert. Eine derartige Machtorganisation stattet - entsprechend der Weberschen Herrschaftstypologie - aufgrund von traditionellen Regeln ihre Herrschenden mit Macht und deren Diener mit dem Besitz von Verwaltungsmitteln, wie Verpachtung, Verpfändung, Verkauf, Lehen und ähnlichem, aus (Weber, 1980). Die Allokation in dieser Machtorganisation erfolgt ausschließlich über formelle und informelle Netzwerke, Recht und Rechtspflege folgen traditionalen und nicht rationalen Kriterien. Dieses Modell nach der „Wende" in der DDR aufgreifend, kennzeichnete Meier die „sozialistische Ständegesellschaft" wie folgt: „Nicht so sehr Fachauswahl und -kompetenz, rationale Entscheidung und sachbedingte Legitimität", sondern vielmehr „Befehl und Gehorsam, Herrschaft und Dienerschaft, Obrigkeit und Untertanentum, Nepotismus und Günstlingswirtschaft" waren ihre wesentlichen Merkmale (1990, S. 9). Damit gäbe es keine Klassen, sondern klassenähnliche Gruppen wie Stände und Kasten (Shkaratan, 1991, S. 4). Rein ökonomische Beziehungen wurden ersetzt durch Herrschaftsbeziehungen, die konstitutiver Bestandteil der ökonomischen Beziehungen zwischen der - wie Shkaratan den herrschenden Stand bezeichnet-„Etacracy" 3 1 und den anderen sozialen Gruppen waren (S. 8). Die „Etacracy" herrschte über das staatliche Eigentum, vertrat hierbei die korporativen Interessen ihres Standes, Machterhalt und -ausbau, und schloß zugleich die Mehrheit der Bevölkerung von der ökonomischen und politischen Macht aus (S. 11). Insofern war die wesentliche Grundlage der Reproduktion der „Etacracy" nicht eine besondere ökonomische Stellung zu den Produktionsmitteln, sondern ihre Monopolstellung in der Herrschaftsstruktur dieser Gesellschaften (S. 10). Hier garantierten weder Bildung und Professionalität noch Produktionsmittelbesitz und Vermögen ihren Eigentümern eine exponierte Position. Im Gegenteil, Status und Privilegien wurden ausschließlich über den Platz in der Machtstruktur bestimmt (S. 12) - das heißt, ob man Herr, Diener oder Untertan war. So plausibel der Rückgriff auf Analogien zu feudalen Strukturmerkmalen angesichts der ökonomischen Ineffizienz und der klientelhaften Mechanismen bei der Gewährung bzw. dem Entzug von Privilegien sowie der Rekrutierung des Führungspersonals auch erscheinen mag, die soziale Realität staatssozialistischer Gesellschaften vermögen sie nicht zu erklären (Meuschel, 1993, S. 7). Derartige Analogieschlüsse lassen sich nicht halten, da die beobachtbare Ineffizienz nicht als das Resultat von Irrationalität und Traditionalismus des Systems erklärt wer-

31 Diese Begriffsbestimmung verwendet Shkaratan in Anlehnung an die Zentralgewalt des Staates in Frankreich und Griechenland.

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den kann. Sie war eher die Folge dessen, daß „die politische Entscheidung (...) als Substitut für Markt und Recht" (Meuschel, 1993, S. 7) fungierte: „Diese Phänomene rühren in Gesellschaften wie jener der DDR gerade nicht von einer traditionellen Lebensführung her, der rationales ökonomisches Kalkül fremd wäre, weil traditionsgesättigte Konvention, soziale Wertschätzung oder gar Ehre und Ansehen der Person rationalem Wirtschaftshandeln entgegenstünden. Die ökonomische Ineffizienz des (DDR-)Sozialismus entstammte vielmehr dem mißlungenen Versuch, eine krisenfreie ökonomische Entwicklung durch parteipolitische Prärogative in die Wege zu leiten (...) Sie [die sozialistischen Gesellschaften sowjetischen Typs] waren der instrumenteilen Vernunft in noch stärkerem Maße verpflichtet als westliche Gesellschaften, weil die politische Elite es als ihr vornehmstes Ziel setzte, die gesamte Gesellschaft auf (quasi)zweckrationale Kalküle auszurichten (...) Daß dieser Versuch gescheitert ist, und die Zweckrationalität nur eine vermeintliche war, weil Mittel und Ziele sich - über die Sicherung der Herrschaft selbst hinaus - nicht in Einklang bringen ließen, berührt das Problem der Modernität nicht (...) Dieser Sozialismus war, all seiner (unerreichten) normativen Zielvorstellungen ungeachtet, eine radikalisierte Variante der instrumenteilen Vernunft." (S. 7 f.)

Insofern der Anspruch der Herrschenden darin bestand, die gesamte Gesellschaft auf Basis eines (quasi)zweckrationalen Kalküls zu planen und Irrationalitäten zu vermeiden, war die DDR eine radikal moderne Gesellschaft32 - „es sei denn, wir wollen nur solche Systeme als modern bezeichnen, die zur Selbstentwicklung und Selbsterhaltung fähig sind" (S. 8). Wie Pollack meint, versperrt die einseitige Betonung des Herrschaftsanspruches und seiner Instrumentalisierung im Modell der „sozialistischen Ständegesellschaft" die Sicht auf die Komplexität staatssozialistischer Systeme. Diese wurden auch durch gegenläufige - durchaus nicht traditionale, sondern moderne - Tendenzen geprägt, wie zum Beispiel „die Bemühungen um die wissenschaftlichtechnische Rationalisierung der Produktion, die Berücksichtigung sozialer Bedürfnisse und Interessen durch eine die Wirtschaftskraft übersteigende Sozialpolitik, die Entstehung einer pluralen Kunst- und Kulturszenerie, die vielfältigen Formen der individuellen Reaktionen auf die Regelungs- und Kontrollmechanismen des Systems von der privaten Verweigerung und Zurückhaltung bis hin zum politischen Protest usw." (Pollack, 1993, S. 65 f.). Ohne Einbeziehung dieser Tendenzen werden die staatssozialistischen Gesellschaften auf statische Kontroll- und Unterdrückungsmechanismen sowie administrative Steuerungsprozesse reduziert, dynamische Differenzierungs-, Individualisierungs- und Modernisierungsprozesse bleiben unberücksichtigt (S. 74). In der Konsequenz sind Abweichungen, „Regelverstöße" und Konfliktpotentiale innerhalb dieser Gesellschaften und

32 In seiner radikalsten Zuspitzung, als Verbindung aller Organisationen mit einer zentralistischen Planungsökonomie (Friedrich und Zrzreninuki, 1965, S. 61) und der sich daraus ergebenden Chance der mehrfachen organisatorischen Erfassung und Kontrolle der Gesellschaftsmitglieder, wurde dieser Aspekt der Zweckrationalität staatssozialistischer Gesellschaften vor allem in den totalitarismustheoretischen Ansätzen reflektiert. Vgl. dazu Arendt (1955), Schroeder (1994).

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demzufolge endogene Kräfte des Zusammenbruchs dieses Gesellschaftssystems mit Hilfe des Ständemodells nicht erklärbar. Auch Roth geht in seinem Buch „Politische Herrschaft und persönliche Freiheit" (1987) diesen, dem Traditionalismus gegenläufigen Tendenzen gezielt nach. Unter Bezugnahme auf die Arbeit von Jowitt (1983) und der Weberschen Herrschafts- und Religionssoziologie hebt er hervor, daß die Gesellschaften sowjetischen Typs neben „Verhaltensmustem einer traditionalen oder ständischen Gesellschaft" vor allem auch „moderne soziale, kulturelle und ökonomische Charakteristika" aufwiesen, aufgrund derer die „integrale Bedeutung moderner Elemente in einem kommunistischen Parteiregime" anzuerkennen sei (Roth, 1987, S. 78). Die „Partei neuen Typs" als eine der dominanten Basisinstitutionen dieses Gesellschaftssystems stellte eben nicht nur ein rein traditionales Gebilde dar. Vielmehr beinhaltete sie die Verknüpfung der „fundamental gegensätzlichen Begriffe des persönlichen Heroismus und der organisatorischen Sachlichkeit", die in einen „organisatorischen Helden" mündete, die Partei (S. 78). Im Gegensatz zur DDR-Soziologie läßt sich für die anderen Länder des realexistierenden Sozialismus eine Pluralität sozialstruktureller Ansätze feststellen. Sowohl in der „entstratifizierten Gesellschaft" als auch in der „staatssozialistischen Klassengesellschaft mit Ausbeutungscharakter" oder der „sozialistischen Ständegesellschaft" ist die Auseinandersetzung mit den politischen Machtverhältnissen und ihren Implikationen für die Strukturierung dieser Gesellschaften von zentraler Bedeutung. Die Diskussion dieser unterschiedlichen Ansätze legt es nahe, in der Thematisierung des „Völkseigentums" und seiner realen - nicht seiner ideologischen - Existenz den Ausgangspunkt für die Analyse struktureller Ursachen sozialer Ungleichheit in staatssozialistischen Gesellschaften zu sehen. Damit erweist sich die klassentheoretische Herangehensweise als geeignet, da ihr Hauptgegenstand die Aufdeckung der Mechanismen ist, die den Zugang zu den Verfügungsgewalten über die ökonomischen Ressourcen in einer Gesellschaft regeln. Auch das Modell der „sozialistischen Ständegesellschaft" versucht, einen Mechanismus für die Entstehung sozialer Ungleichheit zu bestimmen. Dieser ist jedoch vor allem in den Bereich der Traditionen und der daraus resultierenden Normen und Regelungen verlagert, wodurch wesentliche Strukturierungsprinzipien staatssozialistischer Gesellschaften, wie zum Beispiel die strukturelle Legitimation der Machtausübung der „Partei neuen Typs" durch das staatliche Eigentum, aus der Betrachtung ausgeblendet werden. Weniger die basalen Ursachen sozialer Ungleichheit thematisierend, sind die Statusmodelle insbesondere in der Lage, Aufschluß darüber zu geben, wie groß das Ausmaß sozialer Ungleichheit in den einzelnen staatssozialistischen Gesellschaften tatsächlich gewesen ist, welche Lebensbedingungen der einzelne in Abhängigkeit von seiner Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung realisieren konnte. Im folgenden werden daher die Kennzeichen der staatssozialistischen Gesellschaft als einer auf Ausbeutungs verhältnissen begründeten Klassengesellschaft präzisiert und deren Konsequenzen für die Differenzierung von Klassenlagen aufgezeigt. 47

1.3 Wer ist die herrschende Klasse im real-existierenden Sozialismus? Die Unterscheidung zwischen „real-existierendem Sozialismus" und „Sozialismus im Marxschen Sinne" ist - wie die vorangegangene Diskussion gezeigt hat eine wesentliche Voraussetzung für die adäquate Bestimmung des Wesens des „sozialistischen Volkseigentums" und damit für die Analyse der Sozialstruktur in den Ländern des real-existierenden Sozialismus. Während der Marxsche Sozialismus auf einer „vereinbarten Umverteilung des Mehrwerts zwischen Experten und Arbeitern" entsprechend ihren Fertigkeiten beruht, stellt der real-existierende Sozialismus eine staatsbürokratische Gesellschaftsform dar, die auf einer „geplanten Aneignung und Verteilung des Mehrwerts", legitimiert durch die ökonomischen und politischen Machtstrukturen, basiert (Wright, 1985, S. 259). Diese Machtstrukturen finden im Staatssozialismus ihre spezifischen Institutionalisierungsformen in der „Diktatur des Proletariats" und der „Partei neuen Typs" sowie in den ihnen untergeordneten Organisationen. Die Trennung von (juristisch fixiertem) Eigentum und tatsächlicher Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ist die Ursache für die Entstehung von verschiedenen Klassen im realen Sozialismus. Diese Trennung erzeugt die Demarkationslinien zwischen Leitung versus Ausführung, Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen versus Befehlsempfang, Zugang zu knappen Gütern und Informationen versus Konsum- und Informationsdefizite. Während in kapitalistischen Gesellschaften diese Trennung primär auf ökonomische Ursachen zurückzuführen ist, unterliegt den staatsbürokratischen Gesellschaften eine neue Logik: Die Dominanz der Ökonomie wird ersetzt durch eine Dominanz der Politik (Böröcz, 1989, S. 280). Das Resultat dieser- im staatlichen Eigentum angelegten strukturellen Verschmelzung von politischer Herrschaft und ökonomischer Verfügungsgewalt kann demzufolge nicht die Etablierung einer „klassenlosen" Gesellschaft mit planwirtschaftlichen Strukturen sein (Roth, 1987, S. 58). Vielmehr führt eine derartige Verschmelzung nach den Ausführungen Webers in „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland" von 1918 unter den Bedingungen der Beseitigung von privatkapitalistischem Eigentum zu einer Alleinherrschaft der staatlichen Bürokratie, die - wie die spätere Geschichte zeigte - unter staatssozialistischen Verhältnissen durch die „Partei neuen Typus" personifiziert wurde: „Gesetzt, [die Ausschaltung des Privatkapitalismus] gelänge einmal: was würde sie praktisch bedeuten? (...) Nun (würde) auch die Leitung der verstaatlichten (...) Betriebe bürokratisch (...) Die staatliche Bürokratie herrschte (...) allein. Die jetzt neben und, wenigstens der Möglichkeit nach, gegeneinander arbeitenden, sich also immerhin einigermaßen gegenseitig in Schach haltenden privaten und öffentlichen Bürokratien wären in eine einzige Hierarchie zusammengeschmolzen (...): der Bürokratie in Staat und Wirtschaft." (Weber, 1971, S. 319 f.)

Damit stellt die Verteilung der politischen Machtpotentiale und der damit verbundenen Ressourcen an tatsächlicher Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel

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die entscheidende Determinante der Strukturierung staatssozialistischer Gesellschaften dar. Wer jedoch Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besitzt, das wird in den verschiedenen Klassenansätzen - auch als „New Class"-Ansätze 33 bezeichnet - unterschiedlich beantwortet. Ihr gemeinsames Merkmal ist, daß sie aufgrund der Bestimmung der „Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel" als wesentliche Strukturdeterminante von einer Spaltung der sozialistischen Gesellschaft in Klassen und der Herausbildung einer neuen herrschenden Klasse ausgehen. Entsprechend der marxistischen Klassenanalyse liegt dem die Annahme zugrunde, daß Klassenverhältnisse durch die „Art und Weise, wie Besitz und Kontrolle über die Produktionsmittel strukturiert sind", determiniert werden (Wright, 1985, S. 240; Wright, 1979). Um die Relevanz einer Klassenspaltung in staatssozialistischen Gesellschaften nachzuweisen, schlägt Szelenyi folgende Vorgehensweise vor, auf deren Grundlage die verschiedenen Bestimmungen der neuen Klasse anschließend diskutiert werden: „If a society no longer legitimates the expropriation of surplus through private property, then we should move towards a substantive analysis of the mechanisms and institutions of expropriation which are characteristic for this society." (Szelenyi, 1978, S. 68) „To test whether class analysis is applicable to state-socialist societies at all, first we have to understand the state-socialist institutions of expropriation of surplus and to define the principles which legitimate expropriation under state socialism. Then we need to find out whether the direct producer is in a position to challenge this system of legitimation and whether his [her] interests are systematically in conflict with those who expropriate or who legitimate the state-socialist form of expropriation." (S. 74)

Das heißt, es ist zu fragen, ob es die „sozialistischen" Eigentumsverhältnisse sind, die in diesen Gesellschaften eine ungleiche Verteilung des Reichtums verursachen (Roemer, 1982b, S. 267 und 283). Denn nur dies kann, entsprechend Roemer, als „sozialistische Ausbeutung" bezeichnet werden (S. 263), die die staatssozialistische Gesellschaft in Klassen spaltet. „Ausbeutung" allgemein definiert er als das Verhältnis, in dem die Wohlfahrt des einen Akteurs von der Wohlfahrt der anderen Akteure abhängt, wobei diese Ausbeutung nur dann Klassen generiert, wenn dieses Verhältnis durch Besitz bzw. Nicht-Besitz von Eigentum an Produktionsmitteln verursacht wird (Roemer, 1982a). Wird soziale Ungleichheit hingegen nur durch die Organisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verursacht, so definiert dies nicht Ausbeutung sondern Entfremdung (Roemer, 1982b, S. 267), die in der Theorie Roemers eher ein subjektives Gefühl des Fehlens von Kontrolle innerhalb des Arbeitsprozesses darstellt (Elster, 1982, S. 373) und nicht notwendigerweise mit Ausbeutung, verbunden ist. Im folgenden soll daher untersucht werden, inwieweit die Eigentumsverhältnisse staatssozialistischer Gesellschaften eine strukturelle Ursache für soziale Ungleichheit darstellten, welchen Ausbeutungs33 Diese Bezeichnung ist auf den Titel des Buches von Djilas The New Class (1957) zurückzuführen. Eine zusammenfassende Darstellung befindet sich in Böröcz (1989).

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mechanismus sie implizierten und welche Klassenlagen und insbesondere welche herrschende Klasse sie generierten.

Die Intelligenz auf dem Weg zur herrschenden Klasse? Ausgehend von der These, daß das legitimierte Recht zur Verteilung des Mehrwerts das zentrale Element der Bestimmung der Sozialstruktur in jeder Gesellschaft ist, bestimmten die ungarischen Soziologen Konrad und Szelenyi (1979) dieses Recht für sozialistische Gesellschaften in der „rationalen Redistribution". Daraus leiteten sie ab, daß „die legitimierten Institutionen, durch die die Ausbeutung erfolgte, die Institutionen der rationalen staatssozialistischen Distribution waren" (Szelenyi, 1978, S. 74; Übersetzung H.S.). Demzufolge trat an die Stelle der Kapitalistenklasse eine neue herrschende Klasse, die der Redistributoren, die sich durch ein spezialisiertes (teleologisches) Wissen auszeichneten und in einem Konflikt zu den materiellen Interessen der arbeitenden Bevölkerung standen. Den Anspruch auf Macht seitens der Redistributoren begründeten sie mit dem „vermeintlichen Monopol an teleologischem Wissen, das notwendig war, um den Mehrwert rational, sozial gerecht und ökonomisch effektiv verteilen zu können" (Szelenyi, 1978, S. 74; Übersetzung H.S.). Den Überlegungen von Bell (1976) und Gouldner (1979) über die post-moderne bzw. post-industrielle Gesellschaft folgend, sahen sie in der Klasse der Redistributoren die neue Klasse einer „post-industriellen Gesellschaft". Diese neue Klasse fanden sie in der human- und geisteswissenschaftlichen sowie der technischen Intelligenz, die sich im Verlauf der Auseinandersetzung mit der technokratischen Intelligenz (Parteifunktionäre oder Manager der Staatsbetriebe), die bereits die Kontrolle über die Wirtschaft besaß, als herrschende Klasse konstituierte. In diesem Sinne bezeichneten sie die Intelligenz als eine sich in ihrer Herausbildung befindliche Klasse, als Klasse in statu nascendi (Konrad und Szelenyi, 1979; Szelenyi, 1982, S. 290)34. Dabei gehörten zur Intelligenz all jene Personen, die sich durch ein besonderes Wissen (Leitungs- und Fachkompetenz) oder moralische Verpflichtungen und historische Visionen auszeichneten (Szelenyi, 1982, S. 309). In seinem Artikel The Prospects and Limits ofthe East European Class Project (1986/87) greift Szelenyi nochmals die historischen Gegebenheiten der 1960er Jahre auf, die den Ausgangspunkt der damaligen Analyse The Intellectuals on the Road to Class Power darstellten, und hinterfragt deren Grundannahmen. Diese ba34 Bis zur vollständigen Formierung der Intelligenz als Klasse hielt Szelenyi es jedoch nicht für gerechtfertigt, die Parteibürokratie als Klasse zu bezeichnen, da sie - seiner Meinung nach keinen Platz in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft einnahm (Szelenyi 1982, S. 324). Er definierte diese als „dominant bureaucratic order or estate" (Szelenyi, 1986/87, S. 105), und argumentierte, daß man mit der Bezeichnung der Parteibürokratie als Klasse die Macht der Parteifunktionäre überschätzen und den Einfluß der „nicht-bürokratischen" Intelligenz auf gesellschaftliche Entscheidungsprozesse unterschätzen würde (Szelenyi, 1982, S. 298).

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sierten im wesentlichen auf der Beobachtung der Reformbewegungen in Osteuropa in den 1960er Jahren. Durch diese Bewegungen hätten Intellektuelle aller Fachgebiete Zugang zum Kreis der Mächtigen gefunden, so daß sie in Verbindung mit ihrer Parteimitgliedschaft versuchen konnten, die Partei von innen zu reformieren und die Positionen der „old-line bureaucrats" zu besetzen (Szelenyi, 1986/87, S. 109)35. Daraus leiteten Szelenyi und Konrad damals die Schlußfolgerung ab, daß mit der Orientierung auf die wissenschaftlich-technische Revolution ein Machtwechsel zugunsten kompetenter Kader unausweichlich sein würde (S. 112). Ende der 1980er Jahre mußte Szelenyi jedoch konstatieren, daß weder eine derartige Machtablösung eingetreten war, noch eine Verschmelzung der Intelligenz mit den Parteibürokraten zu einer Klasse stattgefunden hatte (S. 116). Er führt dies auf zwei wesentliche Ursachen zurück: (1) Die Parteibürokratie war nicht gewillt, ihre Macht zu teilen, und besaß wirkungsvolle Mechanismen, um andere Gruppen von der Macht auszuschließen. (2) Ende der 1970er Jahre kam es mit der erneuten Entstehung von kleinem Privateigentum zu einer wichtigen Veränderung in der Sozialstruktur der sozialistischen Länder (S. 116). Infolge dieser neuen Einschätzung der historischen Gegebenheiten in den Ländern des real-existierenden Sozialismus sah sich Szelenyi zu einer Revidierung der Bestimmung der herrschenden Klasse in der Intelligenz veranlaßt. Die Ursache für die Konstituierung unterschiedlicher Klassenlagen definierte er nun in dem dualen System von Produktionsweisen, mit Redistribution/Staat auf der einen und dem Markt auf der anderen Seite36. Diese beiden Integrationsmechanismen (Redistribution und Markt) generieren spezifische Klassenlagen, deren Stellung zueinander durch die Dominanz des Staats-

35 Für die DDR äußerte Bahro (1977a, 1977b) ähnliche Ansichten. Basierend auf der Idee des wissenschaftlichen Sozialismus und der „wissenschaftlich-technischen Revolution" entwikkelte er ein technokratisches „New Class"-Modell, in dem der Sozialismus mit einem wissenschaftlich fundierten und rationalen Planungsmechanismus (das, was Szelenyi und Konrad als „rationale Redistribution" bezeichnen) nur möglich wird, wenn diese Funktionen von Intellektuellen übernommen werden würden. Eine solche Entwicklung sei jedoch in den 1960er und 1970er Jahren noch nicht erkennbar gewesen. 36 Seine Tochter, Szonja Szelenyi, erweiterte dieses duale System um die Produktionsweise der „household economy" (Szelenyi, 1988, S. 55 ff.). Auf diese Weise können die sozialen Gruppierungen der „unpaid family workers" (der mithelfenden Familienangehörigen) und „houseworkers" (Hausfrauen) integriert werden. Während erstere juristisch (als „unbezahlte") aus den ökonomischen Strukturen ausgeschlossen werden, aber de facto als Produzenten zu charakterisieren sind, haben letztere infolge der unbezahlt geleisteten Hausarbeit einen über den „Reproduktions"prozeß vermittelten Zusammenhang mit den ökonomischen Strukturen. Daher ist es fraglich, inwieweit diese beiden Gruppen wirklich als „Klassen" - im Sinne von Positionen in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft - zu bezeichnen sind. Es ist daher gerechtfertigt, sie als „soziale Gruppen" in die Sozialstruktur aufzunehmen, ohne ihnen jedoch den Charakter einer Klasse zuzusprechen. Der Vorteil einer derartigen Hinzunahme besteht sicherlich in der Integration von mithelfenden Familienangehörigen und Hausfrauen in Mobilitätsanalysen.

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eigentums bestimmt wird. In Anlehnung an das Klassenschema von Wright 37 - und ohne Frage, gefärbt durch seine eigene ungarische H e r k u n f t - konstruierte Szelenyi (1986/87, S. 130 f.) ein Klassenmodell für staatssozialistische Gesellschaften, in dem er die Intelligenz weder als die herrschende noch als eine einheitliche Klasse charakterisierte (Abb. 1).

Abbildung 1 : Szelenyis - revidiertes - Klassenmodell staatssozialistischer Gesellschaften Dominante Produktionsweise

Einfache Warenproduktion

Redistributiver (staatlicher) Sektor

Marktsektor

Zentrale Redistributoren (Kaderelite) Leitungskader Bürokratische Mittelklasse

Das neue

Kleinbürgertum

Teilweise Selbständige Arbeiterklasse Kursiv: reine Klassenlagen; gewöhnlich: widersprüchliche Klassenlagen. Quelle: Szelenyi, 1986/87, S. 131.

Diese Klassenlagen charakterisierte er folgendermaßen: (1) Verursacht durch den ökonomischen Integrationsmechanismus der Redistribution - der tatsächlichen Verfügungsgewalt über die verstaatlichten Produktionsmittel - spaltet sich die Gesellschaft in die Klasse der „Kaderelite bzw. zentralen Redistributoren" (die Partei- und Wirtschaftselite) und die Arbeiterklasse, deren Beziehungen über die „bürokratische Mittelklasse" vermittelt werden. Letztere nimmt entsprechend der Herangehensweise von Wright 38 eine widersprüchliche Position zwischen beiden Klassen ein, da sie einerseits nur ausfüh-

37 Die klassentheoretischen Überlegungen von Wright werden im folgenden Abschnitt (1.4) detailliert dargestellt. 38 Aufgrund der Trennung von legalem (juristisch fixiertem) Eigentum und tatsächlich praktizierter Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und Arbeitskräfte sind in modernen Gesellschaften soziale Gruppen zu finden, die nicht ausschließlich durch die Merkmale der einen oder der anderen Grundklasse charakterisiert werden können. Sie vereinen vielmehr Merkmale unterschiedlicher Klassen und sind daher durch „contradictory class locations" - widersprüchliche Klassenlagen - gekennzeichnet (Wright, 1979, S. 27).

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rendes Organ der Parteielite, andererseits jedoch anordnendes Organ gegenüber der Arbeiterklasse ist. (2) Durch den zweiten - jedoch untergeordneten - ökonomischen Integrationsmechanismus, das heißt durch das Privateigentum an Produktionsmitteln, konstituiert sich die Klasse eines neuen Kleinbürgertums 39 . Sie befindet sich im Widerspruch sowohl zur herrschenden Klasse - der Parteielite - als auch zur beherrschten Klasse - der Arbeiterklasse. Obwohl die Vertreter des neuen Kleinbürgertums legale Eigentümer von Produktionsmitteln sind, unterliegen sie der „allmächtigen" Kontrolle des Staates, wodurch ihre tatsächliche Verfügungsgewalt in entscheidendem Maße vom Staat absorbiert wird. Andererseits besitzen sie - im Gegensatz zur Arbeiterklasse - Produktionsmittel, wodurch die Aneignung von Mehrwert ermöglicht und legitimiert wird. (3) Die Gleichzeitigkeit des Vorhandenseins beider Integrationsmechanismen generiert noch zwei weitere widersprüchliche Klassenlagen, die der leitenden Technokraten und Direktoren und die der teilweise Selbständigen. Die „leitenden Technokraten/Direktoren" sind sowohl durch Merkmale der Parteielite als auch durch Merkmale des neuen Kleinbürgertums gekennzeichnet. Sie partizipieren einerseits aufgrund ihrer wirtschaftsleitenden Funktionen an der Verfügungsgewalt des Staates. Andererseits wird diese Partizipation und damit ihre Autonomie auf ausführende Funktionen eingegrenzt, wodurch sie - ähnlich wie das neue Kleinbürgertum - von der Teilhabe an politischen und gesamtwirtschaftlichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden. Die „teilweise Selbständigen" nehmen eine widersprüchliche Klassenlage zwischen dem neuen Kleinbürgertum und der Arbeiterklasse ein. Der Umfang ihres Privateigentums gibt ihnen zwar zeitweise die Möglichkeit, so autonom zu arbeiten wie Angehörige des Kleinbürgertums und sich den produzierten Mehrwert anzueignen, andererseits stellt das daraus resultierende Produktionsvolumen keine ausreichende Existenzgrundlage dar, so daß sie - wie die Arbeiter - gezwungen sind, ein Beschäftigungsverhältnis mit Dritten einzugehen. Diesem Klassenschema lag die Schlußfolgerung von Konrad und Szelenyi (1991, S. 357) zugrunde, daß sich die Öffnung der Machtspitze für Angehörige der technischen Intelligenz in den 1950er und 1960er Jahren auf die gesamte Intelligenz ausweiten würde. Durch die Geschichte belehrt, mußten sie feststellen, daß sie die

39 Aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse hinsichtlich der Konstituierung eines Marktes in Ungarn und der D D R gab es diese beiden Klassenlagen in der D D R nicht. Im Falle der D D R kann man nicht von der Herausbildung eines „neuen" Kleinbürgertums sprechen. Vielmehr wurde den bereits existierenden kleinen Privateigentümern in den 1980er Jahren eine Perspektive zugesichert. Von einer Gruppe „teilweise Selbständiger" kann im Falle der D D R ebenfalls nicht die Rede sein. Natürlich gab es auch hier das Phänomen der Feierabendarbeit bzw. der nebenerwerblichen Tätigkeit, es ging jedoch quer durch alle Klassenlagen.

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Zugangschancen für Intellektuelle zur Macht überschätzt hatten (Szelenyi und Martin, 1988; Konrad und Szelenyi, 1991, S. 357). Aus ihrer heutigen Sicht auf die Reformbewegungen der 1960er Jahre gab es eben nicht nur die eine, sondern drei geschichtliche Alternativen: erstens die Restauration der bürokratischen Macht, zweitens die Machterlangung durch eine erneut entstehende Kapitalistenklasse und drittens die Formation der Intellektuellen zur neuen herrschenden Klasse, von denen die erste eintrat (Konrad und Szelenyi, 1991, S. 355)40. Diese Restauration beruhte auf einer Spaltung der Intelligenz in „party intellectuals" und „independent intellectuals", wobei erstere als Experten am Entscheidungsprozeß derjenigen partizipieren konnten, die die Macht hatten, Entscheidungen zu treffen (Konrad und Szelenyi, 1991, S. 372). Insgesamt lassen sich Szelenyis und Konrads Befunde folgendermaßen zusammenfassen: Die These, daß der „reife Sozialismus" auf rationaler Redistribution beruhe und damit für den Austausch der alten „stalinistischen" Elite nur die Intellektuellen zur Verfügung stünden, führte sie zu der Annahme, daß die neue herrschende Klasse in sozialistischen Gesellschaften in der Intelligenz zu finden sei. Entsprechend ihrem ursprünglichen Modell stelle die. Parteibürokratie, da sie nicht in die ökonomische Struktur eingebunden sei, eine Schicht und keine Klasse dar. Inwieweit ihre Annahme bezüglich der Intelligenz als neue Klasse zutrifft, läßt sich nicht empirisch beurteilen, da es in Osteuropa bereits vor dem Erreichen des „reifen" Stadiums zum Kollaps des Sozialismus gekommen ist. Erneut stellt sich jedoch die Frage, ob ihre Charakterisierung der Parteibürokratie als Schicht ohne Klassencharakter gerechtfertigt ist. Szelenyi und Konrad selbst begannen in ihren Arbeiten in den 1980er Jahren zu hinterfragen, inwieweit diese Gruppe nicht doch durch ökonomische Strukturmerkmale zu kennzeichnen ist, die ihr den Charakter einer Klasse verleihen. Daher sollen im folgenden die Modelle diskutiert werden, in denen die Parteibürokratie als die neue herrschende Klasse im Sozialismus definiert wird.

Die Parteibürokratie - Eine herrschende „Klasse" oder „Elite"? Der erste Versuch, mittels des (dichotomen) Klassenmodells von Marx die sozialistische Gesellschaft in eine herrschende und eine unterdrückte Klasse zu teilen, stammt von Djilas (1957). Bei der Bestimmung der herrschenden Klasse im Sozialismus ging er davon aus, daß - wie bei jeder anderen herrschenden Klasse

40 Voslensky beschreibt dieses Ergebnis als einen dreistufigen Prozeß der Geburt der neuen Klasse: „Der Apparat der kommunistischen Partei spielte die Rolle des Keims der neuen Klasse; nach der Machtergreifung wurde er zur Schicht von Berufsverwaltern und entwickelte sich schnell zur,neuen Klasse'. Dann wurden ihre ursprünglichen Angehörigen im Zuge der Säuberungen durch Karrieristen ersetzt, die mittlerweile zur Partei gestoßen waren." (1980, S. 151)

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auch - ihr Eigentum und ihre spezifischen Beziehungen zu den anderen Klassen aufgedeckt werden müßten. Ausgehend von der Definition des Eigentums als Verfügungsgewalt über die materiellen Güter, bestimmte Djilas die Parteibürokratie als die Eigentümerklasse im Sozialismus, da sie das Monopol über die Distribution der produzierten Güter besaß (1957, S. 44). Voslensky (1980) folgte derselben Logik und bezeichnete die Parteibürokratie von Djilas als Nomenklatura*1. Er definierte sie als den „Personenkreis, der die von der Parteizentrale festgelegten Positionen im politischen und ökonomischen Machtapparat besetzte" (1980, S. 14 und 131). Beiden Definitionen zufolge stellte die „Liquidierung des Privateigentums und seine Umwandlung in sozialistisches Eigentum nichts anderes [dar] als die Übergabe des gesamten Vermögens des Landes an die herrschende Klasse der Nomenklatura (...) Sie war der kollektive Unternehmer im Realsozialismus." (Voslensky, 1980, S. 215) Der Nomenklaturabesitz konnte daher weder gekauft noch verkauft werden. Anteile an diesem Besitz „wurden durch die Aufnahme in diese Klasse verliehen, und ihre Größe richtete sich nach der erreichten Stufe in der Hierarchie. Ein Ausscheiden aus der Nomenklatura brachte den Verlust dieses Anteils für den Betroffenen mit sich." (Voslensky, 1980, S. 214) Die Eigentümerprivilegien der Nomenklatura manifestierten sich demnach in dem exklusiven Recht, über die Verteilung des Nationaleinkommens, die Höhe der Löhne, die wirtschaftliche Entwicklung und schließlich über die Verwendung des staatlichen und sonstigen Eigentums zu entscheiden (S. 44 f.). Dieses Monopol wiederum resultierte aus ihrem administrativen Monopol, das ihnen durch den „Auftrag der Arbeiterklasse" in Gestalt der „Führungsrolle" zugeschrieben wurde. Im Gegensatz zu kapitalistischen Gesellschaften trat die herrschende Klasse in staatssozialistischen Gesellschaften sozusagen als treuhänderischer Sachverwalter der Interessen und der Wohlfahrt der Ausgebeuteten auf, da sie gewissermaßen gezwungen war, die gesamte Gesellschaft wie ein fürsorgliches, durch paternalistische Strukturen geprägtes Unternehmen zu organisieren - was Henrich (1989) mit seiner Analogie des „vormundschaftlichen Staates" zu reflektieren versucht. In Analogie zum dichotomen Klassenmodell von Marx zieht Voslensky die Schlußfolgerung, daß die Spaltung in Unterdrückte und Unterdrücker im Realsozialismus eine Spaltung in „Verwaltete und Verwaltende" darstelle (1980, S. 33). Dabei versetzten der „Charakter und die gesellschaftliche Bedeutung der Führungsarbeit diejenigen Angehörigen der Intelligenz, die sich beruflich mit der Führung befaßten, in eine gewissermaßen besondere Position im Vergleich zu jenen, die mit der Ausführung der Arbeit betraut waren" (S. 34). Das Verwalten, das heißt die Machtausübung, war damit auch im Staatssozialismus die Hauptfunktion der neuen herrschenden Klasse - so, wie sie es in allen anderen gesellschaftlichen

41 Im folgenden werden die beiden Begriffe Nomenklatura und Parteibürokratie synonym verwendet.

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Formationen war und ist. Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Formationen gelangte die Nomenklatura jedoch durch die Ergreifung der staatlichen Macht zu Besitz und nicht durch die Erlangung von Besitz zu Macht. Das heißt, die ursprünglich nur politisch definierte Klasse fand über ihre politische Monopolstellung Zugang zu einer exklusiven ökonomischen Position, nämlich als kollektive Eigentümerin der verstaatlichten Produktionsmittel. Ihr wurde per Definition - mit der „Diktatur des Proletariats" - die tatsächliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und die Arbeit zugesprochen. Damit handelte es sich beim „staatlichen Eigentum" um kollektive und nicht um juristisch fixierte individuelle Verfügungsrechte über die Produktionsmittel, die nur über politische Karrieren und nicht durch das Erbrecht erworben werden konnten. Hinsichtlich der Weitergabe dieser Klassenlage und ihrer Vorteile auf die nachfolgende Generation bedeutete dies, daß die Eltern ihren Kindern vor allem politische Karrieren eröffnen mußten, wenn sie für diese den Zugang zu den exponierten Positionen anstrebten. Nicht Vererbung von Besitz, sondern Vererbung von Bildung und Systemloyalität war der Übertragungsmechanismus der Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse von einer Generation auf die nachfolgenden, dem - wie für die DDR gezeigt werden kann - Folge geleistet wurde. Im Ergebnis konstituierte sich aus der kommunistischen Partei heraus eine ökonomische Klasse, deren eigene Existenz wiederum nur durch eine ihr entgegengesetzte, „ausgebeutete" Klasse, die Arbeiterklasse, möglich wurde. Entsprechend formulierte Djilas: „The new class is logically dependent on the working class (...) (It) cannot consolidate its power without the help of the working class." (1957, S. 41 und 54) Diese strukturelle Abhängigkeit der Parteibürokratie von der Arbeiterklasse resultierte zum einen aus der Notwendigkeit, daß sie ihre politische und ihre damit verbundene ökonomische Monopolstellung nur durch die ideologisch gesetzte Definition der Arbeiterklasse als ihren „Auftraggeber" erlangen und legitimieren konnte. Zum anderen ergab sie sich aus der Notwendigkeit, daß eine Produktion materieller Ressourcen für ihre eigene kontinuierliche Existenz, für ihren Machterhalt und -ausbau, unerläßlich war (S. 49). Damit definiert Djilas (S. 65 f.) den Grundwiderspruch sozialistischer Gesellschaften als den Widerspruch zwischen dem gesetzlich fixierten Volkseigentum und der tatsächlichen Verfügungsgewalt Uber diese verstaatlichen Produktionsmittel durch eine exklusive Gruppe, nämlich diejenige, die den Staat personifiziert42. In den Worten Voslenskys: Das ökonomische Grundgesetz des Realsozialismus besteht „im Bestreben der herrschenden Nomenklaturaklasse, durch wirtschaftliche Maßnahmen

42 „This is an important contradiction. Property is legally considered social and national property. But, actually, a single group manages it in its own interest (...) The contradiction discloses the disharmony between the words and actions: While promising to abolish social differences, it must always increase them by acquiring the products of the nation's workshop and granting privileges to its adherents." (Djilas, 1957, S. 65 f.)

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die maximale Sicherung und Verbreitung ihrer Macht zu garantieren" (Voslensky, 1980, S. 228). Insgesamt zeigt sich, daß obwohl Djilas und Voslensky sowie Konrad und Szelenyi derselben Logik, nämlich der Trennung von Besitz und Verfügungsgewalt, folgten, sie zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Bestimmung der herrschenden Klasse kamen. Während Djilas' bzw. Voslenskys Bestimmung der Parteibürokratie als herrschender Klasse einen autoritären Staat und damit das Außerkraftsetzen der „Zivilgesellschaft" - im Sinne einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft mit Gewaltenteilung - voraussetzte, basierte die Definition der Intelligenz als herrschende Klasse bei Konrad und Szelenyi gerade auf der entgegengesetzten Voraussetzung, auf einer gewissen Autonomie der „Zivilgesellschaft" (Szelenyi, 1982, S. 323 f.), das heißt auf der zunehmenden Fähigkeit, soziale Konflikte und politische Meinungsverschiedenheiten in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zivilisiert austragen zu können: „Stalinist economic voluntarism is gradually replaced with a more rationalized system of planning whose claim to be .scientific' must be taken seriously, and there has been some tendency towards an increase in the autonomy of civil society. As these processes continue the circle of the power holders gradually opens up, the power monopoly of the party and state apparatus declines. The apparatchiks gradually begin to share power with the intellectuals, and the power of apparatchiks is gradually replaced with the class power of the intelligentsia." (S. 324)

Wie Konrad und Szelenyi (1991, S. 353) selbst feststellen mußten, trat dies nicht ein: „We are now inclined to believe that this project of the technocratic intelligentsia to rationalize the socialist economy and to create class power of plannerredistributors probably failed." Ihre heutige Sicht auf die strukturellen Verhältnisse der (ehemaligen) Länder des real-existierenden Sozialismus fassen sie so zusammen: „1. The state has a monopoly in the economy; 2. the social structure of these societies can be characterized by a single hierarchy, which operates as a single bureaucratic rank-order - regulated by two criteria: political loyalty and educational credentials; 3. one party had the political monopoly" (S. 339). Daraus ziehen sie - wie Djilas und Voslensky - den Schluß, daß es sich bei der Kaderelite um eine soziale Gruppe handelte, die in den ökonomischen Strukturen ihre Verankerung fand und somit als „Klasse" zu definieren ist. Letztlich kommen die verschiedenen „New Class"-Ansätze zu einer gemeinsamen Bestimmung der herrschenden Klasse im real-existierenden Sozialismus, die zwar mit unterschiedlichen Namen „Cadre Elite", „Parteibürokratie" und „Nomenklatura" bezeichnet wird, deren Inhalte jedoch gleich sind. Für eine zusammenfassende Charakterisierung dieser herrschenden Klasse im Staatssozialismus bietet sich die Definition von Bahra (1977a, S. 41) an: Diese Klasse umfaßte „im wesentlichen die hauptsächliche Besetzung der gesamten politischen, staatlichen und .gesellschaftlichen' Leitungspyramide (...) (Sie stand) den unmittelbaren Produzenten (einschließlich Spezialisten, wenn auch ein Teil von ihnen über Stabsfunktionen vom Machtapparat absorbiert wird) tendenziell ant57

agonistisch gegenüber." Verstaatlichung - so wie sie im real-existierenden Sozialismus vollzogen wurde - stellte daher nicht eine Abschaffung, sondern nur eine Formveränderung der Ausbeutung dar: Ausbeutung, als die Möglichkeit der Aneignung von Mehrarbeit ohne eine adäquate Verausgabung von eigener Arbeit, wurde hier nicht über ökonomische Mechanismen wie den Markt realisiert, sondern über eine Ressourcenallokation entsprechend einer politisch determinierten Autoritätshierarchie. Voslensky geht sogar noch weiter und definiert die Nomenklatura nicht nur als „Klasse an sich", sondern als „Klasse für sich", die in der Lage war, bewußt als Klasse in Aktion zu treten. „Die Fähigkeit dazu beruhte keineswegs auf irgendwelchen edlen, kollektivistischen Eigenschaften der Nomenklaturaangehörigen, sondern auf der Struktur der Nomenklaturaklasse als kollektiver Inhaber der Macht und des Eigentums." (Voslensky, 1980, S. 444)

1.4 Eigentumsverhältnisse als Strukturdimension staatssozialistischer Gesellschaften Generelles Ziel ist es, strukturelle Ursachen sozialer Ungleichheit für die staatssozialistische Gesellschaft im allgemeinen und für die DDR-Gesellschaft im besonderen zu lokalisieren, die ihrerseits wesentliche Ungleichheitslagen in diesen Ländern definierten. In diesem Zusammenhang ist zugleich explizit zu hinterfragen, inwieweit die Eigentumsverhältnisse - im Gegensatz zum Selbstverständnis dieser Gesellschaft - nicht doch eine relevante Strukturdimension darstellten. Mit diesem Anliegen wurde in der Auseinandersetzung mit den Herangehensweisen, Zielen und Erkenntnisleistungen der vorhandenen Sozialstrukturmodelle innerhalb der Soziologie der staatssozialistischen Länder der Frage nachgegangen, welche gesellschaftlichen Strukturen für die Entstehung sozialer Ungleichheit in der DDR (bzw. in staatssozialistischen Gesellschaften) relevant waren und welche Bedeutung den Eigentumsverhältnissen zukam. Reflektiert man den für staatssozialistische Gesellschaften typischen Widerspruch zwischen ideologischem Selbstbild und tatsächlicher Situation auch in bezug auf die Eigentumsverhältnisse, so impliziert dies die Trennung von juristisch fixiertem Volkseigentum und tatsächlicher Verfügungsgewalt über die verstaatlichten Produktionsmittel. In dieser Trennung sieht Djilas (1957, S. 49) den Grundwiderspruch des Staatssozialismus, aufgrund dessen einerseits für die Legitimation des Staatseigentums als Volkseigentum die Beseitigung der Ausbeutung unterstellt und die Abschaffung bzw. Verringerung sozialer Ungleichheit versprochen werden mußte. Andererseits implizierte dieser Widerspruch zugleich die Zunahme sozialer Ungleichheit, um sich der Loyalität seiner Anhänger durch den Zugang zu Privilegien versichern zu können (S. 65 f.). Die Diskussion zeigte, daß es erforderlich ist, eine Unterscheidung zwischen dem „Verfügungsaspekt" und 58

dem „Nutzungsaspekt" des Eigentums vorzunehmen43. Eigentum im Sinne der Verfügung über die Produktionsmittel und die produzierten Güter und Leistungen definiert dabei das soziale Subjekt, das das Verfügungsmonopol über den Produktions- und Reproduktionsprozeß innehat - im Falle der sozialistischen Eigentumsordnung: den Eigentümer des staatlichen Eigentums, den Parteiapparat. Die in den Verfassungen der sozialistischen Länder postulierte „Verfügungsgleichheit aller Bürger über die Produktionsmittel", das juristisch-fixierte „Volkseigentum, stellte nur „ein formales rechtliches Verhältnis [dar], das keine konkreten individuellen Verfügungsrechte begründete" (Kronrod, zit. in Ahlberg, 1981, S. 970). Die tatsächlichen Verfügungsrechte besaß „eine politisch weisungsberechtigte Schicht oder Klasse (...), die im Namen der Gesellschaft faktisch über die Volkswirtschaft verfügte und die Subsistenzmittel unter die einzelnen Gruppen verteilte" (S. 970). Eigentum im Sinne der faktischen Nutzung der Produktionsmittel durch die arbeitende Bevölkerung definiert hingegen die konkreten Modalitäten in der Nutzung der Produktionsmittel. Auch hier ist es dem real-existierenden Sozialismus nicht gelungen, eine Gleichheit durchzusetzen. Vielmehr setzte sich die produktionstechnisch bedingte Ungleichheit der Arbeit in einer sozial ungleichen Einordnung in das System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung fort, verwandelte sich ungleiche Arbeit in soziale Ungleichheit (S. 969 f.). In dieser Weise auf seine strukturelle Ursache hinterfragt, ist das in staatssozialistischen Gesellschaften zu beobachtende Wechselspiel von Egalisierung und Differenzierung - wie es in den Statuskonzepten von Wesolowski (1979), Wesolowski und Mach (1985) und Machonin (1967, 1970), Machonin und Tucek (1992) mit „Statusdekomposition" und „Entstratifizierung" thematisiert wurde letztlich auf die Relevanz des staatlichen Eigentums als strukturelle Ursache sozialer Ungleichheit zurückzuführen. Es widerspiegelt die Interdependenz dieser beiden Aspekte von Eigentum, das heißt von Verfügungsmonopol und „möglichst permanenter sozialer Befriedigung der Arbeiterschaft" (Hübner, 1993, S. 15 f.) zu dessen Legitimation einerseits und einer sozial ungleichen Bewertung funktionaler Unterschiede andererseits. Damit wäre es zu kurz gegriffen, die Differenzierungsursachen im Sozialismus nur noch in den Qualifikationsunterschieden und dem System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu sehen. Definiert man dieser Unterscheidung folgend Eigentum in der ersten Bedeutung, das heißt als die „Fähigkeit, den Zugang zu bestimmten ökonomischen Ressourcen zu kontrollieren" (S0rensen, 1994b, S. 5; Übersetzung H.S.), dann ist der 43 Diese Unterscheidung thematisierte vor allem der sowjetische Wirtschaftstheoretiker Kronrod (1966), der den Zusammenhang zwischen der sozialistischen Eigentumsordnung und der sozialen Differenzierung der sowjetischen Gesellschaft untersuchte. Konsequent der marxistischen Methode folgend, arbeitete er die eigentumsbedingten ökonomischen, sozialen und politischen Unterschiede der sozialistischen Gesellschaft heraus, wobei er jedoch davon ausging, daß es sich dabei nur um eine „Entwicklungsphase" handele und die materielle Gleichheit im Kommunismus verwirklicht werden könne.

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Ausbeutungsmechanismus und damit die strukturelle Ursache sozialer Ungleichheit in staatssozialistischen Gesellschaften in der Redistribution der Produktionsmittel und der produzierten Güter und Leistungen, in der Redistribution des produzierten Mehrwerts zu suchen. Diese Redistribution und der ihr letztlich zugrundeliegende „Warencharakter der Arbeitskraft" basierten jedoch - im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft - weniger auf ökonomischen als vielmehr auf politischen Mechanismen („Diktatur des Proletariats" und „führende Rolle der Partei"), die über eine politisch determinierte Organisationsstruktur vermittelt wurden. Damit impliziert die Charakterisierung der Eigentumsordnung staatssozialistischer Gesellschaften zugleich die Frage nach der politischen Dimension der Eigentumsverhältnisse, der Machtkomponente. Das heißt, ob es eine solche gegeben hat und welchen Stellenwert sie hatte. Es ist daher nach einem Eigentumskonzept zu suchen, das in Anlehnung an die Klassentheorien von Weber (1980) und Dahrendorf (1959) eine integrierte Betrachtung von Herrschaft und insbesondere die Verschmelzung von politischer und ökonomischer Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und zugleich entsprechend der marxistischen Tradition eine Thematisierung des (staatlichen) Eigentums erlaubt. Diese Möglichkeit bietet das Wrightsche Konzept der Differenzierung des Eigentums an Produktionsmitteln in unterschiedliche Eigentümerfunktionen, wobei letztere in einer Hierarchie angeordnet sind (1980)44. Basierend auf diesem Konzept, welches Eigentum über die Partizipationsmöglichkeiten an der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel definiert (1980), gilt es, bezogen auf die DDR-Gesellschaft zu fragen: (1) Wer konnte in der DDR entscheiden, wieviel und was produziert wurde (wer entschied über den Investitions- und Akkumulationsprozeß und legte damit die wesentlichen Rahmenbedingungen für die Redistribution insgesamt fest)? (2) Wer konnte entscheiden, wie produziert wurde (wer entschied über die konkrete Nutzung der Produktionsmittel)? (3) Wer hatte die Kontrolle und Aufsicht im unmittelbaren Arbeitsprozeß?

Die Antworten darauf für die DDR lauten: (1) Diejenigen, die die politische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besaßen bzw. an ihr partizipieren konnten. (2) Diejenigen, die (mindestens) die ökonomische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besaßen bzw. an ihr partizipieren konnten. (3) Diejenigen, die (mindestens) die technokratische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besaßen bzw. an ihr partizipieren konnten. Durch sie gelang es, sich aufgrund der Qualifi-

44 Entwickelt für moderne kapitalistische Gesellschaften, gestattet es, der Tatsache gerecht zu werden, „daß rechtliche Besitztitel und faktische Verfügungsgewalt über Produktionsvermögen in der gleichen Hand liegen, mit der Herausbildung großer Kapitalgesellschaften zum Ausnahmefall geworden (ist). Wer Eigentum besitzt, der verfügt darüber in der Regel nicht mehr, und wer darüber verfügt, dem gehört es nicht; er hat Verfügungsgewalt erlangt mittels schulischer Bildung und professioneller Karrieren." (Lenhardt, 1984, S. 255)

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kations- und Organisationsausstattung bestimmter Positionen einen privilegierten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum anzueignen.

Aus dem Blickwinkel des Ausbeutungsmechanismus der DDR-Gesellschaft heißt das: Wer diese Verfügungsgewalten besaß bzw. an ihnen partizipieren konnte, der konnte sich auch einen privilegierten Anteil am produzierten Reichtum aneignen, der damit denjenigen, die weder diese Verfügungsgewalten besaßen noch an ihnen partizipieren konnten, diesen Reichtum jedoch produzierten, verwehrt blieb. Damit gestalteten sich auch in der DDR die Verhältnisse zwischen den Klassen als Beziehungen, in denen das Wohlergehen der einen Klasse im kausalen Zusammenhang zum Schlechtergehen der anderen Klasse(n) stand (Roemer, 1982a, 1982b). Die unterschiedlichen Eigentumsformen, die in der DDR existiert haben, definierten den Zugang zu entsprechenden Verfügungsgewalten für ihre Eigentümer sowie den gleichzeitigen Ausschluß der Nichteigentümer. So sehr diese Herangehensweise wesentliche Merkmale der Wrightschen Klassendefinition - sowohl seiner alten als auch seiner neuen - aufweist, eine eindeutige Zuordnung zum „frühen" Wright der herrschaftstheoretischen Herleitung widersprüchlicher Klassenlagen (1980) oder zum „späteren" Wright der ausbeutungszentrierten, auf der Basis von Vermögensungleichheit definierten Klassenlagen (1985) ist nicht möglich. Vielmehr versucht die hier gewählte Herangehensweise, aus beiden Konzepten die Merkmale miteinander zu verbinden, die für die Definition des Klassencharakters staatssozialistischer Gesellschaften von zentraler Bedeutung sind. Entsprechend der Idee des frühen Wright wurde das Konzept der hierarchischen Dimensionierung des Eigentums an den Produktionsmitteln in unterschiedliche Eigentümerfunktionen aufgegriffen. Die - b e i Wright vorzufindende - Reduzierung der Eigentümerfunktionen und damit der Klassenbeziehungen auf reine Autoritäts- und Herrschaftsbeziehungen wurde jedoch versucht zu vermeiden. In Übereinstimmung mit dem späteren Wright wurden die Klassenbeziehungen der DDR-Gesellschaft als Ausbeutungsbeziehungen definiert. Die Definition Roemers (1982a, 1982b) zugrundelegend, sind die Partizipationsmöglichkeiten an der Verfügungsgewalt über das Produktionsvermögen die Grundlage der Verteilung des produzierten Sozialprodukts. Sie gestatten den privilegierten Zugang zu Mehrwert für die Klassen mit Verfügungsgewalt, der seinerseits den Zugang der Klassen ohne Verfügungsgewalt beschneidet. Dieser kausale Zusammenhang, so ist den eingangs zitierten Ausführungen von Dahrendorf zuzustimmen, verliert auch dadurch nicht seine Gültigkeit, „daß es angesichts der ökonomischen Ineffizienz der Nomenklatura nicht viel auszubeuten [zu verteilen] gab" (1992, S. 139). Daher wäre die Beseitigung von Ausbeutung und sozialer Ungleichheit unter staatssozialistischen Verhältnissen nie möglich gewesen, wie groß oder gering ihr Ausmaß auch immer gewesen sind, da sie durch den tatsächlichen Charakter des gesellschaftlichen Eigentums als staatliches Eigentum verursacht wurden. Entsprechend dieser Herangehensweise sind für die Definition der Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft drei Schritte notwendig: (1) die Bestimmungen der

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Produktionsweisen und der relevanten Eigentumsformen der DDR-Gesellschaft, (2) die Bestimmung der Zugangsmöglichkeiten zu den oben genannten Verfügungsgewalten über die Produktionsmittel für die einzelnen Eigentumsformen und die Definition der daraus resultierenden Klassenlagen und (3) die Zuordnung von Handlungsträgern zu diesen Klassenlagen. Sie sind Gegenstand des folgenden Kapitels.

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Kapitel 2

Die Klassenlagen der DDR-Gesellschaft

Unter Berücksichtigung der historischen Dimension der Herausbildung und Entwicklung und damit der Gleichzeitigkeit sich neu etablierender, überlebender und absterbender Produktionsweisen, stellt sich in Anlehnung an die Ausführungen des ersten Kapitels die Frage: Welche Eigentumsverhältnisse existierten in der DDR-Gesellschaft und welche Klassenlagen konstituierten diese? Anders formuliert, welche Klassenlagen sind im Prozeß des Systemwechsels nach 1945 neu entstanden, welche unterlagen Transformationsprozessen, welche wurden beseitigt und welche konnten - von der Transformation nur partiell betroffen - weiter existieren? Mit dem Ziel einer systematischen und anschaulichen Darstellung wird in diesem Kapitel, in dem zunächst die Ableitung der Klassenlagen aus den existierenden Eigentumsverhältnissen der DDR-Gesellschaft sowie deren Deskription im Vordergrund stehen, vom historischen Entwicklungsprozeß weitgehend abstrahiert. Die Herstellung des Zusammenhangs zwischen den einzelnen Klassenlagen und der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der DDR ist Gegenstand des dritten Kapitels. In einem ersten Schritt wird versucht, all jene Klassenlagen zu bestimmen, die in der DDR-Gesellschaft überhaupt existiert haben, und zwar zunächst unabhängig von ihrer historischen Verortung. Entsprechend der im Ergebnis der Diskussion abgeleiteten Vorgehensweise (siehe Abschnitt 1.4) gilt es als erstes, all jene Eigentumsverhältnisse zu bestimmen, die in der DDR jemals existent waren. Basierend darauf sind anschließend die aus diesen Eigentumsverhältnissen resultierenden Verfügungsgewalten zu charakterisieren, unter denen die jeweilige politische Dimension von entscheidender Bedeutung ist.

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2.1 Einzahl oder Mehrzahl? Die Eigentumsformen der DDR-Gesellschaft Die sozialistische Warenproduktion, in der sich - wie die Ausführungen zur herrschenden Klasse (siehe Abschnitt 1.3) ergeben haben - die ökonomische Verfügungsgewalt über die politische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel legitimierte, verkörperte die dominierende Produktionsweise der DDR-Gesellschaft. Mit dem Anspruch des SED-Regimes, die gesamte Gesellschaft „zweckrational" zu planen und die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse vollständig zu beherrschen, wurde zugleich die Trennung zwischen Ökonomie und Politik aufgehoben. Die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel wurde weitgehend durch staatliches Eigentum ersetzt bzw. durch die Dominanz des staatlichen Eigentums in ihren Rechten stark eingeschränkt. Markt- und Konkurrenzmechanismen wurden außer Kraft gesetzt, an ihre Stelle traten staatliche Preisbildung und volkswirtschaftliche Gesamtplanung. „Politische Entscheidungen fungierten (...) als Substitut für Markt und Recht." (Meuschel, 1993, S. 7) Das in der Verfassung der DDR deklarierte „Völkseigentum" realisierte sich als „staatliches" Eigentum. Träger des Staates war jedoch nicht das arbeitende Volk, sondern die staatstragende Partei. Die führende Rolle der SED1 - verfassungsrechtlich zwar erst 1968 kodifiziert - bestand von Anfang an, wenn auch bis zur Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 als verlängerter Arm der sowjetischen Besatzungsmacht. Als legitimatorische Vorarbeit zur Etablierung ihrer Führungsrolle ist auch das auf dem II. Parteitag der SED (1947) erklärte Ziel der Errichtung der „Diktatur des Proletariats" zu werten. Dieser Produktionsweise politisch und damit auch wirtschaftlich und organisatorisch untergeordnet waren die Formen der einfachen und kapitalistischen Warenproduktion, die zu verschiedenen Zeiten der DDR existiert haben. Diese politische Unterordnung implizierte zugleich ihre wirtschaftliche Marginalisierung, da die für ihre Existenz entscheidenden Reproduktionsmechanismen, wie zum Beispiel Markt, Konkurrenz, politische Lobby-Bildung, abgeschafft oder drastisch beschnitten wurden. Eine ordnungspolitische Sonderposition kam dem Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre entstandenen genossenschaftlichen Eigentum in der Landwirtschaft sowie im Handwerk und Dienstleistungsgewerbe zu. Die besondere Rolle dieser Eigentumsform lag darin begründet, daß es sich um kollektive, „nichtstaatliche" Eigentümer handelte, die zugleich Produzenten waren. Damit erfolgte eine kollektive Aneignung des se/&siproduzierten Mehrwerts durch die jeweiligen Mitglieder der Genossenschaften. Im Gegensatz zu den staatlichen Betrieben bestand hier ein unmittelbarer - wenn auch ambivalenter - Zusammenhang zwischen dem Be-

1

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Bis zu ihrer Gründung (21./22. April 1946) galt dieses Recht für die KPD.

triebsergebnis und der Höhe der gezahlten Löhne. So bestimmte einerseits das Bruttoeinkommen der Genossenschaften die Höhe der individuellen Einkommen der Genossenschaftsmitglieder, so daß sich der betriebliche Entscheidungsprozeß stark an einer „Maximierung des betrieblichen Bruttoeinkommens" orientierte. Andererseits war auch diese Eigentumsform, wenngleich gekennzeichnet durch einen erweiterten Entscheidungsrahmen in den Leitungsfunktionen sowie bei der Planung und Verteilung der Produktion, der ordnungspolitischen Dominanz der zentralen Planwirtschaft unterworfen. Detaillierte staatliche Plananweisungen in Form von Produktions- und Ablieferungsauflagen sowie zentral gesetzte Festpreise standen im Widerspruch zu ökonomischen Produktions- und Verteilungsanreizen, die sich aus ihrer Rolle als Warenproduzenten ergaben. Damit konkurrierte im genossenschaftlichen Eigentum das System der zentralen Planung mit einem - im Vergleich zum staatlichen Bereich - dezentralisierten Entscheidungsmodell. Dabei waren sowohl die Eigentümer des genossenschaftlichen als auch die der existierenden Formen des privaten Eigentums von der politischen Verfügungsgewalt über die (eigenen) Produktionsmittel weitgehend ausgeschlossen. Das heißt, gesamtgesellschaftliche Entscheidungen wirtschaftspolitischer Art - wie zum Beispiel über die Strukturentwicklung, den Investitions- und Akkumulationsprozeß - erfolgten auf zentraler Ebene und trugen den Charakter von Gesetzen2. Damit ergab sich für die Strukturierung der DDR-Gesellschaft ein Nebeneinander von staatlichem, genossenschaftlichem und privatem Eigentum bei Dominanz des staatlichen Eigentums. Diese Eigentumsformen bestimmten den Zugriff auf spezifische strategische Ressourcen, die damit jeweils spezifische (reine) Klassenlagen sowie widersprüchliche Klassenpositionen konstituierten. Entsprechend Wright (1980, 1985) ist zwischen reinen und widersprüchlichen Klassenlagen zu unterscheiden. Reine Klassenlagen sind durch den eindeutigen Besitz bzw. den Ausschluß von den Verfügungsgewalten der jeweiligen Produktionsweise gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu sind die widersprüchlichen Klassenlagen jene, die Merkmale unterschiedlicher Klassenlagen aufweisen. Das heißt, Personen in diesen widersprüchlichen Klassenlagen können zwar partiell an Verfügungsgewalten einer bestimmten Klasse partizipieren, sind jedoch gleichzeitig von den sonstigen Verfügungsgewalten dieser Klasse ausgeschlossen. Damit sind sie zum Teil in der Lage, sich einen privilegierten Teil des produzierten Reichtums anzueignen, jedoch nicht in 2

So wurden zum Beispiel die Volkswirtschaftspläne der DDR als „Gesetze" beschlossen. Auf der Grundlage der jeweiligen „Direktive des Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR" wurden die Fünfjahrpläne auf allen Ebenen „diskutiert" und durch die Volkskammer als „Gesetz über den Volkswirtschaftsplan" verabschiedet. Diese Diskussionen - in der Parteipropaganda als eine Form der „demokratischen Mitbestimmung" proklamiert - folgten jedoch eher pseudo-demokratischen Ritualen und blieben inhaltlich folgenlos (vgl. Steinhöfel u.a., 1993).

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Abbildung 2: Die Klassenlagen der DDR-Gesellschaft, unabhängig von ihrer historischen Existenz Dominante Produktionsweise Sozialistische Warenproduktion

Staatliches Eigentum

Genossenschaftliches Eigentum (ab 1952)

Untergeordnete Produktionsweisen Einfache Warenproduktion

Kapitalistische Warenproduktion

Kleines Privateigentum

Kapitalistisches Privateigentum

Parteielite Betriebseigentümer

Administrative Dienstklasse Operative Dienstklasse

Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums

Bürgerliche Dienstklasse Selbständige

PGH-Handwerksmeister Selbständige Kleinbauern Genossenschaftsbauern Sozialistische Arbeiterklasse Fett: reine Klassenlagen; kursiv: widersprüchliche Klassenlagen.

dem Maße wie die Klasse, an deren Verfügungsgewalt sie teilhaben. Aufgrund der vorhandenen Eigentumsverhältnisse lassen sich dementsprechend für die DDRGesellschaft die in Abbildung 2 dargestellten reinen sowie widersprüchlichen Klassenlagen ableiten. Ihre Charakterisierung steht im Mittelpunkt der nachfolgenden Betrachtungen. Einen ersten Überblick über den Zusammenhang von Klassenlage und Ausstattung mit unterschiedlichen Verfügungsgewalten liefert die Abbildung 3. Für die Interpretation der beiden Abbildungen ist anzumerken, daß die in Abbildung 2 dargestellten Abstufungen nicht als Hierarchie interpretiert werden können, da es sich hier um eine Klassenstruktur handelt und dementsprechend die relationalen Beziehungen der einzelnen Klassenlagen zueinander im Vordergrund stehen. Diese Darstellungsweise versucht, diese relationalen Beziehungen der Klassenlagen zueinander zum Ausdruck zu bringen.

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Abbildung 3: D i e Verfügungsgewalten der einzelnen Klassenlagen Politische Verfügungsgewalt

Ökonomische Verfügungsgewalt

Technokratische Verfügungsgewalt

Parteielite

+

+

+

Administrative Dienstklasse

0

0

+

Operative Dienstklasse

-

-

+

Sozialistische Arbeiterklasse

-

-

-

Klassenlagen

*

Klassenlagen des staatlichen Eigentums

Klassenlagen des Eigentums

genossenschafllichen

Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums

-

(O)

+

Genossenschaftsbauern

-

(O)

-

PGH-Handwerksmeister

-

(0)

o

Selbständige

-

+

o

Selbständige Klein- und Mittelbauern

-

+

-

Betriebseigentümer

-

+/o

Bürgerliche Dienstklasse

-

Klassenlagen des kleinen Privateigentums

Privatkapitalistisches Eigentum

-

+ +

+ volle; o partielle; - keine; (o) partiell in bezug auf „genossenschaftlich".

2.2 Die Klassenlagen des staatlichen Eigentums Entsprechend der Polarisierung hinsichtlich des Zugangs zu den strategischen, strukturbestimmenden Ressourcen - das heißt zu politischer, ökonomischer und technokratischer Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel - konstituierte das staatliche Eigentum die zwei Grundklassen der DDR-Gesellschaft: die Parteielite3

3

Die Verwendung des Begriffs „Elite" dient hier nicht als elitentheoretisches Konstrukt (vgl. Pareto, 1955; Mosca, 1950). Er fungiert vielmehr als begriffliche Abgrenzung einer besonderen Gruppe von Funktionären innerhalb der Partei. Diese Gruppe trägt aber aufgrund ihrer Stellung zum staatlichen Eigentum Klassencharakter.

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als die kollektive Besitzerin des staatlichen Eigentums einerseits und die Arbeiterklasse andererseits. Letztere ist in ihrem Verhältnis zur Parteielite als die „ausgebeutete Klasse" zu charakterisieren, da sie infolge ihres Ausschlusses von allen strategischen Ressourcen nicht in der Lage war, sich den durch sie selbst produzierten Mehrwert anzueignen, das heißt dessen Verwendung zu bestimmen. Henrich (1990, S. 38) begründete die Spaltung dieser zwei Klassenlagen folgendermaßen: „An die Stelle der vertriebenen Kapitaleigentümer trat eine anonyme Verwaltung, die Pläne und Bilanzen erstellte und von den Produzenten unabhängig über die Ergebnisse der Produktion verfügte." Auch für die DDR bestätigte sich damit die These von Rizzi (zit. in Ahlberg, 1976, S. 82): „Das Staatseigentum geht zwangsläufig in den kollektiven Besitz deijenigen sozialen Gruppe über, die es stellvertretend für die Gesellschaft verwaltet und [wird] so zur ökonomischen Grundlage bürokratischer Herrschaft." Als widersprüchliche Klassenlagen, zum einen zwischen Parteielite und Privatbzw. genossenschaftlichen Eigentümern an Produktionsmitteln, zum anderen zwischen Parteielite und Arbeiterklasse, definierte das staatliche Eigentum die administrative Dienstklasse sowie die operative Dienstklasse des zentralisierten Planungssystems. Die Bezeichnung „Dienstklasse" basiert auf Renner (1953) und Dahrendorf (1965,1969). Sie definieren die Dienstklasse als diejenigen Positionen (Berufe), die in irgendeiner Form „Anteil an der Ausübung von Herrschaft" haben (Dahrendorf, 1965, S. 106). „Diese Funktionäre sind nicht Lohnarbeiter, sie erzeugen nicht, sie disponieren über erzeugte Werte (...) Neben die Arbeiterklasse (im streng technischen Sinne) ist die Dienstklasse getreten." (Renner, 1953, S. 211 f.) Sie tragen zur Machtausübung der herrschenden Klasse bei, stellen daher eher ein Anhängsel und nicht einen Bestandteil dieser Klasse dar (Dahrendorf, 1969, S. 144). Sowohl Dahrendorf als auch Renner heben die besondere Bedeutung dieser Klasse für den Machterhalt der herrschenden Klasse hervor. Ihre besondere Stellung resultiert daraus, daß sie als „bezahlte Helferin" der herrschenden Klasse eine Vielzahl ihrer Funktionen übernimmt bzw. ausübt (Renner, 1953, S. 211), somit als Vermittlungsinstanz zwischen herrschender Klasse und beherrschten Klassen fungiert (Dahrendorf, 1969, S. 145), und dabei zugleich ihre Position zu reproduzieren versucht: „The service class is by no means as unimportant as its name might suggest. The very fact that it administers and thereby defends the values of its social contexts makes it a strong conservative force." (S. 145) Erweitert in bezug auf die DDR-Gesellschaft und das hier zugrundegelegte Klassenmodell, umfaßt eine Dienstklasse jene Positionen, die in irgendeiner Form Anteil an den Verfügungsgewalten der Parteielite über die Produktionsmittel haben4. Je nachdem, zu

4

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Ebenfalls auf Renner zurückgreifend, kommt Geißler zu einer ähnlichen Begriffswahl: „Die Machtelite sicherte sich ihre Herrschaft u.a. mit Hilfe einer loyalen disziplinierten sozialistischen Dienstklasse von höheren, mittleren und subalternen Funktionären und Staatsangestellten." (1993b, S. 71)

welchen Verfügungsgewalten die jeweiligen Positionen Partizipationsmöglichkeiten eröffnen, ist - in Modifizierung der Definition von Dahrendorf und Renner zwischen der administrativen und der operativen Dienstklasse des sozialistischen Planungssystems sowie der Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums zu differenzieren (siehe Abb. 3). Die Parteielite (als herrschende Klasse) Obwohl die Nomenklatur der SED als „ein Mittel [diente, um] die Exklusivität bestimmter Positionen und ihrer Inhaber zu sichern", und somit „ein Instrument zur Steuerung sozialer Mobilität und der Verleihung materieller Privilegien" darstellte (Neugebauer, 1978, S. 157 und 207), wurde die Parteielite nicht durch die gesamte Gruppe der „Kader der Nomenklatur" personifiziert. Generell stellte die Nomenklatur das einheitliche Instrument der Kaderlenkung der Parteiführung dar. Sie war ein nach Hierarchieebenen und gesellschaftlichen Bereichen geordnetes Register, in dem alle als bedeutsam befundenen Positionen erfaßt wurden. Sie umfaßte daher alle Führungspositionen der Partei und des durch die Partei gesteuerten Staats- und Wirtschaftsapparats sowie auch die wissenschaftlich ausgebildeten Spezialisten ohne Leitungsbefugnisse und legte zugleich die Kompetenzen der einzelnen Führungsgremien und Positionen fest. Alle diesen Positionen zugeordneten Kader konnten nur mit Zustimmung des zuständigen Organs der Partei ernannt, befördert, versetzt oder abgesetzt werden. Nomenklaturkader unterhalb des Parteiapparats wurden in erster Linie als politische Beauftragte der Partei definiert, deren Weisungen sie prinzipiell unterworfen waren. Insofern stellte die Nomenklatur und die Kaderpolitik der SED vor allem ein politisch-organisatorisches Mittel zur Sicherung des Herrschaftsanspruchs der Partei dar. Innerhalb der Nomenklatur als hierarchisch geordnetes System ist entsprechend dem Umfang und der Qualität der Partizipation an Entscheidungen zu differenzieren zwischen: - denjenigen, die die Entscheidungen treffen (Funktionäre des Parteiapparats auf der obersten Leitungsebene), - denjenigen, die mit der Durchführung von Entscheidungen betraut sind (Leitungskader der administrativen und operativen Ebene des Planungssystems) und - denjenigen, die an der Entscheidungsvorbereitung teilhaben (Spezialisten). Der Parteielite können daher nur die Positionen des Parteiapparats im engeren Sinne zugerechnet werden. Selbst die Organe des Staats- und Wirtschaftsapparats hatten in der Realität die Aufgabe des „Nachbeschließens von Beschlüssen, die im Politbüro, im Sekretariat des ZK der SED oder in anderen Parteigremien gefaßt worden waren" (Modrow, 1991, S. 30), zu erfüllen. Obwohl der Ministerrat der DDR laut Verfassung durch die Volkskammer beauftragt wurde, die Erfüllung der innen- und außenpolitischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen sowie der ihm übertragenen Verteidigungsaufgaben zu organisieren, entstanden neben ihm Strukturen, die praktisch die Regierungsmacht ausübten, was auch für die anderen Ebenen des Wirtschafts- und Staatsapparats zutraf. Das heißt, die Oigane der Regie-

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rung erhielten von dafür bestimmten Abteilungen des Zentralkomitees der SED ihre Anweisungen und funktionierten nur noch als „Vollzugsbeamte" der Parteielite. Selbst die Kombinatsdirektoren und ihre Stellvertreter oder Institutsdirektoren wurden nicht durch den Minister berufen, dessen Verantwortungsbereich sie zugeordnet waren, sondern durch den Leiter der entsprechenden Abteilung des ZK der SED. Auf der Kombinats- bzw. Betriebsebene unterlag die Besetzung der Abteilungsleiterpositionen ebenfalls nicht den Kombinats- bzw. Betriebsdirektoren. Deren Vorschläge konnten nur mit Zustimmung des Parteisekretärs und der Parteileitung des Betriebes umgesetzt werden. Für diese Unterstellungsverhältnisse in bezug auf die Besetzung von Nomenklaturkader gab es keine Unterlagen in der DDR, denn sie wären einer Unterstellung der offiziellen Regierung - die man durch Wahlen zu legitimieren versuchte - unter die Partei gleichgekommen, womit man die Legitimität des Systems allzu offensichtlich in Frage gestellt hätte. Wie der Autorin aus Gesprächen mit Betriebsparteifunktionären bekannt ist, wurde in deren Schulungen genau „diese Illegalität der kaderpolitischen Entscheidungsmacht der SED gegenüber der verfassungsmäßigen Regierung" als Begründung für das Fehlen eines schriftlichen Dokuments angeführt. „Moralisch" sah man sich dennoch im Recht, so zu handeln, war man doch die „führende Partei der Arbeiterklasse", in deren Dienst man die Belange des Landes steuerte und kontrollierte, da man sich allein dafür fähig befand, dies auf einer wissenschaftlichen Basis, genannt Marxismus-Leninismus, zu tun. So war die SED „eine Partei, deren führende Rolle in Staat und Gesellschaft zwar verfassungsrechtlich festgeschrieben war, die sich selbst aber im vorrechtlichen Raum konstituiert und bewegt hat. Sie begründete ihren Henschaftsanspruch (...) unter Verweis (...) auf die Behauptung, über privilegiertes Wissen um Ziel und Weg des historischen Prozesses zu verfügen" (Meuschel, 1991, S. 15). In der Realität entwickelte sich demzufolge eine eindeutige Doppelstruktur von Parteiapparat einerseits und Staats- und Wirtschaftsapparat andererseits, in der die Unterstellungsverhältnisse klar definiert waren. So gab es zum Beispiel zu jedem Ministerium eine entsprechende Abteilung beim ZK der SED, deren Abteilungsleitern die Minister unterstellt waren; zu jedem Betriebsleiter einen Betriebsparteisekretär usw. Den zugrundeliegenden Mechanismus, der diese Unterstellungen praktikabel werden ließ, stellte die Parteidisziplin dar, der die Leitungskader des Staats- und Wirtschaftsbereichs als Parteimitglieder verpflichtet waren. Den offiziellen Regierungsgremien der DDR wurde damit die Rolle planender, organisierender, koordinierender und kontrollierender „Behörden" zugewiesen. Im Gegensatz zu dieser eher administrativen Ebene stellte die Parteielite gerade die politische und damit die - eben unter staatssozialistischen Bedingungen - entscheidungsrelevante Ebene des DDR-Planungssystems dar5.

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In gleicher Weise bestimmt auch Schneider in seiner Analyse der politischen Funktionselite der DDR die Gruppe der Parteifunktionäre in Abgrenzung zu den Staats- und Wirtschaftsfunktionären (Schneider, 1994, S. 121).

Damit sind der Parteielite folgende Personen bzw. Positionen zuzurechnen: der Generalsekretär der SED, das Sekretariat, die Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees (ZK) der SED6, die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros7, die Leiter der Abteilungen beim ZK, die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen sowie die Mitglieder der obersten Leitungsgremien der parteiabhängigen Massenorganisationen. Zu der letztgenannten Gruppe werden der Vorsitzende und die Mitglieder des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend (FDJ) - der Jugendorganisation der SED - sowie der Vorsitzende und die führenden Mitglieder des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) gezählt.

Nur sie machten die politische und damit die für gesellschaftsstrategische Entscheidungen relevante Ebene des sozialistischen Planungssystems aus. Diese Position ermöglichte es ihnen zugleich, auf allen Ebenen von Staat und Wirtschaft, Entscheidungen zu treffen, und zwar bis hinunter auf die Ebene der volkseigenen Betriebe. Als ein Kontroll- und herrschaftssichernder Mechanismus dieser Verfügungsgewalt können die vielfältigen personellen Überschneidungen interpretiert werden, die es sowohl innerhalb des Parteiapparats als auch zwischen den politischen und administrativen Führungsgremien gab. So übten Spitzenfunktionäre der Partei zumeist in Personalunion auch wichtige Funktionen in Staat und Wirtschaft aus. Die folgenden Beispiele sollen einer exemplarischen Veranschaulichung dienen, da offizielle Statistiken diesbezüglich nicht vorhanden sind. Verflechtungen innerhalb des Parteiapparats werden daran sichtbar, daß die Sekretäre des ZK zugleich Mitglieder oder Kandidaten des Politbüros waren. Ferner waren - bis auf wenige Ausnahmen - die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen zugleich auch Mitglieder oder Kandidaten des ZK der SED. Von den 41 Leitern der Abteilungen beim ZK waren 1979 19 Mitglieder/Kandidaten des Politbüros, zwei von ihnen waren außerdem noch Sekretäre des ZK (Horst Dohlus und Inge Lange). Ähnliches galt auch für die obersten Leitungspositionen in der FDJ und im FDGB. Beispiele für die personellen Überschneidungen von Partei- und Staatsapparat sind die anschließend ausgewiesenen Mitglieder/Kandidaten des Politbüros von 1976 (Neugebauer, 1978, S. 213 f.).

6 7

Das Zentralkomitee der SED war das höchste Organ zwischen den Parteitagen. 1967 gehörten zum ZK der SED 131 Mitglieder und 50 Kandidaten. Das Politbüro der SED wurde vom ZK gewählt und war für die politische Arbeit zwischen den Plenartagungen verantwortlich. Ihm oblagen alle Grundsatzfragen der innen- und außenpolitischen Tätigkeit der SED, der Staatsführung, der Volkswirtschaft und der anderen Bereiche. Daher waren in ihm all diejenigen Funktionäre vertreten, die die Apparate der Partei, des Staates, der Wirtschaft, der Nationalen Verteidigung sowie der wichtigsten Massenorganisationen (FDJ, FDGB) leiteten. 1976 bestand das Politbüro aus 19 Mitgliedern und 9 Kandidaten.

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Name

Funktion

Erich Honecker

Generalsekretär des ZK, Vorsitzender des Staatsratsvorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats, Mitglied der Volkskammer

Heinz Hoffmann

Minister für Nationale Verteidigung, Mitglied der Volkskammer

Egon Krenz (Kandidat)

Mitglied der Volkskammer (1. Sekretär des Zentralrats der FDJ)

Erich Mielke

Minister für Staatssicherheit, Mitglied der Volkskammer Sekretär des ZK (zuständig für Wirtschaftsfragen), Vorsitzender des Ausschusses für Industrie und Bauwesen der Volkskammer

Günter Mittag

Erich Mückenberger

Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommision, Mitglied des Präsidiums der Volkskammer

Gerhard Schürer (Kandidat)

Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats

Horst Sindermann

Vorsitzender der Volkskammer, Mitglied des Staatsrats der DDR

Willi Stoph

Vorsitzender des Ministerrats, Mitglied des Staatsrats, Mitglied der Volkskammer

Harry Tisch

Mitglied des Staatsrats, Mitglied der Volkskammer (Vorsitzender des FDGB)

D i e s e Personalunion wird ferner in den f o l g e n d e n Zahlen deutlich (Ludz, 1970, S. 238): 1963 waren 10 der 2 4 Mitglieder des Staatsrats 8 zugleich Mitglied bzw. Kandidat des Z K der S E D , 1954 waren 11 v o n 27 Mitgliedern des Ministerrats zugleich Mitglied bzw. Kandidat des Z K der S E D , 1963 waren es bereits 19 von 3 8 Mitgliedern des Ministerrats. D i e Überschneidungen zwischen Partei- und Wirtschafisapparat werden unter anderem daran sichtbar, daß 1958 14 und 1963 19 der Wirtschaftsfunktionäre zugleich auch Mitglied/Kandidat des Z K waren. Eines der bekanntesten B e i s p i e l e ist die Mitgliedschaft des Generaldirektors des Kombinats „Carl Zeiss", Jena, Prof. W o l f g a n g Biermann. Andere sind (Ludz, 1970, S. 2 2 5 f.):

8

72

Der im September 1960 durch Ulbricht geschaffene Staatsrat war eine im Vergleich zum Ministerrat politisch einflußreichere Institution, da er ein „Instrument Ulbrichts [darstellte], mit dem die Politbüro-Beschlüsse in die Verwaltungspraxis transformiert wurden" (Ludz, 1970, S. 245).

Hauptfunktion

Name Dr. Herbert Weiz (1958)*

1. Stellvertretender Werkleiter des VEB „Carl Zeiss", Jena

Prof. Dr. Wolfgang Schirmer (1958)

Werkleiter der VEB Leuna Werke „W<er Ulbricht", Merseburg

Emst Gallerach (1963)

1. Stellvertretender Werkdirektor des VEB „Carl Zeiss", Jena

Martin Markgraf (1963)

Generaldirektor der VVB Regeltechnik, Gerätebau und Optik, Berlin

Kurt Rödiger (1963)

Generaldirektor der VVB Kali, Erfurt

*

Die Angaben in Klammern sind das jeweilige Jahr des Eintritts in das ZK.

Daran wird deutlich, daß eine vielfältige Durchsetzung der wichtigsten Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen mit Funktionären der Parteielite existierte (siehe Tab. 1, exemplarisch fürdie Jahre 1963 und 1967). Aufgrund der zahlreichen Mehrfachfunktionäre innerhalb der Parteielite und erschwert durch das Fehlen einer offiziellen Statistik der Nomenklatur ist es nicht möglich, detaillierte Angaben über die zahlenmäßige Größe der Parteielite vorzunehmen. Nach Angaben von Voslensky (1980, S. 14) belief sich die Größe der gesamten Nomenklatur (d.h. in bezug auf das in dieser Arbeit entwickelte Klassenschema, die Parteielite und deren administrative Dienstklasse sowie die Leitungskader der operativen Dienstklasse) in der damaligen Sowjetunion auf weniger als 1,5 Prozent der Bevölkerung, das heißt 3 Millionen Menschen. Nimmt man diesen Wert als Richtzahl auch für die DDR, dann umfaßte die gesamte Nomenklatur etwa 250.000 Personen, von denen jedoch nur eine geringe Anzahl der Par-

Tabelle 1: Verteilung der Hauptfunktionen der Mitglieder und Kandidaten bei ihrem Eintritt in das ZK der SED (Angaben in absoluten Zahlen) Funktionsbereich Parteiapparat Staatsapparat Wirtschaft Landwirtschaft Massenorganisationen Kultur/Bildung NVA u.a. Im Ruhestand u.ä.

ZK 1963

ZK 1967

55 54 19 10 17 21 5 0

67 48 15 10 14 19 1 7

Quelle: Ludz, 1970, S. 334.

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teielite zugerechnet werden kann. Die Mehrheit hingegen ist in der administrativen und vor allem der operativen Dienstklasse anzusiedeln9. Die

Arbeiterklasse

Obwohl aus Gründen der Selbstlegitimation der Macht der Partei die Arbeiterklasse mittels der „Diktatur des Proletariats" als die herrschende Klasse im Sozialismus „hofiert" (Lötsch, 1990) wurde, war sie von jeder Form der politischen, ökonomischen und technokratischen Verfügungsgewalt ausgeschlossen; sie stellte die „ausgebeutete Klasse" der DDR-Gesellschaft dar10. Das einzige Recht der Arbeiter und untergeordneten Angestellten - sowie ihre verfassungsmäßige Pflicht - bestand darin, die Produktionsmittel durch ihre Arbeit zu nutzen, für die ihnen eine Vergütung entsprechend der erbrachten Leistung" zustand. Das Recht, Entscheidungen über die Verwendung des von ihnen produzierten Nationaleinkommens oder auch nur des betrieblichen Bruttoeinkommens zu treffen, blieb ihnen verwehrt. Zudem besaßen die Arbeiter und einfachen bzw. qualifizierten Angestellten weder organisatorische noch qualifikatorische Ressourcen, um sich einen privilegierten Anteil am gesellschaftlichen Produkt sichern zu können. So waren sie weder aufgrund

9

Für einen Eindruck über die Größe der Parteielite kann vor allem die Differenz zwischen der Prozentangabe von Voslensky und der von Andorka als Beleg herangezogen werden. Andorka (1992, S. 206) spricht im Fall von Ungarn von ungefähr 0,4 Prozent der Bevölkerung, die 1977 in der „oberen Führungsschicht" zu verorten waren, worunter er die Parteielite und deren administrative Dienstklasse zählt. Wendet man diese Prozentzahl - rein hypothetisch - auf die DDR an, so müßten diesen beiden Klassenlagen zusammen etwa 67.000 Personen zugerechnet werden können (bei einer Wohnbevölkerung von 16,8 Millionen für 1977).

10 Anzumerken ist hier, daß die Arbeiter unterhalb dieser Ebene die „Legitimationsformel der .Arbeiter- und Bauemmacht'" teilweise zu ihren Gunsten ausnutzen konnten. Meiner Meinung nach jedoch bei weitem nicht so umfassend, wie Lötsch es auf der Grundlage von einzelnen Beispielen konstatierte: „Wenn auch nicht im Ganzen, so verstanden sich Arbeiter im betrieblichen Geschehen durchaus als die .Herren im Hause': sie und nicht das betriebliche Management waren es die letztlich zumindest faktisch, jenseits der formalen Strukturen, bestimmten, was zu tun sei und was nicht: dem im Berliner Bauwesen eingebürgerten Brauch einer ,Vier-Tage-Arbeitswoche' (Arbeitsbeginn am Dienstag, Abreisetag am Freitag, weil die Mehrheit der Bauarbeiter aus den Bezirken delegiert' worden war) standen die Leiter hilflos gegenüber; die normale Arbeitsintensität in DDR-Betrieben (von den technologischen Bedingungen bestimmten Produktivität abgesehen) lag weit unter dem westlichen Standard etc." (Lötsch, 1993, S. 33) 11 Trotz der politischen Verzerrungen und der teilweisen Außerkraftsetzung des sozialistischen Leistungsprinzips , J e d e r nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" für die Gesellschaft insgesamt ist innerhalb der Arbeiterklasse wohl doch eher von einer funktionalen Handhabung des Leistungsprinzips, basierend auf den Kriterien Qualifikation und erbrachte Arbeitsleistung, auszugehen. In der DDR gab es 8 Lohngruppen für Arbeiter und Angestellte (wobei die Lohngruppen 5 bis 8 eine abgeschlossene Facharbeiterausbildung voraussetzten), 4 Gehaltsgruppen für Meister und 5 Gehaltsgruppen für Wissenschaftler, Leiter und ingenieurtechnisches Personal - mit einer quer dazu liegenden Abstufung der Löhne nach der

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von Expertenwissen oder Professionalität noch infolge einer exponierten Stellung innerhalb der Leitungs- und/oder Vewaltungshierarchie in der Lage, eine Beteiligung an Formen der technokratischen Verfügungsgewalt einzuklagen. Der Arbeiterklasse sind daher als G e g e n p o l zur Parteielite die Personen in folgenden Positionen zuzurechnen: Leiter der untersten Ebene in der Produktions- und Dienstleistungssphäre (z.B. Meister, Brigadiere, Gruppenleiter, Krippen- oder Kindergartenleiterinnen), Facharbeiter, Angestellte mit einfacher oder qualifizierter Tätigkeit (z.B. Verkäuferinnen, Sekretärinnen, aber auch Krankenschwestern) sowie die un- und angelernten Arbeiter12. Aufgrund der starken Monopolisierungstendenzen von politischer, ökonomischer und technokratischer Macht betraf dieser Ausschluß von jeglicher Form der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel bei gleichzeitigem Zwang zu ihrer Nutzung eine breite Gruppe der DDR-Bevölkerung 1 3 . D i e s o definierte Arbeiterklasse ist daher - intern betrachtet - in bezug auf die j e w e i l i g e qualifikatorische Ausstattung eher als heterogen zu charakterisieren. D i e Spannbreite der hier vorhandenen Qualifikationen reichte von den un- und angelernten Arbeitern und Angestellten über die Facharbeiter bis hin zu Personen mit Fachschulabschlüssen. D i e s e unterschiedlichen qualifikatorischen Ausstattungen der einzelnen Gruppen führten zu einer internen Schichtung der Arbeiterklasse, und zwar entsprechend d e m unterschiedlichen

„volkswirtschaftlichen Bedeutung" der Wirtschaftsbereiche und, im Falle der zuletzt genannten Gruppe, differenzierten Privilegienallokation, zum Beispiel besondere Rentenansprüche (siehe Die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der ehemaligen DDR. Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung, 1994) oder zusätzliche Einkommensbestandteile (Repräsentationskosten, Forschungsprämien usw.). Übersehen werden darf jedoch nicht, daß diese Funktionalität der Handhabung des Leistungsprinzips auch innerhalb der Arbeiterklasse teilweise durchbrochen wurde: Zum einen durch eine mangelhafte Arbeitsorganisation (wie fehlende Materialzufuhr oder zweifelhafte Normierung), wodurch zum Beispiel das Akkordlohnsystem durch Löhne, bestehend aus Grundlohn und Mehrleistungsprämien, weitgehend ersetzt wurde bzw. ersetzt werden mußte. Zum anderen durch die „volkswirtschaftliche Bedeutung" der einzelnen Branchen, die jeweils durch die Parteielite in ihren Wirtschaftsprogrammen definiert wurde. Aufgrund von Schwierigkeiten in der Arbeitskräfte-Rekrutierung für die volkswirtschaftlich „strukturbestimmenden" Bereiche wurden hier überdurchschnittliche Löhne gezahlt, wodurch eine teilweise Verzerrung des Lohngefüges entstand. 12 Befunde des Sozio-ökonomischen Panels für Ostdeutschland (1990) belegen, daß sich Facharbeiter und un-/angelernte Arbeiter durch ein homogenes berufliches Anforderungsprofil unabhängig von ihrem Qualifikationsniveau auszeichnen. Die einfachen und qualifizierten Angestellten und Meister zeigen eine gewisse Abweichung zu den Arbeitern, doch auch sie setzten sich deutlich von den höheren und leitenden Angestellten ab und zwar eindeutig in Richtung der Arbeiter (Bender und Meyer, 1993, S. 132). 13 In seiner Differenzierung der Angestelltenpositionen kommt Dahrendorf zu der Schlußfolgerung, daß im Unterschied zur Dienstklasse die untergeordneten Angestellten hinsichtlich ihrer Partizipation an Macht sich nicht von den Arbeitern unterscheiden und bezeichnet sie daher als „new working class": „In terms of power at least, their position is precise equivalent of that of workers in the secondary sectors of employment." (Dahrendorf, 1969, S. 142)

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Grad der Autonomie am unmittelbaren Arbeitsplatz. Daher ist es gerechtfertigt, von einer Binnendifferenzierung der Arbeiterklasse auszugehen. Nichtsdestoweniger grenzt sie sich im Verhältnis zu den übrigen Klassen bzw. widersprüchlichen Klassenlagen als homogene Klasse ab. Keine dieser Qualiiikationen war, wie bereits erwähnt, in der Lage, ihren Trägern einen derartigen Expertenstatus zuzuweisen, aufgrund dessen sie eine Beteiligung zumindest an der technokratischen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und damit einen Zugang zu materiellen oder immateriellen Privilegien hätte beanspruchen können. Es muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß diese „Besitzlosigkeit" in bezug auf die drei Dimensionen der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel nicht die „Verelendung" der Arbeiterklasse oder eine Absage an die Befriedigung jeglicher, außerhalb der unmittelbaren Reproduktion der Arbeitskraft liegender, Bedürfnisse dieser Klasse bedeutete und unter staatssozialistischen Verhältnissen auch nicht bedeuten konnte. Wie die Diskussion der Egalisierungsversus Differenzierungstendenzen innerhalb des sozialistischen Leitungsprinzips im Zusammenhang mit der These von der „entstratifizierten Gesellschaft" (siehe Abschnitt 1.2) gezeigt hat, war die Parteielite aufgrund ihrer Selbstlegitimation vielmehr gezwungen, entsprechend dem Anspruch der „Interessenvertretung der Arbeiterklasse" zumindest für deren materielle Existenzsicherheit und weitgehende Zufriedenheit, für einen, wie Hübner (1993, S. 15 f.) es formulierte, „sozial gesteuerten Burgfrieden" zu sorgen. Die administrative Dienstklasse im Staats- und Wirtschaftsapparat Zur administrativen Dienstklasse gehörten alle Angehörigen des Staats- und Wirtschaftsapparats, einschließlich der leitenden Mitarbeiter und Wissenschaftler in den Institutionen mit Stabsfunktionen. Damit umfaßte sie: alle Kader der Nomenklatur, die auf der administrativen Ebene des Planungssystems beschäftigt waren - das heißt in der Volkskammer, im Staatsrat, im Ministerrat, in der Staatlichen Plankommission, im Wirtschaftsapparat, im Militär und in der Staatssicherheit, in den oberen Führungsgremien der SED14, der Massenorganisationen und der Blockparteien15 - , sofern sie nicht der Parteielite zugerechnet werden können. Als Kader im Wirtschaftsapparat zählten dabei die Generaldirektoren der Kombinate sowie die Direktoren großer Industriebetriebe und deren stellvertretende bzw. Fachdirektoren. Ferner gehörten die Direktoren und exponierte Wissenschaftler

14 Hierzu zählten Sekretäre der Bezirksleitungen, die Leiter der Bezirksparteischulen sowie die Parteiorganisatoren der VVB, Kombinate und Großbetriebe. 15 Ferner sind der administrativen Dienstklasse auch die hauptamtlichen Funktionäre der Blockparteien zuzurechnen, sofern diese nicht ohnehin in einer der genannten Organisationen und Institutionen beschäftigt waren. Aufgrund der Zugehörigkeit der Blockparteien zur „Nationalen Front" waren diese im Prinzip in gleicher Weise der administrativen Umsetzung der SED-Beschlüsse verpflichtet.

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der wissenschaftlichen Institute der SED sowie die Präsidenten der einzelnen Akademien der Wissenschaften zu den Kadern dieser Ebene' 6 .

Obwohl den meisten der angesprochenen Institutionen, wie zum Beispiel der Volkskammer oder dem Staatsrat, verfassungsmäßig politische Entscheidungsrechte eingeräumt wurden, können sie real-gesellschaftlich jedoch nicht zu den politischen Entscheidungsgremien der DDR gezählt werden (Ludz, 1970, S. 236). Vielmehr ist ihre Situation als die von „Befehlsempfängern" (Voslensky, 1980, S. 199) zu charakterisieren. Die Widersprüchlichkeit ihrer Klassenlage bestand darin, daß sie einerseits an der ökonomischen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel durch die Delegierung von ökonomischer Verantwortung seitens der Parteielite beteiligt wurden - und damit weitgehend an den ökonomischen und politischen Entscheidungen, welche die Umsetzung der Beschlüsse der Parteielite betrafen, partizipieren konnten. Andererseits waren sie - trotz partieller politischer und ökonomischer sowie technokratischer Verfügungsgewalt - wie die Selbständigen, die Privateigentümer oder die genossenschaftlichen Eigentümer an Produktionsmitteln von den eigentlichen (im wesentlichen politisch determinierten) Entscheidungen über die Wirtschaftsstrategie der DDR ausgeschlossen.

Die operative Dienstklasse des sozialistischen

Planungssystems

In der widersprüchlichen Klassenposition der operativen Dienstklasse des DDRPlanungssystems befanden sich:

16 In Analogie zur Definition dieser widersprüchlichen Klassenlage ergibt sich die Frage, ob auch in westlichen Industriegesellschaften die „Manager" eine eigenständige Klassenlage darstellen. Legt man auch hier das Klassenmodell von Wright (1980, 1985) zugrunde, dann befinden sich auch in kapitalistischen Gesellschaften die „Manager" aufgrund der Ausstattung mit Organisationsmitteln und den daraus resultierenden Partizipationsmöglichkeiten an der tatsächlichen Verfügungsgewalt bei gleichzeitiger (juristisch fixierter) Besitzlosigkeit an Produktionsmitteln in einer widersprüchlichen Klassenlage: „Manager (werden) durch zwei (oder mehr) unterscheidbare Ausbeutungsbeziehungen definiert. Sie sind keinesfalls Kapitalisten (ausgenommen insoweit, als sie Eigentümer von Kapitalanteilen werden können) (...) Insofern als ihre Inhaber kapitalistisch ausgebeutet werden, teilen sie die grundlegenden Interessen mit den Arbeitern; insofern sie Ausbeuter im Hinblick auf Organisation (und/oder Fertigkeiten) sind, haben sie Interessen, die jenen der Arbeiter diametral entgegenstehen." (Wright, 1985, S. 260, 1979, 1980; Holtmann und Strasser, 1990) In ähnlicher Weise verläuft auch die Argumentation in bezug auf die widersprüchliche Klassenlage der „Bürokraten", das heißt der leitenden Angestellten der unteren/mittleren Leitungsebene (Wright, 1979, 1980, 1985; Holtmann und Strasser, 1990).

77

die Kader der mittleren Führungsgremien' 7 der SED und der Massenorganisationen sowie die Angestellten mit hochqualifizierten Tätigkeiten und/oder Leitungsfunktionen auf der mittleren Hierarchieebene, die in Forschung, Lehre und Entwicklung tätigen Wissenschaftler 18 sowie Kunst- und Kulturschaffende 19 .

Da sie überwiegend in der Rolle eines „Weisungsempfängers und -Übermittlers" handelten, war die Weisungsbefugnis und Autonomie dieser Angestellten und Wissenschaftler im Vergleich zur administrativen Dienstklasse stark eingeschränkt. So wurden ihnen einerseits aufgrund ihrer Positionen in der Leitungshierarchie bzw. der Möglichkeit der „Vermarktung" ihrer hohen Qualifikationen in Form von Expertenwissen und Professionalität wesentliche Momente technokratischer Verfügungsgewalt im „Dienste der Parteielite" und damit eine gewisse Autonomie in den Entscheidungen übertragen, die ihren Verantwortungs- und Arbeitsbereich betrafen. Diese Verfügungsgewalt war im Vergleich zu den Selbständigen insofern umfangreicher, als ihre Verantwortungs- und Arbeitsbereiche deutlich über die der Selbständigen (nur kleine Produktionsstätten bzw. Läden) hinausgingen. Andererseits waren'sie - wie die Arbeiterklasse - von den politischen und ökonomischen Entscheidungen, die den Produktions- und Akkumulationsprozeß sowie die Verteilung des produzierten gesellschaftlichen Reichtums betrafen, ausgeschlossen.

2.3 Die Klassenlagen des genossenschaftlichen Eigentums als Sonderform der sozialistischen Warenproduktion Die Dienstklasse des genossenschaftlichen

Eigentums

Entsprechend ihrer spezifischen Aufgaben für die Parteielite ist - wie eingangs dargestellt (siehe Abschnitt 2.2) - die Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums von den übrigen Genossenschaftsmitgliedern zu unterscheiden. Sie wurde personifiziert durch: die Vorsitzenden der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) sowie die der Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH).

17 Hierzu zählten die Sekretäre der Kreisleitungen, die Parteiorganisatoren von Abteilungen in den VVB, Kombinaten und Großbetrieben sowie in Institutionen der anderen gesellschaftlichen Bereiche, die Leiter von Kreis- und Betriebsschulen für Marxismus-Leninismus sowie die hauptamtlichen politischen Mitarbeiter der Bezirks- und Kreisleitungen. 18 Sofem sie nicht in exponierten Stellungen an Forschungsinstituten der SED und der Akademien beschäftigt waren, da diese - aufgrund ihrer unmittelbaren Einflußnahme auf Entscheidungen der Partei - eher der administrativen Dienstklasse zuzuordnen sind. 19 Zur Verortung der Künstler in der DDR-Gesellschaft siehe die Ausführungen zur „neuen" bürgerlichen Dienstklasse (siehe Abschnitt 2.4).

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Aufgrund ihrer Einbindung in den zentralen Planungsprozeß besaßen sie einerseits im Vergleich zu den anderen Genossenschaftsmitgliedern privilegierte Organisationsbefugnisse, da sie partiell ökonomische Entscheidungen hinsichtlich des sie betreffenden Produktionsprozesses im Auftrag der Parteielite treffen konnten - ohne damit jedoch in die wirtschaftsstrategischen Entscheidungen eingreifen zu können. Andererseits besaßen sie aufgrund ihres eigenen Anteils am genossenschaftlichen Eigentum - genauso wie die Genossenschaftsbauern bzw. PGHHandwerksmeister - spezifische Interessen und ökonomische Entscheidungsspielräume, die aus der Sonderrolle des genossenschaftlichen Eigentums resultierten. Die Klasse der Genossenschaftsbauern Die dominanten Organisationsformen der landwirtschaftlichen Produktion in der DDR waren seit Beginn der 1960er Jahre die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und die volkseigenen Güter (VEG)20. Im Jahre 1971 wurden 85,8 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche von 8.327 LPG, 7,4 Prozent von 511 VEG, 0,3 Prozent von 338 gärtnerischen Produktionsgenossenschaften (GPG) und 6,5 Prozent von übrigen Betrieben und Parzellenbesitzern bewirtschaftet (Kleines Politisches Wörterbuch, 1973, S. 488). Daran wird sichtbar, daß das genossenschaftliche Eigentum nach vollendeter „Kollektivierung der Landwirtschaft" (1960) die hauptsächliche Produktionsweise auf dem Lande darstellte21. Zur Klasse der Genossenschaftsbauern gehörten gemäß ihrer Beziehung zum Eigentum: alle Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, unabhängig von ihrer konkreten beruflichen Tätigkeit.

Laut Untersuchungen von DDR-Soziologen „setzten sich die Mitglieder der LPG [1960] ihrer sozialen Herkunft nach aus 65,9 Prozent ehemaligen Klein- und Mittelbauern [zu einem großen Teil Neubauern], 5,1 Prozent ehemaligen Industriearbeitern, 16,7 Prozent ehemaligen Landarbeitern und 5,3 Prozent ehemaligen Großbauern zusammen" (Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, 20 Die „volkseigenen Güter" waren volkseigene landwirtschaftliche Großbetriebe, die, wie Großbetriebe in der Industrie, nach dem Prinzip der Einzelleitung geführt wurden. Sie sind im Ergebnis der Bodenreform 1945 entstanden. Ihr Boden und ihre Produktionsmittel wurden offiziell als „Volkseigentum" deklariert. Wie weiter oben dargestellt, handelte es sich dabei um staatliches Eigentum. Demzufolge stellten die VEG einen Teil der sozialistischen Warenproduktion dar, so daß hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Klassenlagen mit den hier Beschäftigten in Analogie zu denen in den anderen Wirtschaftsbereichen des staatlichen Eigentums zu verfahren ist. Im Unterschied zu den LPG waren hier - wie bei den anderen Formen des staatlichen Eigentums - die individuellen Arbeitseinkommen unabhängig von der Betriebsleistung. 1971 waren 73.429 Werktätige in VEG beschäftigt. Ihr Aufgabenschwerpunkt lag vor allem in der Saat-, Pflanzen- und Tierzucht sowie in der Forschung. 21 Seit 1954 konnten auch Großbauern, die nicht unter die Enteignung fielen, Mitglied der LPG werden.

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1983, S. 332). „Kadermäßig unterstützt" wurde dieser Prozeß der Kollektivierung, indem Industriearbeiter in die Genossenschaften „delegiert" wurden. Im Unterschied zur früheren Bauernschaft kann die Klasse der Genossenschaftsbauern in der DDR als eine durchaus „gebildete" und zunehmend „industriemäßig produzierende" Klasse charakterisiert werden, besaßen doch 1972 mehr als 64 Prozent und 1982 sogar etwa 90 Prozent eine abgeschlossene Berufsausbildung (Krambach, 1985, S. 44). Da es sich bei den genossenschaftlich organisierten Gärtnern ebenfalls um eine auf der Basis des genossenschaftlichen Eigentums produzierende Gruppe im Agrarsektor handelte, war diese in der DDR durch die gleiche Klassenlage wie die Genossenschaftsbauern gekennzeichnet, so daß beide einer Klasse zuzurechnen sind. Aussagen, die über die rechtliche Stellung der LPG getroffen werden, gelten in gleicher Weise für die GPG. Angesichts der Tatsache, daß die 1971 existierenden gärtnerischen Produktionsgenossenschaften (GPG) mit ihren 22.842 Mitgliedern im Vergleich zu den 887.441 LPG-Mitgliedern nur einen geringen Teil der gesamten Gruppierung ausmachten, die durch diese Klassenlage charakterisiert werden kann, werden im folgenden beide nur noch unter den Begriff der Klasse der „Genossenschaftsbauern" gefaßt22. Die LPG stellten genossenschaftliche Großbetriebe dar, die durch den - wie es in der Parteipropaganda hieß - „freiwilligen" Zusammenschluß werktätiger Bauern, Gärtner, Landarbeiter und anderer Werktätiger im Prozeß der „sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft" entstanden waren. Diese Freiwilligkeit muß - abgesehen von dem politischen und ökonomischen Zwang bei der Kollektivierung - auch deshalb in Zweifel gezogen werden, weil die Genossenschaftsbauern nicht das Recht besaßen, ihre Mitgliedschaftsverhältnisse zu kündigen. Die Genossenschaften waren Eigentümer der wichtigsten Produktionsmittel sowie der aus der genossenschaftlichen Nutzung des Bodens und der Viehwirtschaft erzielten Ergebnisse. Ihre juristische Stellung wurde im „Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften" vom 3.6.1959 fixiert. Danach waren die LPG zwar juristisch selbständig, ihre wirtschaftliche Tätigkeit erfolgte jedoch auf der Grundlage der staatlichen Volkswirtschaftspläne, die durch die Mitgliederversammlung, den Vorstand und den Vorsitzenden der jeweiligen LPG „bestätigt" wurden. Andere Eingriffe in die Verfügungsgewalt der Genossenschaften seitens des Staates erfolgten über die Bereitstellung von Krediten für Investitionen, die Unterstützung von Rationalisierungsmaßnahmen sowie die staatliche Preisbildung. In der DDR existierten drei Formen von landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaft je nach Umfang des genossenschaftlichen Eigentums: Typ I gemeinsames Ackerland, Typ II Ackerland, Maschinen, Geräte und Zugkräfte für die Feldwirtschaft gemeinsam, Typ III alle landwirtschaftlichen Produk-

22 Die Zahlenangaben sind dem Kleinen Politischen Wörterbuch von 1973 entnommen.

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tionsmittel, ausgenommen jene, die in der individuellen Hauswirtschaft23 genutzt wurden. Diese drei Typen stellten die Stufen des schrittweisen Übergangs zur genossenschaftlichen Produktion sowie zu den industriemäßigen Formen der Arbeit in der Landwirtschaft dar. Das von den Bauern eingebrachte Land blieb in allen Typen der LPG rein formal ihr persönliches Eigentum2*. Im Gegensatz zum staatlichen Eigentum - und damit zur Arbeiterklasse - verblieb den Genossenschaftsbauern damit ein Teil der Eigentumsrechte, durch die sie eine eingeschränkte ökonomische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besaßen25. Die

PGH-Handwerksmeister

Eine weitere Form des genossenschaftlichen Eigentums stellten die in der DDR seit den 1950er Jahren entstandenen „Produktionsgenossenschaften des Handwerks" (PGH) dar. Bis 1957 nur marginal mit 1,4 Prozent am gesamten Bruttoproduktionswert des Handwerks beteiligt, nahm die Bedeutung des genossenschaftlich organisierten Handwerks von 1958 bis 1960 stark zu (Mitzscherling u.a., 1971, S. 156). Ursachen dafür waren die 1958 eingeführte progressive Gewinnsteuer für Handwerksbetriebe mit mehr als drei Beschäftigten 26 sowie eine bevorzugte Waren- und Materialzuteilung an Genossenschaften. Wie auch in der Landwirtschaft, erfolgte der genossenschaftliche Zusammenschluß im Handwerk als ein stufenweiser Prozeß. Hier jedoch blieben die Handwerker in Stufe I Eigentümer der Produktionsmittel und brachten sie erst in Stufe II in das Eigentum der Genossenschaft ein. 1969 gehörten bereits etwa 70 Prozent aller PGH27 der zwei-

23 Bei allen drei Typen konnten bis zu 0,5 Hektar für die Aufrechterhaltung einer Hauswirtschaft in individueller Nutzung verbleiben. 24 Die Bedeutung des Besitzes von Eigentum zeigte sich bei den Genossenschaftsbauern sehr deutlich nach der „Wende". Zum einen wurde sichtbar, daß sie auch während der DDR-Zeit eine besondere Beziehung zu ihrem persönlichen Eigentum aufrechterhalten haben. So war ein Großteil von ihnen in der Lage, bei der Auflösung der LPG genau das Stück Land zu identifizieren, das sie bei der Kollektivierung eingebracht hatten. Zum anderen war ihre Lage nach der Wende im Vergleich zur Arbeiterklasse insofern besser, als sie zumindest teilweise in Form von Landbesitz über ökonomische Ressourcen verfügten, die sie entweder zur Sicherstellung einer eigenen Erwerbstätigkeit oder für finanzielle Absicherungsmaßnahmen einsetzen konnten. 25 Außerdem hatten sie - im Vergleich zur Arbeiterklasse - bessere Möglichkeiten einer privaten Nebenproduktion, die aufgrund der Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse der Kleinproduktion (aus Gärten oder privater Hauswirtschaft) sehr lukrativ war. Die Aufkaufpreise lagen wesentlich über den Verkaufspreisen dieser Produkte, um einen zusätzlichen Anbau zu stimulieren und diese - zum Teil nur dort angebauten - Obst- und Gemüsesorten sowie das Fleisch und die Felle von Kleintieren der Versorgung der Bevölkerung zuführen zu können. 26 Die relative Begünstigung der kleineren Betriebe, die nur eine Nominalsteuer zu zahlen hatten, wurde dann 1966 aufgehoben. 27 1971 gab es 4.481 Produktionsgenossenschaften des Handwerks.

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ten Stufe an. Sie leisteten Arbeit in der handwerklichen Produktion sowie auf dem Gebiet der Versorgung und Dienstleistung der Bevölkerung. Ihre staatsrechtliche Stellung wurde durch den Art. 46 der Verfassung der DDR „Die sozialistischen Produktionsgenossenschaften und ihre Rechte" (in Verbindung mit Art. 41 und 42) geregelt. Danach galten sie - wie auch die Produktionsgenossenschaften in der Landwirtschaft und im Gartenbau - als juristisch selbständige Betriebe. Entstanden durch den „freiwilligen" Zusammenschluß, befanden sich in der Klassenlage der PGH-Handwerksmeister: die in Produktionsgenossenschaften zusammengeschlossenen selbständigen Handwerker, einschließlich der im Einzelhandel, und Inhaber industrieller Kleinbetriebe, die in die Handwerksund Gewerberolle eingetragen waren28.

Wie an dieser Definition deutlich wird, ist diese Klasse nicht mit allen „Mitgliedern" der Produktionsgenossenschaften gleichzusetzen. Mitglied einer PGH konnten neben den genannten Personengruppen auch Gesellen, Arbeiter, Ingenieure, Techniker und andere Angestellte werden. Formal war man gezwungen, jeden, der in einer PGH arbeitete, als Mitglied aufzunehmen, da eine Beschäftigung von Lohnarbeitern grundsätzlich nicht gestattet war. Ihre Mitgliedschaft beruhte im Gegensatz zu den PGH-Handwerksmeistern nicht auf eingebrachten Genossenschaftsanteilen29. Genauso wie die anderen Formen des genossenschaftlichen Eigentums unterlagen auch die PGH der staatlichen Volkswirtschaftsplanung, unterstützt durch solche Mechanismen wie Besteuerung, kontingentierten Materialzugang und Auflage der damit zu erbringenden Leistungen sowie staatlich festgesetzte Preise. Im Unterschied zu den anderen Formen des genossenschaftlichen Eigentums produzierten bzw. arbeiteten die PGH-Handwerksmeister unmittelbar mit den von ihnen eingebrachten Produktionsmitteln (z.B. als Bäcker, Fleischer, Schuhmacher, KfzMeister, Friseur), so daß ihnen aufgrund ihrer beruflichen Stellung als Meister Reste an ökonomischer und technokratischer Verfügungsgewalt über ihre (eigenen) Produktionsmittel verblieben. Für die drei Klassenlagen, die aus dem genossenschaftlichen Eigentum resultierten, ist insbesondere hervorzuheben, daß mit der (politisch initiierten) Umwandlung der selbständigen Bauern wirtschaften und Handwerksbetriebe in Genossenschaften kollektive Mobilitätsprozesse stattfanden, die keinerlei Aktivitäten im Sin28 Diesen sind außerdem die geringe Zahl der Binnenfischer, die in Produktionsgenossenschaften werktätiger Fischer organisiert waren, zuzurechnen. 1971 gab es 42 dieser Genossenschaften (mit 723 Mitgliedern). 29 Die in den PGH angestellten Arbeiter und sonstigen Beschäftigten können dieser Klasse nicht zugerechnet werden, da ihnen die rechtliche Grundlage einer Partizipation an den mit diesem Eigentum verknüpften Verfügungsrechten und Ressourcen fehlte. Sie waren vielmehr durch die gleiche Klassenlage wie die Arbeiter und einfachen Angestellten im staatlichen Wirtschaftsbereich gekennzeichnet und müssen daher als Teil der Arbeiterklasse eingestuft werden.

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ne eines Ortswechsels oder Arbeitsplatzwechsels verlangten. Diese „KlassenMobilitätsprozesse" dürfen wohl als historisch einmalig bezeichnet werden. Selbst die ebenfalls kollektiven Mobilitätsprozesse der industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts, in deren Ergebnis der doppelt freie Lohnarbeiter entstand, bedingten örtliche Mobilität (Abwanderung vom Land, Zuwanderung in die Städte) und Veränderungen in den Arbeitsinhalten (von Landarbeit zu Industriearbeit).

2.4 Die Klassenlagen der untergeordneten Produktionsweisen Die Eigentumsrechte, die sich aus den in der DDR weiterhin oder zumindest zeitweise noch vorhandenen Formen von Privatbesitz an Produktionsmitteln begründeten, waren ausschließlich auf die ökonomische und technokratische Verfügungsgewalt begrenzt - und diese in stark eingeschränkter Form. So waren sie aufgrund indirekter (über die Beschränkung der Zahl an Lohnarbeitern, zugeteilte Materialkontingente und Produktionsauflagen) oder direkter staatlicher Einflußnahme (in Form von halbstaatlicher Beteiligung) von wesentlichen Entscheidungen über ihren Reproduktions- und Akkumulationsprozeß ausgeschlossen. Wenn es ihnen dennoch gelang, einen Mehrwert zu erzielen, der nicht durch die hohe Besteuerung weggenommen wurde, so konnte dieser - da es sich im Gegensatz zum genossenschaftlichen Eigentum nicht um kollektives Eigentum handelte von den einzelnen Privateigentümern direkt angeeignet werden.

Die einfache Warenproduktion Das Privateigentum der einfachen Warenproduktion ist im allgemeinen aufgrund seines Umfangs - unabhängig vom Gesellschaftssystem - durch die Gleichzeitigkeit von Eigentum und Arbeit gekennzeichnet. Das heißt, die kleinen Warenproduzenten müssen, um ihr Eigentum zu reproduzieren, neben ihrer Eigentümerrolle zugleich auch als Produzent fungieren. In der DDR lassen sich dabei aufgrund der politischen Entstehungs- und Existenzbedingungen, der Größe und der Branche zwei unterschiedliche Klassenlagen innerhalb dieser Produktionsweise feststellen: die Klasse der selbständigen Klein- und Mittelbauern und die Klasse der Selbständigen (mit maximal zehn Beschäftigten, im Handwerk und Gewerbe, einschließlich der nach 1960 noch existierenden kleinen selbständigen Bauern und Gärtner). Die selbständigen Klein- und Mittelbauern Entsprechend dem Potsdamer Abkommen sorgte in der sowjetischen Besatzungszone die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) dafür, daß das .Junkertum als einer der Träger des Faschismus und Militarismus" von der Aus83

Übung staatlicher Macht ausgeschlossen wurde. Gestützt wurde dies durch den Entzug ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage, die entschädigungslose Enteignung aller „Kriegsverbrecher" und Großgrundbesitzer mit einem Landbesitz von über 100 Hektar 30 . Ein Teil des enteigneten Bodens wurde einem staatlichen Bodenfond zugeschlagen, aus dem unter anderen die VEG hervorgingen. Der größte Teil des Bodens und Inventars wurde jedoch an Landarbeiter, Umsiedler, landarme Bauern und Kriegsvertriebene verteilt - die dementsprechend als „Neubauern" bezeichnet wurden. Im Rahmen dieser „demokratischen Bodenreform" erhielten über 200.000 Landarbeiter Land in einer Größe von durchschnittlich 5 bis 7 Hektar sowie 125.000 landarme Bauern zusätzliches Land, um ihre Wirtschaften erweitern zu können. Die durch die Bodenreform geschaffenen Wirtschaften durften - laut der Verordnungen der Landes- und Provinzialverwaltungen - weder ganz noch teilweise verkauft, verpachtet, geteilt oder verpfändet werden. Diese Maßnahmen galten als Vorkehrungen dagegen, daß infolge eines Differenzierungsprozesses auf dem Lande aus dem klein- und mittelbäuerlichen Eigentum abermals kapitalistisches Privateigentum entstand. Diese Bodenreform stellte den ersten tiefen Eingriff in die sozialökonomische Struktur der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR dar, der ausschließlich mit politischen Machtmitteln vollzogen wurde. In der Klassenlage der Selbständigen Klein- und Mittelbauern sind daher folgende Personen zu verorten: alle selbständigen Bauern mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche, deren Größe ihre eigene Mitarbeit notwendig machte.

Wie bereits erwähnt, wurden mit der „sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft", eingeleitet 1952 und beendet 1960, die Ergebnisse der Bodenreform - und zwar wiederum mittels politischer Macht - durch die nahezu vollständige Beseitigung des bäuerlichen Privateigentums in eine „systemkonforme" Eigentumsform umgewandelt. Mit diesem Übergang zum genossenschaftlichen Eigentum endete die Existenz dieser Klasse. Ihre Angehörigen waren nach 1960 nahezu vollständig in der Klasse der Genossenschaftsbauern zu finden. Der noch verbliebene Rest bäuerlicher Privatwirtschaft war hinsichtlich seiner Verfügungsrechte in ähnlicherWeise marginalisiert wie die nach 1972 noch existierenden Privatbetriebe in Handwerk und Dienstleistungen. Demzufolge sind beide Gruppen nach 1960 in einer gemeinsamen Klassenlage, als Selbständige, zu positionieren. Die Selbständigen

(mit höchstens zehn

Beschäftigten)

Der Anteil des privaten Sektors im Handwerk und in einigen Spezialbereichen des Handels wurde im Verlauf der Entwicklung der DDR drastisch reduziert. Von den anfangs (1948) etwa 300.000 Handwerksbetrieben (einschließlich der privaten 30 Der Grund und Boden der Kirchen blieb davon unberührt.

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Einzelhandelsbetriebe) existierten Ende 1971 nur noch 111.723 Private. Das ist zum einen auf die staatlich forcierte Schaffung genossenschaftlicher Formen und eine stark begrenzte Gewerbezulassung zurückzuführen. Zum anderen wurden die Selbständigen von der Lehrlingsausbildung ausgeschlossen bzw. wurde ihnen dieses Recht nur noch in einem stark begrenzten Umfang eingeräumt. Damit wurde ihre eigene Nachwuchsförderung in Frage gestellt. Ihre Reproduktion erfolgte - sofern Kinder vorhanden waren - nahezu vollkommen durch die Übernahme der (bereits vorhandenen) elterlichen Betriebe. Infolgedessen ging die Selbständigenquote von 28,3 Prozent (1946) auf zuletzt 2,1 Prozent zurück (Bögenhold, 1992, S. 260). Eine weitere Einschränkung bedeutete die Begrenzung der Lohnarbeit auf höchstens zehn Beschäftigte, um die marginale Rolle der Selbständigen auch hinsichtlich des möglichen Produktionsvolumens zu verfestigen. Offiziell wurde diese Begrenzung mit dem Ziel der „Vermeidung von Ausbeutung" begründet. Im Einzelhandel 31 lag das Schwergewicht seit 1956 auf dem Abschluß von Kommissionshandelsverträgen mit staatlichen Einzelhandelsbetrieben, um zu verhindern, daß Einzelhändler Geschäfte auf eigene Rechnung tätigen konnten. Außerdem war dem privaten Einzelhändler nur gestattet, höchstens zwei fremde Arbeitskräfte zu beschäftigen. Wie (später) die Produktionsgenossenschaften des Handwerks, unterlagen auch die Selbständigen der volkswirtschaftlichen Gesamtplanung durch staatliche Zuweisung von Material, festgesetzte Preise, steuerrechtliche Regelungen sowie eine plangebundene Kreditvergabe. Dementsprechend gelangt Geißler (1991, S. 191) zu der Einschätzung, daß „die Selbständigen in der DDR sich in ihrer sozialen Situation erheblich von den Westdeutschen (unterscheiden). Sie mußten nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ein Kümmerdasein führen. Ihr wirtschaftlicher Entscheidungsspielraum war durch die Einbindung in planwirtschaftliche Vorgaben stark eingeengt, die Betriebsgröße begrenzt, die Leistungsbereitschaft durch hohe Steuern (Einkommenssteuerabgaben bis zu 90 %) zusätzlich gebremst und ihre materielle Lage vergleichsweise nivelliert." Dennoch gelang es ihnen, im Durchschnitt höhere Einkommen zu realisieren als Arbeiterhaushalte oder Haushalte der akademischen Intelligenz der DDR. Entsprechend einer Analyse von Bedau und Vörtmann (1990, S. 658) erwirtschafteten sie 1988 etwa 48 Prozent mehr Einkommen als Arbeiterhaushalte. Zur Klasse der Selbständigen bzw. kleinen Privateigentümer gehörten:

31 Die Übernahme des Großhandels durch den Staat wurde 1946 mit der Gründung von „Industrie- und Handelskontoren" eingeleitet, die 1948 unter dem Dach der „Deutschen Handelsgesellschaft" eine einheitliche Leitung erhielten. Danach folgten mehrfache Strukturveränderungen organisatorischer Art - unter Beibehaltung des staatlichen Eigentums. Dem staatlichen Handel sind auch die Konsumgenossenschaften zuzurechnen, da sie nicht auf der Grundlage des Zusammenschlusses von ehemals privaten Einzelhändlern basierten, sondern auf der Einzahlung von einmaligen Mitgliedsbeiträgen durch die Bevölkerung. Sie stellten einen Teil des staatlichen Einzelhandels dar.

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die kleinen privaten Handwerker und Gewerbetreibenden sowie die freiberuflich Tätigen (in nicht-akademischen Berufen). Nach 1960 ist den Selbständigen außerdem noch die verbliebene Zahl der privaten Gärtner und selbständigen Kleinbauern zuzurechnen32.

Bei aller Marginalität schien jedoch ihre Perspektive gesichert zu sein. Aufgrund von Versorgungsschwierigkeiten im Reparaturhandwerk sowie hinsichtlich anderer Dienstleistungen für die Bevölkerung erfuhren sie seit Beginn der 1980er Jahre seitens der Partei erneute Aufmerksamkeit und wurden „zum (positiven) Allheilmittel sozialer und wirtschaftlicher Defizite hochstilisiert" (Bögenhold, 1992, S. 261).

Die Reste der kapitalistischen Warenproduktion Die Betriebs- und Großgrundbesitzer Durch den Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 11. Juni 1945 eingeleitet, kam es in der sowjetischen Besatzungszone im Ergebnis des Volksentscheids in Sachsen 1946 zur entschädigungslosen Enteignung der „am zweiten Weltkrieg schuldigen" Betriebseigentümer, Großgrundbesitzer, Nazi- und Kriegsverbrecher. In der Industrie betraf dies etwa 4.000 Betriebe 33 , deren Inhaber als politisch belastet galten, unter ihnen zum Beispiel AEG, Krupp, Siemens und Flick. Diese Betriebe, sofern sie nicht Reparationszwecken dienten, wurden vollständig der Verfügungsgewalt der neuen deutschen Verwaltungsorgane als „Volkseigentum unterstellt. 1948 befanden sich nur noch ungefähr 36.000 mittlere und kleinere Betriebe in der Industrie und im Großhandel in privater Hand. 1955 reduzierte sich diese Zahl auf etwa 13.000 private Industriebetriebe. Mit Hilfe besonderer wirtschafts- und steuerrechtlicher Maßnahmen wurde die „Sozialisierung" in der Industrie systematisch vorangetrieben. Viele Betriebsinhaber entzogen sich diesem Druck durch die Flucht nach Westdeutschland. Ihre Betriebe gingen automatisch in staatliches Eigentum über. Andere „wählten" 34 seit 1956 die Rechtsform 32 Die mithelfenden Familienangehörigen nehmen dabei eine Sonderposition innerhalb der einfachen Warenproduktion ein. Obwohl formal-rechtlich nicht die Eigentümer der Produktionsmittel, partizipierten sie doch aufgrund der innerfamiliären und erbrechtlichen Regelungen (als Ehepartner oder Kinder) an den Verfügungsrechten. Damit unterschieden sie sich in markanter Weise von den in Lohnarbeit Beschäftigten. In bezug auf die Charakterisierung ihrer Klassenlage halte ich es daher für gerechtfertigt, sie der Klasse der Selbständigen bzw. der selbständigen Klein- und Mittelbauern zuzuordnen. 33 Davon wurden etwa 200 Großbetriebe in 25 SAG (Sowjetische Aktiengesellschaften) umgewandelt, die bis 1953 der DDR als volkseigene Betriebe zurückgegeben wurden (ausgenommen die Wismut-AG aufgrund ihres Uranerzbergbaus). 34 Von einer „freiwilligen" Wahl kann - wie bei der Kollektivierung - auch hier kaum die Rede sein, denn ohne „staatliche Beteiligung" wurden sie überdurchschnittlich besteuert, in der Materialzuteilung schikaniert und erhielten keine Kredite, so daß Investitionen kaum möglich waren (vgl. Mitzscherling u.a., 1971).

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einer Kommanditgesellschaft mit Beteiligung des Staates, der durch den Namen „halbstaatliche Betriebe" Rechnung getragen wurde35. Die Gründung von halbstaatlichen Betrieben wurde durch eine Vielzahl vorteilhafter Regelungen wie ein niedrigerer Steuersatz, verbesserte Zuteilung von Material, erweiterte Kapitalbereitstellung begünstigt (Mitzscherling u.a., 1971, S. 26). Ende 1958 gab es bereits 1.541 und 1962 sogar 6.000 solcher Betriebe. Sie konzentrierten sich vor allem auf die Leicht- und Lebensmittelindustrie, kleinere Betriebe mit halbstaatlicher Beteiligung gab es auch noch im Maschinenbau und in der Elektrotechnik. 1972 kam es auf Beschluß der 4. Tagung des ZK der SED (im Dezember 1971) zu einer Umwandlung der Betriebe mit staatlicher Beteiligung in staatliches Eigentum durch Auszahlung der privaten Anteile bzw. den Kauf dieser Betriebe36. Wie aus diesem kurzen historischen Abriß der Entwicklung des Privateigentums in Industrie und Landwirtschaft sichtbar wird, waren die Privateigentümer mittlerer Betriebe in der DDR von einschneidenden Veränderungen in der Unternehmensform betroffen. Nichtsdestoweniger hatten sie - im Unterschied zu den kleinen Handwerksbetrieben - aufgrund der Größe ihres Besitzes für die Zeit ihrer Existenz eine größere ökonomische und technokratische Verfügungsgewalt. In der Klassenlage der Betriebs- und Großgrundbesitzer sind daher folgende Personengruppen zu verorten: die Eigentümer von vorwiegend mittelständischen Industriebetrieben (von 1956 bis 1972 zunehmend Inhaber von Betrieben mit staatlicher Beteiligung) sowie die nicht oder nur partiell durch die Maßnahmen der Bodenreform betroffenen Großgrundbesitzer (bis zu ihrem Eintritt in eine LPG).

Die Überführung aller privaten bzw. halbstaatlichen Industriebetriebe in staatliches Eigentum (1972) und der Beitritt der nicht oder nur teilweise von der Bodenreform betroffenen Großgrundbesitzer in die LPG (von 1954 bis 1960) beendeten die Existenz dieser Klasse. Damit waren Industrie und Landwirtschaft nahezu vollständig entprivatisiert. Die bürgerliche Dienstklasse Die bürgerliche Dienstklasse der DDR-Gesellschaft setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: zum einen aus der „alten" bürgerlichen Dienstklasse, deren Existenz durch die Reste des Privateigentums begründet werden muß, welche demzufolge mit der Beseitigung dieser Eigentumsform endete, zum anderen aus einer „neuen" bürgerlichen Dienstklasse, deren Existenzgrundlagen sich - auch nach Beseitigung des privatkapitalistischen Eigentums - aus der Systemauseinandersetzung, durch das externe Vorhandensein des kapitalistischen Gesellschafts35 In keinem anderen sozialistischen Staat gab es diese Eigentumsform. 36 Außerdem wurden rund ein Drittel der PGH-Betriebe - bei Auszahlung der Genossenschaftsanteile - in volkseigene Betriebe umgewandelt, da ihre Produktion eindeutig industriellen Charakter angenommen hatte.

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systems definierten. Ein Indiz für diese strukturelle Beziehung kann unter anderem darin gesehen werden, daß Angehörige der „neuen" bürgerlichen Dienstklasse oder deren Basisorganisationen (wie die Kirchen) teilweise mit finanziellen Zuwendungen aus dem Ausland und insbesondere aus Westdeutschland rechnen konnten37. Wenn der „alten" bürgerlichen Dienstklasse, bestehend aus den langjährigen Beamten im gehobenen und höheren Dienst (vor 1945), den „bürgerlichen" Wissenschaftlern (die also bereits vor 1945 in exponierten Stellungen waren) sowie den Angestellten der oberen Leitungsebene der vorhandenen Privatbetriebe,

überhaupt ein Platz in der Klassenstruktur der SBZ bzw. DDR-Gesellschaft zugewiesen werden kann, dann ist dieser vor allem durch eine kurze zeitliche Existenz gekennzeichnet. Dies war in erster Linie das Resultat der politisch legitimierten Maßnahmen der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung". Von entscheidender Bedeutung hinsichtlich des „Überlebens" oder vielmehr der Beseitigung dieser Klassenlage waren vor allem die Abschaffung des Beamtentums als Bedienstete der zuvor herrschenden Klasse, die Entnazifizierung im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich sowie die Diskriminierung der bürgerlichen Kreise. Für einen beachtlichen Teil der früheren Lehrer, Juristen, Betriebsleiter und Staatsbeamten war diese Umwälzung mit einschneidenden sozialen Abstiegen verbunden. So mußten beispielsweise 72 Prozent der Lehrer an allgemeinbildenden Schulen und 90 Prozent der früheren Berufsschullehrer den Schuldienst quittieren (Gewände 1990, S. 15; Peper, 1967, S. 147). Ein bedeutender Teil dieser „alten" bürgerlichen Dienstklasse wählte wegen politischer Repressalien und/oder der Verschlechterung ihrer Karrierechancen und ihrer sozialen Stellung den Weg nach Westdeutschland. Andere vermochten es, durch ein parteiloyales bzw. zumindest nicht öffentlich systemkritisches Verhalten einen neuen (gleichwertigen) Platz in der Sozialstruktur zu finden. Unter ihnen waren zum Beispiel Hochschullehrer, leitende Ärzte sowie Betriebs- und Fachdirektoren der Privatbetriebe, auf deren Professionalität die Partei nicht verzichten konnte, und die über lukrative Einzelverträge zum Bleiben veranlaßt wurden. Diese sich in der DDR etablierenden Personen verblieben in oder übernahmen im Verlauf der Übergangsperiode der DDR zum „Sozialismus" mehrheitlich Positionen in der neuen operativen oder auch administrativen Dienstklasse des sozialistischen Planungssystems. In Abgrenzung zu dieser „alten" bürgerlichen Dienstklasse lassen sich auch „neue" - dem real-existierenden Sozialismus eigene - Elemente einer bürgerlichen Dienstklasse in der DDR-Gesellschaft finden. Dazu zählen: (1) die Würdenträger und Funktionäre der Kirchen, (2) die „oppositionellen" freischaffenden Künstler sowie (3) die freien akademischen Berufe. 37 Ein Beispiel dafür sind die von der UNESCO finanzierten Kirchenrestaurationen in der DDR oder die durch die westdeutschen Kirchen unterstützten ostdeutschen Kirchengemeinden.

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Im Verständnis der Parteielite der DDR waren diese drei Gruppen eher Bestandteil der Dienstklasse der kapitalistischen Welt und hier insbesondere der „Monopolbourgeoisie der BRD", als daß sie im Dienst der Herrschaftssicherung, geschweige in dem der Herrschaftslegitimation, des SED-Regimes standen. Trotz dieser konträren Position zur Parteielite gelang es ihnen aus unterschiedlichen Gründen, an der technokratischen Verfügungsgewalt teilzuhaben, ohne daß diese jedoch den Zugang zur politischen und ökonomischen Verfügungsgewalt eröffnete. Aufgrund der Trennung von Staat und Kirche im Sozialismus einerseits und der Billigung der Existenz der Kirche andererseits verfügten die Würdenträger und Funktionäre der katholischen und evangelischen Kirchen in der DDR über organisatorische Ressourcen, die es ihnen erlaubten, die „Geschäfte und Belange der Kirche" in gewissem Umfange relativ autonom zu gestalten und einen gewissen gesellschaftlichen Einfluß - vor allem in den 1980er Jahren - zu erreichen (Pollack, 1993). In bezug auf die „Kunst- und Kulturschaffenden der DDR" generell ist festzustellen, daß sie - aufgrund der Exklusivität ihrer Fähigkeiten, und damit ihrer Teilhabe an technokratischer Verfügungsgewalt - sich einen exponierten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum sichern konnten. Ob sie jedoch aufgrund dieser Partizipation an Verfügungsgewalt der operativen Dienstklasse der Parteielite oder der „neuen" bürgerlichen Dienstklasse zuzurechnen sind, unterliegt dem Kriterium der strukturellen Funktionalität für die Herrschaftssicherung der Parteielite. Während die an den staatlichen Theatern und Kultureinrichtungen oder beim Fernsehen und Rundfunk der DDR angestellten Künstler sowie die eindeutig ihre Leistungen in den Dienst der SED stellenden freien Künstler der operativen Dienstklasse angehörten, müssen die „oppositionellen" freien, und damit nicht durch ein direktes Beschäftigungsverhältnis oder offizielle Positionen, wie zum Beispiel im Schriftstellerverband, zur Loyalität zu bewegenden Künstler der „neuen" bürgerlichen Dienstklasse zugeordnet werden. Letztere, die die Verhältnisse in der DDR massiv kritisierten und damit die Herrschaft der SED zu schwächen versuchten, dienten in diesem Sinne nicht der Parteielite in der DDR. Die Inhaber von freien akademischen Berufen sind, sofem es sie überhaupt noch gab (fast nur Rechtsanwälte oder Journalisten, kaum Ärzte), ebenfalls in der „neuen" bürgerlichen Dienstklasse zu verorten. Diese, in westlichen Industriegesellschaften für eine freie Ausübung prädestinierten Berufe waren in der DDR in der Regel - wie alle anderen Berufsgruppen auch - durch staatliche Beschäftigungsverhältnisse geregelt. Bei Personen, die dennoch diese Berufe frei ausübten, müssen daher spezifische Interessen unterstellt werden, die gewiß nicht in der Herrschaftssicherung des SED-Regimes lagen. Damit können die freien akademischen Berufe, obwohl sie aufgrund von Expertenwissen Partizipationsmöglichkeiten an der technokratischen Verfügungsgewalt der Parteielite boten, nicht der operativen Dienstklasse des sozialistischen Planungssystems zugerechnet werden. Vielmehr schrieben sie mittels ihrer strukturellen und zwar „sozialismuskonträren" Einbindung in die Autoritätshierarchie Momente der „bürgerlichen" Gesellschaft fort. Insgesamt handelte es sich um einen äußerst kleinen Teil der Bevölkerung, der nur

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über recht bescheidene Einflußmöglichkeiten verfügte - deren Beschränkungen vielleicht größer waren, als dies aus der Deskription hervorgeht, bzw. deren gesellschaftliche Relevanz, vor allem in bezug auf den Einfluß der Kirchen in der DDR, im Laufe der Zeit variierte (Pollack, 1993; Meckel und Gutzeit, 1994). Generell ist diese widersprüchliche Klassenlage jedoch vor allem im Hinblick auf die Lebenschancen der Kinder aus dieser Dienstklasse, die in der SBZ bzw. in der DDR ihren beruflichen Werdegang vollzogen bzw. vollziehen mußten, von besonderer Bedeutung. Die soziale Herkunft wurde, aufgrund solcher Postulate wie „Macht in die Hände der Arbeiterklasse" oder „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs", in den ersten zwei Jahrzehnten zu einem der wichtigsten, das weitere Leben prägenden Faktoren. Die Betonung von Herkunft bewirkte gerade in den Anfangsjahren der DDR eine massive Bevorzugung von Arbeiterkindern in den Ausbildungs- und beruflichen Karrierechancen - bei gleichzeitiger Benachteiligung von Kindern mit bürgerlicher Herkunft. Wenn auch der bürgerlichen Dienstklasse, beginnend mit der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" und fortgeführt durch den „Übergang" der DDR zum Sozialismus (bis 1961), zunehmend ihre Existenzgrundlagen entzogen wurden, so spielte sie doch als Herkunftskriterium eine entscheidende Rolle für die Lebenschancen der nachfolgenden Generation. Abschließend ist anzumerken, auch wenn es hier nicht Gegenstand der Analyse ist, daß es einen strukturellen Zusammenhang zwischen Klassenlagen und sozialen Ungleichheitslagen bezüglich der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen in der DDR-Gesellschaft gab. Diesbezügliche Analysen auf Basis der Daten der Studie „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR" des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung38 belegen, daß die skizzierten reinen und widersprüchlichen Klassenlagen aufgrund ihres sozial strukturierten Zugangs zu Ressourcen bzw. Positionen spezifische Ungleichheitslagen in den konkreten Lebensbedingungen der Menschen implizierten (Diewald und Solga, in Druck). Nach Analyse der Einkommens- und Vermögensverhältnisse, der Wohnbedingungen, der Konsummöglichkeiten, der Netzwerkressourcen und kulturellen Distinktionspraktiken kommen Diewald und Solga (in Druck) zu der Schlußfolgerung: „Sowohl bezüglich der Bildungs- und Mobilitätschancen als auch bezüglich der materiellen Lebensbedingungen hat sich gezeigt, daß die Klassenzugehörigkeit einen bedeutenden Einfluß auf die Verteilung sozialer Ungleichheit in der DDR gehabt hat. Die klassenspezifischen Unterschiede in den kulturellen Praktiken legen zudem die Vermutung nahe, daß sich diese Ungleichheiten auch in entsprechenden Selbst- und Fremdwahrnehmungen niederschlugen (...) Für die Ungleichverteilung von Lebenschancen und Lebensbedingungen innerhalb der DDR waren zwar die Klassenlagen nicht allein relevant, aber sie definierten wohl eine der wichtigsten Differenziemngslinien innerhalb der Gesellschaft - wenn nicht sogar die wichtigste. Das stellt jedoch nicht in Abrede, daß sich in bezug auf die Lebenschancen und -bedingungen auch andere Kriterien als

38 Eine detaillierte Darstellung der Studie erfolgt in Abschnitt 4.3.

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bedeutsam erwiesen haben. So wäre es falsch, für die DDR von gleichen Lebenschancen für Männer und Frauen auszugehen, gleichfalls erwies sich die Differenzierung von Lebensformen in einigen Fällen als bedeutsam."

Neben den unterschiedlichen Einkommen der Klassenlagen hatten hierbei insbesondere die klassenspezifischen immateriellen Ressourcen eine differenzierende Wirkung (Diewald und Solga, in Druck). Das Ausmaß an sozialer Ungleichheit war im Vergleich zu den Verhältnissen der (alten) Bundesrepublik geringer. Dennoch widersprachen die Privilegien der Parteielite und ihrer Dienstklassen vor allem dem eigenen ideologischen Anspruch sozialistischer Gesellschaften nach einer leistungsgerechten Verteilung: „Was sie [die Bevölkerung] ärgerte war, daß diese Leute gegen ihre eigenen Moralgesetze verstoßen haben." (Maier, 1993, S. 87) In der theoretischen Diskussion sozialer Ungleichheit wird dieses Phänomen auch als das Tocqueville-Paradox bezeichnet (Tocqueville, 1962, S. 291 f.). Dieses reflektiert, daß gerade in Gesellschaften mit hoher Gleichheit auf noch existierende Ungleichheiten - wie gering sie auch sein mögen - besonders sensibel reagiert wird. Dieser Zusammenhang von Klassenzugehörigkeit und sozialer Ungleichheit, das heißt die Attraktivität bestimmter Klassenlagen, konnte damit auch in der DDR-Gesellschaft als ein Anreizsystem für soziale Mobilitätsprozesse fungieren, die Gegenstand der empirischen Analyse sind (siehe Kap. 4 und 5).

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Kapitel 3

Die Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft: Zufallsprodukt der Geschichte oder Ergebnis eines planmäßigen Prozesses?

Die Definition und Beschreibung der einzelnen Klassenlagen sowie widersprüchlichen Klassenpositionen vermittelte einen ersten Eindruck davon, daß es zahlreiche historische Veränderungen in der Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft gegeben hat. Diesem historischen Aspekt soll nun im folgenden Kapitel eine größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Veränderungen in der Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft wurden durch das Fortbestehen, die Transformation, das Entstehen oder die Auflösung von Klassenlagen verursacht. Grundlage dieser Prozesse waren vor allem politische und ökonomische Interventionen des Staates und damit der Partei. Dementsprechend zieht Glaeßner die Schlußfolgerung: „Die heutige Sozialstruktur [der 1980er Jahre] ist ganz wesentlich das Ergebnis eines immer erneut in Gang gesetzten, politisch determinierten Prozesses sozialer Umwälzungen." (1988, S. 6) Welche politischen und wirtschaftlichen Prozesse waren für die Konstituierung der DDR-Gesellschaft als „staatssozialistische Klassengesellschaft" verantwortlich? Gefragt wird, mit anderen Worten, durch welche Interventionen etablierten sich die neuen Dienstklassen des zentralisierten Planungssystems, wurden die Reste kapitalistischer Produktion beseitigt sowie kleines Privateigentum marginalisiert oder in genossenschaftliches Eigentum umgewandelt, und wie konnte nach der Etablierung der staatssozialistischen Klassenstruktur ihre Reproduktion gewährleistet werden? Die Darstellung dieser Prozesse und ihrer Interdependenzen in diesem Kapitel wird verdeutlichen, daß die Konstituierung der staatssozialistischen Klassenstruktur das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses war, dessen Verlauf durch eine Abnahme der anfänglich vielfältigen Mobilitätsoptionen infolge der Zunahme der Mechanismen zur Selbstreproduktion der Klassen gekennzeichnet war. Für die Analyse der historischen Entwicklung der Klassenstruktur und der damit verbundenen sozialen Mobilitätsprozesse in der DDR ist es sinnvoll, eine Periodisierung der sozialstrukturellen Entwicklung vorzunehmen. Das differenzierende Kriterium für die Definition der einzelnen Perioden ist die spezifische historische Konstellation der unterschiedlichen sozialstrukturell relevanten politischen und wirtschaftlichen Ereignisse und Prozesse sowie deren bildungspolitische Implikationen. Die Vorzüge einer solchen Vörgehensweise sind dabei in zweierlei

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Hinsicht zu sehen. Zum einen bietet eine derartige Periodisierung die Möglichkeit einer systematischen Darstellungsweise, zum anderen wird sie die Relevanz der These von Glaeßner belegen - und damit der These, die dem hier entwickelten Klassenschema für die DDR-Gesellschaft unterstellt wird. Zur Periodisierung der sozialstrukturellen Entwicklung wird das von Belwe entwickelte Schema (1989) verwendet, mit dem sie den sozialstrukturellen Wandel in der DDR-Gesellschaft in unmittelbare Beziehung zu den einschneidenden Veränderungen im politischen und/oder wirtschaftlichen Bereich setzt, wodurch sich drei Perioden abgrenzen lassen. Die erste Periode, von 1945 bis 1961, ist gekennzeichnet durch die Schaffung der fundamentalen Strukturen des sozialistischen Systems, das heißt durch die Schaffung des staatlichen Eigentums und die Etablierung einer zentralisierten Planwirtschaft, die mit dem „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" abgeschlossen wurde. Durch die - zeitlich vorausgehende - politische Etablierung des staatssozialistischen Systems in der SBZ, dessen wichtigstes Ereignis die Staatsgründung der DDR 1949 darstellte, lassen sich innerhalb dieser Periode zwei Zeitabschnitte unterscheiden: zum einen die Phase der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" von 1945 bis 1949 und zum anderen die Phase der Schaffung der „Grundlagen des Sozialismus" von Ende 1949 bis 1961. Von 1961 bis zum Ende der 1970er Jahre kann von einer zweiten Periode, der Stabilisierung des sozialistischen Systems in der DDR, gesprochen werden. Auf der Grundlage der „sozialistischen Produktionsverhältnisse" war das seitens der Partei offiziell erklärte Ziel dieser Periode die „schrittweise Überwindung der sozialen Ungleichheit zwischen den Menschen". Um diesem Ziel gerecht zu werden, war eine Erhöhung der wirtschaftlichen Effizienz notwendig, die man mit Hilfe von zwei unterschiedlichen Strategien zu erreichen versuchte. Während die Ulbricht-Regierung in dezentralisierenden Maßnahmen ein Mittel zur Ankurbelung der wirtschaftlichen Entwicklung sah, baute die Honecker-Regierung seit 1971 erneut auf eine stärkere Zentralisierung der Wirtschaft. Aufgrund dieser unterschiedlichen Akzentuierungen ist auch diese Periode in zwei Phasen zu unterteilen: erstens, die Phase der „Dezentralisierung der Wirtschaft" von 1961 bis 1971, beendet durch den Abbruch der wirtschaftlichen Reform versuche des, ,Neuen Ökonomischen Systems" (NÖS), zweitens, die Phase der „Rezentralisierung" von 1971 bis zum Ende der 1970er Jahre. In der dritten Periode der sozialstrukturellen Entwicklung der DDR-Gesellschaft, von Ende der 1970er Jahre bis zum Zusammenbruch der DDR 1989, wurde das in den 1960er und 1970er Jahren erklärte Ziel der „Homogenisierung der Gesellschaft" auf die kommunistische Gesellschaft „vertagt". Man wandte sich nun der „Triebkraftwirkung sozialer Unterschiede" zu. Das Mittel zur weiteren Stabilisierung und Entwicklung der DDR wurde nun nicht mehr in einer „Redifferenzierung (...) der parteistaatlichen Steuerungspalette [gesehen], sondern in einer Redifferenzierung der Sozialstruktur" (Meuschel, 1993, S. 12), um so wirtschaftlich notwendige Anreizstrukturen schaffen zu können. Diese Periode war durch 94

eine bewußte „Reformvermeidungspolitik" seitens der Partei gekennzeichnet (Meuschel, 1993, S. 12). Um ihre Legitimation nicht durch ein Außerkraftsetzen des Postulats der sozialen Gleichheit zu gefährden, wurde die angestrebte Förderung einer wissenschaftlichen Elite mit einer alle Bevölkerungsschichten umfassenden Sozialpolitik1 verbunden. Wie wir jedoch aus heutiger Sicht wissen, führte gerade das Ausbleiben einer leistungsorientierten - und in diesem Sinne sozial gerechten - Differenzierung innerhalb der Bevölkerung zum Legitimationsverlust des Regimes. Dazu trugen auch die zunehmende Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung im allgemeinen sowie die um sich greifende Reglementierung der Lebensgestaltung bzw. die immer stärker werdende Einschränkung der Handlungsoptionen der Menschen im besonderen bei.

3.1 Die Periode der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR (1945-1961) Die Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung (1945-1949) Die Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war durch einen fundamentalen Wandel in der Sozialstruktur gekennzeichnet, der primär durch eine politische Revolution in Gang gesetzt wurde. Diese beinhaltete die Abschaffung des Beamtentums, die Entnazifizierung und Enteignung2 sowie die Bodenreform3. In ihrem Ergebnis entstand ein „volkseigener" Sektor, der bereits 1948 zwei Drittel der industriellen Bruttoproduktion in den volkseigenen Betrieben (VEB) und etwa 10 Prozent der landwirtschaftlichen Bruttoproduktion in den volkseigenen Gütern (VEG) produzierte. Gekennzeichnet war dieser Sektor auch durch die Besonderheit, daß 1948 bereits 50 Prozent der

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In diesem Zusammenhang scheint mir auch die von Lepsius informell geäußerte These (Treffen der Arbeitsgruppe Theorie der KSPW in Halle im Mai 1993) interessant, daß die DDR der erste Staat sei, der an seiner „Wohlfahrtsstaatlichkeil" zugrunde gegangen ist. Die erste juristische Fixierung der neu entstehenden Eigentumsverhältnisse stellte die Enteignung aller in Sachsen zum Konzern des „Kriegsverbrechers" Flick gehörenden Betriebe und ihre Überführung in das Eigentum des Landes Sachsen dar - und zwar auf der Grundlage des Beschlusses des Präsidiums der Landesverwaltung Sachsen vom 29.10.1945. Mit dem Sequesterbefehl der SMAD vom 30.10.1945 wurde dann dem „Sozialisierungs"prozeß des industriellen Eigentums eine gesamtgesellschaftliche Basis gegeben, der zu einer Enteignung von 9.870 Betrieben führte. Der Großteil der enteigneten Maschinen und Gerätschaften ging in das Eigentum der wenig später gegründeten staatlichen Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS) über, aus denen später die Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) hervorgingen.

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Leitungspositionen in den VEB durch frühere Industrie- und Landarbeiter besetzt wurden (Belwe, 1989, S. 127). Auf der anderen Seite führte diese „Revolutionierung" der Eigentumsverhältnisse über den Entzug von Eigentumsrechten zur nahezu vollständigen Beseitigung der Kapitalistenklasse. Der noch vorhandene kapitalistische Sektor beschränkte sich nun auf eher mittelständische und kleinere Industriebetriebe. Dafür spricht auch, daß es auf Befehl der SM AD bereits Ende 1945 zur Schließung der kapitalistischen Banken kam, die durch landeseigene und kommunale Finanz- und Kreditinstitute ersetzt wurden. Diese gingen 1947/48 in staatliches Eigentum über. Außerdem existierte ein umfangreicher Sektor kleiner Warenproduzenten in Gestalt von - durch die Bodenreform entstandenen - einzelbäuerlichen Wirtschaften, Handwerks- und Gewerbebetrieben sowie privaten Einzelhändlern. Im Ergebnis der „demokratischen Bodenreform" verfügten die Kleinund Mittelbauern über etwa 60 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und waren so auf dem Lande zur vorherrschenden Klasse geworden. Bei den Dienstklassen kam es zu vielfältigen sozialen Auf- und Abstiegsbewegungen, die sich aufgrund der „Entnazifizierung" und Diskriminierungsprozesse im Verwaltungs-, Bildungs- und Wissenschaftsbereich ergaben. Das Berufsbeamtentum wurde abgeschafft. Richter und Lehrer wurden zum großen Teil durch „Volksrichter" und „Neulehrer" 4 ersetzt. Für diese, vorwiegend aus der Arbeiterklasse stammenden Personen, stellte dieser Einsatz den Beginn von beruflichen Karrieren dar, die unter anderen Bedingungen kaum vorstellbar gewesen wären. Trotz politischer Vorbehalte sah sich die Parteielite jedoch aufgrund des Mangels an hochqualifizierten Fachleuten gezwungen, über diverse Zugeständnisse politischer und wirtschaftlicher Art systemloyale Fachleute der „alten" bürgerlichen Dienstklasse, die nicht unter die Entnazifizierung fielen, im Lande zu halten. Ihnen wurden - wie bereits erwähnt und wie für die folgenden Perioden noch zu zeigen sein wird - neue Möglichkeiten für die Fortsetzung ihrer Berufskarrieren in den Dienstklassen des sozialistischen Planungssystems eröffnet. Ein beachtlicher Teil der „alten" bürgerlichen Dienstklasse zog es trotzdem vor, die Sowjetische Besatzungszone zu verlassen. Mit der Gründung der DDR wurden die bisher von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) ausgeübten Verwaltungs- und Gesetzesfunktionen am

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Hinsichtlich der „Neulehrer" ist eine Diskrepanz zwischen der Grund- und der Oberschule festzustellen. Während die Aussagen über die Dominanz der „Neulehrer" für die Grundschulen, mit einem Anteil von über 70 Prozent unter den hauptamtlichen Lehrkräften, durchaus ihre Richtigkeit haben, kann dies für die Oberschule nicht festgestellt werden. Hier waren 1948 vorwiegend „Altlehrer" (mit einer Schultätigkeit von mehr als fünf Jahren) beschäftigt, das heißt ihr Anteil lag bei über 65 Prozent (Stallmann, 1980, S. 135). Eine vollständige Ablösung der alten Studienräte durch Neulehrer wollte man in diesem Bereich nicht vornehmen. Ansonsten hätte man mit erheblichen Verzögerungen bei der Ausbildung der so dringend benötigten „neuen" Führungskräfte, hervorgerufen durch Niveauverluste sowie einen Mangel an entsprechenden Lehrkräften, rechnen müssen. Vielmehr richtete man hier das Augenmerk auf die „Umerziehung" dieser Lehrer.

10. Oktober 1949 vollständig an die staatlichen Organe der DDR übergeben. Unter Zustimmung der SM A D konnten bereits im Juli 1945 Länder- und Provinzialverwaltungen als höchste deutsche „ S t a a t s o r g a n e - jedoch nur aus Kommunisten, Sozialdemokraten und unbelasteten parteilosen Fachleuten - gebildet werden. Diese, wie auch die Zentralverwaltungen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche und die ab 1946 gewählten Länderparlamente und Volksvertretungen, hatten aber noch keinerlei direkte Gesetzesmacht. All dies zielte auf die Schaffung neuer „sozialistischer" Dienstklassen ab und führte über unterschiedliche Prozesse des sozialen Auf- oder Abstiegs zu einem Austausch der politischen und wirtschaftlichen Eliten. Dabei waren die neuen „Staatsdiener" (Staritz, 1985, S. 55), das heißt die Angehörigen der administrativen Dienstklasse, noch keinesfalls mit besonderen materiellen Privilegien ausgestattet. Diese konnten sie sich erst im Verlauf der Entwicklung der DDR und damit der Fe-

Abbildung 4: Modifiziertes Klassenschema der DDR-Gesellschaft für die Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung (1945-1949) Bereits dominante Produktionsweise

Untergeordnete Produktionsweisen

Im Aufbau befindliche sozialistische Warenproduktion

Einfache Warenproduktion

Kapitalistische Warenproduktion

Unter Aufsicht der Sowjetischen Besatzungsmacht stehendes staatliches Eigentum

Kleines Privateigentum

Kapitalistisches Privateigentum

Parteielite Administrative Dienstklasse in den ostdeutschen Staatsorganen und Wirtschaftsverwaltungen sowie in den enteigneten bzw. übernommenen Betrieben

Betriebseigentttmer und Großbauern

Operative Dienstklasse des sich im Aufbau befindlichen Planungssystems

Bürgerliche Dienstklasse Selbständige Selbständige Kleinbauern (vor allem Neubauern)

Das sich in der Transformation zur „sozialistischen Arbeiterklasse" befindende Proletariat Fett: reine Klassenlagen; kursiv: widersprüchliche Klassenlagen.

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stigung des Systems verschaffen. Im Gegenteil, anfangs waren ihre Positionen sogar eher durch Benachteiligungen in materieller Hinsicht gekennzeichnet. So lagen ihre Gehälter in der Regel unter denen in der Industrie. Der Zugang zu knappen Gütern über den schwarzen Markt blieb ihnen aufgrund der Bindung an eine strenge Parteidisziplin versperrt. Diese Nachteile wurden nicht etwa durch ein hohes Sozialprestige kompensiert. Im Gegenteil, die neuen Positionen waren nur in den seltensten Fällen mit einem nennenswerten Gewinn an Sozialprestige verbunden (Staritz, 1985, S. 55 f.). Wie sich im Verlauf der Entwicklung der DDR immer deutlicher zeigen sollte, wurden mit dem Austausch der Eliten die Schlüsselpositionen der Wirtschaft nicht in die „Hände des Volkes" gelegt, sondern vielmehr „alte Obrigkeiten durch neue ersetzt, wobei die SED-Führung und die Besatzungsmacht das Bild von Gesamtunternehmern für den enteigneten Sektor abgaben" (Hübner, 1993, S. 21). Insgesamt war diese Phase der sozialstrukturellen Entwicklung der DDR-Gesellschaft durch zahlreiche kollektive Mobilitätsprozesse geprägt: vom Landarbeiter bzw. landarmen Bauern zum selbständigen Bauern, vom Arbeiter zum Angehörigen der sich etablierenden „sozialistischen" Dienstklassen oder vom Privateigentümer zum Besitzlosen. Diese Mobilitätsprozesse führten damit zu einer Klassenstruktur, die bereits durch die Dominanz des staatlichen Eigentums und eine Unterordnung der privaten Eigentumsformen gekennzeichnet war (siehe Abb. 4).

Die Phase des „Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus" (1949-1961) Die wirtschaftliche Entwicklung der 1950er und 1960er Jahre war vor allem durch eine starke Betonung der extensiven Industrialisierung gekennzeichnet. Ziel war es, einerseits die durch die Teilung Deutschlands entstandenen Disproportionen zu beseitigen und andererseits eine von Westdeutschland unabhängige Wirtschaft aufzubauen. So beschloß der III. Parteitag der SED im Juli 1950 unter dem Motto „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus", in Form des ersten Fünfjahrplanes (1951-55), ein umfangreiches Reindustrialisierungsprogramm, das vor allem auf ein quantitatives Wachstum und Veränderungen in der Produktionsstruktur abzielte. Dementsprechend wurde der Entwicklung der Metallurgie, des Maschinenbaus, der Chemie, der Energiewirtschaft und anderer Zweige der Schwerindustrie der Vorrang gegeben. Mit der Entstehung neuer industrieller Zentren durch die Großbaustellen des ersten Fünfjahrplanes 5 sowie durch das 5

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Beispiele: Eisenhüttenkombinat Ost, Eisenwerke West bei Calbe, Erweiterung der Stahl- und Walzwerke Brandenburg, Gröditz, Hennigsdorf und Unterwellenborn, die Werften in Rostock, Stralsund und Wismar sowie die Rekonstruktion von 24 Betrieben des Schwermaschinenbaus.

Kohle- und Energieprogramm von 1957 und das Chemieprogramm von 1958 bis 1965 veränderte sich zugleich die Standortverteilung der Produktivkräfte. Dies führte zu Schwierigkeiten in der Arbeitskräfterekrutierung, denen durch gezielte Anreize, wie zum Beispiel die Bereitstellung von Wohnungen, die Zahlung überdurchschnittlicher Löhne und spezieller Zuschläge, die Aussicht auf besondere Maßnahmen (Sonderlehrgänge) zur Erlangung einer Facharbeiterqualifikation 6 , begegnet werden sollte. Seiner gesellschaftsstrukturierenden Wirkung nach ist dieser Fünfjahrplan vor allem als der Übergang zur langfristigen, zentralisierten Wirtschaftsplanung zu werten, wofür auch die Bildung der Staatlichen Plankommission (1950) spricht. Als eine gravierende Maßnahme für die weitere Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in der DDR ist auch der im Frühjahr 1951 erfolgte Übergang von Tarifverträgen zu „Betriebskollektivverträgen" zu werten. Dadurch wurden Tarifaushandlungsprozesse ausgeschlossen und damit demonstrativ eine Interessenübereinstimmung von Staatsmacht, Betriebsleitung und Werktätigen vorausgesetzt. Der zweite Fünfjahrplan von 1956 bis 1960 stand ebenfalls unter dem Motto der Beseitigung der entstandenen Disproportionen und orientierte gleichfalls auf den Ausbau der Investitionsgüterindustrie. Ferner wurde der Aufbau jener Industriezweige angestrebt, die für die künftige Entwicklung als bedeutsam angesehen wurden, wie zum Beispiel die Elektrotechnik, der wissenschaftliche Gerätebau und ausgewählte Zweige des Maschinenbaus. Beide Fünfjahrpläne vernachlässigten damit die Versorgung der Bevölkerung 7 , was - zusätzlich zu der durch solche Gründe wie Enteignung, Entnazifizierung und politische Reglementierung verursachten Flucht - zu einer ständigen Abwanderung von Arbeitskräften nach Westdeutschland führte 8 . Von 1950 bis 1960 verließen nahezu 2 Millionen Menschen die DDR (bei einer Gesamtbevölkerung von 17,2 Millionen). Unter ihnen waren vor allem junge und hochqualifizierte Menschen, bei denen das Alter und/oder die Qualifikation durchaus gute Ausgangsbedingungen für berufliche Aufstiegsprozesse versprachen. Dieses „Ausbluten" der DDR-Wirtschaft wurde am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer gestoppt. Der aus dieser Abwanderung resultierende Arbeitskräftemangel in allen Qualifikationsgruppen machte es notwendig, neue Ressourcen der Arbeitskräfterekrutierung zu mobilisieren. Frauen waren die einzig verfügbare Ressource. Infolgedessen galt es, über gezielte Maßnahmen - vorwiegend ökonomischer Art - die Frauenerwerbstätigkeit zu erhöhen. Neben darauf ausgerichteten Bestimmungen der Sozialversicherung, der Sozialfürsorge und der Familien6 7

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Daraus erklärt sich auch, warum in der Anfangsbelegschaft des Eisenhüttenkombinats Ost vielfach auch ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen anzutreffen waren. Diese Diskrepanz zwischen Akkumulation und Konsumtion und die sich daraus ergebene Verschlechterung der Versorgungslage der DDR-Bürger im Vergleich zur BRD war neben den politischen Problemen eine der Ursachen des 17. Juni 1953. Siehe dazu Abbildung 10 (Kap. 4).

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rechtsprechung 9 zog auch die Abschaffung der Lebensmittelkarten 1958 eine erhöhte Erwerbsbeteiligung von Frauen nach sich, da sich die Versorgungslage von Familien mit nur einem Einkommen wesentlich verschlechterte. Im Ergebnis dieser Politik stieg die Frauenerwerbsquote von etwa 44 Prozent 1950 auf 55,4 Prozent 1955 und auf über 60 Prozent 1960 (Trappe, 1994b, S. 42 f.), wobei die Qualifizierung dieser zumeist un- und angelernten Frauen größtenteils noch unbeachtet blieb 10 . Anzumerken ist hier jedoch auch, daß die Einbindung der Frauen in das Erwerbssystem der DDR nicht nur aufgrund von ökonomischen Notwendigkeiten erfolgte. Man sah darin auch eine notwendige Bedingung, um dem Gleichberechtigungsanspruch der Geschlechter gerecht zu werden". Der kapitalistische Sektor wurde mittels der Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik der SED in die „planmäßige" Entwicklung einbezogen und in seinem Wachstum begrenzt. Viele private Unternehmen sahen sich durch diese Maßnahmen zur Aufgabe ihrer „Selbständigkeit" gezwungen. 1955 wurden bereits etwa 85 Prozent der industriellen Produktion in den staatlichen Betrieben erzeugt. Mit Beginn des zweiten Fünfjahrplanes 1956 wurde nun auch „die verbliebene rechtliche Verfügung über privates Produktivkapital (die ökonomische Verfügung war bereits durch die zentralen Wirtschaftspläne erheblich eingeschränkt) durch die Beteiligung des Staates an privaten Unternehmen beschnitten" (Kruppa, 1976, S. 90). Es kam zur Gründung von „Betrieben mit staatlicher Beteiligung", unter anderem deshalb, weil im privaten Sektor immerhin noch mehr als ein Viertel aller Arbeiter und Angestellten beschäftigt war. Durch Vermögenseinlagen erwarb der „Staat" (über die Deutsche Investitionsbank oder über die Zwischenschaltung von staatlichen Betrieben) als Kommanditist Eigentumsanteile an privaten Betrieben, so daß er unmittelbaren Einfluß auf die Produktionslenkung ausüben konnte und am Gewinn beteiligt war. Die ehemaligen Unternehmer wurden Komplementäre und Geschäftsführer dieser Betriebe. Anreize für derartige Beteiligungen wurden durch gezielte Maßnahmen geschaffen, wie zum Beispiel Kapitalzuschuß, Bevorzugung bei der Zuteilung von Betriebsmitteln und Rohstoffen gegenüber den privaten Betrieben, Minderung der Haftung sowie Gewinnbeteiligung nach dem je-

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Beispiele für derartiger Bestimmungen sind: die Streichung von Witwenrenten, die Bindung des Renteneinkommens an geleistete Jahre der Erwerbsarbeit und die Einkommenshöhe sowie die Berechnung des Unterhalts für Kinder im Falle einer Scheidung auf der Basis der wirtschaftlichen Lage beider Elternteile, wobei die „Notwendigkeit" eines Hausfrauendaseins nicht akzeptiert wurde. 10 Eine detaillierte Darstellung der Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit und ihrer jeweiligen qualifikatorischen Untermauerung in der DDR findet man in der Dissertation von Trappe (1994b), insbesondere im Abschnitt 2.1 zur Periodisierung der Frauen- und Familienpolitik in der DDR. 11 Für eine detaillierte Analyse, in der die beiden Bedingungsfaktoren der hohen Erwerbsbeteiligung von Frauen in der DDR integriert wurden, siehe S0rensen und Trappe (in Druck) und Trappe (1994b).

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weiligen Kapitalanteil. 1961 gab es in der Industrie bereits rund 5.000 Betriebe mit staatlicher Beteiligung (Kruppa, 1976, S. 90). Die kleinen Warenproduzenten sollten vorwiegend über steuerliche, kredit- und preispolitische Maßnahmen an genossenschaftliche Formen der Arbeit - LPG und PGH - herangeführt werden. In der Landwirtschaft wurden genossenschaftliche Zusammenschlüsse seit 1952 unter anderem durch folgende Vergünstigungen unterstützt: durch den vorrangigen Einsatz der Technik der Maschinen-AusleihStationen (MAS/MTS), die kostenlose agronomische und zootechnische Betreuung, die vordringliche Versorgung mit Düngemitteln und Saatgut sowie die Vergabe von Krediten und Steuererleichterungen. Bei der damaligen Wirtschafts- und Ressourcenlage ist damit zugleich klar, wie unwahrscheinlich bzw. erschwert und eingeschränkt der Zugang zu diesen Produktionsfaktoren für nichtgenossenschaftlich

Abbildung 5: Modifiziertes Klassenschema der DDR-Gesellschaft für die „Übergangsperiode" zum Sozialismus (1949-1961) Dominante Produktionsweise Sozialistische Warenproduktion Staatliches Eigentum

Genossenschaftliches Eigentum (seit 1952)

Untergeordnete Produktionsweisen Einfache Warenproduktion

Kapitalistische Warenproduktion

Kleines Privateigentum

Kapitalistisches Privateigentum

Parteielite Betriebseigentümer (ab 1956 zunehmend von Betrieben mit staatlicher Beteiligung)

Administrative Dienstklasse

Operative Dienstklasse

Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums

Bürgerliche Dienstklasse Selbständige

PGH-Handwerksmeister

Selbständige Kleinbauern

Genossenschaftsbauern Sozialistische Arbeiterklasse Fett: reine Klassenlagen; kursiv: widersprüchliche Klassenlagen. 101

organisierte Bauern war, so daß diese „Unterstützung" auch in dieser Hinsicht eher auf Zwang als auf Freiwilligkeit hinauslief. Aufgrund dieser Zwangslage zogen es selbst die noch existierenden Großbauern vor, von der Möglichkeit des Eintritts in eine LPG (seit 1954) Gebrauch zu machen. Die auf dem V. Parteitag der SED 1958 beschlossene Vollkollektivierung der Landwirtschaft hatte dementsprechend einen überwiegend „unfreiwilligen" Eintritt der Bauern in die Produktionsgenossenschaft zur Folge. Dies führte dazu, daß Mitte 1960 nahezu alle Bauern in LPG organisiert waren. Damit fand der Prozeß der „sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft" im wesentlichen sein Ende. Anzumerken ist hier, daß in den fast ausschließlich erfolgten Gründungen von LPG des Typs I und II keine Fehlentwicklung gesehen wurde, sondern vielmehr ein geeigneter Ausgangspunkt für die Transformation in den - von der SED gewünschten - T y p III12. Ähnliche Prozesse spielten sich auch im Bereich des privaten Handwerks und Einzelhandels ab13. Damit ergab sich für den Zeitraum von der Staatsgründung der DDR bis zum „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" und dem Bau der Mauer im August 1961 eine Klassenstruktur, die bereits durch eine ausgebaute Dominanz des staatlichen Eigentums, unterstützt durch die Umwandlung von Privat- in genossenschaftliches Eigentum und eine weitere Marginalisierung des noch existierenden privaten Eigentums, gekennzeichnet war (siehe Abb. 5). Diese Periode war vor allem durch „kollektive Übergänge" von einer Klasse in eine andere geprägt: vom selbständigen Bauern zum Genossenschaftsbauern; vom selbständigen Handwerker zum PGH-Handwerksmeister sowie auch weiterhin vom Arbeiter zum Angehörigen der sich etablierenden sozialistischen Dienstklassen; vom Privateigentümer zum Besitzlosen oder durch Abstiege aus der alten bürgerlichen Dienstklasse - oftmals kompensiert durch das Verlassen der DDR und einen Neubeginn in Westdeutschland.

Von der antifaschistisch-demokratischen Schulreform zum sozialistischen Bildungssystem - Der Austausch der Eliten Die dargestellten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen wurden im Bildungsbereich durch vielfältige Prozesse flankiert und unterstützt. Zugleich waren die bildungspolitischen Maßnahmen dieser Periode von besonderer Bedeutung für die Etablierung der neuen Dienstklassen des SED-Regimes. Wie bereits erwähnt, herrschte infolge der starken Abwanderungsprozesse sowie des im ersten Fünfjahrplan begonnenen Industrialisierungsprogramms ein starker Arbeitskräftemangel, nicht nur quantitativ, sondern vor allem als Mangel an qualifizierten Fachkräften. Wenn überhaupt zusätzliche Arbeitskräfte mobilisiert werden konnten, dann waren es vorwiegend die wenig ausgebildeten Frauen und Landarbeiter, die 12 Für eine Beschreibung der einzelnen Typen siehe die Definition der Klassenlage der Genossenschaftsbauern in Abschnitt 2.3. 13 Siehe Definition der Klassenlage der PGH-Handwerksmeister in Abschnitt 2.3.

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zudem keine industrielle Arbeitserfahrung aufwiesen. Der Ersatz der abgewanderten hochqualifizierten Personen konnte daher anfangs fast nur durch möglichst schnell zu qualifizierende Facharbeiter realisiert werden. Neben dem politischen Anspruch der „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs" mußte die Bildungspolitik der SED vor allem auch diesem wirtschaftlichen Erfordernis genügen. Ziel der antifaschistisch-demokratischen Schulreform war es daher, ein Einheitsschulsystem zu etablieren, in dem alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und der wirtschaftlichen Lage der Eltern, die gleiche Bildung erhalten sollten. Infolgedessen wurden Privatschulen und Eignungstests verboten. Die Grundlage für eine derartige Neugestaltung des gesamten Schulsystems stellte das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" vom Frühjahr 1946 dar. Diesem Gesetz entsprechend war „der Begriff der .Einheitsschule' nicht als terminus technicus zu verstehen, sondern als schul- und bildungspolitisches, letztlich als gesamtpolitisches Programm" (Stallmann, 1980, S. 20). Von ihren formalen Regelungen aus betrachtet, bestanden die Anfänge dieser Bildungsreform vor allem in der Einführung der achtklassigen Schulpflicht sowie einer daran anschließenden Berufsschulpflicht von drei Jahren (wenn keine andere Schule mehr besucht wurde). Auf Beschluß des III. Parteitages der SED 1950 wurde dann verstärkt mit dem Aufbau von Zehnklassenschulen begonnen, die mit dem „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR" (1959) in Form der Polytechnischen Oberschulen (POS) zur Pflichtschule erklärt wurden. Die Berufsschulpflicht wurde auf zwei Jahre gesenkt. Gleichzeitig fand ein Abbau der einklassigen Landschulen statt14. Für den Bereich der höheren Bildung wurde auf der 1. Hochschulkonferenz (1946) gefordert, die Universitäten und Hochschulen für junge Facharbeiter, auch wenn sie kein Abitur besaßen, zu öffnen. Zuvor waren diese in den Institutionen der weiterführenden Bildung deutlich unterrepräsentiert. Der Grund dafür wurde vor allem in der sozial diskriminierenden Wirkung des bisherigen (dreigliedrigen) Schulsystems gesehen, das den Kindern aus unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen den Weg in höhere Bildungseinrichtungen versperrte. Dem wurde einerseits durch den Aufbau eines gestuften15 Einheitsschulsystems begegnet, andererseits

14 Die im Schuljahr 1945/46 noch existierende Zahl von 4.114 einklassigen Landschulen konnte 1947/48 bereits auf 1.874 gesenkt werden. Im Schuljahr 1959/60 gab es nur noch 2 derartige Schulen. 15 Die bislang getrennt existierenden Schultypen wurden in einem Schultyp integriert, in eine neue achtklassige „Grundschule" und eine sich daran anschließende „Oberschule", die zum Abitur führte. Daneben kam es auch zur Gründung von „Zwölfklassenschulen", die jedoch unter dem Druck der - vor allem politisch geführten - Diskussion bis 1949 wieder aufgelöst wurden. Das wichtigste Argument ihrer Befürworter stellte dabei die Möglichkeit dar, den Dualismus von Grund- und Oberschule zu überwinden. Ihre Kritiker führten sowohl wirtschaftliche als auch politische Argumente ins Feld. So wurden zum einen Separierungstendenzen befürchtet, zum anderen eine wirtschaftlich nicht zu vertretende Überqualifizierung der Arbeitskräfte, wenn jeder Schüler mit dem Abitur abschließen würde.

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wurden vielfältige Fördermaßnahmen 16 eingerichtet, die zu einer deutlichen Bevorzugung von Arbeiter- und Bauernkindern führten. Eine der bekanntesten und wohl auch wichtigsten Maßnahmen stellten die „Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten" (ABF) an den Universitäten und Hochschulen dar. Mit dem im Februar 1946 erlassenen Aufruf der Parteiverbände der KPD, SPD, CDU und LDP sowie des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) „Arbeiter an die Universitäten" wurden zwei Möglichkeiten des Hochschulzugangs für Arbeiter geschaffen: die „Begabtenprüfung" und die „Arbeiter-und-Bauern-Fakultät" (ABF) 17 . Arbeiter, die eine derartige Begabtenprüfung bestanden, konnten sofort - auch ohne Abitur - ein Hochschulstudium aufnehmen 18 . Andere sollten über einen (kurzen 19 ) Besuch einer ABF auf das Hochschulstudium vorbereitet werden. Klar ist, daß damit fachliche Ansprüche an diese Studenten zurückgestellt werden mußten. Zur Lösung dieses Problems wurden „Vorkurse" bzw. „Förderkurse" an den Volkshochschulen eingerichtet. Vielmehr bestand seitens der politischen Führung ein primäres Interesse daran, „so schnell wie möglich politisch zuverlässige Kräfte in die Hochschulen zu lancieren, um sie dort auf die Hochschulpolitik Einfluß nehmen zu lassen" (Stallmann, 1980, S. 88). „Die Umwandlung der Klassenstruktur hatte Priorität vor der Ausschöpfung des gesellschaftlichen Leistungspotentials." (Geißler, 1983, S. 764) Diese, auf die „werktätigen Schichten" ausgerichteten Einrichtungen zur „gezielten Gegenprivilegierung der bisher benachteiligten Schichten" (S. 760) führten jedoch nicht automatisch zu einer sozial homogenen, das heißt „Arbeiter"Hörerschaft 20 . Es bedurfte deshalb weiterführender Anstrengungen, wie intensiver Werbemaßnahmen, der Überwindung mentaler Vorbehalte sowie der finanziellen

16 Zu diesen gehörten solche Möglichkeiten, wie der Hochschulzugang über eine Fachschule oder der Erwerb einer Qualifikation für ein Hochschulstudium in der Erwachsenenbildung ohne eine Unterbrechung der Berufstätigkeit, zum Beispiel auf Abendschulen oder in Sonderkursen der Volkshochschulen. Außerdem gab es die Möglichkeit eines „Arbeiterstudiums", das heißt die Zulassung zum Studium ohne ein Reifezeugnis. Eine entscheidende Maßnahme in diesem Konzept der „Brechung des bürgerlichen Bildungsmonopols" stellte auch die Reglementierung und Überwachung der Studienzulassungen hinsichtlich der sozialen Herkunft dar. 17 Bis 1949 wurden diese als „Vorstudienanstalt" bezeichnet. 1949 wurde dann die Bezeichnung „Arbeiter- und Bauem-Fakultäten" eingeführt, um auch begrifflich die Bevorzugung auf Landarbeiter auszuweiten. 1962 wurden sie aufgelöst. 18 In Leipzig konnten von etwa 500 Bewerbern 55 eine derartige Begabtenprüfung bestehen und nahmen im März 1946 ihr Studium auf (Stallmann, 1980, S. 85). Daran wird deutlich, daß dies eher Einzelfälle darstellten, mit denen der politische Anspruch der „Brechung des bürgerlichen Bildungsmonopols" nicht gewährleistet werden konnte. Sie waren daher nur eine kurzzeitige Erscheinung. 19 Der am 1. März 1946 beginnende erste Lehrgang dauerte sieben Monate. Später wurde er auf ein bis zwei Jahre ausgedehnt. 20 Unter den ersten Kursteilnehmern 1946 in Halle waren nur 65 Prozent und in Leipzig sogar nur 36 Prozent Arbeiter und Bauern (Stallmann, 1980, S. 90).

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Absicherung 21 (Geißler, 1983, S. 760). Im Ergebnis derartiger Maßnahmen konnte der Anteil der Arbeiter und Bauern unter den Kursteilnehmern an der Vorstudienanstalt Leipzig von 36 Prozent (1946) auf 93 Prozent (1948) erhöht werden (Stallmann, 1980, S. 92). Der (zahlenmäßige) Höhepunkt der ABF lag in den Jahren des ersten Fünfjahrplans (1951-55) 22 . Hier wurden Hörerzahlen von 9.000 bis 12.000 Studenten erreicht, von denen mehr als 80 Prozent aus Arbeiter- und Bauernkreisen stammten Statistisches Jahrbuch der DDR, 1955, 1956). Dies leistete gewiß einen Beitrag dazu, daß sich der Anteil der Arbeiter und Bauern unter den Direktstudenten von etwa 39 Prozent 1950 auf nahezu 55 Prozent 1955 erhöhen konnte (Stallmann, 1980, S. 307). Mit diesem Weg des Zugangs für Arbeiter und Bauern zum Hochschulstudium sowie mit der Einführung eines Hochschulfernstudiums für Werktätige (1950) 23 und ähnlichen Maßnahmen wurde erreicht, daß sich die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft in die beabsichtigte Richtung veränderte. Die Bevorzugung ging mit einer gravierenden Benachteiligung der Kinder aus bürgerlichen Familien einher, womit das bürgerliche Bildungsprivileg durch ein neues ersetzt wurde. Was sich änderte, waren nur die jeweils begünstigten Klassenlagen. Die bisher privilegierten bürgerlichen Kreise waren damit auch im Bildungsbereich erheblichen Restriktionen ausgesetzt, deren Wirkungen sie nur durch politische Loyalität begrenzen konnten. Da das Angebot an freien Plätzen auf den ABF insgesamt größer war als die Nachfrage geeigneter Arbeiter und Bauern, wurden auch Bewerber aus anderen Bevölkerungsgruppen zugelassen. Dabei dürfte es sich um Personen gehandelt haben, die den „Arbeiterstatus" über eine mehljährige Tätigkeit in der Produktion erworben haben (Cloer, 1993, S. 183) oder ein loyales Verhalten gegenüber dem neuen Staat zeigten. Die Bevorzugung der ehemals unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen führte, neben der Ausbildung der so dringend benötigten qualifizierten Arbeitskräfte, zu einem weiteren, vor allem für die politische Legitimation des Systems wichtigen Ergebnis. „Indem man diesen jungen Menschen alle erdenklichen Vorteile angedeihen ließ, legte man den Grund für ihre dankbare Verbundenheit mit dem neuen gesellschaftlichen System" und damit den Grundstein für eine der Partei „ergebene Intelligenz" (Stallmann, 1980, S. 21 und 88) - die dann auch in Abgrenzung zur „bürgerlichen" als „sozialistische" Intelligenz bezeichnet wurde.

21 Die Zahl der Stipendien, die der Höhe des durch die Unterbrechung bedingten Verdienstausfalls entsprachen, wurden erhöht. 22 Nach 1955 sank die Zahl der ABF-Hörer, so daß 1956 bereits weniger als 9.000 und 1963 sogar weniger als 1.500 zu verzeichnen waren. 23 Während 1950 zunächst drei Hochschulen das Fernstudium einführten, waren es 1954 bereits zwölf und 1958 siebzehn. Unter diesen Studiengängen war vor allem die Lehrerausbildung zahlenmäßig stark vertreten. Die zunehmende Bedeutung dieser Studienform bei der Ausbildung hochqualifizierter Arbeitskräfte wird im Anstieg der Zahl der Femstudenten sichtbar. Sie stieg von 3.690 (1951) auf 24.373 (1960) und auf 36.276 (1970). Danach ist ein ständiger Rückgang der Studentenzahlen zu verzeichnen - auf nur noch 14.774 (1988) (Statistisches Jahrbuch der DDR, 1989, S. 3 1 3 ) .

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Für die zukünftige Entwicklung galt es dann jedoch, den Schwerpunkt der Nachwuchsgewinnung vom außerschulischen auf den schulischen Hochschulzugang zu verlagern. Dementsprechend sollte „(die soziale Zusammensetzung der nachfolgenden Akademikergeneration) durch Eliminierung der Schüler aus bürgerlichen Familien und entsprechende Favorisierung von Arbeiter- und Bauernkindern in der Oberschule zu einem erheblichen Teil im voraus festgelegt werden" (Stallmann, 1980, S. 47). Wie die Zahlen belegen, waren diese Erwartungen, trotz des stetigen Anwachsens der Arbeiter- und Bauernkinder unter den Oberschülern, zu hoch geschraubt. Im Schuljahr 1948/49 betrug ihr Anteil etwa 33 Prozent. Erst 1954/55 konnte er auf nahezu 50 Prozent erhöht werden (S. 150). Schon aus diesem Grunde galt es auch weiterhin, besonderen Nachdruck zunächst auf den außerschulischen Bereich für die Herausbildung der „sozialistischen" Intelligenz zu legen. Gleichzeitig kam es zu einer Lockerung der - ohnehin nicht umfassend erfüllbaren Bevorzugung von Arbeiter- und Bauernkindern. So wurde in den „Schulpolitischen Richtlinien" des IV. Pädagogischen Kongresses 1949 nun ein Proporzmodell favorisiert, in dem die Kinder der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung Zugang zu den Oberschulen finden sollten. Ein Grund dafür ist sicherlich auch „in dem Bemühen zu sehen, diejenigen bürgerlichen Fachkräfte, wie Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler, deren Leistungen so dringend gebraucht wurden und die vorerst nicht ersetzbar waren, für das bestehende System zu gewinnen und sie nicht durch die sonst übliche Benachteiligung von Kindern aus bürgerlichen Kreisen vor den Kopf zu stoßen" (S. 155). Trotz dieser Öffnung war die weiterführende Bildung - sowohl hinsichtlich der Zulassungsstrategien als auch mit Blick auf die materiellen Unterstützungsleistungen - durch eine soziale Selektivität zugunsten der Arbeiter- und Bauernkinder gekennzeichnet. Seinen Abschluß fand das bereits mit dem Schulgesetz von 1946 anvisierte Konzept der Einheitsschule in dem „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" von 1965. Es legte den einheitlichen Bildungs- und Erziehungsprozeß von den Vorschuleinrichtungen bis hin zur Aus- und Weiterbildung der bereits Erwerbstätigen fest. Im Ergebnis der Gesetzesvorschriften kam es - entgegen der propagierten Absicht - jedoch zu einem immer stärkeren Auseinanderklaffen von sozial gleichen Bildungschancen und sozial präformierten Bildungsresultaten. Die Gründe dafür waren vielfältig. Zum einen wurde das Prinzip der Einheitsschule durch die von der 9. bis zur 12. Klasse dauernden Erweiterten Oberschule (EOS) durchbrochen. Es entstanden neue soziale Differenzierungslinien innerhalb des Schulsystems24. Zum anderen entstand, wie noch zu zeigen sein wird, eine - wenn

24 Diesem Problem sollte teilweise mit der 1960 eingeführten dreijährigen „Berufsausbildung mit Abitur", die an die 10. Klasse der POS anschloß, begegnet werden. Sie barg jedoch gerade in den späteren Jahren der DDR die Gefahr in sich, daß viele ihrer Abgänger es aus materiellen und/oder politischen Gründen vorzogen, im erlernten Facharbeiterberuf zu arbeiten, und von der Aufnahme eines Studiums Abstand nahmen.

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auch verdeckte - Privilegierung der Kinder aus Familien der sozialistischen Dienstklassen. Hinsichtlich der politischen Führungskräfte wurden all diese Fördermaßnahmen für Arbeiter und Bauern zusätzlich durch parteiinterne Maßnahmen flankiert. Beispielhaft seien hier nur einige genannt: - die Gründung der Deutschen Verwaltungsakademie zur Ausbildung von leitenden Kadern für den Staatsapparat (1948), - die Gründung des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED zur Ausbildung von Kadern für die politisch-ideologische Arbeit an Partei-, Hoch- und Fachschulen sowie zur parteinahen Forschung (1951), - die Gründung der Zentralschule des ZK der SED zur Ausbildung von Kadern für die „sozialistische Landwirtschaft" in Schwerin sowie des Instituts für die Ausbildung der politischen Leiter in den MTS in Liebenwalde (1953), - die Gründung des Zentralinstituts für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED zur Qualifizierung von Mitarbeitern der Partei- und Staatsorgane (in Form von Dissertationen, Habilitationen) sowie - spezielle Förderungsmaßnahmen für Partei-, Gewerkschafts- und Staatsfunktionäre, Direktoren volkseigener Betriebe und Güter sowie Vorsitzende der LPG - die häufig nur eine Volksschulbildung besaßen - bei der Qualifizierung im Fern- und Direktstudium. Dadurch entstanden zusätzliche Disproportionen sowohl hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten zu akademischen Graden als auch in bezug auf ihr jeweiliges Niveau.

3.2 Die Stabilisierungsphase (1961 bis Ende der 1970er Jahre) Nach dem „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" galt es nun, dem politischen Anspruch der schrittweisen Überwindung der sozialen Ungleichheit gerecht zu werden. In wirtschaftspolitischer Hinsicht existierten jedoch zwei unterschiedliche Wege, wie man dies erreichen wollte: Ulbrichts Dezentralisierung der Wirtschaft versus Honeckers Zentralisierung.

Die Phase der „Dezentralisierung" (1961-1971) Die politische Ausgangssituation dieser Phase „war vom Standpunkt der Parteispitze aus gesehen günstig: Die Partei war homogenisiert, weil ihrer revisionistischen Opposition entledigt, die [bürgerliche] Intelligenz war eingeschüchtert, die Kollektivierung der Landwirtschaft abgeschlossen. Die DDR näherte sich dem parteistaatlichen Idealzustand einer Gesellschaft von Staatsangestellten und potentiellen Parteiexeku107

toren an. Der Mauerbau hatte die Fluchtbewegung gestoppt und den Gesellschaftsmitgliedern nunmehr [nur noch] die Möglichkeit gelassen", sich innerhalb des DDRSystems zu arrangieren (Meuschel, 1993, S. 11). Damit kam es zu einem endgültigen Verschwinden der „alten" bürgerlichen Dienstklasse, da diese entweder das Land verlassen hatte, den Zugang zu einer der „sozialistischen" Dienstklassen - der administrativen oder der operativen - gefunden hatte oder zum sozialen Abstieg in die Arbeiterklasse gezwungen wurde. Zu Beginn der 1960er Jahre fühlte sich die SED in ihrer Herrschaft genügend konsolidiert, um für die wirtschaftliche Entwicklung nach neuen Wegen zu suchen. Diese Notwendigkeit ergab sich zum einen aus der Erkenntnis, daß mit den rigiden Planungsmethoden der 1950er Jahre die Disproportionen zwischen den Wirtschaftsbereichen nicht zu beseitigen waren. So führte die Planung nach Mengen - auch bekannt als „Tonnenideologie" - zu Fehlinvestitionen, aufgrund von Verzerrungen der Preisstruktur zu Rohstoffverschwendung und zur Verzögerung des technischen Fortschritts sowie durch die Überzentralisierung zur Hemmung von Initiativen in den Betrieben (Kruppa, 1976, S. 58). Auf der anderen Seite sah man sich nach dem Mauerbau gezwungen, vor allem die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung insgesamt zu verbessern, baute doch die politische Legitimation des neuen Systems gerade auf eine „Identifikation mit dem Projekt der egalitären Vergesellschaftung" (Niethammer, 1993, S. 148). Infolgedessen machte es sich der VI. Parteitag zur Aufgabe, den Unterschied zwischen den niedrigen und den höheren Einkommen allmählich zu verringern. Um den Wohlstand mehren und langfristig eine wirtschaftliche Entwicklung garantieren zu können, mußte man Veränderungen in der Wirtschafts- und Planungsstruktur vornehmen, wie zum Beispiel die Anpassung der Angebots- und Nachfragestrukturen, die Förderung von Forschung und Entwicklung, den Übergang vom Mengendenken zum Kosten-Nutzen-Denken und damit von direkten zu indirekten Planungsmethoden. Verwirklicht werden sollten diese Veränderungen mit dem „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung" (NÖSPL, später NÖS), das auf dem VI. Parteitag der SED 1963 beschlossen wurde. Die zentralen Kategorien waren: „wissenschaftlich-technische Revolution, Produktivkraft Wissenschaft, materielle Hebel und Produktionsanreize, Koinzidenz des gesellschaftlichen Nutzens mit den betrieblichen und individuellen Interessen" (Meuschel, 1993, S. 11). Als ökonomisches Programm der SED sollte es vor allem „den Kriterien der rationalen Wirtschaftsführung relativ selbständiger Betriebe folgen" (S. 11), indem den Betrieben Möglichkeiten einer beschränkten Gewinnbeteiligung und eigenverantwortlichen Gewinnverwendung zugestanden wurden. Das Augenmerk wurde eher auf monetäre und damit indirekte Lenkungsmethoden, auf ein „System materieller Hebel"25,

25 Dazu gehörten folgende Maßnahmen: das Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel (mit seinen Kennziffern: staatliche Produktionsfondsabgabe, Nettogewinn als zentrale Leistungskennziffer sowie Prämien-, Amortisations-, Umlaufmittel- und Investitionsfonds auf Betriebsebene), ein kostengerechteres Industriepreissystem, das Prinzip der wirtschaftlichen

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gerichtet. So wurden Marktmechanismen stimuliert, ohne die zentrale staatliche Planung aufzugeben bzw. sie auf eine Regulierung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu reduzieren. Letzteres hätte jedoch, um aus dem Teufelskreis der zentralen Bilanzierung von Produktionsfaktoren und Produktionseigebnissen herauszukommen und dieses System effizient gestalten zu können, geschehen müssen. So verzichtete man keinesfalls auf die zentrale Festlegung der „strukturbestimmenden Aufgaben" und den Ausschluß dieser Bereiche 26 von den Reformmaßnahmen, was weniger zur Beseitigung als vielmehr zur Schaffung neuer Disproportionen führte. Diese wurden aber nicht auf das bestehende Spannungsverhältnis von relativer Selbständigkeit der Betriebe und operativen Eingriffen durch die übergeordneten Organe zurückgeführt, sondern in erster Linie auf die „fehlende" zentrale Leitungstätigkeit, womit dann die 1971 einsetzende Rezentralisierung legitimiert wurde. Die wirtschaftlichen Reformversuche wurden im wesentlichen durch eine „Verfachlichung der politischen Funktionäre im Parteiapparat" 27 gestützt, die in einer Zunahme technischer und verwaltender Berufe innerhalb der administrativen Dienstklasse ihren Ausdruck fand (Ludz, 1970, S. 183). Von 1958 bis 1963 gelang es jungen (zwischen 1923 und 1935 Geborenen), fachlich gut ausgebildeten Kadern, in den Parteiapparat aufzusteigen - vor allem über den Ministerrat und die Staatliche Plankommission 28 . Richert (1975, S. 42 f.) sieht in diesem Prozeß eine „weitgehend einmalige Angelegenheit", bei der eine „vorwiegend aus der Arbeiterschaft hervorgegangene, (...) teils zunächst als .Aktivisten der ersten Stunde', bewährte, teils durch Vorstudieneinrichtungen, ABF u.a. gegangene elitäre Schicht" die „Chancen der Auffüllung des Führungsvakuums" nutzte. Die dadurch verursachte „Verfachlichung" 29 begrenzte sich jedoch weitgehend auf die im Parteiapparat vertretenen Spitzenfunktionäre des Staatsapparats und ließ das Politbüro des ZK der SED - die „restierenden altkommunistischen Veteranen in Spitzenfunktionen" (S. 42) als Machtzentrale der Partei - unberührt 30 . Während in

Rechnungsführung, ein mit Sanktionsmöglichkeiten versehenes Vertragssystem, die Umgestaltung der Banken von finanziell unselbständigen Vollzugsorganen des Staates zu finanziell selbständigen Kreditinstituten (Kruppa, 1976, S. 70 f.). 26 Dazu gehörten neben der Schwer- und Rohstoffindustrie vor allem die Bereiche Elektrotechnik/Elektronik, wissenschaftlicher Gerätebau und Maschinenbau. 27 Dies war der Prozeß, in dem Konrad und Szeleny i (1979) irrtümlicherweise die „Machtübernahme durch die Intelligenz" sahen. 28 So traten 1963 58 Personen der Geburtsjahrgänge von 1920 bis 1939 neu in das ZK der SED ein, unter ihnen Günter Mittag, Erich Apel und Werner Jarowinsky. Ludz bezeichnete dies auch als die „planmäßig vorgenommene Generationsablösung" der Partei, da es sich immerhin um 71 Prozent der 82 Mitglieder/Kandidaten handelte (1970, S. 163). 29 Bei Rexin findet man dafür auch die Bezeichnung „Verakademisierung" der leitenden Funktionäre (1964, S. 79). 30 Die 14 Mitglieder des Politbüros von 1963 waren allesamt langgediente Funktionäre der KPD oder SPD. Keiner von ihnen war nach 1920 geboren. Alle gehörten der „alten Garde" an.

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dieser Zeit gerade in den oberen Gremien des Staats- und Wirtschaftsapparats, das heißt in der administrativen Dienstklasse, starke Wandlungstendenzen durch zahlreiche Auf-, aber auch Abstiege zu verzeichnen waren31, zeigten sich in der Parteielite - nach den Säuberungsaktionen der 1950er Jahre - eher Beharrungstendenzen, so daß sie sich bis zum Zusammenbruch der DDR vor allem aus den Angehörigen der „alten Garde" zusammensetzte32. Der private Wirtschaftsbereich wurde in diesem Zeitraum weiter marginalisiert. So erbrachten die halbstaatlichen Betriebe nur noch ein Zehntel, die Privatbetriebe sogar nur noch 2 Prozent der Industrieproduktion in der DDR, und dies mit 16 Prozent der in der Industrie Beschäftigten (Mitzscherling u.a., 1971, S. 103). Im Vergleich dazu war die Zahl ihrer Eigentümer beachtlich. Aufgrund ihrer relativ kleinen Betriebsgrößen repräsentierten die halbstaatlichen und privaten Betriebe 1970 zusammen immerhin rund 70 Prozent der Industriebetriebe (S. 103). Die Orientierung auf Wissenschaft und Technik sowie die Etablierung der administrativen und operativen Dienstklasse übten auch Einfluß auf den Bildungsbereich aus. Es erfolgte eine „Umorientierung von einer proportionalen zu einer leistungsorientierten Chancengleichheit", die die „faktisch seit Beginn der 60er Jahre sich abzeichnende Überlagerung der gesellschaftlichen durch die wissenschaftlich-technische Revolution (widerspiegelte)" (Cloer, 1993, S. 188). Dies führte zu einer neuen Rangfolge der Auslesekriterien. Die Dominanz des Herkunftsprinzips, wonach Arbeiter- und Bauernkinder bevorzugt wurden, wurde abgebaut. Dem Leistungsprinzip in Verbindung mit dem Prinzip der gesellschaftlichen Engagiertheit wurde eine vorrangige Bedeutung zugewiesen. Zudem wurden nun auch Kinder von Vätern, die der administrativen Dienstklasse angehörten - als „Bedienstete des Arbeiter- und Bauernstaates" offiziell als Arbeiterkinder33 betrachtet. Im Ergebnis sank die Zahl der Arbeiter- und Bauernkinder unter den Studenten auf rund 38 Prozent (1967),

31 Beispiele für derartige Aufstiege sind: (1) Wolfgang Junker (geb. 1929) Minister für Bauwesen, erlernter Beruf: Maurer/Bauingenieur, (2) Wolfgang Rauchfuß (geb. 1931) Stellvertretender des Vorsitzenden des Ministerrats, erlernter Beruf: Mechaniker/Dipl.-Wirtschaftler, (3) Klaus Siebold (geb. 1930) Minister für Grundstoffindustrie, erlernter Beruf: Bergmann/ Bauingenieur (ABF Freiberg). Als sozialer Abstieg muß wohl die Degradierung von Karl Mevis zum Botschafter der DDR in Polen gewertet werden, nachdem er im Januar 1963 seine Ämter als Minister und als erster Vorsitzender der Staatlichen Plankommission verloren hatte. 32 Betrachtet man die Geburtsjahrgänge der Parteielite, dann wird neben der politischen Herkunft („Altkommunisten") die Bezeichnung „alte Garde" auch in dieser Hinsicht deutlich. Das durchschnittliche Geburtsjahr bewegte sich von 1950 bis 1989 zwischen folgenden Polen: Mitglieder des Politbüros 1908-1922, Mitglieder des ZK 1914-1926, zentrale und regionale SED-Spitzenfunktionäre 1912-1925. Für die Parteielite insgesamt variierte damit das durchschnittliche Geburtsjahr in der Zeit von 1950 bis 1989 zwischen 1916 und 1925 (Schneider, 1994, S. 158-162). 33 Hinsichtlich der Kategorie „Arbeiterkind" kam es aufgrund der inflationären Verwendung zu einer Spaltung in Unterkategorien: (1) die Arbeiterkinder im eigentlichen Sinne, das heißt die Kinder von Produktionsarbeitern, (2) die Arbeiterkinder im weiteren Sinne, das heißt die

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während der Anteil der Kinder, deren Vater oder Mutter einer der sozialistischen Dienstklassen angehörten, auf über 2 0 Prozent anstieg ( B e l w e , 1989, S. 130) 3 4 . Auf der Grundlage des „Gesetzes über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" von 1965 sah man die Prinzipien „Einheitlichkeit" und „Planmäßigkeit" soweit verwirklicht, daß sich die Parteielite nun in der Lage wähnte, d e m staatlich geplanten „Numerus clausus", der die Zahl der Studienplätze für alle Fachrichtungen festlegte, eine „wissenschaftliche Basis" zu geben. Seit Mitte der 1960er Jahre bemühte man sich, mit Hilfe einer „Bildungsplanung" Mißverhältnisse zwischen Angebots- und volkswirtschaftlichen Bedarfsstrukturen zu vermeiden. Daran wird außerdem deutlich, daß „Bildung" in der D D R weniger als individuelles Humankapital, sondern vielmehr als Voraussetzung für die spätere Berufstätigkeit betrachtet wurde 3 5 . Im Gegensatz z u m Sozialen-Nachfrage-Ansatz (social demand approach), der sich am individuellen Bildungsbedarf orientiert und die Nachfrage seitens des Beschäftigungssystems vernachlässigt, herrschte in der D D R in den Prognosen, Planungen und Entscheidungen der Bedarfsansatz (manpower requirement approach) vor. Dieser legte ausgehend von den am Bedarf der Wirtschaft ermittelten Hochschulabsolventenzahlen zugleich die Zahl der Zulassungen z u m Abitur fest 3 6 .

Kinder von sonstigen Arbeitern und einfachen Angestellten, und letztlich (3) die nur als „Arbeiterkinder" betitelten, das heißt die Kinder von leitenden und/oder hochqualifizierten Angestellten im Staatsapparat oder im Bereich von Militär, Polizei und Staatssicherheit. Diese Zusammenfassung der unterschiedlichen „Arbeiterkinder" unter eine Kategorie diente zum einen der Schönfärberei von offiziellen Statistiken, in denen eine solche Aufspaltung nicht zu finden war. Zum anderen diente sie der Legitimation der Zulassung von Kindern aus der Intelligenz, in der nun auch das Herkunftsargument verwendet werden konnte. 34 Geißler erwähnt in dieser Hinsicht andere Zahlen, die diese Tendenz eher noch verstärken würden. In seiner Analyse sank der Anteil der Arbeiterkinder unter den Studenten zwischen i960 und 1967 von 39 auf 30 Prozent, während der Anteil der Intelligenz-Kinder von 19 auf 30 Prozent anstieg (1990, S. 92). Für unseren Zusammenhang spielt jedoch die genaue Quantifizierung der Zu- bzw. Abnahme weniger eine Rolle. Von entscheidender Bedeutung scheint hier vielmehr zu sein, daß die Bevorzugung der Arbeiterkinder zurückging und sich Tendenzen einer Selbstreproduktion der privilegierten Gruppen von neuem zu etablieren begannen. 35 Vgl. dazu die Ausführungen von Lötsch (1984). 36 Für eine gezielte Steuerung dieser Prozesse waren mehrere Schleusen für die Zulassung zum Studium in das Bildungssystem der DDR eingebaut. Die erste bestand in der begrenzten Zulassung zu den Vorbereitungs- (Klasse 9 und 10) sowie zu den Abiturklassen (Klasse 11 und 12) der Erweiterten Oberschulen (EOS). Für die, die die 10. Klasse auf einer Polytechnischen Oberschule (POS) absolviert hatten, erfolgte diese Steuerung durch den begrenzten Zugang zu den Abiturklassen mit Berufsausbildung. Nach dem Erwerb des Abiturs erfolgte eine nochmalige Steuerung in der Zulassung zum Studium hinsichtlich des Zugangs zu den einzelnen Studienfächern. Bei zu hoher Bewerberzahl in bestimmten Studienrichtungen erfolgte eine „Umlenkung" auf andere - individuell nicht gewünschte - Studienrichtungen. In allen Stufen dieses Steuerungsprozesses spielten die bereits erwähnten Zulassungskriterien (schulische Leistung, Herkunft, gesellschaftliches Engagement) als Selektionskriterien eine bedeutende Rolle, da in vielen Fachrichtungen ein Überhang an Bewerbern im Vergleich zur Zahl der vorhandenen (geplanten) Studienplätze zu verzeichnen war.

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Diese Art der Bildungsplanung stellte damit den ersten Versuch in der DDR dar, die Struktur der Qualifikationsabschlüsse der Berufsstruktur, so wie sie von der Volkswirtschaft gefordert wurde, im voraus anzupassen. Aufgrund ihrer Komplexität infolge der Berücksichtigung von politischen Prioritäten, wirtschaftlichen Strukturentwicklungen und demographischen Prozessen mußte die Bildungsplanung damit etwa zehn Jahre im voraus einsetzen, woraus sich infolge der Unsicherheit langfristiger Prognosen Probleme ergeben mußten. Als ein Ergebnis dieser Unsicherheit und damit der am Bedarf vorbeigegangenen Planung darf sicherlich der Abiturientenüberschuß Anfang der 1970er Jahre gesehen werden, der mit einem Mangel an Facharbeitern einherging. Diesem Problem wurde im Verlauf der 1970er Jahre mit einem drastischen Beschneiden der Zulassungszahlen zu den Erweiterten Oberschulen sowie den Universitäten und Hochschulen begegnet. Neben diesen quantitativen Veränderungen in den Zulassungsquoten und der Verteilung der erworbenen Abschlüsse der Schulabgänger wurden mit der „wissenschaftlich-technischen Revolution" auch einschneidende qualitative Veränderungen im Berufsbild der einzelnen Facharbeiterberufe als Folge zukünftiger Entwicklungen in der industriellen Arbeitsteilung antizipiert, aus denen Schlußfolgerungen für die Entwicklung der notwendigen Berufsstruktur und damit der Gestaltung des Berufsausbildungssystems gezogen wurden. Zu diesen Prognosen gehörte die Notwendigkeit eines „gut ausgebildeten, breit einsetzbaren und mobilitätsbereiten Facharbeiters". Das bedeutete zum einen, daß der „Facharbeiter" als die Basisqualifikation in der DDR definiert und damit ein Verschwinden der Gruppe der Un- und Angelernten erwartet wurde. Ersterem wurde begrifflich durch die Vereinheitlichung der Bezeichnung von Facharbeitern und qualifizierten Angestellten zu „Facharbeiter für (...)" Rechnung getragen, letzterem zum Teil durch die Umbenennung von un- und angelernten Tätigkeiten in Facharbeiterberufe37. Zwar kam es aufgrund dieser Umbenennung, der Erwachsenenqualifizierung sowie der Absolvierung des neuen Ausbildungssystems durch die jüngeren Geburtsjahrgänge zu einem drastischen Rückgang des Anteils der Un- und Angelernten an den Berufstätigen (ohne Lehrlinge) von etwa 45 Prozent 1970 auf etwa 20 Prozent 1985 und sogar nur 11 Prozent 1989 - die Gruppe selbst ist jedoch bis zum Ende der DDR nicht verschwunden (Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch der DDR, diverse Jahrgänge). Die Ursachen hierfür sind weniger im Bildungs- und Ausbildungssystem zu suchen als vielmehr im technologischen Entwicklungsstand der Industrie, in der „Lückenbüßer" für einfache, monotone Arbeiten notwendig blieben. Die herausragende Rolle der Erwachsenenqualifizierung in den 1950er und 1960er Jahren, um den Mangel an quali-

37 1957 wurden 111 un- bzw. angelernte Tätigkeiten in Facharbeiterqualifikationen „umbenannt". Das heißt, sowohl der Arbeitsinhalt als auch die Arbeitsaufgaben und -Operationen blieben unverändert, aber von nun an war formal eine Ausbildung zur Ausübung dieser Tätigkeiten gefordert (Kuhnert, 1983).

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fizierten Facharbeitern in der Industrie durch eine nachträgliche berufliche Bildung von Erwachsenen möglichst schnell zu beseitigen38, wurde nun durch eine Vollzeit-Berufsausbildung der Schulabgänger abgelöst. Mit dem Eintritt der jüngeren Geburtskohorten in das Ausbildungssystem ging der Anteil der in der Erwachsenenbildung erworbenen Facharbeiterqualifikationen entsprechend zurück (Biermann, 1990, S. 91 f.). Zum anderen wurden mit der „wissenschaftlich-technischen Revolution" die traditionellen Spezialisierungen der Facharbeiterberufe aufgehoben und „Grundberufe mit Querschnittscharakter"39 umgewandelt (Biermann, 1990, S. 80), um so die notwendige Flexibilisierung der Arbeitskräfte zu erreichen. Diese Reform des dualen Systems, die sich vor allem in den 1960er Jahren in der DDR vollzogen hat, bedeutete „eine Monopolisierung einer industrietypischen Berufsausbildung nach den didaktischen Prinzipien der Entspezialisierung und Theoretisierung beruflicher Lerninhalte" (Wiemann, 1990, S. 7). Die Grundberufe stellten ihrem Wesen nach eine Integration engprofilierter Ausbildungsberufe dar (Gewände, 1990, S. 48). Auf der Basis einer umfassenden beruflichen Grundlagenausbildung sollten die Facharbeiter in die Lage versetzt werden, entsprechend den ökonomischen Erfordernissen40 weitere Spezialisierungen zu erlernen, um dadurch die mit dem „wissenschaftlich-technischen Fortschritt" antizipierten Anpassungsleistungen und Tätigkeitswechsel erbringen zu können (Wiemann, 1990, S. 7)41. Dies führte einerseits, da nun auf ein breiteres Angebot an gut ausgebildeten Facharbeitern zurückgegriffen werden konnte, zu einer Verdrängung von un- und angelernten Arbeitern aus bisherigen Einsatzfeldern und damit zu einer Verschlechterung ihrer Optionen für berufliche Mobilitätsprozesse. Andererseits bot gerade die Einfüh-

38 1964 wurden etwa 45 Prozent aller Facharbeiterbriefe/-abschlüsse im Rahmen der Erwachsenenbildung erworben (Geißler, 1990, S. 100), 1984 war es nur noch jeder 12. Facharbeiterabschluß (Biermann, 1990, S. 92). 39 Auf der Basis einer beruflichen Grundlagenausbildung hatten die Facharbeiter nun die Möglichkeit, - entsprechend den „ökonomischen Erfordernissen" - nacheinander weitere Spezialisierungen zu erlernen. Jedem dieser Grundberufe waren 2 bis 14 Spezialisierungen zugeordnet. 40 Wie die Realität zeigte, kam es dabei auch zu „unerwünschten" beruflichen Mobilitätsprozessen, die, um ihrer politisch negativen Bewertung Ausdruck zu verleihen, mit dem Begriff der • „Fluktuation" bezeichnet wurden. Dagegen wurden politisch und wirtschaftlich „erwünschte" Stellenwechsel mit dem Begriff „notwendiger Tätigkeitswechsel" als positiv herausgestellt. 41 Auch 1974 wurden durch Erweiterungsinvestitionen wesentlich mehr neue Arbeitsplätze geschaffen, als vorhandene durch Rationalisierung eingespart werden konnten. Erst zu Beginn der 1980er Jahre drohte dieses Verhältnis umzuschlagen, so daß absolut mehr Arbeitskräfte hätten freigesetzt werden können - was auch im „Sozialismus" zu Arbeitslosigkeit geführt hätte. Daher wurden die Betriebe durch den „Beschluß des Politbüros der SED beauflagt, diese Arbeitskräfte in den Unternehmen umzusetzen oder in anderen unterzubringen. Dementsprechend gab es nur noch .Freisetzungen' bei garantiertem Wiedereinsatz, was als .Arbeitskräftegewinnungsstrategie' bezeichnet wurde (...) Hintergrund dieses staatlich verordneten Handelns war die Sicherung der Vollbeschäftigung um jeden Preis." (Steinhöfel u.a., S. 1993, S. 26)

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A b b i l d u n g 6: Modifiziertes K l a s s e n s c h e m a der D D R - G e s e l l s c h a f t f ü r die P h a s e der „Dezentralisierung der Wirtschaft" z u m Sozialismus (1961-1971) Dominante Produktionsweise Sozialistische Warenproduktion

Staatliches Eigentum

Genossenschaftliches Eigentum (seit 1952)

Untergeordnete Produktionsweisen Einfache Warenproduktion

Kapitalistische Warenproduktion

Kleines Privateigentum

Kapitalistisches Privateigentum

Parteielite Betriebseigentümer von Betrieben mit staatlicher Beteiligung

Administrative Dienstklasse Operative Dienstklasse

Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums

Bürgerliche Dienstklasse Selbständige

PGH-Handwerksmeister Genossenschaftsbauern Sozialistische Arbeiterklasse Fett: reine Klassenlagen; kursiv: widersprüchliche Klassenlagen.

r u n g d e r Grundberufe

neue Optionen, zumindest für laterale Mobilität. Im Ergeb-

nis k a m zu einer qualifikatorischen A u f w e r t u n g der sozialistischen Arbeiterklasse durch eine stärkere „Verberuflichung"42. Für viele ehemals un- und angelernten Tätigkeiten w u r d e n nun Berufsbilder definiert u n d eine berufliche A u s b i l d u n g gefordert. Z u g l e i c h k o n n t e m a n bei P r o d u k t i o n s v e r ä n d e r u n g e n auf ausgebildetes Personal zurückgreifen43.

42 „Verberuflichung" meint hier das Festschreiben von bestimmten Zugangsbedingungen bzw. -Voraussetzungen zu bestimmten Tätigkeiten und Berufen (Kreckel, 1992, S. 188). 43 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß trotz Orientierung auf die „wissenschaftlichtechnische Revolution" zwischen 1960 und 1990 nur etwa 10 neue Facharbeiterberufe entstanden (Biermann, 1990, S. 88).

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Welche Schlußfolgerungen können aus der dargestellten wirtschaftlichen und politischen sowie bildungspolitischen Entwicklung für die Veränderung der Sozialstruktur von 1961 bis 1971 gezogen werden? Zunächst bleibt festzuhalten, daß mit der Kollektivierung in der Landwirtschaft die Klasse der selbständigen Klein- und Mittelbauern als spezifische Klassenlage verschwunden ist und ihre Angehörigen nun nahezu vollständig in der Klasse der Genossenschaftsbauern zu finden sind. Ähnliche Auflösungsprozesse sind für die „alte" bürgerliche Dienstklasse zu konstatieren. Ihre ehemaligen Angehörigen haben entweder bis 1961 die DDR verlassen oder in eine der anderen Klassenlagen bzw. widersprüchlichen Klassenpositionen der sozialistischen Planwirtschaft Zugang gefunden. Die privaten Warenproduzenten als Selbständige (mit höchstens zehn Beschäftigten) oder als Eigentümer von halbstaatlichen Betrieben konnten im Gegensatz dazu ihre selbständige Existenz gegenüber dem staatlichen Eigentum, wenn auch zahlenmäßig stark reduziert, behaupten. Damit ergibt sich für die DDR-Gesellschaft in der Phase der wirtschaftlichen Reformversuche unter der Ulbricht-Regierung eine Klassenstruktur, die aus einer zeitweise gleichzeitigen Existenz von vier Produktionsweisen resultierte (siehe Abb. 6).

Die Phase der „Rezentralisierung" - Die Vollendung der staatssozialistischen Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft

(1971-1979) Die Disproportionen in der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR führten Anfang der 1970er Jahre zum Abbruch der Reformversuche des „Neuen Ökonomischen Systems" (NÖS). Die Ursachen für den Fehlschlag wurden nicht im Aufrechterhalten der „Politik der strukturbestimmenden Bereiche" und damit ihrer Ausklammerung aus der Reform gesehen, sondern im Gegenteil in der Beschränkung der zentralen Planungs- und Leitungstätigkeit auf diese Bereiche. Nun sollten auch die privaten bzw. halbstaatlichen Industriebetriebe vollständig in das staatliche Planungssystem einbezogen werden. Dementsprechend wurden die „Betriebe mit staatlicher Beteiligung", die Produktionsgenossenschaften des Handwerks, sofern ihre Haupttätigkeit in der industriellen Produktion bestand, sowie die mittleren privaten Industriebetriebe im ersten Halbjahr 1972 in volkseigene Betriebe umgewandelt. Diesmal jedoch nicht wie nach 1945 durch Enteignung, sondern durch den Kauf der noch verbliebenen privaten Anteile. Laut offizieller Statistik (Geschichte der SED, 1978) wurden 85 Prozent der ehemaligen Komplementäre und Privateigentümer mit Führungsfunktionen in den neuen VEB betraut. Damit war - so wie es politisch beabsichtigt war - dieser residualen Form kapitalistischer Warenproduktion ein Ende gesetzt, so daß nahezu 100 Prozent der Industrieproduktion von staatlichen Betrieben erbracht wurden. Als eine weitere Maßnahme in Richtung „Rezentralisierung der Entscheidungsmacht" - hier mittels Konzentration der Produktion - ist sicherlich auch die 115

seit 1972 forciert betriebene Kombinatsbildung44 zu werten, deren Organisationsprinzip ein möglichst geschlossener, alle Phasen umfassender Reproduktionskreislauf war. Die Kombinatsbildung führte aus vielfältigen Ursachen zu einem erhöhten Personalbedarf. Zum einen bedingte die Integration von Dienstleistungsbereichen, wie zum Beispiel von Bau- und Instandhaltungsabteilungen, die zusätzliche Bindung von Arbeitskräften. „Des weiteren trugen die Unternehmen, entsprechend ihrer staatlich gewollten sozialen Verantwortung für die Mitarbeiter, auch die soziale, medizinische und kulturelle Betreuung (z.B. Kindertagesstätten, Feriendienst usw.) und stellten dafür Mitarbeiter ein." (Steinhöfel u.a., 1993, S. 3) Nicht zuletzt führte die Kombinatsbildung auch zu „einer Aufstockung der Hierarchie, der Erweiterung der Verwaltung, der Doppelung vieler betrieblicher Aufgaben auf verschiedenen Leitungsebenen" (S. 12), woraus sich erneut Karrierechancen ergaben. Von diesen Zentralisierungsprozessen blieb auch die „staatliche Arbeitskräftelenkung" nicht unberührt. So erfolgte mit Beginn der 1980er Jahre ein „Verbot der öffentlichen Werbung von Arbeitskräften über Annoncen, so daß die [Betriebe] nur geringe Chancen hatten, über den externen Weg, am Amt für Arbeit vorbei, Arbeitskräfte ihrem Bedarf entsprechend zu rekrutieren. Insbesondere bei höher qualifizierten Arbeitskräften dominierte somit die staatliche Bilanzierung 45 und Zuweisung" (S. 27), zum Beispiel über die Vermittlung der Hochschulabsolventen 46 . Freier hingegen konnten sich die Arbeitskräfte selbst bewegen. Während es aufgrund der Regelungen des Arbeitsgesetzbuches von den Betrieben nahezu unmöglich war, selbst bei krassen Verstößen gegen die betrieblichen Regelungen und Arbeitsanforderungen, einem Werktätigen zu kündigen, konnten die Beschäftigten von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch machen. So gelang es den Betrieben zumindest mit indirekten Methoden, wie zum Beispiel dem Vorhandensein von Betriebswohnungen, besonderen Betreuungseinrichtungen oder betriebsspezifischen Prämienfonds, geeignete Arbeitskräfte zu „werben" und zu binden. Dadurch ergaben sich für die Beschäftigten durchaus Möglichkeiten, ihre materielle Lage auch über laterale berufliche Mobilitätsprozesse zu verbessern. 44 Die ersten Kombinate wurden seit 1966 gebildet, um in den strukturbestimmenden Bereichen optimale Betriebsgrößen zu schaffen. 1970 existierten 35 zentralgeleitete, das heißt den Industrieministerien direkt unterstellte Kombinate. Im Unterschied dazu waren die bezirksgeleiteten Kombinate den örtlichen Staatsorganen unterstellt. 1981 gab es bereits 133 zentral- und 93 bezirksgeleitete Kombinate, deren Zahl sich bis zum Zusammenbruch der DDR nicht mehr wesentlich veränderte (126 bzw. 95). Kombinate bestanden in der Regel aus 15 bis 30 Betrieben und hatten durchschnittlich 20.000 Beschäftigte. 45 Es existierten „Bilanzentscheidungen", vorbereitet durch Analysen der Ämter für Arbeit, mit genauen Zahlenangaben über die Verteilung der Schulabgänger auf die einzelnen Lehrberufe sowie auf die einzelnen Ausbildungsabschlüsse (Facharbeiter, Fachschul- und Hochschulabsolvent). 46 Mit der Aufnahme eines Studiums verpflichtete sich jeder Hochschulstudent in schriftlicher Form, nach Beendigung des Studiums für drei Jahre an einem ihm zugewiesenen Arbeitsplatz tätig zu sein.

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Die Disproportionen in der Wirtschaft betrafen jedoch nicht nur die Industrie, sondern auch die Versorgung der Bevölkerung. Um hier einer Lösung näher zu kommen, wurde auf dem VIII. Parteitag der SED (1971) - neben den Rezentralisierungsmaßnahmen - die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik"47 als „Hauptaufgabe" (politisches Leitmotiv) der nächsten Fünfjahrpläne beschlossen. Dabei sah man sich immer weniger einem umfassenden Homogenitätsanspruch verpflichtet. Vielmehr ging man davon aus, daß bestimmte, primäre Gleichheitsgesichtspunkte verwirklicht worden seien, wie zum Beispiel gleiche Bildungschancen, das Recht auf eine Berufsausbildung sowie auf einen entsprechenden Arbeitsplatz. Mit der erforderlichen „Intensivierung" der Volkswirtschaft, die seit dem IX. Parteitag der SED (1976) forciert betrieben wurde, legitimierte man nun auch eine verstärkte Ausnutzung der individuellen (z.B. Kreativität) und sozialen (z.B. „soziale Besonderheiten der Schicht der Intelligenz") Differenziertheit. Wie in den Ausführungen zur DDR-Soziologie dargestellt wurde (siehe Abschnitt 1.1), führte dies zu einer Reihe von Forschungen über Kreativität, soziale Besonderheiten und soziale Ungleichheit, in denen dem Kriterium der Gleichheit nun ein Kriterium der Funktionalität sozialer Unterschiede zur Seite gestellt wurde. Diese Orientierung auf das Leistungsprinzip und die damit verbundenen Einkommensveränderungen, etwa die Gewährung von leistungsorientierten Gehaltsbestandteilen für hochqualifizierte und/oder leitende Angestellte, wurde jedoch durch die allgemein schlechte Versorgungslage der Bevölkerung, vor allem was die Quantität und Qualität des Angebots betraf, untergraben. Die als Leistungsanreize antizipierten lohnpolitischen Maßnahmen zeigten nicht die erhofften Wirkungen: Die Spareinlagen der DDR-Bürger stiegen, und lohnunabhängige Arbeitsbedingungen, wie das Zeitregime, die Entfernung zur Wohnung, das Betriebsklima und ähnliches, rückten immer mehr in den Vordergrund für Mobilitätsüberlegungen. Die „Bildungsoffensive" der 1950er und 1960er Jahre führte, wie bereits erwähnt, zu einem Überschuß an hochqualifizierten Personen und damit zu einem Facharbeitermangel in der Wirtschaft. Mit Hilfe einer drastischen Reduzierung der Neuzulassungen zu den Hochschulen, die mit dem Anspruch wirtschaftlicher und demographischer Rationalitätsüberlegungen vorgenommen wurde, sollte diesem Problem begegnet werden. Dabei wurde die Zahl der Direktstudenten von 1970 bis 1978 um 15 Prozent gesenkt (Statistisches Jahrbuch der DDR, 1989, S. 313), das heißt, die Zulassungsquote sank von ihrem Höhepunkt 1971 mit 11 Prozent pro Altersgruppe auf 8,8 Prozent im Jahr 1975 und 8,3 Prozent48 1980 (Baske, 1990, S. 215). Die DDR war damit das einzige Industrieland, das seine Bildungsexpansion bewußt zurücknahm. Infolgedessen verengten sich vor allem

47 In ihrer vollständigen Formulierung lautete diese Hauptaufgabe: „die Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Bevölkerung auf der Grundlage der sozialistischen Intensivierung". 48 In absoluten Zahlen bedeutete dies zwei Zulassungen pro Schulklasse.

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Abbildung 7: Die staatssozialistische Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft (1971-1989) Dominante Produktionsweise Sozialistische Warenproduktion

Staatliches Eigentum

Genossenschaftliches Eigentum (seit 1952)

Untergeordnete Produktionsweisen Einfache Warenproduktion

Externe kapitalistische Warenproduktion

Kleines Privateigentum

Kapitalistisches Privateigentum

Parteielite Administrative Dienstklasse Operative Dienstklasse

Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums

„Neue" bürgerliche Dienstklasse

Selbständige PGH-Handwerksmeister Genossenschaftsbauern Sozialistische Arbeiterklasse Fett: reine Klassenlagen; kursiv: widersprüchliche Klassenlagen.

für Mädchen und Jungen, die nach 195549 geboren waren, die beruflichen Karrierechancen. Mit der wachsenden Bedeutung von schulischer Leistung und gesellschaftlicher Arbeit im Vergleich zur sozialen Herkunft für die Zulassung zum Abitur und zum Studium gewannen außerdem Tendenzen der Selbstreproduktion der Dienstklassen die Oberhand50. Neben dem höheren Bildungsniveau dieser Eltern und den daraus resultierenden, allgemein bekannten Unterstützungsleistungen begünstigte auch das Kriterium der „politischen Loyalität" den Zugang der Kinder

49 Bei dieser Jahresangabe ist zu bedenken, daß die Reduzierung der Zulassungen zu den Hochschulen und Universitäten direkt mit einer Reduzierung der Zulassungen zum Abitur verbunden war. 50 Nach Angaben von Geißler (1990, S. 92) stieg der Anteil von Studenten aus der Intelligenz um das Dreifache, von 20 Prozent 1967 auf 59 Prozent 1979.

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von politisch aktiven Eltem, die überwiegend den neuen Dienstklassen angehörten, zu den weiterführenden Bildungseinrichtungen. Somit wirkte sich die Reduzierung der Zulassungen vor allem zuungunsten der Arbeiter- und Bauernkinder aus. Daher verschlechterten sich ihre Chancen, über Bildungsmobilität soziale Aufstiege zu realisieren. Dies war vielleicht der entscheidende Grund dafür, daß nach 1967 keine Statistiken mehr über die soziale Herkunft der Studenten veröffentlicht wurden bzw. werden durften. Zusätzlich verlor eine in den Anfangsjahren der DDR gerade für Arbeiter wichtige Studienform, das Hochschulfernstudium, an Bedeutung. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Auflösung der Klasse der Privateigentümer durch die Umwandlung der halbstaatlichen Betriebe, die ambivalenten Tendenzen beruflicher Mobilität (Eröffnung neuer Karrierechancen durch die Kombinatsbildung versus Verstärkung der Karriereblockaden durch die Reduzierung des Zugangs zu höheren Bildungsabschlüssen) sowie die relativ stabilen Entwicklungen der Klassenlagen des genossenschaftlichen und des kleinen Privateigentums zu einer staatssozialistischen Klassenstruktur führten (siehe Abb. 7). Diese beruhte nunmehr nur noch auf staatlichem Eigentum und systemkompatiblen Eigentumsformen und verfestigte sich in den 1980er Jahren - abgesehen von der „neuen" bürgerlichen Dienstklasse, die zwar zahlenmäßig sehr klein war, aber politisch in den 1980er Jahren an Bedeutung gewann (Pollack, 1993).

3.3 Die Periode sozialer Redifferenzierung (1980-1989) Die Fortsetzung des Rezentralisierungsprozesses der späten 1970er Jahre - vor allem in Form der Kombinatsbildung - führte in den 1980er Jahren zu einer nahezu vollständigen Restrukturierung der Industrie. Ihr markantestes Ergebnis war die monopolistische Stellung der Kombinate. Eine weitere Maßnahme in Richtung Zentralisierung der Entscheidungsmacht stellte die Zunahme der Planungs- und Abrechnungskennziffern dar; ihre Zahl stieg von 1980 mit „nur" 90 Kennziffern auf über 200 Kennziffern 1988. Dazu gehörten die Planungskennziffer „freizusetzende Arbeitskräfte" und die Bilanzkennziffer „freigesetzte Arbeitskräfte". Beide standen im Zusammenhang mit der Arbeitsplatzeinsparung der Schwedter Initiative „Weniger produzieren mehr". Diese - durch die Partei initiierte - Initiative reihte sich in das 10-PunkteProgramm der „sozialistischen Intensivierung" (1975) ein. Im Gegensatz zu den 1970er Jahren, wo zwei- bis dreimal so viele neue Arbeitsplätze entstanden, wie durch die Rationalisierung eingespart werden konnten, war es nun aufgrund neuer Technologien möglich, effektiv Arbeitskräfte einzusparen. Um der Entstehung von „Arbeitslosigkeit" 51 vorzubeugen, wurden die Betriebe verpflichtet, mit der 51 Belwe bezeichnete die temporären Schwierigkeiten beim Wiedereinsatz der freigesetzten Arbeitskräfte seit Mitte der 1980er Jahre auch als „friktionale Arbeitslosigkeit" (1984, S. 498).

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Freisetzung einer Arbeitskraft eine Alternative für ihren „Wiedereinsatz" innerhalb oder außerhalb des Betriebes nachzuweisen. Die sich daraus ergebenden Probleme hinsichtlich der Akzeptanz des zugewiesenen neuen Arbeitsplatzes seitens der Beschäftigten wurden zum Großteil dadurch gelöst, daß die „freigesetzten" Beschäftigten, statt den angebotenen Arbeitsvertrag zu unterschreiben, selbst nach einem neuen Arbeitsplatz suchten (Belwe, 1984, S. 502). Seit 1984 kann daher für die Mehrzahl der Industriebetriebe ein Ende des ständig beklagten „Arbeitskräftemangels " konstatiert werden. Daraus ergaben sich zum Teil erhebliche Schwierigkeiten für die Betriebe, den von ihnen freigesetzten Arbeitskräften einen neuen Arbeitsplatz anzubieten. Die staatliche Arbeitskräftelenkung versuchte dem dadurch zu begegnen, daß man den Industriebetrieben weniger Lehrlinge zuwies und mehr Schulabgänger als geplant in eine Lehrausbildung im Dienstleistungsbereich „lenkte". Für die individuellen und betrieblichen Anpassungsstrategien in diesen Freisetzungsprozessen waren eher ambivalente Handlungsoptionen charakteristisch. So erhöhten sich einerseits die Chancen für individuell motivierte berufliche Mobilitätsprozesse, an denen nun auch die Betriebe interessiert waren, da sie so aus ihrer Fürsorgepflicht entlassen wurden. Andererseits stieg das individuelle bzw. das betriebliche Risiko, keinen adäquaten Arbeitsplatz zu finden bzw. nachweisen zu können. Neben dem Freisetzungsprozeß fand in diesem Zeitraum eine weitere, die Arbeitskräfte betreffende Entwicklung statt: die „Arbeitsplatzbereicherung", als antizipierte Folge des „wissenschaftlich-technischen Fortschritts" und der Automatisierung. Prognostiziert für alle Beschäftigten der Industrie, verwirklichte sie sich jedoch nur für das ingenieurtechnische Personal in der Produktionsvorbereitung und im betriebseigenen Rationalisierungsmittelbau, hier betraf es auch die Facharbeiter. In anderen industriellen Bereichen gewann eher das umgekehrte Phänomen die Oberhand: Anstatt „bereichert" zu werden, wurden die Arbeitsoperationen zu monotonen, einseitigen Arbeitsaufgaben vereinfacht. Die in den 1970er Jahren prognostizierte „Wegrationalisierung" von Arbeitsplätzen mit einem geringen Anforderungsniveau konnte nicht nur nicht realisiert werden, es gelang sogar nicht einmal, ihre Zahl zu reduzieren. Somit mußten sie teilweise mit Facharbeitern besetzt werden, die damit eine Entwertung ihrer Qualifikation erfuhren. Weder die Automatisierung noch die beginnende Tertiärisierung führte zu Strukturen, in denen das vorhandene Potential an qualifizierten Facharbeitern hätte absorbiert werden können (Klinger, 1990, S. 68). Aufgrund der zentralen Planwirtschaft waren die Betriebe in ihren Anpassungsstrategien stark eingeschränkt. Es blieb ihnen daher nur die Möglichkeit, die „Überqualifikation" ihrer Arbeitskräfte zu akzeptieren. Gesamtgesellschaftlich entstand daraus das Problem der Disproportion zwischen erworbener und erforderlicher Qualifikation (Kuhnert, 1983; Belwe, 1985). Nicht nur für Facharbeiter, sondern auch für Ingenieure mit Fach- bzw. Hochschulabschluß hatte dies indirekte berufliche Abstiege zur Folge. „Indirekt" insofern, da sie eine Entwertung ihrer beruflichen Qualifikation erfahren mußten, ohne den Beruf oder den Arbeitsplatz zu wechseln. Die damit einhergehende

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Polarisierung der Arbeitsplätze entsprechend den jeweils erforderlichen Fähigkeiten hatte demnach unterschiedliche Auswirkungen. Zum einen führte die Polarisierung von qualifizierten und unqualifizierten Arbeitstätigkeiten zu einer größeren Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse. Das bedeutete nicht unbedingt, daß besser qualifizierte Arbeitskräfte auch anspruchsvollere Arbeitsplätze besetzten, so daß ein zusätzliches Konfliktpotential entstand. Zum anderen beförderte die daraus resultierende Unzufriedenheit die Suche nach einem „besseren" Arbeitsplatz und damit Mobilitätsprozesse auch in tätigkeitsfremde Berufe. 1984 arbeiteten 14 Prozent aller Facharbeiter in einem tätigkeitsfremden Beruf (Schmidt, 1984, S. 159). Derartige Prozesse waren jedoch aufgrund der allgemeinen Situation und der Dominanz der staatlichen Arbeitskräftelenkung nur begrenzt möglich. Insgesamt ist wohl weniger die Existenz derartiger Über- und Unterforderungsprobleme erstaunlich, die auch in anderen modernen Industriegesellschaften anzutreffen sind. Die Besonderheit dieser Phänomene in der DDR bestand vielmehr darin, daß sie keine zusätzliche Dynamik in der wirtschaftlichen Entwicklung bewirkten, sondern diese eher lähmten, und individuelle Handlungsoptionen nicht zu erweitern vermochten, sondern diese eher einengten. Im Ausbildungsbereich wurde versucht, die durch die Freisetzung entstehenden Probleme mit einer erhöhten Flexibilität der Arbeitskräfte zu lösen. Von den einzelnen Akteuren - Staat, Betriebe, Beschäftigte - wurden dazu unterschiedliche Maßnahmen ergriffen. Staatlicherseits wurde die Etablierung von breitprofilierten Grundberufen forciert, wobei der Erhöhung der Anzahl der Grundberufe von 28 (1980) auf 98 (1984) eine Reduzierung der möglichen Spezialisierungen von 513 (1980) auf 392 (1984) gegenüberstand (Gewände, 1990, S. 51). Damit waren 90 Prozent der Facharbeiterberufe zu durchschnittlich fünf anderen Berufen tätigkeitsverwandt, und 75 Prozent der Facharbeiterberufe boten sogar die Möglichkeit zu einem überberuflichen Wechsel (Schäfer, 1990, S. 332). Auf betrieblicher und individueller Ebene wurden vor allem erneut die Möglichkeiten der Erwachsenenbildung genutzt, wobei ihr neue Funktionen zugewiesen wurden. Von den zu erbringenden Kompensations- bzw. Nachholeleistungen der 1950er und 1960er Jahre verlagerte sich der Schwerpunkt in den 1970er Jahren auf eine kontinuierliche berufsbegleitende Weiterbildung 52 , die in den 1980er Jahren um die Funktion der Anpassungsqualifizierung ergänzt wurde. Letztere führte vor allem zu einer Zunahme von Zweitabschlüssen. Unter den Abschlüssen für einen weiteren Facharbeiterberuf erreichte die berufliche Erwachsenenbildung 1986 einen Anteil von 63,9 Prozent, der bis 1989 auf 69,3 Prozent erhöht werden konnte (Dietrich, 1991, S. 435). In diesem Zusammenhang scheint es daher gerechtfertigt zu sein, von einer „verdeckten Form der Umschulung" oder gar einer „Gegen-

52 Der Anteil der in der beruflichen Erwachsenenbildung erwerbbaren Facharbeiterabschlüsse sank von 45 Prozent (1965) auf 33 Prozent (1975). Seit Beginn der 1980er Jahre pendelte er sich auf ein Niveau von etwa 20 Prozent ein (Das Bildungswesen der DDR, 1983, S. 115).

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Strategie" zur staatlichen Arbeitskräftelenkung seitens der Betriebe und Beschäftigten zu sprechen. Die Entwicklungen dieser Periode verursachten eine Wende hin zu einer „Redifferenzierung der Sozialstruktur" der DDR-Gesellschaft (Meuschel, 1993, S. 12) - und zwar ohne neue Mobilitätschancen zu eröffnen (siehe Kap. 5). Diese Redifferenzierung zeigte sich nicht in einer Veränderung der staatssozialistischen Klassenstruktur, die sich bis zum Ende der 1970er Jahre etablieren konnte, sondern vielmehr in deren Verfestigung. Dafür waren vor allem zwei Prozesse verantwortlich: zum einen die zunehmende soziale Distanzierung zwischen den einzelnen Klassenlagen aufgrund von klassenspezifischen „Abschottungs- bzw. Ausschließungsprozessen" und zum anderen die erhöhten klasseninternen Differenzierungen. Die damit einhergehenden Unterschiede im Lebensstandard wurden als das Ergebnis unterschiedlicher Aufgaben und Funktionen innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung legitimiert und darüber hinaus als gesellschaftlich notwendige Unterschiede definiert (Lötsch, 1981). Welche klasseninternen Differenzierungsprozesse lassen sich für einzelne Klassenlagen konstatieren? Innerhalb der operativen Dienstklasse kam es zu einer Aufspaltung in drei Gruppen: (1) die Gruppe der „Spezialisten", das heißt diejenigen, die entsprechend ihrer erworbenen Qualifikation eingesetzt wurden und hochqualifizierte Tätigkeiten ausübten, (2) die Gruppe der „Überqualifizierten" und (3) die Gruppe der produktionsnah eingesetzten Beschäftigten, größtenteils Ingenieure und Techniker, deren Arbeitsaufgaben denen von spezialisierten Facharbeitern glichen. Innerhalb der Arbeiterklasse führten die Disproportionen zwischen dem steigenden Angebot an hochqualifizierten Arbeitern und der sinkenden Nachfrage zu einer Zweiteilung. So gelang es einem Teil der Facharbeiter - etwa 100.000 Personen und damit etwa einem Prozent aller Berufstätigen (Belwe, 1989, S. 138) Arbeitsplätze zu finden, zum Beispiel im Rationalisierungsmittelbau, in denen ihre vielfältigen Fähigkeiten abgefordert wurden. Belwe bezeichnete diese Gruppe als „Rationalisierungselite" der Arbeiterklasse (S. 138). Auf der anderen Seite konnten die Facharbeiter an modernen, zum Teil vollautomatisierten Maschinen nur einen Teil ihrer Fertigkeiten anwenden. Sie leisteten in Wirklichkeit unqualifizierte Arbeit, da diese Arbeitsplätze keine Facharbeiterqualifikation, Fachwissen oder manuelle Fertigkeiten erforderten. Ihr Aufgabenbereich lag vor allem in der Überwachung und Kontrolle, was zu zunehmender Entfremdung und erhöhter psychisch-nervlicher Belastung führte. Das quantitative Ausmaß dieser Qualifikationsentwertung wird dabei an folgenden Zahlen deutlich: „1981 waren 20 bis 25 Prozent aller Facharbeiter und 22 Prozent aller Meister nicht qualifikationsgerecht eingesetzt. 18 Prozent aller Facharbeiter arbeiteten als Un- und Angelernte." (S. 138) Vergleicht man die Differenzierungsprozesse innerhalb dieser beiden Klassenlagen, so lassen sich zwei Schlußfolgerungen ableiten. Zum einen vollzog

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sich aufgrund der Polarisierung der Arbeitsbedingungen eine soziale und berufliche Polarisierung innerhalb beider Klassenlagen. Zum anderen können Tendenzen einer zunehmenden Nivellierung hinsichtlich der sozialen Ungleichheit zwischen der „Rationalisierungselite" der Arbeiterklasse und der produktionsnah eingesetzten operativen Dienstklasse festgestellt werden, während sich gleichzeitig die soziale Distanz zwischen ihren beiden Randgruppen, das heißt den Un- und Angelernten und den Spezialisten, vergrößerte. Betrachtungen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung, die nach der „Wende" durchgeführt wurden, zeigen, daß der Zusammenbruch des DDR-Regimes im Oktober/November 1989 ein folgerichtiges Ereignis war. Die Ursachen dieses Zusammenbruchs sind mit Sicherheit vielfältiger Natur. Doch ein Teil der Erklärung liegt sicherlich in der hier zur Debatte stehenden Etablierung einer staatssozialistischen Klassenstruktur und den damit verbundenen Mobilitätschancen und -blockaden. Die zunehmende Selbstreproduktion der Klassenlagen basierte auf einer „Verletzung" der Gleichheitspostulate, die das SED-Regime als Legitimationskriterien zu erfüllen hatte: Soziale Chancengleichheit war nur noch eine leere Worthülse, Aufstiege blieben verschlossen, laterale Berufsmobilität wurde schwieriger, berufliche Qualifikationen wurden entwertet. Zugleich gab es auch Verschlechterungen in anderen Lebensbereichen: Manipulation der Wahlergebnisse, Verbot von Zeitschriften, weitere Reisebeschränkungen (z.B. Visapflicht für Polen), ein nicht endender Wohnungsmangel, sowie eine schleichende Verteuerung der Lebenshaltungskosten (Verlagerung des Sortiments in Exquisit- und Delikat-Läden). All dies führte zu einer immer größer werdenden Unzufriedenheit insbesondere der jüngeren Generationen. Daher verwundert es im nachhinein nicht, daß es gerade die jungen Menschen waren, die seit Ende der 1980er Jahre das Land verließen bzw. im Herbst 1989 auf die Straße gingen, hatten sie doch im Verhältnis zu den älteren Generationen am wenigsten zu „verlieren". Aber auch für die älteren Generationen wurde die Kluft zwischen dem propagierten Anspruch und der alltäglichen Realität immer deutlicher, die zunehmende wirtschaftliche Stagnation in ihren Lebensbedingungen fühlbar (Mühler und Wippler, 1993). In den drei Perioden der sozialstrukturellen Entwicklung kommt deutlich zum Ausdruck, daß es sich bei der Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft um ein historisches Entwicklungsprodukt handelt, das aus einem Spannungsverhältnis von politischer Intervention, wirtschaftlichen Entwicklungserfordernissen und sozialem Wandel entstanden ist. Dieses Fazit führt zu der These, daß die gesamte Entwicklung der DDR-Gesellschaft den Lebensabschnitten, Bedürfnissen und Interessen einer Generation folgte, nämlich denen der „alten Garde". Gleichzeitig wurde versucht, die Interessenartikulation der anderen Gruppen sowohl mittels Befriedungsstrategien als auch durch politische Zwangsmaßnahmen bzw. Kontrollmechanismen zu verhindern. Kurzgefaßt heißt das: Aufbau eines staatssozialistischen Gesellschaftssystems in der DDR und damit die Möglichkeit der Machterlangung für die „alte Garde", anschließend die Ankurbelung der wirtschaftlichen

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Entwicklung zum Legitimationsausbau ihrer Macht, schließlich die Reproduktion der staatssozialistischen Gesellschaftsverfassung und damit der entsprechenden Klassenstruktur zur Aufrechterhaltung ihrer Macht.

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II. Teil Intergenerationale Mobilität: Die Etablierung und Reproduktion der DDR als Klassengesellschaft

Kapitel 4

Intergenerationale Mobilitätsanalyse: Methodische Überlegungen

Der im vorangegangenen Kapitel beschriebene soziale Strukturwandel war mit zahlreichen Übergängen von Individuen aus einer Klasse in eine andere sowie mit spezifischen Möglichkeiten der Vererbung der Klassenlage der Eltern auf die Kinder verbunden. In diesen Mobilitätsoptionen widerspiegelt sich die Relevanz der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen für das individuelle Handeln der DDR-Bürger. Die Klassenmobilität zwischen Eltern- und Kindergeneration sowie die zugrundeliegenden Mechanismen und historische Spezifik sind Gegenstand der empirischen Analyse. Für die Analyse dieser Prozesse ist die Bedeutung der methodischen Vorgehensweise nicht zu unterschätzen, da sie die Umsetzung des theoretischen Konzepts in entsprechende Fragestellungen, Analysestrategien und Operationalisierungen bestimmt. Das Anliegen der nachfolgenden Ausführungen ist es, die gewählte Vorgehensweise transparent zu machen, die Reichweite der Erklärungskraft der empirischen Befunde abzustecken sowie die Implikationen der Operationalisierung des theoretisch entwickelten Klassenmodells für die DDR-Gesellschaft zu hinterfragen. Neben der Definition der Untersuchungseinheit, der verwendeten Variablen und deren Meßzeitpunkten gilt es insbesondere, sich mit dem in der Mobilitätsforschung vorherrschenden Paradigma auseinanderzusetzen und seine Anwendbarkeit auf die DDR-Gesellschaft zu prüfen. Zu untersuchen ist, ob die Gleichsetzung von „Familienoberhaupt" und „Vater bzw. Ehemann", wie sie konventionell vorgenommen wird, den Verhältnissen in der DDR adäquat ist. Das heißt, ob die Beschreibung und Analyse des Mobilitätsregimes der DDR-Gesellschaft in angemessener Weise durch eine ausschließliche Betrachtung der Mobilitätsprozesse der Söhne bzw. Männer erfolgen können. Wie im folgenden gezeigt wird, spricht die hohe (qualifizierte) Frauenerwerbsbeteiligung in der DDR, die bereits in den 1950er Jahren weit über der der BRD lag, gegen eine derartige Marginalisierung des Einflusses der Frauen und ihrer Berufstätigkeit auf die Mobilitätsprozesse in dieser Gesellschaft. Im Ergebnis der theoretischen Auseinandersetzung mit dem konventionellen Paradigma der Mobilitätsforschung, die durch erste empirische Befunde, basierend auf dem vorliegenden Datenmaterial, unterstützt wird, wird die Verwendung einer Haushaltsbestimmung der Klassenlage für 127

die DDR begründet und deren Operationalisierung abgeleitet. Diese geht von einer Gleichstellung der Geschlechter aus. Ebenso bedeutsam für die nachfolgende Analyse ist es, eine Methode zu finden, mit deren Hilfe die historische Dimension der Entwicklung der Klassenstruktur der DDR abgebildet werden kann. Eine solche Möglichkeit bieten die Verwendung von Geburtskohorten und die geeignete Wahl der Vergleichszeitpunkte der Klassenlagen, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden.

4.1 Intergenerationale Mobilitätsanalysen: Instrument der Analyse der Formierung und Reproduktion der Klassenstruktur Die empirische Analyse konzentriert sich auf die Untersuchung des Prozesses der sozialen Reproduktion in der DDR, das heißt, wie die Einordnung von Personen in die bestehende bzw. sich etablierende Struktur von Klassenlagen erfolgte. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den historischen Veränderungen geschenkt. Es soll gezeigt werden, in welchem Ausmaß sich Personen „in der gleichen Klassenlage wieder(fanden), in die sie schon hineingeboren wurden, welche Mechanismen dafür verantwortlich (waren) und welches die Faktoren (waren), die das Ausmaß intergenerationaler Mobilität (beeinflußten)" (Müller, 1985, S. 19), welche Übergänge von einer Klasse in die andere stimuliert und welche blockiert wurden. Für die Analyse dieser Prozesse der Etablierung und Reproduktion von Klassenstrukturen in einer Gesellschaft stellen intergenerationale Mobilitätsanalysen eine bewährte empirische Methode dar (S0rensen, 1991a, S. 73). Unterstellt wird hier ein Verständnis von Mobilität, das beiden Prozessen, Etablierung und Reproduktion, gerecht zu werden versucht. Erstens wird davon ausgegangen, daß neue gesellschaftliche Strukturen, so auch Klassenstrukturen, durch das Handeln von Menschen produziert werden (Giddens, 1973, S. 99-112, 1986; Coleman, 1990). In diesem Zusammenhang soll die hier vorliegende Analyse der intergenerationalen Mobilitätsprozesse abbilden, daß über die Umsetzung von spezifischen Mobilitätswegen und -chancen in individuelles Handeln neue Klassen etabliert und alte Klassen in der DDR aufgelöst worden sind. Ohne hier die konkreten Handlungsweisen, die diese Klassenstruktur letztlich produziert haben, zu erklären, wird unterstellt, daß die staatssozialistische Klassenstruktur in der DDR das Resultat von individuellem Handeln war. Für die Reproduktion der Klassenstruktur wird zweitens die Herangehens weise von Goldthorpe zugrunde gelegt, wonach die jeweilige Klassenzugehörigkeit ihrerseits Mobilitätschancen strukturiert (Goldthorpe, 1980, S. 251-71; 1983a, S. 20), da sie Handlungsoptionen „als in sozialen Strukturen gegebene Wahlmöglichkeiten, Alternativen des Handelns" (Dahrendorf, 1979, S. 40) bereitstellt oder verschließt. Die Grundannahme ist, daß sich Klassen nur dann als soziale Kollektive mit gemeinsamen Klasseninteressen herausbilden kön-

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nen, wenn ein hohes Maß an Kontinuität der Klassenzugehörigkeit, im Sinne demographischer Identität, als Bedingung für ihre Organisation gegeben ist (Goldthorpe, 1985, S. 183 f.; 1980; 1983a). Verbindet man beide Sichtweisen, so ist zu reflektieren, daß gesellschaftliche Strukturen den Menschen Handlungsoptionen voigeben (Goldthorpe), die ihrerseits jedoch individuelles Handeln ermöglichen (Giddens, 1986, S. 169). Dementsprechend werden die jeweiligen Mobilitätschancen bzw. -optionen sowohl als Funktion der Opportunitätsstruktur einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als auch der Wahrnehmung und Umsetzung dieser Opportunitäten im individuellen Handeln begriffen (Blau, 1994, S. 11). So definiert, widerspiegelt die Mobilitätsanalyse, ob sich die im ersten Teil der Analyse definierten Klassenlagen auch für das soziale Handeln der Menschen in der DDR als handlungsrelevant erwiesen haben, das heißt, ob bereitgestellte Optionen ergriffen wurden, ob klassenspezifische Anrechte in Form von Mobilitätsbarrieren installiert wurden (vgl. Dahrendorf, 1979, S. 40). Das Ausmaß an Chancengleichheit für den Zugang zu den einzelnen Klassenlagen kann als Indikator dafür gewertet werden, inwieweit die einzelnen Klassenlagen aufgrund der existierenden Ungleichheit stimuliert und fähig gewesen sind, den Zugang zu ihren Klassenlagen für die Kinder aus anderen Klassenlagen zu schließen und diese in ihre Klassenschranken zu verweisen (Parkin, 1979b). Es ist wenig plausibel anzunehmen, daß in Gesellschaften mit einem hohen Maß an sozialer Ungleichheit ein hohes Maß an Gleichheit in bezug auf die Zugangschancen zu den privilegierten Klassenlagen existiert. Vielmehr veranlaßt soziale Ungleichheit deren Angehörige dazu, Mechanismen zu finden, um diese Privilegien zu schützen und auch für ihre Kinder sicherzustellen. Entsprechend dieser Betrachtungsweise des Zusammenhangs von Mobilität und Klassenbildung, wonach Klassenstrukturen das Resultat kollektiver und individueller Mobilitätsprozesse sind, bedeutet ein hohes Ausmaß an Mobilität eine Transformation oder Auflösung einer gegebenen Klassenstruktur, ein geringes Ausmaß an Mobilität die Reproduktion der Klassenstruktur (Mayer und Carroll, 1990, S. 23). Dementsprechend gilt die These, daß die Eigentumsordnung und damit die Klassenstruktur eine wesentliche Ungleichheitsdimension der DDR-Gesellschaft gewesen ist, dann als bekräftigt, wenn vielfältige intergenerationale Mobilitätsprozesse den Prozeß der Transformation der alten Klassenstruktur in eine staatssozialistische Klassenstruktur nach 1945 in der DDR kennzeichneten, und anschließend deren Reproduktion durch zunehmende Immobilität infolge der Monopolisierung von Chancen und entsprechende soziale Ausleseprozesse gewährleistet werden konnte 1 .

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Diese Betrachtungsweise führt zugleich zu der Schlußfolgerung, daß, wenn die Mobilitätsanalyse zeigen sollte, daß Klassengrenzen in der DDR leicht überschritten werden konnten, die Relevanz der aus den Eigentumsverhältnissen abgeleiteten Klassendifferenzierung möglicherweise in Frage zu stellen ist (vgl. Mayer und Carroll, 1990, S. 24).

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Wenn man davon ausgeht, daß die Kinder über ihre Erwerbstätigkeit und damit ihre Berufskarrieren oder über den Heiratsmarkt und damit selektives Heiratsverhalten ihren Platz in der Klassenstruktur finden, dann ist eine Vielzahl von Indikatoren denkbar, um auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Die folgende Analyse konzentriert sich im wesentlichen auf vier empirische Fragestellungen: (1) Welche allgemeinen Veränderungen gab es in den intergenerationalen Mobilitätsprozessen im Verlauf der Entwicklung der DDR-Gesellschaft? (Indikatoren: strukturelle Mobilität, kohortenspezifische Mobilitätschancen) (2) Welches waren die „attraktiven" Klassenlagen der DDR-Gesellschaft? (Indikatoren: Vererbungsindizes, Aufstiegschance in die sozialistischen Dienstklassen vs. Abstiegsrisiko in die Arbeiterklasse) (3) Gab es eine Selektivität im Heiratsverhalten? (Indikatoren: Partnerpräferenzen, sozialer Aufstieg durch Heirat, Kompensationseffekte) (4) Welche Ressourcen konnten die Angehörigen der einzelnen Klassenlagen in den beruflichen Allokationsprozeß ihrer Kinder einbringen? (Indikatoren: Selektionswirkung von Herkunft, Bildung und Parteimitgliedschaft im historischen und askriptiven Kontext von Geburtskohorte und Geschlecht) Da die Ergebnisse hinsichtlich dieser Indikatoren wesentlich von der Bestimmung der Untersuchungseinheit und der Vergleichszeitpunkte abhängen, werden diese zunächst ausführlich dargestellt.

4.2 Datenbasis Die empirische Grundlage für die Rekonstruktion der intergenerationalen Mobilitätsprozesse in der DDR sind 2.331 Interviews, die mit Frauen und Männern aus der ehemaligen DDR durchgeführt wurden. Sie gehören vier ausgewählten Geburtsjahrgangsgruppen (im folgenden „Kohorten") an: 1929-31, 1939-41, 195153 und 1959-61. Diese Personenstichprobe wurde durch ein Zufallsverfahren, geschichtet nach Kohorten, Geschlecht, Qualifikation und Wohnortgröße2, dem infas-Master-Sample, das im Oktober 1990 aus dem zentralen Einwohnermelderegister der DDR gezogen wurde, entnommen. Die Daten wurden im Rahmen des Projekts „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR" (im folgenden: DDR-Lebensverlaufsstudie oder DDR-LV) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, unter Leitung von Johannes Huinink und Karl Ulrich Mayer erhoben. Die im Durchschnitt etwa dreistündigen mündlichen Interviews wurden durch das Umfrageinstitut infas im Zeitraum von September 1991 bis September 1992 durchgeführt 3 . Die Ausschöpfungsquote beträgt 53 Pro2 3

Die befragten Personen leb(t)en in 427 Städten bzw. Gemeinden, die sich über das gesamte Territorium der ehemaligen DDR verteilen. Etwa die Hälfte der Fälle wurde bis Dezember 1991 realisiert.

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Abbildung 8: Forschungsprojekt „Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel" des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin

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Quelle: Mayer, 1993a, S. 7.

zent4. Wie die Analyse der Ausschöpfung durch infas zeigt (Hess und Smid, 1995, S. 16-22), gibt es trotz der Ausfälle keine wesentliche Abweichung hinsichtlich der nachprüfbaren Merkmale zwischen den befragten Personen (in der realisierten Stichprobe) und denen der Grundgesamtheit. „Die Ergebnisse sind, wie auch

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Das entspricht den Ausschöpfungsquoten vergleichbarer Studien.

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der Soll-Ist-Vergleich der Stichprobe nach bestimmten Strukturmerkmalen zeigt, als repräsentativ zu bezeichnen." (S. 22) 5 Das DDR-Lebensverlaufsprojekt ist integraler Bestandteil des umfassenderen Forschungsvorhabens „Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel", das 1979 im Sonderforschungsbereich 3 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik" von Karl Ulrich Mayer ins Leben gerufen wurde und seit 1983 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin fortgeführt wird. Es umfaßt inzwischen sechs Geburtskohorten aus der alten Bundesrepublik 6 und die erwähnten vier Kohorten aus den neuen Bundesländern (siehe Abb. 8). Außerdem sind Lebensverlaufsdaten für Männer und Frauen der Geburtsjahrgänge 1890 bis 1922 im Rahmen der Berliner Altersstudie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung erhoben worden. In den Interviews der DDR-Lebensverlaufsstudie werden retrospektiv und in empirisch-quantitativer Weise die Wohn-, Ausbildungs-, Berufs- und Familienverhältnisse sowie die Mitgliedschaft in wichtigen politischen und gesellschaftlichen Organisationen der DDR als kontinuierliche Ereignisgeschichten rekonstruiert. Diese wurden durch standardisierte sowie offene Fragen nach individuellen Erfahrungen, Lebensbedingungen, Meinungen und Wertorientierungen untersetzt. Damit besteht die Möglichkeit, die Lebensverläufe der befragten Männer und Frauen - in bezug auf unterschiedliche Aspekte - Monat für Monat nachzuzeichnen (siehe Abb. 9). Die Auswahl der vier Geburtskohorten erlaubt es zugleich, die Lebensverläufe - die durch die verschiedenen Perioden der DDR-Entwicklung unterschiedlich geprägt waren (siehe Kap. 3) - in ihren jeweiligen historischen Kontextbedingungen zu betrachten und somit die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in die Analyse zu integrieren. Auf diesen Aspekt wird in einem der folgenden Abschnitte noch gesondert eingegangen (siehe Abschnitt 4.6). Zum anderen unterlag diese Auswahl auch dem Kriterium der Vergleichbarkeit der DDR-Daten mit entsprechenden Daten aus Westdeutschland 7 . Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß in die nachfolgende Analyse nur die Befragten einbezogen werden, bei denen Angaben zur Herkunftsklasse und zur

5

6 7

Insgesamt wurden auf der Basis des verfügbaren Adressenbestands von 52.248 Fällen 288 Merkmalskombinationen geprüft, von denen nur 14 Kombinationen (4,9 %) geringfügig größere Abweichungen aufweisen als die entsprechenden 95-Prozent-Konfidenzintervalle (für nichtgeklumpte Stichproben) (Hess und Smid, 1995, S. 22). Die Datenerhebung der sechs westdeutschen Geburtskohorten erfolgte zwischen 1981 und 1989. Eine Ausnahme bildet die Erhebung der Kohorte 1951-53 für die DDR, während für Westdeutschland die Kohorten 1949-51 und 1954-56 erhoben wurden. Der Grund dafür ist, daß, beginnend mit dem VIII. Parteitag der SED (1971), familienpolitische Maßnahmen installiert wurden, die erstmals eine besondere Relevanz vor allem für diese Geburtsjahrgänge vermuten lassen (siehe Trappe, 1994b).

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