Aubrey Beardsleys Rezeption des 18. Jahrhunderts als Ausdruck von Selbstinszenierung und (Selbst)Parodie [1 ed.] 9783412151799, 9783412151775

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Aubrey Beardsleys Rezeption des 18. Jahrhunderts als Ausdruck von Selbstinszenierung und (Selbst)Parodie [1 ed.]
 9783412151799, 9783412151775

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AUBREY BEARDSLEYS REZEPTION DES 18. JAHRHUNDERTS ALS AUSDRUCK VON SELBSTINSZENIERUNG UND (SELBST)-PARODIE

Lisa Hecht

Studien zur Kunst 42

Lisa Hecht

AUBREY BEARDSLEYS REZEPTION DES 18. JAHRHUNDERTS ALS AUSDRUCK VON SELBSTINSZENIERUNG UND (SELBST)-PARODIE

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort Die Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Aubrey Beardsley: The Billet-Doux. 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Papier, 14,2 × 14 cm, © 2019 Fine Arts Museums of San Francisco. Korrektorat: Ulrike v. Düring-Ulmenstein, Köln Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-15179-9

Für meine Eltern

Inhalt 1

Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



9

2

Geistesgeschichtlicher Hintergrund: Rokoko-Rezeption im 19. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



26

. . . . . . . .



26

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46

„… the gay rococo thing I was“ – Aubrey Beardsley und das 18. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



79

Libertinage als Rechtfertigung – Rokoko-Rezeption im Magazin The Savoy  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



107

Schmückende Bilder – Text-Bild-Relationen in The Rape of the Lock (1714/1896)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



125

Aubrey Beardsley und die Motivik des 18. Jahrhunderts  . . . . . . . . .





156 159 182 211

„Ces livres qu’on ne lit que d’une main“ – Beardsleys Rezeption von Erotika und Pornografie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



235

Die Dame im Kimono – Beardsley zwischen Chinoiserie und Japonismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



267

Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp  . . . . . . . . . .



288

10 Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



304

Danksagung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



312 313 330 332 339

2.1 „Aristokraten des Geschmacks“ – Rokoko-Rezeption im Frankreich des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . 2.2 „Décadence délicieuse“ oder Dekadenz als Parodie – Rokoko-Rezeption in England . . . . . . . . . . . . 3 4 5 6

7 8 9

6.1 Aubrey Beardsley in Pierrots Bibliothek  . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 „For the era of rouge is upon us“ – Aubrey Beardsleys toilette-scenes  6.3 Androgyn und Travestie bei Gautier und Beardsley . . . . . . . . . .

Internetquellen 

Abbildungsnachweis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einleitung

„… he was the Hogarth of his day, and […] he had no more sympathy with decadence than Hogarth had for the vices [he depicted].“ 1 „The only pictorial influence which had a creative effect upon the work of Beardsley was that of Watteau, under whose spell, born of deep sympathy with the old master’s sophisticated period, Beardsley produced some of his most satisfying pictures.“ 2

Nach dem Tod des Zeichners und Autors Aubrey Vincent Beardsley (1872 – 1898) versuchen die Zeitgenossen, den jung an Tuberkulose verstorbenen Künstler in eine kunsthistorische Tradition einzubetten. Dabei kommt sein ehemaliger Verleger John Lane (1854 – 1925) zu dem Schluss, dass Beardsley nichts anderes als der Hogarth seiner Zeit gewesen sei. Der Chronist der englischen 1890er Jahre, Holbrook Jackson (1874 – 1948), hingegen, kann als einzigen bildkünstlerischen Einfluss auf den Illustrator nur den Maler der fêtes galantes, Antoine Watteau, gelten lassen. Beide Male wird Aubrey Beardsley zu einer Reinkarnation von künstlerischen Größen des längst vergangenen 18. Jahrhunderts stilisiert. Bei ­diesem Passus handelt es sich sicherlich zunächst um eine Rehabilitation des von der ­Kunstkritik wenig geliebten Illustrators von Oscar Wildes Salome oder des berüchtigten Yellow Book. Indem Lane und Jackson Beardsley in die Genealogie des 18. Jahrhunderts einbetten, verorten sie ihn gleichsam in einer vor dem Kunstpublikum vertretbaren Tradition der kanonischen Hochkunst. Daneben schwingt jedoch ein weiterer Aspekt in der Identifikation Beardsleys mit zwei so unterschiedlichen Künstlerpersönlichkeiten wie Hogarth und Watteau mit. In beiden Fällen wird versucht, Parameter der beardsleyschen Ästhetik, die sich doch durch so viele Unstimmigkeiten und Irritationen auszeichnet, mittels eines Vergleichs zu k­ lären. Der Witz und die karikaturesken Elemente in Beardsleys Bildern werden dem bissigen Humor Hogarths zugeordnet, seine Eleganz und Melancholie den traumhaften Liebesinseln Watteaus. In der Sichtweise Beardsleys als neuem Hogarth ergibt sich zum einen die Möglichkeit, ihm in der Geschichte der künstlerischen Grafik einen hochgeschätzten Platz an der Seite Hogarths zuzuweisen. Zum anderen kann B ­ eardsley damit von der ihn umgebenden kulturellen Strömung – dem englischen Decadent Movement – distanziert werden. Lane unterstellt Beardsley, er habe ebenso wenig Sympathie für die zeitgenössische Dekadenz 3 wie Hogarth für die moralischen Abgründe seiner Z ­ eitgenossen. Damit 1 Lane, John: Aubrey Beardsley and the Yellow Book. London 1903, S. 7. 2 Jackson, Holbrook: The Eighteen-­Nineties. A Review of Art and Ideas at the Close of the Nineteenth Century. London 19222, S. 100. 3 Obwohl ich mir der Problematisierung des Dekadenzbegriffs (spätestens seit der Zeit des deutschen Faschismus) durchaus bewusst bin, verwende ich ihn in seiner historischen Bestimmtheit

10 |  Einleitung

wird Beardsley zum Moralisten in der Tradition Hogarths, der mit seinen Grafiken und Gemälden die aus seiner Sicht verderbte Gesellschaft und den vermeintlich niedergehenden Kunstmarkt anprangert. Beardsley jedoch, und dies soll einer der Gegenstände der folgenden Ausführungen sein, weist in theoretischer wie ästhetischer Hinsicht zahlreiche bedeutsame Übereinstimmungen mit Hogarth und seinen Zeitgenossen auf, offenbart sich allerdings vielmehr als liebevoller Parodist einer Bewegung, dessen Galionsfigur er selbst ist. Die von Beardsley selbst gewählte Verwandtschaft zu Antoine Watteau scheint daher aufschlussreicher im Hinblick auf fruchtbare Bildvergleiche. Mehrfach bedient sich der junge Zeichner an Figuren und Bilderfindungen des ebenfalls frühzeitig an Tuberkulose verstorbenen Watteau, insbesondere wenn es um die fragile Gestalt des Pierrot geht. Er sammelt Grafiken und Reproduktionen des frühen Rokokomalers und liest in zeitgenössischen Monografien über dessen Œuvre. Der Künstlermythos, der im Laufe des 19. Jahrhunderts um Watteau konstruiert wird,4 dient Beardsley immer wieder als Mittel seiner eigenen Selbstinszenierung, die bis heute in ihrer kongenialen psychoanalytischen Tragweite in der Forschung nachwirkt. Der Künstler als melancholischer, kränklicher Außenseiter und zugleich distinguierter Aristokrat des Stils scheint in Watteau verkörpert und wird somit zur idealen Schablone für Aubrey Beardsleys Selbstverortung vor seinem Publikum. Schon anhand dieser beiden Vergleiche Aubrey Beardsleys mit Künstlern des 18. Jahrhunderts ergibt sich die Notwendigkeit, das Schaffen des jungen Zeichners in Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit eben dieser vergangenen Epoche zu analysieren. Nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch sämtliche folgenden Monografien konstatieren die Relevanz von künstlerischen, literarischen und kulturellen Quellen aus dem 18. Jahrhundert insbesondere für die zweite Hälfte von Beardsleys überaus kurzer Schaffenszeit in den 1890er Jahren. Dies geschieht in solch unklaren Äußerungen wie Brian Reades Formulierung über Beardsleys „advance into a mock eighteenth-­century dream“.5 Reade stößt hier 1966 zum ersten Mal in die Forschungslücke vor, die ich in dieser Arbeit füllen möchte. Zur im gleichen Jahr stattfindenden Einzelausstellung des Werks von Aubrey Beardsley im Victoria & Albert Museum London erscheint das erste Werkverzeichnis des Künstlers mit Reades Kommentaren. Dabei handelt es sich um die erste umfassende Publikation zu Beardsley überhaupt und zur ersten seit langen Jahrzehnten der Stille um den Zeichner. Nach den eingangs zitierten Zeitgenossen, die bis in die 1930er Jahre hinein ihre Memoiren über die Yellow Nineties 6 veröffentlichen und noch mehrfach zu Wort kommen sollen, und erläutere im Folgenden auch den jeweiligen Wandel im Verständnis d­ ieses Terminus im Verlauf der Geschichte. Vgl. Klein, Wolfgang: Dekadent/Dekadenz. In: Barck, Karlheinz; Fontius, Martin; Schlenstedt, Dieter u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. II. Stuttgart 2010, S. 1 – 40, hier S. 2. 4 Vgl. Jones, Louisa E.: Pierrot-­Watteau. A Nineteenth-­Century Myth. Tübingen, Paris 1984. 5 Reade, Brian: Aubrey Beardsley. London 1966, S. 11. 6 Obwohl die Genese des Begriffs Yellow Nineties nicht genau zu rekonstruieren ist, bezieht sich dieser höchstwahrscheinlich auf das berühmte Yellow Book – die bibliophile Zeitschrift, w ­ elche die Dekade

Einleitung | 11

gerät die Beardsley-­Zeit in den kulturellen Wirrungen des Zweiten Weltkriegs weitestgehend in Vergessenheit. Prädestiniert für eine Rezeption in den dem Okkulten und Dekadenten ebenfalls nicht abgeneigten 1920er Jahren, scheinen die Bilder Beardsleys in den 40ern lediglich als Phantasmagorien einer längst vergangenen Zeit zu gelten. Bis dahin etabliert sich indes bereits eine Lesart dieser Zeichnungen, ­welche die Beardsley-­Forschung des 20. Jahrhunderts wie kaum eine zweite prägt. Roger Fry (1866 – 1934), Maler und Kritiker aus dem Umfeld der Bloomsbury Group, widmet Beardsleys Œuvre einen k­ urzen Abschnitt in seinem Buch Vision and Design (1920), in dem folgende denkwürdige Schilderung der beardsleyschen Ästhetik zu lesen ist: „Beardsley’s moral perversity actually prevented him, in spite of his extraordinary specific talent for design, from ever becoming a great designer. […] There is no suggestion in his work […] that corruption is an affectation taken up in order to astonish the bourgeoisie. Beardsley is never funny or amusing or witty; […] he is very serious, very much in earnest. […] It is as the Fra Angelico of Satanism that his work will always have an interest for those who are curious about this recurrent phase of complex civilisations.“ 7

Die Formulierung „Fra Angelico of Satanism“ ist in die Forschungsgeschichte zu Aubrey Beardsley eingegangen. Fry hebt damit auf die zuweilen religiösen Aspekte in Beardsleys Formensprache ab: „the love of pure decoration, the patient elaboration and enrichment of surface, […] the extravagant richness of invention“ 8, w ­ elche durch den ihm unterstellten Diabolismus durchbrochen werden. Ich möchte mich jedoch von Frys gesamter Sichtweise auf die Künstlerpersönlichkeit distanzieren: nicht nur, dass es in Beardsleys Werk oder seinen Aussagen keinerlei Hinweise auf satanistische oder okkulte Riten gibt, sondern auch, dass die Ernsthaftigkeit, die Fry dem jungen Zeichner unterstellt, in Frage zu stellen ist. Ersteres lässt sich anhand der folgenden Analysen einzelner Bilder nachvollziehen. Religiöse Topoi treten darin immer wieder zu Tage, doch wird bei Beardsley keinesfalls der Teufel angebetet, sondern vielmehr die Schönheit zum Gegenstand der Liturgie. Zudem geben die sehr gut editierten Briefe des Künstlers weiteren Aufschluss über dessen Persönlichkeit und nicht zuletzt über seinen Humor.9

stark prägt. Mit seinem gelben Umschlag sorgt das Magazin für Aufsehen, da es sich eindeutig auf zeitgenössische französische Romane bezieht, w ­ elche ebenfalls in Gelb eingebunden sind und für das viktorianische Publikum gleichbedeutend mit Dekadenz und sogar Perversität sind. Vgl. Gertner Zatlin, Linda: Aubrey Beardsley. A Catalogue Raisonné, Bd. II. London 2016, S. 60. 7 Fry, Roger: Vision and Design. London 1920, S. 155. Kursive Hervorhebungen in Zitaten sind stets ebenso in der jeweiligen Quelle abgedruckt und daher übernommen. 8 Ebd. 9 Maas, Duncan und Good haben die Briefe erstmals 1970 zusammengetragen und veröffentlicht. Auf diese Publikation, in zweiter Auflage aus dem Jahr 1990, beziehe ich mich hauptsächlich in den Verweisen auf Beardsleys eigene Aussagen. Vgl. Maas, Henry; Duncan, J. L.; Good, W. G. (Hg.): The Letters of Aubrey Beardsley. Oxford 19902 (1970). Im Folgenden zitiert als Letters, 1990.

12 |  Einleitung

Insbesondere die Ernsthaftigkeit und in Teilen sogar die Düsternis, die Roger Fry aus seinem postimpressionistischen Blickwinkel für das Schaffen Beardsleys konstatiert, hallt noch bis in Publikationen der frühen 2000er Jahre nach. Fry gehört dabei zunächst zu dem Rezipientenkreis dieser Werke, der von den harten Schwarz-­Weiß-­Kontrasten und der großen Popularität eines frühen Illustrationsprojekts Beardsleys zu der Annahme gelangt, es könne sich bei ­diesem jungen Mann nur um einen décadent in der Nachfolge Baudelaires oder Swinburnes handeln. Die bis heute berühmten Bilder zu Oscar Wildes Einakter Salome, die Beardsley 1893/94 anfertigt, sind Gegenstand zahlloser wissenschaftlicher und unwissenschaftlicher Auseinandersetzungen gewesen und formen mit ihren Darstellungen wahnsinniger, kastrierender Weiber und hermaphroditischer Wesen bis heute die Aura der schwarzen Romantik 10 um Beardsleys Persona. Vor allem in den 1960er Jahren, als Aubrey Beardsley durch die Retrospektive im V&A regelrecht zur Modeerscheinung avanciert und sogar auf dem Cover des Sgt. Pepper Albums (1967) der Beatles zu finden ist, werden seine Zeichnungen immer noch in der Tradition Frys als Ausdrücke halluzinatorischer Träume verstanden. Im Zeitalter der Swinging ­Sixties, von Woodstock und LSD, lässt sich eine subversive Lesart von Beardsleys Zeichnungen als psychoanalytische Traumbilder ideal einpassen.11 Und so setzt sich auch in vielen Monografien und Aufsätzen eine psychoanalytische Interpretation der Werke fort, w ­ elche die geistige Verfasstheit des Künstlers nicht von seinen Bildern und Texten trennen will. Ich möchte indes keineswegs anstreben, diese Trennung in meinen Analysen ausnahmslos zu vollziehen. Vielmehr gehe ich von dem Inszenierungscharakter hinter Beardsleys eigener bewusster Verschränkung von Kunst und Leben aus. In ­diesem Verständnis spielt beispielsweise die Selbstdarstellung Beardsleys als androgyner Jüngling – im Leben, wie im Werk – eine größere Rolle als es die rein spekulativen Annahmen über eine mögliche inzestuöse Verbindung mit seiner Schwester Mabel tun können. Ersteres ist für die Interpretation des Kunstwerks essenziell, weil die Selbstinszenierung ebenso Bestandteil des Künstlerischen ist, wie das produzierte Bild. Letzteres hingegen ist lediglich Ausdruck einer (wissenschaftlichen) Sensationslust des Biografen. Es kann für den Erkenntnisgewinn, den die Betrachterin oder der Leser bei der Rezeption von Beardsleys Werken erreicht, nicht zielführend sein, dass dieser bestens über die faktische sexuelle Orientierung des Zeichners informiert ist. Vielmehr ist die Unklarheit über diesen Umstand als bedeutender Aspekt seiner Selbstinszenierung herauszustellen. Einen Höhepunkt erreicht die psychoanalytische Tendenz in der 1972 erschienenen Monografie von Malcolm Easton mit dem enigmatischen Titel „Aubrey and the Dying Lady. A Beardsley Riddle“.12 Darin versucht der Autor, die Antwort auf Beardsleys eigentümliche Rätselbilder in dessen vermeintlicher Transsexualität zu finden. Beardsleys enge 10 Mit dem Begriff der schwarzen Romantik beziehe ich mich auf die Seite der europäischen Romantik in Literatur und Bildkünsten, ­welche Mario Praz in seinem Buch „La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica“ (Florenz 1930) beschreibt. 11 Vgl. Sturgis, Matthew: Aubrey Beardsley. A Biography. New York 19992 (1998), S. 359 f. 12 Vgl. Easton, Malcolm: Aubrey and the Dying Lady. A Beardsley Riddle. London 1972.

Einleitung | 13

Verbindung zu seiner ­Mutter und seiner Schwester, der Umgang mit den homosexuellen Protagonisten der englischen 1890er und die Vorliebe für das Th ­ eater mit seinen Möglichkeiten der Verkleidung ­seien die Grundlage für den Wunsch des Zeichners, das Geschlecht zumindest mittels Kleidung zu ändern.13 In einem Vorwort zu einer 1989 aktuellen Bibliografie fasst Nicholas A. Salerno die Proble­matik der psychoanalytischen Beardsley-­Forschung folgendermaßen und ­vollkommen gerechtfertigt zusammen: „Later biographers tells [sic!] us that the mother-­dominated son had an incestuous relationship with his sister. Or that the sister aborted what may have been Aubrey’s child, and that little Aubrey may have assisted at the actual moment of abortion. […] Do we really care whether or not Aubrey slept with Mabel?“ 14

Dennoch sind im selben Sammelband, der bis heute die variantenreichste Anzahl von Essays zu Aubrey Beardsley zusammenträgt, auch Aufsätze von Brian Reade 15 oder Linda (Gertner) Zatlin 16 abgedruckt, die noch zu ­diesem Zeitpunkt mit spekulativen Aussagen über die Künstlerpersönlichkeit versuchen, Werke zu interpretieren. Während Brian Reade die erste Generation der Beardsley-­Forschung dominiert, tritt mit Linda Gertner Zatlin die bis heute bedeutendste Autorin in Bezug auf den Illustrator in Langenfelds Sammelband erstmals in Erscheinung. Wie die meisten Autoren, die sich mit Beardsley beschäftigen, kommt auch Gertner Zatlin aus dem Umfeld der englischen Literaturwissenschaft mit einem Schwerpunkt in der viktorianischen Kultur: Nicht nur die älteren Biografien von Stanley Weintraub 17 oder Ian Fletcher 18, sondern auch spätere Publikationen von Jane Haville Desmarais 19 oder Emma Sutton 20 nähern sich dem Illustrator mit literaturwissenschaftlichen Methoden. Zwar hat dies durchaus seine Berechtigung in der Beschäftigung mit einem Künstler, der nicht nur immer wieder Werke der Literatur bebildert, sondern auch selbst Prosa und Lyrik produziert. Nur selten ist jedoch eine bildwissenschaftliche Analyse der Zeichnungen in diesen und anderen Monografien oder Aufsätzen zu finden. So bleiben ikonografische und motivische Vergleiche weitestgehend aus oder überzeugen nicht zur Gänze und auch 13 Vgl. ebd., S. 243 – 251. 14 Salerno, Nicholas A.: Preface to the Bibliography. Beardsley under the Microscope. In: Langenfeld, Robert (Hg.): Reconsidering Aubrey Beardsley. Ann Arbor, Michigan 1989, S. 269 – 280, hier S. 277. 15 Vgl. Reade, Brian: Beardsley Re-­Mounted. In: ebd., S. 103 – 130. 16 Vgl. Zatlin, Linda: Félicien Rops and Aubrey Beardsley: The Naked and the Nude. In: ebd., S. 167 – 205. 17 Vgl. Weintraub, Stanley: Aubrey Beardsley. Imp of the Perverse. Lincoln, Nebraska 2000 (Pennsylvania State University 1976). 18 Vgl. Fletcher, Ian: Aubrey Beardsley. Boston 1987. 19 Vgl. Haville Desmarais, Jane: The Beardsley Industry. The Critical Reception in England and France, 1893 – 1914. Aldershot 1998. 20 Vgl. Sutton, Emma: Aubrey Beardsley and British Wagnerism in the 1890s. Oxford 2002.

14 |  Einleitung

die Argumentation über ästhetische Muster vollzieht sich zumeist im Rahmen literarischer Parameter, die eins zu eins auf Beardsleys Werke übertragen werden. Solche kunsthistorischen Leerstellen werden spätestens in Gertner Zatlins neuestem Catalogue Raisonné zu Aubrey Beardsley deutlich.21 Darin trägt die Autorin die Ergebnisse einer jahrelangen Beschäftigung mit dem Künstler zusammen und bietet damit eine essentielle Grundlage für jedwede folgende Forschung. Nicht nur, dass Gertner Zatlin in dem neuen Katalog sämtliche gesicherte Werke Beardsleys mit Angaben zur Provenienz und Technik einzeln bespricht, sie bildet auch erstmals Fälschungen und Kopien ab, sowie früheste Zeichnungen, die lediglich auf Briefen übermittelt waren. Dennoch verharrt sie nur allzu häufig in einer Lesart der Bilder, wie sie sich seit den 1970er Jahren etabliert hat, und revidiert auch ihre eigenen älteren Ansätze zum Thema kaum. So ist der vordergründige Anlass zur Beschäftigung mit Beardsley noch immer derjenige, ihn als einen „Vater der Moderne“ zu etablieren.22 Spätestens seit der 1966er-­Retrospektive ist dies ein wiederkehrendes Motiv der Beardsley-­Forschung. Der Künstler wird dabei in einen modernistischen Geniediskurs eingepasst, der erst die Rechtfertigung für eine wissen­schaftliche Auseinandersetzung zu geben scheint. Diese Beobachtung stellt einen interessanten Kontrapunkt zu den frühen Bemühungen seiner Zeitgenossen dar, Beardsley in tradierte kunsthistorische Topoi zu integrieren. Meine Analysen werden diese Polarität in der posthumen Inszenierung Beardsleys als intellektuellen Traditionalisten oder freidenkerischen Bürgerschreck weitestgehend aufheben, zugunsten einer differenzierten Interpretation der sichtbaren und rekonstruierbaren ästhetischen Gegebenheiten. Gertner Zatlins Herangehensweise zeichnet sich indes weiterhin durch einen feministischen Ansatz aus; diesen unterstellt sie auch Beardsley selbst, obwohl es hierfür keinerlei Beweise in den Aussagen des Künstlers gibt. Sicher ist, dass er sich wiederholt der Frau als tradiertem Sujet der Kunstgeschichte zuwendet und ­dieses unterwandert, deformiert oder ganz in Frage stellt; dies in einem Jahrzehnt, das durch die ‚Frauenfrage‘ stark geprägt ist. Dennoch möchte ich eher von einer künstlerischen Auseinandersetzung mit einem aktuellen Diskurs sprechen, als Beardsley den Anspruch zu unterstellen, Frauen in seinen Bildern regelrecht von ihrem Objektstatus zu befreien. So schreibt Gertner Zatlin: „Typical of his work, Beardsley grants woman sovereignty over her body by showing her neither as a worshipful slave nor a sexual object.“ 23

Obwohl an dieser Stelle die Aufzählung und Kommentierung des Forschungsstandes allein zum Thema ‚Aubrey Beardsley‘ längst nicht beendet wäre, möchte ich dies auf die folgenden Kapitel verschieben, in denen die jeweiligen Schwerpunktsetzungen einzelne Publikationen hervorheben werden. Ebenso wird eine Darstellung der Forschung zum kulturellen Kontext Beardsleys – der englischen und französischen 1890er Jahre – insbesondere in 21 Vgl. Gertner Zatlin, Linda: Aubrey Beardsley. A Catalogue Raisonné, Bd. I/II. London 2016. 22 Vgl. ebd. Bd. I, S. XV. 23 Ebd. Bd. II, S. 311.

Einleitung | 15

Kapitel 2.2 geschehen. Vorab sei lediglich bemerkt, dass sich auch hierbei eine historische Entwicklung abzeichnen lässt, die gewissermaßen parallel zur Beardsley-­Forschung verläuft: die kulturelle Angleichung des Dekadenztopos an die jeweilige Entstehungszeit der Publikationen sowie der Schwerpunkt in der literaturwissenschaftlichen Analyse. Es lässt sich eine Wahrnehmung des kulturellen Phänomens erkennen, die einer Revision bedarf, wie dies bereits 1978 Linda C. Dowling – offenbar weitestgehend ungehört – fordert: „Although the contribution of the nineties to the shaping of modernism has long been recognized, these self-­parodic or consciously ironic tones in fin de siècle literature have been muted by a heavily biographical emphasis in most discussions of the period, an emphasis that has long laid its stress on disaster and self-­destruction.“ 24

In meinen Ausführungen werde ich nun ­dieses selbstparodistische Element innerhalb der Kultur der Dekadenz mit einer zeitgleichen Rezeption des 18. Jahrhunderts in Zusammen­ hang bringen. Dabei möchte ich den bisherigen literaturwissenschaftlichen Fokus 25 um die Fragestellung ergänzen, wie Selbstparodie in Bildkünsten – am Beispiel Aubrey Beardsleys – sichtbar gemacht werden kann und inwiefern das theoretische und ästhetische Bezugssystem des 18. Jahrhunderts dabei ausschlaggebend ist. Daraus wird sich schließlich ein alternatives Verständnis von der Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts ergeben, welches die Klischees von Untergang und Düsternis um die Dimension einer ironischen Brechung erweitert. Weiterhin folgt eine Aufwertung der grafischen Künste in der medialen Hierarchie der Kunstgeschichte. In der Grafik ist es möglich, mit alternativen Mitteln der Rezeption, Traditionen zu antizipieren oder sie zu unterwandern. Eines dieser Mittel ist die Parodie, ­welche ich in dieser Arbeit besonders betonen will. Jürgen von Stackelberg folgend, möchte ich Parodie als eine der wohl bedeutendsten Handwerkszeuge in literatur- wie kunsthistorischen Entwicklungen annehmen. In seinem Buch „Supplement und Parodie als literarische Rezeptionsformen“ (2009) gibt Stackelberg zunächst eine lexikonartige Definition von Parodie und der eng verwandten Travestie vor, ­welche er sogleich in Frage stellt, da sie nicht auf alle Beispiele in dieser klaren Scheidung anwendbar ist. Nichtsdestotrotz sei diese Definition als Ausgangspunkt zum Verständnis von Parodie im Allgemeinen vorangestellt. „… es handele sich [bei der Parodie] um eine komische, karikierende oder sonstwie verzerrende Nachahmung bzw. Umbildung einer ernsten Dichtung, bei der die äußere Form gewahrt, der Inhalt jedoch so geändert werde, daß er zu dieser Form nicht mehr passe. Das zieht dann die Definition des Gegenbegriffs, der Travestie, nach sich, bei der der Inhalt 24 Dowling, Linda C.: ‚Venus and Tannhäuser‘. Beardsley’s Satire of Decadence. In: Journal of Narrative Technique 1, 1978, S. 26 – 41, hier S. 27. 25 So legt beispielsweise Michele Hannoosh bereits 1989 eine eindrückliche Arbeit über die Dekadenzparodie von Jules Laforgue vor. Vgl. Hannoosh, Michele: Parody and Decadence. Laforgue’s Moralités légendaires. Columbus 1989.

16 |  Einleitung

beibehalten, jedoch in einer anderen, dazu nicht passenden oder ‚lächerlichen‘ Form dargestellt wird.“ 26

Beide Begriffe spielen sowohl für die Kultur des 18. Jahrhunderts (wie sie Stackelberg anhand französischer Literatur nachzeichnet) als auch für die des späten 19. Jahrhunderts eine große Rolle. Als Voraussetzungen für Parodie sieht Stackelberg vor allem das Vorhandensein etablierter ästhetischer Regeln an sowie das Kerngebot, welches auf einer Entsprechung von Form und Inhalt beharrt. „Solange ­dieses Gebot […] der ‚Einheitlichkeit‘ in jeder Hinsicht als oberste Richtschnur allen Dichtens gelten konnte, war es verhältnismäßig einfach, Parodien zu schreiben.“ 27

Dies ist im Falle der Literatur des frühen 18. Jahrhunderts noch ein nachvollziehbarer Vorgang, gestaltet sich jedoch im Zuge einer Aufweichung der Gattungs- und Stilhierarchien während des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts zunehmend schwieriger.28 Nicht zuletzt aus ­diesem Grund ist für die in dieser Arbeit herausgestellte Dekadenzparodie im fin de siècle festzustellen, dass hier eine Bewegung in Wort und Bild parodiert wird, ­welche eigentlich zu jung sein dürfte, um bereits eingefahrene eigene Traditionen zu besitzen, die es zu unterwandern gilt. Dennoch lässt sich ein parodistischer Ansatz insbesondere in den Werken Aubrey Beardsleys feststellen, der – wie zu zeigen sein wird – immer wieder auf ästhetizistische und dekadente Klischees verfällt, die in seinen Bildern auch als s­ olche dargestellt werden. Es handelt sich bei dieser Vorgehensweise der Distanzierung von etwas, an dem man selbst teilhat, um einen Nebeneffekt der Parodie, dem für jegliche ästhetische Positionierung im Umfeld der (englischen) Dekadenz eine hohe Bedeutung zukommt. „Sie [die Parodie] ist so etwas wie eine intellektuelle Schutzvorrichtung vor dem ‚Überschwang des Gefühls‘ […]. Hier wie dort handelt es sich um ‚Unterkühlungsverfahren‘ – im Falle der Parodie freilich um ein solches, das mit literaturhistorischen Bezügen arbeitet.“ 29

Das Rezeptionsverfahren, welches Stackelberg hier lediglich auf die Literatur des 18. Jahrhunderts bezieht, wird demnach zum Mittel einer kühlen Ästhetik, wie sie auch Beardsley wiederholt attestiert werden kann. Mit dieser Herangehensweise berufe ich mich also auf literaturwissenschaftliche Grundlagen. Auch wenn meine Arbeit einen kunsthistorischen Fokus anstrebt, bleiben die der Literaturwissenschaft entlehnten Methoden unseres Faches dennoch ein wichtiges Utensil 26 Stackelberg, Jürgen von: Supplement und Parodie als literarische Rezeptionsformen. Gattungs­ geschichtliche Untersuchungen zur französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 2009, S. 63. 27 Ebd. 28 Vgl. ebd., S. 64. 29 Ebd., S. 66.

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meiner Analysen und Interpretationen. Dies wird in erster Linie dann bedeutsam, wenn sich zeigt, dass Beardsleys Bilder teils als sich selbst beschreibend auftreten. Der Begriff des ekphrastischen Bildes soll dabei die beredten Werke des Zeichners erläutern (Kap. 5). Weder für das ausgehende 19. Jahrhundert noch für den speziellen Fall von Beardsleys Œuvre wurde die Relevanz einer Rezeption des 18. Jahrhunderts für die künstlerische Selbstverortung bisher genau analysiert und hinterfragt. Die Beschäftigung von Künstlern und Literaten jener Zeit mit dem Ancien Régime scheint nicht recht in das Bild zu passen, welches bis dato sowohl für die Dekadenz als auch für Beardsley gezeichnet worden ist. Die Hinwendung zu einem aristokratisch geprägten Zeitalter, das aus heutiger Sicht mit leichten, frivolen Motiven verbunden werden kann, nicht jedoch mit der Schwere und Düsternis einer vermeintlich niedergehenden Gesellschaft, fügt sich nicht in die populäre Wahrnehmung des fin de siècle. Doch zeigt ein eingehender Blick in die Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, inwiefern vor allem die Protagonisten aus dem Umfeld der literarischen und künstlerischen Dekadenz ganz bewusst nach einer Verwandtschaft mit einer Epoche suchen, die schon von ihren Zeitgenossen als dem Untergang geweiht deklariert wurde. Für diesen Aspekt meiner Arbeit erweisen sich die Schriften der Brüder Edmond und Jules de Goncourt (1822 – 1896 und 1830 – 1870) als besonders aufschlussreich. In journalistischen und belletristischen Publikationen befassen sich die Romanciers immer ­wieder mit dem vorangegangenen Jahrhundert. Sie formulieren dabei eine Verwandtschaft z­ wischen der zeitgenössischen literarischen Dekadenz von Baudelaire oder Mallarmé mit der Regentschaft Louis’ XV , indem sie vom Rokoko als einer „décadence délicieuse“ 30 sprechen. In ihrem Werk geschieht eine fundamentale romantisch-­ästhetische Neubewertung des Rokoko, in der die noch von Diderot und anderen Zeitgenossen kritisierten Aspekte, wie die vermeintliche Effeminiertheit und Überfeinerung des Rokoko, zu künstlerischen Mitteln der antibürgerlichen Positionierung umgedeutet werden, ­welche für das ausgehende 19. Jahrhundert entscheidende Impulse vorgeben. Dieser Entwicklung widme ich mich im anschließenden Kapitel der Arbeit gesondert. Dabei soll zunächst die französische Rezeption des Jahrhunderts wiedergegeben werden, das die Goncourts bereits als „le siècle français par excellence“ 31 beschreiben. Sowohl die künstlerische (insbesondere literarische) Rezeption spielt hier eine wichtige Rolle, als auch die „lebenswirkliche“ Dimension, in welcher das Rokoko zu einem französischen Nationalstil avanciert, der für das repräsentative bürgerliche Interieur maßgebend wird und nicht zuletzt das antiquarische Interesse des 19. Jahrhunderts speist. Die Sammlung ist ein Thema, das im 18. Jahrhundert selbst einen großen Stellenwert besitzt sowie für die Rezeption selbiger Epoche im 19. Jahrhundert kaum zu überschätzen ist. Nicht nur, dass Gegenstände und Kunstwerke aus jener Zeit ihre distinguierten Verehrer finden, das Sammeln selbst wird in beiden Jahrhunderten zu einer eigenständigen ästhetischen Kategorie. Dies wird sich im Verlauf der Arbeit mehrfach zeigen. 30 Goncourt, Jules und Edmond de: L’art du dix-­huitième siècle. Paris 1881, S. 196. 31 Goncourt, Jules und Edmond de: La femme au dix-­huitième siècle. Paris 1862, S. I.

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Im Anschluss wende ich mich dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu und lege dar, wie es im Zuge des englischen Decadent Movement zu einer Auseinandersetzung mit der Kultur des Ancien Régime kommt. Dabei wird vor allem der Dekadenzbegriff hinterfragt werden, welcher trotz seiner inhärenten Kritik zugleich Möglichkeiten der Referenz an historische ‚Verfallszeiten‘ bietet.32 Eine weitere Fragestellung, die sich im Zuge dieser ersten geistesgeschichtlichen Einordnung ergeben wird, ist die nach dem Konflikt zweier im 19. Jahrhundert ausgeprägter nationaler Identitäten, die sich stets durch die dezidierte Abgrenzung voneinander auszeichnen. Mir geht es bei einer solchen Entwicklung um die Rolle, w ­ elche insbesondere der Aneignung eines französischen ‚Nationalstils‘ – des Rokoko – oder zumindest dem Verweis auf nur lose mit d ­ iesem assoziierbare kulturelle Versatzstücke im Rahmen der englisch-­dekadenten Künstleridentität zukommt. Frankophilie wird für die Künstler und Literaten der Yellow Nineties zu einem Habitus, der sie weiterhin von der viktorianischen Frankophobie abgrenzt, w ­ elche sowohl den politischen als auch den kulturellen Diskurs dominiert. In der Forschung ist dies immer wieder auch die Grundlage für die Analysen von Beardsleys Werken, doch steht dabei stets die enge Verbindung des Künstlers und seiner Zeitgenossen zur aktuellen französischen Bohème im Vordergrund. Wie in Jennifer Higgins 2011 erschienenem Aufsatz „France and the Grotesque in Aubrey Beardsley’s Poetry and Prose“ etwa wird die Frankophilie des Illustrators hauptsächlich auf die zeitgenössische Bewunderung für die vermeintliche kulturelle Freiheit im Frankreich der Dritten Republik bezogen.33 Doch auch die Geschichte Frankreichs mit seinem Ancien Régime sowie der Revolution hat einen bedeutenden Anteil an der Manifestation von Klischees, die mit jeder Allusion von Französischem erneut in Erscheinung treten. Die Opulenz und Verschwendungssucht der barocken Aristokratie, ­welche gegen Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt zum Stein des Anstoßes für die Revolution wird, formt gewissermaßen die Gleichung von allem Französischen mit Frivolität und Perversität. Die subversive Wirkung von Frankophilie in der englischen Dekadenz hat demnach ihre Wurzeln in der kritischen Wahrnehmung des Rokoko. Paul ­Greenhalgh konnte dies bereits in seinem Essayband „Art Nouveau“ (2000) feststellen, nennt jedoch lediglich kunstgewerbliche Beispiele nach 1900.34 In meiner Arbeit werde ich diese Entwicklung allerdings anhand ausgewählter Beispiele aus dem bildkünstlerischen Werk Aubrey Beardsleys nachvollziehen.

32 So stellt Jerome Hamilton Buckley in seiner Studie „The Triumph of Time“ (1966) für die viktorianische Beziehung zur Geschichte fest: „A new generation of historians, both literate and laborious, enlarged the limits of the human past and speculated on the possibility of finding patterns of recurrence or meaningful analogies with their own time.“ Buckley, Jerome Hamilton: The Triumph of Time. A Study of the Victorian Concepts of Time, History, Progress, and Decadence. Cambridge 1966, S. 3. 33 Vgl. Higgins, Jennifer: France and the Grotesque in Aubrey Beardsley’s Poetry and Prose. In: The Modern Language Review 1, 2011, S. 63 – 85, hier S. 64. 34 Vgl. Greenhalgh, Paul: Alternative Histories. In: Ders. (Hg.): Art Nouveau 1890 – 1914. London 2000, S. 37 – 53, hier S. 45.

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An dieser Stelle ist es geboten, eine begriffliche Problematik dieser Arbeit zu thematisieren. Aus sprachlichen Gründen habe ich bisher – und werde so auch in den folgenden Ausführungen vorgehen – den Begriff ‚Rokoko‘ nahezu synonym mit der Kultur des ‚langen‘ 18. Jahrhunderts gebraucht. Dies erklärt sich aus der gewählten Perspektive auf jene Epoche. Eine gewisse Unschärfe mit Blick auf ihren Ursprung birgt wohl jede Art der Rezeption in sich und insbesondere jene, die sich ganze Epochen produktiv aneignet. So geschieht es auch während der Rezeption des 18. Jahrhunderts im Laufe des 19. und sogar noch im 20. Jahrhundert. Die sich erst herausbildenden Stilbegriffe für historische Epochen werden immer wieder vermischt und chronologisch selten festgelegt. Das 18. Jahrhundert selbst kennt den Begriff ‚Rokoko‘ noch nicht und setzt sich in der zeitgenössischen Kritik dennoch verstärkt mit ­diesem Stil in Malerei und Kunstgewerbe auseinander.35 Bis in die 1840er Jahre hinein existieren noch zahllose unterschiedliche Bezeichnungen für künstlerische Erzeugnisse unter der Herrschaft Louis’ XV (goût moderne, Louis XV, style pompadour etc.)36 und sorgen im Laufe des 19. Jahrhunderts für etliche Verwirrungen auf dem Kunstmarkt.37 Auch der Terminus ‚Rokoko‘ taucht bereits vor dieser Zeit auf, wird jedoch erst 1842 offiziell in einem Zusatz zum 1835 erschienenen Dictionnaire de l’Académie Française aufgeführt.38 Wohl als Amalgam aus ‚rocaille‘, ‚coquille‘ und/oder ‚baroque‘, entsteht der Begriff zunächst als klassizistische Kritik am Altmodischen.39 Diese Konnotation des allgemein Unzeitgemäßen und Altmodischen behält ‚Rokoko‘ laut Hyde noch bis Ende des 19. Jahrhunderts 40 und bleibt zeitgleich eine unscharfe Bezeichnung für die grobe Zeitspanne von der Régence bis zur Herrschaft Louis’ XVI.41 Lediglich in Deutschland 42 bildet sich ‚Rokoko‘ schon während des 19. Jahrhunderts als konkreter Stilbegriff heraus und meint damit laut Scott „forms produced by artistic practices in France roughly during the reign of Louis XV (1723 – 1774)“.43 Es gilt daher hier und im Folgenden ­zwischen einer kunsthistorischen Stilbezeichnung und 35 Vgl. Kluge, Dorit: Kritik als Spiegel der Kunst. Die Kunstreflexionen des La Font de Saint-­Yenne im Kontext der Entstehung der Kunstkritik im 18. Jahrhundert. Phil. Diss. Koblenz-­Landau 2007, Weimar 2009, S. 167. 36 Vgl. Hyde, Melissa Lee: Rococo Redux. From the Style Moderne of the Eighteenth Century to Art Nouveau. In: Ausst.-Kat.: Rococo. The Continuing Curve, 1730 – 2008. New York, Smithsonian’s Cooper-­Hewitt, National Design Museum, 2008, S. 13 – 21, hier S. 13; Ireland, Ken: Cythera Regained? The Rococo Revival in European Literature and the Arts, 1830 – 1910. Madison, NJ 2006, S. 97. 37 Vgl. Greenhalgh, 2000, S. 41. 38 Vgl. Ireland, 2006, S. 97. 39 Vgl. Bauer, Hermann; Sedlmayr, Hans: Rokoko. Struktur und Wesen einer europäischen Epoche. Köln 1992, S. 8 f; Ireland, 2006, S. 97. 40 Vgl. Hyde, 2008, S. 14. 41 Hyde, Melissa: Making-­Up the Rococo. François Boucher and His Critics. Los Angeles 2006, S. 10 f. 42 Vgl. Riehl, Wilhelm Heinrich: Der Kampf des Rococo mit dem Zopf. In: Culturstudien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart 1859, S. 127 – 143. 43 Scott, Katie: Foreword. Rococo Echo: Style and Temporality. In: Hyde, Melissa Lee; Scott, Katie (Hg.): Rococo Echo. Art, History and Historiography from Cochin to Coppola. Oxford 2014, S. 1 – 30, hier S. 3.

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einem eher schematischen Kulturbegriff zu unterscheiden. Da Letzteres für das 19. Jahrhundert bis auf wenige Ausnahmen in der frühen deutschsprachigen Kunstgeschichte eine weit größere Verbreitung findet, werde ich mich ebenfalls einer solchen Begriffsverwendung anschließen. Damit stimme ich außerdem mit der aktuellen Forschungsliteratur zur Rokoko-­Rezeption überein: Es handelt sich dabei um ein noch recht junges Forschungsfeld. Obwohl Werner Busch in seinem Buch „Die notwendige Arabeske“ (1985), in dem er den „Wandel der Ikonographie zur Allegorie“ 44 im späten 18. und 19. Jahrhundert nachvollzieht, bereits Beispiele der kritischen Rokoko-­Rezeption in der deutschen Romantik anbringt, dürfte Ken Ireland mit seiner umfassenden Studie „Cythera Regained?“ (2006) doch einer der ersten sein, der sich ausführlich, aber noch überblicksartig mit dem Thema ­auseinandersetzt.45 Er bringt darin auch erstmals Beardsleys Œuvre konkret mit dem Phänomen in Zusammenhang.46 Ihm folgt 2008 der Ausstellungskatalog „Rococo. The Continuing Curve“ des Smithsonian Design Museums, der vor allem die kunstgewerb­ liche Rezeption der Rocaille bis in die Gegenwart zum Anlass nimmt.47 Schließlich handelt es sich bei zwei 2014 erschienenen Sammelbänden zur Rokoko-­Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts um den aktuellen Forschungsstand zum Thema. Vogtherr, Preti und Faroult legen mit dem Band „Delicious Decadence“ die bedeutendste Publi­ kation zur romantischen bis dekadenten Auseinandersetzung mit dem französischen 18. Jahrhundert vor.48 Doch befassen sie sich lediglich mit malerischen Erzeugnissen und behandeln für diese Arbeit verhältnismäßig wenige Anknüpfungspunkte der Rokoko-­Rezeption für die Analyse von Beardsleys Bildern. Eine Veröffentlichung, auf die ich mich indes vermehrt beziehen werde, ist der Band „Rococo Echo“ von Melissa Lee Hyde und Katie Scott, in dem die Autorinnen und Autoren die Entwicklung der Rokoko-­Rezeption von den Goncourts über Montesquiou bis hin zu Andy Warhol, Sofia Coppola und Nicki Minaj nachvollziehen.49 In dieser Literatur bedient man sich hauptsächlich des Begriffs ‚Rokoko‘ mit einem jeweiligen Zusatz. Ken Ireland beispielsweise verwendet den Passus „rococo revival“, ­dessen ersten Bestandteil er folgendermaßen herleitet:

44 Busch, Werner: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin 1985, S. 13. 45 Vgl. Ireland, 2006. 46 Vgl. ebd.: Ireland beschränkt sich auf knappe Analysen von drei Werkbeispielen Beardsleys: The Pierrot of the Minute (S. 34 f.), The Story of Venus and Tannhäuser (S. 57) und The Rape of the Lock (S. 165 – 176). 47 Vgl. Ausst.-Kat.: Rococo. The Continuing Curve, 1730 – 2008. New York, Smithsonian’s Cooper-­ Hewitt, National Design Museum, 2008. 48 Vgl. Vogtherr, Christoph; Preti, Monica; Faroult, Guillaume (Hg.): Delicious Decadence. The Rediscovery of French Eighteenth-­Century Painting in the Nineteenth Century. Surrey 2014. 49 Vgl. Hyde, Melissa Lee; Scott, Katie (Hg.): Rococo Echo. Art, History and Historiography from Cochin to Coppola. Oxford 2014.

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„It implies the adoption by new generations in the nineteenth century of the original eighteenth-­century style, but does not rule out phases of development within the individual arts nor national expressions.“ 50

Den Zusatz „revival“ entlehnt Ireland den unterschiedlichen anderen historischen Rezeptionen, die während des 19. Jahrhunderts alternierend und parallel auftreten und setzt so das „rococo revival“ auf eine Stufe mit dem „gothic revival“, wobei er für Ersteres einen Schwerpunkt in der literarischen Rezeption feststellt.51 Katie Scott stellt im Vorwort zum Sammelband „Rococo Echo“ den gleichnamigen Begriff vor und räumt sogleich ein, dass sie sich der Ungenauigkeit der Bezeichnung ‚Rokoko‘ sehr wohl bewusst ist. Sie erklärt deren Verwendung daher unter folgenden Voraussetzungen: „… in the sense of a collection of recognised formal conventions and to denote a more or less stable identifying discourse“.52 Von „Echo“ wird in überzeugender Weise gesprochen, da der Terminus eine Unschärfe in der Rezeption bereits andeutet und außerdem eher einen Widerhall des 18. im historisch nahegelegenen 19. Jahrhundert herausstellt als eine bloße Wiederbelebung einer lange vergangenen Epoche, wie der des Mittelalters. Zusätzliche Legitimierung bekommt der Begriff durch die Herleitung aus Jules Michelets (1798 – 1874) Geschichtsverständnis: „Jules Michelet construed the past as a ‚voice‘ whose message the historian was beholden to echo and preserve.“ 53

In diesen und anderen Publikationen bekommt der Stilbegriff ‚Rokoko‘ als Rezep-­ tionsphänomen somit eine weitreichendere Bedeutung zugeschrieben, die eine größere Zeitspanne und ein als allgemein verstandenes Lebensgefühl des Jahrhunderts mit einschließt. Katie Scott fasst dies wie folgt zusammen: 50 51 52 53

Ireland, 2006, S. 17. Vgl. ebd., S. 29. Scott, 2014, S. 3. Ebd., S. 5. Vgl. Michelet: Histoire de France, Bd. IV . Paris 1869 – 1876, S. 1. Karl Heinz Metz beschreibt ­dieses Geschichtsverständnis Michelets mit dem ebenfalls von ihm gebrauchten Begriff der „résurrection“: „Wenn Michelet daher die Historiographie eine ‚résurrection intégrale du passé‘ nennt, so denkt er vor allem an die ‚schweigenden Schatten‘ der Geschichte, an das Volk, das keine Stimme besitzt. […] Der Historiker, ausgestattet mit der Gabe der stellvertretenden Erinnerung, ein wahrer magister memoriae, wird zum Retter – wie zum Richter der Schatten.“ Metz, Karl Heinz: Die Resurrektion der Geschichte. Ein Beitrag zum historischen Denken Jules Michelets und zur Entstehung des Nationalismus im 19. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 65, 1983, S. 451 – 478, hier S. 453. Beth Wright nennt Michelets Verständnis von Geschichte als einer Stimme aus der Vergangenheit einen antielitären Passus des liberalen Historikers: „Michelet, and other liberal and Saint-­Simonian historians who wished to ‚hear‘ the past, describing history as a cultural dynamic which could be recognized empathetically by the populace instead of objectively by an erudite elite.“ Wright, Beth S.: ‚That Other Historian, the Illustrator‘: Voices and Vignettes in Mid-­Nineteenth Century France. In: Oxford Art Journal 23, 2000, S. 115 – 136, hier S. 117.

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„… notions of rococo style were based less on specific form and syntax and more on historical and social causes: the aristocratic wit and absolute pleasure it was said to embody.“ 54

Der Stilbegriff evoziert also gleichsam ein ganzes kulturelles Assoziationsgeflecht, weshalb insbesondere in den Bildkünsten weniger der Rokokostil als vielmehr die damit verbundene Lebensart rezipiert wird. Einzelne Motive stehen dabei Pate für die Ganzheit der imaginierten Epoche. Diese Auffassung soll nun auch die anschließenden Analysen der Werke Beardsleys prägen, der, wie sich zeigen wird, ebenfalls stärker auf Geisteshaltungen, Moden und Motive des 18. Jahrhunderts rekurriert als Stilvorlagen zu kopieren. Da jedoch die oben genannten Publikationen mit ihren jeweiligen Formulierungen von Rokoko-­Rezeption einen Fokus auf die Auseinandersetzung mit französisch-­höfischer Kultur dieser Epoche legen, wird in meiner Arbeit ebenso von einem ‚18. Jahrhundert‘ die Rede sein, welches auch andere Nationalitäten in diesen speziellen Historismus integrieren kann. So ist dabei die Relevanz des englischen 18. Jahrhunderts und seiner Diskurse für Beardsleys Schaffen keinesfalls zu unterschätzen. Denn während das französische Rokoko die Oberfläche seiner Werke ab 1896 dominiert, sind die theoretischen Grundlagen für die Art und Weise, wie Beardsley mit seinen bildlichen Vorlagen umgeht, im England von Pope und Hogarth zu suchen. Um diese Gegenüberstellung herausarbeiten zu können, wird in den Kapiteln 3 und 4 zunächst eine grundlegende Verortung des Künstlers in seiner Zeit unternommen. Fürs Erste soll daher Beardsleys zwar zeitlich kurze, doch überaus produktive und vielfältige Schaffensphase skizziert werden, wobei ich im Fokus meiner Arbeit stets das bereits früh ausgeprägte Interesse des jungen Zeichners für die Kultur des englischen und französischen 18. Jahrhunderts pointiere. Die Selbstinszenierung Beardsleys spielt in d ­ iesem Verlauf immer wieder eine bedeutende Rolle, weshalb ich mich dieser Persona auch mittels der Interpretation eines seiner wohl wichtigsten Krypto-­Selbstportraits als „Abbé“ (1896) für sein eigenes Romanfragment Under the Hill nähern will. Bereits hierin werden die Anleihen Beardsleys an einem weitgefassten Begriff von Ancien Régime, Rokoko und Barock deutlich sowie deren inhärente Möglichkeiten, einen selbstkritischen Kommentar im Selbstbildnis zu hinterlassen. Es handelt sich bei ­diesem ersten Analysebeispiel demnach nicht um ein Frühwerk des Künstlers. Auch in den anschließenden Kapiteln werde ich den ersten chronologischen Überblick n ­ utzen, um Bildbeispiele aus unterschiedlichen Werkphasen heranziehen zu können, wenn sie für den Untersuchungsschwerpunkt relevant werden. Die gewählten Beispiele orientieren sich also an Themenschwerpunkten und nicht an einer chronologischen Abfolge. Ein Jahr, das sich im Zuge meines monografischen Fokus als besonders relevant herausstellen konnte, ist das Jahr 1896, in dem Beardsley gleich mehrere Aufträge ausführt, die ihn in die kulturelle Sphäre des 18. Jahrhunderts lenken. Dazu gehört auch das Magazin

54 Scott, 2014, S. 10.

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The Savoy, welches er zusammen mit dem Autor und Kritiker Arthur Symons (1865 – 1945) sowie seinem Verleger Leonard Smithers (1861 – 1907) im selben Jahr herausgibt. In Kapitel 4 widme ich mich dieser Publikation im Besonderen, da sie eine der bedeutendsten Quellen für die Rokoko-­Rezeption der englischen 1890er darstellt. Zwar gestalten Beardsleys Illustrationen jenes Jahres die historisierende Erscheinung des Magazins maßgeblich mit, doch beteiligen sich auch andere Künstler und Autoren an d ­ iesem Interesse und positionieren sich mit libertinen Topoi des 18. Jahrhunderts vor dem viktorianischen Publikum. Daher wird an dieser Stelle auch ein im Savoy erschienenes Bild Beardsleys genauer analysiert, welches einen regelrechten libertinen Klischeetypus darstellt: den Comte Valmont aus Chorderlos de Laclos’ Liaisons dangereuses. Bevor ich im Hauptteil meiner Arbeit einen ikonografischen Schwerpunkt auf Motive und Figuren lege, die Beardsley dem 18. Jahrhundert entlehnt, werde ich die Auffassung des Zeichners von seiner Aufgabe als Illustrator näher beleuchten. Das beste Beispiel hierfür ist die 1896er-­Ausgabe von Alexander Popes The Rape of the Lock (1712/14), zu der Beardsley insgesamt neun Zeichnungen und eine Umschlaggestaltung beiträgt. Für den gewählten Themenschwerpunkt ist nicht nur ausschlaggebend, dass Beardsley hier ein Werk des frühen 18. Jahrhunderts illustriert, sondern auch, dass sich der Vergleich zu anderen historischen Ausgaben desselben Gedichtes anbietet. Ich habe mich dabei für die gewinnbringende Gegenüberstellung des Frontispizes und Titelblatts der ersten buchkünstlerisch gestalteten Ausgabe des Lockenraub von 1714 mit Beardsleys Variante von 1896 entschieden. Dies ermöglicht es mir, exemplarisch den produktiven und selbstreflexiven Austausch zu verdeutlichen, den Beardsley mit der langen Tradition der bebilderten literarischen Grundlage im Falle von Popes parodistischer Lyrik anstrebt. Zugleich möchte ich auf die enge Verbindung aufmerksam machen, die Beardsley mit Popes Ästhetik eingeht. Nicht nur, dass er dessen sprachliche Raffinessen in Zeichnungen umzusetzen vermag, er macht sich Popes Art zu eigen, Vorbilder zu parodieren oder zu travestieren. Dabei kann der Künstler auf genuin englische Diskurse des 18. Jahrhunderts, wie wit oder politeness zurückgreifen, ­welche ich in Kapitel 2.2 näher erläutern werde. Im sechsten Abschnitt und damit Hauptteil meines Textes werde ich dann auf drei Motive zu sprechen kommen, die im Œuvre Beardsleys einen je bedeutenden Platz einnehmen und vor allem für die Selbstinszenierung des Künstlers relevant sind. Abermals habe ich mit diesen Sujets Motive fokussiert, die für Beardsleys Auseinandersetzung mit der Kultur des 18. Jahrhunderts sinnfällig sind und zudem wichtige Aspekte der englischen Dekadenz und deren selbstkritischer Haltung aufzeigen können. Pierrot, Friseur und Andro­gyn zeigen sich in dieser Reihenfolge als Identifikationsfiguren des Künstlers und dienen ihm gleichzeitig für ein komplexes Geflecht aus Anspielungen, die das eigene Werk und die vermeintliche Zugehörigkeit zu einer künstlerisch intellektuellen Strömung kommentieren. Beardsley nutzt diese Figuren und die sie umgebenden Motive, um sich selbst eine Persona zu kreieren, die ihn dezidiert von einer bürgerlichen Ästhetik absetzt. Es handelt sich bei allen dreien um Typen der Maskerade im weitesten Sinne, die ihr Selbst durch die Möglichkeiten der Verkleidung und der Pose vor der Öffentlichkeit definieren und sich somit vom schwarzen Einheitsanzug des Viktorianers mittels Artifizialität distanzieren.

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Vor allem die enge Verbindung von Rokoko und Ästhetizismus wird in diesen Analysen immer wieder angesprochen. Diese präsentiert sich vordergründig als eine Wahlverwandtschaft ­zwischen zwei geistesgeschichtlichen Strömungen, denen die Schönheit und die Oberfläche anscheinend weit mehr gilt als der Inhalt oder die Moral. In zweiter Instanz zeigt sich jedoch, dass diese Analogie von den decadents der 1890er Jahre bewusst gewählt ist, um den nunmehr überholten Ästhetizismus der vorherigen Künstlergeneration der 1870er parodistisch in Frage zu stellen. Die beiden folgenden Kapitel setzen schließlich einen kulturhistorischen Fokus, wenn ich mich darin zum einen mit Beardsleys Rezeption von Erotika und Pornografie des 18. Jahrhunderts auseinandersetze und zum anderen den Zusammenhang von Chinoiserie und Japonismus anhand eines konkreten Beispiels aus den berüchtigten Illustrationen zu Aristophanes’ Komödie Lysistrate darstellen werde. Wie auch in den zuvor behandelten Themenschwerpunkten nutze ich dabei die eingehende Bildanalyse, w ­ elche um eine Diskursanalyse des jeweiligen kulturhistorischen Hintergrundes erweitert wird, um Aussagen über mögliche Kontinuitäten z­ wischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert treffen zu können. So erweist sich etwa die große Verbreitung von Erotika unterschiedlichster Qualitäten während des 18. Jahrhunderts als Ausgangspunkt für eine andauernde Verquickung von allem Französischen mit allem Erotischen, sodass das eine zur Chiffre des anderen wird. Dies weiß Beardsley noch in seinen Werken zu n ­ utzen. Auch die Exotismen des 18. und 19. Jahrhunderts zeigen sich in einer ungeahnt engen Verwandtschaft, wenn der Japonismus, für den Beardsleys Schaffen gewissermaßen Pate steht, auf Topoi der Chinoiserie rekurriert und beispielsweise die schöne Frau zum wichtigsten Agens seiner Kultur macht. Nach diesen verschiedenartigen Schwerpunkten, die allesamt das große Thema von Beardsleys Rokoko-­Rezeption vereinen und zeigen, inwiefern dies auf einen Großteil seines Schaffens übertragbar ist, werden die Gründe für diese Mannigfaltigkeit in die Einheit eines Begriffes gebracht. Hierfür sei der seit den 1920er Jahren im anglophonen Bereich gebräuchliche Begriff des Camp angeführt, der es meiner Meinung nach ­vermag, die unterschiedlichen Aspekte der Rokoko-­Rezeption Beardsleys und die Verbindung von Rokoko und Dekadenz zu vereinen. Obwohl diese nur selten konkret definierte Kategorie erst nach Beardsleys Tod aufkommt, werde ich insbesondere anhand der Notes on ‚Camp‘ von Susan Sontag (1964)55 die Parameter dieser Ästhetik, die sich aus Übertreibung und Parodie speist, auf das von mir untersuchte Phänomen beziehen. Camp, das Sontag auch als „the delicate relation between parody and self-­parody“ 56 beschreibt, ermöglicht nicht nur in ­diesem Bereich eine Vereinbarkeit von Rokoko und der Kunst Beardsleys. Auch dem modernen Topos der Selbstreflexion ist mit ­diesem Parodie-­Begriff beizukommen. Christoph Zuschlag spricht in einem Aufsatz von 2002 von einer vermeintlichen Erweiterung des tradierten Zitierens und Paraphrasierens von kunstgeschichtlichen ­Vorbildern 55 Vgl. Sontag, Susan: Notes on ‚Camp‘. In: Cleto, Fabio (Hg.): Camp. Queer Aesthetics and the Performing Subject. Edingburgh 1999, S. 53 – 65. 56 Ebd., S. 58.

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in der Moderne bzw. Postmoderne, wofür er den Begriff „Metakunst“ anwendet.57 Hier wird eine kunsthistorische Entwicklungsgeschichte aufgerufen, der ich in dieser Arbeit entgegen treten will. In meinen Analysen zeichnen sich sowohl die Bildkünste des 18. Jahrhunderts (parallel zur zeitgenössischen Literatur) als auch Beardsleys Zeichnungen stets durch einen den eigenen Kunstwerkstatus und zugleich die Zugehörigkeit zu einer aktuellen Kunstströmung hinterfragenden Modus aus. Dies tun beide mit den Mitteln, die der Parodie eigen sind: der verzerrende Rückbezug auf kanonische und genuin nicht-­ kanonische Vorbilder sowie die Übertreibung. Damit sehe ich keinen qualitativen Unterschied in Fragen der Selbstreflexion und Metaebene, wie Zuschlag sie in seinem Essay andeutet. Insbesondere die Parodie begreife ich als ein ästhetisches Instru­mentarium, welches stets ­zwischen entwicklungsgeschichtlichen ­Wahrnehmungen von Kunst zu verorten ist und diese folglich hinterfragt. Somit wird sich Beardsleys Rezeptionsweise als ein Bindeglied ­zwischen tradierten Techniken des Zitats und der Paraphrase und der plakativen Aneignung kunsthistorischer Vorbilder der (Post-)Moderne herausstellen. Der hauptsächliche ‚Bruch‘ ­zwischen diesen beiden lässt sich allerdings – und dies hat Zuschlag bereits treffend formuliert – auf der medialen Ebene suchen. ­Beardsley befindet sich an der Schwelle zu einem „Jahrhundert der Massenmedien“,58 in dem Kunst zwar nicht mehr nur einer elitären Gruppe zugänglich ist, aber gleichzeitig durch Presse und Werbung nutzbar gemacht und gelenkt wird. Daher wird sich zeigen lassen, wie Beardsleys künstlerische Aneignungen stets z­ wischen plakativer Wirkung und hinter­ gründigem Verweis oszillieren. Am Schluss meiner Dissertation zeigt ein Ausblick, inwiefern im 20. Jahrhundert selbst der andere modernistische Mythos von der Normverletzung 59 immer wieder durch die Bezugnahme auf das 18. Jahrhundert unterwandert wird. So ist es für die Qualität von Beardsleys Kunst weder von Nöten, sie in den Hochkunstkanon der Alten Meister einzubetten, noch sie in die Genealogie der Moderne zu integrieren. Vielmehr steht Beardsley in einer ästhetischen Tradition des 18. Jahrhunderts, in der die unterschiedlichen ‚Formhöhen‘ der Künste und Gattungen erstmals hinterfragt und aufgelöst werden 60 und somit die Grundlagen für ein Kunstverständnis geprägt wird, das bis heute erprobt werden will und in Beardsleys Werken einen besonders bemerkenswerten Ausdruck von produktiven Widersprüchen und Syntheseleistungen erfährt. Was diese Arbeit leistet, ist es, eine Analyse und Interpretation außerhalb kunsthistorischer Hierarchien auf das Werk eines außergewöhnlichen Zeichners anzuwenden und damit ein selbstreflexives Kunstwollen sichtbar zu machen, welches Rezipienten zugleich fordert und amüsiert. 57 Vgl. Zuschlag, Christoph: Vom Kunstzitat zur Metakunst. Kunst über Kunst im 20. Jahrhundert. In: Ausst.-Kat.: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. München, Haus der Kunst, 2002, S. 170 – 189. 58 Ebd., S. 189. 59 Vgl. Hofmann, Werner: Das gespaltene Pathos der Moderne. In: Herding, Klaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin 2004, S. 378 – 399, hier S. 378 f. und S. 392. 60 Vgl. ebd., S. 379, 382 und 384.

2 Geistesgeschichtlicher Hintergrund: Rokoko-Rezeption im 19. Jahrhundert Die folgende Einführung in die Rezeption des 18. Jahrhunderts in Frankreich wird einige Aspekte des Phänomens veranschaulichen, die für Beardsleys Herangehensweise an seine ikonografischen und stilistischen Anleihen relevant sind. Seit der Romantik findet die Rezeption des 18. Jahrhunderts vornehmlich in der Literatur statt. Dabei greifen jedoch Literatur, Kunst und Kunstgewerbe eng ineinander und die Beschreibung eines Gemäldes kann Anlass für eine Kurzgeschichte oder ein Gedicht sein. Umgekehrt entfaltet sich die bildkünstlerische Rezeption literarischer Motive besonders im Grenzbereich zum Kunstgewerbe in der Illustration oder – im späteren 19. Jahrhundert – in der Plakatkunst. Auf einige Beispiele wird in der Folge der Arbeit noch einzugehen sein. Für das Brechen mit bürgerlichen, ästhetischen Traditionen werden besonders die zunächst am Rokoko kritisierten Eigenschaften nutzbar gemacht. Im Folgenden wird zudem gezeigt, dass das Auflösen von Geschlechteridentitäten in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts sowie das Bild des perversen und dekadenten Aristokraten für die Genese des modernen Dandys im ausgehenden 19. Jahrhundert entscheidende Faktoren sind. Der „ennui“ des effeminierten Aristokraten, der sich mit Nichtigkeiten der Mode von seiner Langeweile abzulenken sucht, wird zur kritischen Instanz. So beschreibt Elizabeth Goodstein die existenzielle Langeweile als eine ‚Erfahrung ohne Inhalt‘.1 Für den Ästheten des fin de siècle wird diese „Erfahrung ohne Inhalt“ offenbar zum Postulat der Kunst um ihrer selbst willen.

2.1 „Aristokraten des Geschmacks“ – Rokoko-Rezeption im Frankreich des 19. Jahrhunderts „Ce sont ces causes, et incontestablement l’éducation de l’œil des gens du XIXe siècle, et encore un sentiment tout nouveau, la tendresse presque humaine pour les choses, qui font, à l’heure qu’il est, de presque tout le monde, des collectionneurs et de moi en particulier le plus passionné de tous les collectionneurs.“ 2

1

Goodstein, Elizabeth: Experience Without Qualities. Boredom and Modernity. Stanford, California 2005. 2 Goncourt, Edmond de: La Maison d’un artiste. Paris 1881, S. 3. Übersetzung der Autorin: Diese Ursachen sind es, sowie zweifellos die Erziehung des Auges der Menschen des 19. Jahrhunderts, und auch noch ein ganz neues Gefühl – eine fast menschliche Zuneigung zu den Dingen – die heutzutage aus allen Menschen Sammler macht, und aus mir insbesondere den leidenschaftlichsten aller Sammler.

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So beschreibt Edmond de Goncourt die leidenschaftliche Liebe zu den Objekten in seiner Pariser Wohnung zu Beginn des Buches La Maison d’un artiste (1881). Als eine fast menschliche Liebe (oder Zuneigung) bezeichnet der ältere der berühmten Goncourt-­ Brüder hier exemplarisch seine Beziehung zum historischen Gegenstand oder objet d’art. Diese manchmal sogar erotisierte Beziehung, wie Jules und Edmond de Goncourt sie im langjährig gemeinsam geführten Tagebuch immer wieder thematisieren,3 ist es auch, die die Essenz des historischen Interesses dieser beiden Persönlichkeiten für das 18. Jahrhundert bestimmt. In der Beschäftigung mit der Rezeption des Ancien Régime im 19. Jahrhundert, ist es kaum möglich, den Schriften und Sammlungsstücken der Goncourts zu entgehen. Als selbsternannte Kenner der Kunst und ‚Sitten‘ des 18. Jahrhunderts wie auch als passionierte Sammler und Kommentatoren japanischer Holzschnitte und kunstgewerblicher Gegenstände repräsentieren die Brüder mit ihrem Lebensinhalt und ihren Publikationen eine entscheidende Schnittstelle in der ästhetischen Rezeption des 19. Jahrhunderts.4 Oszillierend ­zwischen nostalgischer Sehnsucht nach vergangener aristokratischer Eleganz und der Neugier für das exotisch Andersartige bilden die Schriften der Goncourts eine oftmals unverzichtbare Basis für das ästhetische und kritische Verständnis jener Objekte. Außerdem ist insbesondere das breitgefächerte Interesse der Brüder für tradierte künstlerische Medien, wie Malerei und Skulptur, aber auch für die Dinge des Alltags hervorzuheben.5 Die nostalgische Sammelleidenschaft der Goncourts bezieht sich vor allem auf hochwertige Produkte (objets d’art) von namhaften Künstlern, Handwerkern oder Werkstätten sowie Objekte von hohem ideellen bzw. kulturhistorischen Wert, vorrangig aus dem 18. Jahrhundert. In dieser Einschränkung wenden sie sich dezidiert gegen den Materialismus des industriellen Zeitalters, in dem das einst einzigartige Kunsthandwerk wahllos reproduzierbar und applizierbar wird.6 Damit stimmen sie ein in Ideale des ­Ästhetizismus.

3

Vgl. Silverman, Debora: Art Nouveau in Fin-­de-­Siècle France. Politics, Psychology, and Style. University of California 1989, S. 35. Silverman bezieht sich hier auf Träume oder Imaginationen, die beide Brüder in Bezug auf eine erotische Vereinigung mit Porzellanstatuetten oder Skulpturen in ihrem Tagebuch beschreiben. 4 Vgl. Ireland, 2006, S. 138. 5 An dieser Stelle sei bereits auf die unterschiedlichen Termini in Bezug auf die Sammelleidenschaft des 19. Jahrhunderts hingewiesen. Edith Wharton stellt diese in ihrer Schrift „The Decoration of Houses“ (1898) vor: „French speech has provided with at least three designations, each indicating a delicate and almost imperceptible gradation of quality. In place of bric-­à-­brac, bibelots, objets d’art, we have only knick-­knacks – defined by Stormonth as ‚articles of small value‘.“ Wharton, Edith: The Decoration of Houses. London 1898, S. 184. Rémy Saisselin ergänzt hierzu: „The connotations were not the same: any object might be a bibelot for some individual; bric-­a-­brac referred to an ensemble of objects, good, bad, indifferent, and amounted to clutter; the objet d’art implied a quality above the others.“ Saisselin, Rémy G.: Brica-­bracomania. The Bourgeois and the Bibelot. London 1985, S. 71. 6 Was Jerome Hamilton Buckley für den kulturellen Antimaterialismus im viktorianischen Zeitalter konstatiert, kann hier in ähnlicher Weise auf dieselbe Epoche in Frankreich bezogen sein: „True

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Debora Silverman, die die Goncourts außerdem zu Recht als Ausgangspunkt für die Entstehung des Art Nouveau ansieht, zählt folgende Gegenstände aus ihrem Besitz auf: „Their consuming fever of identification with the elite of the Old Regime compelled them to assemble relics of the nobility’s daily life: fashion manuals, address cards, signs, invitations to masked balls, memoirs of the mistresses of Louis XV, furniture, fire screens, jewellery, picture frames, porcelain bowls, vases, boxes of all shapes and sizes, tapestries, candelabra, and many etchings, engravings, and pastels.“ 7

Diese Auswahl belegt nochmals das genuin aristokratische Interesse der Brüder. Ihre eigene Herkunft ist ­zwischen Adel und Bürgertum anzusiedeln und die Brüder sehen unter anderem darin Anlass genug, das niedere Bürgertum als vulgäre Philister zu bezeichnen und ihr Lebensziel auf eine Erneuerung der Kultur und Lebenswelt Ludwigs XV. auszu­ ieses Strebens ist für sie das private Interieur. Ab 1869 ziehen richten.8 Ausgangspunkt d sich die beiden in ihr Haus nahe des Bois de Boulogne in Auteuil zurück und umgeben sich mit ihren Sammlerstücken. Das private Anwesen, die darin enthaltenen Güter und deren Anordnung oder Präsentation verstehen sie als eine maßgebliche Abgrenzung zum öffentlichen Museum, das nur den bildungsfernen Schichten diene. Die Möglichkeit, im eigenen Interieur wertvolle Gegenstände im Detail studieren zu können, sei die weit noblere Art, die Kultur des 18. Jahrhunderts wieder aufleben zu lassen.9 Diese Geisteshaltung führt wohl auch dazu, dass sich heute im ehemaligen Wohnhaus der Goncourts nicht etwa ein liebevoll erhaltenes Museum mit all ihren gesammelten Möbeln, Kunstwerken und bric-­à-­brac befindet, sondern die Maison des écrivains et de la littérature der Preisträger des renommierten Prix de Goncourt. Der Nachlass der Brüder wird nach dem Tod Edmonds 1896 versteigert und verkauft.10 Dies ist vor allem bemerkenswert, da auch Aubrey Beardsley von d ­ iesem Verkauf profitiert und sich zwei Kupferstiche nach Gemälden François de Troys (1645 – 1730) sichern kann.11 Ein ‚Musée des Goncourts‘ wäre indes eine Komplettierung der durchaus reichhaltigen Pariser Sammlungen, w ­ elche die Rezeption des 18. Jahrhunderts in Sammlerkreisen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Thema haben. Unter diesen ließe sich das 1913 eröffnete Musée Jacquemart-­André nennen, das im prächtigen Wohnhaus des Ehepaares Edouard André (1833 – 1893) und Nélie Jacquemart (1841 – 1912) am Boulevard

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culture was inner, spiritual, and creative, whereas ‚megalopolitan civilization‘ was extroverted, materialistic, and imitative“. Buckley, 1966, S. 83. Silverman, 1989, S. 20. Vgl. ebd., S. 17 – 19. Vgl. Scott, 2014, S. 7. Vgl. McClellan, Andrew: Vive l’Amateur! The Goncourt house revisited. In: Hyde, Melissa Lee; Scott, Katie (Hg.): Rococo Echo. Art, History and Historiography from Cochin to Coppola. Oxford 2014, S. 87 – 107, hier S. 87. Vgl. Letters, 1990, S. 308 f. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 26. April 1897, Hôtel Voltaire, Paris. Aubrey Beardsley an Mabel Beardsley, 26. April 1897, Hôtel Voltaire, Paris.

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Haussmann deren Kollektion von Einrichtungs- und Kunstgegenständen beherbergt. In ­diesem Bestand ist sowohl ein Schwerpunkt in der italienischen Renaissance festzustellen, der vor allem in den Privat- und Arbeitsgemächern Ausdruck findet, aber auch eine Betonung des französischen Rokoko als geeigneter Stil für die Repräsentationsund Empfangsräume. Des Weiteren stellt die Präsentation der eindrucksvollen Sammlung von Marie-­Louise Jay (1838 – 1925) und Ernest Cognacq (1839 – 1928) im Hôtel Donon eine bedeutende Demonstration des Interesses wohlhabender Pariser Bürger an der Kunst und Kultur des 18. Jahrhunderts dar. Die Besitzer des Warenhauses La Samaritaine fügen seit Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Gemälde namhafter Künstler des französischen Rokoko, wie Boucher, Fragonard oder Huet, sowie Kleinstgegenstände des täglichen Lebens jener Epoche, wie Pillendöschen, Zigarrenetuis oder Taschenuhren zusammen und vermachen diesen Bestand 1928 der Stadt Paris.12 Das ästhetisch wie historisch sicherlich beeindruckendste Museum in dieser Reihe dürfte jedoch das seit 1936 öffentlich zugängliche Musée Nissim de Camondo sein. Moïse de Camondo (1860 – 1935) lässt sein Wohnhaus am Parc Monceau ­zwischen 1911 und 1914 nach dem Vorbild des Petit Trianon in Versailles erbauen und gestaltet sämtliche Räumlichkeiten mit herausragenden Stücken des Kunstgewerbes sowie der Malerei und Grafik des 18. Jahrhunderts.13 Die Illusion eines herrschaftlichen Palais des Ancien Régime wird bis ins Detail aufrechterhalten und einzig durch die Raumfolge sowie die praktikablen Einrichtungen von Küche, Bad und Fahrstuhl gebrochen. In Erinnerung an seinen im ­Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Nissim (1892 – 1917) veranlasst Moïse de Camondo, das Haus nach seinem eigenen Ableben als Museum fortzuführen; dies unter der Prämisse, dass die Einrichtung in keiner Weise geändert werde.14 Diese heute öffentlich zugänglichen Sammlungen spiegeln eine Entwicklung des 19. Jahrhunderts, währenddessen sich ein reges Interesse für das 18. Jahrhundert im Bereich der repräsentativen Inneneinrichtung wohlhabender Bürgerhäuser herausbildet. Die bürger­ liche Sammelleidenschaft des 19. Jahrhunderts reflektiert somit eine soziale und ästhetische Selbstverortung der neuen herrschenden Klasse.15 Zugleich ist sie Ausdruck des zeitgenössischen Historismus mit all seinen Vorzügen und Irritationen. So beschreibt Günter Häntzschel die Kehrseite dieser Sammeleuphorie wie folgt:

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Vgl. http://museecognacqjay.paris.fr/fr/son-­histoire (25. 02. 2019). Vgl. Legrand-­Rossi, Sylvie: The Nissim de Camondo Museum. Paris 2009, S. 11 – 18. Vgl. ebd., S. 10. Christoph Zeller merkt zu ­diesem Sachverhalt treffend an: „In der Sammlung hat sich der revolutionäre Geist des Bürgers erschöpft, denn hier durfte er sich ein mildes, ungefährliches Sanktuarium errichten, das für die mangelnde politische Mitsprache zumindest teilweise entschädigte. Das Resultat war von konservativer Prägung – als Bewahrer verteidigte der Sammler die alte Ordnung, die er soeben als eine neue zu erreichen glaubte.“ Zeller, Christoph: Magisches Museum. Aspekte des Sammelns in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Raabe-­Gesellschaft. Tübingen 2005, S. 74 – 103, hier S. 79 f.

30 |  Geistesgeschichtlicher Hintergrund: Rokoko-Rezeption im 19. Jahrhundert

„Die hinzugewonnenen Kenntnisse historischer Fakten und fremder Kulturen drohen […] vermeintlich feste Standpunkte zu relativieren und eine irritierende Unübersichtlichkeit heraufzubeschwören, unter der jegliche Orientierung verloren zu gehen droht.“ 16

Die menschliche Orientierungslosigkeit des industriellen Zeitalters findet also auch in und durch die großbürgerlichen Sammlungen ihren Niederschlag. Parallel wird die Freude am bric-­à-­brac auch für weniger Begüterte erschwinglich: Die industrielle Produktion ermöglicht die Herstellung und Verbreitung von Serienobjekten, die laut Häntzschel zu einem ‚programmierten Sammeln‘ führen.17 Die Dichotomie von exklusiver Sammeltätigkeit und seriell produzierter, über Kataloge bestellbarer Kollektionen bestimmt den Diskurs im 19. Jahrhundert. So ist insbesondere das französische Rokoko zugleich Ausdruck des distinguierten Kenners einer vermeintlich zu Unrecht in Verruf geratenen Epoche als auch applizierbare Chiffre für Massenprodukte. Parallel verläuft eine umso aufsehenerregendere künstlerische Rezeption von Motiven und Vorstellungen über die „décadence délicieuse“ 18 des Rokoko, die sich aus der Sammel­leidenschaft der Goncourts und ihrer Nachfolger bis ins 20. Jahrhundert hinein fortsetzt. Es handelt sich dabei zum einen um die bereits angesprochene Liebe zu den Dingen, die aus einer nostalgischen Sehnsucht nach einer anderen Gesellschaftsordnung und damit einhergehenden Idealvorstellung einer höfischen Kultur entspringt. Die Goncourts, Nélie Jacquemart, Ernest Cognacq oder Moïse de Camondo sammeln nicht nur Gemälde, Skulpturen und Tapisserien, sondern auch und vor allem Gegenstände wie Uhren, Möbel, Spiegel, Porzellan, Döschen und Schächtelchen, Bücher und Grafiken. Erst ­dieses bric-­à-­brac komplettiert die vollendete Versenkung in die Vergangenheit. Dabei scheint das vermeintlich unspektakuläre oder gar künstlerisch wenig beachtenswerte Etui ebenso bedeutsam, wie die großformatige Schäferszene oder der Chardin-­Druck an der Wand. Alles fügt sich zu einem für heutige Augen möglicherweise überladenen, aber dennoch harmonischen Ganzen. Zum anderen kann das französische Rokoko retrospektiv als eine Hochzeit des Interieurs verstanden werden. Alles an dieser Kunst ist gemacht für das Kleine, für den Innenraum oder die Pagode im Stadtgarten. Auch Ken Ireland stellt in seiner Studie über die Rokoko-­Rezeption im 19. Jahrhundert klar heraus: „Rococo’s domestic scale and interior origins are to prove decisive“.19 Stilistisch resultiert diese Entwicklung aus einer französischen Gegenbewegung zum großformatigen Pathos des italienischen Barock.20 Die Sicht auf das 18. Jahrhundert ist also zunächst geprägt von einem erhöhten Interesse an harmonischer Inneneinrichtung, in der Kunst und Kunstgewerbe ideal ineinander greifen. 16 Häntzschel, Günter: Sammel(l)ei(denschaft). Literarisches Sammeln im 19. Jahrhundert. Würzburg 2014, S. 101. 17 Vgl. ebd., S. 103. 18 Goncourt, 1881, Bd. I, S. 196. 19 Ireland, 2006, S. 20. 20 Vgl. ebd.

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Silverman folgend ist es denn auch diese Vorliebe des Rokoko für Dekoration und das Interieur, die nicht zuletzt durch die Rezeption der Goncourts wichtige Impulse für das spätere Verständnis des ‚Gesamtkunstwerks‘ im Jugendstil liefert.21 Auch in den Publikationen der Goncourts äußert sich deren Liebe zu den Dingen in theoretischer Herangehensweise an historisch aufarbeitenden Schriften und in kreativer Schaffenskraft, die sich aus intensiver Beobachtung und Sinneseindrücken speist. Bereits Paul Bourget (1852 – 1935) betrachtet die ‚bibelot-­Mentalität‘ als so allumfassend, dass er deren Einfluss auf den Schreibstil der Goncourts feststellt.22 Das literarische Sammeln festigt sich in ihrem Œuvre zu einem konstanten Topos, der sie von anderen europäischen Autoren des 19. Jahrhunderts unterscheidet, w ­ elche sich ebenfalls, doch nur gelegentlich der Vereinbarkeit von Sammel- und Schreibakt widmen (Zeller nennt etwa Fontane, Raabe oder Jean Paul).23 Die konstanten Inspirationsquellen bleiben für das gesamte Schaffen der Goncourts das französische Rokoko, der Japonismus und der Impressionismus. Beim Lesen ihrer Bücher wird immer wieder das Denken in Bildern und Objekten deutlich, welches beide praktizieren: die sogenannte écriture artiste. Es handelt sich dabei um eine Art ekphrastisches Schreiben, das Geschichte und Geschichten über Objekte und Oberflächen belebt. Über die Beschreibung eines Bildes, Kleides oder Gegenstandes gelangen die Brüder zu Aussagen, die ob ihrer Sprachgewalt geradezu allgemeingültig wirken. Aus der Anschauung von François de Troys Toilettenszenen wird dabei sogleich eine Sentenz über die Psychologie einer Epoche: „… dans ‹ la Toilette pour le bal › et ‹ le Retour du bal ›, le peintre de Troy avait déjà supérieurement exprimé la volupté lâche, molle, abandonnée de ce moment de l’histoire qui, au physique et au moral, semble le déshabillé du règne de Louis XIV.“ 24

Mit dieser zudem überaus sinnlichen Sprache nähern sie sich auch auf formaler Ebene dem ästhetischen Ideal eines Rokoko an, wie sie es imaginieren. Insbesondere die Bildkünste verpflichten sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts dem Postulat der sinnlichen Ansprache an die Betrachtenden. Die Freude der Rezeption ergibt sich nicht wie in der barocken Kunsttheorie aus der Intellektualität des Bildkonzepts, sondern aus der malerischen Ausführung ansprechender Bildgegenstände. Die teils haptisch wirkende Qualität der goncourtschen Sprache erklärt sich durch diese Ästhetik der Sinnlichkeit, hinter der Inhalt oder gar Moral zurücktreten.

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Vgl. Silverman, 1989, S. 17 und S. 30 – 32. Vgl. Saisselin, 1985, S. 70. Vgl. Zeller, 2005. Goncourt, 1881, Bd. I, S. 111. Übersetzung nach Goncourt, Edmond und Jules de: Die Kunst des 18. Jahrhunderts, Bd. II. München 1920, S. 109: „… in der ‚Toilette für den Ball‘ und in der ‚Rückkehr vom Ball‘ hatte der Maler de Troy schon meisterhaft das schlaffe, verweichlichte, zügellose Schwelgen in Lust und Wonne jenes Momentes der Geschichte ausgedrückt, der im Körperlichen und im Seelischen das Negligé der Regierung Ludwigs XIV. gewesen zu sein scheint.“

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Auch der Leser von Edmond de Goncourts Faustin (1882) wird nicht nur mit der beinahe nebensächlich geratenden Liebesgeschichte rund um die Schauspielerin Juliette Faustin, sondern ebenfalls mit detaillierten Beschreibungen ihrer Theatergarderobe konfrontiert. Und obwohl diese Heldin eine Zeitgenossin des Autors ist, scheint auch sie dem vorherigen Jahrhundert entsprungen. Dies stellt kein geringerer als die Hauptfigur aus Huysmans Roman À rebours (1884) fest: „Bien qu’elle vécût parmi nous et qu’elle fût bien et de vie et de corps de notre temps, la Faustin était, par les influences ancestrales, une créature du siècle passé, dont elle avait les épices d’âme, la lassitude cérébrale, l’excèdement sensuel.“ 25

Dass Huysmans als Protagonist der französischen Dekadenz hier auf Goncourts Faustin Bezug nimmt, ist nicht allein auf die Reihe der aktuellen künstlerischen und literarischen Referenzen im gesamten Buch zurückzuführen, sondern erklärt sich auch durch eine Wahlverwandtschaft der décadents mit der Sprache der Goncourts. Abermals in Rekurs auf Bourget steckt Michele Hannoosh die Parameter dekadenten Schreibens ab und kann den Stil der Brüder als einen Ursprung dekadenter Sprachtopoi begreifen. „Like Gautier, Bourget discusses Decadent style in terms of complication and specifically sees the écriture artiste of the Goncourts as a model of it, with inversions, unusual combinations, repetition, impressionistic notation, syntactical difficulties, and neologisms …“ 26

Auch Aubrey Beardsley lässt sich später in diese sprachliche Genealogie von den Goncourts zu Huysmans und seinen englischen Mitstreitern einfügen. Insbesondere die Verbindung von Sehen und Sprache, Bild und Text spielt für sein Werk eine entscheidende Rolle (Kap. 5). Ähnlich gestaltet sich die Lektüre der Schriften zur Kunst und Kultur des 18. Jahrhunderts, ­welche die Goncourts verfassen. Von zentraler Bedeutung für die vorliegende Studie sind dabei zum einen La femme au dix-­huitième siècle (1862) und zum anderen L’Art du dix-­huitième siècle (1859 – 1882). Es ließen sich außerdem Monografien über Marie ­Antoinette, Madame de Pompadour oder die Maitressen Ludwigs XV. nennen. Bei solch einer Aufzählung werden schnell die vordergründigen Interessensgebiete der Goncourts deutlich: die Frau und die Kunst des 18. Jahrhunderts sind für ihre Studien von weit größerer Bedeutung als politische Ereignisse in Jahreszahlen aufgezählt. Dies verrät zunächst die feminisierende Sicht auf die Kultur des Ancien Régime, wie sie nicht erst von den 25 Huysmans, Joris-­Karl: À rebours. Paris 1922, S. 237. Übersetzung nach Huysmans, Joris-­Karl: Gegen den Strich. Hgg. und übers. von Myriam Münz und Walter Münz, Leipzig 2006, S. 229: „Obwohl sie unter uns lebte und mit Leib und Leben unserer Zeit angehörte, war die Faustin vermöge altüberlieferter Einflüsse ein Geschöpf des vergangenen Jahrhunderts, von dem sie die seelischen Zutaten besaß, die Erschlaffung des Gehirns und den Überschuß an Sinnlichkeit.“ 26 Hannoosh, 1989, S. 47.

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Brüdern geprägt wird. Die aristokratische Frau ist für sie Dreh- und Angelpunkt sozialer Interaktion und vor allem Schlüsselfigur der künstlerischen Produktion, als Auftraggeberin und Modell gleichermaßen. Sie wird von ihnen genauestens in diesen und anderen gesellschaftlichen Funktionen untersucht; dies stets mit dem Impetus einer psychologisierenden Einsicht in das beschriebene Objekt.27 Die drastische Schilderung Huysmans’ von der „Erschlaffung des Gehirns und de[m] Überschuß an Sinnlichkeit“ meint schließlich das Phänomen des „ennui“, wie es auf das 18. Jahrhundert übertragen wird. Es ist der Überdruss, resultierend aus der Übersättigung mit Genuss und Laster, welcher die adelige Frau des Rokoko so interessant und zu einer möglichen Inkunabel der Dekadenz werden lässt. Sie wird damit zum Prototypen ­ ieses sich der dekadenten Kunstwesen – der femme fatale und der femme fragile: „müde d wiederholenden Aufwands und dieser immer gleichen Liebkosungen“.28 Der „ennui“ der adeligen Dame des Rokoko, die wir uns bis heute lagernd auf einer Chaiselongue, umgeben von rosa Stoffproben in Wolken aus Parfum und Puder vorstellen,29 wird damit zu einem prägenden Motiv der Kunst und Literatur insbesondere des ausgehenden 19. Jahrhunderts.30‚Die Frau‘, wie sie von den Goncourts verallgemeinernd benannt wird, ist im 18. Jahrhundert ungemein mächtig.31 Scheinbar regiert sie über die Gesellschaft und die Kultur. Jedoch finden sich auch in La femme au dix-­huitième siècle bereits Andeutungen auf die Übersättigung und psychologische Ermüdung der wohlhabenden Dame der Gesellschaft: „Point de repos, point de silence, toujours du mouvement, toujours du bruit, une perpétuelle distraction de soi-­même, voilà cette vie.“ 32

Damit und mit weiteren Einsichten in die Lebensumstände des 18. Jahrhunderts bieten die Schriften der Goncourts bis ins 20. Jahrhundert hinein eine wichtige Basis für die 27 Dies obwohl die Goncourts dem weiblichen Geschlecht privat eher vorurteilsbehaftet gegenüberstehen, wie bereits Elisabeth Badinter aus der Lektüre der Tagebücher entnommen hat. Vgl. Badinter, Elisabeth: Die Brüder Goncourt, Romanciers und Historiker der Frauen. In: Goncourt, Edmond und Jules de: Die Frau im 18. Jahrhundert. Übers. von Friedrich Griese, München, Zürich 1986, S. 7 – 58, hier S. 8. 28 Huysmans, 2006, S. 42. 29 Diese Vorstellung wird nicht zuletzt von Sofia Coppolas kongenialer Inszenierung von Kirsten Dunst als Marie Antoinette (2006) befördert. 30 Vgl. Belting, Hans: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst. München 1998, S. 141. 31 „Die Seele dieser Zeit, der Mittelpunkt dieser Welt, das nach allen Seiten seine Strahlen werfende Licht, der Gipfel, von dem alles herniederströmt, das Bild, nach dem alles sich formt, ist die Frau.“ Goncourt, Edmond und Jules de: Die Frau im 18. Jahrhundert. Übers. von Friedrich Griese, ­München, Zürich 1986, S. 383. 32 Goncourt, 1862, S. 105 f. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 166.: „Keine Ruhe, keine Stille, immer in Bewegung, immer umlärmt, eine ewige Ablenkung von sich selbst, das ist das Leben ­dieser Zeit.“

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(psychologische) Imaginationen dieser Epoche. Diese „intime[…] Geschichte“ 33 der Goncourts erwächst allerdings – und dies sollte nicht in Vergessenheit geraten – aus ihrer genuin bürgerlichen Sammelleidenschaft. Treffend fasst es Saisselin zusammen, wenn er resümiert: „The past itself was turned into a gigantic quarry of bibelots.“ 34 Dem Werk der Goncourt-­Brüder wurde an dieser Stelle ein solcher Raum zugestanden, um exemplarisch zu zeigen, w ­ elche Tendenzen die Rezeption des Ancien Régime oder des Rokoko im 19. Jahrhundert aufweist. Es ging dabei zum einen um das Herausstellen der Bedeutung des bibelot und bric-­à-­brac – der kleinen Sammlerstücke aus der Vergangenheit – für die ästhetische Betrachtung der Zeitgenossen. Daran anschließend ist es die Leidenschaft für das Interieur, w ­ elche bis zum horror vacui führen kann, die uns auch in den Werken Aubrey Beardsleys immer wieder begegnen wird. Auch wenn er selbst aufgrund seiner ständigen Wohnsitzwechsel kaum im Stande ist, eine ähnliche Sammlung wie später Moïse de Camondo anzuhäufen, findet sich Beardsleys imaginäres bric-­à-­brac in seinen Zeichnungen. Wie bei den Goncourts das poetologische Verfahren zur Entsprechung des Sammelns wird (und umgekehrt), stehen bei Beardsley die Dichte der Komposition und die Entstehung der Zeichnung dem Akt des Sammelns nahe. Dies wird nicht zuletzt in den zu besprechenden Szenen am Frisiertisch eindrucksvoll nachzuvollziehen sein (Kap. 5 und 6.2). Zusätzlich hat das kulturelle Bild, das die Goncourts vom 18. Jahrhundert zeichnen, großen Einfluss auf den jungen Künstler. Sie beschreiben diese Epoche als „décadence délicieuse“ als Zeitalter der „volupté“ 35 und überhaupt als das „französische Jahrhundert par excellence“.36 Viel mehr als der bloße Stil des Rokoko haben diese Vorstellungen eines Lebensgefühls Einfluss auf das Schaffen des Engländers, wie dies in der Folge deutlich wird. Die Goncourts gliedern ihre Schriften nur lose nach einer chronologischen Abfolge, wobei oftmals der Eindruck entsteht, die gesamte Epoche könne in wenigen Stichwörtern maßgeblich charakterisiert werden. Es stellt sich ein anachronistisch nostalgisches Verständnis einer nur vage begrenzten Zeit ein, die sicherlich schon während der Regentschaft ­Ludwigs XIV. beginnt und um die Französische Revolution einen diffusen Endpunkt sucht. Das vage Verständnis des Stilbegriffs fließt auch schon in die ersten kritischen Auseinandersetzungen von Zeitgenossen des eigentlichen Rokoko mit ein. Tatsächlich markieren diese gewissermaßen den Beginn beziehungsweise den fließenden Übergang von Rokoko zu Rokoko-­Rezeption. Im Gegensatz zur Kunst des Barock gibt es keine akademische Kunsttheorie, die den Stil oder seine ästhetischen Parameter zeitgenössisch auslotet,37 vielmehr liefert die Kunstkritik ein analytisches Konstrukt zur Malerei und Skulptur jener Jahre. Die negative Kritik wird an dieser Stelle hervorgehoben, da ihre Angriffspunkte besonders 33 34 35 36 37

Badinter, 1986, S. 43. Saisselin, 1985, S. 73. Goncourt, 1862, S. 130. Goncourt, 1986, S. 59. Vgl. Scott, 2014, S. 15.

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bedeutsam für das Verständnis der Kultur des 18. Jahrhunderts im 19. Jahrhundert und darüber hinaus werden. In einem Zeitalter, das sich retrospektiv gesehen extrem z­ wischen ‚Wollust‘ und Intellekt bewegt, bildet auch die Kunstproduktion ihre ästhetischen Pole. Ein Topos, der wiederholt in der zeitgenössischen Kritik und der darauf folgenden Rezeption auftritt, ist die Wahrnehmung der künstlerischen Formfindungen als Bizarrerie und groteske Übertreibungen. Dabei geht es vor allem um die kunstgewerblichen Entwürfe im Medium der Grafik, in dem sich der Stil des Rokoko wohl am deutlichsten ausdrückt. Der Kunsttheoretiker Jacques-­François Blondel (1705 – 1774) schreibt über die Entwerfer solcher Ornamente, Kartuschen oder Fantasiearchitekturen folgendes: „Les Lajoux, les Pinault, les Meissonier & leurs Copistes firent, si l’on peut s’exprimer ainsi, déraisonner en quelque sorte l’Architecture. On n’admit plus dans nos décorations que des contours extraordinaires, qu’un assemblage confus d’attributs placés sans choix, & alliés avec des ornements d’une imagination bisare [sic !], où l’on trouve un amas ridicule de cartouches de travers, de rocailles, de dragons, de roseaux, de palmiers, & de toutes sortes de plantes imaginaires qui ont fait pendant long temps le délices de nos décorations intérieurs […]. La quantité de gravures qui s’en sont répandues dans le public, indépendamment du grand nombre d’appartements qui subsistent encore avec ce mauvais goût de décoration, font assez connoître l’extravagance de ces compositions frivoles.“ 38

Die teils wahrhaft fantastischen Entwürfe sind aus Sicht ihrer Erfinder eher ein Ausdruck der spielerischen Ästhetik des ‚neuen Geschmacks‘. In Kombination mit exotischen Anleihen, wie sie im Bereich der Chinoiserie und Turquerie gehäuft auftreten, gerät das bizarre Element der bewegten und abstrakten Formen immer mehr in den Vordergrund. Eine kapriziöse Fülle an unterschiedlichen Versatzstücken aus Natur, Architektur und ‚Traum‘ werden dabei zusammen arrangiert und generieren Fülle und Überschwang, die dennoch dem Pathos des Barock diametral gegenüberzustellen sind. Die Assoziation des Rokoko mit einer Traumwelt setzt sich schließlich auch im romantischen Vokabular fort,39 wo Watteaus Spaziergänger zu Nachtwandlern werden und der Schwung der Rocaille als 38 Blondel, Jacques-­François: Cours d’architecture, ou, Traité de la décoration, distribution & construction des bâtiments: contenant les leçons données en 1750, & les années suivants, Bd. V. Paris 1777, S. 87. Übersetzung der Autorin: All’ die Lajoux, Pinaults, Meissoniers und ihre Nachahmer brachten, wenn man so will, die Architektur durcheinander. Bei den Dekorationen waren nur noch extravagante Linien erlaubt, ein verwirrtes Zusammenfügen wahllos gesetzter Attribute, noch mit Ornamenten der seltsamsten Fantasie vermischt, in denen die lächerlichste Anhäufung von schiefen Kartuschen, Rocaille, Drachen, Schilfgräsern, Palmen und aller Sorten imaginärer Pflanzen zu finden sind, die lange Zeit unsere Innenräume schmückten. […] Ohne von der großen Anzahl von Gemächern zu reden, die in d ­ iesem schlechten Geschmack immer noch zu sehen sind, zeigen die zahlreichen veröffentlichten Abbildungen dieser Interieurs genug Extravaganzen dieser frivolen Kompositionen. 39 Vgl. Hyde, Melissa Lee: Afterword. The Rococo dream of happiness as a ‚delicate kind of revolt‘. In: Hyde, Melissa Lee; Scott, Katie (Hg.): Rococo Echo. Art, History and Historiography from Cochin to Coppola. Oxford 2014, S. 337 – 350, hier S. 338.

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Ausdruck der verschlungenen Traumlandschaften verstanden werden kann. Was für die Entwurfszeichner des 18. Jahrhunderts nichts anderes als das Aufzeigen ihres Könnens und künstlerischen Einfallsreichtums ist, dehnt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Sphäre der beginnenden Psychologie aus. Während die weitaus diesseitigeren Bilder Chardins eine kontinuierlich positive Rezeption sowohl in ästhetischer Hinsicht als auch in Bezug auf Verkaufszahlen erfahren, wird Künstlern wie Fragonard oder Boucher kein solch ununterbrochenes Wohlwollen entgegengebracht.40 Vor allem letzterer wird schon zu Lebzeiten als „ladies‘ painter“ 41, wie Melissa Hyde es ausdrückt, gehandelt und für seinen effeminierten Stil gescholten. „Women, cosmetic artifice, bad taste, frivolous subjects, artistic decline: since the eighteenth century, this constellation of terms has haunted Boucher’s reputation.“ 42

An anderer Stelle nennt Hyde konkrete Beispiele für diesen Vorwurf an Bouchers Kunst sowie an allgemein als verwerflich begriffenen Tendenzen des Pariser Kulturbetriebs. „Rousseau’s diatribes against the effeminacy of men under the sway of women in Parisian Salons, and the sculptor Etienne Falconet’s comment that the use of a ‚feeble pink‘ had emasculated all French artists’ pictures, for which Boucher was largely to blame.“ 43

Anne-­Katrin Rossberg legt den zeitlichen Beginn der Kritik an der ‚Effemination‘ des Rokoko auf einen ganz bestimmten Zeitpunkt fest: „Erst in dem Moment, als kurz vor der Revolution die jüngere Vergangenheit reflektiert und die höfische Verschwendungssucht auf den Einfluss der königlichen Mätressen zurück geführt wird, w ­ elche die Effemination der Gesellschaft zu verantworten hätten, kommt es zu der Verbindung von ‚Galantem Zeitalter‘ und den Frauen.“ 44

Denis Diderot (1713 – 1784) zeichnet schon früher ein überaus negatives Bild von Boucher in seinen Besprechungen der Salons und bringt so eine Galionsfigur des französischen Rokoko mit moralischem Verfall und lasterhafter Weiblichkeit in Verbindung: „Je ne sais que dire de cet homme-­ci. La dégradation du goût, de la couleur, de la composition des caractères, de l’expression, du dessin, a suivi pas à pas la dépravation des mœurs.

40 Vgl. Ireland, 2006, S. 92. 41 Hyde, 2006, S. 45. 42 Ebd. 43 Hyde, 2014, S. 345. 44 Rossberg, Anne Katrin: Wie Frauen Zimmer wurden. Zur Wohnkultur im 18. und 19. Jahrhundert. In: Hackenschmidt, Sebastian; Engelhorn, Klaus (Hg.): Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge. Bielefeld 2011, S. 143 – 153, hier S. 151.

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Que voulez-­vous que cet artiste jette sur la toile ? ce qu’il a dans l’imagination. Et que peut avoir dans l’imagination un homme qui passe sa vie avec les prostituées du plus bas étage ?“ 45

Interessanterweise stellt Boucher somit eine Hauptfigur der kritischen Auseinandersetzung mit Eigenheiten der Malerei und Gesellschaft des 18. Jahrhunderts dar, die zu einem Großteil genauso in der Rezeption während des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen werden. Allerdings wird der harsche Vorwurf zum Fokus des ästhetischen Interesses umgedeutet. Der Wandel im romantischen Schönheitsempfinden provoziert einen neuerlichen Reiz an den vermeintlich ‚verderbten‘ Darstellungen, die der gesellschaftlichen Moral frivol entgegenstehen. Dieser Reiz äußert sich, wie in der Folge mehrfach gezeigt wird, vor allem in der literarischen Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert. Neben der vermeintlichen Entmannung der Kultur wird früh ein weiteres Thema in den Kanon der kritischen Vorwürfe an die Kunst des Rokoko aufgenommen. Die Sorge um den Niedergang vor allem der Historienmalerei treibt die Schriften Diderots und von Kritikern wie Etienne La Font de Saint-­Yenne (1688 – 1771) oder des Comte de Caylus (1692 – 1765) an. So schreibt Saint-­Yenne in seinen Réflexions sur quelques Causes de l’État présent de la Peinture en France (1746): „De tous les genres de la Peinture, le premier sans difficulté est celui de l’Histoire. Le Peintre Historien est seul le Peintre de l’ame, les autres ne peignent que pour les ïeux […].“ 46

Von ­diesem Standpunkt aus argumentiert Saint-­Yenne, dass die zeitgenössische Kunst – und er meint damit das Rokoko, ohne dass es diesen Stilbegriff selbst zu geben braucht – sich in einem Zustand der tadelnswerten Oberflächlichkeit befinde.47 Er begründet dies mit äußeren Bedingungen, die er als moralischen und geschmacklichen Verfall anspricht.48 Die Malerei sei zu einem bloßen Teil einer der Dekoration verpflichteten Kunstanschauung geworden, in der kein Platz mehr für das Historiengemälde sei und somit auch kein

45 Diderot, Denis: Essais sur la peinture. Paris 1795, S. 166. Übersetzung nach Diderot, Denis: Salon von 1765. In: Ders.: Schriften zur Kunst. Hgg. von Peter Bexte und übers. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke. Hamburg 2005, S. 117 – 146, hier S. 126: „Ich weiß nicht, was ich über diesen Mann sagen soll. Der Verfall des Geschmacks, der Farbe, der Komposition, der Charaktere, des Ausdrucks, der Zeichnung folgte Schritt für Schritt der Verderbung der ­Sitten. Was kann dieser Künstler schon auf die Leinwand werfen? Nur das, was er in seiner Einbildungskraft vorfindet. Was aber kann ein Mann, der sein Leben mit den niedrigsten Prostituierten verbringt, in seiner Einbildungskraft vorfinden?“ 46 La Font de Saint-­Yenne, Etienne: Réflexions sur quelques Causes de l’État présent de la Peinture en France. In: Gaehtgens, Barbara (Hg.): Genremalerei. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. IV. Berlin 2003, S. 245 – 246, hier S. 245. Übersetzung nach ebd., S. 246: „Von allen Gattungen der Malerei, steht zweifellos die Historie an der Spitze. Allein der Historienmaler ist der Maler der Seele, die anderen malen nur für die Augen. […]“ 47 Vgl. Kluge, 2009, S. 145. 48 Vgl. ebd., S. 350.

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Platz für eine Malerei, die belehrt: Die Supraporte sei danach nicht die geeignete Fläche für die Komposition einer Historie, sondern lediglich für das gefälligere Genre.49 Auch Caylus erinnert in seiner Gedenkrede auf Antoine Watteau (1748) nicht etwa an dessen malerisches Können, sondern plädiert darin vor allem „für die Reinhaltung der akademischen Lehre und gegen das Genre der ‚Fêtes galantes‘“.50 Sowohl in der Akademie als auch im allgemeinen ästhetischen Diskurs ist die Rezeption des Rokoko geprägt von der Besorgnis über eine mögliche Verschiebung in den Hierarchien des Kunstbetriebs, die sich unter der Formulierung eines vermeintlich kulturellen ‚Verfalls‘ verbirgt. Die Bemühungen um die Rehabilitierung der Historie hängen außerdem mit einem fundamentalen rezeptionsästhetischen Wandel seit dem späten 17. Jahrhundert zusammen. Roger de Piles (1635 – 1709) und seine Anhänger sehen die ansprechende Darstellung von Objekten als die Hauptaufgabe der Bildkünste an und die didaktische Funktion erst an zweiter Stelle.51 Damit ergibt sich eine sensualistischere Kunstanschauung und Ausübung, in der Form und Funktion durchaus getrennte Wege gehen können. Im selben Schritt ist dies jedoch Anlass für Kritik, die sich gerade für eine moralische Funktion der Künste ausspricht. „Die Diskussionen um die Hierarchie der Genres sowie um die Funktion von Malerei und um die Bestimmung von Architektur lassen sich letztlich auf die Gegenüberstellung von Inhalt/Funktion und Form verkürzen. In dem Augenblick, wo sich Formen zu verselbständigen begannen, wie es in der Rokokomalerei oder auch -architektur der Fall war, wurden diese Tendenzen mit Hilfe theoretischer Argumente zurückgedrängt um die inhaltliche Seite wieder mehr zu forcieren.“ 52

Im Zuge klassizistischer Bemühungen wird versucht, diese Einheit von Inhalt und Form, Gattung und Stil wiederzubeleben. Jacques-­Louis David (1748 – 1825) tadelt denn auch aus seiner späteren klassizistischen Warte die Regierungszeit Ludwigs XV. für ihren moralischen wie ästhetischen Verfall.53 Schon bei Diderots Kritik an Boucher wurde der unterstellte Sitten­verfall deutlich. David allerdings bezieht sich wohl eher auf die angebliche Verderbtheit der Auftraggeber, als auf die der Künstler. Diese Sicht weitet sich im Zuge der französischen Revolution zu einem wahren Strom an satirischen Texten und nicht zuletzt Grafiken aus, die den degenerierten, moralisch und sexuell verderbten Aristokraten zum Thema haben. Antoine de Baecque vermag es, die essenziellen Kennzeichen dieser Entwicklung in seinem Essay über die pornografische Literatur zu Beginn der Revolution aufzuzeigen. 49 Vgl ebd., S. 156. 50 Gaehtgens, Barbara: Kommentar (zu Caylus’ Vie d’Antoine Watteau). In: Dies. (Hg.): ­Genremalerei. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. IV. Berlin 2003, S. 258 – 262, hier S. 258. 51 Vgl. Kluge, 2009, S. 80. 52 Ebd., S. 81. 53 Vgl. Ireland, 2006, S. 96.

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„The love affairs of Louis XV, his numerous mistresses, the impotence of Louis XVI, the ‚sexual passions‘ of Marie-­Antoinette, are all mocked in satires […]. These works, published in many editions and passed about clandestinely, had a single objective: to reveal the degeneracy of the noble and ecclesiastical élites.“ 54

Was die Literatur und Druckgrafik der Revolutionsjahre für sich als optimales Feindbild generiert, wird im Laufe des 19. Jahrhunderts ein weiteres Mal grundlegend umgewertet. Zwar bleibt es im Zeitalter des Bürgers beim Bild des ‚degenerierten‘, perversen und weltfremden Aristokraten, jedoch findet auch d ­ ieses Motiv seine Interessenten in vor allem künstlerischen Kreisen. Die Goncourts ­nutzen den Modus der Aristokratie als eine dezidierte Abgrenzung zum Positivismus des bürgerlichen Zeitalters und im Laufe des Jahrhunderts wird die adlige Selbstinszenierung unter Künstlern und Intellektuellen genauso zum Topos des gesellschaftlich ‚Anderen‘ wie auf der gegenüberliegenden Seite der Bohemien. Aufgrund der hier skizzierten Kritikpunkte hat sich die Kunst und Literatur des Rokoko schon früh mit ihrem eigenen Ende auseinanderzusetzen. Ken Ireland konstatiert einen Preiseinbruch für Rokoko-­Malerei seit den 1780ern, wobei er sogleich bemerkt, dass dies auch die Stunde der Sammler des ‚Unmodernen‘ ist.55 Die Goncourts gehören Jahrzehnte später zu genau jenen Connaisseurs des Unmodernen. Obwohl der zeitgenössische Geschmack sich gegen die vermeintliche Überladung des Rokoko richtet, kaufen sie gerade in dieser Zeit zu günstigeren Preisen Gegenstände dieser Epoche. Abermals lässt sich auch ­Beardsley in diese Reihe aus Sammlern des ‚Unmodernen‘ einreihen, wobei ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, dass am Ende des Jahrhunderts und im Werk Beardsleys eine Dichotomie von Rokoko im Bereich der industriellen Produktion und Rokoko als Ausdruck von Exklusivität nachzuvollziehen ist. Beides reflektiert Beardsley in seinem Werk und die Geschichte der Rokoko-­Rezeption im 19. Jahrhunderts wird dabei stets gegenwärtig. Da das Ende des Rokoko und der Beginn der Rokoko-­Rezeption zeitlich gewissermaßen in Eins fallen, folgt abschließend eine überblicksartige Chronologie der für die vorliegende Arbeit relevanten Ereignisse, Persönlichkeiten und Publikationen im Bereich der Rezeption des 18. Jahrhunderts im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Debora Silverman stellt zunächst eine erste aristokratische Ausprägung der Rokoko-­ Rezeption in Form der Restauration während der Regentschaft Louis’ XVIII (reg. 1814 – 1824) heraus: „The first official champion of the era of the fêtes galantes was Louis XVIII, who believed that with the restoration of the monarchy, the cultural vestiges of Napoleonic rule had to be obliterated …“ 56 54 Baecque, Antoine de: The ‚Livres remplis d’horreur‘. Pornographic Literature and Politics at the Beginning of the French Revolution. In: Wagner, Peter (Hg.): Erotica and the Enlightenment. Frankfurt am Main 1991. S. 123 – 165, hier S. 126. 55 Vgl. Ireland, 2006, S. 92. 56 Silverman, 1989, S. 19.

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Ken Ireland macht des Weiteren darauf aufmerksam, dass der neue Bourbonen-­König sich gerade deshalb dem Stil aus der Zeit seines Großvaters zuwendet, weil dieser die dynastische Kontinuität betont und blühendere Zeiten für den absolutistischen Herrscher heraufbeschwört.57 Entsprechend handelt es sich hierbei eher um eine politische Reinszenierung des eigentlich unmodernen Stils. Die eigentliche künstlerische bzw. literarische Rezeption setzt jedoch wohl mit dem Werk Théophile Gautiers (1811 – 1872) ein. Sicherlich ist Gautier für gleich mehrere Errungen­ schaften im Bereich der kulturellen Entwicklung des 19. Jahrhunderts hervorzuheben. So prägt er den beginnenden Ästhetizismus. Im Vorwort zu seinem Roman Mademoiselle de Maupin (1835) führt er das Prinzip des l’art pour l’art eindrücklich vor Augen. „Il n’y a de vraiment beau que ce qui ne peut servira rien; tout ce qui est utile est laid, car c’est l’expression de quelque besoin, et ceux de l’homme sont ignobles et dégoûtants, comme sa pauvre et infirme nature.“ 58

Jedoch ist der Ästhetizismus, wie er in ­diesem Text entsteht, nicht herausgelöst aus jeglicher historischer Entwicklung. Gautier bedient sich darin dezidiert Formeln des Rokoko-­ Romans. Obwohl die historische Maupin eine Schauspielerin des späten 17. Jahrhunderts ist, rückt der Autor sein Geschehen eher in die Sphären eines Crébillon fils oder frühen Diderot. Gautier ist ebenfalls Auslöser eines der wohl entscheidendsten Phänomene in der Rezeption der Kultur des 18. Jahrhunderts. Offenbar stellt sein Gedicht „Watteau“ (1835) die erste konkrete künstlerische Auseinandersetzung mit dem Werk des berühmten Malers der fêtes galantes im 19. Jahrhundert dar.59 Bereits hier klingen die Motive an, die das romantische Verständnis des früh verstorbenen Künstlers charakterisieren, so beispielsweise der Park als träumerisch-­melancholisches Refugium des einsamen Flaneurs. Die ‚Wiederentdeckung‘ Watteaus im 19. Jahrhundert ist zum einen ein strittiger Begriff und zum anderen ein Privileg, das gleich mehreren Autoren zugedacht wird. G ­ uillaume Faroult stellt in seinem Aufsatz über die Rezeption von Watteau und Chardin im 19. Jahrhundert daher zu Recht die Frage: „But was it in fact a ‚rediscovery‘? Should we not rather speak of an invention?“ 60 Tatsächlich erfolgt im Laufe des 19. Jahrhunderts eine 57 Vgl. Ireland, 2006, S. 93. 58 Gautier, Théophile: Mademoiselle de Maupin. Paris 1880, S. 22. Übersetzung nach Gautier, Théophile: Mademoiselle de Maupin. Übers. von Caroline Vollmann, Zürich 2011. S. XLII: „Wirklich schön ist nur, was keinem Zweck dient; alles Nützliche ist hässlich, denn es ist Ausdruck eines Bedürfnisses, und die Bedürfnisse des Menschen sind widerlich und abstoßend wie seine armselige und hinfällige Natur.“ 59 Vgl. Gautier, Théophile: Poésies complètes. Paris 1896, S. 208. 60 Faroult, Guillaume: Watteau and Chardin, ‚the most truly painters of the entire French School‘. The Rediscovery of Watteau and Chardin in France between 1820 and 1860. In: Vogtherr, Christoph; Preti, Monica; Faroult, Guillaume (Hg.): Delicious Decadence. The Rediscovery of French Eighteenth-­ Century Painting in the Nineteenth Century. Surrey 2014, S. 29 – 42, hier S. 31.

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i­ntellektuelle und kreative Auseinandersetzung mit Watteau, die das Bild eines vermeintlich fragilen, melancholischen Außenseiters bis heute prägt und die Künstlerpersönlichkeit gewissermaßen erst konstruiert. Neben Gautier führt Ken Ireland noch andere Autoren ins Feld, die sich rühmen, Watteau zurück ins kulturelle Gedächtnis gerufen zu haben. „It is also the decade when either Théodore de Banville, or Arsène Houssaye, according to their individual champions, discovers Watteau, though neither party concedes Gautier’s contributions of the 1830s.“ 61

Die Gruppe der Doyennards – der Dichter, die sich in den 1830er Jahren in der rue du Doyenné regelmäßig treffen – ist somit ein entscheidender Faktor in der Genese Watteaus als romantischem Topos. In den folgenden 1850er Jahren kommt es zunächst zu einer weiteren Verbreitung von Stichen nach Watteau, die durch die Auflösung mehrerer Sammlungen auf den Markt geraten. Dies resultiert in einer ersten Publikation, die sich mit Watteau und seiner ‚Schule‘ befasst: Charles Blancs Les peintres des fêtes galantes: Watteau, Lancret, Pater, Boucher (1854).62 Entscheidend für die Wahrnehmung von Watteaus Charakter im 19. Jahrhundert ist die enge Verknüpfung mit seinem berühmten Gemälde des sogenannten Gilles (1718) (Abb. 22). Noch bevor das Bild 1869 durch die Eröffnung der La Caze Galerie im L ­ ouvre öffentlich zugänglich wird, sensibilisiert bereits 1863 der Historiker Jules Michelet für eine emotionale Verknüpfung von Künstler und Kunstwerk. In seiner Histoire de France (1837 – 67) identifiziert Michelet die vermeintliche Armut und das Leiden Watteaus mit der Figur des Gilles.63 Außerdem setzt er das Gemälde schon zu d ­ iesem Zeitpunkt mit der Kunst des zeitgenössischen Pantomimen Jean-­Gaspard Deburau (1796 – 1846) gleich, der im Théâtre des Funambules als Pierrot große Erfolge feiert.64 Somit bereitet er laut Ken Ireland schon vor der öffentlichen Hängung des Bildes das Publikum auf diese geistige Verbindung vor.65 Die erste Monografie über Antoine Watteau erscheint dann 1867 in Form von Louis Celliers Antoine Watteau, son enfance, ses contemporains. Darin beschreibt Cellier den Maler als „épris de l’art pour l’art“ 66 und prägt ein ästhetizistisches Bild Watteaus, das bis in das Werk Beardsleys und seiner Zeitgenossen nachwirken wird. Ein weiterer Effekt ist die 61 62 63 64

Ireland, 2006, S. 97. Vgl. ebd., S. 115. Vgl. Michelet, Jules: Histoire de France, Bd. XVII. Paris 1876, S. 319. Zu Jean-­Gaspard Deburau und seinen Nachfolgern als Pierrot im Théâtre des Funambules siehe beispielsweise: Knowles, Marika: Lost Ground. The Performance of Pierrot in Nadar and Adrien Tournachon’s photographs of Charles Deburau. Oxford 2015; Nabeta, Kikuno: Jean-­Gaspard Deburau ou d’un théâtre romantique populaire en France. Phil. Diss. Paris 2006; Nye, Edward: The Romantic Myth of Jean-­Gaspard Deburau. In: Nineteenth-­Century French Studies 1 – 2, 2015, S. 46 – 64. 65 Vgl. Ireland, 2006, S. 117. 66 Celliers, Louis: Antoine Watteau, son enfance, ses contemporains. Valenciennes 1867, S. 44.

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gesteigerte Berühmtheit der Persönlichkeit, die bereits ein Jahr darauf in der Aufstellung eines Watteau-­Denkmals in seinem letzten Aufenthaltsort Nogent-­sur-­Marne gipfelt.67 Schließlich ist Edmond de Goncourts Leistung hervorzuheben, das erste Werkverzeichnis Watteaus zusammengetragen zu haben.68 Sein Bruder und er beschäftigen sich immer wieder mit dem Leben und Wirken des Malers. So stellen sie gleich zu Beginn des Buches L’Art du dix-­huitième siècle Watteau als „den großen Dichter des achtzehnten Jahrhunderts“ 69 vor und betonen besonders die poetische Qualität seines Werkes. Außerdem festigen sie den Topos der In-­Eins-­Setzung von Maler und Bildgegenstand, indem sie bezogen auf Le lorgneur (Abb. 42) postulieren: „… c’est lui. […] rongé d’ennui, comme un violon de noces, las des fêtes qu’il mène, et sourd à son violon qui chante.“ 70

Abermals greifen die Autoren hier auf das Motiv des „ennui“ zurück und formen aus dem Bild des körperlich geschwächten Künstlers (Watteau stirbt an Tuberkulose) eine Scha­ blone, die interpretierend auf sein Werk angewendet werden kann. Neben der Melancholie, die sie und ihre Vorgänger dem Maler und seinem Bildpersonal attestieren, stellen sie Watteau außerdem als genuin modernen Künstler heraus: „Watteau commence l’artiste moderne dans la belle et désintéressée acception du mot, l’artiste moderne avec sa recherche d’idéal, son mépris de l’argent, son insouciance du lendemain, sa vie de hasard, – de bohème, allais-­je dire, si le mot n’était pas tombé si bas.“ 71

Dies wird ebenfalls diejenigen bestätigen, die sich in der Folge am Werk des Künstlers bedienen, wie etwa der Plakatmaler Jules Chéret (1836 – 1932), der als bedeutender ­Nachfolger

67 Trotz der Zweifel einiger katholischer Entscheidungsträger, ob das Monument eines Malers teils pikanter Szenen in ihrer ­Kirche Platz finden soll, springen intellektuelle Verehrer Watteaus dem Projekt zur Seite, sodass die Büste des Malers zumindest vor der K ­ irche Aufstellung findet. Vgl. Stammers, Tom: Scavenging Rococo: trouvailles, bibelots and counter-­revolution. In: Hyde, Melissa Lee; Scott, Katie (Hg.): Rococo Echo. Art, History and Historiography from Cochin to Coppola. Oxford 2014, S. 71 – 85, hier S. 71. 68 Vgl. Forell, Janina: Pierrot und Harlekin. Die Quellen der Inspiration und die Bedeutung ­dieses Themas für die französische Malerei des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Phil. Diss. M ­ ünchen 1983. München 1985, S. 16. 69 Goncourt, 1920, Bd. I, S. 3. 70 Goncourt, 1881, Bd. I, S. 12. Übersetzung nach Goncourt, 1920, Bd. I, S. 12 f. „… er ist es selbst. […] von Langeweile geplagt wie ein Hochzeitsgeiger, der der Feste, die er belgeitet, müde und für seine klingelnde Geige taub ist.“ 71 Ebd., S. 46. Übersetzung nach Goncourt, 1920, Bd. I, S. 73: „Mit Watteau beginnt der moderne Künstler in der schönen, sorglosen Bedeutung des Wortes – der moderne Künstler, der das Ideal sucht, das Geld verachtet, nicht für den anderen Morgen sorgt, in den Tag hinein lebt, ein Zigeuner­ leben führt, würde ich sagen, wäre das Wort nicht so gewöhnlich geworden.“

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Watteaus verstanden wird.72 Watteau wird zur artifiziellen Identifikationsfigur überhöht, wobei die Rezeption seiner Werke immer auch die über die Jahre geformte Persönlichkeit mitdenkt. Er ist Außenseiter, Freidenker, Melancholiker, Aristokrat und Bohemien in Personalunion, was ihn für unterschiedliche Künstler und Literaten, aber nicht zuletzt für Aubrey Beardsley, interessant werden lässt. Zusätzlich ist die changierende nationale Zuordnung Watteaus Anlass für seine mannigfaltige Rezeption. Entsprechend wird er zwar zum genuin französischen Künstlertypus für die französischen Romantiker, aber auch die Engländer erheben Anspruch auf den berühmten Maler, der produktive Jahre in ihrem Land verbrachte.73 Parallel entwickelt sich ab Mitte des Jahrhunderts eine düsterere Lesart von Watteaus Werken, die auch in einer ästhetisch differenzierteren Auffassung des 18. Jahrhunderts mündet. Über Baudelaires Gedicht Un Voyage à Cythère (1852)74 notiert Louisa Jones etwa: „Nothing suggests here that Watteau’s paradise once was and is no more; rather the poet begins by mocking those who deliberately create such masks and refuse to face the truth …“ 75

Das wohl bekannteste Werk der literarischen Rokoko-/Watteau-­Rezeption ist schließlich Paul Verlaines einflussreicher Gedichtband Fêtes galantes (1869), auf den ich noch mehrfach zurückkommen werde. Louisa Jones folgend halte ich Verlaines darin erschienene Verse ebenfalls für eine ironische Brechung mit den mittlerweile etablierten Klischees aus den Gemälden Watteaus, Lancrets oder Paters.76 Dies wird an folgender betont frivoler Beschreibung einer spazierenden Dame deutlich und im Folgenden weiter nachvollzogen. „Les hauts talons luttaient avec les longues jupes, En sorte que, selon le terrain et le vent, Parfois luisaient des bas de jambe, trop souvent Interceptés! – et nous aimions ce jeu de dupes. […]“ 77

72 Vgl. Forell, 1983, S. 42. Zu Jules Chéret siehe weiterhin: Ausst.-Kat.: Jules Chéret. Künstler der Belle Époque und Pionier der Plakatkunst. München, Villa Stuck, 2011; Ausst.-Kat.: La Belle Époque de Jules Chéret: de l’affiche au décor. Paris, Musée des Arts décoratifs, 2010. 73 Des Weiteren stellt der Kunstkritiker Étienne-­Jean Delécuze im Journal des débats vom 21. Oktober 1824 den in Valenciennes geborenen Watteau als flämischen Außenseiter dar, weil sich seine Malerei aus Vorbildern eben jener Kunsttradition speise. Vgl. Faroult, 2014, S. 34. 74 Vgl. Baudelaire, Charles: Un Voyage à Cythère. In: Ders.: Les Fleurs du mal. Paris 1917, S. 249 – 251. 75 Jones, 1984, S. 70. 76 Vgl. ebd., S. 73 – 79. 77 Verlaine, Paul: Les Ingénus/Die Harmlosen. In: Ders.: Fêtes galantes/Galante Feste. Darmstadt 1949, S. 22 und 23. Übersetzung nach ebd.: „Die Stöckelschuh sich mit den langen Röcken stritten, Derart, daß, je nachdem es fügt Weg und Wind, Manchmal erglänzte was von Beinen, zu geschwind Verdeckt nur! – und wie wir dies Trugspiel gerne litten!“

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In anderen Gedichten, vor allem denjenigen, die die Figur Pierrots zum Thema haben, betont Verlaine hingegen die tiefe Traurigkeit, Einsamkeit, sogar potenzielle Gewalttätigkeit hinter der Maske des Spaßmachers. „The face behind the mask pushes off its disguise rather insistently. What is revealed is not only an intimate self but a skull – itself fast becoming a cliché.“ 78

Es lässt sich nun feststellen, dass es einen gewissen Kanon der Rokoko-­Rezeption im 19. Jahrhundert gibt. Als allgemein bekannt können dabei die Schriften Gautiers, der Goncourts und Verlaines vorausgesetzt werden. Dies ist wichtig zu betonen, da in der Folge nicht immer eine konkrete Quelle genannt werden kann, die Beardsleys direkte Verbindung zur jeweiligen Publikation oder auch zu entsprechenden Kunstwerken aufzeigt. Vielmehr ist ­ iesem einführenden Kapitel skizziert wurde. von einem common sense auszugehen, der in d Dieser kulturelle common sense spiegelt sich auch in den französischen Bildkünsten des 19. Jahrhunderts. Allerdings stellt dieser Bereich der Kunstgeschichte noch ein großes Forschungsdesiderat dar. In der ohnehin spärlichen Literatur zur Rokoko-­Rezeption werden lediglich vereinzelte Künstler genannt, die Motive oder Stilelemente des 18. Jahrhunderts in ihre Werke integrieren. Dies betrifft unter anderem Persönlichkeiten aus dem Umkreis des französischen Impressionismus, wie Berthe Morisot oder Auguste Renoir, die sich von der zarten Pinselführung der fêtes galantes inspirieren lassen.79 Melissa Lee Hyde fasst weiterhin zusammen, dass vor allem während des Zweiten Kaiserreichs (1852 – 70) die Imitation visueller und materieller Kultur des 18. Jahrhunderts großen Widerhall in der französischen Salonmalerei erfährt. „In painting, this fascination with the eighteenth-­century is apparent in the spectacular success enjoyed by Ernest Meissonier (1815 – 1891), who, in the early 1850s, began to exhibit small genre paintings of eigh-­teenth-­century subjects, rendered with a crisp documentary realism that captivated Salon audiences. His success spawned legions of imitators who continued to work through the end of the century.“ 80

Und obwohl Künstler wie Charles Émile Wattier (1800 – 1868) oder später Pascal Dagnan-­ Bouveret (1852 – 1929) die Feminisierung des Rokoko und die Glorifizierung von Watteau weiter vorantreiben, unterscheiden sich diese Werke dennoch grundlegend von der bisher skizzierten literarischen Rezeption. Zwar ist ihnen die malerische Qualität keineswegs abzusprechen, doch streben die bisher wenig untersuchten Gemälde eher eine gefällige Wirkung auf das bürgerliche Kunstpublikum an. Die ästhetizistische Rezeptionslinie, die durch Gautier und die Goncourts eingeleitet wird, äußert sich dagegen eher in einer betont subversiven Ausrichtung. Meredith Martin macht auf diese Dualität der Rokoko-­ 78 Jones, 1984, S. 75. 79 Vgl. Hyde, 2008, S. 19. 80 Ebd.

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Rezeption im 19. Jahrhundert aufmerksam, wenn sie auf der einen Seite die bürgerliche Vereinnahmung des Stils als Rechtfertigung des historischen Aufstiegs der eigenen Klasse und auf der anderen Seite das Interesse der Avantgarde für das 18. Jahrhundert als Modus der Abgrenzung zum bürgerlichen Kunstpublikum anführt.81 In einigen Leitmotiven überlappen sich die beiden Pole jedoch im Laufe des Jahrhunderts und werden auch für das Werk Aubrey Beardsleys noch bedeutsam sein. Das 18. Jahrhundert wird aufgrund seines Sinnes für die harmonische Ausgestaltung des Interieurs wertgeschätzt; Erotik und ‚Wollust‘ gelten als die treibenden Kräfte der Kunstproduktion; diffus wird von einer allgemeinen Feminisierung und zugleich von genuin französischen Eigenschaften des Rokoko gesprochen; schließlich wird die Figur des Aristokraten als Ausgangspunkt für das Wesen des Jahrhunderts verwendet: ein erotisch, moralisch und ästhetisch ‚degenerierter‘ Charakter. Unter Künstlern und Intellektuellen stellt sich im 19. Jahrhundert ein ästhetisches Interesse an der „décadence délicieuse“ ein. Dies potenziert sich noch einmal, wenn der Bezeichnung „Dekadenz“ im Laufe des Jahrhunderts eine neue inhaltliche Dimension zukommt. Die bereits genannten Topoi der Rokoko-­Kritik werden in jenen Jahren paradox zu Mitteln der Selbstinszenierung verkehrt. Was der moralisch bürgerliche Geschmack kritisiert, wird bewusst zum Modus der Verortung des Künstlers als Außenstehender. Der Dandy wird dabei zum „Aristokraten des Geschmacks“, wie Susan Sontag es treffend in ihren Notes on ‚Camp‘ (1964) beschreibt.82 Ken Ireland fasst weiterhin zusammen: „Lacking the receptive audience and wealthy patronage enjoyed by an aristocratic art like Rococo, these artists mark themselves off from the dull universal norm of the nineteenth century, by an aristocracy of intellect, and thus approach the values, if not the ideals, of Rococo.“ 83

Ein berühmtes Beispiel für diesen Typus des fin de siècle stellt die Persönlichkeit Robert de Montesquious (1855 – 1921) dar. Neben Giovanni Boldinis ikonischem Portrait des Dandys im grauen Anzug (1897) beschränkt sich die heutige Rezeption Montesquious oftmals auf die Anekdote, dass er die Vorlage für Huysmans’ Helden Des Esseintes und für Prousts Baron de Charlus in À la recherche du temps perdu (1913 – 27) gewesen sein soll. Meredith Martin präsentiert indes eine weitere Facette der illustren Persönlichkeit.

81 Vgl. Martin, Meredith: Remembrance of Things Past. Robert de Montesquiou, Emile Gallé and Rococo revival during the fin de siècle. In: Hyde, Melissa Lee; Scott, Katie (Hg.): Rococo Echo. Art, History and Historiography from Cochin to Coppola. Oxford 2014, S. 129 – 147, hier S. 132. 82 Sontag, Susan: Anmerkungen zu ‚Camp‘. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Übers. von Mark W. Rien, Frankfurt am Main 2009, S. 322 – 341, hier S. 338. Siehe weiterhin Kapitel 9. 83 Ireland, 2006, S. 52.

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„A descendant of one of Frances most illustrious noble families, Montesquiou was perceived by his contemporaries to embody not only his own times but also the glorious excesses of the ancien régime.“ 84

Ähnlich wie für die Kunstfigur Des Esseintes wird auch für Montesquiou das eigene Heim zum ästhetischen Refugium. Unter seinen zahlreichen Wohnungen und Häusern ist der sogenannte Pavillon des Muses, den Montesquiou ab 1899 zusammen mit seinem Lebensgefährten Gabriel Yturii bewohnt, ein Höhepunkt in der Rezeption des 18. Jahrhunderts. „The house was large and, though of fairly recent construction, had convincing Louis XVI air outside and a genuine set of Louis XV panelling in the major salon. [… The events in the house] were elaborately orchestrated by Montesquiou and really constituted works of art, in the modern sense of ‚happenings.‘ Utilizing his own collections and free to borrow from the stock of the great dealer in the decorative arts Georges Hoentschel …“ 85

Obwohl Montesquiou laut Martin sicherlich auch die Rehabilitierung seines aristokratischen Hintergrundes bei solch einer Inszenierung im Sinn hat,86 kann die Bedeutung des adligen Amateurs für das ästhetische Bewusstsein des fin de siècle kaum überschätzt werden. Ästhetizisten und décadents sehen im Aristokraten den einzig Fähigen zu der Auseinandersetzung mit wahrer Kunst. Es entsteht dabei ein elitärer Begriff von Kunst, die nur von wenigen Auserwählten überhaupt verstanden werden kann. Damit setzen sich die Künstler und Literaten dezidiert gegen eine parallele bürgerliche Rokoko-­Rezeption und beginnende Massenkultur ab, die im Kauf von imitierten bibelots aus der Zeit L ­ udwigs XV. eine Bestätigung ihres Standes, resultierend aus dem Lauf der Geschichte, sehen.87

2.2 „Décadence délicieuse“ oder Dekadenz als Parodie – Rokoko-Rezeption in England Am Ende des 19. Jahrhunderts erklärt sich das letzte Jahrzehnt einer wahrhaft ‚historischen‘ Epoche gewissermaßen selbst zur neuen Dekadenz eines diesmal positivistischen Zeitalters der Industrialisierung. Ein biologistisches Geschichtsverständnis des Werdens und Vergehens scheint nach der historischen Zäsur der Französischen Revolution erneut angewandt.88 Viele künstlerische Vertreter aber auch ihre Kritiker präsentieren sich in den 84 Martin, 2014, S. 131. 85 Munhall, Edgar: Whistler and Montesquiou. The Butterfly and the Bat. New York, Paris 1999, S. 47. 86 Vgl. Martin, 2014, S. 141. 87 Vgl. ebd., S. 132. 88 Reinhart Koselleck zeichnet den Einschnitt, den Aufklärung und Französische Revolution für das bis dato geltende Geschichtsverständnis bedeuten, eindrücklich nach: „Die potentielle G ­ leichförmigkeit

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1880er/90er Jahren als Zeitgenossen des gesellschaftlichen, künstlerischen und moralischen Verfalls und wenden sich damit dezidiert gegen den Fortschrittsglauben,89 durch den das Geschichtsverständnis des 19. Jahrhunderts eigentlich gekennzeichnet ist. In Anlehnung an die römische Dekadenz und das prärevolutionäre Frankreich laufen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die unterschiedlichsten historischen Bewusstseinsstränge zusammen. Altertumswissenschaft und Kunstgeschichte, die sich als Forschungsdisziplinen im 19. Jahrhundert herausbilden, sorgen für die Quellen, die in den 1890er Jahren frei verfügbar für Rezeption und Parodie werden. Während somit mehrere Gegenüberstellungen aus der Kultur des europäischen fin de siècle mit anderen Epochen denkbar wären, wird eine bereits von Zeitgenossen postulierte Parallelität von der „décadence délicieuse“ im Frankreich des 18. Jahrhunderts und den englischen 1890er Jahren untersucht. Dieser Ansatz verfolgt im Übrigen das Anliegen, die in der Forschung weitaus häufigere Gegenüberstellung von spätrömischer Dekadenz und dem ausgehenden 19. Jahrhundert 90 durch weitere Motive einer näheren Vergangenheit zu ergänzen. Hierzu setzen meine Ausführungen eine grundlegende Kenntnis über das fin de siècle sowie das englische Decadent Movement voraus, wie sie der ausführlichen, insbesondere englischsprachigen Forschungsliteratur zu entnehmen ist.91 Im Verlauf der Arbeit werden wichtige Persönlichkeiten und Zeitumstände jedoch an ansprechender Stelle eingeführt. Zunächst werde ich im Folgenden den Dekadenz-­Begriff genauer untersuchen, der im Rokoko-­Diskurs des späten 19. Jahrhunderts wiederholt von Bedeutung ist. Hinzuziehen möchte ich hierbei die Idee von einem fundamental parodistischen bzw. selbstironischen Konzept innerhalb der künstlerischen Dekadenz, welches ebenfalls in mein Verständnis der zeitgenössischen Rokoko-­Rezeption einfließen soll. Im Anschluss werde ich diese Entwicklung im Kontext der englischen Kunst- und Kulturtheorie während des 18. ­Jahrhunderts und Wiederholbarkeit naturgebundener Geschichten wurde der Vergangenheit überwiesen, die Geschichte selber wurde denaturalisiert zu einer Größe, über die man seitdem nicht mehr in gleicher Weise philosophieren kann wie bisher über die Natur.“ Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, S. 57; Vgl. Klein, 2010, S. 3 – 5. 89 Vgl. ebd., S. 58 und 60; Buckley, 1966, S. 13. 90 Dieser Ansatz beginnt in der Forschung spätestens mit Alois Riegls „spätrömischer Kunst-­Industrie“ und findet ihren aktuellsten Ausdruck in Stefano Evangelistas Studien zum britischen Hellenismus des fin de siècle. Vgl. Evangelista, Stefano: British Aestheticism and Ancient Greece. Hellenism, Reception, Gods in Exile. London 2009; Riegl, Alois: Die spätrömische Kunst-­Industrie nach den Funden in Österreich-­Ungarn im Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern. Wien 1901. 91 Siehe beispielsweise: Bernheimer, Charles: Decadent Subjects. The Idea of Decadence in Art, Literature, Philosophy, and Culture of the Fin de Siècle in Europe. Baltimore, London 2002; Fox, Paul: Decadences: Morality and Aesthetics in British Literature. Stuttgart 2006; Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008; Klein, 2010; Prettejohn, Elizabeth: Art for Art’s Sake. Aestheticism in Victorian Panting. New Haven 2007; Sturgis, Matthew: P ­ assionate Attitudes. English Decadence of the 1890s. London 2012 (London 1995); Thornton, Robert ­Kelsey Rough: The Decadent Dilemma. London 1983; Weir, David: Decadence and the Making of Modernism. Amherst 1996.

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verorten. Dies wird sich insofern als fruchtbar erweisen, als noch innerhalb des Decadent Movement die Modi der künstlerischen Rezeption auf Grundlagen genuin englischer Traditionen des 18. Jahrhunderts basieren. Zunächst ist es nötig, die scheinbar untrennbare Verknüpfung ­dieses Jahrzehnts mit dem Begriff „Dekadenz“ im englischen Kulturraum genauer zu analysieren. Dabei muss ich mich indes als erstes in die lange Reihe von Autoren eingliedern, denen es ähnlich wie mir nicht gelungen ist, eine eindeutige Definition des Begriffs aufzustellen. So stellt David Weir folgende treffende Frage: „Is it racial degeneration, historical decline, philosophical pessimism, personal immorality, physical entropy, artistic imperfection, artistic innovation, or all of the above?“ 92

Dennoch möchte ich im Folgenden weitestgehend mit dem Terminus „Dekadenz“ arbeiten, eben weil er diese und noch viele andere Deutungsmöglichkeiten zulässt und als historischer Begriff im Sinne der Zeit um 1900 epochenübergreifend anwendbar ist. So macht Hyde beispielsweise darauf aufmerksam, dass Jacob Burckhardt (1818 – 1897) ‚Rokoko‘ und ‚Dekadenz‘ synonym als generische Begriffe der Kunstgeschichte verwendet.93 Ohne mich in diese biologistische Sichtweise einreihen zu wollen, verstehe ich den Dekadenzbegriff in seiner historischen Dimension und möchte ihn so auch auf den zu untersuchenden Zeitraum anwenden. Im Englischen ermöglicht sich indes die Unterscheidung ­zwischen ‚decadence‘ und ‚Decadent Movement‘, womit zum einen die Wahrnehmung einer historischen Verfallssituation und zum anderen die selbigem parallel auftretende Kunstströmung angesprochen sind. Buckley folgend möchte ich ebenfalls verdeutlichen, dass eine Literatur oder Kunst, die als ‚dekadent‘ bezeichnet wird, nicht immer Teil des Verfallsprozesses ist, sondern d ­ iesem stattdessen mit Vitalität und Schöpfungskraft entgegentreten kann.94 In meiner Interpretation der ‚Dekadenz‘ ist das historisch überlappende Phänomen des Ästhetizismus stets mitzudenken. Gehört der englische Ästhetizismus auch eher einer Generation vor den Protagonisten der 1890er an, so ist er zugleich als intellektuelle Basis der zu analysierenden Periode zu verstehen. An entsprechender Stelle wird daher auf ein Verständnis von ‚Ästhetizismus‘ sowie seiner Verwandtschaft zur Dekadenz zurückzukommen sein. Hier soll vorerst eine Stellungnahme Cornelia von Dettens genügen, um auf die begriffliche Problematik aufmerksam zu machen: „Ästhetizismus und Dekadenz bezeichnen dasselbe kulturelle Phänomen, drücken aber jeweils gegensätzliche Werthaltungen aus. Während der Ästhetizismus einen ­affektneutralen, 92 Weir, David: Afterword: Decadent Taste. In: Desmarais, Jane; Condé Alice (Hg.): Decadence and the Senses. Cambridge 2017, S. 219 – 228, hier S. 219. 93 Vgl. Hyde, 2008, S. 17. 94 Vgl. Buckley, 1966, S. 89.

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kunsttheoretischen Status einnimmt, bleibt Dekadenz ein geschichtsphilosophisch und kulturpessimistisch aufgeladener Begriff.“ 95

Max Nordaus berüchtigtes zweibändiges Werk „Entartung“ (1892 – 93) gibt die Leserichtung für die europäische Kultur der 1890er Jahre vor und prägt diese bis heute. Doch sei hierzu erwähnt, dass Nordaus Buch keine singuläre Erscheinung innerhalb des Diskurses darstellt. Mehrere politische bzw. ‚sozialwissenschaftliche‘ Untersuchungen erscheinen im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte und zeichnen ein Bild vor, welches Nordau schließlich auf Literatur und Kunst überträgt. Dazu gehört beispielsweise Claude-­Marie Radots Décadence de la France (1850), in dem der Autor nach einer Analyse des langsamen Bevölkerungswachstums, der Rückwärtsgewandtheit der französischen Landwirtschaft und des Anstiegs der Kriminalitätsrate zu dem Schluss gelangt, die französische Nation sei dem Untergang geweiht.96 Des Weiteren nennt Buckley als einen evidenten Faktor bei der Genese eines Dekadenzbegriffs im 19. Jahrhundert die Formulierung des zweiten Gesetzes der Thermodynamik.97 „As early as 1852 Thomson had helped formulate the second law of thermodynamics, according to which the sum of useful energy throughout the universe would be constantly reduced by the diffusion of heat until all had reached a state of entropy. […] The general implications of the law, however, were not spelled out in popular terms till twenty years later when Balfour Stewart, professor of physics at Owens College, Manchester, issued his ‚elementary treatise‘ on the conservation of energy. […] In other words, according to assured scientific theory, human time eventually must have a stop.“ 98

Es handelt sich hierbei demnach um einen entscheidenden Einfluss auf die menschliche Wahrnehmung von Geschichte und Zukunft. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts erhält durch die physikalische Erkenntnis der Entropie einen gehörigen Dämpfer, der in der Dekadenz-­Debatte seinen wichtigsten Ausdruck erhält. Nordau leitet den kulturellen, moralischen ‚Verfall‘, den er für das nunmehr ausgehende Jahrhundert als symptomatisch erachtet, bereits von Gautiers und Baudelaires Schriften ab.99 Dass die Tugend-­und-­Laster-­Dichotomie bei Gautier und seinen Mitstreitern keine Rolle mehr spielt für die Charakteristika von Schönem und Hässlichem, begreift er noch 1892 als unmoralisch.100 Schon in den Werken der Präraffaeliten und französischen

95 Detten, Cornelia von: Aubrey Beardsley und die Kultur der Dekadenz. Phil.-Diss. München 1993, Münster 1993, S. 127. 96 Vgl. Stephan, Philip: Paul Verlaine and the decadence 1882 – 90. Manchester 1974, S. 18. 97 Vgl. Buckley, 1966, S. 66 f. 98 Ebd. 99 Vgl. Nordau, Max: Entartung, Bd. II. Berlin 1892, S. 91. 100 Vgl. Grundmann, Melanie: Dandy und Tabu. Transgressionen bei Stendhal, Théophile Gautier und George Moore. Phil. Diss. Frankfurt (Oder) 2010, S. 210.

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S­ ymbolisten sieht Nordau sein Verständnis der kulturellen ‚Entartung‘ verkörpert. Die für ihn untrennbare Verbindung von Sittlichkeit und Schönheit 101 werde in den Schöpfungen dieser Menschen nur deshalb aufgehoben, weil die Schöpfer selbst einer vermeintlich geistigen Schwäche anheimgefallen s­ eien. Zudem prangert Nordau, ähnlich wie die Kritiker des Rokoko, die Trennung von Inhalt und Form in Kunst und Literatur der ihn umgebenden Strömungen an und versteht diese ebenfalls als ein Symptom der ‚Entartung‘. „Ein ausgesprochen unsittliches Werk erregt im gesunden Menschen dieselben Empfindungen der Unlust und des Abscheus wie die unsittliche Handlung selbst und die Form des Werkes kann daran nichts ändern. Gewiß, die Sittlichkeit allein macht ein Kunstwerk nicht schön. Aber Schönheit ist ohne Sittlichkeit unmöglich. Und damit kommen wir zu dem zweiten Grunde, mit dem die Aestheten das Recht des Künstlers auf Unsittlichkeit vertheidigen wollen. Das Kunstwerk, sagen sie, hat nur schön zu sein. Die Schönheit liegt in der Form. Der Inhalt ist also gleichgiltig. Er mag Laster und Verbrechen sein. Er kann die Vorzüge der Form, wenn ­solche vorhanden sind, nicht beeinträchtigen.“ 102

Eine modernistische Kunstkritik würde in solchen Entwicklungen wohl eher die Vorbereitung eines abstrahierenden Kunstverständnisses sehen, das sich von der Abbildfunktion löst, Nordau jedoch spielt die Rolle des unverständigen Bourgeois so überzeugend, dass seinem Buch bereits innerhalb weniger Jahre ein immenser Erfolg beschert ist. Mit dem Begriff der ‚Entartung‘ (‚Degeneration‘ in der englischen Ausgabe von 1895) spielt Nordau bewusst auf die zeitgenössische ‚Dekadenz‘ an, die indes auch in seinem Buch eine weitaus längere Geschichte beinhaltet als das bloße Ende des 19. Jahrhunderts. Auch Roger Bauer beschreibt „die schöne Décadence“ (2001) ohne die nordauschen Moralvorzeichen zunächst als ein Phänomen der Mitte des Jahrhunderts, das im Werk von Gautier einsetzt und bei Baudelaire, Verlaine und Mallarmé fortgeführt wird.103 Obwohl mit ähnlichen Motiven operierend wie sie auch im fin de siècle bedeutsam werden, steht der Dekadenzbegriff hier noch für eine produktivere Kunstauffassung ein, wie sie sich in Gautiers Vorwort zur 1868er Ausgabe von Baudelaires Fleurs du mal äußert: „… un art arrivé à ce point de maturité que déterminent à leurs soleils obliques les civilisations qui vieillissent.“ 104

101 Vgl. Nordau, 1892, Bd. II, S. 137. 102 Ebd., S. 135 f. 103 Bauer, Roger: Die schöne Décadence. Geschichte eines literarischen Paradoxons. Frankfurt am Main 2001. 104 Gautier, Théophile: Charles Baudelaire. In: Baudelaire, Charles: Les Fleurs du mal. Paris 1868, S. 1 – 75, hier S. 17. Übersetzung nach Bauer, 2001, S. 37: „Eine Kunst, die zu jenem Punkt der Reife gelangt ist, den die schräg einfallenden Strahlen der alternden Kulturen bezeichnen.“

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Bauer stellt in ­diesem Zusammenhang fest, dass es von dieser ‚Dekadenz‘ der Jahrhundertmitte zu Sinnverschiebungen in der Auffassung des Begriffs gegen Ende des Jahrhunderts kommt. „Als ‚Décadent‘ wird nicht mehr primär oder gar ausschließlich der große Neuerer in poeticis angesehen […], sondern der Ästhet und Dilettant, der seine Erwählung der physio­ logischen Décadence verdankt. An die Stelle des Siegers über die Décadence ist deren Opfer getreten.“ 105

Während Verlaine in seinen Gedichten also „die schräg einfallenden Strahlen der alternden Kulturen“ nutzt, um sich zu poetischen Höhen aufzuschwingen, ist Huysmans’ Des Esseintes (1884) ein sogar physiologisch ‚degenerierter‘ Aristokrat, der an seiner sich selbst verordneten Dekadenz fast zugrunde geht. Diese Entwicklung bleibt nicht unbemerkt von den Beteiligten: „Einen Verlust bedeutet die breitere Verfügbarkeit von ‚décadence‘, insofern dieser Begriff zusehend an Deutlichkeit und Klarheit verliert, sodaß alles mögliche darunter subsumiert werden kann. Wie Hermann Bahr sofort eingesehen hat, verkümmerte die Décadence bald zur Mode, und zu einer alsbald obsoleten.“ 106

Verlaine parodiert die Dekadenz der Dekadenz sogar in seinem Gedicht Langueur (1885), welches einem „dem ‚ennui‘ […] verfallenen ‚dilletante‘, einer Karikatur, in der sich ­Verlaine […] wiedererkennt“,107 gewidmet ist. „L’âme seulette a mal au cœur d’un ennui dense. Là-­bas on dit qu’il est de longs combats sanglants. O ! n’y pouvoir, étant si faible aux vœux si lents, O ! n’y vouloir fleurir un peu de cette existence ! O ! n’y vouloir, ô n’y pouvoir mourir un peu ! Ah ! tout est bu ! Bathylle, as-­tu fini de rire ? Ah ! tout est bu, tout est mangé ! Plus rien à dire !“ 108

105 Bauer, 2001, S. 50. 106 Ebd., S. 40. 107 Ebd. 108 Verlaine, Paul: Langueur/Wehmut. In: Verlaine, Paul: Gedichte. Hgg. von Lambert Schneider und übers. von Hannelise Hinderberger, Heidelberg 1959, S. 232/233. Übersetzung nach ebd.: „[…] Die Seele grämt sich einsam bei dem Gefühl des Alls, Dort, ferne, sagt man, tobt des blutigen Krieges Ton. O, daß man, schwach, nicht halten kann, was rasch entflohn. O, daß man wünschen könnt, zu blühen, allenfalls.

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Bauer konzentriert seine Ausführungen auf die literarische Dekadenz der französischen Jahrhundertmitte, wo der Eindruck entsteht, einzig die französischen Autoren dieser Generation reflektierten die Entwicklung des Begriffs. Jedoch bringen die Vertreter der Dekadenz am Ende des Jahrhunderts in ihren Werken die ­gleiche Selbstreflexion zum Ausdruck. Die Grenzen von ‚ernsthaftem‘ Habitus, wie bei Huysmans’ tragischem Antihelden zu sehen, und parodistischer Übertreibung sind dabei nicht immer leicht auszumachen, und werden im Weiteren insbesondere für das Werk Aubrey Beardsleys analysiert. Dieses (selbst)parodistische Prinzip, das großen Teilen der ‚dekadenten‘ Kunstproduktion zugrunde liegt, ist selten so direkt nachvollziehbar, wie in den Moralités légendaires (1887) von Jules Laforgue (1860 – 1887). In dieser einzigen Sammlung von Erzählungen im Werk des Dichters setzt sich Laforgue mit unterschiedlichen Stoffen der Dekadenz­ literatur auseinander, darunter Hamlet, Lohengrin oder Salome. Er tut dies allerdings mit dezidiert parodistischen Mitteln, die das dekadente Vokabular und Motivik übertreiben, beziehungsweise mit Anachronismen oder Unstimmigkeiten unterwandern. Michele Hanoosh hat in ihrer Studie „Parody and Decadence. Laforgue’s Moralités légendaires“ (1989) eindrücklich herausgearbeitet, dass sich diese Parodien durch ein hohes Maß an Selbstreflexivität auszeichnen und somit die mitunter düstere Sicht auf das späte 19. Jahrhundert um einen humoristischen Gesichtspunkt erweitern. „Indeed, the Moralités are parodies that freely modernize major stories of literary history, giving them new meaning according to the spirit, tastes, and characteristics of contemporary life. […] particularly those that Laforgue associated with Decadence in its 1880s sense, the avant-­garde movement of which he felt himself a part.“ 109 „In mocking the confusion of art and life, and working against it, parody well suits a movement dedicated to leading a life of art, a movement in which everything – nature, society, human psychology – is seen and presented as theater.“ 110 „It is interesting that, except for Laforgue, critics of the period did not identify humor as an aspect of Decadence […] One of its chief-­features – exaggeration – is indeed one of the oldest devices of humor. This other side of Decadence has been generally ignored …“ 111

Am Beispiel der Salome-­Parodie werden Laforgues Stilmittel besonders deutlich und lassen sich auch auf Beardsleys bzw. Wildes Herangehensweise an denselben Stoff übertragen. Laforgue ist der erste Autor in einer langen Reihe von Rezipienten des biblischen Stoffes, der es wagt, den Namen des jüdischen Herrschers Herodes Antipas in „Emeraude Archetypas“ zu ändern. O, daß man weder sterben will noch sterben kann. Dein Lachen losch Bathyll! Und jedes Glas ist leer. Ach! Alles ist so leer, nichts bleibt zu sagen mehr. […]“ 109 Hanoosh, 1989, S. 1. 110 Ebd., S. 23. 111 Ebd., S. 59 und 60.

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„‚Emeraude‘ bedeutet ‚Smaragd‘. […] Mit ­diesem Namen wird die Edelsteinallegorik angewendet, ein beliebtes Motiv der Dekadenz. Herodes ist folglich bei Laforgue der Prototyp des dekadenten Helden, Archetyp eines gelangweilten Ästheten.“ 112

Der Autor strapaziert die Geduld seines wissenden Lesers mittels langatmiger Beschreibungen der Insel, auf der die Handlung angesiedelt ist, des Palastes oder der aufgetischten Speisen (ein literarisches Mittel, welches auch dem 18. Jahrhundert nicht fremd ist). Dabei fällt er wiederholt in anachronistische Vergleiche, die in den komplexen Satzgefügen beinahe untergehen. Die „Vernarrtheit“ der dekadenten Literatur in sinnliche Beschreibungen unterläuft Laforgue mit d ­ iesem Kunstgriff dermaßen, dass die eigentlichen Ereignisse erst auf den letzten Seiten der Erzählung stattfinden. ‚Iaokanaan‘ (Johannes der Täufer) wird im Zuge dessen als Karikatur eines versagenden Dichters mit Brille und roten Haaren dargestellt, der sich ganz im Gegensatz zur eigentlichen Bibelgeschichte in Salome verliebt. Sie erscheint ihm als Göttin. Alle anderen Anwesenden verführt sie indes durch die Macht ihrer Worte und nicht ihres, als wenig ansprechend beschriebenen Körpers. Laforgue lässt seine jüdische Prinzessin daher auch singen und nicht tanzen, womit er den Topos der femme fatale radikal umkehrt. „Mit deformierten Füßen und auch im übrigen nicht sehr ansehnlich […] hält sie ihren intellektuell anmutenden Monolog über die Entwicklung des Unbewußten in das Bewußte […] und singt zu ihrer schwarzen Leier.“ 113

Immer wieder macht der Autor jedoch darauf aufmerksam, dass es sich bei ­diesem Monolog um bloßes Geschwätz handle und enthebt damit so manche dekadente, psychologistische Ernsthaftigkeit ihrer Grundlage. In ihrer Genese zeichnet sich die Kunstfigur der femme fatale durch einen klaren Bezug zum aktuellen Zeitgeschehen aus, in dem die Frauenfrage im Bereich des Wahlrechts oder des eigenen Besitzes im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr an Bedeutung im öffentlichen Diskurs gewinnt. Die daraus resultierende Unsicherheit und mögliche Furcht vor einem Umsturz der etablierten patriarchalen Ordnung wird in der bildenden Kunst und Literatur der Zeit aufgefangen. Es entsteht eine weibliche Dämonin, die als männermordende Verführerin nur scheinbar subversiv auftritt, jedoch tatsächlich ganz im männlich generierten Artefakt gebannt wird. Laforgue führt diese Erkenntnis in seiner Salome eindrücklich vor. Am Ende fordert Salome mit fester Stimme das Haupt des Täufers auf „irgendeinem Teller“.114 Als es ihr in ihr Gemach gebracht wird und sie enttäuscht ist ob der verzerrten Fratze des Toten, entschließt sie sich, den Kopf derart auf die Meeresoberfläche zu 112 Sharota, Annika: Jules Laforgues Moralités Légendaires. Sieben Prosastücke in intertextueller A ­ nalyse. Phil. Diss. Paderborn 1992, S. 128 f. 113 Ebd., S. 140. 114 Laforgue, Jules: Hamlet oder Die Folgen der Sohnestreue und andere legendenhafte Moralitäten. Übers. von Klaus Ley, Frankfurt am Main, 1981, S. 129.

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schleudern, dass er als ‚phosphoreszierender Stern‘ orpheusgleich dahintreibe. Bei d ­ iesem Versuch stürzt Salome jedoch selbst in die Tiefe und ihr Leib zerschmettert beim Aufprall auf die Felsen. Laforgue endet mit der erwarteten Moral, w ­ elche die ästhetizistische Gleichsetzung von Kunst und Leben in Frage stellt: „Ainsi connut le trépas, Salomé […]; moins victime des hasards illettrés que d’avoir voulu vivre dans le factice et non à la bonne franquette, à l’instar de chacun de nous.“ 115

Auch wenn Laforgue heute nicht mehr zum literarischen Kanon des 19. Jahrhunderts gehört und lediglich als Name in der Sekundärliteratur präsent ist, kann sein Schaffen – insbesondere die Moralités – als durchaus einflussreich auf die folgenden Positionierungen zur Dekadenz verstanden werden. Laforgue transformiert die ursprünglichen romantischen Topoi zu Klischees eines artifiziellen Kunstverständnisses. Dies und die historische Dimension dahinter sind ebenso konstitutiv für die Ästhetik der englischen 1890er, in denen Laforgue unter anderem in Arthur Symons’ The Decadent Movement in Literature Erwähnung findet und als bekannt unter Intellektuellen vorausgesetzt werden kann.116 So erscheinen nach der Lektüre Laforgues auch Oscar Wildes Salome und Beardsleys zugehörige Bilder alsbald in einem völlig anderen Licht. In der populärkulturellen Rezeption gilt die Kollaboration zumeist als reiner Ausdruck eines morbide-­artifiziellen Kunstverständnisses der Dekadenz. Im Wissen um die lange Tradition des Topos und um seine parodistische Wendung erhalten Text und Bild der Salome eine zusätzliche Bedeutungsschicht. In der zum Teil übertriebenen Qualität der Ausdrucksmittel von Sprache und Linie schwingt stets ein kaum ernstzunehmendes Pathos mit. Ian Fletcher deutet zwar den parodistischen Charakter an, der Wildes Stück und Beardsleys Illustrationen eigen ist,117 vollends analysiert wird dieser Gedanke jedoch erst in Stacee Lynn Highsmiths Dissertation „Aubrey Beardsley, Oscar Wilde, and Salome as aesthetic parody“ (University of Georgia, 2011). Leider liegt diese noch nicht in publizierter Form vor; ein Blick in die Zusammenfassung weist jedoch große Übereinstimmungen mit meinem Verständnis ­dieses Werkes auf: „… it has been widely assumed that Beardsley’s drawings are incongruous with Wilde’s text. I propose instead that these artists meshed their respective mediums to create a parody of nineteenth-­century aestheticism, and of the gender politics of fin-­de-­siècle England; in Salome, components of aestheticism are exaggerated and parodied, as are the era’s stereotypes of women and homosexuals.“ 118

115 Laforgue, Jules: Moralités légendaires. Paris 1920, S. 166. Übersetzung nach Laforgue, 1981, S. 133: „So verschied Salome […]; sie war weniger Opfer dummer Zufälle als vielmehr des Wunsches nach einem Leben in Künstlichkeit, das nicht so gemütlich dahinfloß wie bei jedem von uns.“ 116 Vgl. Thornton, 1983, S. 51. 117 Vgl. Fletcher, 1987, S. 59 f. 118 Highsmith, Stacee Lynn: Aubrey Beardsley, Oscar Wilde, and Salome as aesthetic parody. University of Georgia 2011 (Abstract). http://athenaeum.libs.uga.edu/handle/10724/27731 (25. 02. 2019).

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In der Folge werde ich ­dieses parodistische Prinzip auch für Beardsleys zeichnerisches Œuvre fruchtbar machen, welches von einer literarischen Ästhetik nicht loszulösen ist. Die laforguesche Übertreibung und darin implizierte Selbstironie kann auch für mein Verständnis der englischen Dekadenz kaum unterschätzt werden. Es stellt sich im Fokus meiner Arbeit jedoch gleichsam die Frage, ob auch die Rokoko-­Rezeption ­dieses Zeitraums mit der parodistischen Grundhaltung des Phänomens in Einklang zu bringen ist. Als bedeutendste Quelle über die englischen 1890er Jahre können die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Publikationen der Zeitgenossen angenommen werden. Die Autoren präsentieren darin jeweils unterschiedliche Versionen ihres Verständnisses jenes Jahrzehnts. Bis heute erscheinen unzählige Sammelbände und Monografien zur englischen Dekadenz, die je variable bis kontrastierende Standpunkte zum generellen Verständnis des vielschichtigen Phänomens einnehmen. Diese Ambivalenzen stets im Blick behaltend, möchte ich in der Folge einen Fokus auf die englische Dekadenz als selbstreflexive bis selbstironische Bewegung legen. Als erster äußert sich der Journalist Holbrook Jackson zu den Eighteen-­Nineties (1913). Der Titel des bis heute immer wieder neu aufgelegten Buches deutet bereits an, dass ­Jackson die Monografie über ein Jahrzehnt liefern möchte und sich nicht auf einen Aspekt desselben konzentrieren wird. So betont er auch im Laufe seiner Ausführungen wiederholt die Vielfalt und insbesondere die Vitalität der Dekade.119 Ihm gelingt es sogar, den Dekadenz-­Begriff zwar zu integrieren, ihn allerdings vollkommen biologistisch umzudeuten. „… degeneration was a sane and healthy expression of vitality which, as it is not difficult to show, would have been better named regeneration.“ 120

Indem Jackson die ganze Bandbreite des Jahrzehnts kommentiert, kann er den Gedanken an eine Zeit des Verfalls weitestgehend ausblenden. Die Dekadenz ist bei ihm somit nur eines der „thousand movements“ 121 der 1890er, dem er nichtsdestotrotz die meisten Seiten seines Buches widmen muss. Jackson leitet die englische Dekadenz und den späten Ästhetizismus ebenfalls aus den französischen Quellen seit Gautier sowie den Goncourts her: in Frankreich beginne die Dekadenz mit Mademoiselle de Maupin und ende mit À rebours; in England werde sie von Walter Pater eingeleitet und ende mit Wildes Dorian Gray oder Beardsleys Under the Hill.122 Die extreme Artifizialität der Bewegung um Wilde und Beardsley eingestehend, macht Jackson zugleich auf die selbstironischen Tendenzen innerhalb der englischen Dekadenz aufmerksam, um deren Rang als prämoderne Strömung nicht abzuschwächen.

119 Vgl. Jackson, 1922², S. 17 f. 120 Ebd., S. 18. 121 Ebd., S. 31. 122 Vgl. ebd., S. 59.

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„… those who were most allied with its moods and whims were not only conscious of the fact, but in some cases capable of looking at themselves and laughing.“ 123 „[Beardsley’s work] which seems at times, by the very heaped-­up deliberation of its artifice, to satirise all the weaknesses of the decadence, by pressing them to their logical conclusion in the negation of all spontaneous desire save desire for the gratification of perverse sensations.“ 124 „Without being decadent, this extraordinarily modern personality [Max Beerbohm] managed to represent the decadence laughing, or rather smiling, at itself.“ 125

In der Persönlichkeit Max Beerbohms (1872 – 1956) – Karikaturist und Chronist der englischen 1890er – ist die enge Verwandtschaft von Parodie und Dekadenz kaum von der Hand zu weisen. Weitaus stärker involviert in das künstlerische und literarische Geschehen der Dekade kündigt sich bei Beerbohm schon in frühen Schriften, die er nicht zuletzt im berühmt-­berüchtigten Yellow Book (1894 – 1897) veröffentlicht, die parodistische Grundhaltung zum Ästhetizismus der englischen Dekadenz an. So gerät seine Defence of Cosmetics (1894 im Yellow Book), auf die in dieser Arbeit noch gesondert zurückzukommen sein wird, zu einer als Lobeshymne auf die Künstlichkeit der weiblichen Toilette getarnten Satire auf die lebensfernen Ideale der Ästhetizisten (Kap. 6.2). Dass ein solcher Text in einem vermeintlich selbst dekadent-­ästhetizistischen Magazin erscheint, lässt allerdings darauf schließen, dass auch die Herausgeber des Yellow Book und somit zahlreiche ihrer Autoren und Künstler diese selbstironische Haltung möglicherweise teilen.126 Beerbohm, der im Gegensatz zu anderen Galionsfiguren der Zeit noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein überaus produktiv publiziert, präsentiert sich über 20 Jahre nach dem Ende der 1890er als viktorianischer ‚Zeitreisender‘, befremdet von der ihn umgebenden Moderne, in die er sich nie recht integrieren wird.127 In seiner Karikatur mit der kompletten Unterschrift „Some Persons of ‚the Nineties‘ Little imagining, despite their Proper Pride and their Ornamental Aspect, how much they will interest Mr. Holbrook Jackson and Mr. Osbert Burdett.“ (1925)128 thematisiert Beerbohm nicht nur seine eigene anhaltende Verbundenheit mit den „Nineties”, sondern auch die zeitgenössische intensive Rezeption ­dieses Jahrzehnts in den 1920er Jahren.129 Beerbohm bestätigt in dieser Versammlung der künstlerischen Prominenz, in welcher der hagere Beardsley am rechten Bildrand und die massige Gestalt Wildes leicht ­auszumachen 123 Ebd., S. 18. 124 Ebd., S. 114. 125 Ebd., S. 116. 126 Vgl. Thornton, 1983, S. 38. 127 Vgl. Mahoney, Kristin: Literature and the Politics of Post-­Victorian Decadence. New York 2015, S. 3 f. 128 Vgl. Max Beerbohm: „Some Persons of ‚the Nineties‘ Little imagining, despite their Proper Pride and their Ornamental Aspect, how much they will interest Mr. Holbrook Jackson and Mr. Osbert Burdett.“, 1925, Bleistift und Aquarell auf Papier, 34,6 × 32,8 cm, Ashmolean Museum, Oxford. 129 Vgl. ebd., S. 1.

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sind, eher die Sichtweise Osbert Burdetts, auf dessen Buch The Beardsley Period (1925)130 die Bildunterschrift bereits verweist. Darin formuliert der Autor eine Gegenposition zu Jacksons Definition der englischen 1890er als Aufbruchszeit in die Moderne. Burdett betont die historische Dekadenz des Jahrzehnts und verortet es eher als ein Ende der Romantik. „[T]he Beardsley period was the autumn and not the spring of a certain imaginative ideal. The nineties saw the dissipation of the Romantic movement …“ 131

Diese Verortung gelingt Burdett vor allem auf der Basis, dass er für das Wesen der englischen 1890er lediglich eine kleine Gruppe von Künstlern, Autoren und Intellektuellen als prägend annimmt.132 Es handelt sich dabei um eben jene, die in Beerbohms Versammlung zu sehen sind. Burdett ist sich der anhaltenden Berühmtheit einiger der Protagonisten der 1890er bis in seine Zeit hinein durchaus bewusst und erklärt die zeitgenössische Faszination über die „Nineties“ insbesondere mit der kosmopolitischen Ausrichtung dieser Bewegung. „The scene of the nineties was set in London; and its tone was not local or patriotic but cosmopolitan.“ 133 „The character of the literature and art of the Beardsley period was largely the product of French influence, and this may be conveniently traced to Swinburne. […] The central figures in the French literature of the period that were to capture the imagination of English writers were Gautier, Baudelaire, Flaubert and Zola.“ 134

Der Terminus „Kosmopolitismus” scheint in d­ iesem Zusammenhang etwas hoch gegriffen, findet aber für diese Zeit immer wieder Anwendung.135 Die Öffnung einer englischen kulturellen Nische für Einflüsse außerhalb der eigenen nationalen Grenzen ist für d ­ ieses Jahrzehnt durchaus hervorzuheben, obwohl insbesondere die Beziehung ­zwischen England und Frankreich in ­diesem Bereich schon weitaus länger andauert. So konstatiert John Brewer in seiner umfassenden Studie zur Kultur des englischen 18. Jahrhunderts den lebendigen Austausch mit kontinentalen Künstlern in England nach der Restauration bis in das Georgianische Zeitalter hinein:

130 Im Nachwort zu einer Ausgabe seiner gesammelten Werke schreibt Max Beerbohm: „I feel myself to be a trifle outmoded. I belong to the Beardsley Period.“ In: Beerbohm, Max: The Works of Max Beerbohm. London 1896, S. 160. Burdett bezieht sich in seinem Buchtitel auf eben jene notorisch gewordene Aussage. 131 Burdett, Osbert: The Beardsley Period. An Essay in Perspective. London 1925, S. 93. 132 Vgl. ebd., S. 95. 133 Ebd., S. 7. 134 Ebd., S. 61. 135 Siehe hierzu beispielsweise Stefano Evangelistas aktuelles Forschungsprojekt am Trinity College Oxford: „The Love of Strangers: Literary Cosmopolitanism in the English ‚Fin de Siècle‘.“ Stand 2018. http://www.ahrc.ac.uk/research/readwatchlisten/features/the-­love-­of-­strangers/ (25.  02.  2019).

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„Between 1675 and 1750 eighty-­three Italian composers were resident in London; there were painters and decorators from France, Italy, Poland, a whole school of Swedish artists, ­Germans, Dutchmen and Belgians …“ 136

Doch nicht nur in diese Richtung funktioniert der kulturelle Transfer jener Jahrzehnte; auch die englischen Autoren, Künstler und Schauspieler werden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu gefragten Persönlichkeiten auf dem Kontinent.137 Ohne an dieser Stelle einen Exkurs über die kulturellen Interaktionen z­ wischen England und Frankreich im Laufe der Geschichte einzuschieben, möchte ich dennoch insbesondere auf Robert Simons ausführliche Publikation „Hogarth, France and British Art“ (2007)138 aufmerksam machen, in der der Autor am Beispiel des Malers William Hogarth (1697 – 1764) die durchaus ambivalente Beziehung ­zwischen den beiden Nationen schildert. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist das 18. Jahrhundert als ein besonders bedeutsames herauszustellen, wenn es um die Entwicklung eines kulturellen nationalen Bewusstseins in England geht. Es entstehen in d ­ iesem Zeitraum Topoi der ‚englischen Identität‘, die auch im kritischen Diskurs der 1890er von großer Bedeutung sein werden. Erst durch die Etablierung eines nationalen Selbstbewusstseins, das durch ein erstarkendes Bürgertum gekennzeichnet ist, entsteht die Grundlage für eine kritische Haltung gegen kontinentale Einflüsse. Diese spielt insbesondere für die konservative Kunst- und Literaturkritik am Ende des viktorianischen Zeitalters eine entscheidende Rolle und soll daher im Folgenden in ihren Ursprüngen skizziert werden. Nachdem das Königreich vornehmlich auf kontinentale Künstler für die Ausstattung seiner Bauten oder seine Portraits (man denke an Holbein, Van Dyck oder Kneller) zurückgreift, bildet sich nicht zuletzt als Reaktion auf die Etablierung einer akademischen Kunst in Frankreich im Laufe des 18. Jahrhunderts ein Diskurs darüber heraus, was eine genuin englische Kunst im Vergleich mit den großen kontinentalen Traditionen auszeichne.139 Der spätestens seit Pevsner 140 überaus gebräuchliche Begriff der Englishness ist bis heute Teil ­dieses Diskurses. Paul Langford macht jedoch auf die relativ kurze Geschichte des Terminus aufmerksam: „Englishness is a term much employed by historians, understandably, given the current interest in matters of identity. […] the word itself is an anachronism. ‚Englishness‘ is a relatively modern invention. Dictionaries place it no earlier than 1805.“ 141 136 Brewer, John: The Pleasures of the Imagination. English culture in the eighteenth century. London, New York 2013 (New York 1997), S. 8. 137 Vgl. ebd., S. 378. 138 Vgl. Simon, Robert: Hogarth, France and British Art. The rise of the arts in 18th-­century Britain. Cornwall 2007. 139 Vgl. Busch, Werner: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München 1993, S. 11. 140 Vgl. Pevsner, Nikolaus: The Englishness of English Art. An expanded and annotated version of the Reith Lectures broadcast in October and November 1955. London 1993. 141 Langford, Paul: Englishness Identified. Manners and Character 1650 – 1850. New York 2000, S. 1.

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Vor einer solchen begrifflichen Fixierung wurzeln die Überlegungen zu einer englischen kulturellen Identität in patriotischen Memorialbestrebungen, wie dem Poets‘ Corner in Westminster Abbey, wo seit den 1550er Jahren um das Monument Geoffrey Chaucers herum nationale Geistesgrößen posthum geehrt werden.142 Englishness ist – appliziert man den Begriff auch auf Epochen vor seinem eigentlichen Gebrauch – zahlreichen Veränderungen in seinem Verständnis und der Konzeption unterworfen. Er wird innerhalb Englands von Philosophen und Theoretikern während des 18. Jahrhunderts vorbereitet, indem kulturelle Konzepte, Verhaltensweisen oder künstlerische Eigenheiten postuliert werden, die genuin englisch s­eien. Zudem bildet sich gewisser­maßen von außen eine stereotype Sichtweise auf die britischen Inseln und England im Speziellen heraus. Einer dieser Stereotype ist beispielsweise der Engländer als der quasi nationale Individualist. Aufgrund der geografischen Außenseiterlage der Insel taucht immer wieder die Idee vom Engländer auf, der erhaben über das europäische Festland schaut und so seine Eigenheiten frei, ohne die Beeinflussung kontinentaler Moden entwickeln kann.143 Werner Busch bezeichnet diese Wahrnehmung in Bezug auf die englische Malerei des 18. Jahrhunderts als „kunsthistorische[s] Differenzbewußtsein“, welches die englischen Künstler aufgrund ihrer mangelnden Zugehörigkeit zu einer kontinental etablierten Kunsttradition empfinden.144 An selber Stelle kann Busch allerdings feststellen, dass d ­ ieses Bewusstsein den Boden bereitet „für ein ausgeprägt ästhetisches Erkenntnisvermögen im Blick auf historische Kunst.“ 145 Besonders ausgeprägt ist ­dieses „Erkenntnisvermögen“ auf je unterschiedliche Weise in den Werken der Maler Joshua Reynolds (1723 – 1792) – seines Zeichens erster Präsident der 1768 gegründeten Royal Academy of Arts – und William Hogarth. Beide Künstler integrieren Werke der klassischen Kunstgeschichte in ihre Bilder, und machen sich dabei das von Horace Walpole (1717 – 1797) und anderen Theoretikern erdachte Konzept des wit zunutze, welches in den Publikationen Werner Buschs wiederholt thematisiert wird.146 Daher möchte ich mich auch hier und im Folgenden an seinen Ausführungen orientiert wissen. Das Konzept des wit ergibt sich gewissermaßen aus einer weiteren englischen Traditionslinie des 18. Jahrhunderts: der Bedeutung von geschliffener Konversation. So entsteht zunächst, insbesondere in den Artikeln des von Joseph Addison und Richard Steele herausgegeben Spectator (1711 – 1714) und in den Schriften des 3rd Earl of Shaftesbury (1671 – 1713), ein Diskurs über den Begriff politeness. John Brewer formuliert eine umfassende Definition des Terminus: 142 Vgl. Brewer, 2013, S. 379. 143 Vgl. Langford, 2000, S. 22. 144 Vgl. Busch, 1993, S. 243. 145 Ebd. 146 Vgl. Busch, Werner: Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip. Ikonographische Zitate bei Hogarth und seiner Nachfolge. Hildesheim 1977; Busch, 1993.

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„… conversation was the means for its achievement and politeness the means by which social improvement and refinement could be realized. In opposition to political divisiveness and religious bigotry, politeness proposed a more harmonious ideal. And, though it would be wrong to claim that it succeeded in curing the ills it sought to relieve, it did provide a new way of understanding and responding to the anxieties of the age. It placed culture at the centre of its analysis.“ 147

Vordergründig geht es dabei also um die ‚Verfeinerung‘ von Umgangsformen, die nichtsdesto­ trotz natürlich erscheinen sollen, wobei es sich um einen Rückgriff auf frühneuzeitliche Konzepte, wie etwa die von Baldassare Castiglione in seinem Libro del Cortegiano (1528) formulierten Begriffe von grazia und sprezzatura handelt, die unter anderem die Mühelosigkeit und Anmut in der Konversation meinen.148 In der politeness wird vor allem die Vermeidung leidenschaftlicher Impulse sowie das allumfassende Ziel, in Gesellschaft zu gefallen („pleasing“), angestrebt.149 Für Shaftesbury ist dabei Ironie als ein Kernaspekt der politeness der geeignetste Weg, in der Konversation ­zwischen Ernst und Witz zu vermitteln. „Irony presupposed aloofness and distance, a certain manipulating of effects. It allowed the simultaneous establishment of the proper distance between social and philosophic self of the proper distance between the philosopher and others. While it allowed the maintenance of essential gravity and simplicity, it mitigated this seriousness with humour and raillery.“ 150

Besonders relevant für meine folgenden Betrachtungen in Bezug auf die viktorianische Kunstbetrachtung ist die moralisch aufgeladene Bewertung von Kunstwerken im Kontext der Politeness-­Diskussion. „Works of art were of enormous importance because of their persuasive power. Used wisely they could teach people to follow the path of virtuous sociability; used wrongly they might cause irreparable damage. It was therefore difficult to distinguish matters of taste from questions of morality.“ 151

Bereits hier bildet sich demnach ein Kunstverständnis heraus, das eng mit sozialen Moralvorstellungen verknüpft ist und somit die ‚englische‘ Ästhetik – falls von einer solchen überhaupt die Rede sein kann – dominiert.

147 Brewer, 2013, S. 90. 148 Vgl. Kreuder, Friedemann: Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010, S. 44. Für die Rezeption von Castigliones Traktat siehe weiterhin: Burke, Peter: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s Cortegiano. Pennsylvania 1996. 149 Vgl. ebd., S. 93. 150 Klein, Lawrence E.: Shaftesbury and the culture of politeness. Moral discourse and cultural politics in early eighteenth-­century England. Cambridge 1994, S. 96. 151 Ebd., S. 94.

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Aus dem Bestreben, anspruchsvolle Konversationskunst an den Tag zu legen, ergeben sich nun weitere Gedankengänge über die Bewerkstelligung eines solchen Ziels. Eine Methode ist beispielsweise „die originelle Anspielung, die überraschende Pointe, ein erhellendes Aha-­Erlebnis beim Erkennen einer unvorhergesehenen Beziehung ­zwischen Dingen oder Begriffen, oder auch einfach nur de[r] intelligente[] Verweis auf Zusammenhänge.“ 152

Werner Busch beschreibt hier wit in seiner Essenz. Alsbald wird der geistreiche Konversations-‚witz‘ mit den Bildkünsten in Zusammenhang gebracht. Die Freude der Betrachter beim Wiedererkennen von Ähnlichkeiten oder Vorbildern wird so unter anderem in Alexander Gerards Essay on Taste (1759) geschildert. „Similitude is a very powerful principle of association, which, by continually connecting the ideas in which it is found, and leading our thoughts from one of them to the other, produces in mankind a strong tendency to comparison. […] As a farther energy is requisite for discovering the original by the copy; and as this discovery produces a grateful consciousness of our own discernment and fagacity, and includes the pleasant feeling of success.“ 153

Reynolds setzt diese rezeptionsästhetische Konzeption mit seiner wiederum theoretisch formulierten Idee des borrowing um,154 wobei er klassische Motive der Kunstgeschichte insbesondere in seine Portraitmalerei überführt. Während der Präsident der Akademie dabei allerdings auf eine Aufwertung der englischen Kunsttradition abzielt, macht sich Hogarth den englischen wit auf ganz andere Art und Weise zunutze. Der englische Tourist des 18. Jahrhunderts, der auf seiner zeitgemäßen Grand Tour die europäische Kultur aufsaugt oder aufkauft und gewissermaßen als Geschmackspostulat in seinem Gepäck zurückbringt, wird für ihn zum Feindbild der nationalen Ästhetik. Gegen den von ausländischen Einflüssen geprägten Geschmack, der sich unter dem kaufkräftigen Kunstpublikum des 18. Jahrhunderts ausbreitet, malt und zeichnet William Hogarth an. In seinen malerischen, grafischen und kunsttheoretischen Werken polemisiert der Künstler geradezu als Gegner der französischen Akademie und der Stilisierung der Alten Meister vor dem Kunstpublikum. 152 Busch, 1993, S. 404. 153 Gerard, Alexander: An Essay on Taste. London 1759, S. 49 f. 154 Bernd Krysmanski paraphrasiert und resümiert Reynolds Konzept des borrowing, welches dieser in seinen berühmten Discourses on Art beschreibt, wie folgt: „From the sixteenth century onwards, artistic theories, following Aristotle’s concept of mimesis and ancient ideas of poetics and rhetoric, recommended the borrowing of a variety of styles from different, exemplary sources and then to merge them into new, perfect entities in order to ‚invent‘ a good picture that would surpass the mere imitation of imperfect nature.“ Krysmanski, Bernd W.: Hogarth’s Hidden Parts. Satiric Allusion, Erotic Wit, Blasphemous Bawdiness and Dark Humour in Eighteenth-­Century English Art. New York 2010, S. 287 f.

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Abb. 1 William Hogarth: „The Battle of the Pictures“, 1745, Radierung, 20,3 × 22,2 cm, Royal Collection, UK.

„He did much to encourage the idea that he despised all things French. In practice, however, he accepted the French school as having established the artistic standards that he sought to emulate, although he was determined never merely to be an imitator.“ 155

Was Robert Simon hier am Anfang seines Buches als These für Hogarths Verhältnis zur französischen Kunsttradition aufstellt, halte ich für sehr fruchtbar im allgemeinen Verständnis dieser Beziehung auch noch im 19. Jahrhundert. Im Gegensatz zu den intellektualisierten und formalisierten Idealen der französischen Akademie erschafft Hogarth eine englische Tradition, die sich durch Witz (bzw. wit) auszeichnet und sich an gewählten Antagonisten abarbeitet. In seinem berühmten radierten Eintrittsticket zur Auktion seiner Gemälde mit dem Titel „The Battle of the Pictures“ (1745) stellt Hogarth deutlich klar, worin diese ästhetischen Antagonisten bestehen (Abb. 1). Zwischen zwei Häusern treten auf einem Feld die Gemälde Hogarths den zunächst aussichtslos erscheinenden Kampf gegen eine Armada aufgereihter Alter Meister an. Erst auf den zweiten Blick wird die Tatsache deutlich, dass die in Reih und Glied postierten Gemälde lediglich ‚stock‘ aus dem Haus des Auktionators im Hintergrund sind und aus nur drei unterschiedlichen Motiven bestehen: „eine Reihe

155 Simon, 2007, S. 9.

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identischer Fassungen des hl. Andreas, eine Reihe von Wiederholungen zum Thema Apoll und Marsyas und eine Reihe Europen“.156 Diese massenweise aus Italien stammenden, gemalten religiös-­mythologischen Motive – so die Ansicht des Künstlers – dienen einzig der Befriedigung der unersättlichen Nachfrage nach Alten Meistern, die den zeitgenössischen englischen Geschmack verderbe.157 Bei noch genauerer Betrachtung wird schließlich der Kampf z­ wischen modern moral subjects 158 und mythologischen/religiösen Sujets zugunsten Hogarths ausgefochten. In der himmlischen Sphäre des Bildes behalten seine Leinwände die Oberhand und stechen Löcher in die ihnen zugeordneten ikonografischen Szenen, was einer Hoffnung entspricht, in der Zukunft werde sich die englische Kunst gegenüber kontinentalen Einflüssen durchsetzen. Nicht nur bei Hogarth, sondern auch im allgemeinen Diskurs bis in das 19. Jahrhundert hinein ergibt sich somit die Vorstellung von dem, was genuin englisch sei, insbesondere aus dem, was als un-­English diskreditiert wird. „But un-­English was a term in use from at least the late seventeenth century. […] When Fenimore Cooper visited Britain in the 1830s he noted ‚They have a custom of saying that such and such an act is un-­English‘.“ 159

Ein besonders populäres Beispiel hierfür liefert sicherlich die Herausbildung des englischen Landschaftsgartens in Konkurrenz zum französischen Barockgarten.160 Und so schließt sich an dieser Stelle auch der Kreis zur eingangs beschriebenen Politeness-­Debatte, die sich nicht zuletzt gegen den vermeintlich französischen Formalismus des Hofes richtet.161 Auch in der Rezeption Englands auf dem Kontinent wird die „liberty“ des politischen Systems wiederholt mit der Rigidität des französischen Absolutismus kontrastiert und England wird sogar zu einem Ideal der aufklärerischen philosophes.162 Daher zeichnet sich vor allem das 18. Jahrhundert durch einen intensiven, produktiven Austausch z­ wischen England und Frankreich aus. So werden englische Romane 156 Busch, 1993, S. 252. 157 Vgl. ebd. 158 Hogarth selbst prägt diesen Begriff für seine der Genremalerei verwandte Kunst und bezeichnet damit „den Gegenstand und seine Ausrichtung, seine [moralische] Funktion.“ Busch, 1993, S. 243. 159 Langford, 2000, S. 13 f. 160 In Daniel Chodowieckis Grafikfolge „Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens“ (1778/79) wird die Polarität z­ wischen französischem Barockgarten und englischem Landschaftsgarten sogar genutzt, um das bildliche Argument zu stützen. In den Bildpaaren „Die Unterredung“ und „Geschmack“ wird der Garten à la française, bevölkert von einem Mann und einer Frau in Rokoko­ mode, jeweils einem englischen Landschaftsgarten, der von zurückhaltend bürgerlich gekleideten Paaren betreten wurde, gegenübergestellt, um die ‚Affektiertheit‘ und ‚Natürlichkeit‘ nicht nur im Verhalten der Personen sichtbar zu machen, sondern auch in der von ihnen gestalteten Natur. Vgl. Kirves, Martin: Das gestochene Argument. Daniel Nikolaus Chodowieckis Bildtheorie der Aufklärung. Berlin 2012, S. 43 und 117. 161 Vgl. Brewer, 2013, S. 92. 162 Vgl. ebd., S. 10 und S. 383. Siehe weiterhin: Voltaire: Lettres philosophiques. Amsterdam 1734.

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­ausnehmend schnell ins Französische übersetzt und sogar illustriert.163 Auf der anderen Seite lässt Hogarth beispielsweise seine Vorlagen zu Marriage A-la-­Mode von französischen Stechern drucken.164 In Frankreich zieht sogar eine regelrechte „Anglomanie“ große Kreise, die sich in einer Vorliebe für Literatur, Kunst, Essen und Handwerk bis in das 19. Jahrhundert hinein äußert.165 Domna C. Stanton skizziert diese Entwicklung, die nicht zuletzt durch Voltaires Lettres philosophiques/Lettres anglaises (1734) angestoßen wird und in Madame de Staëls De la littérature (1800) eine ihrer stärksten Ausprägungen findet. Germaine de Staël (1766 – 1817) beschreibt darin unter anderem eine vermeintliche Eigenart des englischen Volkes, die noch für das späte 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielen wird: „… de Staël derives from the English philosophical spirit a natural penchant for melancholy and ennui […]. Ennui, linked to a somber imagination, determines the uncontrolled eruptions of energy, the violent and bizarre passions both of the individual Englishman and of English literature; even their humor, by French standards of civility, is morose and misanthropic.“ 166

Das Bild des stereotypen Engländers, wie es bis heute in Teilen Bestand hat, bildet sich also in dieser Zeit heraus. Es manifestiert sich unter anderem in der eben von Madame de Staël beschriebenen Reserviertheit, die bis zum romantischen Topos des ennui entwickelt sein kann, in einem ausgeprägten Willen zu betonter Individualität, sowohl in der Einzelperson als auch als nationale Identität, und immer wieder in einem Ringen mit der Zugehörigkeit zum europäischen Kulturkanon. Da dieser spätestens seit Ende des 17. Jahrhunderts von Frankreich aus dominiert ist, entwickelt sich ­zwischen den beiden Nationen, die immer wieder in politische Konflikte verwickelt sind, eine ambivalente Beziehung, die durch Anziehung und Abstoßung gleichermaßen gekennzeichnet ist. So ist Frankophilie lange eine problematische Haltung in der englischen Kultur und wird als ­solche noch in den 1890ern verhandelt. Während der französische Formalismus des Absolutismus einen Kritikpunkt bietet, der die englische politeness und liberty zivilisatorisch überlegen erscheinen lässt,167 stellt die französische libertinage einen gefürchteten Einfluss auf der britischen Insel dar. In Frankreich äußert sich das libertine Denken vor allem im geschriebenen Wort, sowohl der Philosophen von Voltaire bis Diderot als auch in libertinen, pornografischen Romanen, die im ­zeitgemäßen 163 Vgl. Holloway, Owen E.: French Rococo Book Illustration. London 1969, S. 52. 164 Vgl. Paulson, Ronald: Hogarth, Vol. III. Art and Politics, 1750 – 1764. Cambridge 1993, S. 429. 165 Vgl. Stanton, Domna C.: The Aristocrat as Art. A Study of the Honnête Homme and the Dandy in Seventeenth- and Nineteenth-­Century French Literature. New York 1980, S. 31 f. 166 Ebd., S. 31. Vgl. Mme de Staël: De la litterature. In: Dies.: Œuvres complètes de Madame la B ­ aronne de Staël-­Holstein. Paris 1844, S. 196 – 330, hier S. 273. 167 Liberty ist bei Shaftesbury ebenfalls ein Schlüsselelement der politeness. Ihm geht es dabei vor allem um die dem englischen Volk eigene Freiheit in sprachlichem Ausdruck und Kritik. Vgl. Klein, 1994, S. 196 f.

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Skeptizismus K ­ irche und Moral als alte Institutionen infrage stellen. In England indes drückt sich d ­ ieses Gedankengut eher in den Handlungen und Treffen der jungen Aristokraten aus, die durch ihre Grand Tour beeinflusst, hedonistische Genussvorstellungen gegen britische Moral triumphieren lassen.168 Die berüchtigten und zum Teil verbotenen Hell-­Fire Clubs, die, wie Evelyn Lord herausarbeitet, weit weniger satanisch agieren, als es ihr Name vermuten ließe,169 stellen jedoch in der zeitgenössischen Presse einen Topos des Aufruhrs dar. Zu dieser Problematik werde ich in Kapitel 4 nochmals ausführlich zurückkommen. Auch die englische Kunst- und Literaturkritik der 1890er Jahre, die von Jane Haville Desmarais in ihrer Monografie über Beardsleys kritische Rezeption (1998) ausführlich nachgezeichnet wird, ist geprägt von der Gleichung, in der Englisches für Gutes und Französisches für Schlechtes steht.170 Es scheint sich dabei um eine sehr plakative und eindimensionale Denkweise zu handeln, die indes geformt wird durch vergangene und parallele politische Ereignisse ­zwischen den beiden Nationen. Die Kolonialpolitik der beiden Großmächte fördert stetig das Konfliktpotenzial, sodass beispielsweise 1895 das britische Außenministerium eine Warnung gegen Frankreich ausspricht: Jede französische Besetzung der Obernil-­Region werde als feindlicher Akt gewertet.171 Diese kolonialpolitischen Konflikte beruhigen sich erst um 1900 wieder im Zusammenschluss gegen den deutschen Militarismus, wobei es in England auch zu einer kulturell entspannteren Haltung gegenüber französischen Einflüssen kommt. Zuvor jedoch dominiert ein Topos die zeitgenössische Kritik an der Frankophilie der englischen Avantgarde: „the metaphor of a diseased imagination for a mind receptive to French ideas had almost become a cliché by the late 1890s.“ 172 Laut Desmarais wird dieser Topos durch Nordaus Degenerationsgedanken angetrieben, der auch in der englischen Übersetzung seines Buches 1895 zahlreiche Anhänger auf den britischen Inseln findet.173 Diese sehen sich durch die Publikation in ihrer Denkweise bestätigt, französische Einflüsse schwächten die ‚gesunde‘ englische Kultur.174 Tatsächlich liegt diese sich zur feuilletonistischen Furcht ausbreitende fixe Idee in einer Instabilität in Großbritanniens imperialer Macht begründet.175 Künstler wie Whistler und seine Nachfolger suchen nach neuen Inspi­rationen in der aktuellen französischen Kunst, jedoch dies weniger mit einem genuin politisch subversiven Unterton. Subversion spielt sich innerhalb des Phänomens eher in Bezug auf die Unverständigkeit des Kunstpublikums ab. So beschreibt Jennifer Higgins 168 Vgl. Ashe, Geoffrey: The Hell-­Fire Clubs. Sex, Rakes and Libertines. Gloucestershire 2005 (1974), S. 92. 169 Vgl. Lord, Evelyn: The Hell-­Fire Clubs. Sex, Satanism and Secret Societies. New Haven, London 2008, S. 52 – 57. 170 Vgl. Haville Desmarais, 1998, S. 54. 171 Vgl. ebd., S. 135. 172 Ebd., S. 55 173 Vgl. Nordau, Max: Degeneration. Unbekannter Übersetzer, London 1895. 174 Vgl. Haville Desmarais, 1998, S. 55. 175 Vgl. ebd., S. 2.

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die Frankophilie von Beardsley und seinen Zeitgenossen als Reaktion auf die „narrow-­ mindedness of many English critics“.176 Die als große kulturelle Freiheit empfundene Zeit der Dritten Republik (1870 – 1940) steht in den Augen der englischen Künstler und Literaten der viktorianischen Kleingeistigkeit entgegen 177 und bildet gleichsam einen auffälligen Gegensatz zur genau umgekehrten kontinentalen Wahrnehmung Englands als liberal im 18. Jahrhundert. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass die zeitgenössische Kritik an avantgardistischer Frankophilie zunächst nicht in direktem Zusammenhang mit konkreter Rokoko-­ Rezeption steht. Zumeist wird die Rezeption ebenfalls mehr oder weniger zeitgenössischer französischer Künstler oder Autoren kritisiert. Die französische Dekadenz der Jahrhundertmitte, die irrealen Visionen der Symbolisten sowie die stilistischen Freiheiten der Impressionisten werden dabei als Gefahr für die Stabilität viktorianischer Ordnung gewertet, sodass sich Margaret Armour 1896 sogar dazu hinreißen lässt zu schreiben: „Why not hoist the Decadents altogether off our shoulders and saddle them on to France?“ 178 Während hierbei die positive Rezeption französischer Kultur auf Seiten der englischen Avantgarde der negativen Rezeption französischer Einflüsse auf Seiten bürgerlicher (Kunst) Kritik gegenübersteht, sind die Verhältnisse in der zeitgenössischen Rokoko-­Rezeption weitaus weniger diametral zu positionieren. Die französischen Topoi von Effeminiertheit und aristokratischer Dekadenz werden auch in der englischen Rezeption des Louis XV-Stils und des Ancien Régime übernommen. Angereichert wird die englische Kritik ­dieses französischen Nationalstils mit der ablehnenden Haltung, die ohnehin gegen alles Französische eingenommen wird.179 Die aristokratische Ausrichtung des Stils steht dem betont bürgerlichen Habitus des viktorianischen Zeitalters grundsätzlich entgegen. Ungezwungenheit, Ironie und Frivolität des Rokoko stellen gleichsam den ästhetischen Kanon von Eindeutigkeit und Verständlichkeit im konservativen Kunstdiskurs in Frage.180 Bereits während des 18. Jahrhunderts ist eine Dichotomie von elitärer bzw. aristokratischer Franko­philie und gleichzeitiger bürgerlicher Frankophobie erkennbar; ein Phänomen, dem sich Robin Eagles ausführlich widmet.181 Im 19. Jahrhundert setzt sich indes der bürgerliche Strang dieser Rezeption fort und drückt sich beispielsweise in der dem französischen Volk unterstellten Oberflächlichkeit aus:

176 Higgins, 2011, S. 64. 177 Vgl. ebd. 178 Armour, Margaret: Aubrey Beardsley and the Decadents. In: The Magazine of Art 20, November 1896–April 1897, S. 9 – 12, hier S. 11. 179 Vgl. Ireland, 2006, S. 179. 180 Vgl. ebd. 181 Vgl. Eagles, Robin: Francophilia in English Society, 1748 – 1815. London, New York 2000, S. 22.

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„It was commonly believed that beneath the frills, the French, in fact, wore no sleeves and had no backs to their shirts, or soles to their shoes.“ 182

Insbesondere die Mode des höfischen Rokoko, wie sie nicht zuletzt in Gemälden und Stichen überliefert wird, ist in solchen Topoi Ausgangspunkt für eine moralische Kritik. Jedoch erst als der Begriff „Rokoko“ Verbreitung findet, ist auch eine konkrete Rokoko-­ Kritik in England nachzuweisen, wenn der Essayist Leigh Hunt 1855 etwa über das Rokoko als Stil schreibt: „The jumble called ‚rococo‘ is, in general, detestable. A parrot seems to have invented the word, and the thing is worthy of his tawdriness and his incoherence.“ 183

Diese selten so kongenial formulierte Abwertung eines historischen Stils setzt sich indes nicht allein in der konservativen Kritik fort. Auch Gleeson White (1851 – 1898), der spätere Herausgeber des literarischen und kunstgewerblichen Magazins The Studio (1893 – 1964) – welches immerhin Vorläufer für spätere Jugendstil-­Zeitschriften wie Pan oder Jugend werden soll – äußert sich laut Ken Ireland überaus herablassend zur zeitgenössischen Rokoko-­Rezeption im bürgerlichen Interieur: „The future editor of the art journal The Studio rails at the invasion of carpets, pottery, glass, furniture, and metalwork, by a ‚sprawling lawless ornament of the most vulgar decoration that ever grew to be recognized as a style.‘“ 184

In beiden Aussagen fällt die Konzentration auf die vermeintliche Regellosigkeit des Stils auf, wie sie bereits Blondel als Bizarrerie kritisiert hat. Auch die spätere Kritik am Jugendstil nutzt ein ähnliches Vokabular, wobei die Unnatürlichkeit und Widergesetzlichkeit der geschwungenen Linie größter Anlass zu Missbilligungen ist.185 Der Rokoko-­Stil selbst findet also kaum Anklang unter der englischen Intelligenzia des 19. Jahrhunderts. In der Folge zeige ich, dass vielmehr die Kultur des französischen 18. Jahrhunderts das Interesse von Vertretern des Decadent Movement weckt. Während das viktorianische Bürgertum die Vorliebe Ludwigs XV. für Intimität in seinen Interieurs in „coziness“ umwandelt,186 konzentrieren sich die Vertreter des Decadent Movement eher auf die Libertinage des vorausgegangenen Jahrhunderts.

182 Ebd., S. 21. 183 Hunt, Leigh: The Old Court Suburb; or Memorials of Kensington, Regal, Critical, and Anecdotal, Bd. I. London 1855, S. 79. 184 Gleeson White zitiert nach: Irland, 2006, S. 157. 185 Vgl. Davidson, Gail S.: Emulation and Subversion. Nineteenth-­Century Rococo Revivals in the Graphic Arts. In: Ausst.-Kat.: Rococo: The Continuing Curve, 1730 – 2008. New York, ­Smithsonian’s Cooper-­Hewitt, National Design Museum, 2008, S. 169 – 193, hier S. 169. 186 Vgl. Hunter-­Stiebel, Penelope: The Continuing Curve. In: ebd., S. 3 – 11, hier S. 7.

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Bevor es allerdings zu solchen Dichotomien kommt, spielt sich der historische Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in England weit weniger eruptiv ab als in Frankreich. Die Monarchie kann lediglich durch die Amerikanische Revolution erschüttert werden, bleibt jedoch eine stete Basis der englischen Gesellschaft. Wenn überhaupt von einem englischen Rokoko gesprochen werden kann, so zeichnet sich dies vor allem durch Einflüsse von außen aus, wie Sarah D. Coffin es in ihrem Aufsatz „Radiating Rococo“ (2008) ausführt: „It is no coincidence that the real move toward rococo in England started just after the accession to the throne of George II in 1727 and the subsequent arrival from Hanover of his eldest son Frederick, Prince of Wales (1707 – 1751) [… who] had grown up with continental taste […]. Artists and craftsmen followed in their wake.“ 187

George II lernt nie richtig Englisch zu sprechen und protegiert hauptsächlich deutschsprachige Künstler. Sein Sohn wiederum spricht sich mehrfach für den französischen goût moderne aus, was ihm nicht zuletzt politische Kritik einbringt.188 Am Beginn des 19. Jahrhunderts stellt die englische Regency einen wichtigen Anknüpfungspunkt im Übergang von einem aristokratisch geprägten 18. Jahrhundert zu einer bürgerlichen Epoche dar. In den Jahren z­ wischen 1811 und 1820 übernimmt der spätere George IV als Regent die politischen Geschäfte seines krankheitsbedingt nicht mehr regierungsfähigen Vaters. Historisch ist die englische Regency auf diesen engen Zeitraum festgelegt, lässt sich kulturell jedoch bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Verschiedenste Stile finden in dieser Zeit Anwendung und bereiten so den Historismus und Eklektizismus des 19. Jahrhunderts vor. Im aristokratischen Umfeld ergeben sich indes bis heute vorherrschende Vorstellungen, die eng mit dieser Zeit verknüpft sind. Im Zentrum dieser Klischees steht zumeist der Regent selbst, der mit seiner Entourage in seinen Palästen ein ausschweifendes Leben mit zahllosen Festen geführt haben soll. John Boynton Priestley räumt in seiner Monografie über die englische Regency jedoch mit dieser Vorstellung auf. „The popular notion that it was all one huge orgy, with drunken feasts every night and with gay girls […] hurried in along secret passages, was so much nonsense.“ 189 „Instead of being a cold-­hearted libertine, which he was so often reputed to be, he was really a rather soft-­hearted overgrown boy.“ 190

187 Coffin, Sarah D.: Radiating Rococo. The Dissemination of Style through Migrating Designers, Craftsmen, and Objects in the Eighteenth Century. In: ebd., S. 103 – 135, hier S. 118. 188 Vgl. ebd., S. 119. 189 Priestley, John Boynton: The Prince of Pleasure and his Regency 1811 – 20. London 1969, S. 32. 190 Ebd., S. 33.

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Abgesehen von dieser psychologischen Einsicht in Georges Persönlichkeit sei festzuhalten, dass er sich durch eine immense Bautätigkeit auszeichnet, die in der eklektischen Fülle des Royal Pavilion in Brighton sicherlich einen ihrer Höhepunkte erreicht. Der Eindruck von höfischer Pracht und Überschwänglichkeit formiert sich nicht zuletzt im Angesicht eines solchen Bauwerks, das in eine Spätrokoko-­Version von Tausendundeiner Nacht entführt. Tatsächlich lässt sich die libertine Vorstellung von der englischen Regency weniger von der Person Georges IV herleiten als von seinem aristokratischen Gefolge, über das Priestley schreibt: „It is they who have given the Regency its raffish air and rather gamey flavour. This was a ruling class nearing the end of one stage of its development, […]. These were not like the aristocrats of the earlier eigh-­teenth century, gravely magnificent but secure and serene, able to shape and colour the appearance of a whole age. Since then there had been the French Revolution, the emigrés haunting London, the huge menace of Napoleon, the new rich men and the sullen masses of industry, and everything was changing and the future uncertain.“ 191

Es handelt sich also um eine zwar ‚andere‘ Aristokratie als die des Ancien Régime, nichtsdestoweniger zeichnet diese Gesellschaft schärfer die Umrisse für die Imagination des dekadenten Adeligen im englischen fin de siècle vor. Dies lässt sich beispielsweise an gleich zwei frühen Essays aus der Feder Max Beerbohms nachvollziehen, in denen er die englische Regency zum Thema macht: „George IV“ (1894) und „Poor Romeo!“ (1896) über den angeblich ‚schlechtesten Schauspieler‘ Robert ‚Romeo‘ Coates. Domna C. Stanton stellt in ihrem Buch The Aristocrat as Art (1980) die Korrelation von Aristokratie und Dandyismus während der Regency bereits deutlich heraus.192 George Bryan „Beau“ Brummell (1778 – 1840) geht aus dieser Zeit als der historisch erste sogenannte Dandy hervor, der eng mit den Geschicken des Regenten verbunden ist. „The prince, often described as the butt of Brummell’s wit, as the man-­in-­waiting at the Beau’s sartorial rituals, served as fail to the dandy’s enormous though fragile prestige.“ 193

Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung des Dandys, der durch modische Opulenz von sich reden macht, setzt Brummell auf dezidierte Schlichtheit. Damit formuliert er nach außen bewusst einen Gegenentwurf zur aristokratischen Ausschweifung.194 Dennoch ist er auf das adelige Publikum dringend angewiesen, um dessen vermeintlichen Stumpfsinn mittels bissiger Bonmots bloßzustellen. Dass ausgerechnet diese Pose nicht lang erfolgversprechend ist, zeigt sich spätestens als Brummell nach einer unüberlegten Aussage über das

191 Ebd., S. 41. 192 Vgl. Stanton, 1980, S. 30. 193 Ebd., S. 40. 194 Vgl. Grundmann, 2010, S. 37.

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Übergewicht des Regenten bei d ­ iesem in Ungnade fällt und mit beträchtlichen Schulden nach Frankreich fliehen muss.195 Nicht erst seitdem ist der Einfluss, den Brummells Selbstinszenierung auf die französische Gesellschaft hat, immens. Unter anderem die Rezeption Brummells trägt dazu bei, dass sich in Frankreich ein Bild des Dandys als Künstlerfigur etabliert, die vorbildhaft sein wird für Baudelaire und später Huysmans.196 Es entwickelt sich dabei jedoch besonders in der äußeren Erscheinung der Figur ein Gegensatz zur Schlichtheit Brummells. Da es laut Melanie Grundmann in der ‚Natur‘ des Dandys liege, sich insbesondere modisch stets konträr zum jeweiligen Zeitgeschmack zu verhalten,197 erscheint es nur logisch, dass auf die akkurate Zurückhaltung in hellgrauen Maßanzügen eine Hinwendung zu giftgrünen Knopflochblumen, samtenen Kniebundhosen und rosa Westen folgen muss. So wie Brummell den Rüschenhemden des Aristokraten entgegentritt, reagiert Wilde auf den schwarzen Einheitsanzug und die steife Hemdsbrust des viktorianischen Bürgers. Eben diese Hemdsbrust wird in der Mitte der „Beardsley Period” durch einen öffentlichen Skandal beinahe durchstoßen. Die Verurteilung Oscar Wildes im Mai 1895 stellt eine regelrechte Zäsur für das Jahrzehnt und eine traumatische Erfahrung für so manchen Zeitgenossen dar. Die stark von einer homosexuellen Kultur geprägten Jahre zuvor werden plötzlich von einem Prozess unterbrochen, der die Sexualität eines Künstlers in den Fokus des öffentlichen Interesses rückt.198 Dadurch werden auch bestimmte Ikonografien, Motive oder Symbole, die als genuin homoerotisch kodiert sind, ausdrücklich in den Bereich des Anrüchigen verbannt. Da Wilde sich wiederholt mit den (Liebes)idealen der klassischen Antike auseinandergesetzt hat, bekommt beispielsweise die Altertumswissen­ schaft, die ohnehin seit jeher einen latent homoerotischen Unterton besitzt,199 einen vollends zwielichtigen Charakter. Ebenso werden sämtliche Stile, Moden oder Verhaltensweisen, die als ‚effeminierend‘ verstanden werden können, schneller denn je dem homosexuellen Milieu zugeordnet. Auch eine Rezeption des französischen Rokoko und dessen Kleidung wäre als eine direkte Auseinandersetzung mit den Genderklischees des viktorianischen Zeitalters zu deuten. In ­ opuläre Sicht auf den Schleifen, Rüschen und Federn des Ancien Régime vereint sich die p 195 Vgl. Priestley, 1969, S. 86. 196 Vgl. Stanton, 1980, S. 34 – 44. 197 Vgl. Grundmann, 2010, S. 37. 198 Man rufe sich hierzu Robert Hichens’ The Green Carnation (1894) ins Gedächtnis. Der satirische Roman verschleiert kaum, dass er Oscar Wildes homoerotische Beziehung zum jungen Lord Alfred Douglas behandelt. Hichens ist dabei selbst Teil des Zirkels um Wilde und gibt dem an sich inhaltlosen Text nur dadurch eine satirische Wendung, ­welche die unverhohlene Bewunderung für Wildes Esprit nur oberflächlich überdeckt, indem er Charaktere auftreten lässt, die wie Lady Locke den Standpunkt des viktorianischen Moralurteils einnehmen. Vgl. Beckson, Karl: Oscar Wilde and the Green Carnation. In: English Literature in Transition, 1880 – 1920 4, 2000, S. 387 – 397, hier S. 393. 199 Whitney Davis zeichnet diese Entwicklung in seinem Buch genauestens nach: Davis, Whitney: Queer Beauty. Sexuality and Aesthetics from Winckelmann to Freud and Beyond. New York 2010.

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Wilde und seinen Umkreis. Während französische Autoren, Künstler und Sammler sich eindeutig und wiederholt mit der Kunst und Kultur des 18. Jahrhunderts auseinandersetzen, fällt die Rezeption desselben in England daher wesentlich subtiler aus. Dennoch dienen insbesondere die französischen Literaten als wichtigste Vorbilder für eine englische Ausprägung des Phänomens im ausgehenden 19. Jahrhundert. Sich auf ein – laut den Goncourts – genuin französisches Jahrhundert zu beziehen, bedeutet unter englischen Intellektuellen ein weit größeres Bekenntnis gegen die viktorianische Gesellschaft. Es bedeutet eine Absage an das Zeitalter der bürgerlichen Ideale von Privatheit, Understatement und eindeutigen Gender-­Kategorien. Neben dieser Lesart des höfischen 18. Jahrhunderts ist das ästhetizistische Ideal des l’art pour l’art seit Gautier wiederholt mit dieser Epoche in Zusammenhang gebracht worden. Im vorherigen Kapitel wurde diese Entwicklung bereits angesprochen. Hanoosh macht allerdings darauf aufmerksam, dass das Aesthetic Movement in England durch eine teils humoristischere Auseinandersetzung gekennzeichnet ist: „… the Aesthetic movement in England, which not only offered perfect targets for parody but also was to some extent a product of parody, the aesthete’s conscious pose, an image deliberately exaggerated to mock middle-­class values and the realist art associated with them.“ 200

Auch hier lässt sich also eine gewisse Doppelbödigkeit erkennen, die sich im parodistischen Habitus des Ästheten/Dandys äußert. Dieser posiert als eine Art Aristokrat, um sich über bürgerliche Moralstandards und Ästhetik hinwegzusetzen.201 Gleichsam wird er selbst zum Opfer der Parodie und nicht zuletzt der Satire, wie beispielsweise in George du Mauriers Karikaturen über die lebensferne Existenz der Ästheten im Punch der 1870er Jahre. Speziell der Dandy formt sich selbst zum Kunstwerk, hält dabei jedoch eine stete ironische Distanzierung zu seiner Schöpfung aufrecht.202 Dies ermöglicht ihm, sich selbst als ein Kunstwerk zu betrachten und eben auch zu parodieren. Der Ästhet, wie auch der Dandy, zeichnen sich zudem durch eine Zeitentfremdung aus, die zu Melancholie und Unzufriedenheit im eigenen Zeitalter neigt.203 Die nos­tal­ gische Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die den antimaterialistischen Idealen und dem bedingungslosen Streben nach Schönheit entspricht, scheint im nicht allzu fernen 200 Hanoosh, 1989, S. 60. 201 Wolfgang Pehnt stellt den Bohémien an dieser Stelle als das genaue Gegenteil des dandyistischen Habitus dar und wertet letzteren sogar als die wirkungsvollere Technik zur antibürgerlichen Positionierung: „Anders als der Bohémien, der aus dem Bürgertum ins Künstlerproletariat abgestiegen war, entfernte sich der Dandy von der Bourgeoisie in umgekehrter Richtung; deswegen war die Provokation auch wirkungsvoller als im Falle der Bohème, die dem Bürger Überlegenheitsgefühle erlaubte.“ Pehnt, Wolfgang: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Das Spiegelkabinett. Englische und französische Erzählungen des Fin de Siècle. Stuttgart 1966, S. 267 – 294, hier S. 274. 202 Vgl. Grundmann, 2010, S. 16 f. 203 Vgl. ebd., S. 40.

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18. Jahrhundert erfüllt. Der ennui des dem industriellen Zeitalter Entfremdeten spiegelt sich in den träumerischen Gestalten in Watteaus Parks. Dass Antoine Watteau eine der Grundachsen der gesamten Rokoko-­Rezeption darstellt, wurde bereits mit mehreren französischen Beispielen belegt. In England setzt sich die Begeisterung für den Maler der fêtes galantes kontinuierlich fort. Von einer vermeintlichen ‚Wiederentdeckung‘ des Künstlers, wie es in Frankreich mit Gautier und den Goncourts der Fall ist, kann in England nicht die Rede sein.204 Die Watteau-­Rezeption, sowohl in der Kunst als auch in Sammlungen, beginnt in England noch während des frühen 18. Jahrhunderts. Thomas Gainsborough übernimmt die leichte Pinselführung des Franzosen und Hogarth befasst sich nicht zuletzt in seiner Analysis of Beauty mit den italienischen Komödianten aus dessen Bildern.205 Einer der wichtigsten frühen ‚Imitatoren‘ Watteaus ist Philip Mercier (1689 – 1760), der bereits ab 1716 in England arbeitet.206 So kommt der Geschmack, den insbesondere Watteaus elegante Parkgesellschaften prägen, in England nie vollkommen aus der Mode. Die fêtes galantes sind Vorbild für das genuin englische Genre des Conversation piece und Watteaus Landschaftswahrnehmung setzt sich sogar in den Werken der romantischen Maler Constable und Turner des frühen 19. Jahrhunderts fort.207 Der Hauptgrund für diese Kontinuität ist letztlich in Watteaus Verbindung zur britischen Insel zu suchen. Zwischen 1719 und 1720 hält sich der Maler in London auf, wo er von einem Dr. Mead gegen seine Schwindsucht behandelt wird.208 Obschon es sich dabei um eine recht kurze Zeitspanne handelt, entstehen in London einige der Hauptwerke Watteaus, die großen Einfluss auf englische Künstler und das Kunstpublikum haben. Wie zuvor bereits angesprochen, entwickelt sich in Bezug auf Watteau also ein Diskurs über dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten europäischen Schule. So wird der Maler mit flandrischen Wurzeln, der in Frankreich nur zu oft als Nationalkünstler stilisiert wird, gleichermaßen zum Prototypen der englischen Zurückhaltung, Eleganz und Ironie erklärt. Dies ändert sich jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts. In Ruskins Ideal einer englischen Kunst fügt sich Watteaus Ästhetik nicht zur Gänze. Der wichtigste Theoretiker der Präraffaeliten und Arts and Crafts bezeichnet Watteau lediglich als Dekorationsmaler und verortet ihn so auch für die spätere Rezeption in der Welt des Interieurs.209 Somit rückt die Wahrnehmung der Pierrots und fêtes galantes auch 204 Vgl. Whiteley, Jon: Collectors of Eighteenth-­Century French Art in London. 1800 – 1850. In: ­Vogtherr, Christoph; Preti, Monica; Faroult, Guillaume (Hg.): Delicious Decadence. The Rediscovery of French Eighteenth-­Century Painting in the Nineteenth Century. Surrey 2014, S. 43 – 58, hier S. 45. 205 Vgl. Simon, 2007, S. 72. 206 Vgl. Allen, Brian: Watteau and His Imitators in Mid-­Eighteenth-­Century England. In: Moreau, François; Morgan Grasselli, Margaret (Hg.): Antoine Watteau 1684 – 1721. Le peintre, son temps et sa légende. Paris 1987, S. 259 – 267, hier S. 259. 207 Vgl. Ireland, 2006, S. 93. 208 Vgl. Simon, 2007, S. 69. 209 Vgl. Wine, Humphrey: The National Gallery in the Nineteenth Century and French Eighteenth-­ Century Painting. In: Vogtherr, Christoph; Preti, Monica; Faroult, Guillaume (Hg.): Delicious

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immer stärker in den Bereich der ästhetizistischen Kunstauffassung. Watteau wird dabei zu demjenigen, der den Innenraum in eine Traumlandschaft aus paradiesischen Gärten, Theatervolk und eleganten Hofdamen verwandelt und im dekorativen Anspruch gleichsam den ennui des fin de siècle vorwegzunehmen scheint. Dies äußert sich insbesondere in Walter Paters (1839 – 1894) Erzählung „A Prince of Court Painters“ (1887), die Teil seiner Imaginary Portraits ist. Die Geschichte gibt sich als Auszug aus einem alten französischen Tagebuch, das in Valenciennes z­ wischen September 1701 und Juli 1721 von der Tochter des Bildhauers Antoine Pater (1670 – 1747) und Schwester des Watteau-­Schülers Jean-­Baptiste Pater (1695 – 1736) geführt worden sei.210 Die Protagonisten, die also nur einen indirekten Blick auf Watteau zulassen, verraten Walter Paters Wahlverwandtschaft zur Kunst des 18. Jahrhunderts. Nicht ohne Grund entscheidet sich der Autor für die Künstlerfamilie Pater als Handlungsträger, vermutet er doch eine entfernte Blutsverwandtschaft, w ­ elche sich durch denselben Nachnamen herleiten ließe.211 Ein Motiv, das immer wieder in diesen sehnsuchtsvollen Beschreibungen des ständig abwesenden Watteau auftaucht, ist das der Ironie in seiner Malerei. „… a sort of comedy which shall be but tragedy seen from the other side.“ 212 „And yet! […] methinks Antony Watteau reproduces that gallant world, those patched and powdered ladies and fine cavaliers, so much to its own satisfaction, partly because he despises it.“ 213

Pater greift in seiner Darstellung Watteaus auf Formeln der Goncourts zurück, indem er ihn ebenfalls in einer genuin poetisch-­lyrischen Ästhetik verortet und die Melancholie des kränklichen Außenseiters in dessen Bilder einschreibt. Er überführt ihn jedoch gleichzeitig in dandyistische Prinzipien der Distanziertheit, wie sie für das Jahrhundertende umso konstitutiver werden. Watteau wird beinahe zum Parodisten seines aristokratischen Publikums und reiht sich so in die Synthese von Parodie und Dekadenz in der zweiten Jahrhunderthälfte ein. Walter Paters Schriften – sowohl die kurze Erzählung über Pater und Watteau, als auch seine großen Publikationen zur griechisch antiken Kultur 214 und zur Renaissance 215 – prägen die Ästhetik der englischen 1890er Jahre wie kaum ein zweiter Autor. Paters Einblicke Decadence. The Rediscovery of French Eighteenth-­Century Painting in the Nineteenth Century. Surrey 2014, S. 121 – 140, hier S. 128. 210 Vgl. Pater, Walter: Imaginary Portraits. London 1910, S. 5. 211 Vgl. Vogel, Juliane: In der Bilderflucht. Walter Paters Imaginary Portraits. In: Pfotenhauer, Helmut; Riedel, Wolfgang; Schneider, Sabine (Hg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg 2005, S. 19 – 30, hier S. 29. 212 Pater, 1910, S. 6. 213 Ebd., S. 33. 214 Vgl. Pater, Walter: Greek Studies. A Series of Essays. London 1895. Es handelt sich um eine ­posthume Ausgabe zuvor in Zeitschriften erschienener Aufsätze. 215 Vgl. Pater, Walter: Studies in the History of the Renaissance. London 1873.

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in vergangene Zeitalter stellen keinesfalls historisch fundierte Quellen dar, sondern sind vielmehr Ausdruck ästhetizistischer Leitgedanken, die ihre Anwendbarkeit auf kanonische Vorbilder suchen. Daher kann Pater auch als wichtige Schnittstelle ­zwischen der französischen und der englischen Rokoko-­Rezeption verstanden werden, verbindet er doch die literarischen Ausführungen der Goncourts mit dem Zeitgeist des englischen fin de siècle. Ein weiterer Protagonist der englischen Rezeption des französischen Rokoko ist Sir Richard Wallace (1818 – 1890), der mit seiner seit 1900 öffentlich zugänglichen Sammlung in ­Hertford House die einzigartige Position des englischen Kunstsammlers auf d ­ iesem Gebiet innehat. Sein Vater, Lord Hertford (1800 – 1870), beginnt, inspiriert durch die Schriften der Goncourts zum 18. Jahrhundert, hochkarätige Kunstwerke dieser Epoche anzukaufen, wobei er unter anderem eine der größten Boucher-­Sammlungen der Welt sein Eigen nennen kann.216 „The French eighteenth century, for men of his generation, symbolised a lost world of aristocratic leisure and finesse which Lord Hertford evidently hoped to recapture by insulating himself against the world, and surrounding himself with the type of art collected by his ancien régime counterparts.“ 217

Ähnliche Motive wie die französischen Sammler treiben Hertford also an, der große Teile seiner Kindheit und Jugend in Frankreich verbringt. Sein unehelicher Sohn, Sir Richard Wallace, setzt diesen Sammlungsschwerpunkt zusammen mit der Konzentration auf barocke Malerei der Niederlande fort. Sieben Jahre nach seinem Tod überträgt seine französische Witwe den Großteil der Sammlung in Hertford House der britischen Nation unter der Prämisse, dass ein zukünftiges Museum den Namen ihres Mannes behalten solle.218 Bereits zuvor wird die Wallace Collection öffentlich präsentiert; so zum Beispiel 1872 – 75 im Bethnal Green Museum, wo auch der junge Henry James (1843 – 1916) insbesondere die Werke Watteaus bewundert.219 In der Wallace Collection vereinen sich in einer gewissen Einzigartigkeit die von den Goncourts geformten Topoi der Rokoko-­Rezeption mit der Zeitgenossenschaft der literarischen/künstlerischen Avantgarde der 1890er Jahre. Henry James ist sicher nicht der einzige Autor der späteren Yellow Nineties, der sich von der aristokratischen Sammlung angezogen fühlt. Eine Aufarbeitung des Gästebuchs von Sir Richard Wallace, ­welche gerade im Entstehen begriffen ist, dürfte in Kürze weitere bekannte Persönlichkeiten unter den Besuchern in Hertford House zu Tage fördern.220 Doch nicht allein im Bereich der privaten Sammlung und literarischen Auseinandersetzung spielt sich die Rokoko-­Rezeption des englischen 19. Jahrhunderts ab. Auch in der 216 Vgl. Hedley, Jo: François Boucher. Seductive Visions. London 2004, S. 168. 217 Ebd., S. 169. 218 Vgl. ebd., S. 176. 219 Vgl. Ireland, 2006, S. 136. 220 Persönlicher Kontakt mit dem Archiv der Wallace Collection (Helen Jones).

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weiblichen Mode entwickeln sich schon seit der frühen Mitte des Jahrhunderts neuerliche Veränderungen in der Silhouette, die sich von den hohen Taillen und schlicht fallenden Stoffen der Empirekleider verabschieden und sich abermals einer dramatischeren Formung des Frauenkörpers annähern. Der Einsatz von Korsetts wird erneut in schlanken Taillen sichtbar; Busen und Hüften werden somit prominent in Szene gesetzt. Es sei bemerkt, dass es sich bei dieser Entwicklung um eine ebenfalls kontinentale handelt. Im Besonderen stellt Aileen Ribeiro dies für die Mode der 1870er Jahre fest: „In terms of the fashionable female silhouette, the line of the 1870s was slender and elongated, with hair-­styles much higher and more complicated than had previously been seen […] Hair seems to have had a kind of fetish attraction for the nineteenth century“ 221

Die Betonung der weiblichen Haarpracht setzt bereits in den 1860ern ein, als die mittels Chignons aufgetürmten Coiffuren in Anlehnung an die höfischen Perücken des 18. Jahr-­hunderts zum Teil der Abendgarderobe werden.222 Die englische Frau der 1890er Jahre schließlich bedient sich laut Ribeiro sowohl der eleganten Pariser Mode mit ihren artifiziellen Anleihen an die zarten Farben, Rüschen und Schleifen des Rokoko, als auch an der Aktivität versprechenden Kleidung junger Amerikanerinnen.223 Beide Arten sich zu kleiden bergen in sich potenzielle Äußerungen der Neuen Frau, wie sie sich in jenem Jahrzehnt präsentiert. Aus heutiger Sicht erscheinen die aufsehenerregenden Bloomers zum Fahrradfahren ein weit subversiveres Modestatement zu sein, als das Korsett und die Krinoline des Rokoko. Hierzu sei jedoch auf die Ausführungen der Goncourts verwiesen, die das Bild einer scheinbar unabhängigen aristokratischen Frau des 18. Jahrhunderts zeichnen und so auch die Mode dieser Epoche mit einem Verständnis von geistiger und gesellschaftlicher Autonomie verknüpfen. Im Bereich der Inneneinrichtung setzt sich die Verwendung des Rokoko-­Stils für alles weiblich Konnotierte fort. Anne-­Katrin Rossberg beschreibt in ihrem Aufsatz „Wie Frauen Zimmer wurden“ (2011) auf eindrückliche Weise, wie sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und mit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters die Wohnung als genuin weibliche Sphäre herausbildet. Die bürgerliche Besinnung auf das Private und Innere vollzieht sich in der Perfektionierung des Heims.224 Die Räumlichkeiten der großbürgerlichen Dame werden dabei nur zu oft Gegenstand theoretischer Überlegungen, in denen analysiert wird, wie der weibliche Charakter im Interieur widerzuspiegeln sei. Dass das höfische 18. Jahrhundert dafür eines der besten Vorbilder bietet, ist nach seiner Etablierung als genuin feminine Epoche und Ursprung etlicher Erfindungen im Bereich komfortabler Möbel nur zu gut nachvollziehbar. 221 Ribeiro, Aileen: Facing Beauty. Painted Women & Cosmetic Art. New Haven 2011, S. 244. 222 Vgl. ebd., S. 249. 223 Vgl. ebd., S. 282. 224 Vgl. Rossberg, 2011, S. 144.

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Mode und Inneneinrichtungen wenden sich als beginnende Industrien im 19. Jahrhundert also mit Formeln des französischen 18. Jahrhunderts auch in England dem weiblichen Publikum zu. Auch wenn das Arts and Crafts Movement versucht, solchen Tendenzen entgegenzuwirken, lässt sich das Rokoko durch seine schablonenhafte Applizierbarkeit, die dennoch Eleganz und Exklusivität verspricht, als einer der wichtigsten historistischen Stile im industriellen 19. Jahrhundert verstehen. So werden der Stil und seine Motive immer wieder mit Gegenständen verbunden, die wiederum stark mit der Kultur des 18. Jahrhunderts gleichgesetzt werden. Die Porzellanmanufakturen in England und Frankreich arbeiten sich bis heute an einem chinoisen Vokabular des Rokoko ab, welches in Meissen und Sèvres etabliert wurde.225 Valerie Steele geht des Weiteren auf den Fächer als gesondertes Accessoire ein, dessen Gebrauch Exotik und Eleganz des Ancien Régime gleichermaßen evoziert. In der Fächermalerei, die um 1900 zu einer neuen Blüte gelangt, werden die Gemälde Watteaus und seiner Nachfolger im kleinen Format zu schmückenden Bildern auf der gefalteten Fläche ­dieses Symbols der Weiblichkeit.226 In der Literatur ist mehrfach die Rede von einem häufigen Gebrauch des Rokoko-­ Modus in der Werbung – insbesondere Plakatkunst – sowie in der Massenproduktion des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Für Jules Chéret ist beispielsweise schon in den frühen 1870ern eine enge Orientierung an Vorbildern des 18. Jahrhunderts in seinen kleinformatigen Werbedrucken für die Parfumfirma Eugène Rimmel nachweisbar.227 Kenneth Clark schreibt hierzu: „… the eighteenth century […] has sunk from being the dreamland of the last romantics […] and become the dreamland of advertising men.“ 228

So wirbt die Seifenfirma Pears’ um 1898 etwa mit einer Werbepostkarte, die eine zeitgenössisch frisierte Dame in einem Rokoko-­Interieur zeigt, wie sie das Lever einer Hofdame nachstellt (Abb. 2). Insbesondere das Mobiliar, bestehend aus einem hohen Bett mit Vorhängen, einem Sessel, dem grazilen Nachttischchen mit eingelassenen Bildern sowie dem jegliche historische Grundlage entbehrenden Bassin für die Füße evoziert ein elegant nostalgisches Air. Die Benutzung der Seife soll also auch ihre Käuferin in eine ­solche elegante Dame verwandeln. Für Produkte der Hygiene, der Schönheitspflege, Mode und des Genusses 229 scheint der Rückgriff auf das 18. Jahrhundert wie geschaffen. Das 225 Vgl. Leben, Ulrich: German Rococo. From Cuvilliès in Munich to Nahl in Potsdam. In: Ausst.-Kat.: Rococo. The Continuing Curve, 1730 – 2008. New York, Smithsonian’s Cooper-­Hewitt, National Design Museum, 2008, S. 136 – 149, hier S. 145. 226 Vgl. Steele, Valerie: The Fan. Fashion and Femininity Unfolded. New York 2002, S. 20. 227 Vgl. Le Men, Ségolène; Bargiel, Réjane: Jules Chéret – Künstler der Straße, Künstler der Salons. In: Ausst.-Kat.: Jules Chéret. Künstler der Belle Époque und Pionier der Plakatkunst. München, Villa Stuck, 2011, S. 39 – 79, hier S. 42. 228 Clark, Kenneth: The Best of Aubrey Beardsley. London 1979, S. 38. 229 So konnte ich jüngst auch eine Kakao-­Werbepostkarte der Firma Van Houten ausfindig machen, die sich ebenfalls vor allem in ihrer Rahmengestaltung an Wanddekorationen des 18. Jahrhunderts

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Abb. 2 Unbekannter Künstler: Werbepostkarte für Pears’ Soap, 1898, Farblithografie, Maße unbekannt.

vermeintliche „Zeitalter der Frau“ wird somit zum Instrumentarium der sich ebenfalls an die Frau richtenden Werbeindustrie. Ich möchte indes betonen, dass diese Entwicklung eher im frühen 20. Jahrhundert und insbesondere in den 1920er und 30er Jahren nachzuvollziehen ist. In diesen Dekaden zeichnet sich eine neuerliche Reprise des Rokoko ab, die mit einer intensiven Rezeption der Belle Époque zusammenfällt. Der Zeitraum, welcher den Fokus meiner Arbeit bildet, kann also eher als Beginn einer Entwicklung angesprochen werden, an deren Ende das Rokoko zum „dreamland of advertising men“ geworden ist. Dennoch lässt sich bis hierher feststellen, dass das 18. Jahrhundert gleichsam in Modi der sogenannten Hochkunst des 19. Jahrhunderts sowie in denen der R ­ eproduzierbarkeit und orientiert. Es scheint sich bei ­diesem länglichen Format von Werbelesezeichen um keinen Einzelfall zu handeln. Im Zuge der Internetrecherche stieß ich mehrfach auf die Verwendung von Rokoko-­ Rahmungen für das schmale Format dieser Werbeerzeugnisse. Siehe: https://www.pinterest.de/ pin/496381190160289220/ (27. 02. 2019).

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Verfügbarkeit aufgeht. So konstatiert Paul Greenhalgh etwa über die Rokoko-­Rezeption im Frankreich der Jahrhundertmitte: „… although few professed the ability to tell one Louis from another, and the Louis’ went on to enjoy great popularity across Europe and North America as a sign of luxury. Rocaille forms were stamped, pressed, moulded and stenciled onto middle class domestic objects everywhere.“ 230

Und auch Ken Ireland kann ein ansteigendes bürgerliches Interesse am eigentlich höfischen Stil ab den 1840er Jahren nachweisen, der sich in Salons und den berühmten Weltausstellungen genauso zu erkennen gibt wie in einer beginnenden Massenanfertigung von Reproduktionsware in unterschiedlichsten historischen Stilen.231 Dementsprechend oszilliert das Phänomen ständig ­zwischen dem Anspruch, eine antibürgerliche Positionierung darzustellen und zeitgleich ein gefälliges Motiv für eben ­dieses bürgerliche Publikum zu sein, welches Nostalgie, Eleganz und einen annehmbaren Hauch von Erotik sucht. Im Bewusstsein über diese Entwicklung und durch die Zäsur der Wilde-­Prozesse gewissermaßen zur neuerlichen Selbstreflexion gezwungen, bildet die zweite Hälfte der englischen 1890er, die den Fokus meiner Arbeit darstellt, eine weitere Stufe in der Ausein-­ andersetzung mit dem 18. Jahrhundert. Geprägt von der Rückschau auf eine vermeintlich zu Ende gehende Epoche und mit starkem selbstironischen Impetus befassen sich die Protagonisten dieser Jahre (und Beardsley im Besonderen) auf eine ungemein fruchtbare und ambivalente Art und Weise mit der Kunst und Kultur des Ancien Régime.

230 Greenhalgh, 2000, S. 41. 231 Vgl. Ireland, 2006, S. 103 f. und S. 123.

3 „… the gay rococo thing I was“ – Aubrey Beardsley und das 18. Jahrhundert „Dear Robbie, It is charming of you to think of coming down here. I shall be so delighted to see you again. I have thought of you so much. I have become an agonized wreck of depression, a poor shadow of the gay rococo thing I was. Yours Aubrey“ 1

So schreibt Aubrey Beardsley im November 1896 an seinen Freund, den Kunstkritiker Robert Ross (1869 – 1918), der einige Jahre später einen bis heute lesenswerten Nachruf auf ihn verfassen wird.2 Der junge Künstler meldet sich aus dem südenglischen Boscombe, wohin er aufgrund seiner bereits Jahre lang anhaltenden Tuberkuloseerkrankung gereist ist. Ross erhält den Brief eines Sterbenden. Beardsley hat zwar noch über ein Jahr zu leben, fühlt sich 1896 jedoch seinem Ende nahe, weshalb sich Briefe in dieser depressiven Tonlage nunmehr häufen. Besonders augenfällig im Kontext meiner Arbeit ist Beardsleys Aussage, er sei nur noch ein armer Schatten des fröhlichen 3 ‚Rokoko Dings‘, das er einst war. Gleichsam entsteht ein Gegensatz von gegenwärtiger Melancholie und offenbar vergangener sprühender Vitalität. Letztere wird mit dem Begriff „rococo“ quasi gleichgesetzt. Beardsleys Einstellung zum 18. Jahrhundert wird hier in einer ihrer mannigfaltigen Facetten deutlich. Das französische Rokoko scheint der Ausdruck reiner Freude und Jugendlichkeit, das Vergessen jeglichen Leidens und das Schwelgen in frivolen Andeutungen und blühenden Gärten.4 Die vordergründige Freude und Jugendlichkeit des Rokoko wird bei Beardsley demnach zum Gegenentwurf seiner düsteren Todesgedanken und seines körperlichen Leidens.

1 Letters, 1990, S. 212. Aubrey Beardsley an Robert Ross, November 1896, Pier View, Boscombe. 2 Vgl. Ross, Robert: Aubrey Beardsley. London 1909. 3 Aus heutiger Sicht wäre das Wort „gay“ zwar ebenso als „homosexuell“ zu übersetzen, laut Oxford English Dictionary lässt sich ­dieses Verständnis des Begriffs erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und eher im amerikanischen Raum ausmachen, weshalb ich mich hier für die wahrscheinlichere Lesart „fröhlich“ entschieden habe. Vgl. http://www.oed.com/view/Entry/77207?rskey=lcCp5D&result =1#eid (27. 02. 2019) Eintrag 4d auf dieser Seite. Philip Core weist jedoch darauf hin, dass ‚gay‘ bereits in den englischen 1890er Jahren eine durch-­ aus queere Implikation hat, die Beardsley ebenfalls geläufig sein könnte: „In the 1890s gay meant ‚on the game,‘ pertaining to prostitution of either sex, but it was appropriated by the homosexuals of the period to describe their own tastes, which were more frequently transvestist than today.“ Core, Philip: Camp. The Lie that Tells the Truth. London 1984, S. 90. 4 Vgl. Sedlmayr, Hans: Bustelli und das Rokoko. Rede anläßlich der Eröffnung der Bustelli-­Ausstellung des Bayrischen Nationalmuseums am 20. Juni 1963. In: Alte und Moderne Kunst 8, 1964, S. 16 – 21, hier S. 18.

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Doch stellt seine Beziehung zur Kunst und Kultur des 18. Jahrhunderts ein weit größeres Geflecht von Referenzen, Identifikationen und Ideen dar. Seit dem Schulalter kann Beardsley ein kontinuierliches, wenn auch eklektisches Interesse am französischen und englischen 18. Jahrhundert nachgewiesen werden. Dabei ist es besonders die Literatur, die den jungen Mann immer wieder begeistert und inspiriert. Beardsley fertigt bereits vor seiner eigentlichen künstlerischen Karriere, während er noch bei einer Versicherungsfirma arbeitet (1889), vier Zeichnungen zu Prévosts Manon Lescaut (1731) an.5 Solche frühen Projekte verweisen auf seine ausgezeichnete Kenntnis der französischen Sprache. Schon während seiner Schulzeit liest er, ermuntert durch seine Lehrer, französische Romane und Klassiker der Literaturgeschichte aus jeglichen Epochen.6 Überhaupt ist die Bedeutung, die literarische Quellen für die Genese seiner Ikonografie haben, kaum zu überschätzen. Nicht allein, dass Beardsley sich in seiner Tätigkeit als Illustrator oftmals an Textvorlagen orientiert, ihm ist auch die Wahrnehmung seiner Person als „man of letters“ überaus wichtig. Bereits seine Zeitgenossen bestätigen diese Pose, wie dies aus Max Beerbohms Nachruf 1898 in The Idler hervorgeht. „It was his pose to appear a man of leisure, living among books. Certainly, he seemed to have read, and to have made his reading into culture, more than any man I have ever met; though how he, whose executive industry was so great, managed to read so much, is a question which I have never quite solved.“ 7

Auch Arthur Symons übernimmt in seiner kleinen Monografie zu Beardsleys Werk aus dem Jahr 1918 ­dieses Verständnis des Zeichners, welches er selbst stets betont haben soll: „I think Beardsley would rather have been a great writer than a great artist; and I remember, on one occasion, when he had to fill up a form of admission to some library to which I was introducing him, his insistence on describing himself as ‚man of letters.‘“ 8 „He seemed to have read everything […] and was a sounder critic of books than of pictures.“ 9

Diese und weitere Aussagen über Beardsley, sowie seine eigenen Briefe, aus denen seine vielfältigen literarischen Interessen hervorgehen, setze ich für die sich anschließenden Analysen voraus. Neben Bildvergleichen, die in der Folge angeführt werden, sind textuelle Quellen ebenso relevant für die scheinbar grotesken Bilderfindungen des Engländers.

5 6 7 8 9

Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. 83 f. Vgl. Weintraub, 2000 (1976), S. 12. Beerbohm, Max: Aubrey Beardsley. In: The Idler, Mai 1898, S. 538 – 546, hier S. 539. Symons, Arthur: The Art of Aubrey Beardsley. New York 1918, S. 16. Ebd., S. 23.

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Im Haushalt der Eltern werden zunächst Beardsleys weitere musische Talente unterstützt. Neben einer frühen Begeisterung für Musik, die sich später in seinen zahlreichen Opernund Konzertbesuchen manifestieren soll, zeigt der Sohn des Kaufmanns Vincent Paul Beardsley (1839 – 1909) und der besser situierten Ellen Agnus Pitt (1846 – 1932) ein großes schauspielerisches Talent. Zusammen mit seiner Schwester Mabel (1871 – 1916) gründet er ein privates Th ­ eater, das sie nach der Cambridge Street, in welcher sich das Haus der Eltern befindet, „Cambridge Theatre of Varieties“ nennen.10 Mabel Beardsley schlägt den beruflichen Weg der Schauspielerei direkt ein und wird sogar in Amerika auf diversen Theaterbühnen stehen. Die Beziehung zu seiner nur ein Jahr älteren Schwester stellt einen wichtigen Fixpunkt in Beardsleys Biografie und Selbstinszenierung dar. Zahlreiche Anekdoten und Legenden bilden sich um ihre möglicherweise inzestuöse Verbindung.11 Wie so Vieles kann auch dieser Aspekt der Künstlerpersönlichkeit wohl nie zur Gänze aufgeklärt werden und ist auch nicht zielführend für diese Arbeit. Meiner Meinung nach ist sich Beardsley bereits früh seiner Außenwirkung und dem Nutzen einer skandalösen Selbstvermarktung bewusst. Er nutzt Topoi des beginnenden Zeitalters der Psychoanalyse, um sich als vermeintlich perverser, degenerierter Dandy zu inszenieren, der sein Publikum stets im Unklaren darüber lässt, ob er ein Kind im Schoß seiner ­Mutter sein will, der Geliebte seiner „mannish-­looking sister“ 12, ob er sexuelle Beziehungen zu Männern oder Frauen pflegt, ob er selbst lieber sein Geschlecht ändern würde 13 oder überdies gar nicht fähig ist, den Geschlechtsakt zu vollziehen.14 Diese sexuellen Masken faszinieren bis heute und beweisen einmal mehr, dass sich Perversität, Schock und Neuartiges nicht erst seit gestern bestens verkaufen. Auch seinen Zeitgenossen, von denen in der Folge viele ihre Memoiren mit einigen pikanten Anekdoten spicken wollen, ist ein gewisser Anteil an ­diesem Verständnis des Künstlers zuzusprechen. Die theatrale Attitüde selbst hinter Beardsleys morbiden Kryptoportraits als Kranker, Sterbender, Missgestalteter, Fragiler und Außenseiter verrät jedoch immerfort eine bewusste und somit selbstironische Ausein­ andersetzung mit Selbstbild und Persona.

10 Vgl. Fletcher, 1987, S. 4. 11 Es sei hier auf eine von Frank Harris in seinen Memoiren überlieferte, wenn auch wenig glaubhafte, Anekdote hingewiesen. Im Gespräch mit Beardsley und seiner Schwester hört Harris den Künstler Folgendes sagen: „It’s usually a fellow’s sister who gives him his first lessons in sex. I know it was Mabel here who first taught me.“ Harris, Frank: My Life and Loves, Bd. I. Paris 1922, S. 9 f. 12 Reed, Christopher: Art and Homosexuality. A History of Ideas. Oxford 2011, S. 103. 13 Der Brief, der in Bezug auf Beardsleys mögliche Transsexualität stetig wiederholt wird, ist ein k­ urzes Schreiben an John Lane vom 12. September 1893, in dem es unter anderem heißt: „I am going to Jimmie’s on Thursday night dressed up as a tart and mean to have regular spree.“ Letters, 1990, S. 53. Siehe Kap. 6.3. 14 Beardsley schreibt in einem Brief vom 22. 12. 1896 an Leonard Smithers: „Have had another wet dream. It’s all rot about Symons. Once a eunuch always a eunuch. Perhaps the story might be transferred to me, with equal truth.“ Letters, 1990, S. 231.

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Doch wie wird der Junge, der bereits im Alter von sieben Jahren seinen ersten Anfall von Schwindsucht erleidet,15 zu dieser öffentlichen Person? Ermutigt durch einen unangemeldeten Besuch im Atelier von Edward Burne-­Jones (1833 – 1898), einem der bedeutendsten Vertreter der zweiten Generation der Präraffaeliten, 1891 wählt Beardsley die Karriere eines Künstlers.16 Dass diese vor allem die eines Zeichners werden soll, entscheidet sich spätestens nach lediglich zwei Versuchen in der Ölmalerei, die noch heute beidseitig auf einer Leinwand erhalten sind (ca. 1894, Tate Britain). Burne-­Jones rät ihm zu einer Ausbildung in der Westminster School of Art. Diese beginnt Beardsley auch, bricht das Studium bei Frederick Brown jedoch nach 18 Monaten wieder ab.17 Somit kann er weitestgehend als Autodidakt in seinem Schaffen verstanden werden. Die wichtigsten Einflüsse erhält Beardsley weniger durch akademische Anleitung denn durch persönliche Interessen und Bekanntschaften mit anderen Künstlern und Intellektuellen seiner Zeit. Er stellt laut J. Lewis May seine Abneigung gegen die Akademie regelrecht heraus; dies natürlich in mehr oder weniger hintergründigen Bonmots, die selbst der Biograf John Lanes nicht recht zu begreifen scheint. „It seems that he never set foot within the Royal Academy, though he loyally defended that institution, stating that he would rather be an Academician than an artist. [… and he said,] ‚It takes only one man to make an artist, but forty to make an Academician!‘“ 18

Ebenfalls äußert sich Beardsleys frühe antiakademische Haltung in einem eigenen ­kurzen Text mit dem Titel „The Art of Hoarding“, der im Juli 1894 in The New Review erscheint. Darin schreibt er: „The popular idea of a picture is something told in oil or writ in water, to be hung on a room’s wall or in a picture gallery to perplex an artless public. No one expects it to serve a useful purpose or to take a part in everyday existence. Our modern painter has merely to give a painting a good name and hang it.“ 19

Der Zeichner spricht sich hier gegen einen eng gefassten Kunstbegriff aus und für die Wertschätzung vor allem der grafischen Künste des öffentlichen Raums, wie das Plakat. Beardsley selbst ist neben seinen zahlreichen Aufträgen im Bereich der Buchkunst ebenfalls für seine Plakatentwürfe für ­Theater und Buchgeschäfte bekannt, weshalb ihm auch ­dieses Medium sehr nahesteht. Der autodidaktische und antiakademische Charakter von Beardsleys Ausbildung ist sicherlich prägend für seine spätere Fähigkeit, losgelöst von 15 16 17 18 19

Vgl. Fletcher, 1987, S. 2. Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. XVIII. Vgl. ebd. May, J. Lewis: John Lane and the Nineties. London 1936, S. 45. Beardsley, Aubrey: The Art of Hoarding. In: The New Review. Juli 1894. Zitiert nach: Fletcher, 1989, S. 228.

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Konventionen, die unterschiedlichsten Quellen zu rezipieren und im eigenen Werk zu synthetisieren.20 Einer der bedeutendsten Einflüsse für ihn, wie auch für viele seiner Zeitgenossen in den englischen 1890ern, sind die häufigen Besuche französischer Städte. Zum ersten Mal bereist Beardsley Paris im Juni 1892.21 Dort trifft er auf einen der bekanntesten französischen Symbolisten, Pierre Puvis de Chavannes (1824 – 1898), welcher ihn ebenfalls ermuntert, seine künstlerische Tätigkeit fortzuführen. Beardsley arbeitet zu d ­ iesem Zeitpunkt bereits an seinem ersten und zugleich quantitativ größten Auftrag für Illustrationen zu Thomas Malorys Le Morte Darthur (1485). Dieses Projekt, das allein 353 Zeichnungen umfasst,22 beschäftigt ihn bis Ende 1894 und begleitet entscheidende Entwicklungsschritte seines Werkes. So kehrt ein regelrecht beflügelter Beardsley aus Paris zurück und schreibt in einem langen Brief vom 9. Dezember 1892 an seinen ehemaligen Lehrer A. W. King von neuen Ideen und einem ungemein gesteigerten Selbstbewusstsein.23 Früh ist sich Beardsley also seines Könnens bewusst. Der Erfolg gründet sich indes vor allem auf seine kongenialen Aneignungen von arrivierten Künstlern und Stilen. Seine Grotesken stammen aus den Traumwelten eines Odilon Redons, die androgynen Gesichter seiner Personen haben Burne-­Jones’ Profile und der pseudomittelalterliche Stil der Morte Darthur-­Illustrationen ahmt die Holzschnitte der Kelmscott Press nach. Dennoch soll der frühe frankophile Impuls im Leben und Schaffen Beardsleys hier betont sein. In den folgenden Jahren wird er Paris noch mehrmals bereisen und dort unter anderem die Kunstwerke im Louvre studieren oder mit dem Schriftsteller Octave Uzanne (1851 – 1931) zu Mittag essen.24 In England trifft er sogar auf den Dichter Paul Verlaine (1844 – 1896), den er 1893 im Haus seines Verlegers Henry Harland (1861 – 1905) kennenlernt 25 und dessen Gedichte, vor allem die Fêtes galantes, großen Einfluss auf sein Werk haben sollen. Daneben spielt die Küstenstadt Dieppe als Treffpunkt der Prota­ gonisten der Yellow Nineties eine weitere entscheidende Rolle. Von der britischen Insel leicht zu erreichen, ist der nordfranzösische Ort neben London und Brighton einer der wichtigsten Schauplätze von Beardsleys Biografie. Nicht zuletzt entsteht hier der Plan zu dem zweiten Magazin, an dessen Entstehung und Ausführung Beardsley maßgeblich beteiligt ist: The Savoy.26 Des Weiteren führt es den jungen Künstler nach Brüssel, eine der Hauptstädte des europäischen Symbolismus, wo ihm 1896 sicher nicht der Wirbel um die Werke Félicien Rops’ (1833 – 1898) entgeht. Sein Lebensende verbringt Beardsley ebenfalls in Frankreich, diesmal im südfranzösischen Menton, wo sich auch sein Grab befindet. 20 21 22 23 24 25 26

Vgl. Fletcher, 1987, S. 183. Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. XIX. Vgl. ebd., S. 227. Vgl. Letters, 1990, S. 37 f. Aubrey Beardsley an A. W. King, 9. Dezember 1892, 59 Charlwood Street. Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. XXVI. Vgl. ebd., S. XX. Vgl. Easton, 1972, S. 196.

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Die Morte Darthur-­Illustrationen begleiten die Genese des für Beardsley typischen Stils von starken Schwarz-­Weiß-­Kontrasten. Einerseits zeichnet sich diese Bildsprache, w ­ elche nicht zuletzt in der vorherrschenden Technik der Strichätzung zur Reproduktion seiner Zeichnungen begründet liegt, durch eine plakative Wirkung aus. Die geschwungenen Linien und ornamentale Flächigkeit sprechen mittels Reduktion an; andererseits folgt auf die erste Ansprache jedoch zumeist Irritation. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich vor allem darauf, der ikonografischen Irritation auf die Spur zu kommen. Stilistisch und ästhetisch trifft derweil auch das zeitgenössische Publikum auf Grenzen der Beschreibbarkeit. So fragt sich beispielsweise schon Osbert Burdett, ob die Malory-­Bilder der Ausdruck von Leidenschaft oder reinem Intellekt sein können: „The result is a strange effect of austerity, an intense, almost cold, perfection, which we know not whether to call passionless or impassioned, to such a pitch has it been brought.“ 27

Noch während der Arbeit an den Morte Darthur-­Illustrationen bewirbt sich Beardsley gewissermaßen öffentlich für seinen nächsten und bis heute berühmtesten Auftrag. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift The Studio erscheint im April 1893 ein Artikel Joseph Pennells mit dem verheißungsvollen Titel „A New Illustrator“, in dem der Autor vor allem die neue Technik der Strichätzung und deren exzellente Umsetzung in den Werken Aubrey Beardsleys vorstellt.28 Die lobenden Worte Pennells begleiten die Morte Darthur-­Illustrationen des Künstlers. Das letzte Bild am Ende des Textes überrascht jedoch mit einem neuen Sujet. Beardsley zeigt hier die Klimax von Oscar Wildes Einakter Salomé.29 Die Titelheldin und das Haupt Iokanaans schweben in einem unwirklichen Raum. Unter den Beinen der diabolisch starrenden Salome sind die Worte aus Wildes französischem Text zu lesen: „J’ai baisé ta bouche Iokanaan, j’ai baisé ta bouche“. Tatsächlich bewirbt sich der „neue“ Illustrator hier um die bildliche Ausgestaltung des aufsehenerregenden Stückes, das im selben Jahr bereits mit Zeichnungen des Belgiers Félicien Rops in Paris erschienen ist.30 Im Frühjahr 1894 erscheint schließlich die englische Ausgabe des Einakters mit ‚Bildern‘ von Aubrey Beardsley,31 herausgegeben von John Lane und Elkin Mathews in ihrem Verlag The Bodley Head. Bis heute wirkt die gestalterische Kraft der Linie in diesen Zeichnungen nach. Stark von japanischen Holzschnitten beeinflusst, gilt ­dieses Werk Beardsleys vor allem als entscheidender Vorreiter für den beginnenden Jugendstil.

27 Burdett, 1925, S. 104. 28 Vgl. Pennell, Joseph: A New Illustrator. Aubrey Beardsley. In: The Studio 1, 1893, S. 14 – 19. 29 Vgl. Aubrey Beardsley: „J’ai Baisé Ta Bouche, Iokanaan“, November 1892, Bleistift, schwarze Tinte, Aquarell und Gouache auf Velinpapier, 27,6 × 15,4 cm, Princeton University Library. 30 Vgl. Colligan, Colette: The Traffic in Obscenity from Byron to Beardsley. Sexuality and Exoticism in Nineteenth-­Century Print Culture. New York 2006, S. 131. 31 Auf dem Titelblatt ist vermerkt: „Salome A Tragedy in One Act: Translated from the French of Oscar Wilde: Pictured by Aubrey Beardsley“. Siehe Kap. 5.

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Noch bevor die Arbeiten an Beardsleys Salome-­Zeichnungen einsetzen, führt er einige weitere Aufträge aus. Besonders hervorzuheben ­seien dabei die Grotesken, die er für drei Ausgaben von Bon-­Mots bei J. M. Dent anfertigt. Dabei handelt es sich um Publikationen, in denen die Aussagen und Konversationskapricen einiger Autoren und Schauspieler des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts gesammelt sind; darunter Charles Lamb, Douglas Jerrold, Sydney Smith, Samuel Foote und Theodore Hook. Der Einfallsreichtum in Beardsleys hybriden Figurenerfindungen ist hier gepaart mit dem wit der englischen Konversationskunst, ohne unmittelbar zu illustrieren. Vielmehr scheint mir Beardsleys erster direkter Kontakt mit dem Konzept des wit bedeutsam für sein weiteres Werk und seine Einstellung zu Witz und künstlerischer Rezeption. So wirkt die Beschreibung des Dichters Charles Lamb (1775 – 1834), die Walter Jerrold in einer Einleitung den Bon-­Mots vorausgehen lässt, wie eine Charakterisierung von Beardsleys Wesenszügen und Ästhetik: „Wit, humour, punning, grotesque – Lamb had all these, not separately each as such, but massed together into the strongest intellectual compound.“ 32

Die Arbeit mit dem Verleger John Lane setzt sich indes in einer der prägendsten Publi­ kationen der englischen 1890er fort. Die erste Ausgabe des Yellow Book erscheint im April 189433 und Beardsley wird nicht nur dessen künstlerischer Leiter, sondern drückt dem vierteljährlich erscheinenden Magazin auch den Stempel seiner Ästhetik auf. Er gestaltet den Umschlag, das Inhaltsverzeichnis und fügt ebenso Einzelblätter bei. Seine Schwarz-­ Weiß-­Zeichnungen von modernen Frauen vor Buchläden oder grotesken Figurengruppen dieser Jahre prägen den genuinen Stil des Künstlers, wie er auch im 20. Jahrhundert vermehrt rezipiert wird. Diese Arbeit, die Beardsley berühmt, aber auch berüchtigt macht, findet ein Jahr nach Erscheinen der ersten Ausgabe des Yellow Book mit der Festnahme Oscar Wildes ein jähes Ende. Brigid Brophy fasst die entscheidende Episode wie folgt zusammen: „At the time of his arrest Wilde was carrying a copy of Pierre Louÿs’s Aphrodite bound, in the tradition of French novels, in yellow. The newspapers misreported it as a copy of the Yellow Book. […] Although A. B.’s only collaboration with Wilde was the English Salome edition, several Bodley Head authors […] threatened to withdraw their work unless Lane dismissed A. B.“ 34

Weil aus einem gelben Buch das gelbe Buch gemacht wird, steht John Lane also vor der schweren Entscheidung, sich von Beardsley zu trennen. Der Illustrator der Salome, ist 32 Jerrold, Walter: Introduction. Charles Lamb. In: Dent, J. M. (Hg.): Bon-­Mots of Charles Lamb and Douglas Jerrold. London 1893, S. 5 – 9, hier S. 7 33 Vgl. Brophy, Brigid: Black and White. A Portrait of Aubrey Beardsley. London 1968, S. 89. 34 Ebd., S. 90.

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aufgrund d ­ ieses einen Projekts für immer mit dem Namen Wilde verbunden und Wilde stellt die Verbindung seiner Verurteilung mit dem Yellow Book her, ohne selbst jemals zu ­diesem Magazin beigetragen zu haben. Sämtliche Zeichnungen Beardsleys werden darauf­ hin aus der eigentlich bereits fertigen fünften Ausgabe entfernt. So verwundert es kaum, dass sich Beardsleys Arbeiten in den folgenden Jahren immer wieder dezidiert mit solchen Motiven auseinandersetzen, die als Reaktion auf die Wilde-­ Prozesse problematisch im Sinne viktorianischer Moralvorstellungen erscheinen könnten. Schon zu Lebzeiten wird er als enfant terrible angesehen, das es vollendet versteht, sein bürgerliches Publikum zu empören.35 Vor allem entstehen s­ olche ‚schockierenden‘ Werke in Zusammenarbeit mit seinem zweiten wichtigen Verleger, Leonard Smithers (1861 – 1907), der wohl keinen geringen Anteil an der Genese d ­ ieses Interesses an A ­ ntikenund Rokoko-­Rezeption bei seinem Schützling hat. Kurz nach Beardsleys Entlassung bei Lanes Yellow Book nimmt sich der notorische Sammler und Herausgeber von Erotika des jungen Zeichners an und verspricht ihm Zahlungen von 25 £ die Woche.36 Es beginnt die wahrscheinlich produktivste Phase in Beardsleys Schaffen, dies insbesondere aufgrund der variantenreichen Aufträge, die Ende 1895 bis 1897 in schneller Abfolge ausgeführt werden. Gewissermaßen als Reaktion auf das berühmte Yellow Book unternimmt Smithers den Versuch, ein ebenso anspruchsvolles Magazin zu kreieren, welches es in Sachen buchkünstlerischer Ausarbeitung und qualitätvoller Beiträge mit dem Konkurrenten aufnehmen kann. Die erste Ausgabe des nach dem eleganten Hotel benannten Savoy erscheint schließlich im Januar 1896. Arthur Symons wird „literary editor“, Beardsley inoffizieller „art editor“.37 Sein Werk formt nun abermals eines der prägenden Magazine der englischen 1890er; diesmal jedoch in einer ganz anderen Art und Weise als die plakativen Schwarz-­ Weiß-­Kontraste des Yellow Book.38 Die allgemein frankophile Ausrichtung des Savoy hat großen Einfluss auf Beardsleys Zeichnungen und Entwürfe für Einband und Titelblätter des zunächst vierteljährlich erscheinenden Journals. Das zuvor eher unterschwellig zu erkennende Interesse für die Motivwelt des 18. Jahrhunderts erwächst in den Zeichnungen der Savoy-­Periode zu voller Blüte. Schon der Entwurf für die Einbandgestaltung verdeutlicht diese Entwicklung (Abb. 3). 35 Dies wird vor allem anhand der zahlreichen Karikaturen, die direkt oder indirekt auf Beardsley oder seinen Stil rekurrieren, deutlich. Diese erscheinen hauptsächlich im bürgerlich konservativ geprägten Magazin Punch und dies insbesondere ­zwischen 1894 und 1895; in der Zeit also, in der Beardsley Oscar Wildes Salome illustriert und Wilde kurz darauf wegen vermeintlicher Unzucht angeklagt wird. 36 Vgl. Brophy, 1968, S. 90. 37 Vgl. Nelson, James G.: Publisher to the Decadents. Leonard Smithers in the Careers of Beardsley, Wilde, Dowson. Pennsylvania State University 2000, S. 62. 38 Für weitere Informationen zu zeitgenössischen Magazinen und Zeitschriften, die parallel zum Y ­ ellow Book und Savoy erscheinen, siehe: Brake, Laurel: Endgames. The Politics of The Yellow Book or, Decadence, Gender and the New Journalism. In: Ders. (Hg.): The Endings of Epochs. Cambridge 1995, S. 38 – 64.

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Abb. 3 Aubrey Beardsley: Titelblatt The Savoy, Januar 1896, Bleistift, schwarze Tinte und Spuren weißer Gouache auf Velinpapier, 36,7 × 28 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA.

Der zurückhaltend und doch die Querseite des Blattes füllende Titel erscheint vor einem geblümten Vorhang, der zu beiden Seiten geöffnet ist und einen dahinter befindlichen, ovalen Spiegel freigibt. Dieser zeichnet sich durch die ornamentale Gestaltung seines Rahmens und eine kurze Blumengirlande als distinguiertes Wohnaccessoire aus und die eigentümlich leere Fläche im Innern des Rahmens dient als Imaginations- und Projektionsfläche der Betrachtenden. Auf der ebenfalls weißen Fläche eines Konsol­tisches liegen ­zwischen den beiden Kerzenständern zwei Inkunabeln der beardsleyschen Motivik: eine schwarze Maske und ein geschlossener Fächer, geschmückt mit einer Quaste. Zu beiden Seiten des Vorhangs haben sich zwei auffällige Figuren eingefunden. Links tänzelt offenbar eine Frau in blumengeschmücktem Cape auf den Tisch zu, um ihre bereits jetzt extravagante Aufmachung mit Maske und Fächer zu komplettieren. Sie hat den Kopf jedoch noch einmal zurückgeworfen und blickt so mit einem schelmischen Lächeln dem Publikum entgegen. Ihr gegenüber steht ein für Beardsleys Werk typischer androgyner Pierrot. Ähnlich wie die Frau links, trägt auch diese Figur einen transparenten Schleier, der aufwendig um die gesamte ­Kopfbedeckung gebunden ist.

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Auch der Pierrot ist den Rezipienten zugewandt, jedoch eher mit einem melancholisch wissenden Ausdruck anstelle des frivolen Lächelns. Alles in allem ist hier eine sehr viel kleinteiligere Komposition festzustellen, als sie in den Yellow Book-­Zeichnungen zu finden war. Für eine Einbandgestaltung angemessen, wird der Käufer des Magazins von den beiden geheimnisvollen Figuren eingeladen, hinter den Vorhang zu treten. Gleichsam wird der Rezipient damit zum Gast eines Maskenballs oder Theaterbesuchs. Das Thema der modischen Ausstaffierung, Maskerade oder Travestie ist allgegenwärtig. Die floralen Ornamente und die modischen Accessoires, wie Fächer, Schleier, Quasten und Schleifen sind dem 18. Jahrhundert entlehnt und werden doch in die kühle Eleganz der 1890er überführt. In der Forschung wird dieser Wandel in Beardsleys Stil unterschiedlich herausgearbeitet. Easton betont vor allem den Einfluss der französischen Illustratoren des 18. Jahrhunderts, deren Werke Beardsley teilweise sogar sammelt.39 Neben Cochin, Eisen oder Gabriel de Saint Aubin, auf die sich der Engländer eher in allgemeinen Motivübernahmen (wie Einrichtungsgegenständen) bezieht, spielt Antoine Watteau eine bedeutende Rolle als Referenz und Identifikationsfigur für den jungen Zeichner. Das Bild des Franzosen flämischer Abstammung ist nicht zuletzt durch Walter Paters „A Prince of Court Painters“ (1885) geformt worden. Auch Aubrey Beardsley orientiert sich nicht nur an Watteau, dem kongenialen Zeichner und Erfinder der frühen fêtes galantes, sondern vor allem an der im Laufe des 19. Jahrhunderts kreierten Persona des ebenfalls früh an Tuberkulose verstorbenen Malers. Allein diese biografische Parallele bietet ohne Zweifel eine Erklärung für die Identifikation mit dem „fellow-­consumptive“.40 Paters Erzählung zeigt Watteau als strengen Lehrer der Malerei, aber auch als fragilen Melancholiker und gebildeten Mann. Die Beschreibungen enthalten dabei eine große Nähe zu Beardsleys Formeln der Selbstinszenierung und der zeitgenössischen Sicht auf ihn. Watteau ist laut Pater ein Ironiker, der mit wissendem Lächeln auf den ständigen Gegenstand seiner Betrachtung schaut. Auch in Beardsleys Werken ist, wie in der Folge zu sehen sein wird, der Unterschied ­zwischen liebevoller Wiedergabe oder Parodie nicht immer klar auszumachen. Des Weiteren appliziert Pater ein Charakteristikum auf den Franzosen, das auch auf Beardsley wiederholt angewandt wurde. „Watteau is still the mason’s boy […] and these light things will possess for him always a kind of representative or borrowed worth, as characterising that impossible or forbidden world which the mason’s boy saw through the closed gateways of the enchanted garden.“ 41

Während Watteau durch die Sicht des einfachen ‚Maurer-­Lehrlings‘ eine distanzierte Position zu seinen höfischen Bildgegenständen einnehmen kann, wird B ­ eardsley – unter anderem, um den Schöpfer oft schlüpfriger Kompositionen posthum zu r­ ehabilitieren – 39 Vgl. Easton, 1972, S. 15. 40 Brophy, 1968, S. 54. 41 Pater, 1910, S. 34.

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der Humor eines frechen Schuljungen zugeschrieben, der auf die Ränder seiner Bücher kritzelt.42 „[D]ear Aubrey’s designs are like the naughty scribbles a precocious schoolboy makes on the margins of his copybooks …“ 43

Und der Maler und Portraitist Beardsleys Jacques-­Émile Blanche (1861 – 1942) schreibt noch 1938 über dessen literarisches Werk: „… one might call it the work of an over-­erudite adolescent who chiselled his phrases and cared for naught but beauty; it made him as happy and proud as a schoolboy is of a ringing rhyme.“ 44

Der kindliche oder besser pubertäre Humor, der aus so manchen frivolen Bilderfindungen Beardsleys spricht, wird bei Watteau zwar stärker ästhetisiert, jedoch entsprechen beide dem Topos der Unverfälschtheit oder Ursprünglichkeit des jugendlichen Genies. Jugend, wenn nicht sogar Kindheit, sind ästhetische Fixpunkte sowohl des Rokoko als auch der englischen Dekadenz. Im 18. Jahrhundert ist es das vitale Ideal der jeunesse, Ende des 19. Jahrhunderts ein „Gegenentwurf zur viktorianischen Erwachsenengesellschaft“.45 Beardsley selbst bestätigt diese Rolle, in der er sich offenbar gefällt, wenn er Smithers in einem Brief vom September 1896 darum bittet, den Autor eines Vorwortes zu seinen Werken auf Folgendes aufmerksam zu machen: „Don’t let Vallance give the public the idea that I am forty-­five and have been working for fifteen years; but give people the impression that I am two and have been working for three weeks.“ 46

Weiterhin setzt Arthur Symons den Illustrator mit einer zentralen Figur Watteaus sowie Verlaines gleich. Wird Watteau in der historischen Rezeption immer wieder mit seinem berühmten Gemälde des sogenannten Gilles identifiziert, überträgt Symons ein ähnliches Muster auf Beardsley, der die Figur des Pierrot, ebenfalls inspiriert durch das Vorbild des Alten Meisters, fest in sein Motivrepertoire übernimmt. Für Symons ist der junge Zeichner die Inkarnation von Verlaines Pierrot gamin (1869), einem Gedicht aus dessen

42 Vgl. Gertner Zatlin, Linda: Beardsley Redresses Venus. In: Victorian Poetry 3/4, 1990, S. 111 – 124, hier S. 111. 43 Ricketts, Charles: Oscar Wilde. Recollections. London 1932, S. 51 f. 44 Blanche, Jacques-­Emile: Portraits of a Lifetime. The Late-­Victorian Era, the Edwardian Pageant, 1870 – 1914. New York 1938, S. 93. 45 Feinendegen, Hildegard: Dekadenz und Katholizismus. Konversion in der englischen Literatur des Fin de siècle. Phil. Diss. Bonn 2002, Paderborn 2002, S. 126. 46 Letters, 1990, S. 162. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 11. September 1896, Pier Vew, Boscombe.

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Zyklus Fêtes galantes.47 Beardsley folgt in seiner Vorliebe für den Maler des 18. Jahrhunderts einem generellen Interesse an dessen Persönlichkeit, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Europa ausprägt. Das Geflecht aus biografischen Parallelen und ästhetischen Entsprechungen, die in ikonografischen Neuinterpretationen ihren Widerhall finden, ist ­zwischen Watteau und Beardsley jedoch besonders hervorzuheben. Der Maler wird zu einer von vielen Projektionsflächen für Beardsleys künstlerische Selbstinszenierung, die nur zu oft in seinen Bildern verhandelt wird. Neben Watteau sucht sich der Zeichner einige weitere historische oder fiktive Gestalten, denen er sich offenbar künstlerisch oder persönlich nahe fühlt. Immer wieder zeichnet sich in dieser Suche nach einem imaginierten Stammbaum ein Hang des Künstlers zu Persönlichkeiten ab, w ­ elche sich durch gesundheitliche, private oder ästhetische Eigenheiten von ihrem Publikum abheben. Der diabolisch inszenierte ‚Teufelsgeiger‘ und gleichfalls an Schwindsucht 48 erkrankte Niccolò Paganini (1782 – 1840) wird ebenso zum frühen Bildgegenstand,49 wie einige Jahre später der unter einer Rückgratverkrümmung leidende Alexander Pope (1688 – 1744).50 Auch der römische Dichter Catull, dessen Verse Beardsley teils übersetzt,51 und der Hofdichter Ludwigs XIV ., Molière (1622 – 1673) – beide ebenfalls wahrscheinlich an derselben Krankheit wie Beardsley gestorben – sind wichtige Inspirationsquellen für den Humor und die Ikonografie des Engländers. Es lässt sich angesichts der beträchtlichen Aufstellung von Versehrten unter den Vorbildern Beardsleys allerdings kaum verleugnen, dass seine fragile Gesundheit eine zentrale Quelle für das eigene Kunstschaffen darstellt. Dennoch möchte ich in dieser Arbeit den Versuch unternehmen, die Werke Beardsleys nicht sämtlich in Richtung einer Aufarbeitung vom Leben eines Kranken zu deuten. Vielmehr verstehe ich das körperliche Leiden des Künstlers als eine zufällige Manifestation des Antagonismus ­zwischen Vitalität und Morbidität des fin de siècle, weshalb Beardsley zu einer der wichtigsten Galionsfiguren dieser Zeit wird. Jugend und Leiden fallen in seiner Person zu einer Kombination zusammen, ­welche die 1890er retrospektiv immer wieder charakterisieren soll. Die Arbeit am Savoy und die Allianz mit Leonard Smithers führen also zu einem Wandel in Beardsleys Stil und Ikonografie, wobei die genuinen Qualitäten seiner Kunst keineswegs zurückgehen, wie dies Ian Fletchers Monografie mehr als einmal vermuten lässt.52 Parallel arbeitet Beardsley jedoch weiterhin für John Lane, der lediglich gezwungen war, 47 Vgl. Symons, 1918, S. 28. 48 Siehe hierzu beispielsweise: Sandblom, Philip: Kreativität und Krankheit. Vom Einfluß körper­ licher und seelischer Leiden auf Literatur, Kunst und Musik. Berlin 1990, S. 136 – 150, Abschnitt zur Tuberkulose. 49 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. 64. 50 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 222 – 224. 51 Vgl. Letters, 1990, S. 179. Aubrey Beardsley an André Raffalovich, ca. 4. Oktober 1896, Pier View, Boscombe. 52 Vgl. Fletcher, 1987, S. 110 f., S. 134, S. 162 und S. 166.

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den jungen Zeichner aus dem Yellow Book zu entlassen, ihn für Aufträge wie die Gestaltung der sogenannten Keynotes oder der Pierrot’s Library aber keinesfalls missen will. Bei den Keynotes handelt es sich um eine Serie von insgesamt 34 Publikationen (1893 – 96), die vor allem weiblichen Autoren eine Bühne bietet. Der Titel bezieht sich zum einen auf die als erstes erschienene Erzählung Keynotes von George Egerton und laut Gertner Zatlin zum anderen auf die sogenannte „Latchkey-­question“ im Zuge der öffentlich debattierten Frauen-­Frage in den 1890ern.53 Beardsley fertigt für diese Serie von Romanen und Kurzgeschichten insgesamt 25 Entwürfe für Titelseiten und Einbandgestaltungen an. Anstelle einer Bezifferung der einzelnen Bände erfindet der Illustrator ein jeweils angepasstes Schlüsselornament, in das die Initialen des Autors/der Autorin integriert sind.54 Die Pierrot’s Library umfasst ebenfalls eine Serie von Publikationen unter John Lanes Herausgeberschaft. Auch hier ergibt sich der übergeordnete Titel aus dem ersten Buch der Reihe: Henry de Vere Stacpoole’s Erzählung Pierrot! A Story (1895). Beardsley entwirft hierfür die Vorsatz- und Titelblätter. Neben diesen treuen Diensten für den immer noch in Freundschaft verbundenen John Lane entwickelt sich allerdings einer der Höhepunkte im Schaffen Beardsleys in der Zusammenarbeit mit Smithers, der ihm Aufträge erteilt, mitunter aber auch dem Künstler selbst die Entscheidung für sein nächstes buchkünstlerisches Werk oder seinen nächsten eigenständigen Beitrag zum Savoy überlässt. Obwohl Beardsley nach dem Yellow Book-­Skandal zwar weitestgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet,55 gelten seine Zeichnungen unter Intellektuellen, Bibliophilen und Sammlern dieser Zeit offenbar nach wie vor als guter Grund, ein neues, exklusives Buch zu erwerben. Selbst wenn die literarische Leistung mancher dieser Werke hinter Beardsleys Zeichnungen zurücktritt, finden sie dennoch konstanten Absatz. Diese Schaffensphase am Ende von Beardsleys Leben stellt den Kernpunkt meiner Arbeit dar, ist der Einfluss des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts auf sein Werk in dieser Zeit doch besonders evident. Eine Serie von Illustrationen auf die im Zuge dessen wiederholt zurückzukommen sein wird, ist die 1896er Ausgabe von Alexander Popes Gedicht The Rape of the Lock (1712/14). Beardsley arbeitet an den neun Zeichnungen während eines längeren Parisaufenthaltes ­zwischen Januar und März 1896.56 Es verwundert daher kaum, dass zahlreiche stilistische und vor allem modische Einflüsse aus dem französischen Ancien Régime in die Illustrationen zum englischen Klassiker Eingang finden. Wie die Analysen der Bilder zeigen werden, verdeutlicht sich hier einmal mehr Beardsleys vollkommen anachronistischer Umgang mit den ihn umgebenden Inspirationen. Während die Herren in seinen Bildern einigermaßen 53 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. 487. Gemeint ist der als problematisch wahrgenommene Zustand, dass Kinder allein (mit einem Schlüssel um den Hals) von der Schule heimkehren mussten, da ihre Mütter – statt sich um sie zu kümmern – auf den Straßen für ihre Unabhängigkeit kämpften. 54 Vgl. Fletcher, 1987, S. 130. 55 Vgl. Beerbohm, 1898, S. 540. 56 Vgl. Burdett, 1925, S. 143.

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der Entstehungszeit des Gedichts angemessen gekleidet sind (mit Allongeperücken und Justaucorps) treten die Damen eher in Roben und Coiffuren der französischen 1780er auf.57 Am 23. April ist der Druckprozess des Buches abgeschlossen, sodass zwei verschiedene Ausgaben in unterschiedlichen Ausführungen ab Mai 1896 erscheinen können. Smithers gibt zum einen eine herkömmliche Ausgabe zu 500 Stück heraus, die aufgrund der ­großen Nachfrage in zweiter Auflage im selben Jahr erscheint, zum anderen eine edition de luxe zu gerade einmal 25 Kopien.58 Als Sammlerobjekt stellt Beardsleys Rape of the Lock sicherlich einen der größten Erfolge des Künstlers dar. Ebenfalls ein Sammlerobjekt und doch ganz anderer Art ist der Auftrag, den Beardsley direkt im Anschluss ausführt. Als erste komplette Übersetzung von Aristophanes’ Komödie Lysistrate (411 v. Chr.) und erste illustrierte Ausgabe des Stücks über die Frauen Athens und Spartas, die ihren Männern den Sex verwehren, um den Peloponnesischen Krieg zu beenden, ist die Pionierleistung dieser Publikation herauszustellen. Möglicherweise ist die plötzliche Hinwendung zum antiken Stoff mit einer zeitgenössischen Theateraufführung zu begründen, die laut Mathew Sturgis mit unerwartetem Erfolg in Krakau inszeniert worden sei und so sogar bis in die englischen Zeitungen gelangt.59 Die kurze Inhaltsangabe verrät, dass es sich bei dieser literarischen Vorlage um einen weitaus expliziteren Stoff handelt, den Beardsley auch weitaus expliziter bebildert als es für Popes Gedicht angemessen erscheint. Der Zeichner greift hierzu auf völlig andere Kompositionsschemata zurück, die er abermals aus japanischen Holzschnitten sowie aus der griechischen Vasenmalerei entlehnt. Beides studiert er, ausgehend von der Quellenlage, im Studiensaal und den Ausstellungsräumen des British Museum.60 Weiterhin bleibt der Rokoko-­Einfluss aus den Bildern zu Popes Rape of the Lock jedoch evident. Beardsley kleidet seine Figuren vor weißem Grund nach wie vor in Negligees, Perücken und Accessoires des 18. Jahrhunderts, die ihre aufreizende und zugleich groteske Wirkung kaum verfehlen. Die acht ganzseitigen Zeichnungen zu Aristophanes’ Text, der von einem gewissen Samuel Smith, über den nichts Näheres bekannt ist, übersetzt wird, entstehen während Beardsley im Juli 1896 in Epsom weilt.61 Im September wird die auf 100 Stück reduzierte Ausgabe, die aufgrund des erotischen Inhalts nur privat verkauft wird, beim auf Erotika spezialisierten H. S. Nichols in Druck gegeben und erscheint schließlich im Oktober 1896 für die zuvor gelisteten Subskribenten.62 Kurz darauf beschäftigt Beardsley die Figur des Pierrot ein weiteres Mal. Innerhalb von nur vier Wochen fertigt er im November 1896 Einbandgestaltung, Frontispiz, Initiale, ­Vignette und cul de lampe für Ernest Dowsons Einakter The Pierrot of the Minute (1892) an.63 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 224. Vgl. Nelson, 2000, S. 145 – 148. Vgl. Sturgis, 1999² (1998), S. 270. Vgl. Reade, 1989, S. 115. Vgl. Weintraub, 2000 (1976), S. 195 – 199. Vgl. Nelson, 2000, S. 150. Vgl. ebd., S. 156.

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Veröffentlicht wird der schmale Band im März 1897, wobei abermals zu unterscheiden ist ­zwischen einer Version in grünem Leinen zu 100 Stück und einer exklusiven Ausgabe in japanischem Velinpapier zu 25 Stück.64 Vor allem das Frontispiz, in dem sich Beardsley ganz dezidiert mit dem großen Vorbild Watteau auseinandersetzt (Abb. 25), soll im entsprechenden Kapitel im Vordergrund meiner Betrachtung stehen (Kap. 6.1). Der Beginn des Jahres 1897 ist vor allem von der stetigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes Beardsleys geprägt. Ende Januar reist er in einer beheizbaren Kutsche von London nach Bournemouth, wo er unter der ständigen Pflege seiner ebenfalls kränklichen ­Mutter bis April bleibt.65 Die für seine Kreativität so bedeutsame Stadt London soll er nach dieser Abreise nie wieder sehen. In jenem Jahr wird der Einfluss eines neuen Gönners im Leben des Künstlers immer stärker. Der französische Autor russischer Abstammung Marc-­André Raffalovich (1864 – 1934) unterstützt Beardsley nicht nur durch regelmäßige finanzielle Hilfe, sondern auch durch einen regen Briefwechsel, in welchem die innige Freundschaft z­ wischen den beiden jungen Männern bis heute deutlich wird. Malcolm Easton geht von einem romantischen Interesse von Seiten des homosexuellen Raffalovich aus.66 Besonders relevant in der Beziehung ­zwischen Beardsley und seinem Impresario ist jedoch die beiderseitige Hinwendung zum katholischen Glauben. Raffalovich – eigentlich jüdischer Abstammung – konvertiert im Februar 1896, sicherlich inspiriert durch seinen Freund, den Dichter John Gray (1866 – 1934), welcher bereits 1890 zum Katholizismus übertritt.67 Im Austausch mit Beardsley überzeugt Raffalovich auch ihn zu konvertieren, was schließlich am 31. März 1897 vollzogen wird.68 Die Faszination für die Glaubenspraxis und die Kunst des Katholizismus dürfte indes schon früh eine Rolle im Leben Beardsleys gespielt haben. So lässt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für seinen Geburtsort Brighton ein regelrechtes „Catholic Revival“ nachweisen, an dem die gesamte Familie Beardsley ebenfalls teilnimmt.69 Es ist daher schwierig zu rekonstruieren, wie katholisch Beardsley tatsächlich ist, oder ob er darin eher von außen beeinflusst wird. Er entspricht derweil auch hierin einem Topos der 1890er, schließen sich doch zahlreiche Kunstschaffende jener Jahre (nicht zuletzt Oscar Wilde) früher oder später d ­ iesem Glauben an, ohne dabei einen Konflikt mit ihrer Sexualität oder künstlerischen Sensualität zu sehen. Holbrook Jackson hält ­dieses Phänomen sowohl für eine weitere Abgrenzung zum puritanischen Bürgertum, als auch „due entirely to a yearning soul-­weariness“ 70 des hedonistischen Künstlertypus. Möglicherweise sind auch dies einige der Gründe, die Beardsley kurz vor seinem Tod zu d ­ iesem Schritt bewegen. Es muss daher auch unklar bleiben, warum sich der Künstler entschließt, in seinem 64 65 66 67 68 69 70

Vgl. ebd., S. 157. Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. XXVI. Vgl. Easton, 1972, S. 60 f. Vgl. Weintraub, 2000 (1976), S. 191. Vgl. Reade, 1966, S. 10. Vgl. Easton, 1972, S. 159. Jackson, 1922, S. 70.

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letzten Brief an Leonard Smithers von ­diesem zu verlangen, die Lysistrata-­Illustrationen und sämtliche anderen „obscene drawings“ zu zerstören.71 Sei es ein plötzlicher Ruf des Sterbenden nach Seelenheil oder doch die Eingabe seiner von den Erotika des Sohnes wenig begeisterten ­Mutter; der Grund hierfür bleibt bis heute der Spekulation überlassen.72 Für die Forschung ist indes entscheidend, dass sich der geschäftstüchtige Smithers trotz des Briefes nicht dazu bewegen lässt, die Zeichnungen zu zerstören, sondern sie stattdessen weiterhin gewinnbringend vervielfältigt, sogar Fälschungen anfertigen lässt und Kopien des letzten Briefes verkauft.73 In Bournemouth beginnt Beardsley bereits mit einem weiteren Projekt, das eine zen­ trale Rolle für meine Betrachtungen spielen wird. Im Februar entsteht das erste Aquarell zu Théophile Gautiers Roman Mademoiselle de Maupin (1835) (Abb. 48). Nicht nur die Technik unterscheidet ­dieses Werk deutlich von den bisherigen Zeichnungen Beardsleys in Schwarz-­Weiß. Während das Aquarell bereits in vorherigen Bildern zur farbigen Fassung eines Originals eingesetzt wird,74 handelt es sich bei dieser Darstellung der Titelheldin in Männerkleidung um ein neues stilistisches Experiment, dessen sich der Künstler hier bedient. Geprägt wird die Arbeit an den sechs vollendeten Zeichnungen (32 waren ursprünglich geplant!) erneut von Beardsleys Aufenthalt in Paris, wohin er im April 1897 umzieht.75 Dort vollendet er im Oktober drei weitere Zeichnungen zu Gautiers Roman. Das Thema von Maskerade, Verkleidung und Travestie, welches in Beardsleys Werken stets mitschwingt, ist in Gautiers Text derart vordergründig, dass der Illustrator die ideale Spielfläche für die zeichnerische Ausgestaltung ­dieses Sujets bekommt. Dabei knüpfen seine Bilder nur selten an die literarische Vorlage an, sondern orientieren sich eher an dem alles überstrahlenden Komplex aus Androgynität, Erotik und Fetischismus. Abermals liefert die Kunst des 18. Jahrhunderts wichtige Anknüpfungspunkte sowohl für Beardsleys Darstellungen als auch für Gautiers Text. Schon während der Entstehung dieser in der Forschung bisher wenig beachteten Blätter kommt es zu einigen Unstimmigkeiten z­ wischen Illustrator und Verleger. Leonard ­Smithers zweifelt daran, dass Beardsley erstens die gesundheitliche und zweitens die geistige Stabilität besitze, ­dieses Werk zu vollenden.76 Beardsley wiederum zweifelt an Smithers’ anhaltendem Willen, eine Maupin-­Ausgabe mit seinen Zeichnungen herauszugeben.77 71 Vgl. Letters, 1990, S. 439. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 7. März 1898, Hôtel Cosmpolitain, Menton. 72 Vgl. Easton, 1972, S. 115. Malcolm Easton ist sich in seiner Monografie sicher, dass Ellen Beardsley ihren Sohn am Totenbett zu d ­ iesem Brief drängt. Schließlich schreibt sie auch Anschrift und Datum auf den Umschlag. 73 Vgl. Sturgis, 2012 (1995), S. 287. 74 Vgl. „La Dame aux Camélias” (1894) und „L’Education Sentimentale” (1894). 75 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. XXVI. 76 Vgl. Nelson, 2000, S. 139. 77 Vgl. Letters, 1990, S. 388 f. Aubrey Beardsley an Mabel Beardsley, ca. 10. November 1897, Hôtel Foyot, Paris.

„… the gay rococo thing I was“ – Aubrey Beardsley und das 18. Jahrhundert | 95

Tatsächlich ist Beardsley immer wieder mit anderen Projekten und Vorhaben beschäftigt. So plant er außerdem Casanovas Memoiren zu illustrieren und gestaltet ein Titelblatt zu Ali Baba.78 Schließlich gibt Smithers die sechs Gautier-­Zeichnungen nach dem Tod des Künstlers 1898 in einer Mappe heraus. Gedruckt als Photogravüren verkauft er sie in der reduzierten Zahl von 50 Stück.79 Das letzte unvollendete Vorhaben in Beardsleys Vita ist die Illustration von Ben Jonsons Komödie Volpone (1605). Im Dezember 1897 plant der mittlerweile im südfranzösischen Menton weilende Künstler noch 24 Zeichnungen zu dieser barocken Satire,80 beenden kann er jedoch nur die Einbandgestaltung, ein Frontispiz und fünf Initialen. Zwar kehrt Beardsley hier am Ende seines Schaffens zurück zum 17. Jahrhundert, hat seine Leidenschaft für das theatrale Element der Maskerade aber keinesfalls aufgegeben. Aus einem eigens verfassten Essay zur geplanten Ausgabe flammt seine Ästhetik im Blick auf Jonsons Figur nochmals auf. „Disguise, costume, and the (theatrical) attitude have an irresistible attraction for him, the blood of the mime is in his veins. To be effective, to be imposing, to play a part magnificently, are as much a joy to him as the consciousness of the most real qualities and powers; and how perfectly Volpone acts, how marvellously he improvises! […] and each new part gives him the huge pleasure of developing and accentuating some characteristic of his inexhaustibly rich nature, and exercising his immensely fertile brain.“ 81

In den Zeichnungen lehnt sich der Illustrator wie so oft an den historischen Stil des literarischen Stoffs an. Dabei ist vor allem die kongeniale Umsetzung des Frontispizes herauszustellen, in dem er den Titelhelden zeigt, wie er seinen durch Betrügereien erworbenen Reichtum bewundert.82 Smithers nutzt d ­ ieses letzte Aufblitzen des sterbenden Talents noch einmal für eine spektakuläre Doppelausgabe, die im Dezember 1898 erscheint. „Of this Edition One Thousand Copies have been printed for England and America in demy quarto on Art Paper of which this is No. []

78 Vgl. ebd., S. 324. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 25. Mai 1897, Saint Germain. 79 Vgl. Smithers, Leonard (Hg.): Six Drawings Illustrating Théophile Gautier’s Romance Mademoiselle de Maupin by Aubrey Beardsley. London 1898, No. 44. Eingesehen in der Bibliothèque des Arts Décoratifs Paris, April 2016. 80 Vgl. Letters, 1990, S. 401 f. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 4. Dezember 1897, Hôtel Cosmopolitain, Menton. 81 Aubrey Beardsley: Manuskript vom 4. Januar 1898, zitiert nach: Walker, R. A.: A Beardsley ­Miscellany. London 1949. Beardsleys Vorwort erscheint indes nicht in der publizierten Ausgabe, sondern wird durch einen Essay von Vincent O’Sullivan ersetzt. Vgl. Letters, 1990, S. 411. 82 Vgl. Aubrey Beardsley: „Volpone adoring his Treasure“, 8. – 10. Dezember 1897, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 29,5 × 20,7 cm, Princeton University Library.

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And One Hundred Copies in demy quarto on Imperial Japanese Vellum (each containing an extra set of the Plates in large size printed in photogravure) of which this is No. []“ 83

Neben der intensiven Beschäftigung mit dem Volpone-­Stoff schöpft Beardsley außerdem weitere vitalisierende Hoffnung aus der Planung für ein neues Magazin nach dem Ende des Savoy. Zusammen mit Smithers stimmt er sich in seinen Briefen über die Genese einer neuen bibliophilen Zeitschrift ab. Diese soll The Peacock heißen und weist damit zurück auf eines der wichtigsten frühen künstlerischen Vorbilder Beardsleys: James Abbott McNeill Whistler (1834 – 1903), der mit der Gestaltung des berühmten Peacock Room (1876 – 77) in Frederick Leylands Haus großen Einfluss auf Stil und Motivik des jungen Zeichners nimmt. Trotz dieser Reminiszenz an die ästhetizistischen 1870er fordert Beardsley für die künstlerische Ausrichtung des Magazins eine bewusste Hinwendung zum Stil des 17. und 18. Jahrhunderts. „On the art side I suggest that it should attack untiringly and unflinchingly the Burne-­Jones and Morrisian medieval business, and set up a wholesome seventeenth and eighteenth-­ century standard of what picture making should be.“ 84

Zu dieser erneuten Kollaboration kommt es indes nicht mehr. Verleger und Illustrator sind beide durch Krankheit gezeichnet und finanziell nicht sicher genug aufgestellt, als dass ein neues Literaturmagazin für den Connaisseur entstehen könnte.85 Es sei nochmals betont, dass Beardsley neben den hier geschilderten größeren Aufträgen zahlreiche Einzelblätter anfertigt und gleichzeitig an seinem literarischen Werk arbeitet. Letzteres beschränkt sich auf wenige vollendete und zu Lebzeiten erschienene Gedichte, darunter The Three Musicians (Savoy, Januar 1896) und The Ballad of a Barber (Savoy, Juli 1896), einige Aphorismen, die John Lane 1904 als Table Talk herausgibt, seine Briefe und ein Romanfragment. Dieses erscheint zunächst in den ersten zwei Ausgaben des Savoy unter dem Titel Under the Hill. Dabei handelt es sich um eine gekürzte bzw. vom Autor selbst zensierte Version des Textes.86 1904 gibt John Lane die Erzählung zusammen mit oben genannten Gedichten und Aphorismen heraus. Schließlich nutzt der inzwischen bankrotte Leonard Smithers nochmals die Gelegenheit, mit Beardsleys Werk Geld zu verdienen, und veröffentlicht 1907 eine ungekürzte Version des Manuskripts unter dem ursprünglichen Titel The Story of Venus and Tannhäuser.87 83 Jonson, Ben: Volpone; or The Fox. London 1898. Seite gegenüber des Titelblattes. 84 Letters, 1990, S. 413. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 26. Dezember 1897, Hôtel Cosmopolitain, Menton. 85 Vgl. Nelson, 2000, S. 88. 86 Vgl. Fletcher, 1989, S. 232. 87 In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf eben diese literarische Grundlage, wie sie in Karl Becksons Anthologie britischer Literatur der 1890er erneut herausgegeben wurde. Vgl. B ­ eardsley, Aubrey: The Story of Venus and Tannhäuser. In: Beckson, Karl (Hg.): Aesthetes and Decadents of the 1890’s. An Anthology of British Poetry and Prose. Chicago 1993 (1966), S. 9 – 46.

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Der Titel verrät, dass Beardsley sich hier mit einem Libretto Wagners auseinandersetzt, den er stets verehrt und auch mehrfach illustriert. Emma Sutton hat bereits eine eindrückliche Monografie zu Beardsleys Wagnerismus und Under the Hill geliefert,88 sodass an dieser Stelle nur wenig über die allgemeinen und wie so oft komplexen Aspekte dieser Erzählung vorangestellt sei. Beardsleys Romanfragment bildet im Grunde das Zentrum seines Schaffens und kann daher in seiner Relevanz kaum überschätzt werden, verbindet der Künstler in ­diesem Werk doch endlich seine Ambitionen als Autor mit seinem Talent als Illustrator. Im Juli 1894 schreibt Beardsley erstmals in Briefen über sein Vorhaben, die Geschichte Tannhäusers literarisch zu verarbeiten.89 Die Arbeit an Text und Bildern soll ihn mindestens bis Ende 1896, wenn nicht bis zum frühen Ende seines Lebens beschäftigen. Sowohl der Text als auch die Zeichnungen bleiben unvollendet. Von 24 geplanten Illustrationen, stellt er lediglich acht fertig.90 Die Erzählung über den Aufenthalt des Minnesängers Tannhäuser im ‚Venusberg‘ und die anschließende Bußfahrt des Helden nach Rom, von der Beardsley nur die erste Hälfte in jedem frivolen Detail beschreibt, stellt laut Sutton in mehrfacher Hinsicht eine Parodie dar. Ich schließe mich ihrer Meinung an, wenn sie schreibt, Beardsleys Text sei eine Paro­ die des fin de siècle-­Ästhetizismus sowie des Antiquarismus des 19. Jahrhunderts.91 Auch Beardsleys Zeitgenosse Arthur Symons betont die textimmanente Parodie, indem er sie mit Laforgues Parodieverständnis vergleicht: „He was at work then with an almost pathetic tenacity, at his story, never to be finished, the story which never could have been finished, ‚Under the Hill‘, a new version, a parody (like Laforgue’s parodies, but how unlike them, or anything!) of the story of Venus and Tannhäuser.“ 92

Ebenso folgt Stanley Weintraub Jahrzehnte später dieser gedanklichen Verknüpfung der beiden Persönlichkeiten, jedoch abermals ohne diese weiter auszuführen. „The French model for Beardsley’s arabesque was clearly Laforgue, whose witty and bizarre preciosity in the Moralités légendaires the author of Under the Hill admired.“ 93

Neben dem parodistischen Prinzip, das ich für Beardsleys gesamtes Schaffen als essenziell erachte, ist für diese Arbeit vor allem der bisher weitgehend ignorierte Aspekt der Rokoko-­ Rezeption relevant. Immer wieder greift der Autor im Text auf literarische Formeln des 88 Vgl. Sutton, Emma: Aubrey Beardsley and British Wagnerism in the 1890s. Oxford 2002. 89 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. XXII f. 90 Vgl. Fletcher, Ian: Inventions for the Left Hand. Beardsley in Verse and Prose. In: Langenfeld, Robert (Hg.): Reconsidering Aubrey Beardsley. Ann Arbor, Michigan 1989, S. 227 – 266, hier S. 245. 91 Vgl. Sutton, 2002, S. 143. 92 Symons, 1918, S. 16. 93 Weintraub, Stanley: The Savoy. Nineties Experiment. London 1966, S. XXIX.

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Abb. 4 Aubrey Beardsley: „The Abbé“, Oktober/November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 24,9 × 17,6 cm, Victoria & Albert Museum, London.

18. Jahrhunderts zurück. Zu nennen sei zunächst lediglich die Widmung, die Beardsley seiner Erzählung voranstellt. In einem Passus, den er von Alexander Pope übernimmt, widmet er als ‚humble servant‘ sein Werk einem fiktiven Kardinal.94 Daneben verzichtet der Autor nicht auf zahllose, für den heutigen Leser schwer nachzuvollziehende Anspielungen auf Werke der Kunst- und Literaturgeschichte, die abermals häufig dem 18. Jahrhundert entspringen. Diese Verweise sind eingebunden in ausführlichste Schilderungen über die Vorgänge am Hof der Liebesgöttin. Die Beschreibungen stellen gleichsam den wichtigsten Anknüpfungspunkt zu den dazugehörigen Illustrationen dar. Dass Text und Bilder parallel entstanden sein müssen, scheint überaus wahrscheinlich im Angesicht der beinahe ekphrastischen Nähe ­zwischen beiden Medien. Der Protagonist der Geschichte, Tannhäuser, ist erneut eine der zahllosen Identifikationsfiguren Beardsleys. Als Künstler, als unglücklich Liebender, als dem Laster A ­ nheimfallender,

94 Vgl. Sutton, 2002, S. 144.

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als reuiger Christ vereinen sich in der Figur des Minnesängers mehrere Topoi der Selbstinszenierung des Zeichners. Die Identifikation wird noch deutlicher, beachtet man die Genese der Namensgebung. Schon während der Arbeit am Manuskript verändert B ­ eardsley die Namen seiner Figuren ständig. Zunächst heißt der Held seines Romans bezeichnenderweise „Abbé Aubrey“, danach „Abbé Fanfreluche“, später „the Chevalier“, dann „Sporion“ und schließlich wieder „Fanfreluche“;95 bis er in Smithers Ausgabe von 1907 „Tannhäuser“ genannt wird.96 Vor allem der erste Name verrät Beardsleys offenkundige Identifikation mit dem Minnesänger, den er schon mittels klerikalen Titels in ein völlig anderes Jahrhundert versetzt. Hinzu kommt die doppelte Verknüpfung mit dem eigenen Namen des Autors. Nicht nur, dass der Held seinen Vornamen trägt, auch der Titel Abbé stellt ein Spiel mit den Initialen seines Schöpfers dar.97 Somit kann die Zeichnung, die den Eintritt des Protagonisten in das Reich von Venus oder Helena (auch die weibliche Hauptfigur wird der wandelnden Namensgebung unterzogen) illustriert, als ein Kryptoselbstportrait Beardsleys verstanden werden. In der Folge soll nun ­dieses Blatt in seiner zentralen Bedeutung für die Selbstinszenierung des Künstlers in Bezug auf seine Rezeption des 18. Jahrhunderts untersucht werden. „The Chevalier Tannhäuser, having lighted off his horse, stood doubtfully for a moment beneath the ombre gateway of the Venusberg, troubled with an exquisite fear lest a day’s travel should have too cruelly undone the laboured niceness of his dress. […] The place where he stood waved drowsily with strange flowers, heavy with perfume, dripping with odours. Gloomy and nameless weeds not to be found in Mentzelius. Huge moths, so richly winged they must have banqueted upon tapestries and royal stuffs, slept on pillars that flanked either side of the gateway […] ‚Would to heaven,‘ he sighed, ‚I might receive the assurance of a looking-­glass before I make my début! However, as she is a Goddess, I doubt not her eyes are a little sated with perfection, and may not be displeased to see it crowned with a tiny fault.‘ A wild rose had caught upon the trimmings of his muff, and in the first flush of displeasure he would have struck it brusquely away, and most severely punished the offending flower.“ 98

Beinahe könnte Beardsleys Text an dieser Stelle genügen, um die Zeichnung des Protagonisten seiner Erzählung zu beschreiben (Abb. 4). Jedoch soll hier der Versuch unternommen werden, dem Bild als Kryptoportrait des Künstlers näherzukommen.

95 Der Name „Fanfreluche“ stellt abermals eine von zahlreichen erotischen Anspielungen in Beardsleys Text dar. Aus dem Französischen stammend bedeutet das Wort zunächst bloß „Firlefanz“, war laut Ian Fletcher allerdings ebenfalls eine Umschreibung für das männliche Geschlecht. Vgl. Fletcher, 1989, S. 233. 96 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 256. 97 Vgl. ebd., S. 256. 98 Beardsley, 1993, S. 14 – 17.

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Ganzfigurig ist der Held des Romanfragments dargestellt. Er steht inmitten von allerlei Pflanzen und exotischen Blumen, die laut Autor namenlos bleiben müssen, da nicht einmal der große deutsche Botaniker des 17. Jahrhunderts, Christian Mentzel (1622 – 1701), sie kenne. Die hoch aufragende und weit geöffnete Lilie direkt neben Tannhäusers Haupt ist als Entsprechung seiner herrschaftlichen Stellung zu verstehen. Die Sonnenblume wiede­rum ist nicht nur zeitgenössische Begleiterscheinung des wildeschen Ästhetizismus,99 sondern auch kunsthistorisch tradiertes Parergon des Selbstportraits Anthonis van Dycks (1633), in dem die Sonnenblume ein ganzes Geflecht von Interpretationen von Herrscher- bzw. Gottes­devotion bis zur Reflexion über die künstlerische Imitatio der Natur zulässt.100 Hinter Beardsleys Abbé verstellt ein dichter Wald aus Laubbäumen fast vollständig die Sicht auf einen mit Schleierwolken durchzogenen Himmel. Links und rechts wird das Blatt durch Säulen begrenzt, die scheinbar von der Natur eingenommen worden sind. Laut Text sind diese Säulen geschmückt mit erotischen Skulpturen oder Reliefs.101 Von d ­ iesem Schmuck ist in Beardsleys Zeichnung indes nicht viel zu sehen. Lediglich eine der ebenfalls aufgezählten Motten hat – wie ein selbstironischer Kommentar – auf einer solchen Figur links oben mit ausgebreiteten Flügeln Platz genommen und lässt nun nur noch die nackten Beine einer Frau erkennen. Während die Umgebung anmutet wie ein altes Portal, dessen Eingang im Laufe der Jahre von undurchdringlichem Dickicht bewachsen wurde, weist Beardsleys Gestaltung des Bodens deutlicher auf die stets nur scheinbare Natürlichkeit seiner Pflanzenwelt hin. Der Abbé steht auf einer schwarzen Fläche, die mit Blumenbouquets geschmückt ist; mehr wie eine Tapisserie als ein Rasen. Auch die gleichmäßige Kreuzschraffur über den Blumen lässt dies vermuten. Zudem tritt der Held mit einem seiner spitzen Stiefel soeben auf eine weiße Blüte. Vor der überaus artifiziellen Erscheinung muss jegliche Natur weichen und sich der Gewächshausatmosphäre 102 des Textes unterordnen. Hochherrschaftlich ist Tannhäuser hier inszeniert. Die Bezeichnung „Abbé“ mag im Zusammenhang mit dieser Zeichnung sogar treffender erscheinen, verortet Beardsley sein Alter Ego doch ganz offensichtlich modisch in einem Zeitalter, in dem die Figur ­dieses Geistlichen noch eine große Rolle spielt. Der französische Titel Abbé „hatte im achtzehnten Jahrhundert seinen ursprünglich religiösen Stellenwert eingebüßt“ 103 und nahm laut 99 Vgl. Raby, Peter: Oscar Wilde. Cambridge 1988, S. 34. 100 Vgl. Bruyn, J.; Emmens J. A.: The Sunflower Again. In: Burlington Magazine 99, 1957, S. 96 – 97; Stewart, J. Douglas: ‚Death Moved Not His Generous Mind‘: Allusions and Ideas, Mostly ­Classical, in Van Dyck’s Work and Life. In: Ausst.-Kat.: Van Dyck Paintings. Washington, National Gallery of Art, 1990, S. 69 – 74, hier S. 71; Wark, R. R.: A Note on Van Dyck’s Self-­Portrait with a Sunflower. In: Burlington Magazine 98, 1956, S. 52 – 54. Zuletzt hat sich John Peacock dem Selbstportrait in aller Ausführlichkeit in einer gesonderten Monografie gewidmet: vgl. Peacock, John: The Look of Van Dyck. The Self-­Portrait with a Sunflower and the Vision of the Painter. Farnham 2006. 101 Vgl. Beardsley, 1993, S. 16. 102 Vgl. Jackson, 1922, S. 100. Jackson spricht hier allgemein von Beardsleys künstlerischen Einflüssen und bezeichnet diese als „hot-­house growths of thought derived from books, pictures and music.“ 103 Wagner, Peter: Lust & Liebe im Rokoko. Nördlingen 1986, S. 24.

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Rosemarie Gerken zumeist eher die Rolle „eines unterhaltsamen Narren“ 104 am Frisiertisch der Dame ein. Die Goncourts beschreiben den Abbé sogar mit Worten, die den manchmal tolldreisten Figuren in Beardsleys Bildern zu entsprechen scheinen. „Et l’abbé, car l’abbé est le fondation à la toilette, quelque petit abbé vif et sémillant, se trémoussant sur le siège qu’une femme lui a avancé, conte l’anecdote du jour.“ 105

Als Gesellschaftsfigur, nicht als Geistlicher ist der Abbé bei Beardsley zu verstehen. Und so tritt er hier auch im Ornat eines Höflings des späten 17. Jahrhunderts auf und trägt keinerlei geistliche Insignien bei sich. Beinahe verschwindet das kleine, stolz drein­blickende Gesicht irgendwo z­ wischen den Locken einer Allongeperücke, einer riesigen weißen Rüschenschleife und den Falten eines schweren Umhangs. Sein Haupt ist weiterhin geschmückt mit großen Straußenfedern, die zu einem winzigen Plumagenhut gehören könnten, der hinter den Locken der Perücke jedoch nicht mehr zu sehen ist. Ebenso gut könnten sie auch einen Haarschmuck meinen, der gemeinhin Frauen vorbehalten ist. Hinter seiner rechten Schulter ragt der Hals eines Saiteninstrumentes hervor, auf welchem der Held in derselben Szene kurz einige Akkorde anschlägt.106 Dem Text folgend wäre von einer Art Laute auszugehen; ein klassisches Instrument in der Imagination des mittelalterlichen Minnesängers. Als nächstes richtet sich der Blick sicherlich auf den angewinkelten rechten Arm der Figur, der in einen voluminösen Muff übergeht. Dabei handelt es sich nicht allein um ein modisch extravagantes Accessoire der Zeit um 1700,107 sondern zusätzlich um ein seit dem 18. Jahrhundert in England tradiertes Symbol für weibliche Genitalien.108 Deut­licher wird diese sexuelle Anspielung außerdem durch die winzige Hand, die sich am vorderen Ende des Muffs durch den Stoff bohrt. Auf dem mit Kordeln und Schleife geschmückten Accessoire liegt eine Rose, die nicht etwa zum Ornament des Stoffs gehört, sondern – so erschließt es der Text Beardsleys – eine winzige Unvollkommenheit in der Aufmachung des Helden darstellt. Der kritische Blick des Abbés auf d ­ ieses Relikt der Natur zeigt den Moment der Reflexion über diese Blume. Schließlich entscheidet sich der zukünftige Liebhaber von Venus, es bei der kleinen Unregelmäßigkeit in seinem sonst perfekten Äußeren zu belassen, da er vermutet, die Liebesgöttin sei möglicherweise ermüdet von all der sie umgebenden Perfektion, dass ein solcher Fauxpas sie möglicherweise sogar erfreuen könnte.109 Die Liebessymbolik der Blume spielt dabei wohl bewusst eine untergeordnete Rolle. 104 Gerken, Rosemarie: La Toilette. Die Inszenierung eines Raumes im 18. Jahrhundert in Frankreich. Hildesheim, Olms 2007, S. 156. 105 Goncourt, 1862, S. 94. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 155: „Und der Abbé, denn der gehört von Haus aus zur Toilette, ein kleiner, lebhafter und munterer Abbé, der auf dem Stuhl zappelt, den ihm eine Frau hingerückt hat, erzählt die Anekdote des Tages“. 106 Vgl. Beardsley, 1993, S. 16. 107 Vgl. Thiel, Erika: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 20048, S. 238 f. 108 Vgl. Steele, 2002, S. 14. 109 Vgl. Beardsley, 1993, S. 16.

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In der kleinen Hand hält der Abbé einen ungemein grazilen Gehstock mit rundem Knauf und einer enormen Quaste, die vor dem dunklen Hintergrund indes nicht sofort ins Auge fällt. Im Zusammenspiel von Muff und phallischem Gehstock wird der erotische Kontext der gesamten Erzählung einmal mehr eingeläutet. Auf der linken Seite der Figur verschwindet der in die Hüfte gestützte Arm des posierenden Helden voll und ganz in den Falten seines Umhangs. An derselben Stelle betont eine rechts geknotete Schärpe die äußerst asymmetrische Körperhaltung. Die Hüfte scheint nach vorn gebogen und die Knie beinahe nach hinten zu weichen, sodass die Beine einen satyrartigen Anschein bekommen. Mit d ­ iesem Detail deutet der Künstler, ähnlich wie im wenig später entstandenen Selbstportrait „A Footnote“ (März 1896),110 seine Verbundenheit mit den hybriden Wesen Arkadiens an.111 Der Abbé trägt außerdem eine eng geschnittene Kniebundhose, deren suggestive Falte im Schritt abermals Zweifel am Geschlecht der Figur aufkommen lässt. Bewusst platziert der Zeichner allerdings direkt neben d ­ iesem Detail einen Fächer, der mit der Öffnung nach unten an einer Kette befestigt ist. Der Fächer wiederum stellt laut Valerie Steele ein Signum des Hermaphroditen dar. „The fan, it seems, evokes the hermaphrodite – female, when spread open, male when closed with its guard sticks.“ 112

Beardsley dürfte sich dieser dem Accessoire inhärenten Bedeutungsschichten sicher bewusst sein. Im 19. Jahrhundert ist der Fächer längst als genuin weibliches Accessoire etabliert und kann lediglich in der ostasiatischen Kultur dem Mann weiterhin beigeordnet werden.113 Es sind also sowohl das exotische Element, als auch die sexuellen Implikationen des Fächers, die Beardsley dazu bewegen, d ­ ieses Utensil immer wieder in seine Bilder zu integrieren. In seinen Darstellungen beschränkt sich der Künstler dabei hauptsächlich auf den geschlossenen oder halbgeschlossenen Zustand des Fächers. Damit erhält er eine ­stärker phallische Implikation, was sein Vorkommen in den Händen der mehr oder minder ‚gefährlichen‘ oder ‚machtvollen‘ Frauen Beardsleys erklärt. Wie die kostümierte Salome in „The Black Cape“ halten Beardsleys Frauen mit dem Fächer weniger ein Utensil der Koketterie als vielmehr den Ersatz für ein Zepter in der Hand.114

110 Vgl. Aubrey Beardsley: „A Footnote“, letzte Märzwoche 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Papier, 24,2 × 14,3 cm, Verbleib unbekannt. 111 Ein Verweis auf Joshua Reynolds’ berühmtes Portrait Laurence Sternes (1760, National Portrait Gallery) scheint mir an dieser Stelle angebracht. Auch der Präsident der Royal Academy nutzt die angedeutete Physiognomie des Satyrs, um subtil Aussagen über die Persönlichkeit des Autors von Tristram Shandy treffen zu können. Vgl. Busch, 1993, S. 398. 112 Steele, 2002, S. 23. 113 Vgl. ebd., S. 12. 114 Vgl. Aubrey Beardsley: „The Black Cape“, November 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 23 × 16,3 cm, Princeton University Library, NJ.

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Außer der bisher offensichtlich gewordenen geschlechtlichen Unbestimmtheit, die Beardsleys Zeichnung des Abbé Fanfreluche dominiert, stellt sich noch die Frage, welcher Quellen sich der Künstler für die Genese d ­ ieses Typus bedient. Um ­welchen Typus handelt es sich dabei überhaupt? Bisher wurde die Figur stets als Dandy bezeichnet.115 Mir scheint dieser Begriff allerdings nicht allzu genau, die genuine Art des Dandyismus zu reflektieren, die Beardsley hier ins Bild setzt. Die kunsthistorischen Vorbilder, die Gertner Zatlin in ihrem Catalogue Raisonné erstmals vorschlägt, orientieren sich vor allem an der Pose des Abbés mit dem in die Hüfte gestemmten Arm, ­welche keineswegs selten in der Kunstgeschichte anzutreffen ist. Sie schlägt den „Heiligen Georg“ (um 1470 – 75) des von Beardsley verehrten Mantegna, van Dycks „Lord Russell und Lord Digby“ (1637) in Althorp und Whistlers Portrait M ­ ontesquious (1891/92) vor.116 Ich kann diesen Vergleichen nur bedingt zustimmen. Ginge es einzig um die Suche nach Figuren, die einen Arm in die Seite stützen oder einen Gehstock bei sich tragen, ließen sich sicherlich noch zahllose andere Gegenüberstellungen in ähnlicher Weise aufzählen. Ich halte allerdings die Traditionslinie des Herrscherportraits im 17. und 18. Jahrhundert für eindeutig fruchtbarer im Vergleich mit Beardsleys Bildauffassung seines Protagonisten. So weist Hyacinthe Rigauds berühmtes Portrait Ludwigs XIV. mehrere Gemeinsamkeiten mit Beardsleys Abbé auf.117 Aus der Sicht der allgemein nüchternen Herrenmode des 19. Jahrhunderts dürften ­Ludwigs weiße Strümpfe, rote Absätze und seine tänzerische Pose ungemein effeminiert wirken. Die stolze Körperhaltung, die über die Schultern fallenden Locken, der weite Umhang und Details, wie das Zepter, das seine Entsprechung im Gehstock des Abbés findet, und die Quasten am purpurnen Vorhang hinter dem Sonnenkönig, die B ­ eardsley an selbigem Utensil befestigt, bilden weitere Parallelen zu dessen androgyner Figur. Während die Allongeperücke und der weite Umhang modisch eher auf die Zeit ­Ludwigs XIV. hinweisen, bergen weitere Details Gemeinsamkeiten mit einer Figur des englischen 18. Jahrhunderts. Den möglicherweise winzigen, gefederten Hut am Hinterkopf und die Quaste am Gehstock ins Gedächtnis rufend, ist eine Verwandtschaft mit dem sogenannten „macaroni“ der englischen 1770er kaum von der Hand zu weisen (Abb. 5). In ihrem Aufsatz über diese Figur der englischen Karikatur beschreibt Amelia Rauser den „macaroni“ wie folgt: „… the macaroni type: fine sprigged fabric, tight clothes, oversized sword, tasseled walking stick, delicate shoes, and, most recognizably, an enormous wig.“ 118

115 Vgl. Fletcher, 1987, S. 151. 116 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 256. 117 Vgl. Hyacinthe Rigaud: „Louis XIV“, 1701, Öl auf Leinwand, 277 × 194 cm, Musée du Louvre, Paris. 118 Rauser, Amelia: Hair, Authenticity, and the Self-­Made Macaroni. In: Eighteenth-­Century Studies 38, 2004, S. 101 – 117, hier S. 101.

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Abb. 5 Anonym: „What is this my Son Tom“, gedruckt bei Sayer & Beckett, 1774, Mezzotinto auf Papier, 35 × 25 cm, British Museum, London.

Vor allem der „tasseled walking stick“ sei hier nochmals betont. Dieser erscheint häufig in Beardsleys Werk und erhält durch die Verbindung mit der Figur des „macaroni“ eine weitere Bedeutungsebene. Hinzu kommt Beardsleys mögliche Identifikation mit ­diesem Typus, die sich nicht zuletzt durch die überlieferte Aussage des Künstlers bestätigt, er hätte sich als Kind erkältet, weil er die Quasten an seinem Gehstock vergessen hatte.119 Sicherlich ist diese Aussage, sei sie nun authentisch oder nicht, weder ernst gemeint noch direkt mit dem „macaroni“ in Verbindung zu bringen. Dennoch erscheint mir die Inszenierung des Künstlers in seinem Kryptoportrait als eine Art „macaroni“ durchaus denkbar. Rauser schreibt weiter: „Named for the pasta dish that rich young Grand Tourists brought back from their sojourns in Rome, the macaroni was known in the 1760s as an elite figure marked by the cultivation of European travel.“ 120 119 Vgl. Fletcher, 1987, S. 2. 120 Rauser, 2004, S. 101.

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Der „macaroni“ zeichnet sich also nicht nur durch modische Extravaganzen aus, sondern wird vor allem aufgrund seiner kontinentalen Affektiertheiten parodiert und karikiert. Rauser gelingt es jedoch in ihrem Essay deutlich zu machen, dass der „macaroni“ nichtsdestotrotz eine authentische Figur Englands ist. In ihm inkarniert sich der Individualismus par excellence, dessen sich die damaligen Engländer in Abgrenzung zu den Franzosen rühmen.121 Er ist zugleich genuin Englisch und kontinental. Auch Beardsley bedient sich für seinen Abbé an den Quellen der europäischen Kunstgeschichte ebenso, wie an einem Typus der englischen Karikatur des 18. Jahrhunderts. In den anschließenden Bildanalysen wird diese Dichotomie in Beardsleys Ästhetik wiederholt auftauchen. Stets changieren seine synthetisierten Zitate ­zwischen Frankophilie und Englishness und im Kryptoportait als Abbé sehe ich diesen Dualismus kongenial ins Bild gesetzt. Die Identifikation mit dem „macaroni“ spielt auch insofern eine wichtige Rolle für Beardsleys Selbstinszenierung, als sie einen selbstironischen Kommentar zur zeitgenössischen Kritik an seiner Person zulässt. Vor allem seine konti­ nentalen Einflüsse und seine Vorliebe für androgyne Charaktere werden ihm darin häufig zu Lasten gelegt. Im „macaroni“, der außerdem einen Schlüsselbegriff in einer großen Debatte um Homosexualität in den englischen 1770ern bildet,122 finden sich beide Kritikpunkte inkarniert. Beardsleys späterer Vertrauter Haldane Macfall (1860 – 1928) schreibt im Juni 1895 eine bis heute viel zitierte Kritik über Beardsleys Persona in der Zeitschrift St. Paul’s, worin er den Künstler als „sexless and unclean“ 123 bezeichnet sowie an dessen Männlichkeit insgesamt Zweifel erhebt. Berühmter als dieser Ausspruch ist indes Beardsleys nie abgesandte „Whistlerian reply“ 124: „Sir, No one more than myself welcomes frank, nay hostile, criticism, or enjoys more thoroughly a personal remark. But your art critic surely goes a little too far in last week’s issue of St. Paul’s, and I may be forgiven if I take up the pen of resentment. He says that I am ‚sexless and unclean‘. As to my uncleanliness, I do the best for it in my morning bath, and if he has really any doubts as to my sex, he may come and see me take it.“ 125

121 Vgl. ebd., S. 114. 122 Vgl. Norton, Rictor: The Macaroni Club. Homosexual Scandals in 1772. In: Homosexuality in Eighteenth-­Century England: A Sourcebook. Letztes Update 13. Juni 2017. http://rictornorton. co.uk/eighteen/macaroni.htm (01. 03. 2019). 123 Macfall, Haldane: Aubrey Beardsley. The Clown, the Harlequin, the Pierrot of His Age. New York 1927, S. 142 – 145. 124 Ebd., S. 145. 125 Letters, 1990, S. 92. Aubrey Beardsley an den Verleger des St. Paul’s, 28. Juni 1895, 114 Cambridge Street.

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Obwohl erst posthum publiziert, erfährt Macfall von Beardsleys Reaktion und lässt daraufhin eine nicht minder gewitzte Entschuldigung in der nächsten Ausgabe des St. Paul’s drucken.126 Der harsche Vorwurf, die Effeminiertheit oder gar Geschlechtslosigkeit des Künstlers drücke sich in dessen Bildern und seinem öffentlichen Auftreten aus, wird von B ­ eardsley selbst künstlerisch zurückgespielt Bewusst inszeniert er sich als androgynes Wesen mit einem großen Interesse an Kosmetik, Mode und allem Artifiziellem. Bezüglich der „unclean­ liness“ reagiert der Zeichner mit einer stilistischen Parfum- und Puderwolke, die die Schamlosigkeit seiner Sujets nur unzureichend überdecken kann. Auch die bereits skizzierte frankophobe Einstellung der englischen Kunstkritik verarbeitet Beardsley in der „macaroni“-artigen Selbstinszenierung des vermeintlich übertrieben kontinental beeinflussten Dandys avant la lettre. Beardsleys Kryptoportrait als Abbé ist somit, wie so oft in der Geschichte des Künstler­ selbstportraits, eine piktorale (in ­diesem Fall grafische) Darlegung ästhetischer Prinzipien des Zeichners. Nicht genug damit, dass Beardsley hier all seine Könnerschaft in Sachen Schraffur und Linienführung präsentiert, er inszeniert außerdem ein horror vacui, in dessen Undurchdringlichkeit die Grenzen ­zwischen Parodie und Ernst verschwimmen. Dieser Schwierigkeit einer Grenzziehung wird in den folgenden Kapiteln näher auf die Spur zu kommen sein. Beardsleys Auseinandersetzung mit Topoi des 18. Jahrhunderts stellt dafür ein besonders geeignetes Beispiel dar. Der Zeichner sieht in der Kunst dieser Epoche offenbar die Doppelbödigkeit seines eigenen Schaffens bestätigt. Stets z­ wischen Ernst und Witz, z­ wischen Melancholie und Frivolität oszillierend, zeigt sich die Kunst des 18. Jahrhunderts als eine bedeutende Quelle um dem immer noch existierenden Rätsel um Beardsleys Bilder eine mögliche Lösung entgegenzustellen.

126 Vgl. Macfall, 1927, S. 146.

4 Libertinage als Rechtfertigung – Rokoko-Rezeption im Magazin The Savoy „Hogarth could have made something of the ‚progress‘ of Leonard Smithers“ 1

So beschreibt Malcolm Easton die Karriere des in Sheffield geborenen Anwalts Leonard Smithers, der zu einem der führenden Verleger der Londoner Old Bond Street wird.2 Smithers treibt mit seiner Publikationstätigkeit eine Sensibilisierung für die Nutzbarmachung des französischen Rokoko in der Avantgarde der englischen 1890er auf besondere Weise voran. Bereits zuvor macht er sich durch die Publikation von Sir Richard Burtons Thousand and One Nights (1885) und antiken Erotika einen berüchtigten Namen als (laut Wilde) „most learned erotomaniac in Europe“.3 Nach der Zäsur durch Wildes Verhaftung ist Smithers – möglicherweise begünstigt durch sein ohnehin schamloses Image – derjenige, dem es gelingt, die Literatur- und Kunstszene des Decadent Movement erneut unter sich zu vereinen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger John Lane, dem Herausgeber des berühmten Yellow Book, geht Smithers nicht zu einer gemäßigteren Äußerung dekadenten Gedankenguts über, sondern füllt die Bewegung mit neuen Ideen. Die Verknüpfung der englischen decadents mit Hellenismus, Rokoko und katholischem Mystizismus erfolgt insbesondere in dieser zweiten Hälfte der 1890er Jahre. Smithers zeigt sich als wichtigster Impulsgeber für die ersten beiden Phänomene. So veröffentlicht er nicht nur Kuriositäten der antiken Literatur, sondern insbesondere Bücher aus dem oder über das 18. Jahrhundert mit großem französischem Schwerpunkt. Außerdem handelt es sich bei seinem Geschäft um einen der wichtigsten Umschlagplätze für Zeichnungen und Druckgrafik jener Epoche. Edgar Jepson schreibt hierzu in seinen Memoiren (1933): „Sometimes he had for sale astonishing works. Once he showed me a book containing seven charming watercolour drawings by Fragonard and Boucher, for which he had paid six hundred pounds. He sold them to a connoisseur for eleven hundred.“ 4

Dieser gewinnbringende Verkauf zeigt deutlich, dass auch in Smithers bis heute weitestgehend anonym bleibender Käuferschaft ein Interesse an solchen Grafiken besteht. Auch Aubrey Beardsley selbst lernt seinen späteren Verleger kennen, als er im Juli 1895 1 Easton, 1972, S. 74. 2 Vgl. Gertner Zatlin, Linda: Aubrey Beardsley and Victorian Sexual Politics. Oxford 1990, S. 151; Nelson, 2000, S. 57. 3 Hart-­Davis, Rupert (Hg.): The Letters of Oscar Wilde. London 1962, S. 630 f. Oscar Wilde an Reginald Turner, 10. August 1897, Dieppe. 4 Jepson, Edgar: Memories of a Victorian, Bd. I. London 1933, S. 281.

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eine günstige Ausgabe französischer Fabeln des 18. Jahrhunderts (wahrscheinlich La Fontaine) kauft.5 Obwohl zunächst der Eindruck eines elitären, kleinen Kreises um Leonard Smithers entsteht, handelt es sich bei seiner Verlegertätigkeit dennoch um ein kommerzielles Geschäft, das ganz auf finanziellen Gewinn ausgerichtet ist. Im Gegensatz zu Morris’ Kelmscott Press etwa, die eher idealistischen Formulierungen nachhängt, handelt es sich bei Smithers’ oft exklusiven Veröffentlichungen in kleinen Auflagen um eine kalkulierte Vorgehensweise.6 Zudem nutzt Smithers einen regelmäßig erscheinenden Catalogue of Rare Books, um seine Bestände zu bewerben. James G. Nelson zählt allein für den Katalog vom Juni 1895 165 Artikel auf, davon 63 in französischer Sprache. Eine ­solche beispielhafte Auflistung zeigt, ­welche Kennerschaft Smithers und sein Umkreis in Sachen Bibliophilia des 18. Jahrhunderts beweisen: Marquis de Sade „Amours de Lais, Histoire Grecque“ (1765) Comte Mirabeau „Margot et la Ravadeuse, et ses Aventures Galantes“ (1784) Bocaccio „Dekameron“, illustriert von Eisen, Gravelot, Boucher, Cochin etc. (1757) Voltaire „La Pucelle“ (1752) in sechs verschiedenen Editionen Prévost „Manon Lescaut“ (1731) verschiedene Memoiren des französischen Hofes 7

Des Weiteren veröffentlicht Smithers Übersetzungen französischer Werke, sowohl des 18. als auch des 19. Jahrhunderts. So gibt er innerhalb seiner sogenannten Fleur-­de-­lis ­Library gleich mehrere höfische Memoiren heraus, die teils mehr oder weniger authentisch zu nennen wären.8 Darunter findet sich beispielsweise eine zweibändige Übersetzung der vermeintlichen Lebensnotizen von Léonard, dem Coiffeur Marie Antoinettes, die Smithers 1897 mit einer schlichten Einbandgestaltung Beardsleys herausgibt. Ernest Dowson (der Autor des ebenfalls von Beardsley illustrierten Einakters The Pierrot of the Minute) übersetzt unter anderem Choderlos de Laclos’ skandalösen Briefroman Les Liaisons dangereuses (1782), der bei Smithers 1898 als exklusive, zweibändige Ausgabe zusammen mit den Illustrationen Fragonards erscheint.9 Ursprünglich war geplant, neue Bilder Beardsleys beizufügen. Es entsteht allerdings lediglich eine Zeichnung, die den Protagonisten Comte de Valmont als libertinen Schwerenöter zeigt. Dieser stattdessen im bibliophilen Magazin The Savoy erschienen Zeichnung widme ich mich später in d ­ iesem Kapitel ausführlicher. Für die gerade einmal ein Jahr lang in Buchform erscheinende Zeitschrift tritt ­Smithers zwar hauptsächlich als Verleger in Erscheinung, er dürfte jedoch auch wichtige ästhetische Impulse für die Gestaltung des Magazins liefern. Gegründet wird The Savoy im 5 6 7 8 9

Vgl. Nelson, 2000, S. 132. Vgl. Fletcher, 1987, S. 127. Vgl. Nelson, 2000, S. 50 f. Vgl. ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 102.

Libertinage als Rechtfertigung – Rokoko-Rezeption im Magazin The Savoy | 109

Sommer 1895 von Arthur Symons und Aubrey Beardsley. Der Autor der Studie The Symbolist Movement in Literature (1899) und der junge Zeichner treffen sich in dem bei Engländern so beliebten französischen Küstenort Dieppe, wo sie die Modalitäten und ihre Aufgabenbereiche in dem neuen Magazin aushandeln. Wer genau den Titel „The Savoy“ vorschlägt, ist nicht genau zu eruieren. Malcolm Easton schreibt die Idee Beardsleys Schwester Mabel zu, die ebenfalls in Dieppe anwesend gewesen sein soll.10 Fest steht jedenfalls, dass der Name Savoy den Gedanken an das bis heute existente, elegante Hotel in London hervorruft, welches 1889 eröffnet wird und nicht zuletzt in mehreren repräsentativen Räumen mit einem Neorokoko-­Interieur auffährt. Gleichzeitig ist dieser Ort seit den Wilde-­Prozessen untrennbar mit dessen vermeintlich dort situierten Treffen mit jungen Männern verbunden.11 Schon im Titel wird also deutlich, dass sich das neue Magazin, welches erstmals am 11. Januar 1896 erscheint,12 bewusst mit der gesellschaftlich-­künstlerischen Zäsur des Jahrzehnts auseinandersetzt und dessen Folgen für die Intelligenzia mitträgt. Zuweilen erscheint es gar als eine Abrechnung mit dem viktorianischen Kunstpublikum sowie mit denen, die sich von der jungen Avantgarde abgekehrt haben. In Arthur Symons’ „Editorial Note“, die er der ersten Ausgabe voranstellt, legt der Redakteur scheinbar die Parameter des Savoy fest, distanziert sich gleichzeitig jedoch von jeglicher Positionierung zu einer zeitgenössischen Bewegung. „[…] We have no formulas, and we desire no false unity of form or matter. We have not invented a new point of view. We are not Realists or Romanticists, or Decadents. For us, all art is good which is good art.“ 13

Bemerkenswert ist vor allem die Distanzierung vom Begriff „dekadent”. Dies dürfte hauptsächlich auf Symons’ eigene Überlegungen zu einer passenden Terminologie zurückzuführen sein. Die erste Fassung seiner späteren Studie The Symbolist Movement in Literature erscheint nämlich zunächst unter dem Titel The Decadent Movement in Literature in Harper’s New Monthly Magazine (November 1893).14 Robert Thornton vollzieht die Rezeption des Dekadenz-­Begriffs in England in seinem Buch „The Decadent Dilemma“ (1983) minutiös nach. Zunächst beeinflusst durch Bourgets Ansätze zu einem Verständnis des Begriffs und direkte Kontakte zu Vertretern der französischen Dekadenz, favorisiert Symons dieselbe Bezeichnung für die literarische Entwicklung in England.15 Sein Artikel hat weitreichenden Einfluss auf das Verständnis der zeitgenössischen Bewegung, da Symons 10 Vgl. Easton, 1972, S. 196. 11 Vgl. Dovzhyk, Olexandra: Sexualizing Audiences. Aubrey Beardsley’s Exclusive Codes and Mass Appeal. In: The Victorian 1, 2014, S. 1 – 14, hier S. 5. 12 Vgl. Nelson, 2000, S. 70. 13 Symons, Arthur: Editorial Note. In: The Savoy 1, Januar 1896. 14 Vgl. Jackson, 1922, S. 55. 15 Vgl. Thornton, 1983, S. 50.

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Abb. 6 Aubrey Beardsley: Entwurf für das Titelblatt der ersten Ausgabe von The Savoy, September 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 30,5 × 23 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum Cambridge, MA.

das Decadent Movement nicht nur beschreibt, sondern zudem vehement v­ erteidigt.16 Als allerdings in der Mitte des Jahrzehnts das Erscheinen der englischen Übersetzung von Nordaus Entartung/Degeneration (1892/1895) genau mit den aufsehenerregenden Wilde-­ Prozessen zusammenfällt, steht gleichsam das Decadent Movement vor Gericht.17 Vor dem Hintergrund also, dass ‚Dekadenz‘ erneut biologistisch als soziales Verfallssymptom verstanden und mit Oscar Wilde ein vermeintlicher Beweis dieser ‚Degeneration‘ öffentlich vorgeführt wird, erscheint es nur allzu nachvollziehbar, dass Literaten, Künstler und Intellektuelle aus eben d ­ iesem Umkreis versuchen, sich dem nunmehr belasteten Begriff zu entziehen. Nichtsdestotrotz dokumentiert Symons’ Vorwort die ambitionierte Zielsetzung des Savoy, das neue Magazin einer neuen Avantgarde zu sein, die ihren ästhetischen Wert allein an der jeweiligen Qualität ihrer Erzeugnisse bemisst und nicht an streng definierten, wiederkehrenden Motiven. 16 Vgl. ebd., S. 51. 17 Vgl. ebd., S. 66 – 69.

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Abb. 7 Aubrey Beardsley: Titelblatt, The Savoy, 3. Juli 1896, Strichätzung auf Papier, ca. 25,5 × 18,5 cm.

Auch Beardsleys erstes Titelblatt ist zugleich ästhetischer Wegweiser des neuen Periodikums sowie eine Art Vergeltung für seine Entlassung beim Yellow Book. Im ersten Entwurf (Abb. 6), den der Zeichner an Smithers sendet, uriniert der kleine, dickliche Cherub im Vordergrund auf eine am Boden liegende Ausgabe des Yellow Book.18 Smithers ist dieser Verweis auf das Vorgängermagazin dann doch zu offensichtlich und er verlangt von B ­ eardsley, die entsprechenden Stellen zu entfernen, wie dies in der finalen Version zu sehen ist.19 Die possierliche Figur am unteren Bildrand ist indes weit mehr als eine bloße Abrechnung des Künstlers mit dem vorherigen Auftraggeber, mit dem ihn zudem weiterhin eine produktive Geschäftsbeziehung verbindet. Meiner Einschätzung nach setzt der p ­ ummelige Wicht eine Reihe von Referenzfiguren des Savoy in Gang, die auf den ersten Seiten des Heftes zusätzlich zur Editorial Note das neue Magazin vor dem zeitgenössischen Publikum verorten. 18 Vgl. Stanford, Derek: Aubrey Beardsley’s Erotic Universe. London 1967, S. 24. 19 Vgl. Gertner Zatlin, 2016 Bd. II, S. 244.

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Abb. 8 Aubrey Beardsley: „John Bull“ (contents page), November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 23,3 × 18,1 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA.

Hierzu sei zunächst die Ähnlichkeit des stolzierenden Zwergs mit einer Figur der folgenden Seite des Savoy angeführt (Abb. 7). Gewissermaßen auf einem zweiten Titelblatt erscheint der sogenannte ‚Puck on Pegasus‘, eigentlich ein kleiner Pierrot,20 ausgerüstet mit Feder und Zeichenstift auf dem Rücken, der gerade ein geflügeltes Pferd mithilfe einer langen Gerte zum Aufbäumen gebracht hat. Unter dem Bauch des Pferdes stehen die lateinischen Worte „Ne Iuppiter quidem omnibus placet“ (Nicht einmal Jupiter kann allen gefallen). Natürlich ist dies als Wahlspruch des Künstlers wie des Herausgebers gleichermaßen zu verstehen. Hier wird die Pose des gesellschaftlich außenstehenden Dandys eingenommen, der sich dem bürgerlichen Kunstpublikum verschließt und gleichzeitig eine gedachte geistige Elite dazu auffordert, ihn angemessen zu rezipieren. Interessanterweise nutzt Smithers den Entwurf mehrfach im selben Jahr als eine Art Signum für seine

20 Vgl. ebd., S. 274. Gertner Zatlin weist darauf hin, dass der heute geläufige Titel des Bildes erst nach Beardsleys Tod in verschiedenen Werkverzeichnissen etabliert wird.

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­Publikationen und Puck auf Pegasus wird so zum wiederkehrenden Motiv auf B ­ uchdeckeln, -rücken und Vorsatzblättern.21 Wie „Puck“ trägt auch der urinierende Zwerg des Titelblatts die beschleiften Schuhe des Pierrot (Kap. 6.1). Seine restliche Aufmachung sowie die sehr viel untersetztere Körperform erinnern indes an eine weitere Figur, die wiederum auf den ersten Seiten des Magazins erscheint. Links neben dem Inhaltsverzeichnis weist ein stattlicher John Bull auf die literarischen Beiträge des Savoy (Abb. 8). Die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geläufige Personifikation Englands,22 die zur zusätzlichen Identifizierung von einer englischen Dogge am unteren linken Bildrand begleitet wird, trägt einen voluminösen Umhang über einem Zweireiher und Rüschenhemd. Als Accessoires dienen ihm geflügelte Stiefel und ein ebenso geflügelter Zylinder – was ihn als eine Variation auf den Götterboten Hermes erscheinen lässt – sowie mehrere Blumenbouquets, die nicht nur als Stickereien überall an seinem Regency-­Ensemble auftreten. Auch er hält Schreibfeder und Zeichenstift in riesen­hafter Ausführung in seinem Arm. Die beiden Utensilien verweisen einmal mehr auf die enge Verbindung, die Kunst und Literatur in d­ iesem Magazin eingehen sollen. Die Figur des John Bull ist zusätzlich ein Seitenhieb auf das bürgerliche Karikatur-­Magazin Punch, welches durch wiederholte Parodien und Satiren über das Decadent Movement von sich reden macht. John Bull ist in einer beinahe deckungsgleichen Aufmachung auch in Punch eine wiederkehrende Figur (wobei auf die geflügelten Accessoires verzichtet wird) und avanciert hier mit Blumen geschmückt zum ironischen Instrumentarium des neuen frankophilen Periodikums. Die symbolisch aufgeladenen Figuren, die den ersten Eindruck des Savoy bestimmen, werden in dem eigentümlichen Männlein des Titelblattes vorausgedeutet. Als ursprünglich kommentierendes Beiwerk am Bildrand, scheint der Wicht eine Einheit mit dem Zeichner einzugehen. Gleichsam verweisen seine Beleibtheit und die historisierende Aufmachung auf eine minimierte Version des John Bull. Wenn es dieser ist, der zunächst das Yellow Book beschmutzt, so entsteht eine weitere Bedeutungsschicht: nämlich, dass nicht der Künstler selbst mit dem Vorgängermagazin abrechnet, sondern die Schuld an seiner Entlassung der viktorianisch-­bourgeoisen Kritik zuschreibt. Ein geschrumpfter und halb entkleideter John Bull wird damit zur Personifikation der franko- und homophoben, puritanischen Kunstkritik, die angefeuert durch den Wilde-­Skandal die englische Dekadenz (in Form des Yellow Book) buchstäblich in den Dreck zieht. Dass Smithers sich dennoch entscheidet, auf das frivole Detail zu verzichten, zeigt indes an, dass The Savoy durch einen ernsteren Impetus geprägt ist, als es das Yellow Book mit seinen selbstironischen Tendenzen war. Kurz nach der Zäsur durch Wildes Verhaftung heißt es scheinbar zunächst, den Weg der Rehabilitierung eines Künstlerkreises anzustreben. Dies geschieht, wie im Folgenden gezeigt wird, mit der Orientierung an neuen ästhetischen und literarischen Vorbildern der Vergangenheit.

21 Vgl. ebd., S. 275. 22 Vgl. Langford, 2000, S. 11.

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Beardsley liefert mit seinem Titelbild eine völlig andere Formensprache als für das Yellow Book. Die dominierende Frauengestalt bleibt zwar weiterhin ein bedeutender Bestandteil der Komposition, doch befindet sie sich nun nicht mehr in plakativen Schwarz-­Weiß-­ Kontrasten in urbaner Umgebung, sondern in einer Gartenlandschaft. Diese erinnert mit dem Teich und dem Rundtempel im Hintergrund an den Trianon Garten in Versailles mit seinem temple de l’amour, auf den Beardsley auch in anderen Bildern zurückkommen wird.23 Gleichsam handelt es sich um einen englischen Landschaftsgarten, in dessen botanischer Ausgestaltung der Künstler eine besondere Detailliertheit an den Tag legt. Die stilistische Annährung an Vorbilder der Druckgrafik des 18. Jahrhunderts verweist subtil auf die frankophile Ausrichtung der zunächst vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift. Auch Nelson betont in seiner Smithers-­Monografie wiederholt die „French aura of the magazine“.24 Diese manifestiert sich in unterschiedlichsten Ausprägungen, von denen ich an dieser Stelle nur jene skizzieren möchte, die für den Schwerpunkt meiner Arbeit von Bedeutung sind. Beinahe programmatisch erscheint Symons’ Übersetzung des Gedichts „Mandoline“ aus Paul Verlaines bereits mehrfach angesprochenem Band Fêtes galantes (1869) in der ersten Savoy-­Ausgabe. Die letzte Strophe paraphrasiert einmal mehr die von Verlaine formulierte und mit Selbstironie aufgeladene Verknüpfung der lustwandelnden Liebespaare in Watteaus kytherischen Gärten mit den mondsüchtigen décadents: „And the mandolines and they, Faintlier breathing, swoon Into the rose and grey Ecstasy of the moon.“ 25

Diesen Versen ist eine aquarellierte Illustration von Charles Conder (1868 – 1909) beigestellt, die als Holzstich wiedergegeben ist (Abb. 9). Deutlich rekurriert der Maler und Zeichner auf das Motivrepertoire aus Watteaus fêtes galantes, ohne indes dessen Stilistik zu kopieren. Wie in Verlaines Gedichten befindet sich wird eine b­ ühnenartig ausgebreitete Gartenlandschaft vorgeführt, deren untere Hälfte von teils sitzenden teils liegenden Liebespaaren, einer eleganten Dame mit Hündchen und einem Mando­ linenspieler bevölkert ist. Ein dekoratives Band mit einigen Blüten schließt die Szene nach unten ab und verrät ihren Charakter als dekoratives Beiwerk. Der entfernt an Rocailleschwünge erinnernde Rahmen distanziert die Szene nicht nur ästhetisch, sondern führt überdies eine zeitliche Entrückung des Bildgeschehens vor Augen. Im Gegensatz zu Beardsleys strengen, geradlinigen Rahmungen und Kompositionen, die 23 1893 besucht Beardsley die Gärten von Versailles während eines Parisaufenthaltes. Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 209. 24 Nelson, 2000, S. 75. 25 Verlaine, Paul: Mandoline (Fêtes galantes), übersetzt von Arthur Symons. In: The Savoy 1, Januar 1896, S. 42.

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Abb. 9 Charles Conder: „Mandoline“, Januar 1896, Holzstich nach einem Aquarell auf Papier, Maße unbekannt.

zumeist ohne Repoussoir auskommen, führt Conder die Betrachtenden beinahe ­lieblich sanft in die idyllische Bildwelt ein. In seiner vibrierenden Linienführung geraten die Figuren zu zeitlosen Arabesken des arkadischen Liebesspiels, wie sich dies in ­Verlaines Gedicht ankündigt. Nicht nur aufgrund ­dieses Beitrags zum Savoy ist Charles Conder als einer der wichtigsten bildkünstlerischen Vertreter der Rokoko-­Rezeption in den englischen 1890ern zu nennen. Auch im Bereich der Fächermalerei tut sich der Maler hervor, wobei auch hier Watteau und das 18. Jahrhundert seine Hauptbezugspunkte bleiben (Kap. 10).26 Dennoch lässt sich konstatieren, dass eine ­solche Grafik von Conder eher die Ausnahme im Savoy darstellt, wenn es um die Rezeption des französischen 18. Jahrhunderts geht. Ansonsten ist es so gut wie ausschließlich Beardsley, der die Erscheinung dieser Publikation durch seine Titelblätter und Illustrationen in dieser Richtung prägt. Vor allem die Veröffentlichung seines Romanfragments Under the Hill in den ersten beiden Ausgaben des Savoy verstärkt Beardsleys Position als Chefillustrator und eine betont eklektische Ästhetik in Sprache und Bild, die sich auf den Eindruck des gesamten Magazins überträgt. Weiterhin liefert jedoch auch William Rothenstein (1872 – 1945) einen bedeutenden Beitrag zur ersten Savoy-­Ausgabe, der auf eine Quelle des 18. Jahrhunderts zurückgeht. Bevor auf den letzten Seiten des Savoy der erste Teil von Beardsleys dix-­huitième fantasy 27 folgt, ist Rothensteins Radierung mit dem Titel „The Flying Ass“ abgebildet, die eine Szene aus

26 Vgl. Fletcher, 1987, S. 17. 27 Fletcher, 1989, S. 262.

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Voltaires Parodie auf den Jeanne d’Arc-­Stoff, La Pucelle (1752), illustriert.28 Die groteske Darstellung, ­welche die Rückansicht eines Ritters zeigt, der auf einem pegasusgleich fliegenden Esel sitzt, um die Jungfrau in Nöten vor dem Feuertod zu retten, stimmt direkt auf die Lesart von Beardsleys folgendem Text ein. Dieser bedient sich ebenfalls grotesker Bildideen und zahlreicher historischer Anleihen, die wie Voltaires humoristisch-­frivole Paraphrase auf eine französische Nationallegende kaum als ernsthafte Rezeption zu verstehen sind. Die Mittel der Parodie, wie sie von den philosophes der Aufklärung nur zu gern als subversives Element genutzt werden,29 sind bei Beardsley und Rothenstein also aus dieser hehren Tradition abgeleitet. So erhält das parodistische Grundprinzip der englischen Dekadenz eine weitere historische Legitimierung. In der zweiten Ausgabe des Savoy schließt sich eine regelrechte Verlaine-­Huldigung an, die in einem Dreiergespann aus Aufsätzen den Verweis auf dessen Gedichte in der ersten Ausgabe soweit entfaltet, dass Verlaines Status im englischen Decadent Movement vollends verdeutlicht wird. Von Nordau als Träger aller Degenerationsmerkmale tituliert,30 wird Verlaine in England erneut zum Vorreiter der jungen Avantgarde. Weiterhin sind diese Beiträge als eine Art Nachruf auf den am 8. Januar 1896 verstorbenen Dichter zu begreifen. In Edmund Gosses „A First Sight of Verlaine“ wird dem Leser auch nicht viel mehr als dieser erste Blick gewährt. Zusammen mit dem Autor erwarten wir das Erscheinen der vermeintlichen Lichtgestalt, die sich als älterer Herr in einem schlichten Anzug offenbart.31 William Butler Yeats kann in „Verlaine in 1894“ mit einer sehr viel intimeren Begegnung mit dem Dichter aufwarten, den er in seiner Pariser Wohnung auf einen K ­ affee trifft.32 Auch hier geht es nicht etwa um konkrete Verweise auf das Werk des Poeten oder d ­ essen Vorbildhaftigkeit. Es scheint vielmehr die unbestimmte Aura der frühen Dekadenz zu sein, die Verlaine für die jungen Engländer von der französischen Spätromantik in ihr Zeitalter zu retten vermag. „One felt always that he was a great temperament, the servant of a great daimon, and fancied, as one listened to his vehement sentences that his temperament, his daimon, had been made uncontrollable that he might live the life needful for its perfect expression in art, and yet escape the bonfire.“ 33

Paul Verlaine antwortet schließlich selbst mit seinem abermals von Symons übersetzten Essay „My Visit to London”.34 Es handelt sich dabei um einen Reisebericht mit i­ ntegrierter

28 Vgl. William Rothenstein: „The Flying Ass“, Januar 1896, Rasterdruck von einer Radierung auf Papier, Maße unbekannt. 29 Siehe hierzu z. B.: Stackelberg, 2009. 30 Vgl. Nordau, 1892, S. 189 – 201. 31 Vgl. Gosse, Edmund: A First Sight of Verlaine. In: The Savoy 2, April 1896, S. 113 – 116. 32 Vgl. Yeats, W. B.: Verlaine in 1894. In: ebd., S. 117 – 118. 33 Ebd., S. 118. 34 Vgl. Verlaine, Paul: My Visit to London. In: ebd., S. 119 – 135.

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Vorlesung, die Verlaine im November 1893 in London und Oxford hielt. Nach einigen Eindrücken seiner Reise, Londons und seiner Gastgeber (wie Symons oder Gosse) zitiert Verlaine sein Vorlesungsskript über zeitgenössische französische Lyrik. In d ­ iesem geht er alsbald hauptsächlich auf seinen eigenen Werdegang als Dichter ein, der in interessanten Details eine Entwicklung nachzeichnet, die auch für die Beteiligten des Savoy von Bedeutung sein dürfte. So schreibt er etwa über seine Fêtes galantes: „… the verses (costumed after the personages of the Italian comedy and the fancy pieces by Watteau) contained in the little volume, not badly received from the first, the ‚Fêtes Galantes.‘ It is not difficult to find among these some piquant notes of velvety sharpness and of sly malice.“ 35

In den „piquant notes of velvety sharpness“ deutet sich die Ironie an, mit der Verlaine die „décadence délicieuse“ begreift. Gleichwohl wird der Gedichtband aus Sicht des Autors gut von der Kritik aufgenommen, was eine gewisse Rechtfertigung des Rückgriffs auf das 18. Jahrhundert und insbesondere auf Watteau auch vor einer konservativen Leserschaft mit sich bringt. Die parodistischen Elemente werden jedoch weder bei Verlaine noch bei den englischen decadents wirklich von den zeitgenössischen Lesern wahrgenommen.36 Dies führt wiederholt zu Missverständnissen, die bis in die jüngere Dekadenzauffassung nachwirken. Ab der vierten Ausgabe des Savoy im August 1896 kündigen seine Herausgeber an, das Magazin von nun an monatlich erscheinen zu lassen. Vorab sei bemerkt, dass es sich dabei sicherlich um eine der Fehlentscheidungen handelt, die zum frühen Ende des Savoy im Dezember desselben Jahres führen sollen. Laut Symons ist die inhaltliche und ästhetische Aufmachung des Magazins zu kostspielig im Verhältnis zum verlangten Preis.37 Auch Beardsleys sich rapide verschlechternder Gesundheitszustand erschwert eine kontinuierliche künstlerische Qualität des Magazins, sodass bereits fertiggestellte Zeichnungen des Künstlers oder andere Bildquellen genutzt werden müssen. Dazu gehört unter anderem eine dreiteilige Studie von Yeats über William Blakes Illustrationen von Dantes Göttlicher Komödie.38 Nichtsdestotrotz treten auch in den letzten Ausgaben des Savoy mehrere Beiträge aus dem Umfeld der Rokoko-­Rezeption auf, die einer Bemerkung würdig sind. Ähnlich wie die Besuche bei Verlaine präsentiert auch Symons im September 1896 seine sogenannte „Literary Causerie“ über Edmond de Goncourt, der gerade erst zwei Monate zuvor verstorben ist.39 Er beschreibt mit erstaunlich treffenden Worten die Persönlichkeit des 35 Ebd., S. 127. 36 Vgl. Desmarais, Jane; Baldick, Chris: Parodies and Pastiches. In: Dies. (Hg.): Decadence. An Annotated Anthology. Manchester, New York 2012, S. 289 – 292, hier S. 292. 37 Vgl. Nelson, 2000, S. 78. 38 Vgl. Weintraub, 1966, S. XXXV. 39 Vgl. Symons, Arthur: A Literary Causerie on Edmond de Goncourt. In: The Savoy 5, September 1896, S. 85 – 87.

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Gelehrten, Sammlers und Autors, wie sie sich bis heute rekonstruieren lässt, anhand eines Besuches, den Symons ihm im Mai 1892 in seinem Haus in Auteuil abstattet. Die bereits angesprochene „tendresse presque humaine pour les choses“ 40 bemerkt auch Symons gleich zu Beginn seiner Ausführungen: „I noticed the delicacy of his hands, and the tenderness with which he handled his treasures, touching them as if he loved them.“ 41

Neben der Bewunderung für die hochkarätige Sammlung der Brüder äußert sich Symons in seiner ­kurzen Impression vor allem über die Sprache, ­welche die Goncourts den ­Dingen zu geben im Stande waren. „It is a new way of seeing, literally a new way of seeing, which they have invented; and it is in the invention of this that they have invented that ‚new language‘ of which purists have so long, so vainly, and so thanklessly, complained.“ 42

Symons beschreibt damit nicht nur die Tragweite der écriture artiste und wie sie das zeitgenössische Sehen selbst beeinflussen kann, sondern versetzt die Kritik an dieser sehenden, bildlichen Sprache in die eigene Gegenwart. Als Vorreiter einer ekphrastischen, sinnlichen und somit dekadenten Sprache, wie sie sich auch häufig in Beardsleys Werk wiedererkennen lässt, werden die Goncourts posthum mit den englischen decadents solidarisiert. Wenn Nordau beispielsweise den Naturalismus der Goncourts als „krankhaft“ bezeichnet 43 und die Vermischung von Zeichensystemen (von denen der Sprache und der Musik bzw. des Bildes und der Sprache) im Symbolismus als „Beweis krankhafter und geschwächter Hirntätigkeit“ begreift,44 stellt er damit gleichsam eine bis heute gültige Traditionslinie der ‚Dekadenz‘ im 19. Jahrhundert auf. Indem Symons also auf die harsche Kritik an den arrivierten Persönlichkeiten der Goncourts aufmerksam macht, stellt er die Kritik an den Künstlern und Autoren seiner Generation ebenso in diese Tradition; eine Tradition quali­ tativ hochwertigster Werke, die trotz oder gerade wegen Kritik entstehen. In die libertinen ‚Abgründe‘ des 18. Jahrhunderts führen schließlich einige Beiträge der letzten beiden Ausgaben des Savoy. Gleich mehrere Konzepte der Libertinage fügen sich nicht grundlos bestens in das Künstlerbild des späten 19. Jahrhunderts. Sowohl in England als auch in Frankreich haben libertine Topoi eine lange Tradition, die aus dem 17. Jahrhundert kommend im 18. zu je unterschiedlichen Ausprägungen gelangt.45 Gemeinsam ist jedoch dem englischen rake sowie dem französischen libertin eine dezidierte Abkehr von 40 41 42 43 44 45

Goncourt, 1881, S. 3. Symons, 1896, S. 85. Ebd., S. 86. Vgl. Nordau, 1892, S. 222. Ebd., S. 221. Vgl. Ashe, 2005 (1974), S. 92.

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herrschenden Moralvorstellungen: „social subversion, religious disassociation, expansive individualism, and a passionate need for originality and control of image and other“,46 wie Tiffany Potter es zusammenfasst. Auf mehreren Ebenen ist sowohl der reale Libertin, der in den englischen Hell-­Fire Clubs des 18. Jahrhunderts auftritt, als auch der literarische Libertin dem Dandy des 19. Jahrhunderts ähnlich. Er kultiviert Individualismus, lehnt sich gegen eine vermeintlich aufgeklärte Prüderie auf oder untergräbt Geschlechterdiffe­ renzen.47 Die scheinbar auf sexuelle Subversion beschränkte Wirkmacht des Libertins steht indes im größeren Kontext der Kritik an politischen Normen. Laut Allison Pease wendet sich der Libertin mittels der materiellen ‚Wahrheit‘ des Sex gegen die heuchlerischen Wahrheiten von ­Kirche und Staatsmoral.48 Insbesondere die antireligiösen Einstellungen, resultierend aus den Erkenntnissen der Aufklärung, zeichnen den englischen ­ elchen Geoffrey Ashe folgendermaßen charakterisiert: Libertin der Hell-­Fire Clubs aus, w „He is socially a gentleman, and a womaniser […]. Comfortably off, fairly cultured, fairly well-­ read, he has absorbed a trendy optimism, and believes that Nature is on his side and he can do pretty much as he pleases. He dislikes the smug, philistine, corrupt Whig Establishment, and in that spirit may favour ill-­defined schemes of opposition, even parlour ­Jacobitism. In that spirit also he is willing and even eager to shock. He flirts with blasphemy and magic. Yet he may still be glad to see the conventions upheld […] so that he can have pleasure in flouting them.“ 49

Die Ambiguität innerhalb der Figur, die der starren Konventionen bedarf, um sie wiederholt und mit großem Effekt zu durchbrechen, ist durchaus vergleichbar mit der Positionierung des dekadenten Dandys zur zeitgenössischen, bürgerlichen Gesellschaft. In Frankreich indes findet die Libertinage ihr Vehikel in der Literatur, worin sie sich im Laufe des Jahrhunderts von einem bloßen aristokratischen Genuss „zum offenen Hedonismus und zum Konflikt mit den Bastionen der Moral (Kirche und Staat)“ entwickelt.50 In der Folge dieser Arbeit wird noch nachzuzeichnen sein, wie diese Entwicklung vom galanten zum libertinen Roman vonstattengeht und in den englischen 1890ern rezipiert wird (Kap. 7). Die Libertinage unterscheidet sich indes in ihrer Drastik doch von der hedonistischen Pose des dekadenten Künstlers oder Autors, der wie Wilde verspricht: „I represent to you all the sins you have never had the courage to commit.“ 51 Zudem stehen die Abkehr und die harsche Kritik des Libertins an der Religion im Kontrast zum Mystizismus des fin de

46 Potter, Tiffany: Honest Sins. Georgian Libertinism and the Plays and Novels of Henry Fielding. Québec, London 1999, S. 5. 47 Vgl. ebd., S. 21. 48 Vgl. Pease, Allison: Modernism, Mass Culture, and the Aesthetics of Obscenity. Cambridge 2000, S. 5. 49 Ashe, 2005 (1974), S. 94. 50 Wagner, 1986, S. 23. 51 Wilde, Oscar: The Picture of Dorian Gray and Other Writings. New York 2005, S. 86.

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siècle. Nichtsdestotrotz gelingt es den Herausgebern des Savoy, den Libertin erneut für die Einbettung in ihre Rehabilitationsmechanismen der englischen Dekadenz einzusetzen. Havelock Ellis (1859 – 1939), der vor allem für seine Beiträge zur Sexualforschung bekannt ist, veröffentlicht im November 1896 einen Essay über den berühmten Abenteurer und Frauenhelden Giacomo Casanova (1725 – 1798) im Savoy.52 Als Sozial- und Sexualforscher interessiert sich Ellis hauptsächlich für den Quellenwert von Casanovas Memoiren, den er zum einen an ihrem psychologischen Ausdruck eines menschlichen Typus, zum anderen an dem exemplarischen Bild des Jahrhunderts bemisst, das die Lebenserinnerungen zeichnen.53 Zudem wird Ellis nicht müde, Casanovas Image als dekadenter Libertin zu unterwandern. Immer wieder betont er die sinnliche Natürlichkeit des Liebesabenteurers im Gegensatz zu einer offenbar unterstellten Morbidität und Perversität.54 „That he was a radically abnormal person is fairly clear. Not that he was morbid either in body or mind. On the contrary, he was a man of fine presence, of abounding health […]. Whatever offences against social codes he may have committed, Casanova can scarcely be said to have sinned against natural laws. He was only abnormal because so natural a person within the gates of civilization is necessarily abnormal and at war with his environment. Far from being the victim of morbidities and perversities, Casanova presents to us the natural man in excelsis.“ 55

Hier wird eine schillernde Figur des 18. Jahrhunderts zum Substitut für den dominierenden Künstlertypus der englischen 1890er. Obwohl Ellis keinerlei direkten Bezug zu seinen eigenen Zeitgenossen herstellt, ist die Platzierung eines solchen Aufsatzes im Savoy wohl kalkuliert. Ähnlich wie Casanova werden die Dandies des Decadent Movement als degenerierte, kränkliche Produkte einer zugrunde gehenden Moral aufgefasst. So schreibt Hugh Shutfield im Juni 1895 in einem flammenden Artikel gegen ­dieses ‚kränkliche‘ Phänomen an, das seine instabile Physis einem wohl infektiösem kontinentalen Einfluss verdanke: „That there is a moral cancer in our midst is not to be denied, and that it has roots deep down in morbid hysteria seems equally clear. That such morbidity is directly fed and fostered by the ‚new‘ literature – themselves symptoms of the disease – is a (to me) self-­evident proposition. So far our fiction is only ‚gamy‘: let us see to it that we do not acquire a taste for the carrion of the French literary vulture.“ 56

52 Vgl. Ellis, Havelock: Casanova. In: The Savoy 7, November 1896, S. 41 – 51. 53 Vgl. ebd., S. 41 f. 54 Die Unterstellung, gegen die Ellis hier argumentiert, konnte bisher nicht in zeitgenössischen Publi­ kationen zu Casanova verifiziert werden. Um 1900 erscheinen lediglich unterschiedliche Übersetzungen der Memoiren oder deutschsprachige Biografien (diese allerdings erst nach Ellis Aufsatz). 55 Ellis, 1896, S. 45. 56 Shutfield, Hugh E. M.: Tommyrotics. In: Blackwood’s Magazine CLVII, Juni 1895, S. 833 – 845, hier S. 843.

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Abb. 10 Aubrey Beardsley: „Les Liaisons Dangereuses“, 3. – 7. Oktober 1896, Technik unbekannt (wahrscheinlich schwarze Tinte auf Papier), Maße unbekannt,Original zuletzt verzeichnet in Chaucer’s Head Catalogue April 1900, Verbleib unbekannt.

Ellis setzt einer solchen nordauschen Sicht am Beispiel Casanovas den Beweis für die Vitalität des eigenen Zeitalters entgegen. Casanova sei kein Libertin, sondern vielmehr die logische Folge der Aufklärung und nicht zuletzt des „Zurück zur Natur!“ Rousseaus. Das Abweichen von sozialen Normen zieht demnach nicht zwangsläufig ein Dasein als kaltherziger Schuft nach sich, wie er etwa in De Laclos’ Comte Valmont verkörpert wird. Das Spiel mit der Faszination für solch libertine Typen des 18. Jahrhunderts wird indes bei Beardsley weiter vorangetrieben. So werden in der letzten Ausgabe des Savoy, die er und Symons vollkommen mit eigenen Beiträgen bespielen – wie Kapitäne auf ihrem sinkenden Schiff 57 – drei Zeichnungen von solchen literarischen Figuren abgedruckt. Es handelt sich dabei um eine Szene aus Molières Don Juan (Abb. 23), das Portrait der Mrs. Pinchwife aus Wycherleys Countrywife (Abb. 48) und den eben erwähnten Comte ­Valmont aus De Laclos’ Liaisons dangereuses (Abb. 10). Die ersten beiden Bilder werden in folgenden

57 Vgl. Weintraub, 1966, S. XLI.

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Kapiteln dieser Arbeit näher besprochen (Kap. 6.1/6.3), weshalb ich mich nun letzterem zuwenden möchte. Beardsley präsentiert den Protagonisten des Briefromans im Kontext eines Titelblatts, was eindeutig auf den noch aktuellen Auftrag für die zukünftige Smithers-­Ausgabe verweist. Laut Reade ist hier in Dreiviertelfigur Valmont als Verführer Cécile Volanges’ aus Brief XCVI zu sehen.58 Er ist äußerst nachlässig gekleidet und scheint unter seinem perlenumsäumten Überwurf nackt zu sein. Den Kopf nach rechts gewandt blickt er aus dem Bild bzw. auf das Objekt seiner kühlen Begierde aus einem Auge an. Die dunklen Locken fallen ihm dabei über die Schultern. Die Hand, die rechts zu sehen ist, verrät in ihrer leicht verkrampften Angespanntheit die erotische Energie des Verführers. Es handelt sich hierbei um einen der wenigen virilen Typen in Beardsleys Œuvre, der lediglich in zwei bis drei weiteren Zeichnungen auftritt.59 Er zeichnet sich durch eine massige Leiblichkeit aus, die bei Valmont besonders in der bloßgelegten Schulterpartie sichtbar wird. Außerdem bedient sich der Künstler dabei möglicherweise an zeitgenössischen Erkenntnissen aus der Kriminalanthropologie, wie sie von Cesare Lombroso (1835 – 1909)60 – dem Nordau im Übrigen sein Buch widmet – entwickelt wird. Die ausgeprägte Stirnpartie sowie die Verbindung von Nase und Stirn verweisen in dieser Analyse der physiognomischen Proportionen auf eine geringe Intelligenz und kriminelles Potenzial.61 Dennoch möchte ich allein aufgrund dieser Tatsache Linda Gertner Zatlin nicht zustimmen, wenn sie schreibt: „Beardsley expresses disgust with the character“.62 Ich halte es für zu eindimensional, dem Künstler eine solch zweifelsfreie Positionierung zu seinem Gegenstand zu unterstellen. Obwohl ich den Verweis auf die viktorianische Psycho-­ Physiognomik in ­diesem Zusammenhang als überaus fruchtbar erachte, tritt Valmont im Savoy als einer von drei literarisch-­libertinen Charakteren des 17./18. Jahrhunderts auf und ist so Teil der auch literarischen Argumentationskette des Magazins. Während Casanova, der vermeintlich perverse Libertin, jedoch durch Ellis rehabilitiert wird, tritt Valmont als die wahre Entsprechung d ­ ieses Charakters auf. Er ist der perverse Aristokrat, der seinen Trieben folgt und mit seinen Intrigen und der Beeinflussung Unschuldiger das Gegenbild einer bürgerlichen Moral darstellt. In ihm inkarniert sich bei Beardsley die Dekadenz des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Damit zeichnet der Künstler zugleich eine historisierte Parodie auf die zeitgenössische Dekadenzkritik, mit der er und seine Mitstreiter stetig konfrontiert sind. In dem imponierenden Portrait des Libertins zeigt Beardsley zugleich die Wahlverwandtschaft der englischen decadents mit ­diesem Typus, der die Sinnlichkeit intellektualisiert, aber auch die Diskrepanzen zum Lüstling, dessen Genusssucht sich in seiner Erscheinung niederschlägt. Hinzu kommt, dass Beardsley im Gegensatz zu Ellis eine fiktive Person portraitiert und somit die allgemeine Fiktion hinter dem gefürchteten Libertin offenlegt. 58 Vgl. Reade, 1966, S. 359. 59 Siehe hierzu: „The Impatient Adulterer“ (1896) und „Juvenal Scourging a Woman“ (1896). 60 Vgl. Lombroso, Cesare: L’uomo delinquente. In rapporto all’antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie, Turin 1876. 61 Vgl. Fletcher, 1987, S. 177. 62 Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 302.

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Zudem könnte Beardsleys Kenntnis eines fragmentarischen Essays von Baudelaire über De Laclos’ Liaisons weiteren Anstoß zu dieser Zeichnung geben. In seinen „Notes sur Les Liaisons dangereuses“ (1866) beschäftigt sich Charles Baudelaire insbesondere mit der Figur des Comte Valmont. Tina Maria Dyer hat sich ­diesem Aufsatz zuletzt im Zuge ihrer Dissertation zu neolibertinen Texten des 19. Jahrhunderts gewidmet.63 Darin vollzieht sie erstmals eine literarische Strömung nach, ­welche im 19. Jahrhundert die Topoi der Libertinage des 17. und 18. Jahrhunderts für sich vereinnahmt. Dyer begründet ­dieses Phänomen mit dem didaktischen Streben der von ihr betrachteten Autoren (Byron, Baudelaire, Swinburne und sogar Beardsley) nach einer zeitgemäßen Neuorientierung der vermeintlich überkommenen, konservativen Moralität ihrer Epoche.64 Die Verführungskraft der libertinen Quellen, wie Don Juan, Valmont, oder Tannhäuser, werde dabei als rhetorisches Mittel zum Zwecke der Überzeugung des Lesers genutzt.65 Auch wenn diese These nicht für alle Beispiele gleichermaßen überzeugt, möchte ich Dyers Interpretation von Baudelaires Essay dennoch als weiteres Angebot anführen, die Vielschichtigkeit von Beardsleys Zeichnung offenzulegen. „Baudelaire seems to present eighteenth-­century sensuality as a heal-­thier approach to vice than nineteenth-­century emotionalism precisely because it is predicated on seduction and the analytical capabilities required to make seduction work, and then fleshes out the bare bones of the Laclos protagonist to make Valmont the archetype of the successful student of the self.“ 66

Indem Valmont bei Baudelaire also als ein Charakter beschrieben wird, der durch Selbsterkenntnis zum möglichen Ziel der Selbstverbesserung gelangen könnte (obwohl er bekannter­maßen ­diesem hehren Ziel durch den eigenen Tod entgeht), ist die libertine Figur somit ebenfalls in einem revidierten Verständnis des 19. Jahrhunderts zu erkennen. Ob in Beardsleys Portrait Valmonts ähnliche Gedanken Eingang finden, bleibt indes schwer zu beurteilen. Es scheint eine wenig schmeichelhafte Darstellung des literarischen Charakters zu dominieren und doch könnte der eindringliche Blick des Verführers auf eine Lesart Baudelaires zurückzuführen sein, in der sich Valmont auch bei Beardsley im Spiegel der Selbsterkenntnis erforscht. Eine s­olche Ambivalenz im Umgang mit den historischen Vorbildern oder Unter-­ suchungsgegenständen entgeht der zeitgenössischen Kritik jedoch zumeist und der ­Verweis auf das 18. Jahrhundert ist bestenfalls eine lang erwartete Verbesserung im dekadenten Motivkanon und schlimmstenfalls eine weitere Bestätigung der vermeintlichen Perversion 63 Vgl. Dyer, Tina Maria: Twice Born Gods. The Reinvented Libertine in the Nineteenth Century. Phil. Diss. University of Utah 2015. http://cdmbuntu.lib.utah.edu/utils/getfile/collection/etd3/ id/3747/filename/3765.pdf (01. 03. 2019). 64 Vgl. ebd., S. 4. 65 Vgl. ebd., S. 35. 66 Ebd., S. 87.

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einer selbsternannten geistigen Aristokratie. Die Selbstreflexivität in ­diesem Rezeptionsakt wird indes nicht bemerkt. Vielmehr verorten Magazine wie Punch den dekadenten Künstlertypus in der Welt des Morbiden, des Anrüchigen, des unverständlichen Paradoxons und – am meisten gefürchtet – in einer unenglischen, wenn nicht gar französischen Ästhetik.67 Dieses Missverständnis des spätdekadenten Künstlertypus, welches sowohl von ­diesem Typus selbst vorangetrieben als auch vom Publikum dankbar als eindeutige Leserichtung angenommen wird, wirkt auch noch in der Forschungsliteratur der 1960er Jahre nach. In seinem Aufsatz „Innocent Decadence“ (1962) postuliert Wendell Harris seine Enttäuschung über die geringe dekadente Qualität der im Savoy abgedruckten Gedichte. „It is possible to find melancholy, disillusion, and despair running through almost all of the seventeen poems they contributed, but one finds little of that morbid imagination, or that thirst for sensation for its own sake, or that jaundiced cynicism, which are so often imputed to decadent art.“ 68

Harris begründet diesen Mangel an dekadenten Topoi mit der katholisch mystizistischen Ausrichtung des Magazins durch Persönlichkeiten wie Symons oder Yeats.69 Auch in der zeitgenössischen Kritik, über die Weintraub informiert, zeigt sich ein überraschend wohlwollender Blick auf die Publikation und nicht zuletzt auf Beardsleys Zeichnungen, über deren hohe Qualität nie gekannte Einigkeit herrscht.70 So schreibt Margaret ­Armour beispielsweise im Magazine of Art über Beardsleys aktuelle Zeichnungen: „… of late, in The Savoy and Rape of the Lock, we have joyfully hailed an improvement.“ 71 Selbst die S­ unday Times gesteht ein, es handle sich beim Savoy nicht um einen direkten Nachfolger des Y ­ ellow Book, sondern um ein „‚Yellow Book‘ redeemed of its puerilities“.72 Auch in der späteren Beardsley-­Forschung unterläuft mehreren Autoren der Fehler, ihre Erwartung auf eine stereotype, morbide Dekadenz zur Gänze auf die Publikationen des Künstlers und seines Umkreises zu übertragen. Enttäuschung stellt sich ein, wenn statt der diabolischen femme fatale puppengesichtige Mätressen Ludwigs XV. auftreten und wenn Katholizismus an die Stelle von Diabolismus tritt. Vor allem ersteres gilt es, in der Folge dieser Arbeit zu untersuchen. Die Rezeption des 18. Jahrhunderts, die hier am Beispiel des Savoy gezeigt wurde, ist keineswegs ein bildungsbürgerlich gefälliger Bruch mit den vermeintlichen Idealen der Dekadenz. Sie ist vielmehr ein Ausdruck verstärkter Selbstreflexivität innerhalb einer künstlerischen Bewegung, die sich einer historischen Zäsur gegenüber sieht.

67 Vgl. Desmarais; Baldick, 2012, S. 291 f. 68 Harris, Wendell: Innocent Decadence. The Poetry of the Savoy. In: PMLA 5, 1962, S. 629 – 636, hier S. 632. 69 Vgl. ebd., S. 630. 70 Vgl. Weintraub, 1966, S. XLII. 71 Armour, 1896/97, S. 10. 72 Weintraub, 1966, S. XXIV.

5 Schmückende Bilder – Text-Bild-Relationen in The Rape of the Lock (1714/1896) Die ältere Beardsley-­Forschung wirft zuweilen einen enttäuschten Blick in die ästhetisch vom 18. Jahrhundert beeinflussten Werke des Künstlers. Ian Fletcher vermisst noch 1987 insbesondere das dialektische Genie des Illustrators in seiner Auseinandersetzung mit ­Alexander Popes Gedicht The Rape of the Lock.1 Fletchers Monografie ist Teil der eingangs skizzierten modernistischen Lesart Beardsleys, wie sie sich seit der Retrospektive von 1966 etabliert. In diese lassen sich allerdings lediglich Topoi der Revolte oder des Exzesses einpassen. Beardsley wird somit nur zu oft zum Schöpfer düsterer Halluzinationen und sexueller Monstren stilisiert. In dieser Sichtweise spielt auch das Verhältnis von Text und Bild im illustrativen Œuvre eine elementare Rolle. Insbesondere die Zeichnungen zu Oscar Wildes Salome stellen für das Verständnis Beardsleys als enfant terrible der Buchkunst eine wichtige Basis dar. „Whatever Beardsley may have felt about Wilde’s Salome as literature […] he accepted it as a source of inspiration. It was the ideal pretext for exploiting his sense of evil.“ 2

Kenneth Clarks Aussage spiegelt zusammengefasst die Herangehensweise an Beardsleys Illustrationen seit 1966. Wildes Text als bloßen äußeren Anlass für die Produktion genialischer Bilder anzunehmen, befreit nicht zuletzt den Kunsthistoriker von der Aufgabe, Text und Illustration tatsächlich gemeinsam zu analysieren. Ich möchte an dieser Stelle keineswegs Beardsleys Illustrationen ihre Alleinstellungsqualität als autonome Kunstwerke absprechen. Vielmehr geht es mir um die teils bewusste inhaltliche Verzahnung von Wort und Bild in seinen Arbeiten, die in ­diesem Kapitel herausgestellt werden soll. Formalästhetisch spielt der Terminus „Bild“ für die Salome eine wesentliche Rolle, um die stets inhärente Konkurrenz von Text und Illustration vor den Rezipienten auszuhandeln. In der Titelkartusche der Salome-­Ausgabe von 1894 steht unter Autor und Titel nicht etwa „illustrated by Aubrey Beardsley“, sondern „pictured by Aubrey Beardsley“. Während „Illustration“ eine dienende Funktion suggeriert, evoziert „Bild“ eine ästhetische Unabhängigkeit. Die Bilder sollen demnach auch ohne den Text (als Erklärung) einen künstlerischen Eigenwert besitzen. Linda Gertner Zatlin führt weiterhin aus: „… the drawings usurp the pages on which they are printed while the text is surrounded by huge margins that make the words appear less important than the pictures.“ 3

1 Vgl. Fletcher, 1987, S. 162. 2 Clark, 1979, S. 22. 3 Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 10.

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Auch auf der Ebene der Buchgestaltung treten Bild und Text in einen medialen Dialog. Entgegen Gertner Zatlin würde ich allerdings argumentieren wollen, dass die flächenmäßige Beanspruchung von Textfeld und Bildfeld nicht die jeweilige Wichtigkeit ausdrücken, sondern vielmehr die Umkehrbarkeit beider Darstellungsmittel. Der Text wird zur grafischen Form, indem er an allen Seiten von leerer Blattfläche gerahmt ist und seine Form bildmäßig sichtbar wird. Die Illustration gerät gleichsam zu einem seitenfüllenden Blocksatz. Durch diese gestalterische Entscheidung, deren Urheber nicht mehr genau zu eruieren ist, werden malerische Qualitäten von Wildes Sprache und literarische bzw. kalli­ grafische Qualitäten von Beardsleys Linienkunst parallelisiert. Auch Stacee Lynn Highsmiths These vom parodistischen Charakter des Stücks in Text und Bild löst die Kluft ­zwischen den Medien in den Salome-­Illustrationen auf.4 Wilde und Beardsley haben dasselbe (selbst-)parodistische Anliegen und indem der Zeichner zusätzlich karikaturistische Elemente in seinen Beitrag aufnimmt, verstärkt er ­dieses umso mehr. Dennoch entspricht die Salome-­Kollaboration zweier Galionsfiguren der englischen Dekadenz bestens der bis heute vorherrschenden Vorstellung dieser Zeit. Die morbide, sadistische Thematik und Beardsleys plakative Schwarz-­Weiß-­Kontraste evozieren auf den ersten Blick ein subversives Potenzial, das der viktorianischen Ästhetik zuwiderläuft. Dies ist in Beardsleys späterer Schaffensphase nach der Entlassung beim Yellow Book nicht mehr so eindeutig auszumachen. Die ästhetische Orientierung am 18. Jahrhundert, die sich noch dazu teils direkt an Literatur dieser Epoche abarbeitet, scheint die ornamentale Subversion des jungen Künstlers abzuschwächen. Abseits dieser ständigen Suche nach Revolte in Beardsleys Schaffen soll jedoch zunächst das ästhetische Interessensspektrum des Zeichners skizziert werden. Neben einer frühen Begeisterung für Modi mittelalterlicher Buchkunst im Gefolge der Kelmscott Press und den japonistischen Einflüssen der Salome bzw. des Yellow Book zeichnet sich Beardsleys Selbstverständnis als Illustrator ab 1895/96 verstärkt durch die Orientierung an Vorbildern des Ancien Régime aus. Selten ist dabei eine so konkrete Gegenüberstellung zweier buchkünstlerischer Werke wie im Fall von Popes Rape of the Lock möglich. Daher wird im Folgenden ein Vergleich ­zwischen der illustrierten Erstausgabe des Gedichts von 1714 und Beardsleys Version von 1896 dazu dienen, die Auseinandersetzung des Zeichners mit der Geschichte der Illustration zu analysieren und neue Schwerpunkte herauszu­arbeiten. Grundlegend für diese Untersuchung ist nicht zuletzt Robert Halsbands Monografie über die Illustrationen zum Rape of the Lock von 1714 bis 1896.5 Zuvor sei jedoch ein Exkurs zum allgemeinen Stellenwert von Illustration und Buchkunst im 18. Jahrhundert erlaubt. Dabei möchte ich verstärkt eine mögliche Sicht aus der Warte des fin de siècle auf diese Epoche wiedergeben. Andrew Lang befasst sich 1886 in s­ einer essayistischen Studie Books and Bookmen eindringlich mit der Bibliophilie bzw. Biblio­ manie, die in unterschiedlichen Epochen verschiedene Ausprägungen erfuhr.6 ­Darunter 4 Vgl. Highsmith, 2011. 5 Vgl. Halsband, Robert: The Rape of the Lock and its Illustrations 1714 – 1896. Oxford 1980. 6 Vgl. Lang, Andrew: Books and Bookmen. London 1887.

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findet sich auch ein Kapitel zur Buchkunst des 18. Jahrhunderts, die die Faszination des späten 19. Jahrhunderts an dieser Blütezeit der Illustration treffend beschreibt: „The love of books for their own sake, for their paper, print, binding, and for their associations, as distinct from the love of literature, is a stronger and more universal passion in France than elsewhere in Europe. In England publishers are men of business; in France they aspire to be artists.“ 7

Eingereiht in ästhetizistische Topoi wird speziell das französische illustrierte Buch des 18. Jahrhunderts hier zum Kunstwerk erhoben, zugleich kritisiert der Autor den geschäftsmäßigen Umgang mit Büchern in England. Dies jedoch soll sich nur wenig später während der Yellow Nineties gründlich ändern. Langs Ausführungen kündigen somit die gewollte Verwandtschaft einer Blütezeit der Buchkunst mit der anderen an. Beardsley ist Teil d ­ ieses Aufschwungs der BuchKUNST in den englischen 1890ern und tritt somit nicht ohne Grund in den Dialog mit Vorbildern des 18. Jahrhunderts. Christina Ionescu weist in ihrer Einleitung zum Sammelband „Book Illustration in the Long Eighteenth Century“ (2011) darauf hin, dass erst jetzt eine eindringlichere Forschung zur Illustrationsgrafik des 18. Jahrhunderts einsetzt. Dies lasse sich vor allem durch die leichte Verfügbarkeit von digitalisierten Ausgaben im Internet begründen.8 Zusätzlich führte die Etablierung der Kultur- und Medienwissenschaften dazu, die Maßstäbe von Hochkunst und vermeintlich weniger anspruchsvoller Ware nicht bei der Wahl des wissen­ schaftlich zu ergründenden Gegenstandes anzuwenden.9 So lässt sich auch die Buchkunst des 18. Jahrhunderts, weder in Frankreich noch in England, einem dieser Bereiche eindeutig zuordnen. Es werden in dieser Epoche sowohl hochwertige und exklusive Editionen mit Illustrationen namhafter Künstler als auch billige Pamphlete mit pornografischen oder satirischen Bildern zu politischen Propagandazwecken herausgegeben.10 Die n ­ euere Forschung versucht nun, sich beiden Zweigen in gleicher Ernsthaftigkeit zu widmen. Die ältere Forschungsliteratur vermag es indes, die Bedeutung der Buchkunst im 18. Jahrhundert in allgemeinen Formulierungen zu reproduzieren. Dadurch kann wiederum die Perspektive des späten 19. Jahrhunderts auf diese Artefakte greifbar werden. So beschreibt Hans Sedlmayr in seinem Handbuch über das französische Rokoko, welches später mit Ergänzungen zu den anderen europäischen Zentren ­dieses Stils durch Herrmann Bauer erscheint, die Illustration als ästhetischen und medialen Befreiungsschlag des Rokoko.11 In 7 8

Ebd., S. 90. Vgl. Ionescu, Christina: Introduction. Towards a Reconfiguration of the Visual Periphery of the Text in the Eighteenth-­Century Illustrated Book. In: Dies. (Hg.): Book Illustration in the Long Eighteenth Century. Reconfiguring the Visual Periphery of the Text. Newcastle upon Tyne 2011, S. 1 – 50, hier S. 5. 9 Vgl. ebd., S. 39. 10 Vgl. Westfehling, Uwe: Rokoko und Revolution. Französische Druckgraphik des späten 18. Jahrhunderts. Köln 1987, S. 9. 11 Vgl. Bauer, Sedlmayr, 1992, S. 32 f.

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Abb. 11 Aubrey Beardsley: Schlussvignette für „The Three Musicians“, Oktober 1895, schwarze Tinte auf Papier, Maße unbekannt, Original zuletzt verzeichnet in Christie’s (London) Sale Catalogue 12. Januar 1900, Verbleib unbekannt.

der Druckgrafik manifestiere sich dessen allgemeine Petitesse, sodass Sedlmayr in Rekurs auf die Brüder Goncourt zu folgender Aussage gelangt: „Auch hier wird das Schwere, Ernste und Pompöse durch das Leichte, Heitere und Festliche verdrängt. Folio- und Quartformat weichen den zierlichen Kleinoktav- und D ­ uodezbänden. Die Brüder Goncourt haben das 18. Jahrhundert im Gegensatz zum vorangehenden ‚Jahrhundert des Frontispizes‘ das ‚Jahrhundert der Vignette‘ genannt.“ 12

Und tatsächlich lässt sich diese Beobachtung im Überblick nachvollziehen. Der intellektualistischen Programmatik des Frontispizes im Barock setzt das Rokoko einen spielerischeren Umgang mit der Illustration entgegen, die sowohl den Text imitierend, als auch interpretierend auftreten kann 13 oder als dekoratives Versatzstück agiert. Besonders letzteres, in Form der Vignette oder als cul de lampe, erfährt durch Beardsley wiederholt eine direkte Rezeption. Obwohl eher bekannt für seine streng gerahmten, seitenfüllenden K ­ ompositionen, bedient sich der Zeichner mehrfach des ungerahmten B ­ ildes 12 Ebd., S. 48. 13 Vgl. Ionescu, 2011, S. 37.

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Abb. 12 Joseph de Longueil nach Charles Eisen: Vignette in Claude Joseph Dorats „Les Baisers“, 1770, Kupferstich, Maße unbekannt.

als Abschluss eines Textes. So setzt er beispielsweise ans Ende seines Gedichtes The Three Musicians ein cul de lampe, welches stark an Vorbilder aus dem 18. Jahrhundert denken lässt (Abb. 11).14 Die Verquickung der inhaltlichen Motive des Gedichts von Liebe, Musik und Natur werden hierin in einer losen Dreieckskomposition zusammengefügt. Rodney Shewan hat bereits aufgrund ikonografischer Parallelen ein konkretes Vorbild vorgeschlagen: „Beardsley’s aesthetic allegiances at this period were firmly fixed in eighteenth-­century France, with its delicately erotic book prints. One of the most distinguished examples of this genre was Claude Joseph Dorat’s Les Baisers (1770) [Abb. 12], from which ­Beardsley may well have recalled a cul de lampe in which Father Time pursues Cupid with uplifted scythe.“ 15 14 Laut Owen Holloway dienen im 18. Jahrhundert kleine Putti häufig als belebende Figuren in Vignet­ ten und culs de lampe. Vgl. Holloway, 1969, S. 69. Beardsley greift diesen Typus hier in abgewandelter Form auf. 15 Shewan, Rodney: Love, Death, and Criticism: Three Culs-­de-­lampe. In: Langenfeld, Robert (Hg.): Reconsidering Aubrey Beardsley. Ann Arbor, Michigan 1989, S. 131 – 165, hier S. 146.

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Dieser Vergleich überzeugt allerdings lediglich auf der inhaltlichen Ebene: Vater Zeit bedroht die Liebe. Beardsley legt seinem cupidoartigen Schäfer eine überdimensionierte Sense in die Hand, die das Thema in synthetisierter Form aufruft. Eigentlich verweist die weit weniger strenge Komposition des Engländers jedoch auf eine andere Tradition der Vignetten und culs de lampe des Rokoko. „A complete fleuron-­like scene may also be presented with a little grass or rock or waterfall (this last, a favourite theme for the etcher), as a finish which will be both descriptive and decorative.“ 16

Der Siegeszug der Illustration fällt nicht nur mit dem erhöhten Konsum von Literatur während der Aufklärung, sondern ebenfalls mit der künstlerischen Verortung der Druckgrafik im 18. Jahrhundert zusammen. Zahlreiche technische Neuerungen sorgen zunächst für eine weitaus größere Varianz in der druckgrafischen Wiedergabe. „Dazu gehören die Crayonmanier, die sich dem porösen Auftrag der Kreide anzunähern suchte, die Aquatinta, die den flüssigen Duktus des Pinsels nachahmte, das Mezzotinto, welcher das Sfumato der Kohle traf, und zuletzt die Farbdrucktechnik, die sich mit der Malerei messen wollte.“ 17

Im Laufe des Jahrhunderts werden diese Techniken immer wieder vermischt. Unter den französischen Autoren etabliert sich daher beispielsweise die Ansicht, „dass die der Komposition zuträglichen Linien zu stechen, während die internen Strukturen zu radieren wären.“ 18 Neben den ‚malerischen‘ Techniken nehmen Kupferstich und Radierung nach wie vor den höchsten Rang ein und werden sogar untereinander den verschiedenen Genres zugeordnet: „Stand der Kupferstich für das Grand Genre, mithin für klassische, moralisch einwandfreie, professionelle und akademische Qualitäten, so vertrat die Radierung das Petit Genre und berührte malerische, thematisch weniger bedeutende und vorwiegend sensuell ansprechende Seiten.“ 19

Diese Hierarchisierung wird indes durch das wachsende Interesse am Petit Genre in der Jahrhundertmitte weitestgehend aufgelöst. Schon seit der Etablierung der Druckgrafik als eigenständiger Bereich der Académie Royale de Peinture et de Sculpture 1655 können sich aufgenommene Stecher als Künstler 16 Holloway, 1969, S. 71. 17 Gramaccini, Norberto: ­Theorie der französischen Druckgraphik im 18. Jahrhundert. Eine Quellenanthologie. Bern 1997, S. 17. 18 Ebd., S. 58. 19 Ebd., S. 57.

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im Sinne der akademischen Institution verstehen. Der Diskurs verlagert sich daher eher auf die Abgrenzung und Einordnung der Druckgrafik zu den anderen Künsten.20 Dies gelingt zunächst nur halbherzig, wenn versucht wird, die inventio der Malerei auf die des Illustrators oder gar des Reproduktionsstechers zu übertragen. Schließlich ist es laut Gramaccini und Meier den Rubenisten Roger de Piles, der mit seiner ästhetischen Neubewertung von Kunst um ihrer sensuellen und materiellen Qualitäten willen der Druckgrafik den Weg zum Gegenstand künstlerischer Kontemplation ebnet. „… es war vornehmlich Roger de Piles gewesen, der eine theoretische Rechtfertigung dafür lieferte, die pratique, das Manuelle als solches, gegenüber der grandeur des pensées oder connoissances sprituelles aufzuwerten, und anstelle einer intellektuellen lecture wie sie Poussin und André Félibien forderten, die optische Wahrnehmung à coup d’œil zu kultivieren.“ 21

Wenn Kunst um ihrer selbst, ihrer Ausführung Willen und nicht aufgrund eines zugrunde­ liegenden Konzeptes oder Gedankenkonstrukts bewertet und betrachtet wird, offenbart sich darin eine grundlegende Gemeinsamkeit von Rokoko und Ästhetizismus. Die Druckgrafik reiht sich in diesen sinnlichen Genuss von kleinen Gesamtkunstwerken sowohl im französischen 18. Jahrhundert als auch in den englischen 1890ern ein und rechtfertigt so ihre neuerlich erhöhte Position im Kanon der Künste. Dies äußert sich nicht zuletzt in der Beschäftigung berühmter Künstler des 18. Jahrhunderts mit dem grafischen Medium. So genießt Watteau nicht nur aufgrund seiner fêtes galantes im Gemälde, sondern auch als Zeichner und Radierer den Ruf eines wahrhaftigen Könners, sowohl unter den Zeitgenossen als auch im 19. Jahrhundert.22 Die Umsetzung seines zeichnerischen Werks in die Druckgrafik betont die Wertschätzung der spontanen Linienkunst Watteaus.23 Auch Boucher tut sich als Illustrator hervor, wenn er 1734 die Werke Molières bebildert.24 Neben namhaften Malern sorgt die akademische Position der Stecher dafür, dass auch andere Persönlichkeiten in ­diesem Bereich reüssieren, wobei einige von ihnen die Tätigkeit von Zeichner und Graveur sogar vereinen. Publikationen mit Werken von Künstlern wie Saint Aubin, Eisen, Gravelot und anderen werden zum Sammelgegenstand ebenso wie Handzeichnungen und gedruckte Einzelblätter; dies insbesondere in der bürgerlichen Mittelschicht, die ab der Jahrhundertmitte verstärkt sucht, „adelige Repräsentationsformen teils zu imitieren, teils durch neue Bildungskompetenzen wettzumachen.“ 25 Diese neue Sammelmode für (druck-)grafische Erzeugnisse zusammen

20 Vgl. ebd., S. 99. 21 Gramaccini, Norberto; Meier, Hans Jakob: Die Kunst der Interpretation. Französische Reproduk-­ tionsgraphik 1648 – 1792. München, Berlin 2003. S. 55. 22 Vgl. Westfehling, 1987, S. 18. 23 Vgl. Weinreich, Renate: Leselust und Augenweide. Illustrierte Bücher des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland. Berlin 1978, S. 11. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Rebel, Ernst: Druckgraphik. Geschichte und Fachbegriffe. Stuttgart 2009, S. 89.

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mit den schon genannten Faktoren führt außerdem zu einem intensiven kulturellen Austausch, speziell z­ wischen Frankreich und England. Robert Simon weist darauf hin, dass es in den 1720er und 30er Jahren die seltene Situation eines Friedens ­zwischen den beiden Nationen gibt, was Künstlerreisen und gemeinsame Publikationsprojekte ermöglicht.26 Peter Wagner beschreibt weiterhin den konkreten künstlerischen Austausch, den vor allem die Aufenthalte französischer Zeichner und Grafiker in England hervorrufen. „Hubert-­François Gravelot kam 1732 nach England und blieb bis 1749 im Land. Aus Frankreich brachte er die Mode des elegant illustrierten Buches mit und vermittelte Hogarth und Gainsborough einen Eindruck vom malerischen Geist Claude Gillots und Antoine Watteaus.“ 27

In Frankreich, wie auch in England entwickeln sich eigenständige Spielarten der druckgrafischen Aufgabengebiete. Während sich die französischen Stecher eher der Buchillustration widmen, erlangt die englische Druckgrafik während des 18. Jahrhunderts ihre größten Erfolge im Bereich der Bildsatire und der Karikatur. Allgemein ist der Druckgrafik indes die kosmopolitische Dimension nicht abzusprechen, weshalb wohl auch die Protagonisten der englischen 1890er der Buchkunst einen so hohen Stellenwert beimessen. Als Medium, das der Gebrauchskunst immer noch nahesteht, wird die Druckgrafik im Verlauf des 18. Jahrhunderts jedoch auch für subversive Botschaften genutzt. So ergibt sich nach der Blütezeit der eleganten und exklusiven Büchlein des Rokoko ein neuer und zugleich andersartiger Höhepunkt druckgrafischer Produktion im Zuge der französischen Revolution. Diese verbindet die hochwertige Buchkunst laut Andrew Lang sogar mit der Aristokratie schlechthin und hält sie für ‚den schlimmsten Feind des Lesers‘.28 Es bricht die Zeit des Flugblattes, der Karikaturen und des libertinen Romans an (Kap. 7). Das 18. Jahrhundert als Blütezeit der Illustration, Buchkunst und Druckgrafik stellt insofern eine wichtige Quelle für Aubrey Beardsley dar, als der Künstler sich in eine Tradition einordnen kann, ­welche der Illustration, sowohl technisch als auch ästhetisch erstmals einen hohen Eigenwert zugesteht. Dabei thematisiert Beardsley, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, die instabile Position seines Mediums z­ wischen Exklusivität und Vulgarität bewusst und setzt sich damit produktiv vom historischen Vorbild ab, welches diese Polarität kaum reflektiert oder gar aufgreift. Für das 19. Jahrhundert und speziell dessen englische Illustratoren ist zunächst ein weit größeres Forschungsspektrum zu finden, als dies für das vorangehende Jahrhundert der Fall gewesen ist. Auch wenn sich die Buchkünstler des Viktorianischen Zeitalters laut Michaela Braesel zumeist „über die inhaltliche Funktion der Illustration, ihr Verhältnis

26 Vgl. Simon, 2007, S. 13. 27 Wagner, 1986, S. 141. 28 Vgl. Lang, 1887, S. 103.

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zum Text“ 29 ausschweigen und Rodney Shewan nicht erwartet, eine kohärente Th ­ eorie zur Illustration dieser Jahre zu finden,30 wird die Funktionalisierung der Buchgestaltung im Zuge sozialer Reformierungsideen dennoch deutlich. Ohne hier eine Geschichte der englischen Buchkunst dieser Epoche wiedergeben zu können, möchte ich auf einige Polaritäten hinweisen. Die Publikationen von Gerard Curtis und Lorraine Janzen Kooistra formulieren wichtige theoretische Ansätze für die Interaktion von Text und Bild im englischen 19. Jahrhundert. „In the Victorian period, ‚the line‘, whether drawn or written, constituted a point of meeting for visual and textual systems.“ 31

Beide Autoren begreifen zudem die viktorianische Begeisterung für Bücher und andere gedruckte Erzeugnisse als Ausgangspunkt ihrer Studien. „Illustrated texts dominate the Victorian cultural scene. From gift book and keep-­sakes to magazines and newspapers […], illustrated material of all kinds was produced for an eager public.“ 32

Gerry Beegan macht in seiner Studie über das fotomechanisch reproduzierte Bild als Massenware im viktorianischen London darauf aufmerksam, dass Druckgrafik sogar zum Anziehungspunkt von Menschengruppen in den Straßen geworden ist.33 So sind nicht nur Plakate Teil der öffentlichen Rezeption von Medien im 19. Jahrhundert, sondern auch die Bilder in Zeitschriften, illustrierten Journalen oder Büchern. Das Londoner West End als Zentrum des druckgrafischen Handels wird zu einer zeitgenössischen Entsprechung von Beardsleys Idee eines modernen Kunstverständnisses, wie er sie 1894 in „The Art of Hoarding“ formuliert (Kap. 3).34 Für den jungen Künstler ist die Grafik im öffentlichen Raum eine genuin zeitgemäße Kunstform. Dennoch wendet sich Beardsley verstärkt exklusiveren Publikationen, wie monatlich erscheinenden Magazinen und Buchillustrationen zu, und entspricht damit nur bedingt seinem polemisch formulierten Kunstideal, das wohl eher dem Zweck dient, Position gegen eine bürgerliche Salonästhetik zu beziehen. Vor allem für das viktorianische Buch von der Mitte des Jahrhunderts bis zu den 1890er Jahren legen Curtis und Janzen Kooistra Parameter fest, die verdeutlichen sollen, wie sich 29 Braesel, Michaela: Ausst.-Kat.: Englische Buchkunst um 1900. Hamburg, Museum Kunst und Gewerbe, 1994, S. 108. 30 Vgl. Shewan, 1989, S. 133. 31 Curtis, Gerard: Visual Words. Art and the Material Book in Victorian England. Aldershot 2002, S. 9. 32 Janzen Kooistra, Lorraine: The Artist as Critic. Bitextuality in Fin-­de-­Siècle Illustrated Books. Aldershot 1995, S. 1. 33 Vgl. Beegan, Gerry: The Mass Image. A Social History of Photomechanical Reproduction in Victorian London. Hampshire 2008, S. 31. 34 Vgl. Fletcher, 1989, S. 228.

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Beardsley und seine Verleger mit den gängigen Modi der Buchillustration auseinandersetzen. Neben dem gedruckten Erzeugnis als Produkt des täglichen Lebens und als Massen­ ware, wie es sich im Laufe der Industrialisierung etabliert, entwickelt sich parallel die Bibliophilie, die liebevolle Sammelleidenschaft für historische oder hochwertige Bücher, unter Intellektuellen und begüterten Connaisseurs. In diesen Kreisen entsteht der Topos, das Buch – sowohl in seiner dinglichen Beschaffenheit, als auch in Hinblick auf seine Inhalte – in sexuellen Begriffen wahrzunehmen. Gerard Curtis beschreibt den geradezu fetischhaften Umgang des männlichen Bibliomanen mit dem Buch wie folgt: „[The book] as female form, a form which was dressed and then spread open and looked over, with pleasure perceived from the possession, the tangibility […], from the looking, and from the reading.“ 35

Holbrook Jackson, Chronist der englischen 1890er Jahre, verarbeitet ­dieses beinahe körper­ liche Verhältnis zum Buch in seiner Studie „The Anatomy of Bibliomania“ (1930) und beschreibt den Leser als „lover in the arms of his mistress“.36 Im Kontext des dekadenten Sensualismus 37 wird die Berührung mit bestimmten Büchern und der Konsum ihrer Inhalte gar zum erotisch aufgeladenen subversiven Akt. „A recognizable feature of late nineteenth-­century Decadence is the irresistible magnetism of books, texts, and indeed language itself. […] Oscar Wilde toys with the idea of the lurid and dangerous ‚fatal book‘ not only as a means of exploring the paradoxes of morality, but crucially as an agent of sexual ravishment.“ 38

Zusätzlich zur Charakterisierung des Buches als weiblichen Körper, den es zu besitzen gilt, weist Lorraine Janzen Kooistra auf die Dichotomie von Bild und Text hin, die ebenfalls in Gender-­Termini geschildert wird. Ist der Text als männlich und das Bild als weiblich zu begreifen, so suggeriert dies im zeitgenössischen Verständnis gleichsam die geistige Überlegenheit von ersterem über letzteres.39 Der heute befremdlich wirkende erotische Modus der Bibliophilie im 19. Jahrhundert reiht sich ein in die bisher beschriebene Sammel­leidenschaft zahlreicher Persönlichkeiten dieser Epoche. Das Buch wird zu einem unter vielen objets d’art, welches sich jedoch durch Schönheit und Inhalt gleichermaßen auszuzeichnen vermag.

35 Curtis, 2002, S. 5 f. 36 Jackson, Holbrook: The Anatomy of Bibliomania. Urbana, Chicago 2001 (Nachdruck der 2. Auflage von 1950), S. 604. 37 Vgl. Desmarais, Jane; Condé, Alice (Hg.): Decadence and the Senses. Cambridge 2017. 38 Boyiopoulos, Kostas: ‚Use my body like the pages of a book‘: Decadence and the Eroticized Text. In: ebd., S. 101 – 120, hier S. 101. 39 Vgl. Janzen Kooistra, 1995, S. 9 f.

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In Bezug auf die konkrete Auslotung von Text-­Bild-­Relationen im Buch des englischen 19. Jahrhunderts wird zumeist die Ästhetik der Arts and Crafts-­Tradition verfolgt. Dabei etablieren sich Druck- und Publikationsverfahren, die sich an mittelalterlichen Vorbildern orientieren. William Morris’ Kelmscott Press (1891 – 98) stellt in dieser Entwicklung einen späten Höhepunkt dar. Das Anliegen, handwerkliche Prozesse wiederzubeleben und gleichzeitig die arbeitende Bevölkerung mit hochwertig gestalteter Literatur zu günstigen Preisen zu versorgen, ist bekanntermaßen gescheitert. Dies liegt nicht zuletzt in den technischen Voraussetzungen solcher Produktionen vor den 1880ern begründet. „Until about 1885, the principal way of reproducing pictures for mass distribution […] was wood engraving, a process which was both time-­consuming and costly, and which made the artist’s drawing only as good as the intermediary engraver’s skill.“ 40

Holbrook Jackson beschreibt die gestalterische Fusion der Darstellungsmittel in den Büchern der Kelmscott Press eindrücklich: „The Kelmscott Press books not only look as if letter and decoration had grown one out of the other; they look as if they could go on growing.“ 41

Die oftmals beinahe organische Partnerschaft von Text und Bild in diesen und anderen Erzeugnissen dieser Blütezeit des englischen Buches nimmt auch Gerard Curtis zum Anlass, die ­Theorie von „Pen“ und „Pencil“ zu formulieren. „Nineteenth-­century literary culture in fact drew on a partnership between the textual and visual. Early in the century the line made by the pencil (the visual/artistic) and that made by the pen (the textual) were united in the Victorian mind.“ 42

Zeichen- und Schreibstift vereinen sich unter dem Primat der Linie, die beiden eigen ist.43 Diese enge Verbindung von geschriebener und gezeichneter Linie spielt auch für Beardsleys Auffassung von Text-­Bild-­Relationen im eigenen Werk eine wichtige Rolle, die im Folgenden ausgelotet werden soll. Obwohl der Künstler einen seiner Briefe sogar mit „Yours entirely, pen and pencil. AB.“ 44 unterschreibt, sind die Begriffe in seinem Œuvre durchaus anders zu betrachten, als es die organische Verflechtung des viktorianischen Buches suggeriert. Beardsley und sein Umfeld formulieren eine technisch-­ästhetische Verortung von Literatur und Kunst, die zwar den Dialog nicht ausschließt, allerdings beiden Medien ihren 40 41 42 43 44

Ebd, S. 40. Jackson, 1922, S. 263. Curtis, 2002, S. 1. Vgl. ebd., S. 9. Letters, 1990, S. 286. Aubrey Beardsley an H. C. J. Pollitt, 26. März 1897, Muriel, Bournemouth.

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jeweiligen Freiraum innerhalb des Buches zugesteht. Im Vertrag für die ersten zwei Ausgaben des Yellow Book wird sogar festgelegt: „… illustrations shall have no reference to the text unless the text has been provided by the artist.“ 45 Teilweise werden Beardsleys Zeichnungen sogar durch die Einlage eines zusätzlichen Pergaminblattes vom restlichen Inhalt getrennt.46 Dieses Postulat setzt sich in ähnlicher Weise auch im Savoy fort, wo die meisten grafischen Blätter jeweils auf Einzelseiten erscheinen, ohne, dass ihnen ein anderer Text als ihr Titel direkt beigeordnet wird. Zudem zeichnen sich beide Magazine dadurch aus, dass sie einzelne Inhaltsverzeichnisse für „literary content“ und „art content“ angeben. Auf technischer Ebene spielt sich die größte Neuerung der viktorianischen Illustration und Publikation wohl im Bereich der fotomechanischen Prozesse ab. Nicht nur die Erfindung der Fotografie selbst prägt das Jahrhundert in außerordentlichem Maße, sondern auch die damit einhergehenden Möglichkeiten für die Druckgrafik. „While William Morris’s Kelmscott Press looked towards the printing techniques and medievalism of the past, Lane and his circle embraced new aesthetics and media technologies, identifying themselves with the French art nouveau scene. [… The photomechanical line-­ block process] involved the transfer of an image by means of a photographic negative onto a light-­sensitive block that was then engraved.“ 47

Beardsley reüssiert in ­diesem Medium mit solch großem Erfolg und hoher Qualität, dass sich jeder folgende Künstler, der sich der Strichätzung bedient, dem Vergleich mit ihm stellen muss. Michaela Braesel hat das komplexe Verfahren besonders einprägsam beschrieben, weshalb ich mich an ihren Ausführungen orientieren möchte. Als Vorlage für eine Strichätzung (oder Strichklischee) können nur reine Schwarz-­Weiß-­Zeichnungen ohne Graustufen verwendet werden. Von dieser Handzeichnung wird eine fotografische Negativ­platte auf eine mit Chromgelatine beschichtete Zinkplatte kopiert. Die hellen Partien werden auf dem lichtempfindlichen Material hart. Ein anschließendes Salpeter­ säurebad ätzt alle unbelichteten Teile weg. Was entsteht, ist die Platte für ein häufig reproduzierbares Hochdruckverfahren.48 Dies bedeutet zugleich eine weitaus kostengünstigere Produktion, weshalb das Verfahren auch in täglich erscheinenden Zeitschriften oder Plakaten Anwendung findet. Dennoch wird die Handzeichnung mittels des fotografischen Zwischenschritts, der die Hand des Stechers und gleichzeitig dessen persönlichen Stil ersetzt, genauestens reproduziert und die künstlerischen Qualitäten des Zeichners ­drohen nicht verloren zu gehen.

45 Zitiert nach Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 59. 46 Vgl. Elliot, Bridget: Sights of Pleasure: Beardsley’s Images of Actresses and the New Journalism of the Nineties. In: Langenfeld, Robert (Hg.): Reconsidering Aubrey Beardsley. Ann Arbor, Michigan 1989, S. 71 – 101, hier S. 83. 47 Colligan, 2006, S. 130. 48 Vgl. Braesel, 1994, S. 20.

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Obwohl die Strichätzung eine stärkere Demokratisierung in der Verbreitung des illustrierten Buches vermuten ließe, entschließen sich Beardsleys Verleger jedoch zumeist für hochwertige und teure Luxus-­Editionen.49 Ausgelegt für eine exklusive Leser- und Käufer­schaft rechtfertigen diese Bücher ihren hohen Preis vor allem durch die verwendeten Materialien, wie Japan-­Papier, die zumeist stark reduzierte Auflage von maximal einigen 100 Stück und natürlich die allgemein hohe künstlerische Qualität ihrer Inhalte. Somit changiert Beardsleys hauptsächliches gestalterisches Mittel – die in Strichätzung überführte Zeichnung – abermals ­zwischen vielfach reproduzierbarer Massenware und exklusivem Kunstgegenstand, der nicht zuletzt durch editorisches Eingreifen generiert wird. Auch seine Handzeichnungen erhalten indes, vor allem nach dem Tod des Künstlers, eine hohe Bedeutung als Sammelobjekt. Beardsley arbeitet hauptsächlich mit einer schwarzen Tusche auf leicht angerautem Papier, dem sogenannten Whatman Paper.50 Da der Zeichner seine Kompositionen jeweils auf dem finalen Blatt ohne etwaige Skizzen entwickelt, lassen sich trotz der sicheren Linie zuweilen Bleistift-­Unterzeichnungen oder Übermalungen feststellen. Diese Arbeitsweise hat nicht zuletzt zur Mystifizierung des Künstlers beigetragen, dessen Idee sich scheinbar unmittelbar auf das Papier überträgt. Die Vorstellung schien in der Vergangenheit sogar so unvorstellbar, dass John Lane 1925 vermeintliche Skizzen Beardsleys veröffentlichte, die kurz darauf als Fälschungen entlarvt wurden.51 Neben dieser Bedeutung, die Beardsleys Zeichnungen als eigenständigen Kunstwerken zukommt, erfüllen sie dennoch immer wieder die Aufgabe von Illustrationen zusammenhängender Texten. Leonard Smithers spielt als Beardsleys Verleger seit 1895 eine entscheidende Rolle in der Verortung von Schrift und Bild in den von ihm herausgegebenen Büchern. Er spezialisiert sich auf exklusive Ausgaben von ‚vergessenen‘ Klassikern. ‚Vergessen‘ deshalb, weil es sich dabei oftmals um Werke der Literaturgeschichte handelt, deren Autoren zwar berühmt und angesehen sind, jedoch seit Jahrzehnten, oder gar Jahrhunderten nicht mehr neu aufgelegt wurden. Auch Alexander Popes „miniature mock-­epic“  52 The Rape of the Lock (1714) ist 1896, seit beinahe einem Jahrhundert die erste illustrierte Ausgabe des Gedichts, noch dazu als eigenständiges Buch, ohne Teil einer Anthologie zu sein. Im Lockenraub von Smithers und Beardsley lässt sich gewissermaßen ein Prototyp des Buches, wie es diese Kollaboration mehrfach hervorbringt, erkennen. Der Verleger fällt die Entscheidungen über die allgemeine Aufmachung des Buches. Die

49 Vgl. Nelson, 2000, S. 102. 50 Vgl. Raby, Peter: Aubrey Beardsley and the Nineties. London 1998, S. 114. Über die Tusche bzw. Tinte fasst Brian Reade folgende technische Details zusammen: „In 1893 Indian ink, a generic term, was made up as fluid in bottles, or it could be bought in the form of sticks or cakes to be crushed and dissolved in water. Encre de Chine, Chinese ink, was probably the best Indian ink available. According to Robert Ross in Aubrey Beardsley, this was what Beardsley used.“ Reade, 1989, S. 117. 51 Vgl. Reade, 1989, S. 122. 52 Vgl. Halsband, 1980, S. 1.

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Wahl des Papiers (Japan-­Papier), die farbliche Gestaltung des Umschlags, die Größe und nicht zuletzt die Schrifttype fallen in seinen Verantwortungsbereich. Obwohl sich nicht vollends rekonstruieren lässt, inwiefern Verleger und Illustrator gemeinsam über diese Aspekte beratschlagen, geht aus den Briefen Beardsleys hervor, dass er sich kaum für diese Details interessiert und sich hauptsächlich der bestmöglichen Reproduktion und Platzierung seiner Bilder widmet.53 Mittels historisierender und gleichsam modernistischer Ansätze verhilft Smithers der Buchgestaltung zu einem Kunstwerk-­Status, der über die organische Vereinigung der Künste im viktorianischen Buch hinausgeht.54 Für The Rape of the Lock lässt er eine altertümliche Serifenschrift wieder aufleben,55 die sich eindeutig an Vorlagen des 18. Jahrhunderts orientiert. Nicht allein dieser Schachzug erlaubt dem bibliophilen Käufer des Buches einen Vergleich mit der Erstausgabe des Gedichts von 1714. In der National Art Library in London gibt es heute die Möglichkeit, beide Ausgaben direkt nebeneinander zu studieren. Dabei lassen sich gestalterische und inhaltliche Bezüge der jüngeren auf die ältere Ausgabe vermehrt feststellen. In Robert Halsbands Monografie zu sämtlichen Illustrationen bzw. künstlerischen Auseinandersetzungen mit Popes Gedicht sind noch etliche weitere, teils hochkarätige Illustratoren des Stoffes, wie Heinrich Füssli,56 aufgeführt. Gewiss lassen sich auch zu diesen Ausgaben des 18. Jahrhunderts einzelne Parallelen zu Beardsleys Herangehensweise ausmachen. Dennoch hat die Gegenüberstellung von Erstausgabe und Smithers’ Publikation die fruchtbarste buchkünstlerische sowie ikonografische Korrespondenz ergeben, sodass ich mich im Folgenden auf diese konzentrieren werde. Pope erzählt in seinem Gedicht die eigentlich belanglose Geschichte eines höfischen Schelmenstreichs. Der sogenannte ‚Baron‘ verliebt sich in die schöne Belinda und ist dermaßen versessen darauf, in den Besitz der entzückenden Locke zu kommen, die sich an ihrem Nacken kräuselt, dass er ihr diese während eines nachmittäglichen Kartenspiels heimlich abschneidet. Belinda gerät daraufhin in einen wahren Furor und stürzt sich in Depressionen ob ihrer geraubten Schönheit, die einzig an dieser Locke zu hängen schien. Schon in einer solchen knappen Inhaltsangabe lässt sich Popes satirischer Unterton kaum leugnen. Der Autor verdichtet das parodistische Element nochmals, wenn er der höfischen Tändelei ein mythologisches Rahmenwerk aus Luftgeistern (Sylphen) und Gottheiten der Unterwelt zugedenkt. So wird aus dem oberflächlichen Streit z­ wischen Höfling und Dame ein vermeintliches Heldenepos. Pope, der parallel an einer Ilias-­Übersetzung arbeitet,57 stellt die Lächerlichkeit und Nichtigkeit des adeligen Treibens mit einer homerischen 53 Vgl. Gertner Zatlin, Linda: Beardsley, Japonisme, and the Perversion of the Victorian Ideal. Cambridge 1997, S. 58. 54 Vgl. Nelson, 2000, S. 107. 55 Vgl. ebd., S. 108. 56 Vgl. Halsband, 1980, S. 44 – 54. 57 Vgl. ebd., S. 1.

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­ andlungsebene deutlich heraus. Wenn die sagenumwobene Locke schließlich inmitten H eines wilden Handgemenges z­ wischen Damen und Herren in einen Stern verwandelt wird, der sich auf zum Firmament begibt, gesellt sich zum homerischen Epos noch die ovidsche Metamorphose und Pope löst den sinnlosen Disput in Wohlgefallen auf. Mit diesen Kunstgriffen entspricht Popes Gedicht laut Jürgen von Stackelberg einer parodistischen Form, die ebenfalls Travestieanteile besitzt. Zum einen wird die heroische Grundform der antiken Vorbilder als Schablone übernommen und mit einem belanglosen, also niedrigen Inhalt ausgefüllt (Parodie); zum anderen wird jedoch auch auf sprachlicher Ebene die Lächerlichkeit des neuen Sujets reflektiert (Travestie).58 So integriert der Autor beispielsweise zeitgenössisches Slangvokabular in seine Verse, um die erotische Doppelbödigkeit seines Themas anzudeuten: da steht „Furbelo“ dann für Schamhaar, was aus der Strähne des schönen Hauptes, die aus dem Schoß geraubte Locke und somit den Raub der Unschuld suggeriert.59 In der parodistischen Traditionslinie setzt Pope die seit der Antike nicht abreißende Kontinuität von Homer-­Parodien fort, ­welche beispielsweise im späthellenistischen Froschmäusekrieg einen ihrer frühen Höhepunkte erreicht.60 Die erste illustrierte Veröffentlichung von Popes Rape of the Lock beim Londoner Verleger Bernard Lintot 1714 stellt zunächst eine erweiterte Version einer weitaus kürzeren Fassung des Gedichts von 1712 dar.61 Edmund Gosse erklärt in seiner Studie A History of Eighteenth Century Literature (1889), in der er vor allem Popes frühe literarische Leistung vor der zeitgenössischen Kritik rehabilitiert, wie der Dichter zu seinem außergewöhn­ lichen Sujet kommt: „In 1711 one of Pope’s Catholic friends, John Caryll […], interested Pope in a quarrel then proceeding between Lord Petre and a Miss Arabella Fermor. The former had forcibly cut off a lock of the hair of the latter, and the affair was taking the proportions of a blood feud between the families. […] with Miss Fermor’s permission, The Rape of the Lock, in two cantos, appeared in Lintot’s Miscellany in 1712. It enjoyed great and instant success. […] But he felt the framework to be too slight […] and he presently rewrote the poem, introducing a Rosicrucian ‚machinery‘, or supernatural action, of sylphs and gnomes.“ 62

Gosses Publikation stellt insofern einen bedeutsamen Wendepunkt für die Rezeption von Alexander Pope im Speziellen sowie des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen dar, als ihr

58 Vgl. Stackelberg, 2009, S. 63 f. 59 Vgl. Stephanson, Raymond: ‚Hairs less in Sight‘: Pope, Biology and Culture. In: Nichol, Donald W. (Hg.): Anniversary Essays on Alexander Pope’s The Rape of the Lock. Toronto 2016, S. 113 – 130, hier S. 118. 60 Vgl. Meyer-­Sickendiek, Burkhard: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005, S. 420. 61 Vgl. Halsband, 1980, S. 1. 62 Vgl. Gosse, Edmund: A History of Eighteenth Century Literature. 1660 – 1780. London 1889, S. 112.

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Autor sich dezidiert von Leslie Stephens Lesart des Lockenraub von 1880 absetzt. Stephens (1832 – 1904) bewertet Popes Lyrik von der romantischen Warte aus und bezeichnet sie als „hopelessly effete“.63 Gegen diese bereits hinlänglich beschriebene Tradition der Rokoko-­ Kritik verfasst Gosse eine flammende Rede gerade für den zeittypischen Stil Popes, den es zu würdigen gelte: „When we are told, moreover, that The Rape of the Lock is’wearisome‘ and ‚effete‘, there is nothing for it but a direct negation. As well might Hamlet be called superficial and Paradise Lost flat. In its own class and degree The Rape of the Lock is as perfect as these – as entirely successful and satisfactory. Poetic wit was never brighter, verse never more brilliantly polished, the limited field of burlesque never more picturesquely filled, than by this little masterpiece in Dresden china.“ 64

Abermals verwundert es angesichts dieser ästhetizistischen Rhetorik kaum, dass ausgerechnet Edmund Gosse derjenige ist, der Beardsley ans Herz legt, The Rape of the Lock zu illustrieren.65 Dieser fertigt die Zeichnungen in schneller Abfolge während seines Aufenthaltes in Paris im Frühjahr 1896 an.66 Der französische Einfluss auf die Blätter (insbesondere die modische Ausstattung des Personals) ist kaum zu übersehen. Außerdem misst sich Beardsley in ­diesem Vorhaben gewissermaßen mit der umfangreichen Illustrationshistorie des Gedichts, die mit Louis du Guerniers (1677 – 1716) für die Erstausgabe erstellten Bildern beginnt. Der in Paris geborene Zeichner wandert 1708 nach England aus, wo er 1714 die Illustrationen zu Popes Rape of the Lock anfertigt. Die Handzeichnungen werden von seinem Landsmann Claude du Bosc, der ebenfalls kurz zuvor in England angekommen ist, gestochen.67 Laut Robert Halsband ist d ­ ieses Projekt als historische Besonderheit herauszustellen, da zuvor keine Oktavbände mit solch elaboriertem grafischen Beiwerk (ganzseitige Illustrationen, Vignetten und Initialen) publiziert wurden – dies kam normaler­weise eher Folioausgaben zu – und es sich zusätzlich um ein humoristisches Gedicht handelt und nicht etwa um lehrreiche Prosa oder Traktate.68 Guernier liefert für Popes Gedicht sechs ganzseitige Zeichnungen, die sich oftmals durch einen bühnenartigen Aufbau des Bildraums auszeichnen. Der Künstler staffelt die kleinen Figuren in weiten Räumen mit teils tiefen Fluchtpunkten. Dies wird insbesondere sichtbar anhand des Frontispizes, welches an dieser Stelle im Vergleich zu Beardsleys Ausführung genauer analysiert werden soll (Abb. 13).

63 64 65 66 67 68

Stephen, Leslie: Alexander Pope. London 1880, S. 40. Gosse, 1889, S. 113. Vgl. Fletcher, 1987, S. 159. Vgl. Nelson, 2000, S. 143. Vgl. Halsband, 1980, S. 3. Vgl. ebd., S. 4.

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Abb. 13 Claude du Bosc nach Louis du Guernier: Frontispiz zu Alexander Popes „The Rape of the Lock“, 1714, Kupferstich, 14 × 8,3 cm.

Guernier präsentiert in seinem Frontispiz zunächst den Ort des Geschehens. Pope lässt die Protagonisten seines Gedichts in einem Boot über die Themse zum Palast von Hampton Court reisen. Dieses Gebäude aus der Tudor-­Zeit wurde im 17. Jahrhundert durch den Architekten Christopher Wren mit einer Südfassade im neuen Stil ausgestattet, die der Illustrator auf der rechten Bildseite in steiler Verkürzung präsentiert. Eine der zwei großen, ornamental geschmückten Urnen, die vor dem Gebäude aufgestellt sind, dient Guernier einmal mehr dazu, den realen Ort eindeutig erkennbar zu machen. Die Interpretation der Putti, die den Bildraum bevölkern, gestaltet sich weniger mühelos. Robert Halsband hat diese Kreaturen und ihre symbolische Funktion im Bild bereits hinreichend und überzeugend ausgedeutet, sodass ich hier lediglich auf seine Ausführungen hinweisen möchte. Danach sind die Putti (bzw. Sylphen in Popes Text), die im oberen Bereich des Bildes schweben und von denen einer auf einen Stern mit flatterndem Schweif über ihnen deutet, ein Hinweis auf die finale Apotheose von Belindas ­gestohlener Locke.

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Abb. 14 Frontispiz und Titelblatt zu Alexander Popes „The Rape of the Lock“, erschienen 1714 bei Bernard Lintot, London.

Auf der Erde, vor dem Palast widmen sich die übernatürlichen Gestalten weltlicheren Beschäftigungen. Die zentrale (weibliche) Figur ist vor einem Spiegel platziert, der von einem weiteren Putto gehalten wird. Timothy Erwin hat später für diese Figurengruppe ein konkretes Vorbild in Annibale Carraccis „Venere abbigliata dalle Grazie“ (1590/95, National Gallery London) gefunden. Er macht dabei auf Popes Verbindung zur zeitgenössischen Carracci-­Schule in England aufmerksam. Über Künstler wie Kneller oder Jonathon Richardson dürfte der Dichter, der großen Einfluss auf die Genese der Illus­ trationen hat, Kenntnis des Bildes haben und gibt diese schließlich an seinen Illustrator weiter.69 Der Verweis auf die zentrale Szene des Gedichts, der Toilette Belindas, wird in dieser Gruppe ebenfalls deutlich. Das Thema der weiblichen Eitelkeit wird durch den Putto links evoziert, der Absatzschuhe trägt und vor sich eine kleine Truhe mit weiteren Utensilien der Toilette ausgebreitet hat.70 Der erotische Subtext des Gedichtes über den 69 Vgl. Erwin, Timothy: Textual Vision. Augustan Design and the Invention of Eighteenth-­Century British Culture. Lewisburg 2015, S. 54. 70 Vgl. Halsband, 1980, S. 18.

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fetischhaften Raub einer Haarlocke wird schließlich durch den Satyr auf der rechten vorderen Bildseite thematisiert, der zudem eine Art Schweinsmaske vor sein Gesicht hält, was einmal mehr sein animalisches Wesen hervorhebt.71 Dass hinter der Gesellschaftsposse im mythologischen Gewand letztlich die Kreatürlichkeit des Menschen hinter seiner noch so höfisch eleganten Maske in Erscheinung tritt, wird durch die Figur des Satyrs vorbereitet. Somit erklärt sich Guerniers Frontispiz letztlich erst nach der Lektüre des Gedichts vollends. Die Dichotomie von irdisch realem Handlungsort/Personal und übernatürlichen Kreaturen in pseudoheroischer Narration wird mittels zahlreicher Allusionen vorgebracht. Die Bilderfindung positioniert sich mit ihrer hybriden Anlage also ­zwischen dem barocken Habitus der programmatischen Vorschau auf den ­Textinhalt und der sich entwickelnden Praxis des Rokoko, die es favorisiert, eine ausgewählte Szene des Geschehens vorzublenden. In tradierter Weise befindet sich Guerniers Bild links gegenüber dem Titelblatt, welches in unterschiedlichen Variationen einer schlichten Serifenschrift gestaltet ist (Abb. 14). Für das heutige Auge wohl gewöhnungsbedürftig dient der Umgang mit der Schriftgröße, kursiv oder aufrecht gestellten Buchstaben, Groß- und Kleinschreibung und nicht zuletzt die farbige Unterscheidung von schwarz oder rot eingefärbten Worten der Blickführung des Lesers und der Anzeige einer Hierarchie der Signifikanz. Besonders interessant ist hierbei die formale Hervorhebung, die bereits den Titel in Hauptschlagworte gliedert. Der Begriff „POEM “ bildet in roten Großbuchstaben das Zentrum des Blattes. Einmal mehr scheint der Herausgeber auf das Alleinstellungsmerkmal seiner Publikation im Bereich der Lyrik hinweisen zu wollen. Darunter erscheint der Name des Autors „Mr. Pope“ geradezu zurückgenommen. Es folgt ein Zitat aus Ovids Metamorphosen, welches auf die Königstochter Skylla verweist, die ihrem Vater eine magische Haarlocke abschnitt, um König Minos den Sieg über Megara zu erleichtern.72 Wie bis heute üblich, befinden sich am unteren Rand des Blattes die editorischen Angaben zu Erscheinungsort, -jahr und Herausgeber. Abermals durch die rote Farbe hervorgehoben sind die Stadt London und Bernard Lintot[t]s Name. An keiner Stelle ist die Rede vom Illustrator der Ausgabe. Diese Aufgabe wird allerdings von der Bildunterschrift des Frontispizes übernommen, die über Guernier als Schöpfer der Bildidee (inv.) und Claude du Bosc als Stecher (sculp.) informiert. Frontispiz und Titelblatt erscheinen streng voneinander getrennt. Schrift und Bild bekommen ihre je eigene Seite zugewiesen und keinerlei Ornamente oder andere schmückende Linien weichen diese mediale Scheidung auf. Sogar die räumliche Anlage der Zeichnung wendet sich regelrecht ab vom Titelblatt. Die Fassade von Hampton Court Palace fungiert damit als eine massive Grenze ­zwischen dem allegorischen Bildgeschehen und dem „diesseitigen“ Text, der nüchtern über die vorliegende Publikation informiert.

71 Vgl. ebd., S. 20. 72 Vgl. Ovid: Metamorphosen. Hgg. und übers. von Hermann Breitenbach, Stuttgart 2005 (1971), S. 247 (8; 93).

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Abb.15 Aubrey Beardsley: „The Dream“, Frontispiz zu Alexander Popes „The Rape of the Lock“, ­zwischen Dezember 1895 und März 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,4 × 17,3 cm, J. Paul Getty Museum, Los Angeles, CA.

Die vordergründige Trennung von Schrift und Bild auf zwei Seiten wird auch in der von Beardsley und Smithers gestalteten Ausgabe des Lockenraub beibehalten. Auf dem linksseitigen Frontispiz spielt sich indes eine vollkommen andere Szene ab, als es auf dem vielfigurigen Außenraum bei Guernier der Fall ist (Abb. 15). Beardsley gewährt dem Käufer des Buches einen vorerst geheimnisvollen Blick in ein Schlafgemach. Auf einem dunkel schraffierten Parkett­ boden stellt sich die Ecke eines opulent mit Vorhängen, Schleifen und Rüschen ausgestatteten Bettes gegen die untere Bildkante. Auf den Vorhängen lassen sich gestickte Blumengirlanden, Buketts, ein Pfau, Früchte und schmückende Damenportraits erkennen. Diese sind in Beardsleys Punktmanier 73 ausgeführt, die der Künstler im Rape of the Lock sicherlich zu ihrer Perfektion bringt. Von links tritt auf Zehenspitzen ein androgyner Jüngling an das Bett heran. Sein Gesicht deutet ein Flüstern an und die erhobene Hand scheint gerade den Vorhang beiseitegeschoben zu haben, um nun mit einer belehrenden Geste die Rede zu unterstützen.

73 Vgl. Sturgis, 1999, S. 278.

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Abb. 16 Jean-­Baptiste Martin: „Sylphe dans le Ballet des Élements“, ­zwischen 1770 und 1779, Kupferstich auf Papier, 25,5 × 18,7 cm, Jerome Robbins Dance Division, The New York Public Library.

Der Illustrator kann mit einem Publikum rechnen, das mit dem historischen Stoff vertraut ist und somit die Leerstellen des Bildes füllen kann. Auch wenn nicht zu sehen ist, wer in dem Bett noch schlummert, weiß der Pope-­Kenner und Käufer der exklusiven Ausgabe, dass es sich dabei um die Heldin des Gedichts, Belinda, handelt. Und wer anderes könnte sie wohl ihrem Schlaf mit einem morgendlichen Traum entreißen als der Sylphe Ariel. Dieser warnt die Schöne in seinem Monolog der ersten Strophe: „Of these am I, who thy Protection claim, A watchful Sprite and Ariel is my Name. Late, as I rang’d the crystal Wilds of Air, In the clear Mirror of thy ruling Star I saw, alas! some dread Event impend, Ere to the Main this morning’s Sun descend, But Heav’n reveals not what, or how, or where: Warn’d by thy Sylph, oh pious Maid beware!

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This to disclose is all thy Guardian can. Beware of all, but most beware of Man!“ 74

Das Motiv des Sterns, in den sich die gestohlene Locke am Ende des Textes verwandelt, wird sowohl in Popes Versen als auch in Beardsleys Bild aufgenommen. Als eine Art maître d’orchestre präsentiert der Zeichner den Geist in einem Tanzkostüm im Stil des Ancien Régime mit einem sternbekrönten Taktstock. Diese außergewöhnliche Kostümierung der eigentlich ätherischen Gestalt erklärt sich möglichweise durch Beardsleys Lektüre von Émile Bourgeois’ Buch Le Grand Siècle. Louis XIV , les arts, les idées, welches im selben Jahr in englischer Übersetzung erscheint, wie Beardsleys Lockenraub-­ Bilder.75 Obwohl nicht nachzuvollziehen ist, ob Beardsleys Idee für Ariels Kostüm tatsächlich auf d ­ ieses Buch zurückgeht, welches zwei Tanzkleider Ludwigs XIV . zeigt,76 dürfte die Verwandtschaft zu diesen dennoch deutlich sein. Der ausgestellte Rock, die gemusterten Strümpfe, der gefederte Hut und die spitzen Schnallenschuhe lassen sich hervorragend mit den aquarellierten Kostümstudien des höfischen Balletts der 1650er Jahre verknüpfen. Noch im 18. Jahrhundert entstehen allerdings ganz vergleichbare Darstellungen von verkleideten Tänzern. So weist beispielsweise Jean-­Baptiste Martins Stich eines Sylphen im Ballet des élements (zwischen 1770 und 1779) einige Ähnlichkeiten zu Beardsleys ­Bilderfindung auf (Abb. 16). Der kurze, pannierartige Rock, der mit Schleifen gerafft ist, entspricht auffallend genau Ariels Rock im Frontispiz. Auch das mit Wolkenbändern und Pfauenfedern geschmückte Kleid in ­diesem und ähnlichen Kostümstichen dürfte ­Beardsley außerordentlich zugesagt haben. Mit dem Auftreten eines Tänzers des französischen Ancien Régime stimmt Beardsley sogleich den Tenor für seine weiteren Illustrationen an. Theatralität und Frankophilie werden im Frontispiz als wiederkehrende Muster der Bildfolge vorgegeben. Indem Ariel den neugierigen Blick ­zwischen die Vorhänge des Bettes wirft, erscheint er gleichsam als Schauspieler vor der Premiere, der einen verstohlenen Blick auf das Publikum werfen möchte. Welche Vorstellung könnte wohl passender sein für ein Frontispiz als die vom Moment, kurz bevor sich der Vorhang hebt? Außerdem lässt sich der Szene ein gewisses erotisch-­voyeuristisches Potenzial nicht absprechen. Dies wird noch deutlicher, wenn Beardsley dieselbe Bildanlage für eine weitaus drastischere Darstellung zitiert. In seinem „Impatient Adulterer“ (August 1896, Abb. 67) dient der Blick hinter den Vorhang gar als Anlass zur Selbstbefriedigung.

74 Pope, Alexander: The Rape of the Lock. An Heroi-­Comical Poem in Five Cantos. London 1896, S. 6. 75 Vgl. Letters, 1990, S. 223 f. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 4. Dezember 1896, Pier View, Boscombe. 76 Vgl. Bourgeois, Émile: The Century of Louis XIV. Its Arts – Its Ideas. London 1896. S. 16 f.

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Abb. 17 Aubrey Beardsley: „The Billet-­doux“, ­zwischen Dezember 1895 und März 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinapier, 14,2 × 14,1 cm, Fine Arts Museum of San Francisco, CA.

Im Frontispiz bereitet Beardsley also mittels einer Szene aus Popes Gedicht sowohl den Grundton seiner eigenen folgenden Illustrationen vor, als auch den Inhalt des Textes. Indem er Ariels warnenden und visionären Monolog in das stumme Bild überführt, gelingt ihm trotz der scheinbar limitierten Auswahl einer einzigen Szene, die Andeutung der gesamten Handlung. Mit d ­ iesem Kunstgriff kann sich Beardsleys Frontispiz auch auf inhaltlicher Ebene mit der Syntheseleistung Guerniers messen. Das Bild Ariels am Bette Belindas interagiert darüber hinaus mit weiteren Illustrationen der Folge. In der anschließenden Vignette vor der ersten Strophe wird der zuvor verstellte Blick in das Bett nunmehr geöffnet (Abb. 17). Die erwachende Schönheit wird hier vor einer Rokoko-­Folie aus Rüschen, Blumengirlanden, Muschel- und Rollwerk präsentiert, während sie das Liebesbriefchen ihres Verehrers liest. Dass dabei eine ihrer Brüste entblößt wird, steigert das Motiv der Enthüllung des zuvor Verhüllten einmal mehr. Weiterhin stellt das Frontispiz den Anfangspunkt eines bildlich narrativen Bogens dar, der in der Schlussvignette endet (Abb. 18). Auch hier ist davon auszugehen, dass einer der Sylphen gemeint ist, der als Rückenfigur in einem pierrotartigen Kostüm sowie mit Allongeperücke und Straußenfedern auf dem Kopf auftritt.77 Der Stern, dessen Spitze von seiner erhobenen Hand gehalten wird, verwandelt sich hier von einer subtilen Andeutung

77 Vgl. Halsband, 1980, S. 109.

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Abb. 18 Aubrey Beardsley: „The New Star“, März 1896, schwarze Tinte auf Velinpapier, 30,8 × 18,4 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA.

des Frontispizes zur vollzogenen Apotheose der wundersamen Locke. Während Beardsley in den restlichen Illustrationen (ausgenommen „The Cave of Spleen“) auf die Darstellung der übersinnlichen Figurinen verzichtet und das Geschehen betont diesseitig, höfisch verortet, setzt er Popes mythologische Klammer in seiner bildlichen Einfassung aus Fronti­ spiz und cul de lampe um. In beiden Bildern sind Figuren in fantastischen, dem Bühnenkontext entlehnten Kostümen das Zentrum der Aufmerksamkeit. Ihre Kleidung setzt sie von den Höflingen der anderen Blätter ab und identifiziert sie höchst wahrscheinlich als Popes Sylphen. Kompositorisch interagiert das Frontispiz stärker mit dem Titelblatt als es in der 1714er Ausgabe der Fall ist. Durch den nach rechts gewandten Gestus des Vorhangöffnens wird der Blick gleichsam auf die eng am historischen Vorbild orientierte Titelgestaltung gelenkt (Abb. 19). Sowohl in der Auswahl der schlichten Serifenschrift als auch in der Farbwahl von Rot und Schwarz erinnert Smithers’ Titelblatt stark an das von Lintot. Auffällig ist jedoch der sehr viel ‚beruhigtere‘ Umgang mit Schriftgrößen, -farben und -formen. ­Smithers verzichtet trotz der historisierenden Anlehnung auf den ständigen Wechsel des

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Abb. 19 Frontispiz und Titelblatt zu Alexander Popes „The Rape of the Lock“, erschienen 1896 bei Leonard Smithers, London

typografischen Formats zugunsten einer modernen und sinnfälligen Ausrichtung. Bei ihm sind jeweils die vollständigen Informationen in Rot gehalten, ­welche den Titel und die beteiligten Persönlichkeiten betreffen. Die ersten Zeilen entsprechen inhaltlich genau der Ausgabe von 1714, bis auf die Entscheidung, den Namen des Autors auszuschreiben. Auch das Ovid-­Zitat wird übernommen und um ein weiteres Eingangszitat aus einer späteren Ausgabe des Gedichts von 1717 ergänzt. Darin integriert Pope den Namen seiner Heldin frei in ein Epigramm Martials.78 Darunter folgen, ähnlich der Erstausgabe, die Hinweise auf Herausgeber, Erscheinungsort und -jahr (wobei Smithers die Historizität mittels römischer Ziffern noch steigert). Im Zentrum des Titelblatts befindet sich 1896 allerdings folgende Inschrift: „embroi­ elche das darüber geschriebene „writdered with nine drawings by Aubrey Beardsley“, w ten by Alexander Pope“ parallelisiert. Das Wort „embroidered“ ersetzt laut Halsband und Nelson das „illustrated“ des ersten Entwurfs.79 Offenbar handelt es sich bei dieser ­Entscheidung um einen bewussten Passus des Herausgebers oder des Illustrators. „Embroidered“ birgt die Bedeutungen von „ausgeschmückt“ und „bestickt“ in sich. Letzteres ist ein klarer Verweis auf Beardsleys Punktmanier, die bereits im Frontispiz an den Stickereien des Bettvorhangs vorgeführt wird und sich an Tapeten, Kleidern und Tapisserien der folgenden Bilder fortsetzt. Wenn die Illustration zur Stickerei wird, kann der Text dann als deren stoffliche Grundlage verstanden werden? In jedem Fall evoziert diese Wortwahl 78 Vgl. Nichol, Donald W.: From ‚Trivial Things‘ to ‚trivial things‘. Pope, Lintot, and The Rape of the Lock. In: Ders. (Hg.): Anniversary Essays on Alexander Pope’s The Rape of the Lock. Toronto 2016, S. 218 – 247, hier S. 226. 79 Vgl. Halsband, 1980, S. 90; Nelson, 2000, S. 145.

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den Gedanken an Kunsthandwerk und Materialität im Gegensatz zu einer rein geistig-­ intellektuellen Verbindung von Text und Bild. Im Buch vereinen sich die beiden Medien zu einem haptisch-­optischen Objekt. Ebenso verrätselt die zweite Übersetzung von „embroidery“ das zur Schau getragene Verständnis von Illustration in dieser Ausgabe. Zunächst erscheint die Entscheidung, „Schmuck“ anstelle von „Illustration“ zu sagen, wie eine Art Eingeständnis der bloß dienenden und sogar inhaltleeren Funktion des bildlichen Beiwerks: die Schönheit der Zeichnungen soll lediglich das Auge des Lesers während der Lektüre erfreuen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich hierbei – ähnlich dem „pictured“ der Salome – um eine absichtsvolle Ansprache an den Käufer des Buches handelt. Dieser ist aufgefordert, über die ungewöhnliche Begriffswahl zu reflektieren. Sie mag ihn möglicherweise an eine knapp ein Jahrhundert ältere Ausgabe desselben Textes erinnern, in der die Bilder unterschied­ licher Künstler Popes Gedicht ebenfalls ‚zieren‘ („adorned“).80 Gleichzeitig v­ ergegenwärtigt der Begriff „Embroidery“ die lange Geschichte der Buchkunst, wie sie sich aus den kleinteiligen Illuminationen des Mittelalters entwickelt und laut Nikolaus Pevsner insbesondere in England zu einer Blüte gelangt.81 Weiterhin ruft sie die gängigen Vorstellungen von der Ästhetik des 18. Jahrhunderts wach, in der Kunst oftmals die Rolle des sinnlich ansprechenden (Raum)schmucks zugesprochen wird. Die Gleichsetzung von Schmuck und Bild folgt also abermals der Idee, die Grenze von Kunst und Kunstgewerbe aufzulösen. Angesichts der großen inhaltlichen Nähe z­ wischen Beardsleys Zeichnungen und Popes Text stellt sich jedoch die Frage, inwiefern der Begriff „embroidered“ in seiner latent abwertenden Bedeutung überhaupt ernst zu nehmen ist. So heißt es in einer Besprechung der Neuerscheinung von Popes Rape of the Lock 1896: „… this book is said to be ‚embroidered with nine drawings‘ – an affectation, if not an actual absurdity, but affectation is the keynote to Beardsleyism.“ 82

Obwohl der Autor die Wortwahl als bloße Affektiertheit des Illustrators abtut, trifft er damit dennoch den sicherlich inhärenten Witz, welcher der Formulierung ebenso eigen ist. Die Gegenüberstellung mit dem früheren, selbstbewussten „pictured“ scheint gewollt. Während Beardsley für Wildes Einakter den künstlerischen Eigenwert seiner ‚Bilder‘ betont wissen will, stellt er seine Arbeit diesmal bewusst in den Dienst des Textes. Ähnliches evoziert bereits das „embellished by“ der Morte Darthur-­Edition (1892 – 94),83 jedoch stellt

80 Vgl. Halsband, 1980, S. 36. Es handelt sich um die Ausgabe von 1798, an der unter anderem ­Heinrich Füssli beteiligt ist. 81 Vgl. Pevsner, 1993, S. 130. 82 Unbekannter Autor: Chronicle of Art. March. In: The Magazine of Art 20, November 1896–April 1897, S. 282 – 288, hier S. 286. 83 Annette Lavers betont, dass Beardsley durch die Wahl unterschiedlicher Begriffe erreicht, der limitierenden Bewertung von Illustration zu entgehen. Vgl. Lavers, Annette: ‚Aubrey Beardsley, Man of Letters‘. In: Fletcher, Ian (Hg.): Romantic Mythologies. London 1967, S. 243 – 270, hier S. 248.

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der Zeichner sich diesmal nicht in den Dienst der übermenschlichen Aufgabe – gestellt von Verlegern –, mit Hunderten ornamentaler Bilder ein Epos zu illustrieren, sondern komponiert ausgesuchte Grafiken, die den Versen gleichgestellt sind. Die Erklärung für diese beinahe devote Haltung findet sich letztlich in dem Verhältnis, das der junge Zeichner zu den historischen Zeilen entwickelt. Beardsley, der parallel zu seinen Zeichnungen für Popes Gedicht mit seiner eigenen Erzählung von Venus und Tannhäuser beschäftigt ist, erkennt in der poetischen Herangehensweise des Dichters die eigene literarische wie auch bildkünstlerische Ästhetik wieder. Das Prinzip der bildmäßigen Beschreibung ist sowohl der Sprache Popes als auch den Illustrationen Beardsleys eigen. Ich stütze diese These nicht zuletzt auf den richtungsweisenden Aufsatz von Jonathan Lamb mit dem Titel „The Rape of the Lock as Still Life“ (2007). Darin vergleicht Lamb die ästhetische Qualität von Popes Versen mit der von Stillleben des späten 17. Jahrhunderts. „There is a growing concentration on the surface of the thing and the surface of the work, as if nothing of any importance lay behind it.“ 84

Ebenso wie das barocke Stillleben seine eigene Oberfläche stetig betont und hinterfragt, scheint auch Popes Sprache im Lockenraub nichts anderes zu sein als die Beschreibung von Oberflächen; oder gar die Beschreibung von Bildern. Lamb verdeutlicht diese Gegenüberstellung anhand der zweiten Strophe, in der es zu Belindas Toilette beispielsweise heißt: „This Casket India’s glowing Gems unlocks, And all Arabia breathes from yonder Box. The Tortoise here and Elephant unite, Transform’d to Combs, the speckled and the white. Here Files of Pins extend their shining Rows, Puffs, Powders, Patches, Bibles, Billet-­doux.“ 85

Neben der offensichtlichen Parallelität von weiblicher Toilette und dem künstlerischen Akt des Malens, der an anderer Stelle noch näher zu beleuchten sein wird, spricht Lamb hier die buchstäblich ‚oberflächliche‘ Aufzählung Popes an: „Nothing in the cluster is differentiated by moral, economic or practical value, and no meaning is attached to the relation between indifferent objects. Bibles are flanked by patches and billets-­doux without archness. Like the rarities that are collected, as S­ haftesbury observed, for rarity’s sake, these various objects are gathered together for the sake of variety.“ 86 84 Lamb, Jonathan: The Rape of the Lock as Still Life. In: Blackwell, Mark (Hg.): The Secret Life of Things. Animals, Objects, and It-­Narratives in Eighteenth-­Century England. Lewisburg, PA 2007, S. 43 – 62, hier S. 44. 85 Pope, 1896, S. 7. 86 Lamb, 2007, S. 48.

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In seiner Beschreibung des Frisiertisches wird Pope zum Sammler von Dingen.87 Ich möchte ihn in d ­ iesem Sinne ähnlich verstanden wissen, wie Christoph Zeller es in seinem Aufsatz „Magisches Museum“ (2005) erst für Autoren der deutschen Romantik konstatiert. „Das Ordnen und Katalogisieren wird ihnen zum ästhetischen Spiel […]. Nicht das Gesammelte – denn die Objekte verweisen auf kein Jenseits mehr –, sondern das Sammeln gewinnt in der Literatur an Bedeutung, nämlich als Verweis auf das poetologische Verfahren.“ 88

Auch Beardsley versammelt in seiner Illustration derselben Toilettenszene (Abb. 35) etliche Details und Gegenstände zu einem kleinteiligen Ganzen. In der ekphrastischen Beschreibung 89 und im ebenso ekphrastischen Bild vollzieht sich der Akt des Sammelns, welcher vor allem die Rezeption des Rokoko im 19. Jahrhundert bestimmt, ebenso innerhalb der Bild/Text-­Fiktion, wie er beide auch ästhetisch widerspiegelt. Zeller versteht das literarische Sammeln als Reflexion auf das poetologische Verfahren. Ich möchte es ebenfalls als Reflexion des zeichnerischen Verfahrens bei Beardsley verstehen, der in seinen Illustrationen Popes metapoetischer Vorgehensweise bildlich entspricht.90 Autor und Illustrator gelingt es, die Sprache sehend und das Bild beredt zu gestalten, sodass sie sich medial und inhaltlich annähern. Damit kann Beardsley auch die große historische Distanz z­ wischen sich und Pope auflösen. Obwohl selbst Zeitgenosse künstlerischer Strömungen, die nach Reinheit und Unabhängigkeit des Bildes von der ­Sprache verlangen,91 positioniert er sich als Zeichner bewusst z­ wischen Literatur und Malerei, die den Diskurs des ut pictora poesis sonst bestimmen. Die grafische Linie und die dichte Bildkomposition gereichen ihm zur Annäherung an die der Sprache eigene Sukzession (in Wahrnehmung und Produktion), wobei der Illustrator dennoch nicht auf den simultanen Eindruck, den das Bild zunächst macht, verzichtet. 87 Zu Popes Annäherung an zeitgenössische Sammeldiskurse siehe: Benedict, Barbara M: Death and the Object. The Abuse of Things in The Rape of the Lock. In: Nichol, Donald W. (Hg.): Anniversary Essays on Alexander Pope’s The Rape of the Lock. Toronto 2016, S. 131 – 149. 88 Zeller, 2005, S. 75. 89 Lamb beschreibt Popes Gedicht ebenfalls eher als Ekphrasis denn als Narration. Vgl. Lamb, 2007, S. 52. 90 Es sei hierzu bemerkt, dass weder Pope noch Beardsley sich exakt der allgemeinen Vorstellung der Ekphrasis bedienen, wie sie Boehm und Pfotenhauer definieren: „Bilder und Sprache galten von alters her als verwandt. Die Bilder, so hieß es, brauchten die Sprache, um ihr Bedeutungspotential ganz zu entbinden; und die Sprache mußte, um ihrer Überzeugungskraft willen, anschaulich sein, mußte bildhaft die Phantasie anregen. Das stumme Bild und die blinde Sprache hatten im jeweils anderen Medium ihre Ergänzung. […] Der Name Ekphrasis stand für diese Gleichung von Bild und Wort, er meinte anschauliche Beschreibungen allgemein, später besonders die Beschreibung der Bilder.“ Boehm, Gottfried; Pfotenhauer, Helmut: Einleitung: Wege der Beschreibung. In: Dies. (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, S. 9 – 19, hier S. 9. 91 Vgl. Boehm, Gottfried: Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache. In: ebd., S. 23 – 40, hier S. 23.

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Das Prinzip der Ekphrasis ist ebenso konstitutiv für Beardsleys Projekt der Erzählung von Venus und Tannhäuser. Hierin plant er die finale Vereinigung von Text und Bild im eigenen Werk. Zeichnungen und Text scheinen sich darin stets gegenseitig zu beschreiben und es fällt schwer zu sagen, welches Medium den Ausganspunkt bildet. In Under the Hill gelingt somit die vollkommene Entsprechung von Illustration und Literatur, indem beide aufeinander bezogen sind und zusätzlich dieselbe Hand ‚pen‘ und ‚pencil‘ führt. Bei Pope und Beardsley erfolgt die Beschreibung oder Aufzählung (Sammlung) um ihrer selbst willen. Lamb folgend birgt Der Lockenraub ein ästhetizistisches Potenzial in sich, das Beardsleys Interesse am 18. Jahrhundert vollkommen entspricht. „All nature then becomes a toilette. The sky is a rotating prism or a paintbox; nature is a palette.“ 92

Indem der Autor stets die Oberfläche eines Bildes zu schildern scheint, wird sein Gedicht zum Ausdruck der Oberflächlichkeit; im medialen wie im sozialen Sinne. Letzteres stellt schließlich den satirischen Ausgangspunkt des Textes dar und korrespondiert mit der vermeintlichen ‚Oberflächlichkeit‘ der Sprache. Popes Narration gleicht dem Zeichenstift, der mit schnellen, dennoch eleganten Linien eine Komposition festhält, die bereits existiert. „Pope’s camera obscura works equally as a kaleidoscope or a magic lantern to the extent it reflects nothing that is not artificial, and what it composes is already the stuff of composition.“ 93

Wenn Popes Verse also die Kopie einer Kopie sind – die Ekphrasis von vergessenen ­Bildern –, sind Beardsleys ‚embroideries‘ möglicherweise wiederum die bildliche Umwandlung dieser Beschreibungen – die Kopie der Kopie der Kopie. Die malerische Sprache, ­welche in der écriture artiste der Goncourts gewissermaßen eine historische Anknüpfung erfährt, ist es also, die Beardsley dazu verleitet, seine Bilder so nah am Text zu orientieren, dass dies einigen Forschern als Verfall des sonst scheinbar so dialektischen Genies des Künstlers aufstößt. Da Beardsley jedoch eine solch große Übereinstimmung von seinen eigenen ästhetischen Ansprüchen mit denen in Popes Gedicht empfindet, entstehen keine Reibungspunkte, an denen die Illustration die Lyrik unterwandern, hinterfragen oder gar karikieren sollte. Beardsley geht sogar so weit, den Schöpfer des Gedichts in das Zentrum einer seiner Zeichnungen zu setzen. Mitten unter dem horror vacui aus fantastischen Gestalten der „Cave of Spleen“ (Abb. 20), die sich in einer aus Haaren bestehenden Höhle versammelt haben, schaut eine hagere Figur aus dem Bild heraus und fordert zum kontemplativen Dialog mit der hermetischen Szene auf. Mit einem hochgeschlossenen Pelz und einem Turban auf dem anscheinend haarlosen Schädel gibt sich Alexander Pope zu erkennen 92 Lamb, 2007, S. 55. 93 Ebd., S. 54.

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Abb. 20 Aubrey Beardsley: „The Cave of Spleen“, ca. 6. März 1896, schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,4 × 17,5 cm, Boston Museum of Fine Arts, MA.

wie er auf den berühmten Portraits von Godfrey Kneller oder William Hoare dargestellt ist.94 In diesen Bildnissen ist der kleinwüchsige und kränkliche Dichter mit einer ähnlichen Kopfbedeckung zu sehen und so in das kollektive Gedächtnis Englands e­ ingegangen. Nicht zuletzt Edmund Gosse beschreibt Pope mit eindringlichen Worten, die auch in Beardsleys Konzeption des Portraits eingegangen sein dürften: „Pope, with features carved as if in ivory and with the great melting eyes of an antelope, carried his brilliant head on a deformed and sickly body.“ 95

94 Vgl. ebd. Godfrey Kneller: „Alexander Pope“, 1722, Öl auf Leinwand, 73,6 × 61 cm, St. John’s College, University of Cambridge; William Hoare: „Alexander Pope“, um 1739, Pastell, 60,2 × 44,9 cm, National Portrait Gallery, London. 95 Gosse, 1889, S. 108.

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Die vermeintliche körperliche Deformiertheit macht ihn zum Teil des beardsleyschen Personals aus Versehrten, die dem kränklichen Künstler als Identifikationsfiguren dienen (Kap. 3). Zudem fällt bei der Auswahl seiner literarischen Grundlagen auf, dass der junge Zeichner eine Vorliebe für Autoren entwickelt, die sich durch malerische Qualitäten in ihrer Diktion auszeichnen. So sind Théophile Gautier und Oscar Wilde ebenso als Schriftsteller zu bezeichnen, die dem Bildmedium äußerst nahestehen. Gautier strebt sogar zunächst die Laufbahn des Malers an und in Wildes wohl bekanntestem Werk, The Picture of Dorian Gray (1891), steht das malerische Werk im Mittelpunkt der gesamten Erzählung. Somit ist eines der Hauptwerke in Beardsleys Œuvre eben kein Qualitätsverlust in Sachen subversiver Bildsprache, sondern vielmehr eine intensive ästhetische, theoretische, inhaltliche und historische Auseinandersetzung mit der literarischen Grundlage. Zeichnerisch befindet sich der Künstler auf dem Höhepunkt seines Könnens und vermag es, die restriktive Technik der Strichätzung für detailreiche und kleinteilige Kompositionen auszunutzen. Die historische Disposition von Popes Rape of the Lock erlaubt es Beardsley, sich nicht nur mit dem Einzelwerk des englischen Dichters zu befassen, sondern auch der Illustration des 18. Jahrhunderts einen modernen Kontrapunkt zu geben. Die historisierenden Elemente verweisen auf eine Identifikation mit einem Zeitalter, welches die Buchkunst zu neuen Höhen beförderte und den kulturellen Austausch über druckgrafische Erzeugnisse beflügelte. Gleichzeitig stellt der junge Illustrator heraus, dass er sich der instabilen Position seines Mediums ­zwischen Kunst und Kunstgewerbe, z­ wischen freier und dienender Funktion, z­ wischen Exklusivität und Massenware durchaus bewusst ist. Die Bezeichnung von Illustrationen als ‚embroideries‘ führt dabei zu der Fragestellung im Rezipienten, wie er den Stellenwert des Parergons gegenüber dem Text einordnen kann. Beardsleys Bilder präsentieren sich gleichzeitig als Schmuck und als Ergänzung eines Textes und stehen so in einer engen Verwandtschaft zu den Vorbildern des 18. Jahrhunderts mit der zusätzlichen Komponente einer distinguierten Selbstreflexion.

6 Aubrey Beardsley und die Motivik des 18. Jahrhunderts

Selbstreflexion ist auch der bedeutendste Anlass für Beardsleys Wahl von wiederkehrenden Figuren in seinen Bildern. Die folgenden Abschnitte der Arbeit widmen sich solchen Motiven und Ikonografien, die der Zeichner dem 18. Jahrhundert entlehnt. Dabei stellen sich einzelne Charaktere, wie der Pierrot, der Coiffeur und der Androgyn als Identifikationsfiguren Beardsleys heraus, die der Künstler nutzt, um sich entweder als Gestalt des zeitgenössischen Interesses – insbesondere der Presse – zu inszenieren oder seine eigene Ästhetik als Illustrator z­ wischen artifizieller Kunstschöpfung und Gebrauchsgrafik auszuloten. Dabei ist es erneut eines der Anliegen dieser Arbeit zu zeigen, inwiefern sich Beardsleys Vorgehensweise in die Traditionen der Kunstgeschichte integrieren lässt oder sich ihnen widersetzt. Bereits in der Antike und im Mittelalter bilden sich Motive heraus, die dem Künstler dienen, sein eigenes Schaffen oder den persönlichen Status im Bild zu thematisieren. Während antike Maler und Bildhauer sich an mythologischen Vorbildern, wie Prometheus oder Pygmalion, abarbeiten, werden vor allem die griechisch-­antiken Künstler spätestens im Zuge der Renaissance alsbald selbst zu Identifikationsfiguren der frühneuzeitlichen Schöpfer von Bildwerken. Apelles oder Zeuxis stehen hierbei immer wieder Pate für die Selbstreflexion über die Qualität der eigenen Schöpfung oder über die Auseinandersetzung mit „Neid und Unwissenheit“ von Seiten der sich herausbildenden Kunstkritik.1 Die antiken Vorbilder werden im Zuge dessen nicht nur als Legitimationstopoi des Künstlers angewandt, sie lassen sich mit den sie umgebenden Legenden ebenfalls in stets neu verhandelte Wettstreite innerhalb der Künste einbetten. Da werden die Trauben des Zeuxis oder der Vorhang des Parrhasios zu wiederholt aufgeführten Argumenten für die illusionistische Qualität der Malerei, die damit der Skulptur in nichts nachstehe.2 Sei es diese Art, im frühneuzeitlichen Paragone bildimplizit Stellung zu beziehen oder später in der Debatte z­ wischen Rubenisten und Poussinisten, die bis in das 18. Jahrhundert ­hinein 1

2

Vgl. Lecoq, Anne-­Marie: Götter, Helden und Künstler in den Griechischen Schriften und ihr Fortdauern im Zeitalter der Akademien. In: Ausst.-Kat.: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. München, Haus der Kunst, 2002, S. 52 – 69, hier S. 59; Pigler, Andor: Neid und Unwissenheit als Widersacher der Kunst. Ikonographische Beiträge zur Geschichte der Kunstakademien. In: Acta Historiae Artium. Academiae Scientiarum Hungaricae 1, 1954, S. 215 – 235, hier S. 216. Auf theologischer Ebene wären hier außerdem die Identifikationen von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Künstlern mit dem Madonnenmaler, dem Hl. Lukas oder dem Hl. Nikodemus bei der Grablegung zu nennen. Siehe hierzu: Sander, Jochen: Gott als Künstler: der Künstler als Heiliger Lukas. Künstlerische Selbstreflexion und Künstlerselbstbildnis im Kontext christlicher ­Ikonographie. In: Ausst.-Kat.: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. München Haus der Kunst, 2002, S. 70 – 81; Schleif, Corine: Nicodemus and Sculptors: Self-­Reflexivity in Works by Adam Kraft and Tilman Riemenschneider. In: The Art Bulletin 4, 1993, S. 599 – 626.

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reicht, der Farbe oder der Umrisszeichnung ein piktorales Denkmal zu setzen: immer wieder zeichnet sich die Kunstgeschichte durch die Umsetzung von sonst schriftlich manifestierter Kunsttheorie in Bildern selbst aus. Matthias Winner hat sich zu dieser Praxis bereits mehrfach in Aufsätzen geäußert und konnte dabei unterschiedlichste Traditionen der künstlerischen und ästhetischen Selbstreflexion innerhalb des Werkes herausstellen.3 Doch gelangen seine Ausführungen stets dann an eine Grenze, wenn sich Winner der beginnenden Moderne zuwendet. Zwar widmet sich sein berühmter Aufsatz von 1962 dem Atelierbild von Courbet (1854/55), doch bleibt es bei dem Beispiel bei einem Anlass zur ausführlichen Schilderung frühneuzeitlicher Topoi der bildimpliziten Kunsttheorie, wie ich sie oben kurz andeuten konnte. Und so kann Winner am Ende seines Aufsatzes lediglich Ratlosigkeit als vermittelnde Instanz z­ wischen Betrachtenden und Bild im Falle Courbets konstatieren. „Den Malern ist seither das Nachdenken über ihre Kunst mit dem Wort geblieben, der Malerei selbst aber war fortan ­dieses Vermögen verloren. […] die Malerei […] kann nicht mehr durch sich selbst dem Vestande sagen, was sie eigentlich sei. Malerei selbst ward uns zum Rätsel, fremd im Begriff wie der einer ‚Allégorie réelle‘.“ 4

Auch im Vorwort zu einem Sammelband zum Thema fasst Winner nach umfangreichen Ausführungen zur gemalten Kunsttheorie im Mittelalter und der Frühen Neuzeit die Moderne auf einer halben Seite zusammen. „Der Ruf nach individuell künstlerischem Selbstbewußtsein zielte seit dem Klassizismus auf den Abbau der tradierten ästhetischen Werte, damit Kunst um ihrer selbst willen hergestellt werden könnte. […] Die abstrakte Malerei hat manifest gemacht, daß jedes Werk von sich selbst spricht und notfalls von dem, der es herstellt.“ 5

Es stellt sich daher als offenbar problematisch heraus, sich mit tradierten Begriffen der künstlerischen Selbstreflexion an der Schwelle zur Moderne zu nähern. Das Atelierbild hat uns nicht mehr dasselbe zu sagen, wie noch in der Renaissance und auch das Künstler­ selbstbildnis, sei es als Konterfei oder Kryptoportrait, scheint immer weniger eine konkrete Kunsttheorie zu verbildlichen, als es die seelische Befindlichkeit seines Schöpfers studiert und inszeniert.6

3

Vgl. Winner, Matthias: Gemalte Kunsttheorie. Zu Gustave Courbets ‚Allégorie réelle‘ und der Tradition. In: Jahrbuch der Berliner Museen, Bd. IV. 1962, S. 150 – 185; Winner, Matthias: Ein Wort zuvor. In: Ders. (Hg.): Der Künstler über sich in seinem Werk. Internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana Rom 1989. Weinheim 1992, S. 1 – 18. 4 Winner, 1962, S. 185. 5 Winner, 1992, S. 10. 6 Vgl. Pfisterer, Ulrich; Rosen, Valeska von: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 2005, S. 11 – 23, hier S. 16.

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Mit den in dieser Arbeit analysierten Zeichnungen aus Aubrey Beardsleys Œuvre sehe ich die von Winner angedeutete Problematik verkörpert. Am Ende des 19. Jahrhunderts setzt sich der junge Illustrator zwar ebenfalls wiederholt mit den Möglichkeiten auseinander, das Kunstwerk zur Manifestation des eigenen Kunstwollens und des eigenen Selbstverständnisses zu machen, aber er nutzt dabei nicht nur die von Winner dargelegten Mittel des Selbstportraits, des Atelierbildes oder der tradierten Künstleridentifikations­ figuren. Beardsley trifft in seinen Zeichnungen vor allem insofern Aussagen über sich und seine Ästhetik, als er sich auf teils ungewöhnliche Quellen in Schrift und Bild beruft. In der künstlerischen Aneignung, der Rezeption, liegt seine bildimplizite Kunsttheorie verborgen. Dies soll in den folgenden Kapiteln anhand mehrerer Beispiele erläutert werden. Christoph Zuschlag hat bereits auf die Rezeption tradierter kunsthistorischer Vorlagen hingewiesen, die in der klassischen Moderne und Postmoderne zur Selbstreflexion und zu Metaaussagen über das eigene Kunstwollen dienen.7 Beardsley befindet sich mit seinem Vorgehen also am Beginn einer solchen Neuorientierung in der Nutzbarmachung von künstlerischen Quellen im 20. Jahrhundert. Zunächst werde ich einzelne Motivgruppen anhand ausgewählter Beispiele und in Hinblick auf kunsthistorische bzw. kulturelle Vorbilder analysieren. Dabei zeigt sich, wie Beardsley unterschiedlichste Anleihen in sein Werk integriert und synthetisiert, sodass die Grenzen ­zwischen Hoch- und Populärkunst oftmals verschwimmen. Im Pierrot erscheint zunächst Beardsleys gemeinhin bekanntes Alter Ego im weißen Kostüm. Als Gestalt sowohl des höfischen Ancien Régime als auch des Theaters im 19. Jahrhundert kann der Künstler unter dieser Figur seine Außenwirkung als fragile, kränkliche Gestalt ebenso zelebrieren wie auch seine gewählte Außenseiterposition als Vertreter des Decadent Movement. Es folgen die Szenen am Frisiertisch, die Beardsley wiederholt als Referenz zum Themenkanon der Bildkünste des 18. Jahrhunderts bearbeitet. Artifizielles Kunstwollen des Ästhetizismus sowie die dekadente Aura des horror vacui aus Haaren, Parfum und Puder ­werden in diesen Bildern mit dem Kontext des Rokoko neu bewertet. Im Zuge dessen wird sich der Friseur als eine völlig neue Identifikationsfigur Beardsleys herausstellen, wie sie bisher noch nicht bewertet worden ist. Während der Pierrot ein im 19. Jahrhundert weit verbreiteter Typus ist, dem sich zahlreiche Künstler und Literaten nahe fühlen und den sie in ihren Werken huldigen, dürfte der Coiffeur eine Erweiterung des romantischen Kanons aus Identifikationsfiguren darstellen. Am Ende d ­ ieses Hauptteils meiner Arbeit nähere ich mich dem Bereich von Verkleidung bzw. Travestie und Androgynität bei Beardsley. Sowohl für die Selbstinszenierung als Kunstfigur als auch für die ästhetische Verortung spielen diese Motive eine bedeutende Rolle in der Bilderwelt des Illustrators. Die normativen Geschlechtereinteilungen der vikto­rianischen Gesellschaft werden insbesondere in den Zeichnungen zu Gautiers Mademoiselle de Maupin ebenso hinterfragt wie die akademische Forderung nach ­Eindeutigkeit

7 Vgl. Zuschlag, 2002.

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in der Interpretation von Kunstwerken. Beardsleys groteske Sujets und Formenfindungen verschließen sich d ­ iesem Postulat und finden im Androgyn ihren vollendeten Ausdruck. Wie auch die anderen in ­diesem Abschnitt behandelten ­Themen sollen Travestie und Androgynität von der Warte des 18. Jahrhunderts aus hergeleitet und auf Beardsleys Werk angewendet werden. Von dieser Herangehensweise verspreche ich mir neue und vor allem kontextuell tiefergehende Interpretationen seiner Zeichnungen, als dies in den bisherigen Analysen der Forschungsliteratur der Fall gewesen ist.

6.1 Aubrey Beardsley in Pierrots Bibliothek Pierrot stirbt. Tief eingesunken verschwindet die fragile Gestalt fast ­zwischen voluminöser Bettdecke und Kopfkissen (Abb. 21). Einzig sein Kopf und ein schlaff herunterhängendes Händchen schauen gerade noch sichtbar am linken Bildrand hervor. Sein Bühnenkostüm hat er auf einem Stuhl im Vordergrund abgelegt, die beschleiften Schuhe ordentlich daneben platziert. Dennoch gemahnt auch das Nachthemd mit Rüschenkragen und -ärmeln sowie die Kappe am Hinterkopf an den traurigen Clown; der seine Wurzeln in der Commedia dell’arte hat und seitdem so manchen kulturellen Wandel begleitet. Aubrey Beardsley fertigt diese Zeichnung für die sechste Ausgabe des Savoy an. „The Death of Pierrot“ wird darin von einem ­kurzen Text des Künstlers begleitet: „As the dawn broke, Pierrot fell into his last sleep. Then upon tip-­toe, silently up the stairs, came the comedians Arlecchino, Pantaleone, il Dottore, and Columbina, who with much love carried away upon their shoulders, the white frocked clown of Bergamo; whither, we know not.“ 8

Spätestens der beigegebene Text klärt darüber auf, wer die weiteren Personen auf dem Bild sind. Beardsleys schriftliche Rahmenhandlung lässt die Zeichnung als einen Ausschnitt aus einem Bühnengeschehen erscheinen, dessen Ausgang der Künstler andeutet. Nach dem Tod Pierrots folgt dessen Grabtragung. Die Parallelität zur Passion Christi wird durch das Zusammenspiel von Bild und Text augenfällig. Die anderen Protagonisten der Commedia dell’arte werden dem sterbenden Helden zur Seite gestellt, wobei sie auf Zehenspitzen in das Zimmer des Kranken eintreten. Columbina und Arlecchino (wie sie bei Beardsley bezeichnet werden) halten nochmals inne, bevor sie sich Pierrot zuwenden, und gebieten mit dem Finger an den Lippen auch dem imaginierten Publikum Schweigen in Anbetracht des Todes. Dennoch entbehren das akzentuierte Gehen auf Zehenspitzen und die auffälligen Bühnenkostüme der Besucher nicht einer gewissen Komik, ­welche Janina Forell in ihrer Dissertation über „Pierrot und Harlekin“ gar als skurrile Farce abtut.9 8 Beardsley, Aubrey: The Death of Pierrot. In: The Savoy 6, 1896, S. 32. 9 Vgl. Forell, 1983, S. 113 – 115.

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Abb. 21 Aubrey Beardsley: „The Death of Pierrot“, Juli 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,5 × 17,4 cm, Kunsthalle Bremen, Kupferstichkabinett.

Pierrot als Symbolfigur des leidenden, missverstandenen und somit außenstehenden Künstlers ist ein Topos des gesamten 19. Jahrhunderts und wird in unterschiedlichsten Ausformungen variiert. Ausgangspunkt für diese Identifikation ist dabei nicht zuletzt die Rezeption von Watteaus berühmtem Gemälde Pierrot, genannt Gilles (1718/19) (Abb. 22), welches sich seit 1869 im Pariser Musée du Louvre befindet. Auch d ­ ieses wird konsequenterweise in der Forschung als „Paraphrase auf die christliche Leidensgestalt“ 10 aufgefasst und mit „Ecce Homo“-Darstellungen verglichen. Exponiert, geradezu angreifbar, steht Gilles in voller Größe vor dem Ausstellungspublikum. Unsicher scheint er nicht recht zu wissen, wohin mit seinen unbeschäftigten Händen, die etwas ungelenk vor seinem Körper herabhängen. In seinen neutralen Gesichtsausdruck wurde Melancholie oder auch Träumerei hineingelesen. Diese emotionale Unbestimmtheit oder sogar Selbstbeherrschung stellt bereits George Boas in einem Aufsatz zum 1959 erschienenen Ausstellungkatalog des 10 Kellein, Thomas: Ausst.-Kat.: Pierrot. Melancholie und Maske. München, Haus der Kunst, 1995, S. 42.

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Abb. 22 Jean-­Antoine Watteau: „Pierrot, genannt Gilles“, 1718/19, Öl auf Leinwand, 184,5 × 149 cm, Musée du Louvre, Paris.

Baltimore Museum of Art zur Kunst des Rokoko als ein entscheidendes Charakteristikum der Ästhetik des 18. Jahrhunderts heraus.11 Auch für die Sichtweise auf Pierrot im fin de siècle und bei Beardsley ist diese Absage an die theatralen Affekte des Barock ein wichtiger Reiz an der Kunst des französischen Rokoko. So beschreibt Arthur Symons Pierrots emotionale Kontrolle in Bezug auf Beardsley wie folgt: „Pierrot is passionate: but he does not believe in great passions. […] He knows that his face is powdered, and if he sobs, it is without tears; and it is hard to distinguish, under the chalk, if the grimace which twists his mouth awry is more laughter or mockery.“ 12

11 Boas, George: Intellectual Currents of the Eighteenth Century. In: Ausst.-Kat.: Age of Elegance. The Rococo and its Effect. Baltimore Museum of Art, 1959, S. 13 – 16, hier S. 16. 12 Symons, 1918, S. 28. Symons beobachtet zusätzlich Beardsleys „clear, unemotional intellect“, der sich mit der „gaminerie“ Pierrots paart; vgl. ebd., S. 24.

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In der Folge werden auch Beardsleys Pierrots in der Tradition eines solchen Weinens ohne Tränen und stillen Lächelns zu sehen sein, womit sie sich ebenfalls in die kontrollierte Ästhetik des Engländers einfügen. In Watteaus Gemälde sind die weiteren Figuren der comédie italienne und ein Esel in einer Art Orchestergraben zu Füßen Gilles’ angesiedelt. Der Maler zeigt also ebenfalls ein imaginiertes Geschehen auf einer Theaterbühne. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Watteau auf kein konkretes, existierendes Stück Bezug nimmt. Dies führt in der Auseinandersetzung seit der Wiederentdeckung des Gemäldes im frühen 19. Jahrhundert dazu, dass dem Gedanken an ein Kryptoportrait Watteaus als Pierrot schwerlich zu widerstehen ist.13 Die Ähnlichkeit der Gesichtszüge und der beide Male vorhandene Rüschenkragen im Vergleich mit einem druckgrafisch überlieferten Selbstportrait des Künstlers ließen sich nur zu gut in diese Interpretation fügen.14 Pierrot hat seinen Ursprung, zumindest dem Kostüm nach, in der „Possenfigur ­Pagliaccio“, die gleichfalls ein viel zu großes, weißes Gewand mit Rüschenkragen und zu ­kurzen Hosenbeinen trägt.15 In Frankreich etabliert sich in der Folge der europaweiten Verbreitung von Commedia dell’arte-­Gruppen im 16. und 17. Jahrhundert der sogenannte Pedrolino, welcher spätestens in Molières 1665 im Palais Royal uraufgeführten Dom Juan ou le festin de pierre als Pierrot eingebürgert wird.16 Molière bezieht sich in d ­ iesem Stück mehrfach auf Figuren und Erzählmuster der nach der Commedia dell’arte in Frankreich etablierten comédie italienne. Jedoch ist bei ihm Pierrot allein, ohne Harlekin oder andere Begleitfiguren, der dumme, hilflose Bauer.17 Damit verweist Molière auf die ursprüngliche Rolle Pierrots als Gegenspieler des gewitzten „primo servo“ Harlekin,18 wobei ersterer zumeist im Kampf um die Liebe der schönen Colombine den Kürzeren zieht. Molières Komödie spielt auch für das Werk Aubrey Beardsleys eine wichtige Rolle. So fertigt er eine Illustration zu Molières Stück an, die im Dezember 1896 in der achten und letzten Ausgabe des Savoy erscheint (Abb. 23). Brian Reade macht darauf aufmerksam, dass die beiden Figuren auf der linken Bildseite auf Watteaus Gemälde La comédie italienne (um 1717) zurückgehen (Abb. 24).19 Selbst wenn Beardsley nicht das Original gesehen hat, so kennt er in jedem Fall die Reproduktion von d ­ iesem und anderen Werken Watteaus, zum Beispiel aus dem ebenfalls 1896 erschienenen Buch des Deutschen Adolf ­Rosenberg. ­Beardsley schreibt in einem Brief an André Raffalovich,

13 Vgl. Forell, 1983, S. 18. 14 Vgl. Louis Crépy nach Jean-­Antoine Watteau: „Portrait de Watteau“, 1727, Kupferstich auf Papier, 15,2 × 12,1 cm, Bibliothèque nationale de France, Paris. 15 Vgl. Forell, 1983, S. III. 16 Vgl. Kellein, 1995, S. 13. 17 Vgl. ebd., S. 16 und S. 27. 18 Vgl. Forell, 1983, S. III. 19 Vgl. Reade, 1966, S. 358.

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Abb. 23 Aubrey Beardsley: „Don Juan, Sganarelle, and the Beggar“, um 3. Oktober 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 20,8 × 12,3 cm, Harvard Art Museum/ Fogg Museum, Cambridge, MA.

dass er sich sehr freue, diese ­Publikation in Händen halten zu können.20 Während im Berliner Gemälde allerdings ein Mezzetin die Fackel zur Beleuchtung des zentralen Bildgeschehens hält, ist es bei Beardsley ein Pierrot, der lediglich eine Münze in der flachen Hand darbietet. Aus dem libertinen Helden und Schwerenöter Don Juan ist in dieser Zeichnung ein Pierrottypus geworden. Wie so oft ist die Kenntnis der Textgrundlage unerlässlich für das Verständnis von Beardsleys Bildern. Es wird nicht zuletzt aus seinen Korrespondenzen mit Leonard Smithers deutlich, dass der Illustrator hier die 2. Szene des 3. Akts aus Molières Komödie darstellt,21 in der Don Juan und sein treuer Diener Sganarelle sich als Bauer und Arzt (Pierrot und il Dottore) verkleiden, um dem Ärger, der aus Don Juans zahlreichen Liebschaften entstand, zu entwischen. Dabei begegnen sie einem Bettler, den sie nach dem 20 Vgl. Letters, 1990, S. 232. Aubrey Beardsley an André Raffalovich, ca. 24. Dezember 1896, Pier View, Boscombe. 21 Vgl. ebd., S. 176. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 3. Oktober 1869, Pier View, Boscombe.

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Abb. 24 Jean-­Antoine Watteau: „La comédie italienne“, um 1717, Öl auf Leinwand, 37 × 48 cm, Gemäldegalerie, Berlin.

Weg fragen. Don Juan bietet ihm ein Goldstück, wenn er dafür etwas G ­ otteslästerliches sage, was der fromme Mann jedoch ausschlägt. Don Juan gibt ihm dennoch das Geld, wie er sagt, ‚aus Menschlichkeit‘.22 Obwohl Beardsley hier, wie so oft, auf den watteauesken Pierrottypus mit zarten Gesichtszügen, weiter Kleidung, beschleiften Schuhen und großkrempigen Hut zurückgreift, macht er dennoch kenntlich, dass es sich bei Molières Pierrot nicht um einen höfischen Spaßmacher im Seidenkostüm handelt, sondern um einen Aristokraten in bäuerlicher Verkleidung. Nicht nur die Arroganz in Haltung und Gesichtsausdruck weisen darauf hin. Zusätzlich wird Don Juans Gewand mit gezackten, soll heißen, pseudo-­zerfetzten Säumen dargestellt, was den Maskierungscharakter der Szene in der wenig überzeugenden Verkleidung als ländlicher Diener bewusst unterstreicht. Das Vorbild Watteau ist für Beardsleys Pierrot-­Darstellungen stets gegenwärtig. Das Werk des Franzosen ist wie kaum ein zweites mit dem Kosmos der comédie italienne verbunden und bis heute ist die Vorstellung von den unterschiedlichen Charakteren durch Watteaus Gemälde geprägt. In der Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, ob der Maler die Schauspieler überhaupt jemals während konkreter Inszenierungen zeigt. Vielmehr verortet Watteau seine Pierrots, Harlekins und Mezzetins in arkadischen Wäldern, inmitten einer höfischen Gesellschaft oder ganz unter sich, dies nicht selten mit erotischen Anspielungen gespickt. Letzteres geschieht nicht ohne Grund, geht es doch in der Commedia dell’arte um nichts anderes als das Treiben verliebter Paare, wie sie zueinander finden und

22 Vgl. Molière: Don Juan. Komödie in fünf Akten. Übers. von Arthur Luther, Stuttgart 2004, S. 34 f.

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durch das gewitzte Spiel der Diener und Alten wieder auseinander gebracht werden.23 Auch Beardsley erlaubt sich, das Theatervolk der Commedia von der Bühne in Interieurs oder Landschaften zu versetzen und damit Pierrot aus seiner reinen schauspielerischen Existenz zu entheben und inhaltlich neu zu verorten. Watteau ist zunächst Zeuge, wie die italienischen Schauspieler 1697 des französischen Hofes verwiesen werden. Dies geschieht durch den Wunsch Madame de Maintenons, der ­Maitresse des im Alter frömmelnden König Ludwigs XIV.24 Während dieser Verbannung aus Paris, die bis nach dem Tod des Sonnenkönigs (1715) andauern soll, wandelt sich P ­ ierrot auf den Bretterbühnen der Vorstädte und Dörfer zum „heimatlosen Pantomimen und gesellschaftlichen Niemand“,25 wie es Thomas Kellein im Ausstellungskatalog „Pierrot. Melancholie und Maske“ ausdrückt. Die stumme Darstellung auf der Bühne entwickelt sich gewissermaßen aus der Not heraus. Bereits nach dem Tod Maria de’ Medicis (1642) gab es kaum mehr Publikum für die derben Scherze in italienischer Sprache. Nachdem man versucht hat, die eigentlich improvisierten Stücke ins Französische zu übertragen, geht der ursprüngliche spontane Wortwitz oftmals verloren, weshalb viele Gruppen auf teilweise pantomimische Inszenierungen zurückgreifen.26 Die Körpersprache wird insbesondere für Pierrot zum wichtigsten Ausdrucksmittel. So ist auch das vermeintliche Nichtstun in Watteaus berühmtem Gilles im Laufe der Jahrzehnte mit Bedeutung aufgeladen worden und ließe sich wohl auch heute nicht zur Gänze erschließen. Der Reiz ­dieses Gemäldes liegt daher trotz mannigfaltiger wissenschaftlicher Auseinandersetzung in seiner inhaltlichen Verschlossenheit und damit immensen Sinnoffenheit, die für Künstler wie Aubrey Beardsley Auslöser für eine differenzierte Rezeption ist. Am deutlichsten wird Beardsleys Rückgriff auf Watteaus Figur wohl in seinem Frontispiz zu Ernest Dowsons Einakter The Pierrot of the Minute, der 1897 von Leonard ­Smithers herausgegeben wird (Abb. 25). Darin wandelt ein Pierrot durch den Garten des Petit Trianon (einst Wohnsitz von Madame de Pompadour und später Marie Antoinettes), wo er am Temple de l’amour einer Cupido-­Statue weiße Lilien opfert. Danach fällt er in einen sanften Schlummer, aus dem ihn „the Moon Maiden“ erweckt oder ihm im Traum erscheint. Für die kurze Dauer der Nacht begegnet dem melancholischen Helden so die große, wenn auch flüchtige Liebe. Ernest Dowson paraphrasiert in d ­ iesem Stück gleichsam seine eigene tragische Biografie und sein traumwandlerisches Wesen, wie es Arthur Symons wenig später beschreiben soll:

23 Vgl. Forell, 1983, S. II.; Dick, Kay: Pierrot. London 1960, S. 24. 24 Vgl. Theile, Wolfgang: Commedia dell’arte. Stegreiftheater in Italien und Frankreich. In: Ders. (Hg.): Commedia dell’arte. Geschichte – ­Theorie – Praxis. Wiesbaden 1997, S. 45 – 60, hier S. 49. 25 Kellein, 1995, S. 31. 26 Vgl. ebd., S. 29.

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Abb. 25 Aubrey Beardsley: Frontispiz zu Ernest Dowsons „The Pierrot of the Minute“, 6. – 8. November 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 21,6 × 11,7 cm, Rosenwald Collection, Library of Congress, Washington.

„It was, indeed, almost a literal unconsciousness, as of one who leads two lives, severed from one another as completely as sleep is from waking.“ 27

Dowsons Leben ist, ähnlich wie Pierrots tragische Erfahrung, geprägt von unerfüllter Liebe zu einer skandalös jungen polnischen Kellnerin, die schon beim ersten Treffen einem anderen versprochen ist.28 Sowohl als persönliche Erfahrung wie auch als romantischer Topos geht das Kindheitsideal der Dekadenz stark in die Genese des Pierrot of the Minute ein. Laut Hildegard Feinendegen ist das Stück zusammen mit seinen Illustrationen eine Manifestation „der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit durch das Verrinnen der m ­ enschlichen

27 Symons, Arthur: Introduction. In: Lane, John (Hg.): The Poems of Ernest Dowson. New York 1917, S. V–XXIX, hier S. XX. 28 Vgl. Condé, Alice: Sensory Nullification in the Poetry of Ernest Dowson. In: Desmarais, Jane; Condé, Alice (Hg.): Decadence and the Senses. Cambridge 2017, S. 200 – 218, hier S. 201.

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Zeit, besonders der glücklichen Zeit der Kindheit“ und damit ein Ausdruck spätviktorianischer „Sehnsucht nach Kleinheit und Überschaubarkeit“.29 Der Dichter verbringt den größten Teil seines ­kurzen, exzessiven Lebens in Frankreich, was sein überaus frankophil zu nennendes Werk ebenfalls in entscheidendem Maße beeinflusst. Neben seiner Tätigkeit als Poet wird Dowson immer wieder für die Übersetzung französischer Literatur ins Englische herangezogen (Kap. 4). Ästhetisch zeichnen sich seine Gedichte und Prosastücke laut Alice Condé durch „sensory nullification“ aus, wobei dekadenter Masochismus und Ausschweifung ersetzt werden durch absolute Unterlassung und Verweigerung sinnlicher Erfahrungen.30 Beardsleys Verhältnis zu Dowson geht aus seinen Briefen als ein eher gespaltenes hervor. So schreibt er in einem Brief an André Raffalovich etwa: „I have just made rather a pretty set of drawings for a foolish playlet of Ernest Dowson’s.“ 31 Es wird nicht ganz deutlich, ob es sich bei dieser Ausdrucksweise um eine ironische Neckerei handelt oder um eine ernst gemeinte Kritik. Dennoch scheint Beardsley mit Begeisterung ans Werk zu gehen, interessiert er sich doch ebenfalls für die Pierrot-­Ikonografie, die nicht zuletzt Autor wie auch Illustrator als Folie zur Selbstverortung vor dem bibliophilen Publikum dient. Während Dowson in seiner Rolle als Pierrot allerdings vordergründig persönliche Kämpfe austrägt, nutzt Beardsley die Figur immer wieder zur künstlerischen Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit der Kritik. So verwundert es auch kaum, dass Ken Ireland konstatiert, Beardsleys Bilder zu ­Dowsons Einakter würden den Text geradezu untergraben.32 Lediglich das Frontispiz, welches zugleich die erste Szene des Stückes darstellt, „conveys something of the play’s lyricism.“ 33 Dies soll indes nicht der einzige Grund sein, sich ­diesem Blatt genauer zu widmen. Pierrot betritt den Parc du Petit Trianon und legt vor der Statue Amors einen Strauß Lilien ab. Bei Beardsley steht der Held des Einakters indes neben einer halb vom Gebüsch verdeckten Skulptur und hält die Lilien, die hinter seinem weiten Kostüm verschwinden, noch in der Hand. Er richtet seinen Blick weniger auf die Gottheit, der er sein Blumenopfer darbringen will, sondern schaut aus dem Bildraum heraus. Er hat sich leicht aus seiner Mitte gedreht und wendet sich von der Statue am rechten Bildrand ab. Es ist schwer zu bestimmen, ob sich der Blick Pierrots auf sein Publikum oder nach innen richtet. Für letzteres würde die Textgrundlage sprechen, in der sich der Protagonist wiederholt die existentielle Frage stellt: „Why am I here, and why am I Pierrot?“ 34 Geradezu Einhalt gebietend streckt der marmorne Putto die Hand aus dem Gebüsch hervor und macht abermals auf die Hauptfigur des Bildes aufmerksam. Allerdings ist 29 Feinendegen, 2002, S. 127. 30 Vgl. Condé, 2017, S. 208. 31 Letters, 1990, S. 205. Aubrey Beardsley an André Raffalovich, 17. November 1896, Pier View, Boscombe. 32 Vgl. Ireland, 2006, S. 34. 33 Ebd., S. 35. 34 Dowson, Ernest: The Pierrot of the Minute: A Dramatic Fantasy in One Act. London 1897, S. 13.

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die halb verdeckte Statue nicht die Skulptur, ­welche sich im eigentlichen Parc du Petit Trianon im Zentrum des Temple de l’amour befindet. Eigentlich würde Dowsons Pierrot dort Edmé Bouchardons Amor (1750) begegnen, der sich gerade einen Pfeil aus ­Herkules Keule schnitzt. Beardsley entscheidet sich jedoch für einen weit kindlicheren Typus. Dieser gemahnt an Étienne-­Maurice Falconets (1716 – 1791) berühmtes Werk L’Amour ménaҫant (1757) (Abb. 26), welches Cupido zwar mit dem Finger an den Lippen zeigt, die Stellung der Beine und die Sitzhaltung erinnern bei Beardsley dennoch stark an das französische Vorbild.35 Trotz eines eindeutigen Textbezuges in ­diesem Frontispiz emanzipiert Beardsley sein Bild somit von der literarischen Grundlage. Anstelle eines Gartenportraits, das den Temple de l’amour mit Bouchardons Skulptur zeigen sollte, entscheidet sich der Illustrator, wie so oft, für die bloße Allusion. Beardsley fordert von seinen Rezipienten die Kenntnis der unterschiedlichsten Kunstwerke, damit seine Zeichnungen um eine weitere inhaltliche Dimension erweitert werden. So nimmt er hier Bezug auf ein Werk, das der gebildeten Käuferschaft solcher Ausgaben durchaus geläufig ist. Möglicherweise empfindet Beardsley den kraftstrotzenden und spielerischen Amor Bouchardons als zu vital und sinnlich für Dowsons Stück und tendiert so zu der zwar immer noch lieblichen, aber doch melancholischen Putto-­Statuette in der Tradition Falconets. L’Amour ménaҫant präsentiert die Liebe als großes Geheimnis des Lebens und den Liebesgott als den willkürlichen Gebieter über des Liebenden Schicksal. Dies verdeutlicht besonders das eingemeißelte Voltaire-­Zitat am Sockel der Originalskulptur im Rijksmuseum: „Qui que tu sois, voici ton maitre – Il l’est, le fut ou le doit être“ (Wer immer du bist, hier ist dein Gebieter – Er ist es, war es oder muss es sein).36 Vor allem aber stellt Falconets Amor ein Spiel z­ wischen Sehen und Verbergen, ­zwischen Wissen und Geheimnis dar, wie dies Satish Padigar in seinem Aufsatz über die Skulptur herausarbeitet.37 Erst beim Umschreiten der Skulptur erschließen sich deren Bedeutungsschichten. Amor verwandelt sich derweil von einem melancho­ lischen Gebieter der Liebe in einen kecken Jüngling, der in den Betrachtenden Komplizen sucht. Dieser wird in das Geheimnis der hinter dem Rücken gezückten Liebespfeile eingeweiht und zum Stillschweigen verurteilt. Ähnlich wie in Fragonards berühmter „Schaukel“ (1767/68), w ­ elche sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Londoner ­Wallace Collection befindet 38 und die wohl berühmteste Adaption von Falconets Skulptur in die Malerei darstellt, lässt auch Beardsley seine Version des wissenden Cupidos im Unterholz verschwinden und so einmal mehr im Verlauf der Kunstgeschichte zum Signum von Geheimnis und Ambiguität werden. 35 Ich danke Frau Prof. Kepetzis für den erhellenden Hinweis auf die Ähnlichkeit z­ wischen Beardsleys Cupido im Gebüsch und Falconets Skulptur. 36 Übersetzung der Autorin. 37 Vgl. Padigar, Satish: Menacing Cupid in the Art of Rococo. In: Ausst.-Kat.: The Triumph of Eros. Art and Seduction in 18th-­Century France. London, Courtauld Institute of Art, 2006, S. 21 – 33. 38 Vgl.https://wallacelive.wallacecollection.org/eMP/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module​ =collection&objectId=65364&viewType=detailView (01. 03. 2019).

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Abb. 26 Étienne-­Maurice Falconet: „L’Amour ménaçant“, 1757, weißer Marmor, 91,5 × 50 cm, Musée du Louvre, Paris (Erstfassung im Rijksmuseum, Amsterdam).

In Bezug auf Watteaus Gilles übernimmt Beardsley nicht nur die mehrdeutige Blickrichtung für die Hauptfigur des Frontispizes, er bedient sich außerdem der Stellung der leicht geöffneten Füße sowie zumindest eines exponiert herabhängenden Arms.39 Janina Forell stellt die Unterschiede z­ wischen Beardsleys und Watteaus Pierrot auf der Grundlage heraus, dass sie Watteaus Gilles als plumpen und lächerlichen Spaßmacher erkennt und somit Beardsleys Pierrot als distinguierten Dandy bezeichnen kann, der sich völlig selbstbewusst, stolz und eitel seinem Publikum präsentiert.40 Sicher hängt die Hand des Pierrot of the Minute nicht schlaff herunter, sondern scheint tatsächlich bewusst und elegant platziert, dennoch halte ich es für irreführend, auf dieser Grundlage von einer stolzen Bühnenperson auszugehen und damit Watteaus Gilles sämtliche aristokratische Anklänge abzusprechen. Nicht ohne Grund bezieht sich der Illustrator gerade für diese Bilder auf Watteaus Archetypen des Pierrot. Dowsons Stück handelt schließlich im unmittelbaren Umfeld von Versailles und verortet seine Erzählung damit zeitlich in einem imaginierten Ancien Régime. Somit scheint es nur folgerichtig, dass dem Publikum ein Protagonist im 39 Beardsley ist indes nicht der erste Künstler aus dem Umkreis des Ästhetizismus, der sich an ­Watteaus Gemälde bedient. Elizabeth Prettejohn weist darauf hin, dass auch Whistler für die Pose seines „The White Girl“ (1862) auf Gilles zurückgreift. Vgl. Prettejohn, 2007, S. 165. 40 Vgl. Forell, 1983, S. 25.

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Abb. 27 Félix Nadar: „Charles Deburau, Pierrot écoutant“, 1854/55, Fotografie, 29,7 × 21,6 cm, Bibliothèque nationale de France, Paris.

zarten Seidenkostüm, spitzen Schleifenschuhen und großkrempigen Hut entgegentritt. Die nostalgische Stimmung für die Lektüre des bereits 1892 im privaten Kreis zur Aufführung gebrachten Stückes 41 wird damit im Frontispiz vorformuliert und der Leser in eine Rokoko-­Fantasiewelt überführt. Es muss indes betont werden, dass Dowsons Stück keine plötzliche Renaissance des Pierrot-­Motivs bedeutet. Vor allem in der französischen Literatur und Kunst etabliert sich das Thema spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erneut. Dies erfolgt insbesondere aufgrund der kongenialen Neuinterpretation der Figur auf der Theaterbühne durch Jean-­Gaspard Deburau (1802 – 1846), der als neuer Pierrot im Théâtre des Funambules auf dem Boulevard du Temple in Paris für Aufsehen sorgt. Wie wir uns Deburau auf der Bühne vorzustellen haben, können heute nur noch die fotografischen Aufnahmen von seinem Sohn und Nachfolger Charles Deburau veranschaulichen (Abb. 27). Zu

41 Vgl. Easton, 1972, S. 184. Mabel Beardsley spielte dabei die Rolle der „moon maiden“.

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allererst fallen die Veränderungen des Kostüms im Vergleich mit Watteaus Archetypen auf. Zurückgehend auf den italienischen Pagliaccio zeichnet sich sein überaus weites, weißes Gewand durch eine Reihe großer Bommeln aus, die Knöpfe darstellen sollen. Er verzichtet auf den Hut und trägt stattdessen nur noch eine schwarze Kappe, die mit dem weißgepuderten Gesicht kontrastiert.42 Außerdem sieht er von den aristokratischen und vermeintlich effeminierenden Beiwerken des Gilles ab, wie den Rüschenkragen und den rosa Schleifen an den Schuhen. Sein Kostüm besteht nun aus Leinen und nicht aus Seide. Pierrot hat sich also vom höfischen Spaßmacher zum Mann des Volkes entwickelt. Dieser Kontrast wird noch deutlicher, wenn Marika Knowles darauf hinweist, dass Deburau nichtsdestotrotz vor watteauesken Bühnenbildern auftritt.43 Auch für die Zeitgenossen sind Deburau und Gilles nicht unbedingt als diametrale Pole zu verstehen. Der Historiker Jules Michelet identifiziert bereits vor der öffentlichen Präsentation von Watteaus Gemälde durch die Eröffnung der La Caze-­Galerie des Louvre 1869 in seiner Histoire de France (1863) den Maler mit der melancholischen Figur Pierrots. Des Weiteren verbindet er Gilles ganz explizit mit der Tradition Deburaus als proletarisch-­poetischer Pierrot, sodass Watteaus Werk schon vor der öffentlichen Ausstellung für eine ­solche Rezeption vorbereitet wird.44 Als eben solch ein Mann des Volkes wird Pierrot-­Deburau auch von seinen literarischen Rezipienten verstanden, wie dies etwa Théophile Gautier wiederholt thematisiert. Er schreibt beispielsweise in seiner Analyse zu Champfleurys Stück Pierrot perdu: „Pierrot est le symbol du proletaire, le type du peuple“.45 Der Kritiker und Autor Jules Janin geht in Rekurs auf Watteaus Figur sogar so weit zu sagen: „Gilles, c’est le peuple“.46 Forell wie auch Louisa Jones betonen mehrfach die Bedeutung der literarischen Rezeption Deburaus durch den Kreis der Romantiker in der rue du Doyenné (zu denen Gautier, Janin und Champfleury zählen).47 Sie führen neue Topoi in das Umfeld der Pierrot-­Ikonografie ein, wie beispielsweise die Assoziation des Gesichts des blassen Helden mit dem Mond. In der Folge werden sich auch Baudelaire und später Paul Verlaine mit dem Motiv des P ­ ierrot auseinandersetzen. Vor allem letzterem gelingt es, ähnlich wie Watteau ebenfalls eine melancholische Ironie hinter der heiteren Fassade der Commedia in seinem Gedichtzyklus Fêtes galantes aufzudecken.48 Im Allgemeinen changieren die Auffassungen von Pierrots Charakter in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts z­ wischen proletarischem Straßenkünstler und Poetenseele. Als Mann des Volkes kehrt sich der traurige Clown gegen ein bourgeoises Kunstideal und wird so zum Urbild des unverstandenen, leidenden 42 Vgl. Forell, 1983, S. 62. 43 Vgl. Knowles, Marika T.: Pierrot’s periodicity. Watteau, Nadar and the circulation of the Rococo. In: Hyde, Melissa Lee; Scott, Katie (Hg.): Rococo Echo. Art, History and Historiography from Cochin to Coppola. Oxford 2014, S. 109 – 128, hier S. 114. 44 Vgl. Ireland, 2006, S. 117. 45 Gautier, Théophile: Histoire de l’art dramatique en France. Paris 1859, S. 27. 46 Janin, Jules: Deburau. Histoire du théâtre à quatre sous. Paris 1833, S. 112. 47 Vgl. Jones, 1984, S. 15. 48 Vgl. Ireland, 2006, S. 33.

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Dichters verklärt. Parallel dazu ist der Pierrot in der Genese des bürgerlichen Geschmacks ebenso ein reproduzierbares Dekorelement, das sich auf jegliche Stoffe, Möbel, Tapeten, Porzellan und Buchdeckel applizieren lässt.49 Dieser Dualismus ist es denn auch, der in Beardsleys Rezeption der französischen Pierrot-­Ikonografie einfließt. Einerseits sieht er ihn durch die Brille der Doyennards, der „Bohème Galante“ 50 der ersten Hälfte des Jahrhunderts, andererseits ist Pierrot für ihn oftmals als dekoratives Versatzstück zu verstehen, das ebenfalls in jeglichen Kontext eingepasst werden kann und dennoch nie den selbstreflexiven Impetus verliert. Pierrot ist also zumindest auf dem Kontinent zur Symbolfigur des Literaten geworden. Dieser Entwicklung scheinen sich auch die Londoner Verleger John Lane und Leonard Smithers bewusst zu sein. Obwohl der Pierrot in der englischen Literatur der Zeit in kaum vergleichbarem Maße wie in der französischen Literatur auftaucht, wird er dennoch für die Publikationen dieser exklusiven bibliophilen Kreise zur Galionsfigur. Für eine ganze Reihe von Romanen, die in John Lanes Verlag The Bodley Head 1896 herausgegeben werden, steht der Pierrot Pate. Ausgehend von der ersten erschienenen Erzählung, Henry de Vere Stacpooles Pierrot! A Story (1895), entscheidet Lane sich, eine ganze Buchreihe unter dem Titel Pierrot’s Library herauszugeben. Beardsley liefert dafür die jeweils unterschiedlich farblich gedruckte Umschlagsgestaltung, das je anpassbare Titelblatt mit leerer Kartusche sowie Entwürfe für die Vorsatzblätter. Es werden so für jede Erscheinung der Reihe die gleichen zugrundeliegenden Zeichnungen Beardsleys in unterschiedlichen farbigen Abstufungen verwandt. Der Umschlagsentwurf verdeutlicht Beardsleys synthetischen Umgang mit der Pierrot-­ Ikonografie einmal mehr (Abb. 28). Wie der Titel der Buchreihe fordert, befindet sich der jugendliche Pierrot hier in einer Bibliothek, die angefüllt ist mit Folianten, historischen oder anderen hochwertigen Ausgaben. Gerade greift er, auf einer Trittleiter stehend, nach einem weiteren Band, den er sich wohl auch noch unter den Arm klemmen will. Sein Kopf jedoch ist träumerisch versunken nach unten gewandt und die Augen scheinen beinahe geschlossen. Die Bibliothek gleicht mit ihren schweren Vorhängen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, sowie den weit geöffneten Mohnblumen und dem Obst unter der Glasglocke im Vordergrund einem genuin artifiziellen Ort: das Interieur im Allgemeinen und das Lesezimmer im Speziellen als Ort der künstlichen Selbstvergewisserung und bühnenhaften Selbstdarstellung des Ästheten der 1890er. Doch wie fügt sich der liebliche Pierrot in d ­ ieses dandyhafte Umfeld? Beardsley zeigt eine Figur, die von der Literatur in entscheidendem Maße zum Leben erweckt wurde und deshalb untrennbar mit der Welt der Bücher verbunden ist. Gleichsam rekurriert der Illustrator auch auf seine Quellen aus den Bildkünsten. Sein Pierrot-­Poet ist eine Synthese ­zwischen dem Gilles Watteaus mit den unzähligen kleinen Knöpfen auf dem Seidenkostüm und dem Pierrot der Funambules mit der Kappe am Hinterkopf und der ausgreifenden Geste. 49 Vgl. Knowles, 2014, S. 112. 50 Ebd., S. 110.

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Abb. 28 Aubrey Beardsley: Entwurf für die Umschlaggestaltung der Bände in „Pierrot’s Library“, Sommer 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 15,8 × 11,9 cm, Princeton University Library, NJ.

Dennoch ist Pierrot aus seiner Rolle herausgetreten und nimmt, ähnlich wie bei Watteau, an einem Leben außerhalb der Theaterbühne, der Gemälde und der Prosa teil. Pierrot ist selbst zum Leser geworden. Dies gilt ebenso für den Entwurf des Titelblatts der Buchreihe, in dem ein diesmal bebrillter Pierrot an der Titelkartusche lehnt und selbstvergessen, dennoch versonnen in ein Buch schaut.51 Auch im Entwurf für einen Prospekt des Yellow Book taucht Pierrot sogar als Ehrfurcht gemahnender Buchhändler auf, der eine junge Frau vor seinen Buchkisten kritisch beäugt.52 Der gedachte Leser ist im Umfeld von Beardsley und seinen Verlegern der bibliophile Ästhet. Dieser gefällt sich besonders in der Rolle des entfremdeten Aristokraten 51 Vgl. Aubrey Beardsley: Entwurf für das Titelblatt der „Pierrot’s Library“, Oktober–November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 15,3 × 11,7 cm, Princeton University Library, NJ. 52 Vgl. Aubrey Beardsley: Entwurf für einen Prospekt des Yellow Book, ca. März 1894, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 24,8 × 16,2 cm, Victoria & Albert Museum, London.

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nach dem Vorbild Des Esseintes aus Huysmans berühmten Roman À rebours (1884). Fern ab von jeglichen bürgerlichen Konventionen kann er seiner Leidenschaft für vor allem kuriose Kunstwerke und extravagante Einrichtung frönen. Beardsley nimmt mit seinem bibliophilen Pierrot der Umschlagsgestaltung von Pierrot’s Library also Bezug auf einen 1896 bereits stereotyp gewordenen Topos des dekadenten Ästheten. Gerade das auffallend Süßliche in Beardsleys Darstellung des Pierrot verdeutlicht eine ironische Brechung mit der Thematik. Im Zuge dessen ist auch der Bezug zu Watteaus höfischem Pierrottypus absolut einleuchtend. Während die Dichter und Kritiker der rue du Doyenné den weißgekleideten Clown als antibürgerlich im Sinne des Proletariers stilisieren, wandelt sich die Figur im fin de siècle zu einer Inkarnation sämtlicher „Aristokraten des Geschmacks“ 53 im 19. Jahrhundert. Bei Beardsley wird er als bibliophiler Sammler und Connaisseur im bürgerlichen Anitquarismus seiner Epoche verankert und gleichsam in die ästhetizistisch-­dekadente Genealogie der Goncourts und Des Esseintes eingebettet. Im Vorsatzblatt der Pierrot’s Library wirken die zwei Pierrots in ihren eleganten Seidenkostümen seltsam befremdlich in ihrer natürlichen Umgebung eines Waldes (Abb. 29). Jedoch ist die Natur hier, wie häufig in Beardsleys Werk, dem artifiziellen Habitus ihrer Besucher angepasst. Der Komposition müssen sich die angeschnittenen Baumkronen, sogar der Flug der Vögel und die Aufreihung der Boote auf dem See ergeben. Die beiden Pierrots beschäftigen sich indes mit der ebenfalls eleganten Tätigkeit des Musizierens in der Natur, wie sie aus den Gemälden Watteaus bekannt ist. Trotz einer insgesamt etwas eindimensionalen Deutung der Zeichnung, hat Janina Forell in ihrer M ­ onografie zu ­Pierrot und Harlekin bereits einige wichtige Beobachtungen zu ­diesem Entwurf Beardsleys vorgelegt. Das Motiv des Lauschenden und Musizierenden steht einem Werk Watteaus nahe, das Beardsley ebenfalls als Reproduktion (aus Rosenbergs Monografie) kennen dürfte. Forell nennt das Gemälde Le lorgneur als überzeugende Rezeptionsquelle für Beardsleys Darstellung (Abb. 30).54 Auch hier verändert der Zeichner in seiner künstlerischen Übernahme das Personal der Figurengruppe. Aus den zwei Männern, die für eine Frau ihre Instrumente erklingen lassen, werden die zwei jugendlichen Pierrots in stiller Eintracht. Die romantische Dimension des musikalischen Stücks, das vor nur einem Zuhörer dargeboten wird, lässt Beardsleys Szene damit auch als homoerotische Allusion erscheinen. Dies verstehe ich allerdings als weniger konkrete Äußerung über die Sexualität der Pierrot­figur oder gar über die Käuferschaft der Bücher, sondern viel mehr im Kontext der Androgynität des weißen Clowns, in der Geschlechtergrenzen unter dem weiten Kostüm verschwinden und es unerheblich wird, wer die Serenade singt und wer ihr lauscht. Forell schlägt vor, in dieser Figur eine Karikatur des Verlegers Elkin Mathews zu sehen. Die phy-­ siognomischen Ähnlichkeiten sind durchaus gegeben, sodass diese humoristische Notiz möglich erscheint und den Verleger als Gebieter über die Bücher in seinem Laden zeigt. Vgl. Forell, 1983, S. 30. 53 Sontag, 2009, S. 338. 54 Vgl. Forell, 1983, S. 37.

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Abb. 29 Aubrey Beardsley: Entwurf für die Vorsatzblätter der „Pierrot’s Library“, Oktober–November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 16,7 × 23,7 cm, Princeton University Library, NJ.

Auch für Sarah Bernhardts Darstellung des melancholischen Gilles-­Typus in Jean R ­ ichepins Pierrot assassin, das 1883 im Palais Trocadéro uraufgeführt wird,55 ist diese Androgynität der Figur unerlässlich. Ihr Gewand steht ganz in der Tradition Watteaus und nimmt nicht wenig von Beardsleys androgyner Auffassung der Figur vorweg. Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass der Illustrator wohl auch mit den Fotografien Nadars von B ­ ernhardt im Pierrot-­Kostüm vertraut ist (Abb. 31). Im Titel von Richepins Stück kündigt sich die vermehrt düstere Pierrot-­Motivik im Verlauf des 19. Jahrhunderts an, was in nicht geringem Maße in der Neuinterpretation der Rolle durch Charles Deburau nach dem Tod seines Vaters begründet liegt. Zwar r­ anken sich bereits um Jean-­Gaspard Mythen, die ihn als potenziellen Mörder und „mysteriöse[n] Außenseiter“ 56 schildern, doch ist es laut Lehmann sein Sohn, der die morbide Dimension der Figur erst wirklich vorgibt.

55 Vgl. Ebd., S. 96. 56 Kellein, 1995, S. 58.

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Abb. 30 Jean-­Antoine Watteau: „Le lorgneur“, um 1716, Öl auf Leinwand, 32,4 × 24 cm, Virginia Museum of Fine Arts, Richmond.

„Charles was in life, as well as on stage, a nervous, slender, sickly figure; through him the romantic identification of life and art was consummated in an intense and neurotic profile, dogged by nightmare, suicidal gestures, endless protest and threats of revenge against the careless malice of the world.“ 57

Wenn Pierrot nicht gerade wie bei Richepin zum blutrünstigen Mörder seiner Geliebten wird, ist er in der geläufigeren Tradition des unglücklich Verliebten verankert, in der auch Beardsley ihn gern präsentiert. Dabei bedient sich der Zeichner eines weiteren Kunstgriffs zur psychologisierenden Selbstinszenierung. Er stellt Pierrot im w ­ eißen Kostüm als Knaben einer übergroßen schwarz gekleideten Frau gegenüber, der er devot dient oder sie gar anbetet, wie dies in der Einladungskarte für die Eröffnung eines „Ladies Golf Club“ (1894)58 und im Exlibris für John Lumsden Propert (1893) zu sehen 57 Lehmann, A. G.: Pierrot and Fin de Siècle. In: Fletcher, Ian (Hg.): Romantic Mythologies. London 1967, S. 209 – 223, hier S. 214. 58 Vgl. Aubrey Beardsley: „Two Women Golfers and Pierrot as a Caddie“, Ende Juni–Anfang Juli 1894, Bleistift, schwarze und weiße Tinte auf Velinpapier, 23 × 13,2 cm, Privatsammlung.

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Abb. 31 Paul Nadar: „Sarah Bernhardt dans le rôle de Pierrot assassin“, um 1880, Fotografie, 14,5 × 10,5 cm, Bibliothèque nationale de France, Paris.

ist. Beardsley paraphrasiert hier dasselbe Motiv auf unterschiedliche Weise. Pierrot ist einmal ein gewitzter Caddy beim Golfen der Damen, der mit seiner Geste am Golfschläger und dem schelmischen Blick zur Seite der statischen Szene eine frivole Komponente einhaucht. Wie in der Commedia dell’arte ist Pierrot auch hier der stumme Diener, der das eigentliche Geschehen mittels seiner Gesten kommentiert. Im Exlibris überspitzt der Zeichner seine eigenen dämonischen femmes fatales der Salome-­Serie, zu einem diabolischen Weib, das sich vom kindlichen Pierrot anbeten lässt (Abb. 32). Eine selbstironische Dimension ist beiden Werken kaum abzusprechen, auch wenn sich Milly Heyd in ihrem Aufsatz „Pierrot and Anti-­Pierrot“ der psychoanalytischen Anspielung hingibt und an solcherlei Darstellungen Beardsleys gespaltenes Verhältnis zu seiner M ­ utter, seiner Schwester und dem weiblichen Geschlecht im Allgemeinen ablesen möchte.59 Sie stellt zwar die ironische Darstellung von religiöser Devotion im E ­ xlibris fest, kann sich aber nicht von der Lesart lösen, im weißen Pierrot 59 Vgl. Heyd, Milly: Aubrey Beardsley: Pierrot and Anti-­Pierrot. Distortion of a Character. In: ­Besserman, Nevo et al. (Hg.): Norms and Variations in Art. Essays in Honour of Moshe Barasch. Jerusalem 1983. S. 159 – 177, S. 159, 167 und 177.

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Abb. 32 Aubrey Beardsley: Exlibris für John Lumsden Propert, März 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 19,8 × 12,7 cm, Victoria & Albert Museum, London.

ein Alter Ego des s­ chwindsüchtigen Künstlers zu sehen, dem die Welt der Romanze verwehrt bleibt.60 In meinem Verständnis solcher Darstellungen im Werk Beardsleys ist die psychoanalytische Interpretation diesen Bildern bereits inhärent: Als kränklicher Jüngling, der die Frau nur aus der Ferne betrachten kann, präsentiert sich der gebildete man of letters hier. Er nutzt diese Selbstinszenierung geradezu, um dem ohnehin verbreiteten Bild über sich auch in seinen Werken zu entsprechen. Kranker, kindlicher, frivoler Außenseiter ist Pierrot in den Bildern und Beardsley will sich so auch als Künstlerfigur verstanden wissen. So verwundert es kaum, dass er schon im August 1893 in einem Brief an Robert Ross über ein nicht ausgeführtes Projekt mit dem Titel Masques folgendes schreibt:

60 Vgl. ebd., S. 163 f.

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„[…] However I have settled to do Masques for Pick-­me-­up [zeitgenössisches Magazin 1888 – 1909]; on condition they publish it in book form afterwards. I shall certainly want some occasional verse for it. Would you do it for me? Especially I want a prologue to be spoken by Pierrot (myself ).“ 61

Die jugendliche Theaterfigur, die völlig in ihrer Bühnenidentität aufgeht, ist somit für Beardsleys Selbstinszenierung konstitutiv. Auch seine Zeitgenossen nehmen diese Wahlverwandtschaft wahr. So beschreibt Max Beerbohm in seinem Nachruf auf Beardsley den jungen Künstler in eben jenem Dualismus, durch den sich auch Pierrot stets auszeichnet: ­zwischen Fragilität und Vitalität, z­ wischen Witz und Melancholie, z­ wischen Außenseiter und Philanthrop: „I remember that when I first saw him I thought I had never seen so utterly frail a ­creature – he looked more like a ghost than a living man. […] He was always, whenever one saw him, in the highest spirits, full of fun and of fresh theories about life and art. […] One felt that his gaiety resulted from a kind of pride and was only assumed, as who should say, in company.“ 62

Pierrot ist indes nicht nur unglücklich Liebender oder spitzbübischer Kommentator. In der literarischen Tradition ist er mitunter auch von selbstmörderischen Träumen geplagt. Nicht selten werden ­solche Suizidgedanken jedoch ironisch verkehrt, wie in Gautiers Stück Pierrot posthume, das er 1847 für seinen eigenen Geburtstag verfasst und an ­diesem auch aufführen lässt. Darin wird Pierrot von seinem Gegenspieler Harlekin dermaßen hinters Licht geführt, dass der leichtgläubige Träumer sicher ist, er sei tatsächlich tot.63 In der französischen Salonmalerei wird das Motiv des sterbenden Pierrot immer beliebter. In Jean-­Léon Gérômes Gemälde (1857) ist Pierrot der Unterlegene nach einem Duell in einer Winterlandschaft.64 Indes zeigt das Bild keine Szene einer Commedia, sondern den tragischen Ausgang eines Duells nach einem Maskenball. Das Bild erfreut sich in den späten 1850ern in ganz Europa größter Berühmtheit und wird sogar 1858 in London ausgestellt, wo es in der Presse für Begeisterungstürme sorgt.65 Wahrscheinlich ist also auch in d ­ iesem Fall, dass Beardsley zumindest über Reproduktionen mit dem Gemälde vertraut ist.

61 62 63 64

Letters, 1990, S. 51. Aubrey Beardsley and Robert Ross, August 1893. Beerbohm, 1898, S. 539 Vgl. Forell, 1983, S. 70. Vgl. Jean Léon Gérôme: „Suite du bal masqué“, 1857, Öl auf Leinwand, 50 × 72 cm, Musée Condé, Chantilly. 65 Vgl. Haskell, Francis: Der Traurige Clown. Anmerkungen zu einem Mythos des 19. Jahrhunderts. In: Haskell, Francis: Wandel der Kunst in Stil und Geschmack. Ausgewählte Schriften. Köln 1990, S. 209 – 229, hier S. 209.

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Abb. 33 Thomas Couture: „Pierrot malade“, 1859/60, Öl auf Holz, 35,1 × 43 cm, Nelson-­Atkins Museum of Art, Kansas City, Missouri.

In eine noch enger verbundene Tradition setzt er sich allerdings mit Thomas Couture (1815 – 1879), der Pierrot als Kranken im Bett liegend darstellt (Abb. 33), umgeben von anderen Figuren der Commedia dell’arte: der Doktor, der nachdenklich den Puls fühlt, und Harlekin, der verzweifelt die Hand gegen die Wand schlägt. Bei Couture handelt es sich jedoch um ein Plädoyer gegen die Quacksalberei. Die Inschrift links oben erklärt es: „Die Wissenschaft läßt diesen Doktor das erkennen, was nicht ist und verhindert ihn, das zu erkennen, was für jedermann offensichtlich ist.“ 66 Die leeren Flaschen im rechten Vordergrund, ­welche dem Arzt entgehen, den Betrachtenden allerdings schnell auffallen, sind indes der eigentliche Grund für Pierrots ‚Krankheit‘. Coutures Darstellung kann in ihrer Komposition sowie im lakonischen Ton als wichtiges Vorbild für Beardsleys sterbenden Pierrot im Savoy verstanden werden. Allerdings ist Beardsleys eingangs besprochene Zeichnung sicher als eine der vielen selbstreflexiven Auseinandersetzungen nicht nur mit dem stets kränkelnden Körper des Künstlers zu deuten. Der Illustrator identifiziert sich hier in bewusst melodramatischer Pose mit der fragilen, mondsüchtigen Gestalt, zu der Pierrot am Ende des Jahrhunderts geworden ist. Beardsley lässt es sich außerdem nicht nehmen, in Hinblick auf seine Kritiker seine Kenntnis der langen Tradition des Motivs in nur einem Bild darzulegen. Mit dem genuin französischen Motiv des Pierrot als Kryptoportrait des Künstlers wird der Tod des Clowns zum ironisch-­pathetischen Mahnmal für die Folgen der Kunstkritik. Mit Blick auf die

66 Übersetzung zitiert nach: Forell, 1982, S. 109.

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frühneuzeitliche Kunstgeschichte wird zudem ein wahrhaft gelehrter Hintergrund der Zeichnung möglich. Peter Springer skizziert in seinem Aufsatz „Tod der Unsterblichen“ (2002) die Grafik als ein genuines Medium der Dauerhaftigkeit, dies insbesondere im Kontext frühneuzeitlicher Stichwerke, w ­ elche antike Kunstwerke vor dem sprichwört­ 67 lichen ‚Zahn der Zeit‘ retten. Mit Verweis auf das von Aegidius Sadeler gestochene Portrait des Malers Bartholomäus Spranger und seiner verstorbenen Frau Christina Muller (1600) stellt Springer zudem einen Topos vor, welcher der Kunst die Fähigkeit zuspricht, auch über die begrenzte Lebenszeit des Künstlers hinaus, dessen Schöpferkraft dauerhaft (wenn nicht ewig) zu erhalten: vita brevis, ars longa.68 Beardsleys sterbender Pierrot lässt sich als Kryptoselbstportrait im grafischen Medium sicherlich ähnlich begreifen. Der junge, kranke Zeichner verleiht hier seinem vorbestimmt ­kurzen Leben ein memento, welches mit seinem hohen Grad an Selbstreflexivität, aber auch Rückbezug auf künstlerische Vorbilder den modernen Zeichner im Topos der alles überdauernden Grafik wortwörtlich einbettet. Die schwarz-­weiße Erscheinung des Pierrot dient ihm dabei nicht nur als Identifikationsfigur, sondern auch als neue Personifikation der grafischen Linie selbst und obwohl der Clown sich hier zur ewigen Ruhe legt, bleibt kein Zweifel an der Dauerhaftigkeit seines Bildes. Thomas Kelleins Aussage: „Beardsleys Zeichnungen verdammten Pierrot zu einem statisch-­eleganten Dasein als ästhetizistische Silhouette“ 69 sollte mit dieser Untersuchung hinreichend widersprochen sein. Der Zeichner ist sich sowohl Pierrots ‚Dasein‘ als dekoratives Versatzstück in modischen bis industriellen Kontexten, als auch der l­angen ikono­ grafischen und inhaltlichen Tradition der Figur bewusst und bewerkstelligt es, d ­ iesen Dualismus gekonnt in seinem Werk zu vereinen. Der ästhetische Genuss dieser Bilder vermag sich von anfänglicher Freude am melancholisch-­entzückenden Motiv hin zu intellektueller Kontemplation über die inhärenten Bedeutungsschichten hinter der Verwendung des Motivs zu steigern. Über allem dominiert bei Beardsley immer wieder der Pierrot des 18. Jahrhunderts. Entsprungen aus Verlaines Fêtes galantes, Sarah Bernhardts androgynem Liebesmörder und natürlich der zeitgenössischen Freude am französischen Rokoko steht Beardsleys Pierrot Pate für die Sicht des 19. Jahrhunderts auf das 18. Jahrhundert. Geboren in der ‚Dekadenz‘ des Ancien Régime legt er sich nun während einer weiteren Dekadenz entkräftet schlafen, um als Topos der Moderne bei Picasso und anderen Künstlern oder Literaten wieder aufzuerstehen.

67 Vgl. Springer, Peter: Tod der Unsterblichen. Zur Rolle des Künstlers in Selbstreflexion und Erinnerungspraxis der bildenden Kunst. In: Ausst.-Kat.: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. München, Haus der Kunst, 2002, S. 20 – 37, hier S. 23 – 25. 68 Vgl. ebd., S. 27. 69 Kellein, 1995, S. 65.

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6.2 „For the era of rouge is upon us“ – Aubrey Beardsleys toilette-scenes Um sich der Ikonografie von Toilettendarstellungen anzunähern, erfolgt zunächst ein zeitgenössischer, humoristischer Blick auf die Lust am Frisieren und Schminken, die im 18. Jahrhundert sicherlich einen ihrer Höhepunkte hat (Abb. 34). Zeitgleich präsentiert der anonyme Schöpfer der kolorierten Radierung „The Lady’s Maid, or toilet head-­dress“ (1776) aus dem British Museum das Ergebnis und die wichtigsten Utensilien der unter gesellschaftlich hochstehenden Damen so wichtigen morgendlichen Toilette, die sich durchaus bis in die späten Mittagsstunden ausdehnen konnte. Die stark geschminkte Dame – vor allem den Rougepinsel scheint sie ausgiebig gebraucht zu haben – füllt nur ein Drittel der Bildfläche aus. Der übrige Platz wird von ihrer karikierten Frisur eingenommen. Zu beiden Seiten ausladend toupiert öffnen sich die Locken zu einer ebenen Fläche, auf der mit weißem Tuch und rosa Schleifen ein Tisch entsteht. Überkrönt wird diese Draperie von zwei seitlich gerafften Stoffbahnen, die in der Mitte mit einer großen Schleife zusammengehalten werden und unter sich einem ovalen Spiegel mit goldenem Rahmen Platz bieten. Rosemarie Gerken macht in ihrer detaillierten Studie zur Geschichte der Toilette im 18. Jahrhundert darauf aufmerksam, dass „la toilette“ ursprünglich das Tuch auf dem Frisiertisch meint.70 Hinzu kommt später die Idee, ein zweites Tuch „baldachinartig über den Rahmen des Spiegels zu legen“.71 Dieses wird vor der Benutzung an den Seiten gerafft und nach der Benutzung „zog man das Tuch dann wieder nach vorn über den Tisch mitsamt dem aufgestellten Spiegel“.72 Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts ist mit „toilette“ der gesamte Tisch, so wie hier zu sehen, mit allen darauf befindlichen Utensilien gleichzusetzen.73 Debora Silverman weist außerdem darauf hin, dass „toilette“ nicht nur das Möbelstück des Frisiertischs meint, sondern auch den Akt des Schminkens, Waschens und Kämmens selbst.74 Einigermaßen symmetrisch sind auf der Tischfläche mehrere typische Gegenstände angeordnet. Zwei recht schlichte, dafür überaus grazile Leuchter bilden links und rechts den Abschluss. Daneben befinden sich ebenso auf beiden Seiten kleine Blumensträuße in einfachen Glasvasen. Die Mitte des Tisches wird dominiert von einem S­ tecknadelkissen. Auf der linken Seite lassen sich außerdem eine Schere und etwas Schmuck erkennen, auf der rechten Seite ein Kamm, zwei Bücher und eine Schreibfeder, die auf eine weitere Funktion des Frisiertisches als Ort der literarischen Kontemplation und des sozialen Austauschs verweist.

70 Vgl. Gerken, 2007, S. 1. 71 Ebd., S. 46. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 32. 74 Vgl. Silverman, 1989, S. 28.

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Abb. 34 Unbekannter Künstler: „The Lady’s Maid, or Toilet Head-­ Dress“, 1776, Radierung/Farbdruck, 20,3 × 14,9 cm, British Museum, London.

All die hier präsentierten Gegenstände gehören über hundert Jahre später auch zum festgelegten Repertoire der sogenannten „toilette scene[s]“ 75 im Werk des Engländers Aubrey Beardsley. Die gesamte Darstellung des Frisiertischs, wie er wiederholt in seinen Zeichnungen auftaucht, orientiert sich an einer Grundform des Möbels im 18. Jahrhundert. Es bietet sich zunächst ein Beispiel aus den Illustrationen zu Alexander Popes The Rape of the Lock an, welches einen Tisch, ganz ähnlich zu dem der Karikatur, zeigt (Abb. 35). Auch hier ist der ovale Spiegel am äußersten rechten Bildrand von einem zurückgeschlagenen Tuch umrahmt und der diesmal zweigeteilte Tisch ist großzügig von einem weiteren Überwurf bedeckt, welcher an den Ecken mit Schleifen und Rosen verziert ist. Diese Präsentation des Frisiertisches lässt sich schon früh für Beardsleys Werk nachweisen. Bereits in

75 Fletcher, 1989, S. 235. Ich verwende hier und im Folgenden Fletchers französische Schreibweise des Begriffs. In den Titelbezeichnungen der Einzelwerke bleibe ich dennoch dabei, Gertner Zatlins Katalogtitel zu übernehmen, die jedoch teils in der englischen Übersetzung verfasst sind.

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Abb. 35 Aubrey Beardsley: „The Toilet“, ­zwischen Dezember 1895 und März 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,5 × 17,4 cm, Cleveland Museum of Fine Art, OH.

seinen 1890 entstandenen Zeichnungen zu Prévosts Manon Lescaut ist ein ganz ähnliches Ensemble in der Tradition des 18. Jahrhunderts zu sehen.76 Die Stellfläche von Belindas table de toilette scheint knapp bemessen angesichts der zahllosen Dosen, Schachteln und Flakons. Ins Auge fallen dabei zunächst die zwei hohen Leuchter an den Seiten des Tisches. Sie geben weniger den Anschein eines nützlichen Gegenstandes zur Beleuchtung der Szene, als sie die Zeichnung wie ein „profane[s] Andachtsbild“ 77 und den Frisiertisch wie eine Art Altar der Schönheit erscheinen ­lassen. Und als solcher wird das Möbelstück immer wieder bei Beardsley auftreten. Auch seine „Dame aux Camélias“, die im St. Paul’s noch unter dem Titel „Girl at Her Toilet“

76 Vgl. Aubrey Beardsley: „Scene from Manon Lescaut“, Herbst 1889–Frühling 1890, schwarze Tinte und Aquarell auf Velinpapier, 18,7 × 16,4 cm, Princeton University Library. 77 Schäpers, Petra: Die junge Frau bei der Toilette. Ein Bildthema im venezianischen Cinquecento. Frankfurt am Main 1997, S. 229.

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Abb. 36 Aubrey Beardsley: „La Dame aux Camélias/Girl at Her Toilette“, Februar–März 1894, Bleistift, schwarze Tinte und Aquarell auf Velinpapier, 27,9 × 18,1 cm, Tate Gallery, London.

erscheint,78 wird durch ihre stehende Pose und die elegante, ausladende Kleidung, die wie eine modische Interpretation liturgischer Gewänder erscheint, zu einer Priesterin des Schönheitskultes, dessen Weihrauch Parfum und dessen Hostie die Puderquaste ist (Abb. 36). Hildegard Feinendegen geht in ihrer Dissertation zur katholischen Konversion in der literarischen Dekadenz (2002) ausführlich auf die möglichen Gründe für das gesteigerte Interesse der Künstler und Literaten an der Glaubenspraxis der katholischen ­Kirche ein.79 Dabei erkennt sie die Grundlagen für diese Entwicklung in Frankreich, 78 Vgl. Elliot, 1989, S. 76. 79 Vgl. Feinendegen, 2002. Selbst wenn die Autorin zu dem streitbaren Schluss kommt, die Welle an Konvertiten unter Künstlern und Literaten, die dem Begriff „Dekadenz“ zugeordnet werden können, ließe sich dadurch erklären, dass es sich dabei um die „Sublimierung persönlicher Neigungen“ (S. 97) handle, gibt ihre Arbeit dennoch erstmals mehrere Anhaltspunkte für das kulturelle Phänomen.

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wo sich bereits ab Mitte des Jahrhunderts zahlreiche Literaten, wie Verlaine, Rimbaud oder Huysmans dem Katholizismus bzw. Mystizismus als Opposition zu einer nachaufklärerischen G ­ esellschaft zuwenden.80 Diese Haltung wird von den frankophilen decadents im viktorianischen England sogleich rezipiert und nicht zuletzt die liturgische Praxis bietet in der Folge mehrere Topoi, die Eingang in die Motivwelt dieser Künstler finden. Die religiöse Ekstase wird dabei ebenso zum Teil des dekadenten Vokabulars, wie die sterile Keuschheit, ­welche eine Absage an die viktorianische Fortpflanzungsmoral bedeutet.81 In der kulturellen Umspannung des katholischen Glaubens findet der dekadente Künstler also eine große Entsprechung seiner eigenen ästhetischen Ziele, wie die Vorliebe für sinnliche Eindrücke, Pathos oder eben auch dekorativ-­ künstlerische Ausgestaltung, wie sie anhand von Kirchenräumen sichtbar wird. Noch bevor er selbst konvertiert ruft Beardsley eine ­solche Wahlverwandtschaft in seinen Szenen am Frisiertisch auf. Eine Beschreibung des kosmetischen Aktes als liturgische Praxis lässt sich auch bei den Brüdern Goncourt finden, die sich in ihren Schriften gleich mehrfach mit ­solcherlei Szenen auseinandersetzen. Sie schreiben in La femme au dix-­huitième siècle (1862): „Dans l’appartement de la femme, c’est le meuble de triomphe que cette table surmontée d’une glace, parée de dentelles comme un autel, enveloppée de mousseline comme un ­berceau, toute encombrée de philtres et de parures, fards, pâtes, mouches odeurs […], et les rubans, et les tresses et les aigrettes, petit monde enchanté des coquetteries du siècle d’où s’envole un air d’ambre dans un nuage de poudre!“ 82

Diese geradezu synästhetische Beschreibung stellt nicht nur die Parallele in der mystifizierten Auffassung des Frisiertisches bei den Goncourts und bei Beardsley heraus, auch die Liebe zu den Dingen wird sowohl in der literarischen als auch in der zeichnerischen Aufzählung deutlich. Ähnlich wie die französischen Brüder verliert sich auch der junge Engländer mehrere Jahrzehnte später nur allzu gern in der detaillierten Wiedergabe des bric-­à-­brac. Beardsleys Obsession für diese Ikonografie steht somit außerdem Pate für ein Faszinosum des Ästhetizismus. Wurzelnd in Gautiers geschlechterübergreifendem Schönheitsdrang in Mademoiselle de Maupin findet die geradezu religiöse Huldigung der Kosmetik neuerlichen Ausdruck im parodistischen Aufsatz „A Defence of Cosmetics“ des jungen Max Beerbohm, der im April 1894 im Yellow Book erscheint.

80 Vgl. Feinendegen, 2002, S. 51. 81 Vgl. ebd., S. 75 und S. 95. 82 Goncourt, 1862, S. 92. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 151 f.: „Die [Toilette] ist das Triumphmöbel im Appartement der Frau, dieser Tisch, der von einem Spiegel überhöht wird, der wie ein Altar mit Spitzen verziert […] ist, der mit Zaubertränken und Zierraten, mit Schminken, Pasten, Schönheitspflästerchen, mit Parfüms […] ganz bedeckt ist; dazu kommen die Bänder, die Tressen und Aigretten, die bezaubernde Kleinwelt, der Koketterien des Jahrhunderts, dem in einer Puderwolke Ambraduft entströmt!“

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„The Victorian era comes to its end and the day of sancta simplicitas is quite ended. The old signs are here and the portents to warn the seer of life that we are ripe for a new epoch of artifice.“ 83

Diese beinahe prophetische Aussage wird in der Folge von Beerbohm aus einem historischen Bewusstsein heraus hergeleitet. Zwar konzentriert er sich dabei vor allem auf die antike Tradition der Toilette, bezieht sich allerdings ebenfalls auf das vorhergehende Jahrhundert. „Last century, too, when life was lived by candlelight, and ethics was but etiquette, and even art a question of punctilio, women gave the best hours of the day to the crafty farding of their faces and the towering of their coiffures.“ 84

Im Gegensatz zum Zeitalter der artifiziellen Turmfrisuren und Schönheitspflästerchen kritisiert Beerbohm das 19. Jahrhundert als eines, das sich dem vermeintlich unsinnigen Glauben an Natürlichkeit hingegeben hat. In paradox überspitzter Form verlangt er ein Zurück zur Oberfläche. Ein weibliches Gesicht solle kein bloßes Abbild eines Charakters sein, es muss vielmehr allein aufgrund seiner rein ästhetischen Qualitäten bewundert werden. „We shall gaze at a woman merely because she is beautiful, not stare into her face anxiously, as into the face of a barometer.“ 85

Das Ende des k­ urzen Essays scheint eine regelrecht essenzielle Beschreibung von B ­ eardsleys toilette-­scene des Lockenraub: „Loveliness shall sit at the toilet, watching her oval face in the oval mirror.“ 86 Hierin paraphrasiert Beerbohm gleichsam die Parallelität z­ wischen weiblicher Ausstaffierung und Rokoko-­Interieur im 19. Jahrhundert. Die Frau ist im harmonischen Ensemble des Wohnraums nur eines von vielen objets d’art, das sich dem gesamten Programm der Ausstattung in Frisur und Kleidung anpassen muss, sodass teils Kleider aus demselben Stoff wie Möbel- und Wandbespannungen gefertigt werden.87 Anne-­Katrin Rossberg beschreibt pointiert, wie aus ­diesem modischen Vergnügen der adeligen Dame des 18. Jahrhunderts eine Verknüpfung des weiblichen Geschlechts mit dem Stil des Rokoko in der bürgerlichen Gesellschaft der 1890er wird. „Der Rokokostil wurzelt in der Formensprache der Natur – die Frau ist aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit naturverbunden; der Rokokostil ist regellos – die Frau emotional und daher unberechenbar; der Rokokostil wird von einer Frau repräsentiert [Pompadour …] – 83 Beerbohm, Max: A Defence of Cosmetics. In: Denny, Norman (Hg.): The Yellow Book. A ­selection. London 1949, S. 137 – 154, hier S. 137. 84 Ebd., S. 138. 85 Ebd., S. 143. 86 Ebd., S. 154. 87 Vgl. Silverman, 1989, S. 30.

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also ist er weiblich; der Rokokostil ist ein Inneneinrichtungsstil – die Welt der Frau ist der Innenraum; der Rokokostil steht für Luxus – die Frau hat ihn zu repräsentieren.“ 88

Beardsley und Beerbohm antizipieren diese Entwicklung in ihren künstlerischen Äußerungen. Zwar zeigt Beardsley seine Frauen des Yellow Book ebenfalls vor Spiegeln, die mit Londoner Straßenlaternen beleuchtet sind,89 als großstädtische Wesen der Nacht, kehrt jedoch immer wieder zur Grundform der table de toilette des 18. Jahrhunderts zurück. Bei Beerbohm wird die bürgerliche Inbeschlagnahme eines vormals aristokratischen Stils für die Ausgestaltung des weiblichen Boudoirs und somit die Fixierung der Frau an den Innenraum zu einem Ort des ästhetizistischen Potenzials verkehrt. Einmal mehr zeigt der Vergleich zu Beerbohms Äußerungen, wie eng Beardsley mit dem Gedankengut und dem historischen Interesse seiner Zeit verwoben ist. Indes stehen die stets prominent inszenierten Leuchter der toilette-­scenes nicht allein für den bekannten Ästhetizismus und Mystizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie sind außerdem eine Chiffre, die für den Künstler selbst einsteht. Nicht nur, dass die Kerze ein wiederkehrendes Motiv in seinen Zeichnungen ist, sie ist auch in verschleierter Form seine Signatur. In einem Brief an den mittlerweile in den USA lebenden ehemaligen Schulfreund Scotson Clark präsentiert der junge Künstler im Februar 1893 stolz sein „trade mark“ 90 bestehend aus drei parallel versetzten, senkrechten Linien und drei Punkten unterhalb der mittleren Linie. Chris Snodgrass schreibt über das japonistische Kürzel, das Beardsley eine Zeit lang für die Unterzeichnung seiner Werke nutzt: „… an equivocal emblem representing (presumably depending on one’s mood) his talismanic candlesticks, sexual penetration and ejaculation, or the familiar obscene hand gesture.“ 91

Auch Cornelia von Detten verweist in ihrer Beardsley-­Monografie auf die „talismanic candlesticks“ und paraphrasiert die verklärende Schilderung der Zeitgenossen, Beardsley arbeite in einem Raum, dessen Tisch einzig mit „Altarkerzen auf goldbronzenen Empire­ ständern“ 92 beleuchtet sein soll. Somit sind die Kerzen als Teil der Selbstinszenierung des Künstlers zu verstehen. Beardsley reiht sich damit einmal mehr in eine noch junge kunsthistorische Tradition ein, die laut Pfisterer und Rosen mit Courbets Bild seiner Pfeife (um 1858) beginnt, in dem sich der Künstler mit dem Abbild eines Alltagsgegenstandes, welcher aufs Engste mit seiner Erscheinung verbunden ist, quasi selbst p ­ ortraitiert.93 Diese 88 Rossberg, 2011, S. 151 f. 89 Vgl. Aubrey Beardsley: Umschlaggestaltung für The Yellow Book III , Spätsommer–Herbst 1894, schwarze Tinte und Bleistift auf Velinpapier, 21 × 16,2 cm, Princeton University Library. 90 Letters, 1990, S. 45. Aubrey Beardsley an G. F. Scotson Clark, ca. 15. Februar 1893, 59 Charlwood Street. 91 Snodgrass, Chris: Beardsley’s Oscillating Spaces. Play, Paradox, and the Grotesque. In: Langenfeld, Robert (Hg.): Reconsidering Aubrey Beardsley. Ann Arbor, Michigan 1989, S. 19 – 54, hier S. 34. 92 Detten, 1993, S. 28. 93 Vgl. Pfisterer; Rosen, 2005, S. 20.

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„­ Auslagerung des Selbst“ findet im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder in Gegenständen statt, die zum Signum von Künstlern werden: s­ eien es die bäuerlichen Holzschuhe Millets oder Whistlers Schmetterling.94 Indem Beardsley also die Leuchter, die pars pro toto für seine Arbeit stehen, auf der table de toilette platziert, evoziert er eine Verknüpfung von kosmetischer Prozedur und eigenem artifiziellen Kunstwollen, wie es bei Beerbohms Ästhetik anklingt. Der Frisiertisch wird zum Schreibtisch des Künstlers; dieser wiederum zum Schrein des Schönen. Eine Fülle von Devotionalien des Schönheitskultes trifft auf den Willen, sich gegen den Massenkonsum des industriellen Zeitalters abzusetzen. Dabei handelt es sich um ein weiteres Paradox der toilette-­scenes, erscheinen sie aus heutiger Sicht doch als prunksüchtige Anhäufungen materieller Güter. Doch für Beardsley und seine Zeitgenossen bedeuten sie offenbar vielmehr eine Äußerung der nostalgisch-­ ästhetizistischen Flucht in eine Zeit der Exklusivität und des ästhetischen Rituals. In der Folge soll nun weiterhin gezeigt werden, inwiefern die toilette-­scenes als selbstreflexiver Kommentar Beardsleys als Illustrator zu verstehen sind. Dies wird schon in der Gegenüberstellung von Text und Bild deutlich. In der Anordnung und Komposition der „Toilette“ in Popes Lockenraub ist schnell die beinahe verschwindende Position des Spiegels zu bemerken, dessen Reflexion verborgen bleibt und so die vermeintliche Spiegelung von Illustration und Literatur negiert. Als erste ganzseitige Zeichnung nach dem Frontispiz ist die toilette-­scene hier als Wiedergabe des gesamten Verständnisses der Pope-­Illustrationen zu begreifen. Embroidered/Geschmückt sind die Textseiten mit Beardsleys Bildern, nicht illustriert. Und so ist wohl auch die Gegenüberstellung von Frisierszene und Canto zu verstehen. Wie die Protagonistin Belinda von ihrer Zofe ausstaffiert, geschminkt und frisiert wird, so wird auch der Text um ein schmückendes Element erweitert. Dies ist zumindest der vordergründige Eindruck, den die Bezeichnung „embroidered“ hinterlassen soll. Abermals scheint der Inhalt bewusst hinter der auch bei Beerbohm geforderten schönen Oberfläche zu verschwinden. Dennoch verlangen die Arbeiten Beardsleys auch in ­diesem Fall, wie oben bereits ausgeführt, eine ikonografische Analyse, die neben der ästhetischen Freude auch das intellektuelle Vergnügen an diesen Blättern hervorbringt. Die Darstellungstradition der Frau bei der Toilette ergibt sich schon früh in der Geschichte der Bildkünste aus den Abbildungen der griechischen Göttin Aphrodite beim Bade. Diese lassen sich nicht nur in erhaltenen Skulpturen nachweisen, sondern sind auch durch Schriftquellen überliefert.95 Letztere bilden auch die Grundlage für die zweite Blüte dieser Ikonografie im italienischen Cinquecento, wo die Toilette der Venus bei Tizian, Bellini und anderen Malern dient, dem Sehsinn (Visus) im Bild zu huldigen. Das Abbild einer spärlich bekleideten Schönheit ist darin ebenfalls Anlass, über die moralischen Implikationen einer solchen Szene zu reflektieren.96 94 Vgl. ebd., S. 20 f. 95 Vgl. Weber-­Woelk, Ursula: Die Toilette der Venus. In: Ausst.-Kat.: Faszination Venus. Bilder einer Göttin von Cranach bis Cabanel. Köln, Wallraf-­Richartz Museum, 2000, S. 246 – 247, hier S. 246. 96 Vgl. ebd., S. 246 f.

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„Der Spiegel als eines der wichtigsten Attribute der Toilette der Venus konnte einerseits Selbsterkenntnis im Sinne von Prudentia, andererseits Selbstverliebtheit und das Risiko bedeuten, von den Blicken der Venus getroffen zu werden, die wie Pfeile Amors wirken.“ 97

Für Beardsleys Zeichnungen, in denen sowohl der Blick auf das Spiegelbild verwehrt wird, als auch die ewig jugendlich schönen Frauen wenig Interesse an selbigem zeigen, spielt diese metaphorische Dimension wohl kaum eine entscheidende Rolle. Oftmals sitzen Beardsleys Frauen mit niedergeschlagenen bis geschlossenen Augen oder einem abgewandten Blick vor ihrem Spiegel. Eine Ausnahme bildet dabei lediglich die selbstversunkene Kameliendame, die der junge Künstler sich bereits 1889/90 zum Thema wählt.98 Hier wird ein Blick auf das diffuse Spiegelbild gewährt und gleichsam an die Fragilität der schwindsüchtigen Heldin Dumas’ gemahnt. Später jedoch scheinen Beardsleys Damen eher einem Moment innerer Schau oder Ablenkung nachzugehen. Der mirroir de toilette 99 ist in Beardsleys Auffassung also weder Signum der Eitelkeit noch „Signum der Selbstunsicherheit“ 100 der Frau. Er bricht damit sowohl mit der tradierten, moralisierenden Sicht auf diese Ikonografie als auch mit einem modernen feministischen Anspruch. In seiner Auffassung des Motivs einer Frau bei der Toilette dürfte der Spiegel einem Topos der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts verwandt sein. In dieser Epoche erfährt das Motiv nicht nur eine neue Hochzeit, sondern wandelt sich auch von der Darstellung einer Göttin zum profanen Typus desselben Sujets; nun mit einer schönen, jungen Dame im Mittelpunkt der Darstellung.101 In ihrer Analyse von Bouchers Portrait der Madame de Pompadour bei der Toilette (1758) beschreibt Melissa Hyde die Spiegelmetaphorik als „a sign of self-­portraiture“ (Abb. 37).102 Die Maitresse Ludwigs XV. sitzt vor ihrem Spiegel und trägt Rouge mit einem Pinsel auf ihre Wangen auf. Den Pinsel hält sie indes in der linken Hand, was auf die Spiegelung der Darstellung verweist und somit den Habitus eines Selbstportraits vermuten lässt. Selbstbewusst zeigt sich die Pompadour hier also als Schmiedin ihrer eigenen Inszenierung als mächtigste Frau bei Hofe.103 Für die Ausdeutung des malerischen Akts Bouchers schließt Hyde daraus: „… this was a way of calling attention to art as manipulation, the product of artifice and not a mere reflection.“ 104 Das Motiv der Spiegelung ist insofern für Beardsley von Belang, als der Spiegel in langer Tradition zunächst an eine wirklichkeitsgetreue oder dem Vorbild angepasste Wiedergabe glauben macht. Doch bricht der Illustrator immer wieder mit dieser Vorstellung, indem 97 Ebd., S. 246. 98 Vgl. Aubrey Beardsley: „La Dame aux Camélias“, Herbst 1889–Frühling 1890, Bleistift, braune Tinte und Aquarell auf Velinpapier, 11,2 × 11,2 cm, Princeton University Library. 99 Begriff übernommen von Rosemarie Gerken, 2007, ab S. 45. 100 Akashe-­Böhme, Farideh: Frau/Spiegel. Frau und Spiegel. In: Akashe-­Böhme, Farideh (Hg.): Reflexionen vor dem Spiegel. Frankfurt am Main 1997, S. 9 – 11, hier S. 11. 101 Vgl. Weber-­Woelk, 2000, S. 247. 102 Hyde, 2006, S. 127. 103 Vgl. ebd., S. 109. 104 Ebd., S. 127.

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Abb. 37 François Boucher: „Madame de Pompadour à sa toilette“, 1758, Öl auf Leinwand, 81 × 63 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA.

er seine Zeichnungen oftmals als Kommentar oder Komplettierung zum zugrundeliegenden Text begreift. Orientiert an Vorbildern aus dem ursprünglichen Entstehungsjahrhundert von Popes Lockenraub, zeigt Beardsley eine adlige Dame in der Mode der französischen 1770er/80er zusammen mit ihrer Zofe, die gerade letzte Hand an die Frisur ihrer Herrin legt. Vergleichbar ist diese Darstellung mit einem Blatt Claude-­Louis Desrais’, das sich heute im Museum of London befindet (Abb. 38). Besonders die charakteristische Haube der Zofe lässt vermuten, dass Beardsley möglicherweise sogar mit ­diesem Stich vertraut ist. Das erotische Potenzial beider Szenen wird durch die Kleidung der adligen Dame an der table de toilette verdeutlicht. Bei Beardsley trägt sie einzig ein Negligé aus Dutzenden, zarten Rüschenschichten. Darüber allerdings legt ihr der Zeichner einen Samtmantel mit Pelzbesatz auf die Schultern. Da der schwere Stoff beinahe nachzugeben scheint und die Haut der Schönen bloßzulegen droht, erhöht sich die voyeuristische Erotik der an sich harmlosen Szene noch einmal. Außerdem ist die Intimität z­ wischen den beiden Frauen im Vergleich zu Desrais’ Stich um ein Vielfaches verstärkt. Zärtlich richtet die Dienerin mit den Fingerspitzen tastend die letzten Strähnen der Frisur, wobei die Haare der Sitzenden wiederum ihr Dekolleté zu kitzeln scheinen. Eine homoerotische Beziehung ­zwischen den beiden Frauen wird zudem durch die suggestiv artikulierte Rüsche am Kleid der Zofe angedeutet.

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Abb. 38 Claude-­Louis Desrais: „Jolie Femme en Pergnoire à sa Toilette“, um 1780, kolorierter Kupferstich, 28,6 × 19 cm, Museum of London.

Doch ist die homoerotische Anspielung keinesfalls als bloßes Mittel zum Zweck zu verstehen. Wenn davon auszugehen ist, dass Beardsley und seine Zeitgenossen sich für die ästhetischen Diskurse und kunstkritischen Aussagen des 18. Jahrhunderts interessieren, kann ebenso voraus­gesetzt werden, dass sich der Künstler auch über die allgemeine Sicht auf die Kunst des französischen Rokoko als effeminierter Stil im Klaren ist. Richard Rand nimmt in seinem Aufsatz „Love, Domesticity, and the Evolution of Genre Painting in Eighteenth-­ Century France“ Bezug auf den kunstkritischen Topos des 18. Jahrhunderts, die Gattungshierarchie der zeitgenössischen Malerei im Modus der Geschlechterhierarchien zu verstehen. „History painting and the minor genres were thus described in gendered terms. […] An art that privileged detail, tactility, and coloristic effects was inevitably derided as ‚feminine‘ as opposed to a ‚masculine‘ art like history painting that foregrounded strong draftsmanship rather than distracting color.“ 105

105 Rand, Richard: Love, Domesticity, and the Evolution of Genre Painting in Eighteenth-­Century France. In: Ders. (Hg.): Intimate Encounters. Love and Domesticity in Eighteenth-­Century France. New Jersey 1997. S. 3 – 19, hier S. 8.

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Die häusliche Sphäre der Genremalerei, zu der auch die Toilettenszenen gehören, wird demnach vollends der Frau zugeordnet. Beardsleys Frauen arrangieren sich indes mit ihrer Position, indem ihre Zuflucht in den Armen der Freundin die räumliche wie lebensweltliche Einschränkung zum erotischen Abenteuer werden lässt. Eine Quelle für diese Auffassung einer solchen „intimité sentimentale“ 106 oder „wahrhaft eigentümlichen Freundschaft“ 107 könnte Beardsley abermals in den Beschreibungen der Goncourts über die Frau des 18. Jahrhunderts gefunden haben. „… il y avait un sentiment, une illusion vive, une sorte de passion. On se jurait une amitié qui devait durer toute la vie ; et que de mines, que d’embrassades, que de tendresses, que de transports mignards, que de chuchottages!“ 108

Belinda und ihre Zofe befinden sich in der Pope-­Illustration in einem geschlossenen Raum, der nur scheinbar einen Blick in einen Garten gewährt. Tatsächlich handelt es sich um einen Paravent, der auf drei Paneelen eine arkadische Landschaft zeigt. Selbst der Landschaftsgarten ist hier transponiert in Kunstgewerbe – wie bei Beerbohm gibt auch Beardsley der Kosmetik/Kunst den Vorzug vor der Natur. Außerdem macht der Paravent als funktionsloser Sichtschutz noch deutlicher auf die Position der Betrachtenden aufmerksam, die hier in eine intime Szene einbrechen. Ganz offen wird es ihnen derweil erlaubt, der Handlung beizuwohnen. Sie sind also weniger Voyeure als vielmehr Gäste bei der grande toilette, wie das soziale Ereignis im 18. Jahrhundert genannt wird.109 Dabei sind oft gleich mehrere Personen anwesend, die der Dame oder dem Herren des Hauses ihre Aufwartung machen. Beardsley ist über solcherlei sozialgeschichtliche Hinter­gründe informiert, zum einen durch die Schriften der Goncourt-­Brüder als allgemein bekannte Quelle auch des späten 19. Jahrhunderts. Zum anderen ist nochmals anzumerken, dass Beardsley im April 1897 selbst zwei Grafiken aus dem Nachlass der Goncourts erwirbt, die sein Interesse für das Thema der femme à sa toilette bekräftigen. An Leonard ­Smithers schreibt er aus Paris: „I have just got two delicious engravings from the Goncourt sale. Toilette pour le bal and Retour du bal engraved by Beauvarlet after de Troy. Ravissants!“ 110

106 Goncourt, 1862, S. 123. 107 Goncourt, 1986, S. 182. 108 Goncourt, 1862, S. 122 f. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 181: „… es steckte ein Gefühl darin, eine lebendige Illusion, eine Art Leidenschaft. Man schwor sich Freundschaft, die das ganze Leben dauern sollte; und dabei ­welche Mienen, Umarmungen, Zärtlichkeiten, verzückte Liebkosungen und welch ein Gewisper!“ 109 Vgl. Laneyrie-­Dagen, Nadeije; Vigarello, Georges: Ausst.-Kat.: La Toilette. Naissance de l’intime/ The Invention of Privacy. Paris, Musée Marmottan Monet, 2015, S. 79. 110 Letters, 1990, S. 307 f. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 26. April 1897, Hôtel Voltaire, Paris.

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Abb. 39 und 40 Jacques-­Firmin Beauvarlet nach Jean-­François de Troy: „Toillette [sic] pour le bal, Retour du bal“, 1758, Kupferstich, jeweils 44,5 × 35,4 cm, Bibliothèque nationale de France, Paris.

Die beiden Stiche nach Jean-­François de Troys Gemälden zeigen neben einer eindrücklichen Lichtregie auch die vielen während der Toilette der Dame anwesenden Personen (Abb. 39 und 40). Zwar sind keine weiteren dieser Gäste auf Beardsleys Bild zu sehen, doch lässt der Künstler seinen Rezipienten so in der Schwebe z­ wischen verbotener Schaulust und ‚freigiebigem‘ Bildobjekt. Näher orientiert sich Beardsley an solchen vielfigurigen Darstellungen in der Illus­ tration seiner eigenen Erzählung Venus and Tannhäuser/Under the Hill. Die Namen der auftretenden Charaktere ändern sich in den unterschiedlichen Entstehungsphasen des Textes, sodass anstelle einer Toilette der Venus eine „Toilet of Helen“ vorliegt (Abb. 41). Venus/Helena sitzt ganz ähnlich wie in De Troys Gemälde auf der linken Bildseite an einer opulenten table de toilette. Die bekannten Leuchter sind hier durch einen riesenhaften, geschmückten Kandelaber mit 13 Kerzen ersetzt. Das zurückgeschlagene Tuch am Rand des Spiegels, dessen Rückseite gerade noch links zu erahnen ist, fällt ebenfalls weit voluminöser aus. Auch eine kleine Puderdose ist wie zu erwarten am vorderen Tischrand platziert. Die Dame am Frisiertisch trägt ein ähnliches Kostüm, wie es bereits in der Pope-­Illustration zu sehen war: ein diesmal differenzierter ausgeformtes Rüschennegligé und ein schwerer Samtmantel mit Blumenornament. Delikat ist indes, dass Beardsley es sich in ­diesem Fall erlaubt, die Brüste der Göttin ­zwischen Kragen und Taille des Negligés unbekleidet zu zeigen. Obendrein hält sie in ihrer Linken einen

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Abb. 41 Aubrey Beardsley: „The Toilet of Helen“, ca. 12. November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Papier, 25 × 17,5 cm, Original zuletzt verzeichnet im Auktionskatalog von Paul Graupe (Berliner Buchhändler) 1918, Verbleib unbekannt

Handspiegel in suggestiver Position, der laut Allison Pease an autoerotische Selbstbeschau denken lässt.111 Der Handspiegel weist sie allerdings zusätzlich als Göttin der Liebe aus.112 Umgeben ist diese sowohl in Beardsleys Text als auch in seinem Bild von einem ganzen Hofstaat. „The coiffeur Cosmé was caring for her scented chevelure, and with tiny silver tongs, warm from the caresses of the flame, made delicious intelligent curls that fell as lightly as a breath about her forehead […]. Her three favourite girls, Pappelarde, Blanchemains and Loreyne, waited immediately upon her with perfume and powder in delicate flaçons [sic] and frail cassolettes, and held in porcelain jars the ravishing paints prepared by Chateline for those

111 Vgl. Pease, 2000, S. 103. 112 Philostratos spricht in seinen Eikones explizit von einem kleinen Silberspiegel als Attribut der Venus. Vgl. Schäpers, 1997, S. 46; Weber-­Wolke, 2000, S. 246.

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cheeks and lips that had grown a little pale with anguish from exile. Her three favourite boys, Claud, Clair and Sarrasine, stood amorously about with salver, fan and napkin.“ 113

Im Vordergrund fallen drei höfische Zwerge mit teils grotesk hohen Perücken ins Auge, von denen sich einer dem Spiel seines Instruments und dem Notenblatt zuwendet, die anderen beiden jedoch in eine wilde Rauferei verfallen sind und durch freches ­Haareziehen die Frisierszene humoristisch oder gewalttätig kommentieren.114 Chris Snodgrass und Ian Fletcher haben bereits Ende der 1980er in ihren Beiträgen zum Sammelband „Reconsidering Aubrey Beardsley“ einige entscheidende Beobachtungen zu Beardsleys „Toilet of Helen“ angestellt, deren horror vacui Snodgrass als „explosion of visual and metaphysical confusion and contradiction“ 115 bezeichnet. Helenas/Venus’ Rolle als Objekt erotisch-­höfischer Devotion und ihre Position an der table de toilette hat er wie folgt äußerst treffend beschrieben: „[She is a] sexual animal, a fact confirmed not only by her bare breasts, but by having her pointed left foot juxtaposed with the cloven-­hoofed leg of her dressing table, with its multiple-­breast and animal-­head ornamentation.“ 116

Die animalisch-­monströse Ausgestaltung des Möbelstücks verweist also in der physischen Nähe zum Körper der Liebesgöttin auf deren sexuelle Kreatürlichkeit. Nicht nur Fuß und Tischbein gehen dabei eine Allianz ein, auch die Rüschen am Baldachintuch über dem Spiegel parallelisieren die Rüschen an Venus’ Korsett und das vielbrüstige Profil der Tischkante konkurriert geradezu mit der Barbusigkeit der Göttin. Der Hofzwerg, der im nonchalanten Schneidersitz unter dem Frisiertisch platzgenommen hat, lässt Chris ­Snodgrass weiterhin schlussfolgern: „In this way she is made to seem more closely akin to the grotesque ‚monsters‘ in the drawing than her ladies-­in-­waiting.“ 117

Zum einen dient die Gegenüberstellung von Liebesgöttin und monströsem Möbel also der Untermalung der alles überstrahlenden Erotik der Szene. Zum anderen stellt die kompositorische und gestalterische Nähe z­ wischen Frau und Objekt abermals den eingangs skizzierten Zusammenhang von Interieur und Dame im 18. und 19. Jahrhundert heraus. 113 Beardsley, 1993, S. 17. 114 Dass der Musiker nur eine marginale Position in der tumultartigen Vordergrundgestaltung einnimmt, passt ebenfalls in das Bild, das Rosemarie Gerken von der Toilette im 18. Jahrhundert vermittelt. Musik, so stellt sie fest, war „mehr als tönende Untermalung des Geschehens […], aber nie als echte künstlerische Darbietung zu verstehen“ und, „dass für einen musikalischen Beitrag, den man als kunstvoll hätte bezeichnen können, die table de toilette nicht der geeignete Ort war.“ Gerken, 2007, S. 172. 115 Snodgrass, 1989, S. 46. 116 Ebd., S. 48. 117 Ebd.

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Die ästhetische Überformung des Möbelstücks, die für die zeitgenössischen Rezipienten an die exzentrischen Erfindungen eines Jean-­Charles Delafosse (1734 – 1791) mit seinen Möbelentwürfen des Rokoko erinnern könnte, dient hier also als symbolischer Kommentar darüber, wie die gesamte Szene zu verstehen ist. Ian Fletcher komplettiert diesen Eindruck: „… a theme that always fascinated Beardsley: manufacturing the mask of society, suggesting here the commission of erotic acts, dressing and undressing; sexual cults and rites and, of course, theatre.“ 118

Die Toilette als Emblem der sozialen Maskerade ist daher als zentrales Motiv in B ­ eardsleys Werk zu begreifen. Sie spiegelt seinen Umgang mit dem zeitgenössischen Publikum und dessen ambivalenter Haltung zum erotischen Sujet. „[The Toilet of Helen] indicates Beardsley’s typical joke of revealing what current bourgeois taste might have hidden and conversely hiding what bourgeois taste or morality would have permitted to be revealed.“ 119

In Under the Hill lässt sich Beardsley nicht allein auf Vokabular und Erzählweise des erotischen Romans des Rokoko ein, er paraphrasiert die vermeintlich typischen stilistischen Eigenheiten des vergangenen Jahrhunderts auch in der besprochenen Illustration. Natürlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Erzählung als ein anachronistisches Konglomerat zu begreifen ist, das seine Quellen und Anspielungen aus ganz unterschiedlichen Epochen speist. Pseudomittelalterlicher Wagnerismus prallt darin auf die exquisite Fülle des französischen Rokokointerieurs und die Grotesken der italienischen Renaissance. „The Toilet of Helen“ beweist allerdings die beeindruckende Fähigkeit des Zeichners und Erzählers, das Echo des 18. Jahrhunderts, wie es im fin de siècle nachhallt, produktiv aufzunehmen und im individuellen Verständnis wiederzugeben. Zwischen schwirrender Erotik und der Liebe zur Übertreibung macht sich Beardsley die Ästhetik des wiederbelebten Rokoko zunutze, um das tradierte Motiv von Venus bei der Toilette neu zu interpretieren. Es handelt sich nicht um Bellinis oder Tizians Venus, deren Spiegel Anlass zur malerischen Reflexion über Realitäts- und Imitationsebenen bieten, sondern um ein Geschöpf, das sich völlig in der Lust und Lüsternheit der Toilette verliert, ohne dabei einen Blick auf die Dinge zu gewähren, die in ihrem Spiegeln zu entdecken wären. Im malerischen Diskurs des 18. Jahrhunderts offenbart sich ein weiterer Aspekt, der für Beardsleys toilette-­scenes von großer Bedeutung ist. Der kosmetische Akt ist speziell in ­dieser Epoche eng mit dem künstlerischen Akt des Malens verbunden. In Rekurs auf Platon beschreibt Aileen Ribeiro ­dieses Phänomen wie folgt:

118 Fletcher, 1989, S. 234. 119 Ebd., S. 248.

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„… both [woman and artist] use paint to create an image that is at the same time truthful and flattering, according to the fashionable taste of the moment.“ 120 „The finished work of art, the portrait, is therefore a collaborative enterprise between sitter and artist, in which cosmetics play their part. […] just as the naked body turns into the nude by being polished and enhanced with carefully placed draperies, accessories and jewellery.“ 121

In ­diesem Diskurs spielt die Farbe eine entscheidende Rolle. Da diese im Werk Beardsleys keinen solch zentralen Platz einnimmt, konzentriert sich der Zeichner auf eine andere Möglichkeit, die künstlerische Selbstreflexion des Grafikers in seinen toilette-­scenes zu visualisieren. Für ihn, wie für viele folgende Künstler des Art Nouveau, wird die lineare wie flächige Ästhetik des Haars zum grafischen Modus der medialen Selbstbestimmung. In seinen schwungvollen Linien, die bis hin zu ornamentalen Qualitäten reichen, bildet die künstlerische Wiedergabe des weiblichen Haars einen genuinen Ausdruckswert für die Kunst des europäischen Jugendstils, wie er bei Beardsley seinen Anfang nimmt. Seine toilette-­scenes sind nicht auf das Auftragen von Make-­up oder die Waschung bezogen, sondern stellen zumeist konkrete Frisierszenen dar. Das Legen der Haare wird damit zum ikonografischen Ausdruck des Zeichnens. Wie wichtig diese Handlung für Beardsley ist, wird deutlich in seinem Gedicht „The Ballad of a Barber“ mit dem dazugehörigen Blatt „The Coiffing“, die im Juli 1896 in der dritten Ausgabe des Savoy erscheinen. Eindeutig ein bereits 1893 in John Grays Silverpoints erschienenes Gedicht mit dem Titel „The Barber“ rezipierend,122 beschreibt der Künstler den Mord an einer 13-jährigen Prinzessin durch ihren Hof­friseur namens „Carrousel“. Berauscht von der jugendlichen Schönheit, zerbricht dieser den Hals eines Parfumflakons und ersticht damit das Mädchen: eine kosmetische Konservierung im Tod. „He snatched a bottle of Cologne, And broke the neck between his hands; He felt as if he was alone, And mighty as a king’s commands. The Princess gave a little scream, Carrousel’s cut was sharp and deep; He left her softly as a dream That leaves a sleeper to his sleep.

120 Ribeiro, 2011, S. 32. 121 Ebd., S. 34. 122 Vgl. Gray, John: The Barber. In: Beckson, Karl (Hg.): Aesthetes and Decadents. An Anthology of British Poetry and Prose. Chicago 1993, S. 105 – 106.

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Abb. 42 Aubrey Beardsley: „The Coiffing“, ca. 3. April 1896, schwarze Tinte auf Papier, 25,7 × 17,5 cm, Privatbesitz (seit 2015).

He left the room on pointed feet; Smiling that things had gone so well. They hanged him in Meridian Street. You pray in vain for Carrousel.“ 123

Von dieser grausamen, doch leichtfüßig erzählten Handlung ist in Beardsleys Zeichnung freilich nichts zu sehen (Abb. 42). Dennoch ist man hier seltsam konfrontiert mit den beiden innehaltenden Gestalten. In Beardsleys anderen Darstellungen des Themas sind die Figuren von der Seite zu sehen, einem Spiegel zugewandt. Diesmal scheint sich der Spiegel vor dem Bild zu befinden. Wir werden somit in die Rolle der Zeugen gerückt, kurz bevor die grausame Tat ihren Lauf nimmt. Der Coiffeur scheint sich gedankenverloren

123 Beardsley, Aubrey: The Ballad of a Barber. In: ebd., S. 6 – 9, hier S. 8 f.

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in einem Moment der Eingebung zu befinden, die ihn auf die Idee bringt, das schöne Modell nicht altern lassen zu wollen.124 Erneut findet die angehaltene Handlung in einer historisierten Umgebung statt. ­Rodney Shewan fasst diesen Eindruck genauer, wenn er sagt: „The Coiffing, places the action in a recognizably, if not quite accurate, rococo setting.“ 125 Dies ist sicherlich passend zum ebenfalls historisierten Gedicht zu verstehen. Der Hof-­Coiffeur lässt an die weit verbreiteten Memoiren des französischen Hofes aus dem 18. Jahrhundert denken, in denen der Friseur als Vertrauter der Dame des Hauses einen wichtigen Platz einnimmt. Leonard Smithers gilt als einer der wichtigsten Herausgeber solcher Werke, s­ eien sie nun authentische Quellen des Ancien Régime oder fiktive Autobiografien. So bringt er beispielsweise im darauffolgenden Jahr (1897) eine englische Übersetzung der Souvenirs de Léonard, coiffeur de la reine Marie-­Antoinette (1838) mit einer Einbandgestaltung von Aubrey Beardsley heraus.126 In schlichter Manier beschränkt sich der Zeichner hier nur auf einen einzelnen, von fleur-­de-­lys-­artigen Ornamenten umgebenen Leuchter, der den wissenden Käufer eines solchen Buches sicher hinreichend auf das an der table de toilette spielende Geschehen der Erzählung vorbereitet. Das Buch findet auch schon kurz nach seiner ersten Erscheinung während des gesamten 19. Jahrhunderts großen Absatz. Die posthum erschienenen Lebenserinnerungen des Hof­friseurs Marie Antoinettes sind höchstwahrscheinlich nicht die authentischen Memoiren Léonard Autiés, sondern eher ein Werk seines Zeitgenossen und Journalisten Georges Touchard-­Lafosse.127 Es ist davon auszugehen, dass Beardsley auch schon vor 1897 mit dem Stoff vertraut ist und ihn die unterhaltsamen und oftmals erotischen Abenteuer des Coiffeurs in entscheidendem Maße für seine Vorstellung dieser Figur prägen. Auch die Goncourts n ­ utzen Léonard als Folie für ihre Auffassung des Friseurs als schöpferische Künstlerpersönlichkeit im 18. Jahrhundert: „Le coiffeur! Il se juge, il s’appelle ‹ un créateur › dans ce temps où, de toutes les modes, la mode des cheveux est celle qui vieillit le plus vite, – si vite que Léonard avait pris l’habitude de dire autrefois pour hier !“ 128

124 Beardsley macht sich hier einen ähnlichen Topos, wie wenig später Dowson in seinem Gedicht The Dead Child. „The Dead Child, a poem from Decorations [1899], imagines death as a means of arresting the development of innocence to maturity, preserving the child in an ideal state of youth before the transition to adulthood can take place.“ Condé, 2017, S. 207. 125 Shewan, 1989, S. 153. 126 Vgl. Nelson, 2000, S. 104; siehe Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 378. 127 Vgl. Fischer, Carolin: Vorwort. In: Autié, Léonard: Léonard. Der Coiffeur der Königin. Berlin 2012, S. 9 – 21, hier S. 13. 128 Goncourt, 1862, S. 302. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 365: „Der Coiffeur! Er dünkt sich und nennt sich einen ‚Schöpfer‘ in dieser Zeit, wo von allen Moden die Mode der Frisur am schnellsten altert,– so schnell, daß Léonard die Gewohnheit angenommen hatte, ehemals für gestern zu sagen.“

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Bei ihnen wird Léonard geradezu zum Modernisten, wenn er sich einer der flüchtigsten Künste seiner Zeit zuwendet. Der Friseur ist aus Sicht des 19. Jahrhunderts somit eine der vielen historischen Identifikationsfiguren des Künstlers. 129 Inspiriert steht Léonard laut seinen Lebenserinnerungen vor so manchem Haupt einer Schauspielerin oder Dame des Hofes und findet dabei die intuitiven Eingaben zu seinen spektakulären Coiffuren.130 Nachdem er für Marie Antoinette die hoch aufgetürmte Frisur zur Mode machte, folgen alsbald zahlreiche zeitgenössische Karikaturen, die den Schöpfer solcher Werke auf einer Leiter stehend die letzten Kammstriche setzen lassen.131 Auch diese zwar komische Darstellung ist indes einem Künstler oder Bildhauer bei der Arbeit nicht unähnlich. Die Goncourts werden in ihrem Verständnis des Coiffeurs als Künstler noch konkreter, wenn sie als Beispiel eine Publikation aus Léonards Lebenszeit heranziehen: „Aussitôt paraît un Mémoire des coiffeurs des dames de Paris contre le communauté des maîtres barbiers, perruquiers, baigneurs, étuvistes, mémoire assimilant l’art libéral du coiffeur de dames à l’art du poëte, du peintre, du statuaire, énumérant tout ce qu’il lui faut de talents, ‹ de science du clair obscur ›, de connaissance de nuances …“ 132

Schon während des 18. Jahrhunderts gibt es Stimmen, die eine s­olche Sicht erhärten. Aileen Ribeiro bezieht sich in ihrer Studie zur Frau ­zwischen Kunst und Kosmetik auf eine Schrift William Barkers, die dieser 1780 der Duchess of Devonshire widmet und in welcher er schreibt, die Kunst des Friseurs sei der des Malers oder Bildhauers gar überlegen. „The painter, though an Apelles, leaves you only a figure without motion; nor can all his tints, his dyes, and touches, make that picture move …“ 133

129 Dies wird zusätzlich in der Figur des Pietro Belcampo (Peter Schönfeld) aus E. T. A. Hoffmans „Elixiere des Teufels“ (1815) deutlich, der sich vor der Hauptfigur des fantastischen Romans über mehrere Seiten als genialischer Künstler des Ephemeren präsentiert. Vgl. Hoffmann, E. T. A.: Die Elixiere des Teufels. Köln 2018, S. 110 – 115; Williams, Sean M.: E. T. A. Hoffmann and the Hairdresser around 1800. Publications of the English Goethe Society, 1, 2016, S. 54 – 66. 130 Siehe hierzu beispielsweise Léonards Beschreibung der Genese seiner ersten spektakulären Coiffuren für junge Schauspielerinnen in Paris, die ihn angesichts jedes neuen Models zu ebenso neuen Ideen beflügelt. Vgl. Autié, Léonard: Souvenir de Léonard, coiffeur de la reine, Bd. I. Paris, 1838, S. 38 f. 131 Vgl. Ribeiro, 2011, S. 202 f. Siehe hierzu beispielsweise die Darstellung eines solchen Coiffeurs auf einem Fächer aus der Mitte der 1770er Jahre mit dem Titel „La Folie des Dames de Paris“, Gouache auf Vellum, Fan Museum, London. Vgl. ebd., S. 203. 132 Goncourt, 1862, S. 307. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 370: „Sehr bald erscheint ein Mémoire des coiffeurs de dames de Paris contre la communauté des maîtres barbiers, perruquiers, baigneurs, ­étuvistes, eine Abhandlung, die die freie Kunst des Damencoiffeurs mit der Kunst des Poeten, des Malers, des Bildhauers vergleicht und alles aufzählt, was die an Talenten nötig hat, das ‚Studium des Clair-­obscur‘, die Kenntnis der Nuancen …“ 133 Barker zitiert nach Ribeiro, 2011, S. 204.

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Abb. 43 Aubrey Beardsley: „The Toilette of Salome“ (erste Fassung), Sommer 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 23,2 × 19,3 cm, Victoria & Albert Museum, London.

Es handelt sich bei der Figur des Künstler-­Coiffeurs also um einen Topos, der nicht nur in den Publikationen der Goncourts Verwendung findet, sondern sicher noch bis in das späte 19. Jahrhundert nachhallt. Für mein Verständnis von Beardsleys toilette-­scenes ist die Vorstellung vom Coiffeur als Künstlerfigur ein entscheidender Schlüssel zur Interpretation dieser Zeichnungen. Besonders anschaulich wird dieser Ansatz anhand der beiden Fassungen der Toilette ­Salomes für Oscar Wildes Einakter. Die erste Version, die wegen zu zahlreicher und eindeutiger erotischer Allusionen von John Lane verworfen wird, zeigt eine japonistische Variante nach dem tradierten Modell einer Toilette des 18. Jahrhunderts (Abb. 43). Mehrere Personen sind anwesend: ein androgyner Musiker ganz links, neben ihm ein nackter Jüngling auf einem Hocker, der die Hände in den Schoß legt, während er den anderen unbekleideten Diener auf der rechten Bildseite betrachtet – eine suggestive Geste, die insbesondere für die Ablehnung der Zeichnung sorgt.134 An einem zarten, japonistisch reduzierten

134 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 33.

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­ öbelstück, das in seiner Grundform dennoch an die Zweiteilung der bisher betrachteten M tables de toilette bei Beardsley gemahnt, hat Salome platzgenommen. Sie ist nicht mit viel mehr als einem Tuch über ihren Schultern bekleidet. Ansonsten wird freie Sicht auf ihren weißen Körper gewährt. Ihr Gesicht umspielt ein Lächeln, dessen Ursache sich erklärt, sobald der Blick an ihr heruntergleitet. Auch sie hat eine Hand z­ wischen ihren Schenkeln verschwinden lassen und scheint ganz versunken in eine morgendliche Masturbation, in der sie sich auch von den Anwesenden nicht stören lässt. Bis auf die charakteristischen Leuchter, deren kompositionelle Senkrechte diesmal vom Saiteninstrument des Musikers und einem großen Blumenstrauß übernommen wird, lassen sich die üblichen Gegenstände auch auf d ­ iesem Frisiertisch wiederfinden: Spiegel, Puderdose, Parfumflakon und weitere Schächtelchen sind auf der schwarzen Fläche zusammengestellt. Auffällig sind die unteren Ablageflächen im vorderen Bereich des Tisches, auf denen sich neben weiteren, nicht näher identifizierbaren Objekten auch französische Bücher (Zolas oder Baudelaires etwa) sowie eine kleine Plastik der ebenfalls für Beardsley charakteristischen Identifikationsfigur eines Embryos befinden.135 Dieser spiegelt Salomes Pose und Umhang. Hinter der Tochter Herodias’ steht eine zunächst befremdliche Figur, wo ein Coiffeur zu erwarten wäre. Ein Pierrot mit großem runden Kopf, schwarzer Maske und schwarzem Spitzbärtchen hat diese Rolle eingenommen. Auch er ist bis auf diese zwei Accessoires wie Salome ganz in Weiß gehalten und nur durch zarte Umrisslinien artikuliert. Somit gehen er und die Prinzessin im Bild eine gestalterische Einheit ein. Pierrot ist gerade damit beschäftigt, die Haare Salomes zu pudern. In einer Hand hält er die Puderquaste, mit der anderen hebt er eine Strähne aus dem ansonsten ungeteilten Haar heraus. Milly Heyd hat diese Geste Pierrots als bedrohlich gegenüber Salome klassifiziert. Mit der Puderquaste neble er die Prinzessin wie ein Zauberer ein und an der Haarsträhne könne er sie sogleich hinziehen, wo immer er möchte.136 In Heyds Modell von Beardsleys zwei Pierrots nimmt der maskierte Clown die Position des sogenannten „Anti-­Pierrots“ ein. Diese Bezeichnung begründet sie wie folgt: „I have chosen the term Anti-­Pierrot to refer to the clown when he arouses demonic associations which are symbolized by the use of a black eye mask.“ 137

In dieser Aussage klingt bereits der psychoanalytische Ansatz ihres gesamten Essays, wie auch ihrer wenig später erschienenen Beardsley-­Monografie 138 an. Sicher wirkt die schwarze

135 Auf den Embryo bei Beardsley kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Verwiesen sei in Bezug auf d ­ ieses Motiv vor allem auf sein Frühwerk in den Bon-­Mots und die L ­ egendenbildung um Beardsleys inszenierte Selbstwahrnehmung und biografische Skandale. Chris Snodgrass schreibt zur Figur des Embryos: „Beardsley’s ontological ‚self-­portrait,‘ an implicit recognition that his own life would be ‚aborted‘ before its full term.“. Snodgrass, 1989, S. 37. 136 Vgl. Heyd, 1983, S. 166. 137 Ebd., S. 166. 138 Vgl. Heyd, Milly: Aubrey Beardsley. Symbol, Mask and Self-­Irony. New York 1986.

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Maske nicht gerade vertrauenserweckend und sicher hat diese Maske psychologische Implikationen, derer sich Beardsley aber sehr wohl bewusst sein muss. So bin ich der Meinung, dass sich in dieser Zeichnung, wie auch seinen anderen Werken, weniger sein vermeintlich gespaltenes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht ablesen lässt. Vielmehr nutzt Beardsley die Figur des Pierrot und die Ikonografie der Toilette, um die eigenen und zeitgenössischen ästhetischen Parameter auszuloten. Der maskierte Pierrot ist an dieser Stelle nicht als unmittelbare Bedrohung für Salome zu deuten. Er stellt, wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, eher eine Identifikationsfigur des Künstlers dar. Beardsley nutzt diesen Kunstgriff, um seine Identifizierung mit der Person des Coiffeurs deutlich zu machen. Der Pierrot als Alter Ego des dekadenten Intellektuellen ist in jener Zeit ein längst gängiges Motiv, das den Connaisseurs solcher Zeichnungen aus zahlreichen literarischen und künstlerischen Vorgängern bekannt ist. Wenn Beardsley also Pierrot als Coiffeur auftreten lässt, macht er es dem Rezipienten seines Bildes leichter, die ästhetische Wahlverwandtschaft zum coiffeur artiste des 18. Jahrhunderts herzustellen. Wie einst Léonard, versteht sich der junge Engländer als inspirierter Schöpfer, der es bewerkstelligt, aus den unterschiedlichsten Versatzstücken ein einheitliches Kunstwerk zu schaffen, das durch höchste ästhetische Qualität besticht. Die Maskerade Pierrots begreife ich als einen weiteren Verweis auf den ebenfalls gängigen Topos der 1890er, welcher die Maske als Symbol für soziale Kostümierung und Emblem des Künstlers versteht. In der toilette-­scene steht sie vordergründig für die kosmetische Maskierung, die gerade mit Salome vorgenommen wird. Während der Toilette verwandelt sich die Frau in das öffentliche Wesen, als das sie im 19. Jahrhundert gesehen wird. Außerdem ist sich Beardsley sicher auch der erotischen Implikation hinter d ­ iesem Vorgang bewusst. Nicht zuletzt ahmt schließlich das Make-­Up alle Indikatoren sexueller Erregung nach: Rötung der Wangen und Lippen oder das Glänzen der Augen.139 So wird die Maske um das Motiv der erotischen Verkleidung erweitert. In der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts ist die Freude am Spiel mit Travestie und Maskerade ein immer wiederkehrender Topos. Die Toilette wird dabei zum alltäglichen Modus dieser beliebten Kostümierung und überführt das frivole Spiel der Identitäten vom Maskenball ins Boudoir. In den Stichen nach de Troy in Beardsleys Besitz verschmelzen die beiden Topoi sogar ineinander, wenn der Künstler die Vor- und Nachbereitungen eines Maskenballs am Toilettentisch darstellt. Die oben eingeführten ästhetischen Eigenheiten, die Max Beerbohm für die Kunst der Kosmetik einräumt, sind auch in Salomes Toilette relevant. Jedes Detail des Bildes verstärkt die artifizielle Grundstimmung der Szene. Augenscheinlich bedient sich Beardsley hier an japanischen Vorbildern, die jedoch nicht genau zu ermitteln sind. Cornelia von Detten weist allerdings darauf hin, dass die Frau bei der Toilette auch in der japanischen Kunst ein tradiertes Thema darstellt,140 und Collette Colligan stellt fest, dass die ­Puderquaste

139 Vgl. Ribeiro, 2011, S. 16. 140 Vgl. Detten, 1994, S. 116.

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Abb. 44 Aubrey Beardsley: „The Toilette of Salome“ (zweite Fassung), November 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 22,7 × 16,2 cm, British Museum, London.

in japanischen Holzschnitten oftmals weibliches Schamhaar evozieren soll.141 Letzterer Aspekt würde vor allem eine weitere Erklärung für Beardsleys häufige Verwendung d ­ ieses Motivs liefern. Der Exotismus des 19. Jahrhunderts vereinigt sich hier indes mit einem motivischen Kanon des 18. Jahrhunderts. Die Dame vor dem Spiegel und der Pierrot sind ­Versatzstücke aus einer anderen Epoche, die in diese modernistische Ästhetik einbrechen und ihre Ursprünge hinterfragen (Kap. 8). In der zweiten Version der „Toilette of Salome“ behält Beardsley die Figur des maskierten Pierrot als Friseur bei (Abb. 44). Obwohl im Typus beinahe identisch, ist er hier nicht mit einem französisch anmutenden Spitzbart zu sehen, sondern zeichnet sich durch eigentümliche Pausbäckchen aus. Auch er ist mit Salomes Haar beschäftigt, das diesmal zu einem enormen Volumen in einem schwarzen Kreis toupiert worden ist. Hiermit nimmt

141 Vgl. Colligan, 2006, 152.

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der Zeichner auch auf eine allgemeine Modeerscheinung speziell der 1870er Bezug, in der der sogenannte Chignon – ein großes Haarkissen – wieder en vogue ist. Diese Mode sowie die Kleidung jener Zeit rezipiert in auffälligem Maße den Stil und die Silhouette des 18. Jahrhunderts mit der geschnürten Taille und dem hohen Haar.142 Salomes nunmehr schwarze Haare heben sich stärker vom weißen Coiffeur dahinter ab. Sie trägt außerdem ein schwarzes Kleid, das ihre vorherige Blöße bedeckt, ihre Reize jedoch nicht zur Gänze verhüllt. Abermals umfängt sie ein großes Tuch, das ihre Arme verschwinden lässt und somit die passive Haltung der Sitzenden der beweglichen Agilität von Pierrots Armen gegenüberstellt. Beardsley verzichtet auf das weitere Personal, um möglichen vorherigen Anspielungen zu entgehen. Diese Reduktion verstärkt nochmals die japonistischen Kompositionselemente der Zeichnung. Besonders im Hintergrund wird mit der Überlagerung unterschiedlicher Flächen und großzügigen Anschnitten operiert. Dennoch lässt es sich Beardsley auch hier nicht nehmen, auf den genuin französischen Ursprung dieser höfisch zu bezeichnenden Toilette zu verweisen. Er nutzt dazu abermals die Bücher, w ­ elche wieder auf der unteren Ablage des Frisiertisches zu erkennen sind. Folgende Titel sind zu lesen: Nana, Les Fêtes Galantes, Marquis de Sade, Manon Lescaut und The Golden Ass. Zu allererst macht die Anwesenheit von Büchern überhaupt auf einen weiteren Subtopos der Toilettenikonografie des ausgehenden 18. Jahrhunderts aufmerksam. Ein anonymer Stich aus dem Jahr 1780 zeigt eine Dame, die, anstatt sich ihrem Spiegelbild zu widmen, völlig in ihre Lektüre versunken ist (Abb. 45). Die Bildunterschrift erklärt schließlich, dass sich die junge Frau ganz im aufklärerischen Habitus der Zeit lieber ihrer Bildung als ihrem nur ephemeren Äußeren zuwendet. Zwar schenkt Beardsleys Salome den Büchern in ­diesem Moment keine Aufmerksamkeit, aber ihre reine Präsenz lässt vermuten, dass der Künstler sie in die Reihe seiner anderen lesenden Frauen verorten möchte (Kap. 7). Als Parerga haben die Bücher in „The Toilette of Salome II “ eine entscheidende Funktion, die Interpretation des Bildes zu erweitern und gleichsam zu verwischen. Daher sollen im Folgenden nur kurze Angebote zum Verständnis dieser Buchtitel gegeben werden. Zolas Nana (1880) ist als moderner Klassiker über die Geschichte einer Prostituierten sicherlich als Hinweis auf den zweifelhaften Nutzen zu verstehen, den Salome aus ihren erotischen Reizen zieht. Außerdem liegt der Gedanke an Manets gleichnamiges Gemälde (1877) nahe, in welchem Nana halb bekleidet vor einem Spiegel steht und sich uns mit der Puderquaste in der Hand zuwendet.143 Ganz ähnlich widmet sich auch der mit Beardsley künstlerisch eng verwandte Belgier Félicien Rops in seinem Aquarell „La toilette“ der Serie Cent croquis lêgers pour réjouir le coeur des honnêtes gens (1878 – 80) der Darstellung einer Prostituierten mit ihrem Verehrer.144 Dieser wartet im schwarzen Anzug auf dem Sofa sitzend, während eine Schwester Nanas vor Waschbecken und Spiegel 142 Vgl. Ribeiro, 2011, S. 244 – 249. 143 Vgl. Edouard Manet: „Nana“, 1877, Öl auf Leinwand, 154 × 115 cm, Hamburger Kunsthalle. 144 Vgl. Félicien Rops: „La Toilette“, z­ wischen 1878 und 1881, Pastell, Steinkreide, Bleistift und Aquarell auf Papier, 22 × 14,5 cm, Privatbesitz, Paris.

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Abb. 45 Unbekannter Künstler: Illustration aus Almanach généalogique pour l’année, 1780, Kupferstich; 10,5 × 6,5 cm, Sammlung Georges Vigarello, Paris.

noch einmal ihr leicht bekleidetes Äußeres prüft. Beardsley allerdings, wissend um diese Tradition der Toilette im Kontext des Bordells, verzichtet auf den wartenden Freier und entscheidet sich stattdessen für die Andeutung mit Hilfe des suggestiven Buchrückens im Regal. Damit wird die zeitgenössische Bewertung Salomes als gefährliche Hetäre oder femme fatale literarisch kommentiert. Verlaines Gedichtband Fêtes Galantes (1869) ist bereits als zentrales Bezugssystem für die englische Dekadenz herausgestellt worden. Die Toilette als Thema der ­galanten Malerei des Rokoko wird mit ­diesem Verweis indirekt evoziert. Ein Band, auf dem ohne jeden Hinweis auf ein konkretes Werk schlicht „Marquis de Sade“ geschrieben steht, könnte als intuitive Randnotiz zum sadistischen Potenzial von Wildes Lesart des biblischen Stoffes aufgefasst werden. Mit Prévosts Manon Lescaut (1733/35) wird abermals auf die zerstörerische Wirkmacht der Frau hingewiesen, wie sie sowohl in Prévosts Roman destruktiven Einfluss auf das Leben des haltlos verliebten Protagonisten hat, wie auch in Wildes Salome König Herodes zu Handlungen verführt, die er im Nachhinein bereut. Während diese Klassiker der französischen Literaturgeschichte stehend ihren Platz unter dem Frisiertisch gefunden haben, ist eine englische Übersetzung des lateinischen Romans Der Goldene Esel oder „Metamorphosen“ von Apuleius (2. Jh. n.

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Abb. 46 William Hogarth: „The Toilette“, 4. Blatt aus der Serie „Marriage A-la-­Mode“, 1743, Öl auf Leinwand, 69,9 × 90,8 cm, National Gallery, London.

Chr.) daneben liegend gezeigt und nimmt somit eine Außenseiterposition ein. ­Worauf Beardsley genau mit d ­ iesem antiken Stoff anspielt, bleibt offen für Spekulationen. Die Geschichte über einen neugierigen Reisenden, der die Zauberei erlernen will und sich dabei selbst in einen Esel verwandelt, ist Beardsley und seinen Zeitgenossen wohl hauptsächlich aus der Perspektive Walter Paters bekannt, der Apuleius’ sprachliche ‚Deformationen‘ in seinem berühmtesten Roman Marius the Epicurean (1885) wiederholt thematisiert und laut Dowling so den Stil der literarischen Dekadenz und nicht zuletzt Oscar Wildes stark beeinflusst.145 Wie schon in der ersten Version der „Toilette of Salome“ nehmen auch hier in weit höherem Maße die Bücher eine kommentierende Funktion ein. Bei dieser Vorgehensweise lässt sich Beardsley möglicherweise von der Tradition inspirieren, die in der gesamten Kunstgeschichte das Bild im Bild oder andere Gegenstände in Genreszenen aller Art nutzt, um 145 Vgl. Dowling, Linda C.: Language and Decadence in the Victorian Fin de Siècle. Princeton, NJ 1986, S. 124 f.

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das oftmals vieldeutige Bildgeschehen inhaltlich zu schärfen oder auszuweiten. Auch in englischen Darstellungen der Toilette im 18. Jahrhundert ist ­dieses mis en abyme 146 ein übliches Verfahren.147 William Hogarth kann für diese Praxis als ein besonders herausragendes Beispiel verstanden werden. Im vierten Gemälde seiner Reihe Marriage A-la-­Mode (1743), welches wie die anderen Bilder der Serie äußerst erfolgreich als Druckgrafik Verbreitung findet, stellt Hogarth die Toilette der Countess dar (Abb. 46). In parodistischer Weise setzt sich der Maler dabei mit der frankophilen Mode seiner Zeitgenossen auseinander, sich den Gepflogenheiten des französischen Hofes anzunähern. Damit lehnt er sich ebenfalls an das literarische Vorbild von Popes parodistischer Beschreibung der Toilette Belindas im Lockenraub an.148 Selbst kein Freund von kontinentalen Einflüssen auf den englischen Geschmack, zeigt Hogarth hier also eine überspitzte Form der grande toilette. Wie im französischen Vorbild sind zahlreiche Gäste anwesend, die das Geschehen durch Unterhaltung und sogar Gesang untermalen. Alle Anwesenden erscheinen eher lächerlich bis liederlich, wie etwa der Liebhaber der Dame des Hauses, welcher sich nonchalant auf einem Sofa ausbreitet und dabei Crébillon fils’ erotische Erzählung Le Sofa beiseite schiebt, was seine Absichten deutlich kommentiert. Hogarth setzt sich hier in eine Tradition der englischen Literatur, die sich laut Gerken schon früh über die übertrieben ausgedehnte Prozedur der französischen Toilette echauffiert.149 So beschreibt Jonathan Swift etwa in seinem Gedicht „A Lady’s Dressing Room“ (1732) die Enttäuschung eines jungen Liebhabers angesichts der Realität der weiblichen Toilette, ­welche er in Abwesenheit seiner Geliebten inspiziert und geradezu angewidert ist von Dreck und Unordnung in d ­ iesem stets elegant imaginierten Ort. Für seinen parodistischen Kommentar nutzt Hogarth indes nicht allein die Grimassen des Bildpersonals, sondern auch die weiteren Gegenstände des Gemäldes. Neben ­Crébillons Novelle kommen die Gemälde an den Wänden hinzu, die mit ihren Inhalten eindeutig auf die sich anspinnende Affäre ­zwischen der Countess und dem Abbé Silvertongue hinweisen. Ganymed, Io und Jupiter, sowie Lot und seine Töchter schildern nicht nur den für Hogarth verwerflichen Geschmack für Alte Meister der italienischen Schule, sondern 146 Der Begriff mis en abyme wird für die Ästhetik von künstlerischen Metadiskursen durch André Gide in seinem Tagebuch (1893) geschärft: „Ich habe es gern, wenn man im Kunstwerk den eigentlichen Gegenstand ins Maß der darin auftretenden Personen übersetzt, wiederfindet. […] Zutreffender – und zugleich eine bessere Erklärung für das, was ich […] habe sagen wollen – wäre der Vergleich mit jenem Verfahren der Heraldik, wobei man in die Mitte des eigentlichen Wappens ein zweites, kleineres ‚en abyme‘ setzt.“ Gide zitiert nach: Stoichita, Victor I.: Malerei und Skulptur im Bild – das Nachdenken der Kunst über sich selbst. In: Ausst.-Kat.: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. München, Haus der Kunst, 2002, S. 10 – 19, hier S. 13. 147 Vgl. Swain, Virginia: Hidden from View. French Women Authors and the Language of Rights 1727 – 1792. In: Rand, Richard (Hg.): Intimate Encounters. Love and Domesticity in Eighteenth-­ Century France. New Jersey 1997, S. 21 – 37, hier S. 22. 148 Vgl. Simon, 2007, S. 218. 149 Vgl. Gerken, 2007, S. 150.

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spielen auch auf die lästerliche Liebesbeziehung z­ wischen den beiden Personen am rechten Bildrand an. ­Während bei Hogarth die bildlichen Paratexte vor allem ­moralische Funktion haben, dienen sie bei Beardsley indes eher zur Schärfung eines historischen Bewusstseins über seinen Bildinhalt. In seinen toilette-­scenes macht sich Beardsley – ähnlich wie Hogarth – Modi der Karikatur zunutze und reflektiert damit den englischen Diskurs über die französischen Hofabläufe, aber auch die zeitgenössische Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts, in der die table de toilette erneut Eingang in die Räumlichkeiten der Dame findet.150 Die Toilette kann bei Beardsley auch als Chiffre für die dekadente Ästhetik (Beerbohm) verstanden werden, aber gleichsam eine selbstreflexive Parodie eben dieser Ästhetik meinen. Mittels stilistischer Übertreibungen und ironischen Kommentaren oszillieren auch die toilette-­scenes ­zwischen Travestie und ernsthafter künstlerischer Devotion vor dem Altar der Schönheit. Selbst in seiner Rolle als Illustrator z­ wischen Künstler und Kunsthandwerker angesiedelt, nutzt Beardsley den Topos des coiffeur artiste zur Selbstinszenierung als schöpferischer Geist, der auch außerhalb der tradierten Sphäre der Malerei, Werke von ästhetischem Anspruch produzieren kann. Die objets d’art, die zur Ikonografie der Toilette gehören, werden für ihn in d ­ iesem Kontext zum pars pro toto seiner Ästhetik. Gleichzeitig können sie als Kommentar zum zeitgenössischen Ästhetizismus mit seinen lebensfernen Idealen und zum artifiziellen Stereotypen des dekadenten Künstlers verstanden werden. Die erotische Aufladung von Beardsleys toilette-­scenes rekurriert ebenfalls mit einem nostalgischen Blick auf das Zeitalter der volupté, wie die Goncourts das 18. Jahrhundert begreifen.151 Die sensuelle Qualität solcher Darstellungen ist in ihrer Wirkung kaum zu überschätzen. Sie wecken Vorstellungen von Parfumgerüchen und vom Knistern der Stoffe. Solch eine sensualistische Rezeptionshaltung verlangen sowohl die Beschreibungen der ­Goncourts, als auch Gautiers oder später Oscar Wildes. Beardsley ordnet sich in ganz eigener Weise in diese Reihe ein, denn er erreicht die Wirkung von Stofflichkeit, Geräusch und Geruch durch seine kongeniale Linienkunst, aber vor allem durch eine gewisse Fülle in der Ansammlung seiner Bildobjekte, die einer literarischen Aufzählung gleichkommt. Dennoch operiert Beardsley mit einer stilistischen Distanz zu seinem Sujet. Diese entsteht aufgrund eines ästhetischen Diskurses, der in seinen Bildern aufgefangen wird. Die Liebe des Rokoko zur Übertreibung, zur Künstlichkeit und zur Kosmetik steht den ästhetizistischen Idealen, die Max Beerbohm parodistisch beschreibt, näher als die naturalistische Reduktion anderer zeitgenössischer Maler. „For the era of rouge is upon us“ 152 postuliert Beerbohm in seinem Essay und Beardsleys Zeichnungen sind die bildliche Manifestation dieser Idee.

150 Vgl. Ribeiro, 2011, S. 268. 151 Vgl. Goncourt, 1986, S. 188 f. 152 Beerbohm, 1949, S. 140.

Androgyn und Travestie bei Gautier und Beardsley | 211

6.3 Androgyn und Travestie bei Gautier und Beardsley Mehrfach ist in meinen Ausführungen die Rede von der Kritik am Rokoko und seiner vermeintlichen Effeminiertheit. Vor allem im bürgerlichen Zeitalter des 19. Jahrhunderts, in dem Geschlechtergrenzen mittels Kleidung klar gezogen werden sollen, irritiert die Freude des Rokoko beim Spiel mit Maskerade und Travestie.153 Nicht zuletzt in den Werken von Théophile Gautier und Aubrey Beardsley werden die Th ­ emen Androgyn, Hermaphrodit und Travestie daher zu Motiven des épater la bougeoisie. Daher sollen in ­diesem Kapitel einige Illustrationen Beardsleys zu Gautiers erstem Roman Mademoiselle de Maupin (1835) im Vordergrund stehen. Nach dem bis heute ikonischen Vorwort des Briefromans, in welchem Gautier die Parameter des l’art pour l’art absteckt, folgt der Leser zunächst dem jungen Protagonisten d’Albert. Dieser befindet sich auf einer wenig zufriedenstellenden Suche nach dem Ideal der Schönheit, das er in einer Geliebten zu finden hofft. Er begnügt sich zunächst mit der schönen Rosette, die ihn nach fünfmonatiger Beziehung jedoch zu langweilen beginnt. Um d’Albert wieder für sich zu gewinnen, fährt Rosette mit ihm auf ihren Landsitz, wo sie zahlreiche Gesellschaften ausrichtet. Einer ihrer Gäste ist der junge Théodore, für den d’Albert alsbald irritierende Gefühle entwickelt. Auch Rosette verbindet eine leidenschaftliche Hingabe mit dem geheimnisvollen Théodore, der diese jedoch nur platonisch erwidern möchte. Als der Autor schließlich Théodore selbst in Briefen zu Wort kommen lässt, erschließt sich dem ahnungsvollen Leser dessen wahre Identität als Madeleine de Maupin. Diese lebt seit geraumer Zeit das Leben eines Mannes, um die maskuline Weltsicht aus eigener Anschauung studieren zu können. Durch eine Aufführung von Shakespeares As You Like It wird Madeleines wahres Geschlecht aufgedeckt. Sie spielt darin die Rolle der Rosalind, die im Stück wiederum selbst als Mann verkleidet auftritt. Dennoch favorisiert Madeleine ihr freies Leben als Mann und geht keine andauernde Verbindung mit d’Albert ein. Besonders in d ­ iesem Text, der seinen Autor berühmt und berüchtigt macht, spielt sowohl das romantische Ideal des Androgyn als auch die frivolité der Maskerade des Rokoko eine entscheidende Rolle. Beardsley gelingt es, beide Topoi in seine Zeichnungen zu integrieren. Auf den ersten Blick ist erkennbar, dass Beardsley sich hier einer völlig anderen Technik bedient, als er sie in seinen berühmten Schwarz-­Weiß-­Zeichnungen anwendet. Anstelle harter Kontraste sind nun weiche Übergänge und Grautöne dominierend. Nicht zuletzt begründet durch sein wachsendes Interesse an historischer Druckgrafik in seinen letzten Lebensjahren tauscht Beardsley schließlich die schwarze Tinte gegen Tusche, Pinsel und Bleistift aus.154 Schon in früheren Zeichnungen wendet er diese Technik für Halbtoneffekte an; erst in seinen letzten beiden Projekten zu Gautiers Mademoiselle de Maupin und Jonsons Volpone, entwickelt er diese Experimente jedoch kontinuierlich weiter. 153 Vgl. Runte, Annette: Père-­version. Sexualität als Maske des Geschlechts in der französischen Dekadenzliteratur. In: Bettinger, Elfie; Funk, Julia (Hg): Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung. Berlin 1995, S. 254 – 272, hier S. 254. 154 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 339.

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Abb. 47 Aubrey Beardsley: „Mademoiselle de Maupin“, März 1897, Bleistift, Tinte, Tusche und Gouache auf Papier, 18,3 × 12,9 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA.

Insbesondere die Verwendung des Kamelhaar-­Pinsels wird laut Robert Ross in der zuerst entstandenen Zeichnung zu Gautiers Roman augenfällig (Abb. 47).155 Benannt nach der Titelheldin präsentiert das Blatt Madeleine de Maupin in einem Kostüm, das sie in ihrer männlichen Verkleidung zeigen soll. Auch wenn es sich in d ­ iesem Beispiel sicher nicht um die technisch ausgereifteste Leistung Beardsleys handelt, sei sie als elementare Einstimmung in das Verständnis des Zeichners von Androgynität und Travestie vorangestellt. Die die Höhe des Formats füllende Figur steht am linken Rand des Blattes vor einer angedeuteten Gartenlandschaft mit Laubbäumen und kleinem Weg im Hintergrund. Sie trägt eine Art Rüscheneinteiler, der mehr an historische Unterwäsche denn an die Kleidung eines jungen Chevalier gemahnt.156 Den Körper wendet sie nach rechts, wobei sie den Blick aus dem Bild heraus richtet. Ihre schulterlangen dunklen Haare bedeckt ein Plumagenhut des 17. Jahrhunderts. Hierin könnte bereits ein Verweis auf die historische Realität hinter 155 Vgl. Ross, 1909, S. 49. 156 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 343.

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Abb. 48 Aubrey Beardsley: „Mrs Pinchwife“, vor dem 18. Oktober 1896, schwarze Tinte auf Papier, 19,7 × 11,4 cm, Verbleib unbekannt.

Gautiers Roman liegen. So bezieht sich der Autor auf die Opernsängerin Julie d’Aubigny (1670 – 1707), besser bekannt als La Maupin, die ebenfalls für ihre e­ rotischen Eskapaden im männlichen Kostüm berüchtigt war.157 Zwar ist Mademoiselle de Maupin nicht unmittel­ bar eine Heldin des französischen Rokoko, dennoch versetzt Gautier seine Figuren in ein anachronistisches Ancien Régime, dessen klare historische Verortung in der Schwebe bleibt. Beardsley tut es ihm in seinen Illustrationen gleich. Er gebraucht modische Accessoires des 17. ebenso wie des 18. Jahrhunderts, genauso wie ahistorische modische Capricen. Als s­olche ist auch der Aufzug Madeleine de Maupins in Beardsleys Frontispiz zu begreifen. Die spitzen schwarzen Stiefel mit Rüschenbesatz und das elegante Spiel mit dem schlanken Handschuh, der gerade über die Finger gestreift wird, komplettieren das artifizielle Gesamtbild. Es scheint hier weniger um die Darstellung einer Frau in Männer­ kleidung zu gehen, denn um die bloße Freude an modischer Extravaganz. Dies wird 157 Vgl. Lehnert, Gertrud: Maskeraden und Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der Literatur. Würzburg 1994, S. 260.

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deutlich, vergleicht man die Zeichnung mit der bereits 1896 ausgeführten Komposition zu William Wycherleys The Countrywife (1675) (Abb. 48). In einer durchaus verwandten Pose zeigt Beardsley hier Margery Pinchwife, die von ihrem eifersüchtigen Mann genötigt wird, Männerkleidung zu tragen, damit sich kein Verehrer für sie interessiere. In einer eigentümlich geduckten Haltung scheint die Frau zu prüfen, ob ihre Kostümierung den gewünschten Effekt auf ihr Publikum erzielt. Die beschleiften Absatzschuhe, die Kniebundhose, ­welche ihre ausladenden Hüften keineswegs kaschieren kann, und die lange Allongeperücke verschleiern die Weiblichkeit der Figur indes kaum. Im Gegenteil: Obwohl Mrs. Pinchwife noch nicht recht zu wissen scheint, w ­ elche Körperhaltung sie in der ungewohnten Kleidung einnehmen soll, sorgt die Herrenausstattung des 17. Jahrhunderts keines­falls dafür, ihre Reize zu unterdrücken. Ähnliches gilt für Beardsleys „Mademoiselle de Maupin“. Die historische Kleidung gereicht dem Zeichner zur Hinterfragung stabiler Geschlechterkodifizierungen auch in seiner eigenen Epoche. Rüschen, Federn, ausgefallene Muster, Schleifen und lange Haare sind im 19. Jahrhundert längst aus der allgemeinen Erscheinung des bürgerlichen Mannes gewichen.158 Wenn bei Gautier und Beardsley also eine Frau die Kleidung eines höfischen Mannes des Ancien Régime oder der Restauration trägt, stellt sich der Akt des cross-­dressing selbst in Frage. Die nunmehr weiblich kodifizierten Accessoires, Schnitte und Stoffe verkehren das bloße Tragen einer Hose in eine kokette Maskerade. Insbesondere Gautiers Heldin wird dem Illustrator zum Vorbild für einen durchaus modernen Gedanken: „die Ablehnung festgelegter Rollen schlechthin und von Geschlechterrollen im besonderen“.159 Im Kostüm und in der Theaterrolle kann Madeleine de Maupin die Performativität von Geschlecht immer wieder neu hinterfragen. Sicherlich ist es vor allem der Aspekt des cross-­dressing, der Beardsley an dieser Figur interessiert. Ich verstehe cross-­dressing (ein Begriff der in den USA der 1970er Jahre geprägt wurde) als das allgemeine Tragen von Kleidung, die dem jeweils anderen Geschlecht sozial zugeordnet wird. Obwohl der queeren Kultur anverwandt, bedeutet es zunächst lediglich eine s­ olche spezifische Form der Verkleidung, die nicht zwangsläufig mit sexuellen Orientierungen oder Fetischen zusammenfallen muss. Bianca Iaccarino Idelson macht zusätzlich darauf aufmerksam, dass cross-­dressing im Gegensatz zum Transvestitismus eher ein spielerisches kulturelles Phänomen beschreibt. Der Transvestit hingegen handle aufgrund eines Leidensdrucks; verkleide sich, um sich von der störenden Geschlechtsidentität zu befreien.160 ‚Travestie‘ wird in dem Zusammenhang oftmals gleichbedeutend mit cross-­dressing verwendet, soll in ­diesem Kapitel jedoch ebenfalls in seiner allgemeinen Definition als Verkleidung oder Maskerade jeglicher Art begriffen werden. In Beardsleys Œuvre und dessen Rezeption spielen diese Begriffe eine große Rolle und sollen daher im Fokus d ­ ieses Kapitels stehen. 158 Vgl. Stanton, 1980, S. 156. 159 Lehnert, 1994, S. 255. 160 Vgl. Idelson, Bianca Iaccarino: Psychoanalytic Views of Cross-­Dressing and Transvestism. In: ­Giorcelli, Christina; Rabinowitz, Paula (Hg.): Fashioning the Nineteenth Century. Minnesota 2014, S. 12 – 23, hier S. 13.

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Malcolm Easton hat in seiner Monografie über die Familie Beardsley aus dem Jahr 1972 ebenfalls das Prinzip des cross-­dressing zur Antwort auf sein „Beardsley-­Riddle“ erhoben.161 Aubrey und Mabel Beardsley ­seien demnach in ein lebenslanges Spiel verwickelt, in welchem beide immer wieder ihr Geschlecht tauschen.162 Problematisch an Eastons partiell sogar glaubhafter These ist jedoch die permanente Ernsthaftigkeit, die er den Geschwistern in d ­ iesem Spiel unterstellt. So spricht er auch konkret von Aubrey und Mabel als Transvestiten.163 Beardsleys früher Brief an John Lane, der nur zu oft mit den vermeintlich transsexuellen Gefühlen des Zeichners in Zusammenhang gebracht wird, zeigt, dass auch der Transvestit eine kokettierende Maske des jungen, aufstrebenden Künstlers ist. „[…] I am going to Jimmie’s [St. James’s Restaurant, Piccadilly] on Thursday night dressed up as a tart and mean to have a regular spree.“ 164

Beardsley suggeriert hier, er würde in Frauenkleidern in ein berüchtigtes Restaurant gehen und sich dort amüsieren wollen. Es erscheint durchaus möglich, dass der junge Mann sich tatsächlich einen solchen Scherz erlaubt, allerdings reicht mir dieser eine Brief nicht aus, Beardsley deshalb als Transvestiten zu bezeichnen. Die vorausgehenden und folgenden Zeilen desselben Briefes an den in Paris weilenden Lane offenbaren noch mehr, dass sich die Aussage wohl eher in den allgemein betont kokett-­manierierten Ton des Schriftstücks eingliedern lässt. „I hope that William Rothenstein has done no more than take you to the Chat Noir in the daytime and shown you the outside of the Moulin Rouge. […] I suppose you will be back at the ‚Tête de Bodley‘ [Lanes Verlag The Bodley Head] next week looking gay and garish Parisian.“ 165

Nachdem Beardsley seinen Verleger vor den Versuchungen der Pariser Nachtlokale warnt, präsentiert er sich selbst als einen dem Laster anheimfallenden, der in Frauenkleidern in ein Lokal für Prostituierte 166 einkehrt. Dass es sich dabei offensichtlich um eine amüsante Antithese handelt und weniger um ein wirkliches Vorhaben Beardsleys für den kommenden Abend, sei hiermit deutlich gemacht. Nichtsdestotrotz ist zu Recht immer wieder auf die Relevanz von Verkleidung und dem androgynen Schönheitsideal für Beardsleys Œuvre hingewiesen worden. Letzteres spielt

161 Vgl. Easton, 1972. 162 Vgl. ebd., S. 243 – 251. 163 Vgl. ebd., S. 251. 164 Letters, 1990, S. 53. Aubrey Beardsley an John Lane, 12 September 1893, 114 Cambridge Street. 165 Ebd. 166 Vgl. Donohue, Joseph: Fantasies of Empire. The Empire Theatre of Varieties and the Licensing Controversy of 1894. Iowa City 2005, S. 86. Das St. James’s Restaurant war bekannt für zahlreiche Kontrollen durch die Polizei und das Gerücht, es sei der Treffpunkt von Prostituierten.

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für die Ästhetik des späten 19. Jahrhunderts eine immense Rolle. Andrea Raehs macht in ihrer Studie zum Hermaphroditen in der Kunst darauf aufmerksam, dass dieser vom Androgyn wie folgt zu scheiden sei: „Der Begriff ‚androgyn‘ setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern ‚andros‘ und ‚gynä‘ und bedeutet die Einheit von Mann und Frau in einem Wesen. […] Der Begriff ‚Hermaphrodit‘ ist eine Zusammenziehung der Namen von Hermes und Aphrodite, deren Sohn nach Ovid zweigeschlechtlich wurde, und somit vielleicht eine Personifikation einer androgynen Gottesvorstellung sein sollte, die aber im Laufe der Jahrhunderte ihre religiöse Bedeutung verlor, und zum rein erotischen Symbol wurde.“ 167

Weiterhin führt Raehs an, dass der Androgyn eher eine Idee verkörpert, wohingegen der Hermaphrodit oftmals in seiner biologischen Zwei-­Geschlechtlichkeit fasziniert.168 Beide Figuren prägen den ästhetischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und werden trotz der genannten Unterschiede häufig in einem Atemzug genannt. Joséphin Péladans achter Teil seiner literarischen Programmschrift La Décadence Latine (1891) verortet L’androgyne in einem „antikisierende[n] Modell mädchenhaften Jünglingtums.“ 169 Damit bestätigt er einmal mehr einen Topos der homosexuellen Kultur der 1890er. Indem der Androgyn – also der schöne Jüngling – genauso wie die Liebe ­zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann mit antiken philosophischen Diskursen verknüpft wird, sucht sich die damals rechtswidrige Homosexualität selbst zu legitimieren und erhebt sich zum klassischen Lebensideal.170 Außerdem schließt sich der Androgyn an die vieldiskutierte Frauenfrage jener Jahre an. In einer Zeit, in welcher Frauen beginnen, sich ihr Recht auf Bildung, eigenen Besitz und politische Mitsprache zu erkämpfen, werden bis dato eingefahrene Geschlechteridentitäten in Frage gestellt. Besonders die mögliche Machtposition der Frau ist dabei Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung. In der Figur der femme fatale manifestiert sich ein männlicher Blick, der sorgenvoll auf die Emanzipationsbewegung schaut und gleichsam der Frau als Kunstobjekt lediglich sexuelle Macht zugesteht. Auch im Androgyn Gustave Moreaus etwa gelingt die vermeintlich harmonische In-­Eins-­ Setzung von Mann und Frau nur scheinbar gleichberechtigt. Ähnlich wie Wagner verbindet auch der Symbolist Moreau die Seele mit Maskulinität und den Körper mit Feminität.171 Intellekt wird somit auch im Androgyn dem männlichen Anteil dieser Figur zugesprochen. Nach außen hin dient die Schönheit der Frau als sinnlicher Anziehungspunkt.

167 Raehs, Andrea: Zur Ikonographie des Hermaphroditen. Begriff und Problem von Hermaphroditismus und Androgynie in der Kunst. Phil. Diss. Aachen 1987, Frankfurt am Main 1990, S. 8. 168 Vgl. ebd., S. 10. 169 Runte, 1995, S. 263 f. Vgl. Péladan, Joséphin: La Décadence Latine étopée. Huitième Roman. L’Androgyne. Paris 1891. 170 Vgl. Brake, Laurel: Print in Transition. 1850 – 1910. Studies in Media and Book History. London 2001, S. 250. 171 Vgl. Fletcher, 1987, S. 155.

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Beardsleys androgyne Figurenauffassung ist in der bisherigen Forschung besonders hervorgehoben worden und bezieht sich vor allem auf die Gestalten und Gesichter des Frühwerks. In den Illustrationen zu Malorys Morte Darthur sowie zu Wildes Salome fällt es bis heute schwer, einigen Figuren ein eindeutiges Geschlecht zuzuordnen, was wiederum ihren Status als Illustrationen in Frage stellt. Vor allem in diesen Werken nutzt Beardsley den Androgyn dezidiert als Motiv der Ambiguität. Die symbolische Offenheit wie auch der fragliche Bezug zur Textgrundlage in den Zeichnungen manifestiert sich in der Figur des Androgyn und wird gleichsam durch ihn hervorgerufen. Ohne hier auf ein bestimmtes Blatt eingehen zu wollen, sei konstatiert, dass sich Beardsleys Figurentypen gemeinhin auf zwei Kategorien reduzieren lassen: die ephebenhaften, androgynen, puppengesichtigen, feingliedrigen Jünglinge, Dandies und Damen auf der einen Seite und die grotesken Monstren, Zwerge und Karikaturen auf der anderen. Androgyn und Hermaphrodit verbinden die beiden Gruppen miteinander. Ideale Schönheit, in der sich beide Geschlechter transzendieren, kollidiert mit einem monströsen Element. Letzteres zeigt sich besonders dann, wenn Beardsley die Zweigeschlechtlichkeit seiner Figuren offensiv thematisiert. Im unzensierten Titelblattentwurf zur Salome stellt der Zeichner beispielsweise einen Hermen, der grinsend zugleich einen weiblichen Busen und männliche Genitalien präsentiert, links neben die Titelkartusche.172 Marlène Barsoum stellt dieselbe Dichotomie von Ambiguität und Monstrosität auch für Gautiers Androgyn in Mademoiselle de Maupin fest. In der Metaebene des Romans steht in ihrem Verständnis der Androgyn für das Unsagbare, das der Sprache sich Entziehende ein.173 Zugleich weisen die Protagonisten immer wieder auf das Widernatürliche und Monströse des Androgyn hin.174 D’Albert fürchtet sich wiederholt vor der vermeintlichen Doppelgeschlechtlichkeit, die in seinem gefundenen Ideal – verkörpert durch Madeleine alias Théodore – zu liegen scheint. Tatsächlich ist Madeleine indes kein Hermaphrodit und kein Androgyn. Sie ist schlicht eine junge Frau in Männerkleidern, die es ihr ermöglichen die Lebenswirklichkeit des anderen Geschlechts zu ergründen. Aus gutem Grund kann Barsoum also feststellen, dass der Androgyn in Gautiers Roman lediglich ein Ideal darstellt, das weder körperlich noch sprachlich manifestiert werden kann.175 „The androgyne may therefore be perceived as representing the notion of the ideal and absolute work of art which remains in its pure state in the recesses of the mind of the artist/ poet (Androgyne = Work of art).“ 176

172 Vgl. Aubrey Beardsley: Entwurf für das Titelblatt zu Oscar Wildes „Salome“, Juni–Juli 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 22,6 × 17,2 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. 173 Vgl. Barsoum, Marlène: Théophile Gautier’s Mademoiselle de Maupin. Toward a Definition of the ‚Androgynous Discourse‘. New York 2001, S. IX. 174 Vgl. ebd., S. 2. 175 Vgl. ebd., S. 101. 176 Ebd., S. 104.

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Abb. 49 Aubrey Beardsley: „D’Albert“, Juli – August 1897, Bleistift, schwarze Tinte, Tusche auf Papier, 10,2 × 7,6 cm, Verbleib unbekannt.

Beardsley allerdings gelingt es, das literarische Ideal bildkünstlerisch einzuholen. Im Bild ist der Androgyn eine Invention, die Gestalt angenommen hat. So vermögen es auch seine Illustrationen zu Gautiers Mademoiselle de Maupin, der Uneinholbarkeit des Ideals durch die Sprache mit Hilfe der Zeichnung beizukommen. Die nächsten zwei Blätter in Smithers’ Mappe zeigen den Protagonisten d’Albert. Abermals ist es einzig der Titel der Zeichnung, der verrät, dass es sich um den männlichen Helden handelt. Ebenso gut ließe sich die elegante Gestalt unter dem eigentümlichen Hut 177 auch als Mademoiselle de Maupin verstehen (Abb. 49). Beardsley verbindet androgyne Physiognomie mit diffuser Mode, um die Einheit der beiden Hauptfiguren in G ­ autiers Roman herauszustellen. Die zarte Robe, w ­ elche mit Schleifen an Rücken und Hals geschmückt ist, lässt jegliche Körperlichkeit unter sich verschwinden. Einzig das Gesicht mit Schmollmund und schweren Augenlidern sowie die zarten Hände, die suggestiv den zerbrechlich dünnen Gehstock halten, sind vom Stoff unbedeckt. Alles hierin ließe auf das Portrait einer 177 Der Hut geht laut Gertner Zatlin auf Beardsleys Studium der Chinoiserien (insbesondere der Tapeten) im Music Room des Royal Pavilion in Brighton zurück. Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II , S. 344. Ein Besuch des Gebäudes und das Studium seiner Innenausstattung hat indes keinen hinreichenden Beweis für diese These erbringen können. Ich gehe eher von einer Rezeption der weiblichen Louis-­XIII-Mode aus.

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Abb. 50 Aubrey Beardsley: „D’Albert in Search of His Ideals“, Oktober 1897, Bleistift, schwarze Tinte, Tusche und Aquarell auf Papier, 20 × 16,8 cm, Harvard Art Museum/ Fogg Museum, Cambridge, MA.

koketten Dame schließen. Beardsley transferiert somit d’Alberts innere Weiblichkeit, wie sie wiederholt im Roman zur Sprache kommt, in sein Bild des Protagonisten. Noch deutlicher wird Beardsleys Verknüpfung von Androgynität und Travestie in der unvollendeten Zeichnung „D’Albert in Search of his Ideals“ (Abb. 50). Der Held ist diesmal durch grazilen Gehstock und Hut am linken Rand des Blattes wiederzuerkennen. Obwohl der Hintergrund nicht weiter artikuliert ist, lässt sich die Szene auf einer Promenade verorten, auf der eine elegante Dame und ein Herr mit Hutschachtel am Arm gehen. Im Gegensatz zu den anderen Zeichnungen der Reihe lehnt sich Beardsley hier sehr nah an Gautiers Text an. D’Alberts Überheblichkeit während der Suche nach seinem Ideal wird in Text und Bild gleichermaßen offenbar. „Quelques-­unes se retournaient au bout de quelque temps pour me voir lorsqu’elles croyaient que je ne les regardais plus, et rougissaient comme des cerises en se trouvant nez à nez avec moi. – Le temps était beau; il y avait foule à la promenade. – Et cependant, je dois l’avouer, malgré tout le respect que je porte à cette intéressante moitié du genre humain, ce qu’on est convenu d’appeler le beau sexe est diablement laid.“ 178 178 Gautier, Théophile: Mademoiselle de Maupin. Paris 1880, S. 58. Übersetzung nach Gautier, ­Théophile: Mademoiselle de Maupin. Übers. von Caroline Vollmann, Zürich 2011, S. 33: „Die einen setzten ihre

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Abb. 51 Unbekannter Künstler: „Lacing a Dandy“, veröffentlicht am 29. Januar 1819, kolorierte Radierung, 30 × 21,6 cm, Art Institute Chicago.

D’Alberts Sanduhr-­Figur mit Wespentaille und ausladenden Hüften stellt erneut sein Geschlecht in Frage. Zusätzlich ist seine Kleidung der eines Dandys des frühen 19. Jahrhunderts nicht unähnlich, wobei sie diese gleichsam parodiert. Beardsley dürfte sich dabei wohl auf Karikaturen des frühen 19. Jahrhunderts beziehen, w ­ elche die modische Ausschweifung des durch George „Beau“ Brummell ins Leben gerufenen Typus humorvoll darstellen. So ist in dem Blatt „Lacing a Dandy“, das im Januar 1819 bei Thomas Egg erscheint, die schweißtreibende Arbeit hinter der artifiziellen Silhouette des Dandys tugendhafte Miene auf und gingen vorbei, ohne aufzusehen. Die anderen wunderten sich zunächst und lächelten dann – wenn sie nur schöne Zähne hatten. Einige drehten sich nach einiger Zeit, wenn sie glaubten, ich beobachtete sie nicht mehr, nach mir um und erröteten wie Kirschen, wenn sie mir Auge in Auge gegenüberstanden. Das Wetter war schön; die Promenade war gut besucht. Und dennoch muss ich, bei allem Respekt, den ich dieser interessanten Hälfte der Menschheit entgegenbringe, gestehen, dass das, was man gemeinhin das schöne Geschlecht nennt, verdammt hässlich ist.“

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gezeigt (Abb. 51). Das Korsett wird mit aller Kraft von zwei Seiten festgezurrt und allerlei Kissen und Polster an Schultern und Hüften weisen auf die Formung des bekleideten Körpers hin. Auch unter d’Alberts Garderobe ließen sich ­solche eigentlich dem weiblichen Kostüm zugeordneten Hilfsmittel vermuten. D’Albert ist sich im Text ebenso seiner Außenwirkung bewusst und schreibt über die Kritik an seinem Modestil: „Il m’est revenu que beaucoup d’entre eux avaient amèrement critiqué ma façon de me mettre, et avaient dit que je m’habillais d’une manière trop efféminée: que mes cheveux étaient bouclés et lustrés avec plus de soin qu’il ne convenait; que cela, joint à ma figure imberbe, me donnait un air damoiseau on ne peut plus ridicule.“ 179

Beardsley prägt diese Ansicht in sein Bild von d’Albert ein. Die übertriebene Silhouette und Pose spiegeln den Blick des Kritikers, welcher Beardsleys Werken sowie der Kunst des Rokoko wohl dieselbe Effemination vorgeworfen hätte. Gertrud Lehnert findet für ­dieses Phänomen den Begriff der „Demontage des Männlichen im Roman“ 180, ­welche wiederum das Prinzip des l’art pour l’art aus Gautiers Vorwort spiegelt. „So ist die Demontage der etablierten Geschlechterrollen eine Demontage der Realität schlechthin (sowie der ‚realistischen‘ Kunst) zugunsten eines künstlichen Ideals im Sinne der Préface, die im Roman überzeugend realisiert wird.“ 181

Gautiers Held versteht sich immerfort als Künstler, dessen Meisterwerk er selbst ist. In ihm lässt sich somit eine Identifikationsfigur des Ästheten erkennen. Permanent angewidert von der ihn umgebenden Realität flieht er sich in Künstlichkeit, in Mode und unerreichbare Ideale. Dabei übertritt er betont die Grenzen der bürgerlichen Ästhetik und präsentiert sich als androgyner Monarch des Geschmacks. Sowohl im Bild als auch im Text wird dieser ästhetizistische Passus jedoch wiederholt durch parodistische Mittel aufgeweicht. Madeleine äußert sich immer wieder kritisch über das Künstlertum 182 und bei Beardsley wird der Dilettant d’Albert zum geschlechtslosen Kunstwesen. Seine Kleidung spielt in d ­ iesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Sie unterstreicht durch Schnitt und Stoffe die hybride Geschlechtlichkeit des Helden. Zwar trägt d’Albert eine Hose und einen schwarzen Gehrock, bricht das Ensemble aber mit dem Rüschenhemd, das an geblümter Hemdsbrust und an den Ärmeln zum Vorschein kommt. Hinzu kommen die

179 Gautier, 1880, S. 86. Übersetzung nach Gautier, 2011, S. 76: „Mir ist zu Ohren gekommen, viele hätten meine Art, mich zu kleiden, scharf kritisiert und gesagt, ich zöge mich zu weibisch an; meine Haare ­seien sorgfältiger gelockt und pomadisiert, als es sich schicke; das gäbe mir, zusammen mit meinem bartlosen Gesicht, das Aussehen eines Stutzers, wie man es sich nicht lächerlicher vorstellen könne.“ 180 Lehnert, 1994, S. 261. 181 Ebd. 182 Vgl. Barsoum, 2001, S. 13.

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winzigen Pantoffeln, die mit Schmetterlingsschnallen geschmückt sind. Der Schmetterling als Chiffre des englischen Ästhetizismus und Signatur Whistlers 183 verortet Beardsleys Figur einmal mehr in seiner Rolle als Dandy. Zusammen mit dem zierlichen Gehstock und der Schärpe in der Taille ruft der Zeichner ein Selbstzitat auf. In Pose und übertriebener, historisierender Kleidung gemahnt Gautiers Held an Beardsleys zwei Jahre zuvor entstandenes Kryptoportrait als Abbé für sein Romanfragment Under the Hill (Abb. 4). Auch hier verschwindet das stolz dreinblickende Gesicht z­ wischen Locken und Rüschen. Den Gehstock hält der Abbé in einer winzigen Hand, die aus einem Muff herausschaut. Den Muff legt Beardsley in der Gautier-­Illustration um den Arm der sich umdrehenden Dame. Dass Gehstock und Muff phallische und vaginale Symboliken verkörpern, wurde bereits verdeutlicht (Kap. 3). Indem Beardsley zusätzlich eine Hutschachtel am Rand der Maupin-­Zeichnung auftauchen lässt, fügt er noch ein zeitgenössisches Slang-­Wort ein, das abermals für weibliche Genitalien einsteht.184 Die erotische Symbolik hebt d’Alberts fragliche Geschlechtsidentität sowie seine sexuellen Fantasien noch einmal im Bild hervor. Im effeminierten Helden des Ancien Régime fügen sich zwei Topoi des Ästhetizismus zusammen. Als Androgyn, der im Roman sogar mehrfach den direkten Wunsch äußert, sein Geschlecht zu ändern, entspricht er dem Ideal des l’art pour l’art und dessen „nihilis­ tischer Gebots-­Verweigerung, etwa der Fortpflanzung“.185 Außerdem ruft der Androgyn stets eine Vorstellung von Jugendlichkeit hervor,186 die sowohl für die Ästhetik des Rokoko als auch für die des fin de siècle essentiell ist. Nur das bartlose Gesicht des Jünglings und die flache Brust des Mädchens vermögen es, dem Androgyn nahezukommen. Ebenso sind auch die androgynen Figuren im Werk Beardsleys zu verstehen. Sie sind nicht zwangsläufig ein Ausdruck homosexuell motivierter Schönheitsideale, speisen sich aber aus d ­ iesem Umfeld und erheben sich selbst zur Formel für den gesellschaftlich randstehenden Künstler. Beardsleys stark homosexuell geprägtes Umfeld aus Freunden und Mäzenen fördert diesen Topos in seiner Ästhetik und Ikonografie sicher um ein Vielfaches. Während der Androgyn ein Schönheitsideal darstellt, das vor allem in der ­Physiognomie und dem nackten Körper seinen Ausdruck findet, ist die Kultur des fin de siècle ebenso interessiert an einer anderen Möglichkeit, Geschlechtergrenzen zu überschreiten. „Like the topics of sexuality and gender roles which the fin de siècle explored so obsessively, cross-­dressing occurs frequently in the artistic, social and legal discourses of the period. […]“ 187

183 Vgl. Beckson, 1989, S. 214. 184 Vgl. Zatlin, 1989, S. 196. 185 Runte, 1995, S. 255. Gert Mattenklott hat dies treffend beschrieben: „Den sich selbst genießenden Eros hat das Fin de siècle in der Gestalt des Androgyn einer Auffassung der Ehe als Aufzucht- und Erwerbsgemeinschaft gegenübergestellt.“ Mattenklott, Gert: Bilderdienst. Ästhetische Oppositionen bei Beardsley und George. München 1970, S. 74. 186 Vgl. Runte, 1995, S. 261. 187 Janzen Kooistra, 1995, S. 203.

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Janzen Kooistra weist bereits darauf hin, dass cross-­dressing ein Phänomen unterschiedlicher Bereiche der 1890er ist und als soziale Realität, wie zu erwarten, selten positiv von der viktorianischen Bevölkerung und ihrem Rechtswesen aufgenommen wird.188 Beardsley selbst befindet sich in einem Umfeld, in dem cross-­dressing somit ebenfalls zum Instrumentarium des épater le bourgeois gezählt werden kann. Havelock Ellis’ Studie Sexual Inversion (1896), die er zusammen mit John Addington Symonds erarbeitet und bereits ein Jahr zuvor in deutscher Sprache unter dem Titel Das konträre Geschlechtsgefühl veröffentlicht,189 stellt dabei einmal mehr einen Fixpunkt dar. Es handelt sich dabei um die erste proto-­psychologische sowie kulturelle Untersuchung gleichgeschlechtlicher Liebe, die vor allem deshalb an Bedeutung gewinnt, da ihr Autor Homosexualität keineswegs verurteilt oder kriminalisiert wird. Immer wieder wird d ­ ieses Buch unter dem Titel Psychology of Sex in mehreren erweiterten Bänden und Auflagen herausgebracht. So kann Ellis schließlich auch dem Transvestitismus in der 1933er Ausgabe ein kurzes Kapitel widmen. Darin versucht er den Begriff „Eonism“ für sein Verständnis einer „sexo-­aesthetic inversion“ einzuführen.190 Den Begriff leitet er vom Chevalier d’Eon de Beaumont (1728 – 1810) her, der in Frankreich unter Ludwig XV. als Diplomat arbeitete. Später führte er jedoch in London ein Leben als Frau und erst bei seiner Obduktion wurde sein eigentliches Geschlecht festgestellt.191 Obwohl es Ellis nicht gelingt, eine klare Definition dieser Form des cross-­dressing aufzustellen, sei dennoch sein Verständnis des ‚Eonismus‘ als Form der liebevollen Transzendenz hervorgehoben. „… the Eonist is embodying, in an extreme degree, the aesthetic attitude of imitation of, and identification with, the admired object. It is normal for a man to identify himself with the woman he loves. The Eonist carries that identification too far.“ 192

Als Zeitgenosse Beardsleys dürfte Havelock Ellis sich schon länger mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, die er erst später schriftlich fixiert. Cross-­dressing als soziale Realität der 1890er ist besonders dann interessant im Kontext dieser Arbeit, wenn die Verkleidung des anderen Geschlechts zusätzlich historisierende Züge annimmt. Herbert Charles Jerome Pollitt (1871 – 1942), über den bisher noch keine Biografie veröffentlicht wurde, ist zum einen als Sammler und Freund Beardsleys aus seinen Briefen bekannt. Zum anderen tritt Pollitt in den 1890er Jahren häufig als „female impersonator“ auf, der Schleiertänze im Stil Loïe Fullers präsentiert.193 Es lassen sich Fotografien 188 Vgl. Gertner Zatlin, 1997, S. 92. 189 Vgl. Ellis, Havelock; Symonds, J. A.: Das konträre Geschlechtsgefühl. Leipzig 1896. 190 Vgl. Ellis, Havelock: Psychology of Sex. London 1939⁵ (London 1933), S. 209. 191 Vgl. ebd. Für das Portrait des Chevalier d’Eon vgl. Thomas Stewart nach Jean Laurent Mosnier: „Chevalier d’Eon“, 1792, Öl auf Leinwand, 76,5 × 64 cm, National Portrait Gallery, London. 192 Ebd., S. 210. 193 Vgl. Janzen Kooistra, Lorraine: Sartorial Obsessions. Beardsley and Masquerade. In: Latham, David (Hg.): Haunted Texts. Studies in Pre-­Raphaelitism in Honour of William E. Fredeman. Toronto 2003, S. 177 – 195, hier S. 182.

224 |  Aubrey Beardsley und die Motivik des 18. Jahrhunderts

Abb. 49 Scott & Wilkinson, Cambridge: Herbert Charles Jerome Pollitt in drag, späte 1890er Jahre, Fotografie, Maße unbekannt, Houghton Library, Harvard Library, Cambridge, MA.

in ­diesem, aber auch in anderen Kostümen finden, die Pollitt mal als Mann und mal als Frau zeigen. Eines, welches höchstwahrscheinlich aus einer Mappe des Fotostudios Scott & Wilkinson stammt, zeigt den jungen Mann frontal vor einer mit Blumenmuster geprägten Tapete (Abb. 52). Er trägt eine weiße Perücke mit einer Perlenschnur in den Locken. Vor der Brust hält er einen geöffneten Fächer, der aus weißen Federn oder Spitze besteht. Zusammen mit den zwei Muttermalen, die auf anderen Bildern nicht in Pollitts Gesicht auftauchen und somit Teil des Make-­Ups sind, ergibt sich der Eindruck, einer Dame des 18. Jahrhunderts gegenüber zu stehen. Leicht gegen die Wand gelehnt schaut diese durch schwere Augenlider in die Kamera. Der ennui des Rokoko, wie er im 19. Jahrhundert wiederholt aufgegriffen wird, spiegelt sich in dieser Darstellung. Obwohl bisher nicht bekannt ist, in welchem Kontext die Aufnahme entstanden ist – ob es sich um eine Portraitsitzung im Fotoatelier oder um eine konkrete Kostümprobe für einen Auftritt handelt – scheint Jerome Pollitt sehr an einer Identifizierung mit einer Vorstellung von Weiblichkeit im vorangegangenen Jahrhundert gelegen zu sein. Diese könnte sogar mit historischen Vorbildern wie dem Chevalier d’Eon verknüpft sein. Dem cross-­dressing inhärent dürfte die Wahl einer Kleidung sein, die gemeinhin dem jeweils anderen Geschlecht zugeordnet wird. Ein Mann, der als Frau erkannt sein möchte, wie dies die Fotografien von Jerome Pollitt suggerieren, wählt demnach Stoffe, Schnitte und Accessoires, die er als genuin weiblich erachtet. Dabei spielt die Entscheidung für den Rokoko-­Modus in d ­ iesem Portrait eine besondere Rolle. Die weiße Perücke und der opulente Fächer reichen aus, den Eindruck von Weiblichkeit hervorzurufen. Das

Androgyn und Travestie bei Gautier und Beardsley | 225

18. ­Jahrhundert, welches spätestens durch die Goncourts als das Jahrhundert der Frau festgelegt wird, steht mit wenigen Accessoires Pate für das Weibliche schlechthin. Um ein entgegengesetztes Beispiel des cross-­dressing in Beardsleys Umfeld anzuführen, sei weiterhin auf seine Schwester Mabel hingewiesen. Malcolm Easton berichtet über eine Verkleidung, die Mabel anlässlich eines Kostümballs trägt und in der sie später sogar portraitiert wird. „In May 1910, there was held at the Grafton Galleries […] an Artist’s Ball. Those taking part included Mabel in the character of a fifteenth-­century [sic!] page. […] In 1911, Oswald Birley showed her in that same fur-­edged tabard, with a goshawk on her wrist. To this picture he gave the title ‚An Elizabethan Page‘, and the result is altogether charming.“ 194

Als Schauspielerin interessiert sich Mabel Beardsley offenbar früh für Verkleidungen aller Art. Ohne in die psychoanalytische Lesart der älteren Beardsley-­Forschung einstimmen zu wollen, sei auf die mögliche Inspiration durch Mabel Beardsleys Theaterambitionen auf das Werk ihres Bruders hingewiesen. Während des Maskenballs, der erst nach dem Tod Aubrey Beardsleys stattfindet, wählt Mabel – ähnlich wie Jerome Pollitt – ein historisches Kostüm, um in die Rolle des anderen Geschlechts zu schlüpfen. In ihrem Fall handelt es sich allerdings um Kleidung, der auch Virginia Woolf in Orlando (1928) noch attestieren wird, dass sie die Grenzen ­zwischen den Geschlechtern verschleiere.195 Die langen Haare, die enge Strumpfhose und das ausgestellte Gewand lassen die Portraitierte eher eine Position ­zwischen Jüngling und Frau einnehmen. Als New Woman des frühen 20. Jahrhunderts stellt sie in ihrer Verkleidung bewusst die Differenz der Geschlechter in Frage. Pollitt und Mabel Beardsley zeigen mit ihren unterschiedlichen Ansätzen des cross-­ dressing neben dem allgemeinen Interesse der 1890er für Travestie und sexuelle Maskeraden auch die Pole, ­zwischen denen Beardsleys Auffassung des Phänomens steht. Seine Motivwelt widmet sich sowohl den femininen Männern, als auch den maskulinen Frauen. Der Androgyn verbindet diese beiden Pole in seinem Werk. Dennoch bleibt die Kleidung seiner Figuren das, was ihre Körperlichkeit und somit ihr Geschlecht wiederholt in Frage stellt. Dabei nutzt der Zeichner seine Kenntnis über die Geschichte des Kostüms, um hybride Entwürfe zu generieren, die sich nicht immer einem Jahrhundert zuordnen lassen. Lorraine Janzen Kooistra hat in ihrem Aufsatz „Sartorial Obsessions. Beardsley and Masquerade“ (2003) bereits überzeugend die Relevanz von Kleidung und Travestie im Werk des Engländers nachgewiesen. „Beardsley is undoubtedly interested in sexual subjects, but the erotic content has tended to distract critics from the performative aspects of an art obsessed with dress, undress, and the 194 Easton, 1972, S. 224. 195 Vgl. Woolf, Virginia: Orlando. A Biography. London 2003, S. 5: „He – for there could be no doubt of his sex, though the fashion of the time did something to disguise it – was in the act of slicing at the head of a Moor which swung from the rafters.“

226 |  Aubrey Beardsley und die Motivik des 18. Jahrhunderts

liminal states between. […] The function of masquerade in Beardsley’s art is to challenge the hierarchical distinctions of the late Victorian patriarchal society.“ 196

Bei Beardsley und seinen Zeitgenossen bedeutet das Spiel mit Kostüm und Maskerade stets eine Form der Subversion. So stellt sich Beardsley selbst ebenfalls immer wieder in Selbst- und Kryptoportraits dar, die sein Geschlecht offensiv hinterfragen. Für sein Bild des Abbé in Under the Hill konnte dies schon festgestellt werden. Mit größerer Portraitähnlichkeit, aber vergleichbarer Androgynität präsentiert sich der Künstler auch in einem „Portrait of the Artist“, das im März 1895 zunächst in The Hour Illustrated zusammen mit dem Artikel „Concerning Caricaturists“ erscheint (Abb. 53).197 Es zeigt den Künstler diesmal mit dem sparsamen Einsatz schwarzer Umrisslinien im Profil. Beardsley weicht seine sonst so harten Gesichtszüge auf und gestaltet dem Konterfei eine gerade Nase, leicht schläfrige Augen und eine volle Oberlippe. „Beardsley presents himself as a Regency dandy, in a lace-­collared shirt with a jabot and a coat puffed out in front by a fitted waist and open top button. […He] gave himself a look of ambiguous gender through the coat, the earring, his softly coiffed hair and frilled shirt.“ 198

Das gebauschte Tuch im tiefen Ausschnitt und die extrem schmale Taille lassen eher einen weiblichen Körper als die flache Brust des Künstlers vermuten. Mit dieser Körperauffassung greift der Zeichner einerseits zurück auf den beschriebenen frühen Dandy-­Typus, wie er oftmals karikiert worden ist, und nimmt gleichsam die Idee für seinen späteren d’Albert vorweg. Andererseits suggeriert besonders der Schnitt seiner Kleidung eher eines seiner zahlreichen Portraits von zeitgenössischen Schauspielerinnen, wie Réjane (1856 – 1920), in dessen Ahnenreihe sich der Zeichner hier offenbar verortet.199 Ohnehin sei an dieser Stelle die große Bedeutung des theatralen Kontextes für ­Beardsleys Interesse am Kostüm und seiner transformierenden Kraft betont. Im zeitgenössischen Umfeld stechen besonders Sarah Bernhardts Auftritte in ihren sogenannten ­Hosenrollen hervor. Sie bedient sich darin eines tradierten Topos der Theatergeschichte, in der Travestie bereits seit dem 17. Jahrhundert eine lange Geschichte aufweist.200 Während Bernhardt zunächst Rollen spielt, die von vornherein für Frauen in Männerkleidung konzipiert waren, beginnt sie ab 1896 auch Hauptrollen anzunehmen, die „für männliche Darsteller gedacht waren“.201 So spielt sie etwa Pierrot, wie dies an früherer Stelle schon ausgeführt wurde, aber auch Hamlet in einer Shakespeare-­Adaption oder 196 Janzen Kooistra, 2003, S. 178. 197 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 165. 198 Ebd., S. 165 f. 199 Zu Beardsleys Bildern zeitgenössischer Theaterschauspielrinnen siehe Elliot, 1989. 200 Vgl. Thorun, Claudia: Sarah Bernhardt. Inszenierungen von Weiblichkeit im Fin de siècle. Phil. Diss. Hildesheim 2004, Hildesheim 2006, S. 125. 201 Ebd., S. 126.

Androgyn und Travestie bei Gautier und Beardsley | 227

Abb. 53 Aubrey Beardsley: „A Portrait of the Artist“, März 1895, Technik unbekannt (schwarze Tinte auf Papier), Maße unbekannt, Verbleib unbekannt.

­ ärchenprinzen. Claudia Thorun weist in ihrer Dissertation zu Bernhardts Konzeptionen M von Weiblichkeit allerdings darauf hin, dass die Hosenrollen keineswegs ein ­Mittel der Schauspielerin sind, die gängigen Geschlechterkodifizierungen zu hinterfragen. So bleibt Bernhardt in der späteren theoretischen Darlegung ihres Verständnisses von Travestie der Meinung, dass Frauen nur s­ olche Männer-­Rollen spielen sollten, die von m ­ entalen Problemen zerfressen und durch körperliche Schwäche gekennzeichnet sind.202 Die ‚potenten‘ Rollen eines Don Juan oder Romeo sollen weiterhin den männlichen Kollegen überlassen werden. Sarah Bernhardt bleibt den zeitgenössischen Geschlechterdifferenzen von Aktivität und Passivität also auch im cross-­dressing treu. Eine Frau sei nur dann fähig, sich in die Rolle eines Mannes hineinzuversetzen, wenn dieser dem vermeintlich weiblichen Charakter ohnehin nahesteht. Virilität könne durch das beste Kostüm nicht überzeugend erreicht werden. Auch Beardsley steht in ­diesem Sinne dem weiblichen Geschlecht in seiner Konzeption von Travestie gemeinhin näher. Weibliche Kleidung und weiblicher Habitus werden bei ihm zum universellen Passus der Marginalität, sowohl in der Künstleridentität als auch in der ästhetischen Auffassung. Da er aber immer wieder Männer in diese effeminierende Ästhetik überführt, unterläuft er stärker als Sarah Bernhardt die G ­ eschlechterdifferenzen der zeitgenössischen Gesellschaft. Bernhardts Idee allerdings, „dass auf der Bühne 202 Vgl. ebd., S. 130; Bernhardt, Sarah: L’Art du Théâtre. La Voix. La Geste. La Prononciation. Avec une introduction par M. Marcel Berger. Paris 1993 (1923), S. 142 f.

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Abb. 54 Aubrey Beardsley: „The Peacock Skirt“, 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 23 × 16,8 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA.

­ eschlechtsidentität immer durch Darstellung hergestellt wird“ 203 bestätigt Beardsleys G ebenfalls performative Auffassung von Geschlecht, welches im Kunstwerk zum fluiden Gestaltungsmittel wird. Beardsleys Interesse liegt insbesondere in der transformativen Kraft von Kleidung. Wenn seine Figuren nicht dezidiert als Zeitgenossen agieren, erscheinen sie meist in Gewändern, die ihre Körperlichkeit entweder überbetonen oder vollends negieren und in ­abstrakte Formen umwandeln. In dieser Hinsicht sind die orientalischen und ostasiatischen Einflüsse auf die Kleidung der Figuren in Beardsleys Salome-­Illustrationen besonders hervor­zuheben. Ohne näher auf die vielfach besprochenen Bilder eingehen zu wollen, sei auf die Dichotomie von Überbetonung und Negierung des Körpers in zwei Zeichnungen aus dieser Reihe hingewiesen. Während Salome in „The Peacock Skirt“ (Abb. 54) in einen kimonoähnlichen Umhang gehüllt ist, der ihre Rückenfigur in eine phallische Form umwandelt

203 Thorun, 2006, S. 133.

Androgyn und Travestie bei Gautier und Beardsley | 229

Abb. 55 Aubrey Beardsley: „The Stomach Dance“, Spätherbst 1893, Bleistift, schwarze Tinte und weiße Gouache auf Velinpapier, 22,6 × 16,6 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA.

und so das Mächteverhältnis z­ wischen ihr und ihrem androgynen Gegenspieler 204 verdeutlicht, erscheint sie in „The Stomach Dance“ (Abb. 55) barbusig in einer transparenten Haremshose. Obwohl es in beiden Fällen um die Aushandlung von Geschlechtsidentitäten und damit verbundener Wirkmacht geht, macht sich Beardsley im ersten Beispiel das Verschwinden des Körpers hinter einer Stoffmasse zunutze, um die Autorität der Rede in den Fokus nehmen. Im zweiten Bild wiederum stellt der Zeichner die sexuelle Macht von Salomes Körper in den Vordergrund, indem er die Kleidung dazu nutzt, ihre Nacktheit zu unterstreichen. Die Frage, die sich schließlich stellen soll, ist, inwiefern sich Beardsleys Rezeption des 18. Jahrhunderts in seine Obsession für Kleidung integrieren lässt. Ein Blick in die Forschungsliteratur zur Maskerade im englischen und französischen Rokoko fördert einen Begriff zu Tage, der darin immer wieder aufgerufen wird: ‚das Andere‘. Ich berufe 204 Chris Snodgrass stellt die Frage, ob es sich dabei um Jokanaan oder den Diener Narraboth handelt. Vgl. Snodgrass, 1989, S. 36.

230 |  Aubrey Beardsley und die Motivik des 18. Jahrhunderts

mich hierin besonders auf Terry Castles Publikationen zur Kultur des Maskenballs im englischen 18. Jahrhundert, ­welche sich in weiten Teilen auch auf kontinentale Entwicklungen übertragen lässt. In einer Epoche, in welcher die Mode (zumindest unter den Herrschenden) einen erstmals so hohen Stellenwert ausmacht, entspricht Kleidung laut Castle gewissermaßen einem linguistischen Code.205 Nicht nur für Frauen als Sprache der Liebe und des Flirts 206 spielt Kleidung also eine immense Rolle in der höfischen Kultur ­dieses Jahrhunderts. Beardsley dürfte sich über diese Begebenheit mittels der Schriften der Goncourt-­Brüder informieren, die in La femme au dix-­huitième siècle schreiben: „Elle [la mode] n’est plus physique, matérielle, brutale. Elle se dérobe à l’absolu de la ligne; elle s’échappe et rayonne dans un éclair.“ 207

Sowohl die für Beardsley so relevante Fähigkeit der Transformation durch Kleidung, als auch deren modernistische Eigenheit als flüchtige Erscheinung des gegenwärtigen Geschmacks spiegeln sich in dieser Aussage. Neben ihrer täglichen gesellschaftlichen Bedeutung, kann die Mode ihren eigenen Code im 18. Jahrhundert jedoch auch unterlaufen. Dies geschieht vor allem im Zuge des Maskenballs, welcher in dieser Epoche sicherlich seinen Höhepunkt erlebt. Ausgehend von den Karnevalsfeierlichkeiten in Venedig werden auch in Frankreich und England die bals masqués bzw. fancy-­dress balls bald zu einer sozialen Institution. Auf diesen Bällen vollzieht sich die kopfstehende Welt des Karnevals sozusagen im Kleinen: gesellschaftliche Hierarchien werden umgekehrt und Geschlechteridentitäten hinterfragt; dies alles im frivolen Spiel der Maskerade.208 „… que d’espiègleries dont le feu s’ouvre par la veille phrase, toujours jeune: Je te connais, beau masque! Ce sont des libertés prises et des pardons demandés […] Mais le plaisir, le vrai plaisir du bal est la causerie. L’esprit du dix-­huitième siècle est à l’aise sous le masque : le masque lui donne la verve, il émancipe ses malices, il fait pétiller ses ironies.“ 209

205 Vgl. Castle, Terry: Masquerade and Civilization. The Carnivalesque in Eighteenth-­Century English Culture and Fiction. London 1986, S. 55. 206 Vgl. Thiel, 20048, S. 253. 207 Goncourt, 1862, S. 272 f. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 338: „Sie [die Mode] ist nicht mehr bloß physisch, stofflich und grob. Sie entzieht sich der absoluten Herrschaft der Linie; sie schlüpft sozusagen aus dem Schnitt, in dem sie bis dahin eingeschlossen war, heraus; sie entspringt und strahlt blitzartig.“ 208 Vgl. Krysmanski, 2010, S. 195 f. 209 Goncourt, 1862, S. 117 f. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 177 f.: „[Da] fangen auch die Schäkereien an, deren Blendwerk mit der alten, ewig neuen Phrase eröffnet wird: ‚schöne Maske, ich kenne dich!‘ Man nimmt sich Freiheiten, erbittet sich Verzeihungen und Kühnheiten […] Aber das Vergnügen, das wahre Ballvergnügen ist das Gespräch. Dem Geist des 18. Jahrhunderts behagt es unter der Maske: die Maske gibt ihm die Verve, sie emanzipiert seine Bosheiten, läßt seine Ironie funkeln.“

Androgyn und Travestie bei Gautier und Beardsley | 231

Die Maskerade steht nicht nur in der Auffassung der Goncourts für erotische Freiheiten ein. Sie ermöglicht es außerdem, sozialen Gruppen, die ansonsten weder rhetorische noch sexuelle Macht für sich beanspruchen können, diese im Schutz der Maske auszuleben. Die eigene Natur und kulturelle Kategorien werden im Kostüm bewusst oder unbewusst umgekehrt.210 Diese inhärente Alterität von sozialer Realität und Maskerade ist es auch, die im cross-­dressing und der Travestie einen ihrer wohl wichtigsten Ausdrücke erlangt. Die Kostümierung als jeweils anderes Geschlecht ist im Maskenball des 18. Jahrhunderts äußerst beliebt und findet unterschiedliche Ausformungen. So tritt der sogenannte ­she-­male sogar auf ländlichen Feiern auf und parodiert als Mann in der Kleidung einer Frau zumeist Stereotype der Mutterschaft.211 Außerdem erscheinen sowohl in der Literatur als auch in zeitgenössischen bildlichen Darstellungen immer wieder Kostüme, die Mann und Frau zugleich zeigen sollen.212 Zumeist in der senkrechten Körpermitte getrennt, wird die eine Hälfte des Körpers dabei mit männlicher Kleidung und Accessoires, die andere Hälfte mit weiblich kodifizierter Garderobe ausstaffiert. So entstehen ein eigentümliches Äußeres und ein plakatives Aufeinanderprallen der Geschlechter in ein und derselben Person. Für Frauen und Homosexuelle stellen s­ olche Verkleidungen eine Möglichkeit zur freieren Interaktion dar. Castle führt an, dass im Schutz der Maske die Zügellosigkeit keine Gefahr für die Reputation der bürgerlichen oder adligen Dame ausmacht. An gleicher Stelle macht er jedoch darauf aufmerksam, dass alsbald eben dies in der zeitgenössischen Kritik als Gefahr verstanden wird. In der Maskerade erreicht die Frau ein gewisses Maß an sexueller Freiheit, gleichsam bestätigt sie damit die misogyne Vorstellung von der Prostituierten in jeder Frau.213 Indem sich der Besucher des Maskenballs zumeist für ein Kostüm entscheidet, das seinem Wesen oder Äußeren konträr ist, vollzieht er hinter der Maskerade stets einen Akt der Befreiung von Konventionen und gleichzeitig eine potenziell subversive Handlung. Positiv verstanden handelt der Maskenball einen philosophischen Diskurs des Jahrhunderts aus. „The notion of the self – so crucial in the artistic and philosophical idiom of the period, so endlessly problematic – must be invoked in any discussion of the masquerade. The masked assemblies of the eighteenth century were in the deepest sense a kind of collective meditation on self and other, and an exploration of their dialectic impersonation.“ 214

Im Laufe des Jahrhunderts wird besonders dieser Aspekt allerdings in seiner libertinen Brisanz erkannt und mit realer Rebellion gleichgesetzt.215 Dies führt schließlich dazu, dass der Maskenball im 19. Jahrhundert weitestgehend als Relikt einer dekadenten a­ ristokratischen 210 Vgl. Castle, 1986, S. 5. 211 Vgl. ebd., S. 22. 212 Vgl. ebd., S. 66. 213 Vgl. ebd., S. 33. 214 Ebd., S. 4. 215 Vgl. ebd., S. 89.

232 |  Aubrey Beardsley und die Motivik des 18. Jahrhunderts

Gesellschaft verstanden wird und besonders Gender-­Distinktionen betont artikuliert und keinesfalls hinterfragt werden. Das Gespür für das ‚Andere‘ in der Mode und Maskerade des 18. Jahrhundert ist es auch, was Janzen Kooistra für ausschlaggebend hält, wenn es um Beardsleys Rokoko-­ Rezeption im Allgemeinen geht: „Beardsley’s interest in that period is precisely its delight in sartorial transformation – its recognition that one could become the ‚other‘ through masquerade. […] His adaption of an eighteenth-­century decorative style toward the end of 1895 signals a fascination with that period’s engagement with masquerade and its socially disruptive potential.“ 216

Obwohl ich diese These für ungemein gewinnbringend für die Beardsley-­Forschung halte, habe ich bereits nachdrücklich dokumentiert, dass sich die Auseinandersetzung des Künstlers mit dem 18. Jahrhundert keineswegs nur auf diesen einen Aspekt beschränkt. Die Maske wird sowohl im 18. Jahrhundert als auch bei Beardsley zum Symbol der spielerischen Subversion. Im Kontext des erotischen Spiels rufen Beardsleys Travestien Erinnerungen an den libertinen Roman wach, in welchem es jungen Liebenden immer wieder gelingt, im Geheimen zueinanderzukommen, indem sie sich in die Kleidung des jeweils anderen Geschlechts hüllen. In Louvet de Couvrays Les Amours du Chevalier de Faublas (1787 – 90) beispielsweise tritt der Protagonist zunächst verkleidet als Mädchen bei einem Maskenball auf, was ihm schließlich sogar Eintritt in das Schlafgemach einer Dame verschafft.217 Bei diesen und weiteren Gender-­Maskeraden steht die erotische Wirkmacht, w ­ elche durch die Traves218 tie noch geschürt wird, im Vordergrund. Auch bei Beardsley dient das cross-­dressing seiner Figuren oftmals als Koketterie, die seinen Frauen kecke Eleganz und seinen Männern ephebenhafte Schönheit verleiht. Ebenso nutzt der Zeichner die Umkehrung von Kleider-­Codes jedoch auch, um Lächerlichkeit zu evozieren. Wenn in „Cinesias Entreating Myrrhina to Coition“ ein satyrartiges Männlein im Rüschenkostüm einer Dame im Kimono hinterher jagt, wird seine offensichtliche Lüsternheit mittels effeminierender historischer Kleidung karikiert und der Begriff Travestie wird in all seinen Bedeutungsebenen verstanden (Abb. 70) (Kap. 8). Hierin klingt bereits das enthüllende Potenzial hinter jeglicher Maskerade an. Immer wieder kehrt Beardsley in seinem Werk zu direkten oder indirekten Darstellungen von Maskeraden zurück und gliedert sich darin in den Kanon der 1890er Jahre ein. Auch bei Oscar Wilde etwa heißt es: „Man is least himself when he talks in his own person. Give him a mask and he will tell you the truth.“ 219 Nicht nur die gegenständliche Maske, w ­ elche beim Kostümball getragen wird, sondern auch die tagtägliche, soziale Maskerade wird in 216 Janzen Kooistra, 2003, S. 188 217 Vgl. Louvet de Couvray, Jean Baptiste: Die Liebesabenteuer des Chevalier Faublas, Bd. I. Hgg. von Gustav Kiepenheuer und übers. von Christoph Martin Wieland. Leipzig, Weimar 1979, S. 22 – 32. 218 Vgl. Lehnert, 1994, S. 243. 219 Wilde Oscar: The Critic as Artist. In: Ross, Robert (Hg.): The Complete Works of Oscar Wilde. Intentions and The Soul of Man. Boston 1921, S. 99 – 226, hier S. 191.

Androgyn und Travestie bei Gautier und Beardsley | 233

Abb. 56 Aubrey Beardsley: „The Comedy-­ Ballet of Marionettes, as performed by the Troupe of the Théâtre-­Impossible, III“, bis 24. Juni 1894, Technik unbekannt (schwarze Tinte auf Papier), Maße unbekannt (ca. 34 × 26 cm), Verbleib unbekannt.

­diesem bon mot angesprochen. Wilde und Beardsley gehören zu jenem elitären Zirkel, der für sich beansprucht, die viktorianische Gesellschaft von ihrer Maske der Moral zu entlarven. Indem Beardsley seine stets kostümierten Figuren permanent in ihrer Kreatürlichkeit demaskiert, thematisiert er die Schlüsselloch-­Mentalität des viktorianischen Publikums. Sexualität findet bei ­diesem hinter der verschlossenen Tür statt; Beardsleys Figuren indes machen aus Erotik ­Theater. Im dritten Blatt der Yellow Book-­Reihe „The Comedy-­Ballet of Marionettes“ (1894) wird dies einmal mehr deutlich (Abb. 56). Eine schwarz gekleidete Dame steht hier zusammen mit zwei weiteren Figuren auf einer Bühne, die einzig durch angedeutete Vorhänge artikuliert wird. Vor d ­ iesem Bühnenraum beschreibt der Zeichner eine Art Orchestergraben, in dem sich zwergenartige Figuren um eine tönende Untermalung der Szene bemühen. Doch der Dirigent in der Mitte legt gerade den Finger auf die Lippen, um dem Lärm Einhalt zu gebieten. Offenbar handelt es sich um einen entscheidenden Moment auf der Bühne. Linda Gertner Zatlin erklärt, dass Beardsley sich hier an ein skandalöses Theaterstück von Edmond About (1828 – 1885) mit dem Titel Guillery anlehnt.220 Das Bild lässt sich indes ebenso unabhängig von dieser möglichen Quelle lesen.

220 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 92.

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In den drei äußerst verrätselten Zeichnungen der Serie scheint es um das sexuelle Erwachen einer Frau zu gehen, die von allerlei obskuren Gestalten auf ihrem Weg erotischer Erfahrung geleitet wird.221 Die schwarze Larve, die sie hinter ihrem Rücken präsentiert, sowie die Verortung der Szene auf der Theaterbühne offenbaren den ständigen Inszenierungscharakter von Persona und Schatten.222 Ähnlich wie Wilde vermag es Beardsley, im theatralen Modus die viktorianische Moralität zu unterwandern. In seine Begeisterung für das ­Theater lassen sich auch die bisher beschriebenen Ikonografien von Pierrot und Frisiertisch eingliedern. Die Maske des weißen Clowns, die kosmetische Maske der Dame bei der Toilette sowie das cross-­dressing für Gautier: diesen beardsleyschen Motiven ist ihr Ursprung im Th ­ eater gemein. Der Zeichner zeigt ein ungemeines Interesse für das Spiel mit Identitäten, welches er in seiner Selbstinszenierung stets am besten beherrscht. Th ­ eater und Maskerade werden dabei zu Formeln der sozialen Inszenierung des Künstlers und seines Publikums. Vor allem in der ersten Hälfte seines Schaffens nutzt Beardsley diese psychoanalytische Inhärenz von Travestie, aber auch von Androgyn und Hermaphrodit als plakativen ­Gestus eines Bürgerschrecks. Ian Fletcher stellt in seinem Aufsatz „A Grammar of Monsters“, in welchem er Beardsleys wiederkehrende Motive einzuordnen versucht, fest, dass dieser Gestus in seinen letzten Arbeiten zu Gautiers Mademoiselle de Maupin abgelöst wird von den „refinements of transvestite allure.“ 223 Von den Androgynen und Hermaphroditen des Frühwerks entwickelt sich Beardsleys Ästhetik also hin zu einem wachsenden Inte­ resse an Kleidung und ihrer transformierenden Kraft. Diese Verlagerung hängt sicherlich mit der Rezeption des 18. Jahrhunderts zusammen, die sich in dieser Werkphase stärker in Beardsleys Schaffen integriert. In seinen Zeichnungen zu Gautiers Mademoiselle de Maupin nimmt er sich einen histo­ risierenden Text, der zugleich Inkunabel des Ästhetizismus ist, zum Anlass, sein eigenes Verständnis von fließenden Geschlechtergrenzen erneut auszuloten. Madeleine und ­d’Albert spiegeln beide das ästhetizistische Ideal des Androgyn, in dem sich Mann und Frau trans­ zendieren, genauso wie den spielerischen, erotisch aufgeladenen Modus der Maskerade und Travestie im 18. Jahrhundert. Kleidung kann bei Beardsley zeigen und verhüllen, Körperformen gänzlich in Frage stellen und Geschlechtergrenzen auflösen. Damit steht sie für die stets ambivalente Ikonografie und Ästhetik des Künstlers ein, die sich dezidiert von bürgerlichen Anforderungen an das tradierte Bild abwendet. In den unvollendeten Illustrationen zu Gautiers Roman findet Beardsley somit eine weitere ideale literarische Grundlage für sein Kunstwollen.

221 Vgl. ebd., S. 91. 222 Drei Jahrzehnte später beschreibt der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875 – 1961) mit diesen Begriffen die Gegensätzlichkeit von sozialer Maskerade und dem Unterbewussten in seinem Aufsatz „Die Beziehung z­ wischen dem Ich und dem Unbewussten“ (1928). Vgl. http://www.cgjungpage. org/learn/jung-­lexicon (06. 03. 2019). 223 Fletcher, 1987, S. 157.

7 „Ces livres qu’on ne lit que d’une main“ – Beardsleys Rezeption von Erotika und Pornografie „Volupté! c’est le mot du dix-­huitième siècle; c’est son secret, son charme, son âme. Il respire la volupté, il la dégage. […] La femme alors n’est que volupté. La volupté l’habille. Elle lui met aux pieds ces mules qui balancent la marche.“ 1

Wie so oft vermögen es die Brüder Goncourt, ein einziges Wort zum scheinbaren Schlüssel­ begriff für eine ganze Epoche zu machen. In ihrem Buch über „Die Frau des 18. Jahrhunderts“ stellen sie wiederholt ‚la volupté‘ als das Charakteristikum und die treibende Kraft aller künstlerischen Produktion dar. „[La volupté] retrouve dans l’art du temps plus matérielle et pour ainsi dire incarnée. La statue, le tableau sollicitent son regard par un agrément irritant, par la grâce amusante et piquante du joli. […] Et la gravure est là, avec son burin leste, vif et fripon, pour répandre ces idées en gravures, en estampes vendues publiquement, entrant dans les plus honnêtes intérieurs et mettant jusqu’aux murs de la chambre des jeunes filles, au-­dessus de leur lit et de leur sommeil, ces images impures, ces coquettes impudicités, ces couples enlacés dans les liens de fleurs, ces scènes de tendresse, de tromperie, de surprise, au bas desquelles souvent le graveur appelle dans un titre naïf le plaisir par son nom !“ 2

Gerade der zuletzt angesprochene „schelmische Griffel“ der Druckgrafik soll es sein, der in ­diesem Kapitel eine besondere Rolle für die Rezeption von Erotika und Pornografie des 18. Jahrhunderts im Werk Aubrey Beardsleys spielt. Das Bild des Rokoko als eine Zeit der Koketterie, Galanterie, Frivolität und nicht zuletzt Erotik wird durch die Goncourts einmal mehr bestätigt und gefestigt; so sehr gefestigt, 1

Goncourt, 1862, S. 130. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 188 f.: „Lust! Das ist das Wort für das 18. Jahrhundert, sein Geheimnis, sein Zauber, seine Seele. Es atmet die Wollust, es macht sie frei. […] Das Weib dieser Zeit besteht aus Wollust. Die Wollust kleidet sie. Sie steckt ihr jene Pantöf­felchen an die Füße, die den Gang in Gleichgewicht setzen.“ 2 Goncourt, 1862, S. 134. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 194 f.: „[Die Wollust] findet sich in der Kunst der Zeit noch greifbarer inkarniert. Statuen und Gemälde ziehen durch eine Art aufreizender Lust, durch die amüsante und pikante Grazie des Hübschen ihren Blick auf sich. […] Dazu kommt noch die Stecherkunst mit ihrem raschen, lebendigen und schelmischen Griffel, um in Kupferstichen und Holzschnitten, die öffentlich verkauft werden, jene Ideen zu verbreiten; sie dringt noch in die vornehmsten Räume und bringt die unkeuschen Bilder an die Wände der Zimmer junger Mädchen, über ihr Bett und ihren Schlummer, die kokette Unzucht, die von B ­ lumenbändern umflochtenen Paare und Szenen der zärtlichen Rührung, der Betrügerei, der Überraschung, an deren Fuß der Stecher häufig das Vergnügen bei seinem Namen nennt.“

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dass diese Vorstellung bis heute in gewisser Weise fortlebt. Schon die äußere Erscheinung dieser vor allem französisch-­höfischen Kultur wirkt in d ­ iesem Sinne nach. Die hochgeschnürten Mieder und Korsetts, die das Dekolleté unendlich betonen, sinnliche Schönheitspflästerchen am Mundwinkel, vom Rouge gerötete Wangen, kokett am Hals herunterfallende Ringellocken; alles an dieser Mode ist Lust, erotisches Plaisir, Fetisch und Aufreizung: so zumindest der augenfällige Eindruck, wie ihn die Goncourts vermitteln. Damit wird jegliche Rezeption des Rokoko in der Literatur und besonders der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts geradezu zur Chiffre des erotisch Anrüchigen. Es verwundert daher nicht, dass selbst Huysmans’ dandyhafter Held Des Esseintes den Rokoko-­Stil allein für zwei Orte als angemessen erachtet: für das Schlafzimmer und für das Bordell.3 In ­diesem Sinne bedient sich auch Aubrey Beardsley sowohl für seine offensiv erotischen Blätter als auch für die anspielungsreicheren Arbeiten an den Accessoires und Motiven des 18. Jahrhunderts. Seine Anleihen stammen dabei vor allem aus der galanten Literatur und Illustration jener Epoche, die auch sein Verleger Leonard Smithers verehrt. Smithers sammelt selbst und für sein Geschäft exquisite Erotika aller Jahrhunderte, aber besonders die des dix-­huitième. Beardsley fertigt zu einigen der bei Smithers erschienen historischen Erotika selbst Illustrationen an oder plant sie zumindest. Daher kennt er wohl nicht nur die in seinen Briefen und solchen Quellen wie Smithers’ Katalogen verbürgten Werke, sondern kann auch darüber hinaus als für sein Alter ungemein belesen angesehen werden.4 Das Motiv des Lesens selbst wird daher zu einem seiner beliebtesten Sujets, wobei er zumeist Frauen bei dieser introvertierten Handlung zeigt. So bietet sich auch im Titelblatt für Smithers’ Catalogue of Rare Books (1895) eine lesende Dame den Blicken dar (Abb. 57). Sie ist ganz versunken in die Lektüre, wie dies ihre bequem angelehnte Haltung auf dem gestreiften Sofa und ihre gesenkten Augenlider vermuten lassen. Linda Gertner Zatlin macht im aktuellen Beardsley-­Katalog nicht nur darauf aufmerksam, dass der Zeichner hier ein Gemälde des Zeitgenossen William Rothenstein rezipiert („Porphyria’s Lover“, 1894), sondern auch, dass das Motiv der lesenden Frau bereits eine lange Tradition in der viktorianischen Malerei innehat.5 Allerdings weist sie auf das ungewöhnliche Interesse der ‚Beardsley-­Woman‘ am Buch hin, welches sie von ihren Vorreiterinnen in dieser Thematik abhebt: „A woman with a book was an established subject in nineteenth-­century art. Usually, the books lie on a woman’s lap unread but open in a V, a symbol of her genitalia rather than her intellect.“ 6

3 Vgl. Huysmans, 2006, S. 104 und S. 109. 4 Vgl. Gertner Zatlin: Beardsley Redresses Venus, 1990, S. 112. 5 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 178 f.; William Rothenstein: „Porphyria’s Lover“, 1894, Öl auf Leinwand, Maße unbekannt, Privatbesitz. 6 Ebd., S. 179.

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Abb. 57 Aubrey Beardsley: „Lady on a Sofa“, Entwurf zum Titelblatt für ­Leonard ­Smithers’ Catalogue of Rare Books, Herbst 1895, schwarze Tinte auf Papier, 21,6 × 15,2 cm, Verbleib unbekannt.

In der Folge wird einmal mehr Zatlins feministische Lesart von Beardsleys Zeichnungen deutlich, in der sie der lesenden Frau im Werk des jungen Künstlers einen Platz als vermeintlich voremanzipatorische Gestalt zuweist. Dennoch bleibt der Unterschied zur gängigen Ikonografie evident. Ergibt sich diese Differenz allerdings tatsächlich aus Beardsleys Fürsprecherrolle der beginnenden Emanzipation? Die mehr oder minder zeitgenössische Kleidung der Dame auf einem biedermeierlich anmutenden Möbelstück verortet sie zwar im europäischen 19. Jahrhundert, das Motiv der selbstvergessen lesenden Frau hat jedoch auch eine erotische Tradition, derer sich Beardsley hier bedient. Schon in den galanten Gemälden und Grafiken der Mitte des 18. Jahrhunderts offenbart sich die lesende Frau als ein Topos des Anzüglichen. In Pierre Maleuvres Stich „Le Boudoir“ (1774) nach einem Entwurf des Schweizers Sigmund Freudenberger (1745 – 1801) ist in dieser Weise eine nachlässig gekleidete oder halb entblößte junge Dame auf einem Sofa zu sehen (Abb. 58). Sie scheint entweder weggenickt oder in Träumereien versunken über den Text, den sie noch in ihrer Hand auf dem Schoß hält. Von außen beobachten sie ein Mann und eine Frau, die offenbar angeregt von der Szene innen begonnen haben,

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Abb. 58 Pierre Maleuvre nach Sigmund Freudenberger: „Le Boudoir“, 1774, Kupferstich, Maße unbekannt, National Gallery of Art, Washington.

sich zu liebkosen. Der ins Zimmer hineinwehende Vorhang suggeriert mit seiner biomorphen Formgebung weiterhin einen erotischen Bildgehalt. Die Lektüre scheint eine aufreizende Wirkung auf die junge Frau gehabt zu haben; so sehr, dass sie alles andere um sich vergisst. Ihr entblößter Busen sowie die geöffneten Schenkel lassen vermuten, dass sie – ermuntert durch den Text – gar begonnen hat, Hand an sich zu legen. Beardsley rekurriert möglicher­weise auf s­ olche und ähnliche Darstellungen, zeigt doch die Zusammen­ stellung von lesender Frau auf dem Kanapee mit einem exotisch-­symbolischen Vogel in der Zimmer­ecke durchaus Parallelen zu seiner Bilderfindung.7 7 Der Papagei kann in der Kunstgeschichte teils gegenläufige Interpretationen zulassen und tut dies wohl auch in den Bildbeispielen Freudenbergers und Beardsleys. Zum einen kann er für Gelehrigkeit und Klugheit stehen, zum anderen für Torheit; beides aufgrund seiner Fähigkeit zu sprechen, die jedoch auf Nachahmung und nicht auf Wissen beruht. Diese Dichtotomie dürfte für den künstlerischen Diskurs seit der Aufklärung wohl die größte Bedeutung besitzen und lässt Spekulationen über die moralische Bewertung der lesenden Dame im Bild zu. In der barocken Stillebenmalerei

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Es handelt sich in jedem Fall um ein tradiertes Sujet der Kunst des 18. Jahrhunderts. Das Lesen – besonders das Lesen anzüglicher Romane oder gar philosophisch libertiner Schriften – kann teilweise sogar selbst für die erotische Selbstversunkenheit stehen. Auf die Spitze getrieben wird dieser Gedanke von den Büchern, die Mann und Frau laut Rousseau nur mit einer Hand lesen,8 in einem der Frontispize zum prärevolutionären Roman Thérèse philosophe (1748), auf den in der Folge nochmals zurückzukommen sein wird (Abb. 59). In dieser kuriosen Darstellung wird dem Käufer der pornografischen Erzählung auf einen Blick die vordergründige Funktion des Textes offenbart. Die unbekleidete Heldin hat auf einem hochaufgerichteten, ejakulierenden Phallus rittlings platzgenommen und hält in einer Hand ein aufgeschlagenes Buch, in das sie interessiert und entzückt hineinschaut. Mit der anderen Hand fasst sie sich in einer pathetischen Geste ans Herz. Ohnehin parodiert die Grafik ganz offensichtlich religiöse und herrschaftliche Pathosformeln, wie dies durch die himmlischen Strahlen, die von den Wolken auf das Buch scheinen, angedeutet wird. Sein Übriges tut der himmlische/höfische Helfer, der das auf einem Prunkkissen platzierte Gemächt stützt. Eine ­solche Bildtradition vergegenwärtigend, erreichen Beardsleys lesende Frauen eine weitere Interpretationsebene über die Thematik der New Woman der 1890er hinaus. Vielmehr wird der Akt des Lesens selbst erotisiert. Für die klandestine Literatur und Druckgrafik des 18. Jahrhunderts werden „ces livres qu’on ne lit que d’une main“ 9 zum Signum der Selbstbefriedigung. Wer weiß also, wo sich die zweite, unsichtbare Hand von B ­ eardsleys lesender Dame auf dem gestreiften Sofa befindet? Sowohl in der Kunst des 18. Jahrhunderts als auch in der Frauenfrage der 1890er ist die lesende Frau eine Figur der Wissbegier und Aufklärung. Durch die Lektüre erlangt sie Erkenntnis nicht nur über rein intellektuelle Dinge, sondern auch über ihren K ­ örper und ihre Lust. Die charakteristische Verbindung von Wollust und Ratio des Rokoko manifestiert sich nicht zuletzt im Motiv der femme en lisant. In Beardsleys Bildern wird

8 9

wird das exotische Tier zudem zu einem Vanitassymbol umgedeutet, das die unreflektierte Ansammlung vergänglicher Besitztümer und Moden im menschlichen Leben verurteilt. Vgl. Büttner, Frank; Gottdank, Andrea: Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten. München 2006, S. 132. Vgl. Darnton, Robert: The Forbidden Best Sellers of Pre-­Revolutionary France. New York 1995, S. 103 Im 1782 erschienenen Text von Rousseau lässt sich dieser Wortlaut nicht finden. Er ist erst seit einer offenbar posthumen Publikation bis dato nicht erschienener Textstellen der Confessions als nicht vom Autor selbst gesicherter Zusatz vermerkt, wo es heißt: „…ces dangereux livres qu’une belle dame de par le monde trouve incommodes, en ce qu’on ne peut, dit-­elle, les lire que d’une main.“ Rousseau, Jean-­Jacques: Confessions de J.-J. Rousseau, noms qui ne sont indiqués que par des lettres initiales dans les éditions imprimées, morceaux inédits ou différences qui se trouvent entre le manuscrit offert à la Convention par Thérèse Lavasseur et les éditions de Rousseau. Paris o. J.. Der verkürzte Ausspruch wird schließlich erst in Jean Marie Goulemots gleichnamiger Publikation zum geflügelten Wort der Forschung in Sachen französischer Pornografie des 18. Jahrhunderts. Vgl. Goulemot, Jean Marie: Ces livres qu’on ne lit que d’une main: lecture et lecteurs de livres pornographiques au XVIIIe siècle. Aix-­en-­Provence 1991.

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Abb. 59 Unbekannter Stecher nach Louis Binet (?): Titelblatt zu Thérèse philosophe, 1782/83, Kupferstich, 17,2 × 10,2 cm.

das Sujet fortgeführt und für seine Zwecke instrumentalisiert. Auch seine Ästhetik changiert ständig ­zwischen intellektuellem Anspruch und Freude am Frivolen. Die ornamental unterkühlte schwarze Linie trifft darin auf erotische Anspielungen und sexualisierte Explizitheit. Crébillon fils’ Diktum des „être passionné sans sentiment“ 10 könnte einem angesichts dieser Verbindung in den Sinn kommen. Auch Beardsleys Bilder – selbst die frivolsten – scheinen stets solch einem Leitgedanken verpflichtet. Teilweise handelt es sich bei den Bänden in Beardsleys gedachter ‚Bibliothek‘ um Werke, die dem heutigen Rezipienten völlig unbekannt sein dürften. So lohnt sich abermals eine dahingehende Untersuchung seiner eigenen unvollendeten Erzählung Venus and ­Tannhäuser/Under the Hill. Das Fragment wird in der Forschung auf unterschiedliche Weise zu beschreiben versucht. So spricht der Beardsley nicht sonderlich zugetane Zeitgenosse Arthur Symons noch von einem ‚Stück Unsinn‘.11 Ken Ireland bettet das Werk lediglich in seinen Forschungsschwerpunkt ein und beschreibt es als „one of the most

10 Crébillon, Claude-­Prosper Jolyot de: Les Égarements du cœur et de l’esprit, ou Mémoires de M. de Mailcour. Partie 3. Paris 1736 – 38, S. 86. 11 Vgl. Symons, 1918, S. 19.

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radical and capricious examples of Rococo Revival literature.“ 12 Die beiden wichtigsten Beiträge zur Analyse des Textes liefern der Aufsatz von Ian Fletcher über Beardsleys literarisches Schaffen 13 und Emma Suttons Monografie zu Beardsleys Verortung im b­ ritischen Wagnerismus der 1890er.14 Fletcher stellt in seinem Essay das französische Signet der Erzählung in den Vordergrund. „This is clearly a dix-­huitième fantasy of the sickroom and comprehends the stylized love play of the galant world of those French painters he so much admired.“ 15

Gleichzeitig stellt er den Text in eine Tradition mit der klandestinen Buchkultur: „Venus and Tannhäuser, even though it subverts its own eroticism, belongs to the ‚hidden‘ world of pornography and the limited, or clandestine, edition typical of Smithers’s activities as a publisher.“ 16

Obwohl Fletcher dem Autor vorhält, seine eigene Erotik zu unterwandern, soll seine Aussage als Stütze für meine Interpretation der Erzählung dienen. Tatsächlich synthetisiert Beardsley in Venus and Tannhäuser klassische Modi der erotischen und pornografischen Literatur und Kunst, wie Linda Gertner Zatlin dies in ihrem Essay „Beardsley Redresses Venus“ (1990) eindrücklich nachweisen konnte.17 Die Beschreibung der Landschaft gleicht einem Blick über den nackten weiblichen Körper und der Held Tannhäuser tritt nicht zuletzt ein in den ‚Venusberg‘ (oder -‚hügel‘).18 Auch die allgemeine Erzählstruktur entspricht dem, was bereits Steven Marcus in seinem Buch „The Other Victorians“ (1966) für die pornografische Narration feststellt. „The ideal pornographic novel, I should repeat, would go on forever; it would have no ending, just as in pornotopia there is ideally no such thing as time. […] The prose of a typical pornographic novel consists almost entirely of clichés, dead and dying phrases, and stereotypical formulas.“ 19

Obwohl nur fragmentarisch ausgeführt, ist davon auszugehen, dass auch Beardsleys Text keine konsistente Erzählung – im Sinne von Anfang, Mitte, Ende – aufweisen würde. Vielmehr handelt es sich um eine Aneinanderreihung von extensiven Beschreibungen von 12 13 14 15 16 17 18 19

Ireland, 2006, S. 57. Vgl. Fletcher, 1989. Vgl. Sutton, 2002. Fletcher, 1989, S. 262. Ebd., S. 233. Vgl. Gertner Zatlin: Beardsley Redresses Venus, 1990, S. 121. Vgl. Fletcher, 1987, S. 144. Marcus, Steven: The Other Victorians. A Study of Sexuality and Pornography in Mid-­Nineteenth-­ Century England. London 2009 (1966), S. 279.

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Möbelstücken, Räumen, Pflanzen, Kleidung, Figurenversammlungen und deren erotischem Treiben. Auch das Klischeehafte macht sich Beardsley in seiner Sprache zu eigen, die vor allem dekadente Schemen der synästhetischen Beschreibung parodiert. Beardsleys Charaktere scheinen ebenfalls Pornotopia entsprungen; insofern, als sie auf eigentümliche Weise vereinzelt sind und zugleich in ihrem erotischen Interesse alle auf eine Stufe gestellt werden, ohne dabei ­zwischen Klassen, Sexualität oder Geschlecht zu unterscheiden. „The only passion that propels the characters through the plot is self-­interest, even when – especially when – they lock in an embrace. […] And in such a world, all bodies are ultimately equal, whether noble or plebeian, male or female.“ 20

Am Hof der Liebesgöttin tummelt sich ein Volk aus hybriden Wesen, Zwergen und allerlei Tieren. Sie alle sind neben den Protagonisten Venus und Tannhäuser gleichwertige Akteure im frivolen Spiel. Die transvestitische Kosmetikerin, Mrs. Marsuple, (oder Mrs. Manly, wie Venus sie auch nennt) erheitert ihre Herrin beispielsweise mit ihren pikanten Geschichten, während diese am Frisiertisch sitzt.21 Um die frivole Grundstimmung der Narration noch zu steigern, verzichtet Beardsley in kaum einem Satz auf Allusionen, die wohl nur die frankophilen Kenner der Erotika ansprechen dürften. So endet seine Beschreibung der Toilette der Venus etwa mit den Reaktionen der aufgereizten Hofgesellschaft auf die Erscheinung der herausgeputzten Göttin. „The dwarfs grew very daring, I can tell you. There was almost a mêlée [Schlacht]. They illustrated pages 72 and 73 of Delvau’s Dictionary.“ 22

Hier verlangt der Autor seiner Leserschaft gar eine sehr genaue Kenntnis ab. Bei „Delvau’s Dictionary“ handelt es sich um Alfred Delvaus Dictionnaire érotique moderne (1864). Auf den Seiten 72 und 73 werden darin die unterschiedlichsten Ausdrücke und Tätigkeiten rund um das Thema Masturbation aufgeführt.23 Mit solcherlei komplexen Anspielungen wendet sich Beardsley dezidiert an seinen fiktiven Adressaten, dem er in einer Vorrede die Erzählung widmet.24 Der Kardinal Giulio Poldo Pezzoli wird darin als Connaisseur der klandestinen Literatur und Kunst herausgestellt 25 und bietet so eine hervorragende Folie für Beardsleys folgende Ergießungen. Gleichsam befähigt ihn dieser historische Passus einer Widmung für die Zurschaustellung seiner eigenen Kennerschaft des Klandestinen.

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Darnton, 1995, S. 111 f. Vgl. Beardsley, 1993 S. 19. Ebd., S. 21. Vgl. Delvau, Alfred: Dictionnaire érotique moderne par un professeur de langue verte. Basel 1891 (1864), S. 72 f. Auch Beardsley dürfte sich auf die Ausgabe aus dem Jahr 1891 berufen, zumal diese mit Illustrationen von Félicien Rops versehen ist. 24 Vgl. Beardsley, 1993, S. 11 – 14. 25 Vgl. Fletcher, 1989, S. 233.

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Ohnehin ist ein großes Interesse am Sammeln von literarischen Kuriosa und Erotika im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts festzustellen. Eine Schlüsselfigur hierfür ist Henry Spencer Ashbee (1834 – 1900), über den Ian Gibson in seiner Monografie schreibt: „Henry Spencer Ashbee […] was a successful City merchant and, to all appearances, a pillar of society. Behind the scenes, however, he was engaged in the ambitious project of becoming the century’s leading collector and bibliographer of erotic books. Ashbee emerges as the archetypal Victorian gentleman with a secret.“ 26

Neben seiner beinahe bewiesenen Autorschaft der berühmt berüchtigten Memoiren eines viktorianischen Gentlemans, My Secret Life (1888 – 1895), macht sich Ashbee unter dem skatologischen Pseudonym „Pisanus Fraxi“ einen Namen als Sammler von erotischen bis pornografischen Büchern, die er in mehreren publizierten Bibliografien auflistet. Die wohl berühmteste unter diesen ist der als erstes erschienene Index Librorum Prohibitorum (1877). „…the Index Librorum Prohibitorum (‚Index of Books Worthy of Being Prohibited‘) is a thing of beauty. The 250 copies must have cost Ashbee a fortune. Printed in large quarto on heavy toned paper, and displaying a handsome array of different typefaces and decorative fleurons, with the titles of the books noticed highlighted in red, the weighty volume comprises the frontispiece commissioned by Ashbee from Jules Adolphe Chauvet, […]. The binding was suitably sumptuous: ‚red pigskin spine, stamped in gold with title, author’s name, and London 1877 […]‘“ 27

Auch in ­diesem Beispiel zeigen sich die hohe Affinität zur Buchkunst im viktorianischen Zeitalter sowie die enge ästhetische Verknüpfung von typografischen und illustrativen Elementen des 18. Jahrhunderts mit der erotischen Thematik. Ashbees Publikationen können als populäre Quelle in der gebildeten englischen Gesellschaft verstanden werden. Beispielsweise nutzt kein geringerer als Leonard Smithers Ashbees Index als Quelle für seine Ausführungen zu antiken Priapeia, die er 1890 in Zusammenarbeit mit Sir Richard Burton (1821 – 1890) in einer englischen Übersetzung und mit zahlreichen Anmerkungen herausgibt.28 Die bei Ashbee aufgezählten Werke reichen von hochpreisigen Ausgaben anspruchsvoller Lektüre bis hin zu „catch-­pennies“, wie Allison Pease sie bezeichnet, also Büchern von minderer editorischer wie literarischer Qualität.29 Der Unterschied z­ wischen Kunstwerk und Massenprodukt ist bei ­diesem Interesse offenbar eher zweitrangig. Zunächst geht es um die Kollektion einer möglichst großen Menge an variantenreichen Kuriosa. 26 Gibson, Ian: The Erotomaniac. The Secret Life of Henry Spencer Ashbee. London 2002, S. XI. 27 Ebd., S. 39. 28 Vgl. Smithers, Leonard C.; Burton, Sir Richard (Hg.): Priapeia sive diversorum poetarum in ­Priapum lusus or Sportive Epigrams on Priapus by Divers Poets in English Verse and Prose. Hertfordshire 1995 (London 1890), S. 138. 29 Vgl. Pease, 2000, S. 52.

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Dennoch muss betont werden, dass Ashbee im Vorwort zu seiner Bibliografie den Habitus des viktorianischen Gentlemans wahrt und seinen Leser warnt: „Improper books, however useful to the student, or dear to the collector, are not ‚virgini­ bus puerisque‘; they should, I consider, be used with caution even by the mature […].“ 30

Die moralisierende Fassade wird hier noch aufrechterhalten. Dies verhält sich im Fall von Leonard Smithers anders. Er nutzt vielmehr die Möglichkeiten der privaten Editionen und exklusiven Käufergruppen, deren Namen bis heute im Dunkeln bleiben,31 um seine erotischen Werke zu verkaufen und zu bewerben. Betont sei hier, dass es sich bei dieser Käuferschaft stets um gesellschaftlich höherstehende Persönlichkeiten handelt, die nach damaliger Meinung zum einen fähig sind, sich die teuren Publikationen überhaupt zu leisten, und zum anderen selbige auch gebührend wertzuschätzen. Allison Pease schreibt, dass man sogar glaubt, der Konsum von Erotika verderbe und korrumpiere die unteren Klassen.32 Durch solcherlei Denkmuster ergeben sich auch juristische Folgen für die Publi­ kation von Erotika im 19. Jahrhundert. Einen Höhepunkt stellt dabei sicherlich die Verabschiedung des Obscene Publications Act von 1857 dar, in dem es vor allem darum geht, literarische und bildliche Pornografie mittels Verbot in Schach zu halten.33 Die Scheidung ­zwischen Erotika und Pornografie ist an ­diesem Punkt schwierig zu treffen. Daher möchte ich auf die ausführliche Forschungsliteratur zu d ­ iesem Thema verweisen und lediglich einige Aspekte hervorheben.34 Zatlin weist darauf hin, dass auch Pornografie im 19. Jahrhundert unter dem Sammelbegriff „Erotika“ subsummiert wird.35 Diese hat laut Allison Pease großen Einfluss auf die Genese einer modernen Kunstproduktion in Großbritannien. Sie stellt in ihrem Buch heraus, dass die entscheidenden Unterschiede ­zwischen einer ästhetischen Rezeptionshaltung und einer pornografischen auf Grundlage der Körperlichkeit bestehen. Bei der Auseinandersetzung mit ästhetischen Werken der Literatur oder Kunst ist der Anspruch, den Geist vom Körper durch das

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Ashbee zitiert nach Pease, 2000, S. 49. Vgl. Nelson, 2000, S. 105. Vgl. Pease, 2000, S. 91. Vgl. Myrone, Martin: Prudery, Pornography and the Victorian Nude (Or, what do we think the butler saw?). In: Smith, Alison; Upstone, Robert (Hg.): Exposed. The Victorian Nude. New York 2002, S. 23 – 35, hier S. 25. 34 Siehe beispielsweise: Ausst.-Kat.: The Triumph of Eros. Art and Seduction in 18th-­Century France. London, Courtauld Institute of Art, 2006; Bertolotti, Alessandro: Curiosa. La bibliothèque érotique. Paris 2012; Colligan, 2006; Faulstich, Werner: Die Kultur der Pornografie. Kleine Einführung in Geschichte, Medien, Ästhetik, Markt und Bedeutung. Bardowick 1994; Gorsen, Peter: Das Prinzip Obszön. Kunst, Pornographie und Gesellschaft. Hamburg 1969; Mey, Kerstin: Art and Obscenity. London 2007; Österreichische Nationalbibliothek (Hg.): Der verbotene Blick. Erotisches aus zwei Jahrtausenden. Wien 2002; Pease, 2000; Wagner, Peter (Hg.): Erotica and the Enlightenment. Frankfurt am Main 1991. 35 Vgl. Gertner Zatlin, 1997, S. 221.

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kantsche ‚interesselose Wohlgefallen‘36 weitestgehend zu trennen. Pornografische Werke hingegen agieren auf einer dezidiert körperlichen Ebene und werfen auch ihre Rezipienten bewusst auf deren eigene Leiblichkeit zurück.37 Das Pornografische beschreibt Pease ebenfalls überzeugend als ein Signum der modernistischen Ästhetik z­ wischen Massenmedium und Kunstwerk. Diese Erkenntnis wendet sie sogleich auf die Werke Beardsleys an, worin ihr durchweg zu folgen ist. Allerdings wird ­dieses Kapitel weitere Aspekte der Rezeption Beardsleys von vor allem Erotika und Pornografie des 18. Jahrhunderts aufzeigen. Ob seine Arbeiten schlussendlich einem der Begriffe – erotisch, pornografisch oder etwa obszön 38 – zugeordnet werden können, muss dabei dennoch fraglich bleiben. Wie so oft entzieht sich die Kunst Beardsleys auch hier einer klaren Begriffsbestimmung. Strümpfe, Federn und Quasten werden bei Beardsley wiederholt zu Objekten des fetisch­ haften teasings. So sind die Damen wie die Herren in seinen Illustrationen zur englischen Übersetzung von Aristophanes’ Lysistrate (1896) mittels dieser Accessoires als Figurinen in einer pornotopischen Welt gekennzeichnet. Bestimmt von Lust und Frust sind sie durch ihr modisches, aufreizendes Beiwerk gewissermaßen gefangen in ihrer Sexualität und sexuellen Identität. Natürlich sei bemerkt, dass sich der Illustrator in diesen Zeichnungen an der gesamten Geschichte der erotischen Kunst bedient, nicht nur an den Frivolitäten des Rokoko. Auch die japanischen Frühlingsbilder und die griechische Vasenmalerei finden Eingang in seine Bildkonzeptionen. Dennoch sind alle diese Quellen gleichsam Signa des Erotischen. Mit d ­ iesem Wissen erscheint es auch sinnvoller, dass Beardsley eine hybride Form der Rezeption für seine Illustrationen des antiken Stoffes nutzt. Jeglicher Klassizismus wie auch Neo-­Hellenismus ist spätestens seit den Prozessen rund um Oscar Wilde 1895 und seiner Aussage über das griechisch-­platonische Liebesideal von einer gewissen Unschicklichkeit gebrandmarkt.39 Somit ist Beardsleys Verbindung von reduktionistisch klassizistischer Ästhetik mit dem Flitter des 18. Jahrhunderts durchaus sinnstiftend. Beide bieten aufgrund ihrer Rezeptionsgeschichte eine Plattform für erotische Capricen. Besonders das Motiv des déshabillé ist ein Topos der erotischen Kunst, der bei ­Beardsley auftaucht und daher an einem Beispiel erläutert werden soll. Die Zeichnung „Two Athenian Women in Distress“ aus der Lysistrata-­Reihe illustriert die Szene des Stücks, in der zwei der Frauen, die sich eigentlich zusammengeschlossen haben, um ihren Männern so lange sexuell zu entsagen, bis diese ihren Krieg beenden, aus ihrem Unterschlupf in der Akropolis zu fliehen versuchen (Abb. 60). Übermannt von der Frustration ihrer 36 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Berlin 1872, S. 42. Dort heißt es unter § 2: „Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse.“ 37 Vgl. Pease, 2000, S. 1. 38 „In contrast to the pornographic, the aesthetic of the obscene seeks to be accepted into the cultural mainstream, and it does so by mediating its own materialist interest with idealist artistic techniques that promote the kind of consumptive practices associated with the aesthetic. […] The aesthetic of the obscene continues to objectify and distance the senses, and in doing so it perpetuates the project of the aesthetic traditions.“ Ebd., S. 35. 39 Vgl. Evangelista, 2009, S. 162.

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Abb. 60 Aubrey Beardsley: „Two Athenian Women in Distress“, ca. 13. Juli 1896, schwarze Tinte auf Papier, Maße unbekannt, bei einem Brand in Julian Sampsons Haus 1929 zerstört.

Abstinenz ­nutzen sie alle Mittel, um wieder in die Arme ihrer Gatten zurückzukehren. Auf der linken Bildseite ist eine Dame zu sehen, die mit einem Fuß auf eine Schwalbe gestiegen ist, um sich von dieser davontragen zu lassen. Ein offenbar aussichtsloses Unterfangen, das für den Vogel bereits jetzt schmerzlich zu enden scheint. Auf der rechten Bildhälfte ist eine durch den Rahmen leicht angeschnittene Rückenfigur auszumachen, die sich schwerfällig bemüht, mittels eines Seils die unsichtbaren Mauern hinter sich zu lassen, und dabei schon einen ihrer beschleiften Schuhe einbüßen musste. Der unwirklich leere Hintergrund lässt ihre Fluchtrichtung nur erahnen. Einzig die gottähnliche Hand Lysistrates, die von oben in das Bildgeschehen eingreift, deutet ihren eigentlichen Aufenthaltsort an. Trotz des überaus komischen Elementes, das hier direkt aus dem zugrundeliegenden Text entnommen ist,40 verzichtet Beardsley nicht auf eine 40 Vgl. Aristophanes: Lysistrata, London 1973 (London 1896), S. 39. „Why call on Zeus! It is true, nevertheless. I cannot keep them away from their husbands; they are running off. I found the first one picking open the hole where the cave of Pan is; another one slipping down by the pulley;

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­zusätzliche Charakterisierung des erotisch aufgeladenen Zustandes der Damen. Während die Athenerin rechts sich zweifelsohne neben der Flucht gleichzeitige Stimulanz durch das Seil ­zwischen ihren massigen Schenkeln verspricht, geht ihre Mitstreiterin links anders mit ihren sexuellen Entzugserscheinungen um. Dabei deutet ihre sichtbare Hand einen für Beardsleys Werk typischen Masturbationsgestus an, der keinesfalls mit einer schamhaften Geste verwechselt werden kann. Ihr anderer Arm verschwindet ­hinter ihrem Körper und scheint sich in ähnlicher Weise ihrer Rückseite zu widmen. Die Kleidung beider Frauen betont dabei nur noch die aufreizende und zugleich frivole Stimmung. Vor allem die mit hoher Perücke, transparentem Morgenmantel, schwarzen Strümpfen und „pantoufles […], sufficient to make Cluny a place of naught“ 41 bekleidete Dame auf der Schwalbe erfüllt die Vorstellung von der Galanterie des Boudoirs, wie sie die Goncourts beschreiben. Dabei weise ich zunächst auf den Aspekt des Fetischismus hin, der meiner Meinung nach eine wichtige Rolle für Beardsleys Interesse an den Accessoires und bric-­à-­brac des 18. Jahrhunderts spielt. Linda Gertner Zatlins Catalogue Raisonné ist der wohl jüngste Fall, der in ­diesem Zusammenhang die Psychopathia Sexualis von Richard von Krafft-­ Ebing 42 als konstituierend für Beardsleys gesamte Ikonografie voraussetzt. ­Gertner Zatlin schreibt, Beardsley habe eine französische Übersetzung des seit 1886 mehrfach aufgelegten Werkes gelesen.43 Dies scheint durchaus plausibel und würde sich in das allgemeine Interesse des Künstlers für vor allem ungewöhnliche sexuelle Vorgänge, wie sie bei Krafft-­Ebing von A bis Z beschrieben werden, fügen. Allerdings fehlt dieser Feststellung bisher ein konkretes Beispiel. Um zu zeigen weshalb Krafft-­Ebings Studie so bedeutsam für die Genese von Beardsleys Ikonografie ist und ­welche Aspekte darin relevant für das Schaffen des jungen Engländers sind, werden im Folgenden Auszüge aus dem damals wegweisenden Kompendium mit Beardsleys Rezeption des (erotischen) Rokoko in Einklang gebracht. Es ist bereits deutlich geworden, dass Beardsley ein besonderes Interesse an der Kleidung und den Accessoires seiner Figuren antreibt. Hinter einer solchen sartorialen Begeisterung steckt nicht selten ein mehr oder weniger ausgelebter Fetisch. Hier soll indes dem Künstler selbst keine ­solche Affinität unterstellt werden, was trotz der guten Quellenlage nicht ausreichend nachweisbar und zudem nicht zielführend wäre. Vielmehr möchte ich Beardsleys künstlerische Raffinesse in der Umsetzung zeitgenössischer Diskurse vor Augen führen. Wenn seine Kenntnis von Krafft-­Ebings umfangreichem Werk nun vorauszusetzen ist, kann auch davon ausgegangen werden, dass Beardsley sein Werk in folgenden Aussagen über den Fetischismus bestätigt oder sogar inspiriert sieht. another I caught in the very act of deserting; and another one I dragged off a sparrow by the hair yesterday, just as she was ready to fly down to the house of Orsilochus.“ 41 Beardsley, 1993, S. 20. 42 Hier verwendet: Krafft-­Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung, Suttgart, 18949. 43 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. I, S. 229.

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„Diese Vorliebe für einzelne bestimmte physische Charaktere an Personen des entgegengesetzten Geschlechts […] habe ich […] ‚Fetischismus‘ genannt, weil thatsächlich das Schwärmen für und das Anbeten von einzelnen Körpertheilen (oder selbst ­Kleidungsstücken) auf Grund sexueller Dränge vielfach an die Verehrung von Reliquien, geweihten Gegenständen u. s. w. in religiösen Culten erinnert.“ 44 „Dieser pathologische Fetischismus bezieht sich nicht allein auf bestimmte Körpertheile, sondern selbst auf leblose Gegenstände, ­welche jedoch fast immer Theile der weiblichen Kleidung sind und damit in naher Beziehung zum Körper des Weibes stehen.“ 45

Besonders wenn Krafft-­Ebing konkret vom „Gegenstands- oder Kleidungs-­Fetischismus“ 46 spricht, erscheinen Beardsleys Damen in einem neuen Licht. Die historisch anmutenden Kleider werden bei ihm zu einer beinahe erotischen Manie gesteigert. Nicht nur die Freude am Artifiziellen entzündet ­dieses Interesse, sondern auch die genuin aufreizende Funktion dieser Mode. Die Kleidungsstücke, die mehr zeigen als sie verhüllen, betonen mit ihren exklusiven Stoffen, Mustern und virtuosen Schnitten die Nacktheit der Figuren. Stets scheinen seine Frauen in einem Zustand des lever zu sein; frisiert, geschminkt, aber noch nicht angekleidet. Den Betrachtenden wird damit ständig der Blick auf das eigentlich Verborgene gewährt. Ähnlich wie bei Rops’ berühmter Pornocrates (1878) tragen besonders die rokokoartigen Accessoires zur Steigerung des obszönen Bildgehalts bei.47 Rops weist sogar auf ein konkretes Modell für seine Pornokratie hin 48 und lässt sie wie eine seiner Pariser Kokotten erscheinen. Damit ist sie den zeitgenössischen Betrachtenden weit näher als Beardsleys puppen­ gesichtige Damen in schwarz-­weiß. Diese entgehen dem wahrhaft Schockierenden nicht nur durch ihre Publikationsgeschichte, sondern auch durch ihre ohnehin zeit- und wirklichkeitsenthobene Darstellungsweise. Was für Rops der Hut, ist für Beardsley die Coiffure. Die Athenerin auf der Schwalbe erhält vor allem dadurch ein explizites Rokoko-­Air, dass sie eine überaus auffällige Frisur trägt. Diese zitiert Beardsley aus seinem eigenen Werk. Belinda, die Heldin aus Alexander Popes Rape of the Lock, trägt in seiner Illustration ihrer Toilette eine beinahe deckungsgleiche Frisur und auch die Gesichter im Profil zeigen deutliche Ähnlichkeiten, die nur im Ausdruck variieren (Abb. 35). Im Kapitel über Beardsleys Szenen am Frisiertisch wurde bereits auf die künstlerische Bedeutung des weiblichen Haars für den beginnenden J­ugendstil 44 45 46 47

Krafft-­Ebing, 1894, S. 156. Ebd., S. 157. Ebd., S. 158. Vgl. Félicien Rops: „Pornocrates“, 1878, Aquarell und Gouache auf Papier, 75 × 48 cm, Musée provincial Félicien Rops, Namur. 48 Rops schreibt im Januar 1879 über die Entstehung des Bildes: „In Paris – coups de Paris! – hatte ich die Gelegenheit, die schwarzen, rotgeblühmten Seidenstrümpfe eines schönen Mädchens zu sehen, deren Geliebter in Monaco ist. Ich habe sie nackt gemalt wie eine Göttin, zog lange schwarze Handschuhe über diese schmalen Hände, die ich seit drei Jahren küsse […]“. Zitiert nach: Makein, Sabine: Die Gestalt der dämonischen Frau im Werk von Félicien Rops. Ikonographie und Ikonologie. Münster 1990, S. 160.

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hingewiesen. Jedoch erhält ­dieses Motiv im Zusammenhang mit Krafft-­Ebings Ausführungen zum Fetisch weitere Implikationen. „Auch auf dem Gebiete der schwärmerischen Liebe eines psychisch nicht abnormen Menschen können […] die Haarlocke u. s. w. Gegenstand abgöttischer Verehrung sein, aber nur, weil sie ein Erinnerungszeichen an die abwesende oder gestorbene geliebte Person darstellen.“ 49 „Wenn der Theil des weiblichen Körpers, welcher den Fetisch bildet, abtrennbar ist, also Haare, so kann es zu den extravagantesten Handlungen kommen. […] Das ist die Gruppe der Zopfabschneider.“ 50

Solche Aussagen sind es, die womöglich noch mehr Aufschluss über die Wahl zur Illustration von Alexander Popes Gedicht geben können. Beardsley und sein Verleger Smithers interessieren sich für den historischen Stoff offenbar nicht allein aufgrund seiner zeitlichen Verankerung im verehrten 18. Jahrhundert mit seiner artifiziellen, die Grenzen der Geschlechter hinterfragenden Mode und dem englischen „wit“ des Autors. Auch Krafft-­Ebings Analyse des Haar-­Fetischismus könnte für Beardsleys Auswahl der illustrierten Zeilen wegweisend sein. So konzentriert sich der Zeichner so gut wie ausschließlich auf die Darstellung der menschlichen Protagonisten und spart die von Pope geschilderten Nymphen und Luftgeister aus. Das parodistisch heroische Gedicht über den Raub einer Locke der schönen Belinda durch den „Baron“ liefert durch seine bloße Handlung Parallelen zu Krafft-­Ebings Konzeption des Fetischismus. Der Baron wird zum „Zopfabschneider“, wenn er Belinda heimlich ihrer Locke im Nacken beraubt. Diese ist für ihn ganz offenbar ein Objekt der Begierde, ist sie doch gleichsam, wie oben skizziert, als Schamlocke zu verstehen. Zugleich Körperteil und (wenn abgeschnitten) Gegenstand erhält die Haarsträhne eine zusätzliche Bedeutung als hybrider Fetisch. Vor allem aber die oben zitierte Analogie von Fetischismus und Mystizismus bzw. religiöser Glaubenspraxis bei Krafft-­Ebing scheint Beardsley auch bei Pope zu erkennen. In „The Baron’s Prayer“ stellt er den Protagonisten in Morgenmantel und Schlafmütze dar, wie er vor einem Stapel Folianten, auf dem einige Gegenstände in Rauch aufgehen, zum Gebet ansetzt (Abb. 61). Popes Zeilen klären näher über das Geschehen auf: „For this, ere Phœbus rose, he had implor’d Propitious Heav’n, and ev’ry Pow’r ador’d, But chiefly Love—to Love an Altar built, Of twelve Vast French Romances, neatly gilt. There lay three Garters, half a Pair of Gloves, And all the Trophies of his former Loves. With tender Billet-­doux he lights the Pyre, And breathes three am’rous Sighs to raise the Fire.“ 51 49 Krafft-­Ebing, 1894, S. 158. 50 Ebd., S. 168. 51 Pope, 1896, S. 9.

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Abb. 61 Aubrey Beardsley: „The Baron’s Prayer“, Februar/März 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,7 × 17,5 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA.

Die magische Macht des Gegenstands wird hier in Bild und Text gleichermaßen aufgerufen. Bücher, Briefe, Bänder, Masken, Taschentücher; alles wird zum Altar des Fetischs. Dinge, die zuvor Gegenstände vergangener Liebe und Devotion waren, werden hier wie in einer Art Ritual entzündet und bekommen so eine okkulte Bedeutung über ihren bloßen Memorialcharakter hinaus. Dies setzt einen zu Beginn der Arbeit dargelegten Gedanken grotesk überspitzt fort. Die Beschreibung Edmond de Goncourts über seine „tendresse presque humaine pour les choses“ 52 in Erinnerung rufend, erscheint Beardsleys Darstellung des Gläubigen vor seinem Altar (oder Scheiterhaufen) der Dinge als eine groteske Steigerung. Die Liebe der Goncourts und anderer Sammler des 19. Jahrhunderts zum historischen Gegenstand des 18. Jahrhunderts wird hier und in anderen Bildern zur mystischen Ersatzbefriedigung paro­ diert. Es wurde dazu bereits auf die altarartige Inszenierung der Frisiertische bei Beardsley hingewiesen, die sich in diese Analyse nahtlos einreihen ließe. Das bric-­à-­brac der Toilette

52 Goncourt, 1881, S. 3.

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wird in seiner Präsentation auf dem Tisch zu Devotionalien des Schönheitskultes (Kap. 6.2). Allein die Mode des 18. Jahrhunderts, vor allem des französischen Rokoko, wird in diesen und zahlreichen anderen Werken Beardsleys somit zum Zeichen ­­ des Erotischen. So wie für den jungen englischen Zeichner das 18. Jahrhundert zur Chiffre des Erotischen wird, ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Kunst selbst zu einer solchen Chiffre geworden. Dies zeigt sich unter anderem am Erstlingswerk des später berühmt berüchtigten D. H. Lawrence. In The White Peacock (1911) genügt dem Autor ein kurzer Blick seines Prota­gonisten auf zwei Zeichnungen Beardsleys, um seinen Leser und seine Protagonisten in die nötige aufreizende Stimmung zu versetzen. „I want her more than anything. – And the more I look at these naked lines, the more I want her. It’s a sort of fine sharp feeling, like the curved lines. I don’t know what I’m saying – but do you think she’d have me? Has she seen these pictures?“ 53

Die Anspielung, die Mitwisserschaft der Rezipienten sind bei Beardsley und in seiner Nachfolge entscheidende Modi des erotischen Bildes, wie es auch im 18. Jahrhundert entsteht. An dieser Stelle soll dezidiert vom ‚erotischen‘ oder ‚galanten‘ Bild gesprochen sein, da sich ­dieses zumindest insofern vom pornografischen unterscheidet, als es „ein sinnliches Begehren meint, das allerdings dem Modus der Indirektheit verpflichtet ist“.54 Viele galante Genreszenen verschiedenster Art zeichnen sich zumeist und vor allem in der Mitte des Jahrhunderts durch ein elaboriertes Zeichensystem aus, das besonders für Gemälde eine große Bedeutung hat.55 So können bestimmte Gegenstände und deren Gebrauch auf den verborgenen Inhalt eines Gemäldes hinweisen.56 In dieser Tradition verortet sich auch Beardsley, der Zeichensysteme und Anspielungen verwendet, die den Zeitgenossen nicht unbedingt geläufig sind. Oder diese Anspielungen sind so hintergründig beziehungsweise so gut kaschiert, dass selbst Beardsleys Verleger sie erst nach der Publikation bemerken, was ihnen dann durch die strikten viktorianischen Gesetzte zum Verhängnis werden kann. So ist von John Lane die Anekdote überliefert, er begann im Laufe der Zusammenarbeit mit dem jungen Künstler, eine Lupe zu verwenden, um dessen Bilder auf anrüchige Details zu untersuchen.57 53 Lawrence, D. H.: The White Peacock. London 2014, S. 268. 54 Liessmann, Konrad Paul: EROTIK. Anmerkungen zum Verhältnis von Geist und Lust. In: Österreichische National Bibliothek (Hg.): Der verbotene Blick. Erotisches aus zwei Jahrtausenden. Wien 2002, S. 9 – 12, hier S. 10. 55 Vgl. Rand, 1997, S. 10. 56 Außerdem macht Virginia Swain darauf aufmerksam, dass in François de Troys Genreszenen Bilder im Bild auf die moralische Aussage hinter scheinbar harmlosen Begegnungen von Mann und Frau hindeuten. Vgl. Swain, 1997, S. 22. Natürlich machen sich auch andere Künstler diese Vorgehensweise zunutze. Ebenso verwendet William Hogarth unterschiedlichste Beiwerke, um seine Gemälde und Grafiken moralisch zu kommentieren (Kap. 6.2). Vgl. Krysmanski, 2010. 57 Vgl. May, 1936, S. 78 f.

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Bei Beardsley sind die versteckten obszönen Details indes selten ein moralischer Kommentar über das Bildgeschehen, sondern legen vielmehr den eigentlichen Wissensdurst über alles Sexuelle in der viktorianischen Gesellschaft offen, der sich hinter einer „übertriebene[n] Kultivierung der Reserviertheit“ 58 verbirgt. Bereits Peter Gay schlägt in seiner Studie über „Sexualität im bürgerlichen Zeitalter“ (1984) ein Überdenken der Implikationen des Begriffs „Victorians“ vor: „Unsere gängige Vorstellung von jenen Menschen, die wir mit einem unscharfen, aber wohl nicht zu umgehenden Ausdruck als ‚viktorianisch‘ bezeichnen, bedarf dringend der Revision; schwankt unsere Einschätzung dieser Zeit doch in unguter Weise ­zwischen der Belustigung über ihre Sittenstrenge und der Verachtung ihrer Prüderie.“ 59

Auch Steven Marcus hat schon darauf hingewiesen, dass sich hinter der zugeknöpften Fassade ein intensives Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an Sexualität und Erotik verbirgt: „… the subculture of pornography and the view of sexuality held by the official culture were reversals, mirror images, negative analogues of one another. […] In both the same set of anxieties are at work; in both the same obsessive ideas can be made out.“ 60

Die Darstellungen von offensiver, dezidiert unakademischer Erotik in Literatur und Kunst des viktorianischen Zeitalters finden dennoch zumeist klandestine Verbreitung. Dies ist hauptsächlich der Gesetzeslage geschuldet, die das moralische Bild des bürgerlichen Zeitalters nach außen festigt. In ­diesem Sinne sind vor allem Beardsleys erotische Bilder als durchaus subversiv gegenüber der bürgerlich geprägten Ästhetik zu werten. Ich halte ­dieses subversive Element in seiner Grafik insbesondere in Bezug auf die Erotika des 18. Jahrhunderts für bedeutsam, da es ein komplexes Ideenkonstrukt rund um Fragen der Rezeption und künstlerischen Aneignung offenlegt. Beardsley greift in mehreren Bildern teils ganz klar ikonografisch, teils stilistisch, teils bloß modisch auf Schemen des erotischen oder pornografischen Bildes des Rokoko zurück, um sich dezidiert gegen bürgerliche Masken der Moral und Kunstideale abzusetzen; dies in einer Pose des perversen Aristokraten, wie er in der pornografischen Druckgrafik generiert wird. Dies soll an einigen Beispielen in der Folge erläutert werden. Gleich zweimal zitiert Beardsley berühmte Klassiker prärevolutionärer Erotika in seinen Illustrationen zu Aristophanes’ Komödie Lysistrate. Aristophanes bietet ihm die Plattform, sich erstmals deutlich mit der Geschichte des erotischen Bildes auseinanderzusetzen. In „Lysistrata defending the Acropolis“ bezieht sich der Illustrator nun offenbar ganz direkt auf ein wiederkehrendes Motiv der prärevolutionären Pornografie (Abb. 62). Gezeigt ist hier, wie sich die verschworenen Athenerinnen und Spartanerinnen, die sich auf der 58 Detten, 1994, S. 155. 59 Gay, Peter: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. München 1986, S. 18. 60 Marcus, 2009, S. 283 f.

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Abb. 62 Aubrey Beardsley: „Lysistrata defending the Acropolis“, Juli 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 27,3 × 19,1 cm, Victoria & Albert Museum, London.

­ kropolis verschanzt haben, gegen die ihnen zu Leibe rückenden Männer zur Wehr setzen. A Im Stück ist von der hier gezeigten skatologischen Ausartung indes nicht die Rede. Die Frauen sollen dort lediglich mittels Feuer aus ihrem Versteck vertrieben werden, woraufhin sie versuchen die Flammen zu löschen. Beardsley hingegen scheint sich die Frage zu stellen, woher die Damen das nötige Wasser nehmen und entscheidet sich für die umso komischere Darstellung der „Pisspots“, wie er sie in einem seiner Briefe an Leonard ­Smithers bezeichnet.61 Die zwei stehenden Frauen im Mittel- und rechten Hintergrund des Bildes halten jeweils einen dieser Nachttöpfe in Händen, um sie dem kleinen Männlein mit Fackel am linken unteren Bildrand entgegen zu gießen. Jedoch steigert Beardsley die Komik und Drastik der Darstellung noch, indem er im rechten Vordergund lediglich die unbekleidete Kehrseite einer weiteren Frau zeigt, die ihre Rüschenröcke hochgerafft und sich vorgebeugt hat, um den ganz offensichtlich unterlegenen Gegner – man kann es

61 Vgl. Letters, 1990, S. 140. Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 2. Juli 1896, Epsom.

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Abb. 63 François-­Roland Elluin nach Antoine Borel: Illustration zu „Thérèse philosophe“, 1748, Kupferstich, 12,8 × 7,9 cm.

nicht anders sagen – in die Flucht zu furzen. Eben d ­ ieses Zusammenspiel von Mann mit Fackel (oder Kerze) und flattulierender Frau ist es, das in überzeugender Weise mit einer libertinen Illustration des 18. Jahrhunderts vergleichbar ist. Franҫois-­Roland Elluins Stich nach einer Zeichnung Antoine Borels zum berühmt berüchtigten Roman Thérèse philosophe (1748) gibt eine Szene wieder, die Beardsleys Darstellung überaus ähnlich ist (Abb. 63). Höchstwahrscheinlich verfasst von Jean-­Baptiste Boyer d’Argens (1704 – 1771), einem antiklerikalen Denker und Freund Voltaires,62 ist die Erzählung rund um die Entwicklung der zunächst unschuldigen Klosterschülerin Thérèse Anlass für eine Anhäufung libertiner Motive und Ideen. Die Heldin wird zunächst Zeugin einer Vergewaltigung ihrer Freundin Éradice durch den Pater Dirrag – beide Namen sind Anagramme aus einer realen, zeitgenössischen Gerichtsakte entnommen.63 In der Folge gerät sie als Voyeurin oder Zuhörerin in allerlei verfängliche Situationen, die ihre eigene Lust wecken und sie über die libertine Natürlichkeit und Freude an der Sexualität aufklären. Im Zweiten Teil des Buches befindet sich Thérèse mittlerweile in der Obhut einer erfahrenen Prostituierten, die sie in die Geheimnisse ihrer Kunden einweiht. Dabei kommt es 62 Vgl. Bertolotti, 2012, S. 96 63 Vgl. Duprilot, Jacques: Nachwort. In: Thérèse Philosophe. Erotische Kupferstiche aus fünf berühmten Büchern. Dortmund 1982, S. 199 – 232, hier S. 201.

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zu der wahnwitzigen Episode über den älteren Herren, der das Freudenmädchen wieder­ holt aufgesucht hatte, einzig, um beim Schein einer Kerze ihr Hinterteil zu begutachten. Enerviert von dieser selbst für die junge Prostituierte absonderlichen Angewohnheit, beschließt sie, sich an dem alten Lüstling zu rächen. „… puis, après avoir exactement levé mes jupes et ma chemise, il va, selon sa louable coutume, s’armer d’une bougie, dans le dessein de venir examiner l’objet de son culte. […] Il mit un genou à terre et, approchant la lumière et son nez, je lui lâchai, à brûle-­pourpoint, un vent moelleux que je retenais avec peine depuis deux heures ; le prisonnier, en s’échappant, fit un bruit enragé et éteignit la bougie.“ 64

Die in sämtlichen zeitgenössischen Illustrationen dargestellte Rache ist es wohl, die auch Beardsley anregen könnte, ein solch zunächst ungewöhnlich erscheinendes Motiv in sein Repertoire zu übernehmen. Ähnlich verhält es sich mit der Suche nach einem Vorbild für die eigentümliche „Toilet of Lampito“ (Abb. 64). Auch für die Bilderfindung aus einem Putto bzw. adoleszenten Verkündigungsengels und einer bis auf Strümpfe nackten Hetäre, die sich mittels einer Puderquaste frivol vergnügen, lässt sich erst in der libertinen Illustration des 18. Jahrhunderts eine überzeugende Quelle finden. Im Frontispiz zu einer 1746er Ausgabe der erstmals 1683 erschienen Erzählung Vénus dans le cloître ist eine ganz ähnliche Paarung wie auf Beardsleys Zeichnung zu sehen (Abb. 65). Vor einem bühnenartigen Hintergrund wird auch hier eine nahezu unbekleidete Frau von einem Amorknaben anal penetriert. Doch nutzt der kleine Schelm, der sich – den Finger an die Lippen geführt – komplizenhaft den Betrachtenden zuwendet, offenbar einen seiner Liebespfeile, um ihn der leicht verkniffen schauenden ‚Nonne‘ einzuführen. Die Bildidee, in der Amor selbst zum Teilnehmer des eigentlich durch ihn ausgelösten frivolen Treibens wird, wirkt in d ­ iesem Beispiel überaus vorbildhaft für Beardsleys Komposition. Beardsley setzt somit erneut ein großes Wissen über Kunst-, Kultur- und Literaturgeschichte bei seinen Rezipienten voraus. Bei dem kleinen Kreis der Connaisseurs, denen seine Lysistrata-­Ausgabe zugänglich ist, dürfte eine s­ olche Kenntnis auch über klandestin verbreitete Druckgrafik sehr wohl vorauszusetzen sein. Zwar wirken seine Blätter auch ohne diese Kennerschaft schon allein durch ihre hochwertige Ausführung, jedoch ­erhalten 64 Argens, Jean-­Baptiste de Boyer, Marquis d‘: Thérèse philosophe, ou, Mémoires pour servir à l’histoire du P. Dirrag et de Mlle Eradice. Den Haag 1910, S. 135. Übersetzung nach Argens, Jean-­Baptiste de: Thérèse philosophe oder Memoiren zu Ehren der Geschichte von Pater Dirrag und Mademoiselle Eradice. Übers. von Eva Moldenhauer. In: Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Denkende ­Wollust. Frankfurt am Main 1996 S. 227 – 341, hier S. 325.: „… nachdem er mir sorgfältig Röcke und Hemd hochgehoben hat, bewaffnet er sich nach seiner löblichen Gewohnheit mit einer Kerze, um den Gegenstand seiner Verehrung zu betrachten. […] Er setzt ein Knie auf den Boden, und als er sich mit dem Licht und der Nase nähert, lasse ich einen kräftigen Wind fahren, den ich seit zwei ­Stunden mühsam zurückgehalten hatte. Er entwich mit einem Heidenlärm aus seinem Gefängnis und blies die Kerze aus.“

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Abb. 64 Aubrey Beardsley: „The Toilet of Lampito“, Dezember 1895 oder Juli 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,4 × 17,5 cm, Victoria & Albert Museum, London.

sie eine weitere intellektuelle Bedeutung auf der Ebene des von Werner Busch so eindringlich beschriebenen und oben bereits eingeführten Begriffs des wit. Busch schreibt in seiner 1977 erschienen Studie zur „Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip“ in Rekurs auf antike und neuzeitliche Quellen: „Ähnlichkeit festzustellen, gilt als äußerst befriedigend, das führt dazu, Ideen, Konzepte, die als ähnlich gesehen werden, zu vergleichen.“ 65 „Noch interessanter ist es, nur von der Kenntnis der Kopie aus sich auf die Suche nach dem Original zu begeben. Wird das Original entdeckt, ruft das Stolz, Freude über die eigene Leistung, den eigenen Scharfsinn hervor. […] Das Vergnügen wächst also, je schwieriger die Entdeckung des Vorbildes wird, und die Diskrepanz z­ wischen Original und Nachbildung ist eine Quelle für zusätzliches Vergnügen.“ 66

65 Busch, 1977, S. 45. 66 Ebd., S. 41 – 46.

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Abb. 65 Unbekannter Künstler: Frontispiz zu „Vénus dans le cloître“, 1746, Kupferstich, Maße unbekannt.

Des Weiteren macht Busch auf ein Phänomen aufmerksam, das besonders für Beardsleys Rezeption von Erotika relevant ist. Die „Nachahmung an sich unerfreulicher Originale […], die erst durch den Akt der Nachahmung erfreulich werden, da der Vergleich von Objekt und Darstellung Vergnügen bereitet“,67 ist für die intellektuelle Beschaffenheit von Beardsleys zunächst bloß ästhetisch ansprechenden Werken essenziell. Ihm gelingt es, mittels seiner synthetischen Rezeptionsweise, „unerfreuliche“ Originale aus dem Bereich der Pornografie, der Erotika, der Karikatur, der Massenmedien so weit künstlerisch zu überformen, dass sie selbst im weiterhin „unerfreulichen“ Genre beinahe in Vergessenheit geraten und allein durch das geübte Auge und den Kenner entschlüsselt werden können. Das Konzept des wit sowie Addisons „Pleasures of the Imagination“ (1712) spielen dabei eine entscheidende Rolle, sind sie doch ebenfalls fest verankert in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Addisons Aufsatzreihe im Spectator geht von einer Rezeptionsweise aus, die die Betrachtenden weitaus stärker in die Interpretation eines Kunstwerks involviert, als es bis dato der Fall gewesen ist.

67 Ebd., S. 44.

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„Für die Vorstellungen von Kunstwerken sei nicht der Vergleich mit dem realen Vorbild ausschlaggebend, sondern für den Betrachter genüge bereits eine entfernte Analogie, eine Ähnlichkeit, um die Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten, womit ein viel größerer Abstrak­ tionsgrad vorausgesetzt wird.“ 68 „Die Assoziationsmethode bewirkt, daß auch ein relativ unbedeutender Gegenstand eine für den einzelnen Rezipienten relativ große Gewichtung erreichen kann, je nach den subjektiven Erfahrungen, die er damit verbindet. Auf die Bildrezeption übertragen bedeutet dies die genaue Betrachtung der einzelnen Objekte sowie die spontane individuelle Reaktion darauf.“ 69

Diese Herangehensweise, die auf Lockes ­Theorie zur Ideenassoziation basiert, kann somit auch für die Betrachtung von Beardsleys Werken ausschlaggebend sein. Angesichts der sich immer wieder erneuernden Interpretationsansätze zu den Zeichnungen des Engländers scheint eine intendierte Rezeption wahrscheinlich, die assoziativ begabte und weitläufig gebildete Betrachtende voraussetzt. Während sich Beardsley also hauptsächlich an französischer Malerei, Skulptur, Druckgrafik oder Belletristik des 18. Jahrhunderts abarbeitet, greift er für die kunsttheoretische Untermauerung seiner Rezeption eher auf englische Ästhetik-­Diskurse zurück. Künstler wie Hogarth und Autoren wie Pope etablieren in Bild und Wort die ästhetische Kategorie des wit, die der Satire und Parodie nahesteht. Somit handelt es sich um eine nach dem frühneuzeitlichen Paragone weitere Möglichkeit, einen ­kunsttheoretischen Diskurs direkt in das Bild überführen zu können. Laut Werner Busch nutzt speziell Hogarth die Mittel des wit, um das akademische Prinzip der aemulatio zu prüfen, indem er sich jedoch nicht an kanonisierten Klassikern, sondern an Werken der ‚low arts‘ bedient.70 In einer ähnlichen Tradition ist auch Beardsleys Werk zu verorten, wobei er kaum mehr ­zwischen den Quellen, die er nutzt, zu unterscheiden scheint. Wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt wurde, lassen sich die Originale für Beardsleys Rezeption aus den unterschiedlichsten Genres, Gattungen und Medien herleiten. Er scheint jegliche Diskrepanz z­ wischen ‚high‘ und ‚low‘ unbeachtet zu lassen und sucht seine ästhetischen wie ikonografischen Vorbilder in der klassischen Antike ebenso wie in der pornografischen Druckgrafik; im Salongemälde ebenso wie in der Objekthaftigkeit eines Kerzenständers. Hogarth und Pope verfolgen indes das Ziel, die vermeintlich geschmacklichen Fehltritte ihrer vor allem aristokratischen Zeitgenossen bloßzustellen, indem sie mit denselben Modi der akademischen Rezeption zumeist das klassische Original in eine unangebrachte neue Form gießen. Da wird etwa Caravaggios erleuchteter Paulus zum vom Ziegelstein getroffenen Parlamentarier 71 oder die welterschütternde Entführung Helenas zum kecken Raub einer Haarlocke. Beardsley 68 Bolte, Ulrike: Deformität als Metapher. Ihre Bedeutung und Rezeption im England des 18. Jahrhunderts. Phil. Diss. Heidelberg 1991, Frankfurt am Main 1993, S. 179. 69 Ebd., S. 184 f. 70 Vgl. Busch, 1993, S. 250. 71 Vgl. Simon, 2007, S. 136. Gemeint ist die Figur im rechten Vordergrund von Hogarths Gemälde „An Election Entertainment“ aus der Serie „Humours of an Election“ (1755).

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Abb. 66 Unbekannter Künstler: Illustration zu Gervaise de Latouches „Histoire de Dom B…“, 1748, Kupferstich, Seitenmaße: 12,5 × 19,8 cm.

hingegen verweist im oben gezeigten Beispiel auf ein Motiv der Pornografie, das er jedoch in eine allein durch die stilistische Kraft seiner Linienkunst ästhetisierte Form zu bringen vermag. Damit ist gewissermaßen dem obszönen die Maske des Schönen verliehen; deutlich ein ästhetizistischer Vorgang. Das viktorianische Ideal vom künstlerischen ‚nude‘ im Gegensatz zum obszönen ‚naked‘72 wird bei Beardsley somit offen hinterfragt. Venus wird bei ihm zur Hetäre und die Prostituierte aus Thérèse philosophe zur kämpfenden Athenerin. Der englische wit im Zusammenspiel mit den französischen Erotika erlauben es ­Beardsley, das parodistische Element der Pornografie herauszuarbeiten. Der Künstler parodiert in dieser Herangehensweise nicht nur Kunstkanon und Geschmacksurteile, sondern sogar das Pornografische selbst. Nach intensiver Beschäftigung mit ­diesem Medium ist die bedeutendste Fähigkeit der Pornografie, meiner Meinung nach, ihre eigenen Tropen parodieren zu können. Mittels Übertreibung, Groteske und stetiger Wiederholung werden Erzählmuster und Bilder in ewiger Wiederkehr aufgerufen und dem Konsumenten nahegebracht. Ein Beispiel für d ­ ieses Phänomen sei an dieser Stelle das Motiv des Voyeurs, das in unterschiedlichsten Ausformungen die Geschichte der erotischen Kunst bestimmt.

72 Vgl. Myrone, 2002, S. 28.

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„The voyeur figure, one of pornography’s most classic and consistent tropes, offers a model for the reader to engage with, and reproduce for his or her private use, the pleasures of the seen and heard.“ 73

Diese enge Verbindung von Voyeur im Bild und Voyeur vor dem Bild ist entscheidend für die jeweilige Prägung der Darstellung. Während sich die galanten Erotika der Mitte des 18. Jahrhunderts etwa auf Blicke hinter einem Fensterkreuz beschränken, bricht in so manchem Bild auch der ein oder andere Liebhaber direkt in das Gemach der schlafenden Schönen ein und stillt seine Begierde. Im libertinen Roman schließlich wird der begehrliche Blick direkt mit der autoerotischen Handlung verbunden. In Illustrationen zu Gervaise de Latouches notorischer Histoire de Dom B… (1741) wird diese Verknüpfung besonders augenfällig (Abb. 66). In den fiktiven Memoiren eines Mönches und den dazugehörigen Bildern (1748) scheint die Schau-­Lust das bestimmende Thema zu sein. Sind die Protagonisten nicht selbst im Liebesspiel mit einander beschäftigt, so schauen sie zumindest durch eine mehr oder weniger gut kaschierte Öffnung dem Treiben zu und legen dabei Hand an sich. Auch der Voyeurismus vor dem Buch wird wiederholt thematisiert, indem immer wieder Vorhänge und Röcke gelüftet werden, um auch dem außerbildlichen Publi­ kum die beste Sicht zu gewähren. Trotz der eher geringen künstlerischen Qualität dieser Bilder verdeutlichen sie doch das parodistische Prinzip hinter den ständig repetierten Darstellungen eines althergebrachten Motivs, das die Kunst und Kulturgeschichte wie kaum ein anderes prägt. Die Lust am Schauen und die Wissbegier zeichnen den Menschen aus und offenbaren zugleich seine Unfähigkeit, dem verbotenen Blick zu entsagen. Beardsley versetzt seinen „Impatient Adulterer“ (1896) in eine ganz ähnliche Traditionslinie von Voyeuristen (Abb. 67). Das Blatt ist in die Reihe der Illustrationen zu einer englischen Ausgabe von Juvenals Satiren einzuordnen. Zatlin fasst die literarische Grundlage wie folgt zusammen: „The episode Beardsley chose describes a married woman who pretends to be ill so that she can go to bed and await her lover. While the lover hides expectantly behind the door, she endures a doctor’s visit.“ 74

Während in den meisten historischen Darstellungen eines Voyeurs Sehender und Gesehenes parallel gezeigt werden, verzichtet der Zeichner hier auf die bildliche Erläuterung dessen, was den Ehebrecher so erregt. Den stets mitgedachten Betrachtenden wird der Blick hinter den Vorhang verwehrt. Das eigentlich offenbar Sehenswerte können sie nur an der Reaktion des halbnackten Mannes ablesen, der ihnen die Sicht versperrt. Wir müssen uns damit begnügen, Voyeur des Voyeurs zu sein und uns somit unserer immerwährenden Rolle vor dem Bild bewusst zu werden.

73 Pease, 2000, S. 7. 74 Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 369.

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Abb. 67 Aubrey Beardsley: „The Impatient Adulterer“, begonnen August 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 18,5 × 9,8 cm, Victoria & Albert Museum, London.

Der Ungeduldige trägt lediglich ein leichtes Hemd, das er sich bereits über die Hüfte gerafft hat. Dies legt sein Gesäß frei, was die komische Resonanz sicher nicht verfehlt. Mit geschürzten Lippen und konzentrierten Augen hat er sich vorgebeugt, um besser durch den mit wenigen Linien angedeuteten Vorhang blicken zu können. Dabei fixiert er mit einer Hand die Öffnung im Stoff und mit der anderen widmet er sich seinem bereits leicht erigierten Geschlecht. Seine verkrampften Zehen untermalen die beginnende Erregung einmal mehr. Gertner Zatlin hat die Physiognomie des Mannes bereits mit der Vorstellung eines Kriminellen im Sinne der physiognomischen Lehren des 19. Jahrhunderts verknüpft.75 Dies scheint vor allem insofern plausibel, als auch Krafft-­Ebing in seiner Psycho­ pathia Sexualis den Voyeur in die Reihe der Sexualverbrecher einordnet.76 Sein gerüschtes Hemd und die langen Haare, die in Wellen über die Schultern fallen, verorten den Ehebrecher indes eher im Boudoir des Ancien Régime als in der römischen 75 Vgl. ebd., S. 370. 76 Vgl. Krafft-­Ebing, 1894, S. 361.

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Antike. Damit greift Beardsley erneut auf einen Topos der libertinen Erotika zurück und macht nicht zufällig Juvenals Voyeur zu einem Zwilling seines Valmont (Abb. 10), der im selben Jahr im Savoy erscheint. Juvenal wird nicht nur zum Anlass, das komplexe Spiel von Sehen und Nicht-­Sehen im Bild zu thematisieren und zugleich die Schaulust befriedigenden Werke des 18. Jahrhunderts zu persiflieren. Zusätzlich lässt Beardsley Juvenals Charakter zum Typus des perversen französischen Aristokraten werden, wie er in der prärevolutionären Pornografie gehäuft auftritt. Französische Revolution und der Höhepunkt pornografischer Publikationen im 18. Jahrhundert fallen aus gutem Grund historisch zusammen. Die literarischen Werke und nicht zuletzt ihre Illustrationen sprechen Schaulust und Humor vordergründig an. Dahinter steht jedoch der libertine Impetus, Aristokratie, Klerus und deren vermeintliche Pervertiertheit anzuprangern. „… as if it were a body which disease and too much pleasure had ruined. The ‚Ancien Régime‘ was defeated because of debauchery, its downfall hastened because of sex; such is the myth which revolutionary pornographic literature turned into a highly political message.“ 77

Frei nach den antiken rhetorischen Zielen des delectare und docere nutzt das libertine Pamphlet Modi der Pornografie und Satire, um beim Rezipienten den gewünschten Gedankengang auszulösen. Diese subversive Funktion der Pornografie gegen Ende des Jahrhunderts ergibt sich aus einer eigentümlichen Entwicklung. War das galante Gemälde mit seinen teils gewagten Einblicken in die privaten Gemächer höfischer Damen noch dem aristokratischen Rezipientenkreis zugedacht, übernimmt der libertine Druck dessen Ikonografien und steigert diese bis zum Absurden, um den ehemaligen Adressaten selbst zu diskreditieren. Diese Übertreibung und groteske Motivik dürften es unter anderem sein, die Beardsley an der libertinen Illustration besonders interessieren. Schließlich ist das Wort „grotesque“ dasjenige, welches im Zusammenhang mit Beardsleys Werk wohl am häufigsten gebraucht wird. Vor allem Chris Snodgrass hat sich in seinen Publikationen zu Beardsleys Œuvre mit d ­ iesem Schlagwort auseinandergesetzt,78 worin er das Groteske als eine ästhetische Kategorie des Übergangs ­zwischen Lachen und Erschrecken beschreibt.79 In dieser Weise wirkt auch das groteske Element in Beardsleys Bilderfindungen. Seine hybri­ den Figuren mögen teils schockieren, verhehlen allerdings auch nie ihren inhärenten Witz. Besonders offensichtlich wird dies abermals in Beardsleys Illustrationen zu A ­ ristophanes’ Lysistrate. Der Phallus gerät hier zum scheinbar grotesk übersteigerten Leitmotiv. Im Frontispiz, welches die Titelheldin flankiert von einer Priapus-­Herme und einem säulen- oder pultartigen Phallus zeigt, kann Beardsley die Verknüpfung von Altertumswissenschaft und libertinen Erotika vollendet herstellen (Abb. 68). Den Priapus am äußersten linken 77 Baecque, 1991, S. 147. 78 Vgl. Snodgrass, 1989; Snodgrass, Chris: Aubrey Beardsley, dandy of the grotesque. New York 1995. 79 Vgl. Snodgrass, 1989, S. 49.

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Abb. 68 Aubrey Beardsley: „Lysistrata shielding her Coynte“, Dezember 1895 oder Juli 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 26,7 × 18,3 cm, Victoria & Albert Museum, London.

­ ildrand entlehnt der Zeichner sicher den zeitgenössischen Studien zu dieser Gottheit, die B in der Antike eine wichtige Funktion als Fruchtbarkeitsidol innehatte. Die wohl bedeutendste Quelle für d­ ieses Wissen über Aufstellung, Schmuck und Aussehen solcher Statuen, die in Gärten oder an Kreuzungen platziert wurden, dürften Smithers’ Priapeia von 1890 darstellen.80 Neben der jeweiligen englischen Übersetzung der ­kurzen Gedichte und Lobpreisungen finden sich darin auch elaborierte Anmerkungen und Fußnoten über konkrete Handlungen in Bezug auf die Gottheit und Beschreibungen über die unterschiedlichsten Sexualpraktiken. So berichten die Übersetzer über die Praxis des Schmückens der Statuen mit Blumen, wie dies in Beardsleys Darstellung sichtbar wird.81 Ähnlich wie in den Epigrammen, in denen auch Priapus selbst oftmals spricht, ist seine Herme zum Leben erwacht und gleicht einem lüsternen Selen. Seine senkrecht aufgerichtete Erektion betont der Künstler nochmals mittels gloriolenartiger Strahlen, die von dessen Spitze ausgehen. 80 Vgl. Smithers; Burton, 1995. 81 Vgl. ebd., S. 106 f.

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Während sich d ­ ieses Motiv also aus der Altertumsforschung und antiken Quellen herleiten ließe, verwundert der vereinzelt und stark vergrößerte Phallus auf der rechten Bildseite doch um einiges mehr. Aus einem Büschel ornamentaler Locken erwächst dieser, gerade so hoch, dass Lysistrate entspannt ihre Hand mit dem Frieden verheißenden Ölzweig darauf ablegen kann. Im Kontext des Stücks wird der Phallus hier zum Symbol für den Kampf der Geschlechter und den Frieden der durch die sexuelle Entsagung erreicht wird. Seine beinahe monolithische Vereinzelung fällt dennoch ins Auge. Dies könnte aus den Erotika und erotisch geprägten Studien zum Altertum des 18. Jahrhunderts hergeleitet sein. Bereits im Frontispiz zu Thérèse philosophe ist der eigentümlich aus dem Nichts erwachsende Phallus zu sehen. Auch hier interagieren weibliche Heldin und ‚entmanntes‘ Geschlecht in spielerischer Art und Weise. Gertner Zatlin macht weiterhin darauf aufmerksam, dass die französische Tradition der erotischen Illustration das Motiv des vereinzelten Phallus (wahlweise auch geflügelt auftretend) aus antiken Kontexten der Fruchtbarkeitsriten übernimmt, wobei die erotische Konnotation beibehalten bliebe, die religiöse jedoch verschwinde.82 Eine bedeutende Quelle für die Kenntnis antiker Glaubenspraxis sind die Studie von Richard Payne Knight, Discourse on the Worship of Priapus (London, 1786), und die darin enthaltenen Abbildungen. Der Text wird 1865 erneut herausgegeben, diesmal zusammen mit Thomas Wrights Worship of the Generative Powers in the Middle Ages.83 Laut Whitney Davis gehört das Buch zu einem der Klassiker klandestiner Literatur und wird trotz eines Verbots der weiteren Publikation in den 1790ern „a centerpiece in any later nineteenth-­ century collection that claimed to be serious.“ 84 Payne Knights Studie wird von Davis dem Umkreis des homosozialen/homoerotischen Milieus der Society of Dilettanti zugeordnet.85 Die öffentliche Wahrnehmung dieser Gruppe britischer Gelehrter und Künstler, die sich begeistert dem Antikenstudium hingaben, wird durch die Rezeption des Textes und vor allem seiner Abbildungen in ein sexualisiertes Licht gerückt. Neben zahlreichen Zeichnungen kultischer Gegenstände mit phallisch-­hybriden Formen zeigt schon das Frontispiz „a set of wax ex-­votos of phalli presented by [Sir William] Hamilton to the British Museum in 1784“.86 Diese Vereinzelung des männlichen Geschlechts und dessen variantenreiche Darstellung in unterschiedlichsten Formen und Größen müssen auch auf Beardsleys Bildideen zur Lysistrata Einfluss haben. So ist die variatio im Auftritt der lakedämonischen Botschafter fast ad absurdum geführt, wenn Beardsley die drei Männer wie Assemblagen aus Körper und Penis erscheinen lässt (Abb. 69).

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Vgl. Gertner Zatlin: Beardsley Redresses Venus, 1990, S. 115. Vgl. Davis, 2010, S. 56. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 55. Ebd., S. 55. Vgl. Frontispiz und Titelblatt zu Richard Payne-­Knights „An Account of the Remains of the Worship of Priapus“, London 1786.

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Abb. 69 Aubrey Beardsley: „The Lacedaemonian Ambassadors“, ca. 30. Juni 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 27,8 × 19,4 cm, Victoria & Albert Museum, London.

Payne Knights Studie besticht indes nicht nur durch ihre kuriosen Illustrationen, sondern auch durch einen durchaus subversiven Unterton, den George Rousseau in seinem Aufsatz über Knights Schrift herausarbeitet. Basierend auf biografischen und soziokulturellen Informationen kommt Rousseau darin zu dem Schluss, dass der Text aus den 1780ern ein libertines Anliegen verfolgt. „[L]urking on almost every page is some form of scepticism about the institution of Christianity […] enlightened paganism, especially its toleration for homosocial desire [is] its primary endorsement.“ 87

87 Rousseau, G. S.: The Sorrows of Priapus. Anticlericalism, homosocial desire, and Richard Payne Knight. In: Rousseau, G. S.; Porter, Roy (Hg.): Sexual underworlds of the Enlightenment. Manchester 1987, S. 101 – 153, hier S. 102.

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Mag dies auch eine psychoanalytische Lesart des Stoffs sein, so ist der grundlegende Subtext von Rousseau überzeugend dargelegt worden. Die Auseinandersetzung mit heidnischem Glauben im Zusammenhang mit sexuellen Symbolen ist ein Interesse, das sich vom gesellschaftlich Akzeptierten abhebt. Wohl ist es dieser Aspekt, der Rezipienten wie Beardsley an dieser Publikation anspricht. Für ihn ist die exponierte Andersartigkeit dieser Form der Altertumswissenschaft von Belang, die sich dem vermeintlich Unschicklichen zuwendet. Auch wenn Beardsleys Zeichnungen beinahe durchgängig der Freude am Frivolen, am versteckt Obszönen verpflichtet scheinen, sind sie dennoch stets der Ratio und der ­Ästhetik unterworfen. Teilweise erlangt Beardsleys Sicht auf das Erotische und vor allem auf jegliche Perversion überdies etwas nahezu Steriles, was sich nicht zuletzt in seiner Rezeption der Psychopathia Sexualis von Krafft-­Ebing niederschlägt. Damit verweigert sich der Zeichner in dekadenter Tradition der Fortpflanzungsmoral der viktorianischen Sexualitätsauffassung.88 Nicht nur ästhetisch kühlt Beardsley die Erotik auf eine Temperatur herunter, die eher Intellekt denn Libido anspricht, auch ikonografisch befasst er sich mit Darstellungen von Erotik, die unfruchtbar, steril oder gar impotent erscheinen können. Dennoch gerät das Erotische, das Sadistische, das Pikante und Frivole in Beardsleys Œuvre häufig zum alleinigen Handlungsträger einiger Monografien, wie dies wohl am eindrücklichsten in Derek Stanfords Büchlein „Aubrey Beardsley’s Erotic Universe“ (1967) deutlich wird.89 Doch zeigen die von mir analysierten Beispiele das historische, ästhetische ‚Universum‘, welches sich hinter dem lediglich Erotischen verbirgt. Beardsley nutzt somit eine Verführungsstrategie, in der er mittels einer irritierenden Mischung aus Sex, Ornament und unterkühlter Beobachtungsgabe auf sich aufmerksam macht und sein Publikum dann mit den Methoden des englischen wit dazu bringt, hinter dieser Oberfläche das Universum ganzer Bildtraditionen zu entdecken. Auch wenn es sich dabei um vermeintlich ‚unerfreuliche‘ Traditionen handelt, gelingt es Beardsley, diese derart in sein Kunstwollen und seine Selbstinszenierung zu integrieren, dass die Bücher mit seinen Illustrationen den Anschein geben, nur mit einer Hand gelesen werden zu können, auf der zweiten Rezeptionsebene jedoch alsbald den Geist fordern.

88 Vgl. Feinendegen, 2002, S. 95. 89 Vgl. Stanford, 1967.

8 Die Dame im Kimono – Beardsley zwischen Chinoiserie und Japonismus Nachdem Edmond de Goncourt im Januar 1889 eine neue Vitrine in seinem Haus mit Objekten aus dem 18. Jahrhundert bestückt hat, stürzt ihn der Anblick in eine Hinterfragung seiner Sammlung ostasiatischer Gegenstände und er notiert folgendes in sein Tagebuch: „… et d’un pimpant coup d’œil sous les glaces de la vitrine, je me demande si ma passion du Japon n’a pas été une erreur, et je pense à quelle étonnante réunion de petites jolités européennes du siècle que j’aime, j’aurais pu faire, si j’y avais mis l’argent que j’ai mis à ma collection de l’Extrême-­Orient.“ 1

Offenbar handelt es sich bei dieser Begebenheit lediglich um einen k­ urzen Zweifel, der den Autor und Sammler nicht davon abhält, nur wenig später zwei der wichtigsten Publi­ kationen zur japanischen Druckgrafik zu verfassen.2 Das gleichzeitige Interesse Goncourts an der Kultur des Rokoko sowie Ostasiens ist in der Sammlung der Brüder besonders augenfällig. Die fotografischen Aufnahmen, die zusammen mit La maison d’un artiste erscheinen, zeigen deutlich, wie exotische Accessoires absolut selbstverständlich neben Möbeln oder Zeichnungen des 18. Jahrhunderts platziert sind und ein harmonisches Ganzes ergeben.3 Dabei scheint es für das ästhetische Gesamtbild zweitrangig, ob sich die Exotika eher der Chinoiserie oder dem Japonismus zuordnen lassen. Hingegen handelt es sich für die Goncourts sowohl bei der Kultur des Ancien Régime als auch der Ostasiens um Entsprechungen eines ästhetizistischen Ideals. Scheinbar enthoben von gesellschaftlicher Realität oder politischen Ansprüchen, fügen sich Exotismus und Rokoko in ihrer Betonung der Eleganz und Schönheit in der Darstellung jeglichen Sujets vielmehr in das Konzept des l’art pour l’art. Nachdem Gautier bereits in den 1830er und -40er Jahren orientalistische Motive in seine vom Rokoko inspirierten Erzählungen einfließen lässt, hat die Ausbreitung der 1

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Goncourt, Edmond und Jules de: Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Bd. VIII 1889 – 1891, Paris 1891, S. 10. Übersetzung nach: Goncourt, Edmond und Jules de: Journal. Erinne­ rungen aus dem literarischen Leben. 1889 – 1890. Bd. IX . Hgg. von Gerd Haffmans und übers. von Petra Susanne Räbel und Cornelia Hasting, Leipzig 2013, S. 28: „… mit ­diesem so hellen, so leuchtenden, so heiteren Porzellan, das so verlockend hinter dem Vitrinenglas aufblitzt, frage ich mich, ob nicht meine Leidenschaft für Japan ein Irrtum war, und ich stelle mir die erstaunliche Ansammlung europäischer jolités meines geliebten Jahrhunderts vor, wenn ich die 300 000 Francs, die ich so ungefähr in meine Fernostkollektion gesteckt habe, darin angelegt hätte.“ Vgl. Goncourt, Edmond de: Outamaro. Le peintre des maison vertes. Paris 1891; Goncourt, Edmond de: Hokousaï, Paris 1896. Vgl. Fernand Lochard: „Maison d’Edmond de Goncourt à Auteuil“, eine von zehn Fotografien auf Papier, Juni 188, 29 × 23,4 cm, Bibliothèque nationale de France, Paris.

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Japanmode während der 1860er Jahre in Frankreich ähnliche Auswirkungen auf das Interesse der Brüder Goncourt.4 Diese beschäftigt zeitgleich ihre Sammlung von bric-­à-­brac des 18. Jahrhunderts, ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur jener Epoche sowie die daraus gespeiste Produktion fiktionaler Texte. Dennoch geht aus dem bereits zitierten La maison d’un artiste und ihrem Tagebuch hervor, dass die Leidenschaft für Japan und das Rokoko meist parallel auftritt und manchmal sogar konkurriert. Anhand des Journal lässt sich die zunächst zögerliche und später immer selbstverständlichere Begeisterung für die Kunst Ostasiens nachvollziehen. So veranschaulicht bereits einer der ersten Einträge zu ­diesem Thema vom 1. November 1862 in vollkommener Weise die Faszination für die grotesken Elemente der japanischen Kunst: „En passant devant la fontaine Saint-­Michel, devant ces monstres bourgeois, les monstres de la Chine et du Japon me reviennent dans la pensée. Quelle imagination dans l’hybride. Quelle invention, quelle poésie horrifique dans ces fantaisies animales. Les beaux hippogriffes de l’opium. Quelle ménagerie diaboliquement fantastique, faite d’accouplements insensés, extravagants et superbes.“ 5

Immer wieder ist in den Beschreibungen von ostasiatischen Kunstgegenständen oder Druckgrafik die Rede, von Halluzinationen, Fantasien und grotesken Monstren. Was die Goncourts hier mit einem leichten Schauder als positive Erfindungsgabe der exotischen Künstler und Handwerker hervorheben, soll nur wenige Jahrzehnte später für Beardsleys Bilderfindungen als schockierend und abstoßend klassifiziert werden. Dies stellt Linda Gertner Zatlin bereits in ihrer Monografie zu Beardsleys Japonismus als Kernthese heraus, wenn sie die Auseinandersetzung des Künstlers mit ostasiatischer Kultur als einen Akt der Subversion gegen viktorianische Xenophobie und künstlerische Restriktionen interpretiert.6 Darüber hinaus möchte ich jedoch auf der Ebene der künstlerischen Aneignung argumentieren und verstehe vor allem das Element des Bizarren in der japanischen Bildkunst als maßgeblich für B ­ eardsleys Interesse an diesen Werken. Derselbe Begriff wurde bereits auf das Rokoko-­Ornament angewandt und stellt somit die Parallelität beider Phänomene in Beardsleys Schaffen heraus.7 4 Vgl. Ireland, 2006, S. 40. 5 Goncourt: Edmond und Jules de: Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire, Bd. II 1862 – 1865. Paris 1891, S. 61. Übersetzung nach: Goncourt, Edmund und Jules de: Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben. 1861 – 1863. Bd. III. Leipzig 2013, S. 399: „Als ich am Springbrunnen von Saint-­Michel vorbeikomme, fällt mir angesichts dieser dummen Ungeheuer am unteren Rand das schöpferische Genie der Ungeheuer Chinas und Japans wieder ein. Was für eine Einbildungskraft im Ungeheuerlichen! Welcher Reichtum, welches Überborden, ­welche Poesie des Schrecklichen in dieser animalischen Phantasie! Was für alptraumhafte Augen, was für Traumgebilde! Was für Hippo­gryphe, was für Pegasoi des Opiums! Was für eine diabolische Menagerie, geschaffen aus unsinnigen, üppigen, prachtvollen Paarungen!“ 6 Vgl. Gertner Zatlin, 1997, S. 2. 7 Die Relation z­ wischen Japonsimus und Rokoko-­Rezeption in Beardsleys Werk hat Linda Gertner Zatlin bereits festgestellt, allerdings nicht in dieser Hinsicht weiter verfolgt. Vgl. ebd., S. 6.

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So gut wie alle Rezensenten der illustrierten Salome von 1894 n ­ utzen das Wort ‚grotesque‘ in Bezug auf die japonistisch beeinflussten Zeichnungen.8 Doch ist es sicher gerade ­dieses groteske Element, das den jungen Künstler schließlich so für diese Kultur einnehmen wird. Es ist sogar durchaus denkbar, dass Beardsley durch die Schriften der ­Goncourts entscheidende Impulse für seine Rezeption der ostasiatischen Kunst erhält. So hält Gertner Zatlin fest, dass sich zumindest Edmond de Goncourts Buch über den Maler der sogenannten ‚grünen Häuser‘ (Bordelle), Kitagawa Utamaro (1753 – 1806), in Beardsleys Besitz befunden haben dürfte.9 Nach einem ähnlichen Prinzip wie den Publikationen zu den Künstlern des 18. Jahrhunderts widmet Edmond de Goncourt nach dem Tod seines Bruders dieselbe Aufmerksamkeit den Publikationen zu den bis heute berühmtesten japanischen Künstlern, Utamaro und Hokusai (1891 und 1896). Zunächst erscheinen diese beiden Forschungsschwerpunkte zumindest in formaler Hinsicht unvereinbar. Ricard Bru weist indes darauf hin, dass ­Goncourt sowohl Watteau als auch die japanischen Künstler als Experten in der Darstellung einer Welt des Vergnügens in ihren jeweiligen Kulturen auffasst.10 Wie W ­ atteau dabei wieder einmal als Schnittstelle z­ wischen Rokoko und Moderne agiert, lässt sich auch für Beardsleys Werk feststellen. So konstatiert Haldane Macfall in seiner Monografie: „As Beardsley’s self-­chosen master, Watteau, had played with mimicry of the Chinese genius in his Chinoiseries, so Beardsley at twenty, faithful to Watteau, played with mimicry of the Japanese genius.“ 11

In den Schriften Goncourts, die sich ebenfalls mit einem 18. Jahrhundert einer diesmal anderen Kultur beschäftigen, versenkt sich der Autor wie so oft völlig in den Gegenstand seiner Betrachtung und versucht mit Worten seiner scheinbaren Ratlosigkeit angesichts der ungewohnten Bilderfindungen beizukommen. Dies wird einmal mehr deutlich, wenn Goncourt sich den explizit erotischen Darstellungen in Hokusais Werk widmet und diese mit seinem Gespür für Beschreibung und Aufzählung greifbar macht: „Et je parle alors, de la peinture érotique de l’Extrême-­Orient, ‹ de ces copulations comme encolérées, du culbutis de ces ruts renversant les paravents d’une chambre, de ces emmêlements des corps fondus ensemble […], de l’épilepsie de ces pieds, aux doigts tordus battant l’air …“ 12 8 Vgl. Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 9. 9 Gertner Zatlin, Linda: Aubrey Beardsley’s ‚Japanese‘ Grotesques. In: Victorian Literature and Culture 1, 1997, S. 87 – 108, hier S. 89. 10 Vgl. Bru, Ricard: Erotic Japonisme. The Influence of Japanese Sexual Imagery on Western Art. Leiden 2014, S. 5. 11 Macfall, 1927, S. 88. 12 Goncourt,1896, S. 174. Übersetzung nach Goncourt, Edmond de: Hokusai. New York 2011, S. 232: „Die erotische Malerei ­dieses Volkes muss man studiert haben. Die Gründe liegen in der Zeichenbegeisterung, der Schwung, das Ungestüm der wie besessen vollzogenen Vereinigung, die durch die

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„… au milieu des frénésies animales, on trouve des affaissements béats, des brisements de cous de nos primitifs, des attitudes mystiques, des mouvements d’amour presque religieux.“ 13

Die historische Verzahnung von Rokoko-­Rezeption und Japonismus, wie sie im Werk und der Sammlung der Goncourts nachzuvollziehen ist, spiegelt gleichsam die Fluidität der gern gezogenen Grenze ­zwischen Chinoiserie des 18. Jahrhunderts und Japonismus des 19. Jahrhunderts. Eben diese Schwelle, w ­ elche entlang der französischen Revolution verläuft, soll anhand eines Werkes Aubrey Beardsleys in ­diesem Kapitel in Frage gestellt werden. In Rekurs auf Michael Sullivans „The Meeting of Eastern and Western Art“ (1973) spricht sich auch Petra ten-­Doesschate Chu in ihrem Aufsatz „Chinoiserie and Japonisme“ gegen dessen Hierarchisierung der beiden Kulturphänomene aus: „I would like to argue specifically against the artificial distinction made, in the ­modernist narrative, between chinoiserie and Japonisme, along the lines of ‚flirtation‘ vs. ‚understanding,‘ or superficial borrowing of exotic subject matter vs. thoughtful adoption of new ­formal characteristics.“  14

Weiterhin skizziert sie eine überzeugende Kontinuität in der Rezeption Chinas und der Chinoiserie im 19. Jahrhundert. Zwar entstehe ein neues, durch Reiseberichte und Ausstellungen geformtes Bild Chinas in der westlichen Imagination und die japanischen Artefakte, die seit den 1850ern Europa erreichen, sorgen für großes öffentliches Aufsehen. Dennoch sorge dies nicht für eine Auslöschung einer chinoisen Vorstellungswelt, wie sie während des 18. Jahrhunderts geprägt wurde.15 Daher möchte ich dem Postulat, das Johannes Franz Hallinger in seiner Dissertation von 1995 über „Das Ende der Chinoiserie“ aufstellt, das Bewusstsein über die Durchlässigkeit historisch kultureller Grenzen entgegensetzen. Hallinger schreibt, „daß die Chinoiserie einem erwachenden Interesse an der Kultur des Chinesen diametral ist“ 16 und meint damit, die Auflösung der oberflächlichen China-­Mode des Rokoko angesichts aufklärerischer Empirie zu erkennen. Auch wenn Hallinger damit die historische Entwicklung des Exotismus korrekt nachzeichnet, die sich von der oberflächlichen Freude am Bizarren und Andersartigkeit der Motive hin

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Erregung umgeworfenen Paravents eines Zimmers, das Verschmelzen ineinander verschlungener Körper […], verkrampfte Füße und verbogene Finger, die gleichsam die Luft schlagen.“ Ebd., S. 175 f. Übersetzung nach Goncourt, 2011, S. 234: „Inmitten der animalischen Orgien des Fleisches dann die Andacht des Seins, das Versinken in Glückseligkeit, das Erschlaffen des Halses, mystische Haltungen, fast religiös anmutende Liebesbewegungen.“ ten-­Doesschate Chu, Petra: Chinoiserie and Japonisme. In: Germann, Jennifer G.; Strobel, Heidi A. (Hg.): Materializing Gender in Eighteenth-­Century Europe. Burlington 2016, S. 95 – 105, hier S. 99. Vgl. ebd., S. 99. Hallinger, Johannes Franz: Das Ende der Chinoiserie. Die Auflösung eines Phänomens der Kunst in der Zeit der Aufklärung. Phil. Diss. München 1995, München 1996, S. 71.

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zu einem wissenschaftlichen bzw. ethnografischen Interesse an deren Ursprung e­ ntwickelt, erfolgt damit keinesfalls eine vollkommene Verbannung der Chinoiserie in der Kultur des 19. Jahrhunderts. Das Œuvre Beardsleys wird vor allem mit dem Japonismus des 19. Jahrhunderts zusammengebracht, wenn nicht sogar gleichgesetzt. Über diese bedeutsame Facette des Werks ist indes schon viel geschrieben und gesagt worden, sodass es nicht die Aufgabe ­dieses Kapitel sein soll, zu wiederholen, was für Beardsleys japonistische Kompositionen und Stilelemente längst festgestellt worden ist.17 Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich stattdessen die Analyse in Bezug auf die orientalistischen Bezüge und Ikonografien anhand ausgewählter Beispiele ausweiten. Dazu ist eine kurze Wiedergabe der Entwicklung exotischer Motive Ostasiens während der untersuchten Zeitspanne unerlässlich. Es ist zunächst eine historische Dimension des Exotismus vom 18. zum 19. Jahrhundert zu konstatieren. Die Begriffe Turquerie und Chinoiserie finden für ersteres, Orientalismus und Japonismus für letzteres Anwendung. In der neueren Forschung wird indes kaum mehr in solch einer scharfen Trennung gedacht und entweder von Exotismus oder Orientalismus im Allgemeinen gesprochen.18 An dieser begrifflichen Ausrichtung orientieren sich auch die folgenden Ausführungen. Eine Auseinandersetzung mit der auf das eine oder andere Jahrhundert konzentrierten Forschung ist dennoch fruchtbar, um mögliche Kontinuitäten in Beardsleys Werk sichtbar machen zu können. Im Anschluss wird ein Blatt aus der Lysistrata-­Reihe dazu dienen, Beardsleys Auseinandersetzung mit der Historizität von Japonismus und Chinoiserie aufzuzeigen. Ich werde in ­diesem Kapitel weitestgehend auf genaue geografische Scheidungen der jeweiligen Rezeption von türkischen, persischen, indischen, chinesischen oder japanischen Motiven verzichten. Dies tue ich in dem historischen Bewusstsein, dass weder während des 18. noch während des 19. Jahrhunderts eine übergreifende ethnografische Präzision in der künstlerischen Rezeption solcher Stile und Motive festzustellen ist.19 Auch auf die Gefahr hin, den kolonialistischen Blick des Westens auf das ‚Morgenland‘ zu reproduzieren,20 sehe ich den Fokus meiner Arbeit an dieser Stelle auf der Analyse von Bildwerken. Für diese ist die Versenkung in die historische Wahrnehmung indes unabdingbar. Spätestens an dieser Stelle scheint es geboten, Edward Saids berühmtes Verständnis des Orientalismus,21 kurz zu beleuchten. „Said’s sometimes monolithic construction of 17 Vgl. Zatlin 1997; Gertner Zatlin 1997; Hobbs, Steven: Aubrey Beardsley’s Blue and White. In: The Journal of Pre-­Raphaelite Studies 20, 2011, S. 71 – 89. Weiterhin verweise ich auf die in dieser Arbeit mehrfach herangezogenen Monografien, die stets auf Beardsleys Japonismus rekurrieren. 18 Vgl. Aravamudan, Srinivas: Enlightenment Orientalism. Resisting the Rise of the Novel. Chicago 2012; Geczy, Adam: Fashion and Orientalism. Dress, Textiles and Culture from the 17th to the 21st Century. London 2013. 19 Vgl. Wichmann, Siegfried: Japonisme. Japanese Influence on Western Art since 1858. London 1999, S. 8. 20 Vgl. Said, Edward W.: Orientalism. London 2003 (1978). 21 Vgl. ebd.

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conquering West and conquered East“ 22 stellt nicht nur für Joseph Allen Boones Buch „The Homoerotics of Orientalism“ (2014) ein Problem dar. Auch für andere neuere Publi­ kationen, die d ­ ieses kulturelle Phänomen nicht erst als eine nachaufklärerische Erscheinung des industriellen Zeitalters verstanden wissen wollen,23 bildet Saids Untersuchung, die erst im 19. Jahrhundert ansetzt,24 eine unfruchtbare Einschränkung. Festzustellen bleibt jedoch Saids Leistung, den Blick auf Alteritätskonzepte, die stets auf ‚den Orient‘ appliziert worden sind, geschärft zu haben. „The Orient is not only adjacent to Europe; it is also […] one of its deepest and most recurring images of the Other. In addition, the Orient has helped to define Europe (or the West) as its contrasting image, idea, personality, experience.“ 25

Gerade der Gedanke, Identität durch Abgrenzung zu stiften, wird auch für die folgenden Analysen eine wichtige Basis darstellen. Andersartigkeit und Exotik sind gewissermaßen gleichzusetzen und bedeuten somit auch für Beardsleys Ästhetik ein wesentliches Signum. Hier verbünden sich die differenten Ästhetiken von Rokoko und Orientalismus. Die Rocaille scheint undenkbar ohne Chinoiserie oder Turquerie. Nicht zuletzt treten Rokoko und das Interesse für chinesische Waren und Stilelemente gleichzeitig auf.26 Pape macht außerdem darauf aufmerksam, dass die Integration exotischer Elemente in Ornamententwürfe des 18. Jahrhunderts vor allem die Bizarrerie und Fantastik unterstreicht, die der Rocaille von jeher inhärent ist.27 Die „China-­Schwärmerei des XVIII . Jahrhunderts“ 28 stellt gewissermaßen einen Höhepunkt in der jahrhundertelangen europäischen Auseinandersetzung mit d ­ iesem Land dar. Nachdem bereits Marco Polo durch seine Reiseberichte ein erstes unscharfes Bild Chinas in der europäischen Vorstellung zeichnete,29 sind die Überlieferungen der jesuitischen Missionare, die China im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert bereisen, als signifikanter Beginn der eigentlichen Chinoiserie zu verstehen. Sie beschreiben China als ein „philosophische[s] Musterland aus dem Geist der konfuzianischen Ethik“,30 das zunächst vor allem das intellektuelle Publikum Frankreichs einnimmt 22 Boone, Joseph Allen: The Homoerotics of Orientalism. New York 2014, S. 25. 23 Vgl. Zuroski Jenkins, Eugenia: A Taste for China. English Subjectivity and the Prehistory of Orientalism. Oxford 2013, S. 9. 24 Vgl. Said, 2003, S. 22. 25 Ebd., S. 1 f. 26 Vgl. Gaillard, Emmanuelle; Walter, Marc: Un certain gout pour l’Orient. XVIIIe et XIXe siècles. Paris 2010, S. 16. 27 Vgl. Pape, Maria Elisabeth: Die Turquerie in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts. Phil. Diss. Köln 1986, Köln 1987, S. 70. 28 Berger, Willy Richard: China-­Bild und China-­Mode im Europa der Aufklärung. Köln 1990, S. 1. 29 Vgl. Dams, Bernd H.; Zega, Andrew: Chinoiseries. New York 2008, S. 18. 30 Berger, 1990. S. 24.

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und sich ­schließlich in ganz Europa in verschiedenen Varianten etabliert. So fasziniert China zum einen im Bereich der aufklärerischen Philosophie und findet Verwendung in den Werken Voltaires oder Leibniz‘. Zum anderen entwickelt sich parallel das Bild des ‚Chinois amusant‘, wie er als drollige Figur in der Komödie und im Kunstgewerbe auftritt.31 Diese Dichotomie spiegelt nicht nur die allgemeine Ambivalenz z­ wischen Rokoko und Aufklärung, sondern stellt auch „ein gewisses Korrektiv zur Bildungsmacht der griechisch-­römischen Antike dar“.32 Claude Prosper Jolyot de Crébillon (kurz Crébillon fils, 1707 – 1777) ist gewiss einer der französischen Autoren, dessen Reputation sich hauptsächlich auf die schier unerschöpfliche Erfindungsgabe im Bereich der exotischen Erzählung gründet. Unter dem Deckmantel der als authentisch orientalische oder asiatische Fundstücke deklarierten Handlungen 33 entwickelt Crébillon fils eine Parallelwelt, die neben der bloßen Freude an grotesker Ausschweifung dazu dient, die zeitgenössische Politik, Religion und Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Natürlich kann solch eine oft beinahe unverhohlene Parodie und Kritik nicht geduldet werden und Crébillon fils wird für seine im Serail angesiedelte Novelle Le Sopha (Das Sofa, 1742) ins Exil verbannt. Angesichts einer früheren Gefängnisstrafe für L’Écumoire (Der Schaumlöffel, 1734), worin er zeitgenössische religiöse Absurditäten im Gewand einer pseudo-­japanischen Sage karikiert, erscheint diese Strafe beinahe milde.34 In dieser vertrackten Liebesgeschichte, in welcher der Prinz Tanzai durch einen an seinem Gemächt festgewachsenen Schaumlöffel wiederholt davon abgehalten wird, seine Hochzeitsnacht zu genießen, ereignen sich zahllose groteske Zaubereien und Verwandlungen. Diesen kann der Prinz lediglich durch aberwitzige Prüfungen beikommen, die er zum glücklichen Ende alle besteht. Auch ohne den zeitgenössischen, libertinen Hintergrund der abstrusen Geschichte ist Crébillons Erfindungsreichtum rund um den profanen Gegenstand des Schaumlöffels überaus unterhaltsam. Seine Bücher erfreuen sich jeweils direkt nach ihrem Erscheinen großer Beliebtheit, sowohl im In- als auch im Ausland, so wird Le Sopha bereits kurz nach Veröffentlichung von Eliza Haywood und ihrem Partner William Hatchett ins Englische übersetzt.35 Gleiches gilt für L’Écumoire; und dies obwohl das Büchlein direkt nach seinem Erscheinen verboten wird.36 Bei der Idee, ein unbelebtes Objekt ins Zentrum einer Narration zu setzen oder es sogar sprechen zu lassen, handelt es sich um einen die nationalen Grenzen überschreitenden Topos, der sogar im Frühwerk Denis Diderots, der als „Sprachrohr bürgerlicher 31 Vgl. ebd., S. 24. 32 Ebd., S. 1. 33 Beispielsweise erklärt Crébillon fils in seiner Vorrede zu L’Écumoire oder Tanzaï et Néadarné, in der er sich selbst als Übersetzter bezeichnet, ausführlich die Entdeckung des originalen Schriftstücks und dessen bisherige Übersetzungen. Vgl. Crébillon, Claude Prosper Jolyot: Der Schaumlöffel. Eine japanische Geschichte. Leipzig 1980, S. 5 – 10. 34 Vgl. Aravamudan, 2016, S. 184. 35 Vgl. ebd., S. 176 f. Dies erklärt auch das oben bemerkte Auftreten des Buches in Hogarths Marriage A-la-­Mode. 36 Vgl. Wesermann, Eberhard: Nachwort. In: Crébillon, 1980, S. 232 – 243, hier S. 236 f.

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Vernunft“ 37 gilt, eine wichtige Rolle spielt. Les Bijoux indiscrèts (Die indiskreten Kleinode, 1748) erscheint zunächst anonym und erzählt die kuriose Geschichte des Sultans Mangogul, der durch den Zauberring eines Dschinn die Fähigkeit erhält, das Geschlecht einer jeden Frau, auf die er den Ring richtet, zum Sprechen zu bringen. Durch die Bezeichnung ‚bijoux‘ werden die ‚geschwätzigen Kleinode‘, wie sie in so mancher deutschen Fassung genannt werden, verdinglicht und somit dem oben skizzierten Topos zugeordnet. Die weitere Doppelbödigkeit dieser Wortwahl erläutert Jean Marie Goulemot folgendermaßen: „Die Fiktion der Bijoux beruht auf einem Wortspiel, das vom erotischen Vokabular selbst möglich gemacht wird: ‚bijoux‘ in der Bedeutung ‚Geschlecht‘ und ‚bijou‘ (Juwel, Kleinod) für Mangoguls Ring, mit dem er die ‚Kleinode‘ der Frau dazu bringt, ihre Abenteuer zu beichten.“ 38

Die sprechenden ‚Juwelen‘ informieren den neugierigen Herrscher nicht nur über sexuelle Ausschweifungen so mancher vorgeblich treuen Ehefrau, sondern auch über Korruption und Intrigen. Hier ist die Parallele zu Louis XV und seiner Mätresse Madame de Pompadour zu sehen.39 Dass die Hauptgeliebte des Sultans, d ­ iesem tunlichst verweigert, auch ihr Geschlecht zum Plaudern zu bringen, ist ein Detail, das die Beziehung z­ wischen König und Mätresse weiterhin parodiert. Obwohl sich der Autor nach der Veröffentlichung stets von seinem libertinen Text distanziert, arbeitet er in den nächsten 30 Jahren immer wieder an Erweiterungen und neuen Kapiteln.40 In diesen und zahlreichen weiteren Beispielen zeigt sich die Verquickung von subversiver, gesellschaftskritischer Botschaft mit der Bizarrerie des Exotismus in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Da diese Bücher trotz ihrer klandestinen Publikationsgeschichte oftmals hochwertig illustriert und editiert werden, entwickeln sie sich auch noch im 19. Jahrhundert zu beliebten Sammlerstücken. Von Beardsley ist durch Briefe an André Raffalovich vom Oktober 1896 und Februar 1897 überliefert, dass er sich zumindest der Lektüre von Crébillons La nuit et le moment (Die Nacht und der Augenblick, 1755) und Diderots Salons mit Begeisterung widmet.41 Somit ist davon auszugehen, dass ihm das Werk dieser Autoren auch anderweitig geläufig ist. Bei ihm jedoch wird die Groteske selbst zum subversiven Mittel des épater le bourgois. Unauflösbar scheint die Allianz von Chinoiserie und Rokoko und auch für diese kulturelle Ausprägung muss Frankreich als Zentrum angesehen werden. Vor allem dort bildet sich der Orientalismus als genuin aristokratisches Phänomen heraus, welches durch die 37 Wagner, 1986, S. 29. 38 Goulemot, Jean Marie: Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert, Hamburg 1993 (Aix-­en-­Provence 1991), S. 55. 39 Vgl. Nachwort zu Diderot, Denis: Die indiskreten Kleinode. Dortmund 1985, S. 204. 40 Vgl. Aravamudan, 2012, S. 200. 41 Vgl. Letters, 1990, S. 180. Aubrey Beardsley an André Raffalovich, 7. Oktober 1896, Pier View, Boscombe; Ebd., S. 248. Aubrey Beardsley an André Raffalovich, 7. Februar 1897, Muriel, Bournemouth.

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Französische Revolution ein abruptes Ende findet. Im Gegensatz dazu ist es in England zwar eher das wohlhabende Bürgertum, welches die Käuferschaft von Chinoiserien bildet, jedoch lässt sich auch hier eine allgemeine Abflachung des Interesses an solchen Importwaren gegen Ende des Jahrhunderts verzeichnen.42 In England hängt dies wohl vor allem mit der gemeinhin kritischeren Haltung zum Orientalismus zusammen, die sich früh heraus­bildet und besonders in Gedichten, Satiren und Karikaturen ihren Ausdruck findet. Daher soll an dieser Stelle die Signifikanz der Chinamode gesondert für England und dessen nationale Identität untersucht werden. Sowohl David Porter (2010)43 als auch Eugenia Zuroski Jenkins (2013) stellen in ihren Untersuchungen zum „Chinese Taste“ im England des 18. Jahrhunderts dessen besondere Rolle in der Genese von Konzeptionen der Englishness heraus. „The understanding of ‚Englishness‘ that emerged through this encounter […] is constituted paradoxically through a simultaneous appropriation and denial of ‚Chineseness‘ and an instrumental amnesia with respect to some of the decidedly non-­English origins of British aesthetic culture.“ 44

Verschiedene Faktoren sind in dieser Genese von Bedeutung. Mit Verweis auf die ausführlichen Studien zu ­diesem Thema möchte ich hier nur auf einige relevante Aspekte eingehen. Es geht in dem Stellenwert chinesischer Waren im englischen Haushalt und im Umkreis der zeitgenössischen Geschmacksdebatte um den exponierten Kosmopolitismus der englischen upper class.45 Wohlgemerkt ist hier die Rede von einer kosmopoli­ tischen und nicht von einer kolonialistischen Einstellung. Während des Höhepunktes der Chinoiserie im England des frühen 18. Jahrhunderts ist China keine britische Kolonie und hat sogar eher die Oberhand bei den Exportgeschäften mit der aufstrebenden Weltmacht.46 Nichtsdestotrotz weist Porter darauf hin, dass es selbst für damalige Sammler keine Rolle spielt, ob ein potenzielles Kaufobjekt ein chinesischer Import oder eine europäische Imitation ist.47 Vielmehr ist es die allgemeine Andersartigkeit der chinesischen oder pseudo-­chinesischen Ästhetik, die dem zeitgenössischen Klassizismus entgegensteht. Die „fantasies of monstrous beauty“ 48, wie sie auf Teekannen oder Seidentapeten zu sehen sind, bestechen einerseits durch die delikate Schönheit ihrer Ausführung, irritieren andererseits jedoch durch eine aus christlich-­europäischer Sicht fremde Ikonografie. Bevölkert von Drachen 42 Vgl. Weisberg, Gabriel P.: Rethinking Japonisme. The Popularization of a Taste. In: Ders. (Hg.): The Orient Expressed. Japan’s Influence on Western Art 1854 – 1918, Mississippi Museum of Art 2011, S. 17 – 75, hier S. 22 f. 43 Vgl. Porter, David: The Chinese Taste in Eighteenth-­Century England. Cambridge 2010. 44 Ebd., S. 10. 45 Vgl. Zuroski Jenkins, 2013, S. 4. 46 Vgl. Porter, 2010, S. 24. 47 Vgl. ebd., S. 28. 48 Ebd., S. 3.

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und grotesken Fabelwesen ziehen die Erzeugnisse der Chinoiserie den Blick auf sich und entfremden gleichermaßen. Aufgrund dieser Dichotomie schwankt die zeitgenössische Kritik in Bezug auf die Vorliebe zum Exotischen stets ­zwischen Lob und Ablehnung. Zum einen wird die vermeintlich inhaltsleere Hülle des „Hübschen“ in der Chinoiserie in den Vordergrund gestellt, zum anderen stehen gerade die bizarren Elemente der Ikonografie einem glatten Klassizismus entgegen.49 Somit oszilliert die englische Chinoiserie z­ wischen Kitsch und Kennerschaft. Nichtsdestotrotz wird die Eingliederung des Exotischen in die englische Kultur im Laufe des Jahrhunderts als eine Leistung für sich darstellt, wie es Zuroski Jenkins ausführt: „Chinese objects served as the measure of a person’s taste and judgment, precisely because they demanded to be imported and incorporated into English culture – that is, to be made English.“ 50

Auch in Beardsleys Werk spielen Englishness und Exotismus im Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Tradition des chinoisen und japonistischen bric-­à-­brac im englischen Haushalt fließt in seine Bildkonzeptionen ein, wenn er beispielsweise Salome bei ihrer Toilette umgegeben von allerlei Nippsachen zeigt, die einem Kuriositätenladen entsprungen scheinen (Abb. 43). Auch das Mobiliar, die Blumenarrangements und Instrumente sind ganz der japonistischen Exotik verpflichtet. Somit greift der Zeichner in ­diesem Motiv die enge Verschränkung von Frau, Interieur und Orientalismus in Realität und Repräsentation sowohl im 18. als auch im 19. Jahrhundert auf. Die Gegenstände geben der Szene nicht bloß atmosphärischen Gehalt, sondern bekommen ebenfalls einen inhaltlichen Status zuerkannt. Die Döschen, Fläschchen und Phiolen sind Teil der Liturgie des ästhetizistischen Schönheitskults (Kap. 6.2). Die Bücher kommentieren Salomes Charakter und ihre Rolle als femme fatale, das vom nackten Pagen dargebrachte Teeservice rekurriert auf Popes Topos der eitlen, teetrinkenden Belinda. Letztlich bedeutet die Aura des exotischen Dings nichts anderes als die Betonung seiner eigenen Oberfläche. Deutlich wird dieser Gedanke in Oliver Goldsmiths Persiflage auf die englische Sammelleidenschaft von Chinoi­serien in seinem Roman „The Citizen of the World“ (1762): „Lord, have you nothing pretty from China about you; something that one does not know what to do with? I have got twenty things from China that are of no use in the world. Look at those jars, they are of the right pea-­green…“ 51

Die Betonung der Oberfläche im Kontext der weiblichen Toilette ist im Zusammenspiel mit den beigeführten Exotika doppelt betont. Ebenso wie Salomes schöne Hülle, wird auch ihnen keine weitere Eigenschaft zugedacht, als die der Schönheit, der Eleganz, des Geschmacks. 49 Vgl. ebd., S. 26 – 28. 50 Zuroski Jenkins, 2013, S. 12. 51 Goldmsith, Oliver: The Citizen of the World. London 1891 (1762), S. 51.

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Einen weiteren in der Forschung stets betonten Aspekt der (englischen) Chinoiserie bildet also die dezidierte Zuordnung dieser Waren zum weiblichen Geschlecht. Es wurde in dieser Arbeit schon mehrfach auf die Verknüpfung des Rokoko mit einer historischen Vorstellung von Weiblichkeit oder besser Effemination hingewiesen. Ähnliches lässt sich auch für die Chinoiserie feststellen. Die zarten Figuren auf dem Porzellan und den anderen Kleinigkeiten des Interieurs werden einer genuin weiblichen Käuferschaft zugedacht, ­welche wiederum untrennbar mit eben d ­ iesem Interieur verbunden ist.52 So schreibt selbst Charles Lamb noch 1833 im ersten Satz seines Essays „Old China”: „I have an almost feminine partiality for old china.“ 53 Während Rationalität dem männlichen Geschlecht als eigen gilt, werden das Irrationale oder die Extravaganz in die weibliche Sphäre verwiesen. Diese (englische) Denkweise führt soweit, dass chinesische Bildkünste und der feminozentrische französische Roman alsbald miteinander verknüpft werden. „Both Chinese visual art and French romance, in other words, served emerging schools of naturalistic representation in England as a foil, highlighting the rationality of new literary and artistic norms by contrast with their foreign others. [… Both] came to be widely associated in the eighteenth century with female extravagance and the morally suspect indulgence of a debased foreign taste.“ 54

An dieser Stelle wird nochmals deutlich: Englishness konzipiert sich – wie viele andere nationale Identitäten ebenso – zu großen Teilen in Abgrenzung zu einem gedachten Anderen. Bemerkenswert ist hierbei jedoch die Verknüpfung von verschiedenen ­„Anderen“ miteinander. China, Frankreich und nicht zuletzt die Frau werden zu Folien dessen, wovon sich „der Engländer“ offenbar abzugrenzen sucht. Paradoxerweise werden exotische Gegenstände und das weiblich kodifizierte Interieur gleichzeitig in das Konzept des genuin Englischen integriert. Noch heute ist der Gedanke an England mit einer coziness des Innenraums und dampfenden, blau-­weißen teapots verbunden. Die kulturelle Realität trifft indes stets auf die literarische Kritik am zeitgenössischen Exotismus, der nicht zuletzt in Popes Rape of the Lock zum Symbol weiblicher Eitelkeit und Extravaganz wird, wenn Belinda Tee aus kostbarem Porzellan trinkt.55 Auch in Hogarths Werken und seinen Nachfolgern werden laut Freya Gowrley wiederholt Frau und chine­ sisches Porzellan zusammengebracht, um den verderbten Geschmack der englischen upper class zu verdeutlichen, der durch Einflüsse von außen den Blick für die zeitgenössische englische Kunst verloren hat.56 Für Hogarth steht der Aspekt der un-­Englishness der 52 Vgl. Gaillard; Walter 2010, S. 30. 53 Lamb, Charles: Old China. Boston, New York 1912, S. 1. 54 Porter, 2010, S. 58. 55 Vgl. ebd., S. 83. 56 Vgl. Gowrley, Freya: Taste À-La-­Mode: Consuming Foreignness, Picturing Gender. In: Germann, Jennifer G.; Strobel, Heidi A. (Hg.): Materializing Gender in Eighteenth-­Century Europe. Burlington 2016, S. 35 – 50, hier S. 35.

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­Chinoiserie so sehr im Vordergrund, dass die geschwungene Linie der chinesischen Feinmalerei sogar bei den Beispielen für das Ideal der serpentine line of beauty (in Hogarths The Analysis of Beauty 1753) außer Acht gelassen wird. Innerhalb der gedachten Relation von Frau und Chinoiserie entwickelt sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Idee, die beiden regelrecht körperlich in eins zu setzen: „Both fine ladies and fine porcelain, the familiar simile goes, are prized for their smooth surfaces and radiant splendor, but they are equally fragile as well, and are soon despised for the appearance of a crack or a flaw.“ 57

Dieses Bild entsteht aus der Vernarrtheit, die Frauen für das zarte Porzellan nachgesagt wird und führt schließlich zu einer weiteren Subkategorie in der zeitgenössischen Exotismus-­ Satire. So fühlt sich beispielsweise in John Gays Gedicht „To a Lady on her Passion for Old China“ (1725) der Mann angesichts der innigen Beziehung seiner Geliebten zu ihrem chinesischen bric-­à-­brac vernachlässigt: „What ecstasies her bosom fire! How her eyes languish with desire! How blessed, how happy should I be, Were that fond glance bestowed to me! New doubts and fears within me war: What rival’s near? A China jar.“ 58

Die chinesische Vase als Rivale scheint eine groteske Idee, doch ist es gerade ein solcher Gedanke, der auch in einem Werk Beardsleys mitschwingt. Eine Frau im Kimono flieht vor einem Mann im Rokoko-­Rüschenkostüm und der ostasiatische Exotismus aus zwei Jahrhunderten ist humoristisch auf den Punkt gebracht. In „Cinesias entreating Myrrhina to Coition“ beweist der Zeichner einmal mehr seine Fähigkeit, die Geschichte des Exotismus innerhalb einer Komposition gleichzeitig zu reflektieren und zu parodieren (Abb. 70). Zu sehen sind auf dieser sechsten Illustration zu Aristophanes Komödie Lysistrate ein Mann und eine Frau, die von links in das Bildfeld hineinstürmen. Wie in den anderen Zeichnungen dieser Reihe arbeitet Beardsley auch hier mit einer asymmetrischen Anordnung der beiden Figuren vor einem leeren Hintergrund. Einzig der gezeichnete Rahmen legt die Grenzen des Bildraums auf dem weißen Blatt fest. Vor allem der extreme Anschnitt der männlichen Figur auf der linken Bildseite ist ein kompositorisches Mittel, das der Künstler seinem Studium der ostasiatischen Kunst entlehnt. Die Dame rechts ist mitten in einem behänden Satz zu sehen, der droht, sie demnächst den Blicken zu entziehen. Dies dürfte umso bedauerlicher sein, da sie in ihrem schnellen Schritt alle ihre Vorzüge unter dem weit geöffneten Kimono präsentiert. Ihre Accessoires, 57 Porter, 2010, S. 86. 58 Gay, John: To a Lady on her Passion for Old China. London 1725, S. 1.

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Abb. 70 Aubrey Beardsley: „Cinesias Entreating Myrrhina to Coition“, ca. 26. Juni 1896, 26,4 × 18,2 cm, Victoria & Albert Museum, London.

wie die schwarzen Strümpfe, grazilen Pantoffeln und nicht zuletzt die an eine Geisha gemahnende schwarze Perücke, die mit Blumen und Quasten geschmückt ist, setzten die Nacktheit ihres weißen Körpers in Szene. Alles in allem erscheint sie wie eine in Bewegung versetzte Version von James Tissots Japonaise au bain (1864), die ihre Reize in entspannter Haltung unter dem geöffneten Kimono nicht vorenthält.59 Mit einem verzückten Lächeln auf den Lippen und einem affektierten Griff ans Herz, der wohl Entsetzen andeutet, entwindet sich Beardsleys Geisha dem kraftvollen Griff einer Hand, die sie von links packt. Der muskulöse Arm, welcher der Dame den Kimono von der Schulter zu reißen droht, gehört zu einem weitaus kleiner erscheinenden Mann im Rüschenkostüm links. Ihn können wir als den bis zur Raserei aufgereizten Ehemann Myrrhinas identifizieren. Im Stück gehört die Episode zum Plan der Frauen, ihre Gatten mittels Sexentzug zum Frieden zu bewegen. Die gewitzte Mitverschwörerin Lysistrates 59 Vgl. James Tissot: „La Japonaise au bain”, 1864, Öl auf Leinwand, 208 × 124 cm, Musée des Beaux-­ Arts, Dijon.

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v­ erführt ihren Mann Cinesias, welcher gerade vom Schlachtfeld des Peloponnesischen Kriegs heimgekehrt ist, um ihn dann immer wieder hinzuhalten. In Beardsleys Illustration ist die erotische Frustration des Mannes überdeutlich zu erkennen. Cinesias ist halb kniend gezeigt, wie er offenbar nach seiner sich ihm entziehenden Frau greift, die ihn abermals allein im Bett zurücklassen will. Sein riesenhafter Phallus, der zudem von den fliegenden Quasten an Myrrhinas Kimono gekitzelt wird, macht den Höhepunkt des teasing an dieser Stelle einmal mehr anschaulich. Unterstützt wird seine Rage außerdem durch die satyrhaften Gesichtszüge mit verdrehten Augen, Vollbart und lüstern geöffnetem Mund, die Beardsley dem Griechen verleiht. Mit der akzentuierten Männlichkeit seines Geschlechts und seiner animalisch-­ ekstatischen Physiognomie wird indes grotesk gebrochen, indem der Zeichner seine Figur in ein Kostüm kleidet, das durch den Einsatz von Rüschen an Ärmeln und Rocksaum, sowie Federn auf einer Perücke der erotischen Ausstaffierung seiner Begleiterin ein skurriles Pendant zur Seite stellt. Vor allem die hoch aufragenden Straußenfedern auf gelockten Perücken sind während des 18. Jahrhunderts, an das Beardsley hier sicherlich erinnern möchte, ein genuin weibliches Accessoire. Die Figur des lüsternen Cinesias verfehlt ihre komische Wirkung also vor allem daher kaum, weil Beardsley die diffusen Geschlechtskodierungen der Kleidung des Rokoko instrumentalisiert, um die frustrierte Männlichkeit in dieser Szene darzustellen. Das effeminierende Kostüm, welches erneut an macaroni-­Karikaturen des 18. Jahrhunderts erinnert (Kap. 3), trifft auf die gigantische Erektion und legt somit Cinesias’ lächerliche Situation bildlich offen. Die leitmotivischen Phalli sind derweil ebenso Versatzstücke von Beardsleys Japan­ rezeption, die sich oftmals auf eine spezielle Gattung der japanischen Druckgrafik beruft. Shunga (Frühlingsbilder) sind meist farbige Holzschnitte mit erotischem oder pornografischem Inhalt, die in Japan spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert in Umlauf sind.60 Neben expliziten Szenen, die Paare während des Liebesaktes in häuslicher Umgebung zeigen, zeichnen sich shunga besonders durch die oft grotesk vergrößerte Darstellung von Erektionen aus.61 Beardsley verbindet somit sein Wissen um antike Phallusverehrung und Inszenierungspraxis mit seinem Interesse für exotische Erotika, die er laut Julius Meier-­ Graefe sogar offen in seinen Wohnräumen präsentiert; dies zum Erstaunen seines Besuchers. „Bei Beardsley konnte man die schönsten japanischen Holzschnitte in London sehen und zwar von denkbar ausführlicher Erotik. Sie hingen in sauberen Rahmen auf fein abgetönten Tapeten und waren unanständig; die wildesten Phantasien von Utamaro, dabei von weitem sehr zierlich, proper und harmlos.“ 62

60 Vgl. Clark, Timothy; Gerstle, C. Andrew: What was Shunga? In: Ausst.-Kat.: Shunga. Sex and Pleasure in Japanese Art. London, British Museum, 2013, S. 18 – 33, hier S. 18. 61 Vgl. Colligan, 2006, S. 127. 62 Meier-­Graefe, Julius: Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst. Vergleichende Betrachtung der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Ästhetik, Bd. II. Stuttgart 1904, S. 605.

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Doch warum greift der liebestolle macaroni nach einer Frau in ostasiatischer Aufmachung? Das Bild gibt im Zusammenhang mit Aristophanes’ Text, in dem keine Rede von etwaigen Kostümen ist, zunächst Rätsel auf. Während Beardsley in den anderen Zeichnungen dieser Reihe weitestgehend an einer ihm eigenen Antikisierung festhält, die lediglich durch den Einsatz des ein oder anderen anachronistischen Accessoires gebrochen wird, erscheinen hier nur noch die entblößten Körper als Leitmotive der Illustrationen. Zwar bleibt das übergeordnete Thema die erotische Aufreizung, jedoch ist eine deutliche Betonung des Kostüms unverkennbar. Eine ganz ähnliche Bedeutung kommt der Mode und Maskerade auch im 18. Jahrhundert zu. Dabei spielt unter anderem das äußerst beliebte orientalische Kostüm eine essenzielle Rolle: „The fascination with exotic peoples was often indistinguishable from a fascination with their clothes.“ 63 In der Darstellung von Cinesias und Myrrhina gelingt es Beardsley, implizit mehrere Stränge des historischen und zeitgenössischen Exotismus zusammenzuführen. Offensichtlich handelt es sich bei der fliehenden Geisha um eine westeuropäische Frau im exotischen Kostüm. Nicht zuletzt verraten sie die kleinen Ringel­ löckchen, die an Stirn und Schläfe unter der tiefschwarzen Perücke hervorschauen. Mit ­diesem Passus setzt Beardsley die Oberflächlichkeit des zeitgenössischen Exotismus direkt ins Bild. Zur Maskerade degradiert, wird das ostasiatische Kleidungsstück zum bloßen Requisit, ohne seinen Ursprung zu thematisieren. Zugleich erscheint die Dame nicht unbedingt wie eine Zeitgenossin Beardsleys, sondern suggeriert mit den geblümten Strümpfen und spitzen Pantöffelchen eher eine Kurtisane des vorhergehenden Jahrhunderts. Die erotische Inhärenz der Verkleidung, noch dazu der exotischen Verkleidung einer ostasiatischen Hetäre, spielt in Beardsleys Bildkonzeption eine entscheidende Rolle. Exotik und Erotik gehören schon in den frivolen Erzählungen Crébillons und Diderots untrennbar zusammen. Die Welt des Harems oder der ‚grünen Häuser‘ sind in der westlichen Imagination austauschbare Handlungsorte für pornografisches Treiben. Der Kimono ist schon bei James Tissot ein fetischhaftes Accessoire. Diese Traditionslinie treibt Beardsley mit dem chinoisen ‚teasing‘ Myrrhinas gewitzt auf die Spitze. Die fliehende Dame im Kimono gemahnt dennoch auf den ersten Blick an den populären Japonismus des 19. Jahrhunderts, der sich sowohl in distinguierten Sammlerkreisen als auch in der Massenproduktion fest etabliert hat. Die stetig besser ausgebaute Infrastruktur und die schnelleren Reisemöglichkeiten führen im 19. Jahrhundert dazu, dass nicht nur Missionare und Gesandte, sondern auch Künstler und Forscher den Weg in den Orient antreten können.64 So zeichnet sich sowohl der literarische als auch der bildkünstlerische Orientalismus des 19. Jahrhunderts mehr und mehr durch Authentizitäts- und Realitätsanspruch aus. Nichtsdestotrotz bleibt es vor allem im Bereich der Bildkünste ein imaginierter Orient, der von erotischen und grausamen Geheimnissen geprägt ist. 63 Castle, 1986, S. 60. 64 Vgl. Depelchin, Davy: Im Banne des Orients. Motive und Erscheinungsformen einer künstlerischen Strömung. In: Diederen, Roger; Depelchin, Davy (Hg.): Ausst.-Kat: Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky. München, Kunsthalle, 2010, S. 15 – 33, hier S. 21.

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Ähnlich wie die Chinoiserie im 18. Jahrhundert ist auch der Japonismus eine genuin weibliche Domäne. Zwar haben die formalen Neuerungen, ­welche die Auseinandersetzung mit der Druckgrafik des Fernen Ostens in Gang setzen, vor allem Einfluss auf das Schaffen männlicher Künstler, die ihre Auffassung von Perspektive, Komposition und Farbigkeit neu ausloten. Die Frauen sind es aber, die immer noch als Konsumentinnen der exotischen Importe angesehen werden. Insbesondere die Bilder Whistlers und seines Zeitgenossen James Tissot, der in Frankreich geboren, aber für seine Portraits und Salongemälde in London berühmt ist, zeigen immer wieder (europäische) Frauen in Kimonos, vor Wandschirmen, vertieft in die Betrachtung von Holzschnitten. „Women could isolate themselves from the cares of the world surrounded by objects that prompted dreams of the fanciful and the exotic, in keeping with one of the basic ways in which Japonisme was seducing the senses.“ 65

Neben der erneut erotischen Konnotation des Zusammenspiels von Frau und exotischem Objekt ist die Parallele zur weiblichen Rolle in der China-­Mode des 18. Jahrhunderts nunmehr evident. Die Konsumentin, die sich am exotischen Gegenstand innerhalb ihres selbst eingerichteten Interieurs erfreut, ist der wichtigste Antrieb für beide historischen Exotismen. Und so scheint es auch nicht verwunderlich, dass Beardsley eine Frau quasi als oberflächliche Personifikation des Exotismus auftreten lässt, wie sie sich einem effeminierten Rokoko-­Männlein entzieht. Im 19. Jahrhundert wiederum wird die Liebe zum fernöstlichen Gegenstand nicht wie bei John Gay zum Anlass parodistischer Eifersucht, sondern um die Komponente des sentimentalen Eskapismus erweitert. Die teuren, seltenen und exquisiten Materialien, die zur Herstellung von Porzellanfiguren, Tapisserien oder Kostümen während des Rokoko benötigt werden, machen die Zugänglichkeit zu dieser Spielart des Orientalismus für weniger begüterte Schichten unmöglich. Authentische Stücke aus den weit entfernten Ländern kommen erst recht nur einflussreichen Politikern oder Herrschern zu. Im Zeitalter der Industrialisierung ist indes die Herstellung von täuschend echt erscheinenden Kopien möglich geworden. Davy Depelchin schreibt hierzu: „Nicht zuletzt dank der propagierenden Rolle der Weltausstellungen erfreute sich der Orientalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit bei der Bourgeoisie.“ 66

Quasi als Gegenbewegung zur bürgerlichen Rezeption des Orients, bildet sich parallel eine Sammelleidenschaft unter Intellektuellen und entsprechend vermögenden Künstlern ­heraus. Connaisseurs wie der Autor und Reisende Pierre Loti (1850 – 1923) in seinem Haus in Rochefort oder der Präsident der Royal Academy Frederic Leighton (1830 – 1896) in seinem Londoner Atelier- und Wohnbau gestalten orientalistische Interieurs und schaffen 65 Weisberg, 2011, S. 52 – 58. 66 Depelchin, 2010, S. 30.

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sich gleichsam einen Fluchtort vor dem zeitgenössischen Positivismus.67 Ähnliches vollzieht sich im Bereich des Japonismus bzw. der Chinoiserie in den Sammlungen Edmond de Goncourts und Robert de Montesquious, der sich unter anderem ein flaches Bett aus chinesischen Schnitzereien bauen lässt.68 Durch ihre finanziellen Mittel ist es ihnen möglich, originale Luxusgüter und Möbel aus dem Nahen und Fernen Osten einliefern zu lassen und sich durch eine distinguierte und gewissermaßen aristokratische Selbstinszenierung im eigenen Wohnraum vom bürgerlichen Orientalismus abzuheben. Die schon rein formale Andersartigkeit orientalischer Produkte und Kunstwerke dient dem Sammler und Künstler dabei abermals als Modus der Abgrenzung. „… the constructed environment found in Japanese art was essential for many who could not cope with their own existence. Japan became an ‚other‘ that was continuously changeable and open to reinvention.“ 69

Auch solch ein dandyhafter Eskapismus im exotischen Modus hat seine Wurzeln letztlich in der höfischen Chinoiserie des Rokoko. Hallinger stellt diese als ein Phänomen außerhalb des traditionellen Hofzeremoniells heraus.70 „Der aus Reflexen einer in unerreichbarer Ferne liegenden Welt aufgebaute Ort, der eskapistisch verfolgt wird, erscheint als Gehäuse der Langeweile und Heilmittel gegen die Langeweile zugleich. […] Im Sinne einer ‚action contre l’ennui‘ muß der Herrscher im Bereich des Eskapismus Zerstreuung und Ablenkung in höchstem Maß anbieten, allzu leicht schlägt die perzeptive Haltung des Hofes in Langeweile um. Dabei ist es von bestechender System­ logik, wenn der extrazeremoniell bestimmte Ort mit Formen ausstaffiert ist, die keinen Inhalt transportieren, sondern launenhaftes Grillenwerk sind.“ 71

Hallinger stellt vor allem das der Chinoiserie inhärente Nicht-­Interesse am Ursprungsland und insbesondere die vermeintlich völlige Sinnentleertheit dieser künstlerischen Ausprägung in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Hierzu zieht er keinen geringeren als Hans Sedlmayr heran, der in „Bustelli und das Rokoko“ folgendes über die China-­Mode des 18. Jahrhunderts zu sagen weiß: „Auch die chinesische Serie ist mehr als eine groteske Kuriosität. Sie ist ein Klang aus einer Wunschwelt, in der sich die höchste Verfeinerung des sinnlichen Genusses und der ‚Höflichkeit‘ mit einer Weisheit ohne Transzendenz, einer Philosophie ohne Metaphysik verbindet.“ 72 67 68 69 70 71 72

Vgl. ebd., S. 22. Vgl. Munhall, 1995, S. 35. Weisberg, 2011, S. 18. Vgl. Hallinger, 1995, S. 54. Hallinger, 1996, S. 54 – 56. Sedlmayr, 1963, S. 20.

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Auch wenn es hier nicht darum gehen kann, dem impliziten Vorwurf der Inhaltslosigkeit an die Chinoiserie nachzugehen, sei die Treffsicherheit in Sedlmayrs Zitat in Bezug auf die Erscheinung des Chinoisen dennoch hervorgehoben. Möglicherweise deutet sich hier die Attraktivität des Rokoko für den fin de siècle an. Denn ist es nicht gerade die „Weisheit ohne Transzendenz“, die „Philosophie ohne Metaphysik“, die dem ästhetizistischen Streben nach einer Kunst der ‚Oberflächlichkeit‘ am nächsten kommt? Vor allem Theophile Gautier muss – und darin folge ich Mario Praz – als bedeutendster Wegbereiter des „exotischen Ästhetizismus“ gewertet werden.73 Jahrzehnte vor der eigent­ lichen Ausformung ästhetizistischer Prinzipien in Literatur und Kunst veröffentlicht Gautier bereits seine Mademoiselle de Maupin (1836), quasi das Manifest des Ästhetizismus avant la lettre. Früh im Roman lässt Gautier seinen Helden d’Albert auf der Suche nach seinem Ideal verzweifeln, da er ­dieses im Frankreich eines fiktiven Ancien Régime nicht finden dürfte. „J’ai bien peur, mon cher ami, de ne pouvoir jamais embrasser mon idéal […] et il me semble qu’avec un sac ou deux de piastres je le trouverais tout fait tout réalisé dans le premier bazar venu de Constantinople ou de Smyrne …“ 74

Auch in der Folge bildet der Orient für d’Albert eine Traumwelt, die für ihn „das höchste Glück“ darzustellen vermag: „… sous un dais magnifique, entouré de piles de carreaux, un grand lion privé sous mon coude, la gorge nue d’une jeune esclave sous mon pied en manière d’escabeau, et fumant de l’opium dans une grande pipe de jade.“ 75

Für Gautiers Protagonisten bedeutet der Orient ein Versprechen, das nie eingelöst werden soll; das Versprechen, seine immerwährende Suche nach dem Ideal der Schönheit zu einem Ende zu bringen. Beardsley reagiert auf ­dieses Versprechen, indem er auch d’Alberts Vorstellung seiner Traumfrau bekleidet mit einem Turban und begleitet von einem Äffchen als eine Art Odaliske zeigt (Abb. 71). Der elegant gekleidete Affe, der die barbusige Dame hinter den Vorhang zu führen scheint (ein erotischer Symbolismus),76 gemahnt zusätzlich an die lange Traditionslinie der Singerie. Die Darstellung von spielenden Äffchen in der Ornamentgroteske ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert aufs Engste mit der Chinoiserie verknüpft.77 73 Vgl. Praz, 1981², S. 181. 74 Gautier, 1880, S. 59. Übersetzung nach Gautier, 2011, S. 35: „Ich habe große Angst, mein lieber Freund, mein Ideal nie erreichen zu können. […] mir scheint, mit ein oder zwei Sack Silbermünzen würde ich es fix und fertig im erstbesten Basar von Konstantinopel oder Smyrna finden.“ 75 Ebd., S. 222. Übersetzung nach Gautier, 2011, S. 281: „… unter einem herrlichen Baldachin, umgeben von Kissenbergen, einem zahmen Löwen als Stütze unter meinem Ellbogen, den nackten Busen einer jungen Sklavin wie einen Schemel unter meinem Fuß, und rauche aus einer großen Jadepfeife Opium.“ 76 Vgl. Gertner Zatlin, 1989, S. 184. 77 Vgl. Hallinger,1996, S. 50 f. Zur Darstellung des Affen in der Kunst und Dekoration des 18. Jahrhunderts siehe weiterhin: Ausst.-Kat.: The Monkeys of Christophe Huet. Singeries in French

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Abb. 71 Aubrey Beardsley: „The Lady with the Monkey“, bis 22. Oktober 1897, Bleistift, schwarze Tusche und Aquarell auf Velinpapier, 20 × 16,9 cm, Victoria & Albert Museum, London.

Diese und viele weitere Beispiele aus Beardsleys Œuvre zeigen, wie sehr der Künstler seinen Exotismus in einer ästhetizistischen Tradition verortet, die von Gautier, den Goncourts, Whistler und Wilde geprägt wird. Bildkünstlerisch verstanden äußert sich der ästhetizistische Ansatz vor allem in der Favorisierung der geschwungenen Linie beider Phänomene. Das Ornament und die Arabeske bedeuten sowohl für das Rokoko als auch für Chinoiserie, Turquerie, Japonismus und Orientalismus die prägenden Parameter. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es sich bei den oben genannten Vorbildern um Männer einer vorherigen Generation handelt. Sowohl der Ästhetizismus als auch der Japonismus sind in den 1890ern gewissermaßen etablierte Phänomene, die allein keinen Schock beim Publikum auslösen und entsprechend überholt scheinen. „In fact, this time Japonisme was a widely accessible artistic movement, with many followers and one that at the turn of the century would not necessarily have been viewed as a m ­ odern – this would have been antithetical to Beardsley’s own agenda. Thus it is not ­surprising that

Decorative Arts. Los Angeles, J. Paul Getty Museum, 2011.

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Beardsley refuted any trace of Japonsime, even though his critics did attempt to find these elements in his work.“ 78

Bru führt Beardsleys Leugnung japonistischer Einflüsse, die dieser in einem Interview mit To-­Day 1894 behauptet, auf dessen modernistischen Impetus zurück. „Certainly no Japanese painter, though my work is said to recall the methods of the East, for as a matter of fact I knew nothing of this style of art till quite lately, beyond, of course, the fans and vases which one’s eye meets everywhere.“ 79

Ich bin hingegen der Meinung, dass dies nicht den Beweggrund für diese Aussage darstellt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Beardsley sich seiner Position als Nachfolger der Ästhetizisten-­Generation und deren Schüler sehr wohl bewusst ist und diese wissentlich parodiert. Er kennt den Japonismus bereits aus zweiter Hand, aus den Schaufenstern der Boutiquen und den Karikaturen in Punch. Für ihn ist die ostasiatische Kunst keine Neuentdeckung mehr, sondern ein Versatzstück, welches fest in die Hoch- und Populärkultur des 19. Jahrhunderts integriert ist. Ich halte dies für eine maßgebliche Voraussetzung, um Beardsleys Bildsprache zu verstehen. Der junge Zeichner bedient sich der Ästhetik einer alternden Avantgarde und transponiert sie mit Mitteln der Parodie und Karikatur in neuartige Bilderfindungen. „Cinesias Entreating Myrrhina to Coition“ stellt somit eine Auseinandersetzung mit der Historizität des „Japanese craze“ 80 dar, die diesen auf seine kulturellen Wurzeln in der Chinoiserie des 18. Jahrhunderts zurückführt. Er verbindet in dieser Komposition den modisch-­motivischen Schwerpunkt der Chinoiserie mit der ‚modernistischen‘ Ästhetik des Japonismus und lotet so die zu Beginn des Kapitels in Frage gestellten Grenzen der Phänomene aus. Zugleich verschleiert die Zeichnung keineswegs ihren grundlegend artifiziellen Charakter. Myrrhina ist eine als Geisha verkleidete Kurtisane, deren Locken unter der schwarzen Perücke hervorschauen und die das erotische Spiel mit dem exotischen Accessoire zu genießen scheint. Ihre Verkleidung wirkt im Kontext der Illustrationen dennoch seltsam sinnentleert und appliziert, wodurch Beardsley die serielle Produktion exotistischer Waren und Modeartikel ebenfalls nachvollzieht. Von einem distin­ guierten Habitus der intellgenzia und der Aristokratie ist der Orientalismus spätestens in den 1890er Jahren zum Warenhausartikel geworden. Beardsley scheut sich indes nicht, auch diese Ebene in sein Bild zu integrieren. An dieser Stelle soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, der Künstler beziehe sich in seinem Exotismus stets auf die ganze Bandbreite der historischen Orientrezeption. Jedoch lässt sich im Laufe seines Schaffens ein zunehmendes historisches Bewusstsein seiner Inspirationsquellen ausmachen. Speist sich der formale Japonismus und der ikonografische Orientalismus der Salome noch hauptsächlich aus dem Studium ostasiatischer 78 Bru, 2014, S. 106. 79 Beardsleys Interview „The New Master of Art“ 1894 in To-­Day. Zitiert nach: Colligan, 2006, S. 130. 80 Colligan, 2006, S. 148.

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Kunst, wie sie schon Manet, Zola und Whistler für sich entdeckt haben, wird in den Arbeiten nach 1895 eine Sensibilität für Traditionslinien kultureller Phänomene immer greifbarer. Beardsley emanzipiert sich durch diesen Gestus mehr und mehr von seinem Status als dekadenter Künstler aus dem Umkreis Oscar Wildes und beweist neben seiner kongenialen Linienkunst auch seine intellektuellen Qualitäten. Die Kunst- und Literaturgeschichte im Blick behaltend, gelingt es, den synthetisierten Gedankensprüngen in seinen Bildern zu folgen.

9 Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp

Bevor ich mit einem Ausblick in Bezug auf die Rezeption Beardsleys und des Rokoko im 20. Jahrhundert schließen werde, möchte ich im Folgenden einen bereits mehrfach direkt oder indirekt angeklungenen Begriff erläutern, der es meiner Meinung nach ermöglicht, die subtilen Untertöne und ‚empfundenen‘ Zusammenhänge ­zwischen der Kunst Aubrey Beardsleys und der Kultur des 18. Jahrhunderts terminologisch greifbar zu machen. Die von Susan Sontag 1964 erstmals genauer analysierte ästhetische Kategorie des Camp 1 vermag es, die in den vorangegangenen Analysen und Interpretationen teils höchst divergierenden Konzepte zusammenzuführen und zu zeigen, inwiefern die Vorstellung von Rokoko und Beardsleys Ästhetik eng miteinander verwandt sind. Jede Definition von Camp beginnt gleichzeitig mit dem Eingeständnis von dessen Undefinierbarkeit.2 Dies hängt laut Susan Sontag damit zusammen, dass es sich eben nicht um einen klar umrissenen ästhetischen Begriff handelt, sondern vielmehr um eine Art und Weise, die Umwelt wahrzunehmen, um ein ‚Empfinden‘ („sensibility“).3 Daher entscheidet sie sich in ihrem berühmten Essay „Notes on ‚Camp‘“ auch dafür, mit einer Aufzählung von Aspekten und Bemerkung zum Camp-­Kosmos zu operieren, um den Begriff einzukreisen. Andrea Bronstering gelingt es jedoch, in ihrem Artikel über Susan Sontag als „Mutter Camp“ (2003) eine zusammenfassende Darstellung zu geben: „Nach Sontag stellt die Erlebnisweise des Camp den Triumph des Stils über den Inhalt, des Ästhetischen über das Moralische, der Ironie über die Tragödie dar. Der Hang zum Naiven, Übertriebenen und Gekünstelten, insgesamt die ‚Entthronung des Ernstes‘ im Umgang mit Kunstwerken und Alltagsgegenständen, ist nach Sontag fraglos unengagiert und entpolitisiert. Camp ist dabei nicht auf das Feld der etablierten Kunst beschränkt, weicht auch nicht aus auf die ästhetische Betrachtung der Natur, sondern feiert bewusst das Dekorative und wendet sich schamlos dem Trivialen und Alltäglichen zu. Die klare Absicht des Camp, Hierarchien des Geschmacks auf den Kopf zu stellen, führt zum Unterlaufen der gängigen Dualität von E- und U-Kultur zugunsten einer Kultur des Populären.“ 4

1

Susan Sontags Essay „Notes on ‚Camp‘“ erschien zunächst in Partisan Review im Herbst 1964 und dann in ihrer aufsehenerregenden Aufsatzsammlung „Against Interpretation“ (1966). Ich habe für die folgenden Zitate die Neuerscheinung in Fabio Cletos Reader zum Thema Camp genutzt. Vgl. Sontag, 1999. 2 Vgl. Shugart, Helene A.; Waggoner, Catherine Egley: Making Camp. Rhetorics of Transgression in U. S. Popular Culture. Tuscaloosa 2008, S. 21. 3 Vgl. Sontag, 1999, S. 53. 4 Bronstering, Andrea: ­Mutter Camp. Anmerkungen zu Susan Sontag. http://www.lespress.de/102003/ texte102003/susansontag.html (06. 03. 2019).

Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp | 289

Ich möchte innerhalb der eben zitierten Definition auf drei Aspekte aufmerksam machen, die im Folgenden genauer auf ihre Relevanz für meine Auseinandersetzung mit Aubrey Beardsleys Rokoko-­Rezeption hin analysiert werden. Zum einen will ich das ironische und parodistische bzw. selbstparodistische Element von Camp betont wissen, welches eine dezidierte Ernstlosigkeit in der Betrachtung von Kunst- und Alltagsgegenständen zur Folge hat.5 Da Camp sowohl ausgeübt als auch wahrgenommen oder auf Dinge übertragen werden kann, die nicht als Camp intendiert sind, handelt es sich auch bei der Parodie um ein diffiziles Austarieren ­zwischen Wahrnehmung und Intention. Zum anderen ist die Übertreibung essentiell für das Erkennen und die Produktion von Camp. Übertreibung meint dabei sowohl den Sieg von Stil über Inhalt 6 als auch die Liebe zum Unnatürlichen, zur Extravaganz, zum Theatralen. Übertrieben werden Formen, Verhaltensweisen und nicht zuletzt das Geschlecht: der Androgyn (eine Hauptfigur des Camp) ist die inkarnierte Übertreibung sexueller Charakteristika und Gender-­Manierismen.7 Zum Schluss resultiert die Camp-­Sichtweise in einer Auflösung von Hierarchien der Hoch- und Populärkultur. Dies kennzeichnet den Begriff insbesondere in seiner ihm zugeordneten Modernität.8 In Susan Sontags Aufzählung von Dingen, die campy ­seien (eine Liste, die schon längst teils revidiert, teils erweitert worden ist)9, steht beispielsweise Schwanensee in einer Reihe mit Tiffany-­Lampen und Flash Gordon Comics.10 Bereits seit den 1920er Jahren wird Camp als Begriff immer wieder gebraucht. Der Autor Christopher Isherwood (1904 – 1986) ist schließlich derjenige, der camp erstmals literarisch fixiert und zugleich in zwei Kategorien aufteilt: ‚high‘ und ‚low‘ Camp.11 Während Isherwood diese Unterscheidung an Begriffen von Hoch- und Populärkultur festzumachen scheint, spricht Sontag zehn Jahre später von bewusstem und unbewusstem Camp. „One must distinguish between naïve and deliberate Camp. Pure Camp is always naïve. Camp which knows itself to be Camp (‚camping‘) is usually less satisfying.“ 12

Während also unbewusstes Camp laut Sontag ‚todernst‘ gemeint ist, aber nicht ernst genommen werden kann, schließt camping die Selbstparodie direkt in den Entstehungsprozess mit ein. In ersterem sieht sie die reine Version dieser Ästhetik repräsentiert. D ­ ennoch 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. Sontag, 1999, S. 58 und 63. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 53. Vgl. Core, 1984. Vgl. Sontag, 1999, S. 54 – 55. Vgl. Isherwood, Christopher: The World in the Evening. London, 1973 (London, 1954), S. 125. Unter ‚low‘ Camp versteht Isherwood (bzw. Charles im Roman) „a swishy little boy with peroxided hair, dressed in a picture hat and a feather boa, pretending to be Marlene Dietrich“ und ‚high‘ Camp als „the whole emotional basis of the ballet, for example, and of course of baroque art.“ 12 Sontag, 1999, S. 58.

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muss sie im übernächsten Punkt ihres Textes eingestehen, dass eine echte Unterscheidung oder gar Hierarchisierung auf dieser Grundlage z­ wischen Camp und camping nicht vollends zu leisten ist. „Perhaps, though, it is not so much a question of the unintended effect versus the conscious intention, as of the delicate relation between parody and self-­parody in Camp.“ 13

Mehrfach muss Sontag sich selbst in ihrem Aufsatz widersprechen. Dies rührt nicht zuletzt von der paradoxen Grundanlage des Camp her, in der sich Ernst und Witz, Unschuld und Korruption permanent gegenseitig aufheben und anreizen. Sie gelangt daher zu dem Schluss: „Camp is either completely naïve or else wholly conscious (when one plays at being campy). An example of the latter: Wilde’s epigrams themselves.“ 14

Ganz selbstverständlich kommt Sontag hier auf Oscar Wilde zu sprechen, dem sie ihren Essay sogar widmet und den sie als eine der Inkarnationen des frühen Camp ansieht.15 Damit ist der Begriff aufs Engste mit der Vorstellung der englischen 1880er und 1890er verbunden, in denen Wilde seinen größten Ruhm und seinen größten Fall erlebt. Zudem nennt Sontag ganz direkt „Aubrey Beardsley’s drawings“ als ein Beispiel für Camp, ohne dies jedoch näher auszuführen,16 und Philip Core, der sich in den 1980er Jahren an einem Lexikon des Camp versucht, schreibt: „Aubrey Beardsley was as definitely camp in art as Oscar Wilde was in literature.“ 17 Mit dieser Einordnung wird Beardsleys Kunst in eine modernistische Rezeption der 1960er und -80er Jahre eingeführt, die in der großen Beardsley-­Retrospektive von 1966 ihren Höhepunkt findet. Daneben sucht Sontag jedoch ebenso die Wurzeln von Camp im 18. Jahrhundert. „The dividing line seems to fall in the 18th century; there the origins of Camp taste are to be found (Gothic novels, Chinoiserie, caricature, artificial ruins, and so forth.)“ 18 „Still, the soundest starting point seems to be the late 17th and early 18th century, because of that period’s extraordinary feeling for artifice, for surface, for symmetry […]. The late 17th and early 18th century is the great period of Camp: Pope Congreve, Walpole, etc.“ 19

Schnell ist erkennbar, dass Sontag sich dezidiert an einer anglophonen Tradition orientiert und im wit des 18. Jahrhunderts Camp präfiguriert sieht. Auch für Beardsley haben 13 Ebd. 14 Ebd., S. 59. 15 Vgl. ebd., S. 54 und 57. 16 Vgl. ebd, S. 55. 17 Core, 1984, S. 27. 18 Sontag, 1999, S. 56. 19 Ebd., S. 57.

Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp | 291

sich diese Autoren und deren ästhetische Ansätze als fruchtbar erwiesen, wie in den bisherigen Analysen gezeigt werden konnte. Allerdings stellt Sontag weder das französische Rokoko als eine mögliche Ausformung von Camp fest, noch beleuchtet sie die historischen Kontinuitäten, die sich ­zwischen dem 18. Jahrhundert und dessen Rezeption im 19. Jahrhundert ergeben könnten. Stattdessen postuliert sie einen gewissen Bruch, der sich in einer vermeintlich esoterischen und perversen Variante im englischen Ästhetizismus äußert.20 Abermals wird hier die populäre und letztlich durch den Siegeszug der Avantgarde geprägte Sicht auf das späte 19. Jahrhundert deutlich, wie sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Ich möchte nun das Konzept des Camp, wie Sontag und andere es skizziert haben, auf meinen Untersuchungsgegenstand anwenden und gehe dabei von folgendem Punkt in Sontags ‚Notes‘ aus: „Of course, the canon of Camp can change. Time has a great deal to do with it.“ 21 Und auch Umberto Eco konstatiert in seiner Geschichte der Hässlichkeit: „In ­diesem Sinn verwandelt Camp das Häßliche von gestern in einen Gegenstand ästhetischen Wohlgefallens von heute“.22 Vorausgesetzt wird also ein fluider Camp-­ Begriff, der sich im Laufe der Geschichte immer wieder auf unterschiedliche Gegenstände richten kann. So wende ich auch eine Camp-­Lesart auf das französische Rokoko an, die sich subjektiv variabel ausprägen mag. Während im 18. Jahrhundert selbst das Rokoko aufgrund seiner Effeminiertheit und Oberflächlichkeit gescholten wird, ist gerade dies ein Aspekt, der diese Kunst zu einem möglichen Ausdruck des Camp und ihre Käufer (also Aristokraten) zu Kennern eben dieser „delicate relation between parody and self-­parody“ werden lässt. Spätestens seit den Goncourts ist Rokoko die Kunst der Frau: dies sowohl in Hinblick auf Auftraggeberschaft, Anwendungsbereiche (das Interieur) sowie Stil und Farbigkeit. Darin lässt sich ein erster bedeutender Anknüpfungspunkt an das Verständnis von Camp formulieren. Helene A. Shugart und Catherine Egley Waggoner betonen in ihrem Buch „Making Camp“ (2008), dass Femininität das zentrale Spielfeld von Camp ist und war. Dies hänge vor allem mit der etablierten Assoziation von Weiblichkeit und Künstlichkeit im Gegensatz zu männlicher Natürlichkeit zusammen.23 Obwohl sich das ästhetische Empfinden von Camp vornehmlich aus der männlich homosexuellen Kultur speist,24 sind weibliche Gender-­Prinzipien seine Basis. Dies hängt laut Mark Booth hauptsächlich mit der Vorliebe der Camp-­Sichtweise für das Marginale zusammen:

20 21 22 23 24

Vgl. ebd., S. 57. Ebd., S. 60. Eco, Umberto: Die Geschichte der Hässlichkeit. München 2010, S. 417. Vgl. Shugart; Waggoner, 2008, S. 5. Vgl. Sontag, 1999, S. 64. Es handelt sich bei dieser Feststellung um einen strittigen Punkt in der Camp-­Forschung, der für meine Arbeit eine untergeordnete Rolle spielen muss. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass seit Sontags Essay, der versucht Camp allgemeingültiger zu umreißen, die Frage gestellt sei, inwiefern Camp exklusiv homosexuell bzw. queer zu verorten ist oder eben nicht. Vgl. Shugart; Waggoner, 2008, S. 23.

292 |  Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp

„To be camp is to present oneself as being committed to the marginal with a commitment greater than the marginal merits. […] The primary type of the marginal in society is the traditionally feminine, which camp parodies in an exhibition of stylised effeminacy.“ 25

Die enge Verbindung von einer homosexuellen Subkultur spielt erst für die Rezeption des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle und wird in kommenden Ausführungen ­dieses Kapitels vertieft. Weiblichkeit als ästhetisches Primat sei jedoch als fundamentales Charakteristikum des Rokoko herausgestellt, was wiederum die Wahrnehmung dieser Kunst in der Camp-­Sichtweise erst ermöglicht. Bereits im 19. Jahrhundert werden also zunächst kritisierte Qualitäten des Rokoko erneut rezipiert und zu alternativen ästhetischen Varianten außerhalb des klassizistischen Kanons erhoben (eine Camp-­Sichtweise avant la lettre). „Le joli, – voilà, à ces heures d’histoire légère, le signe et la séduction de la France. Le joli est l’essence et la formule de son génie. Le joli est le ton de ses mœurs. Le joli est l’école de ses modes. Le joli, c’est l’âme du temps, – et c’est le génie de Boucher.“ 26

So berichten die Goncourts in einer schwärmerischen Aufzählung von der Ästhetik des Jahrhunderts, dessen Essenz sie offenbar im Rokoko Bouchers verwirklicht sehen. Doch noch heute finden sich nicht viele wahre Bewunderer dieser Kunst und die Räume der Wallace Collection bleiben weitaus leerer als die der National Gallery. Die Malerei, die Grafik und sogar die Architektur des Rokoko verweigert sich einer durch und durch ernsthaften Kontemplation. Dies verhält sich konträr zum bildungsbürgerlichen Habitus des seriösen Kunstgenusses, der belehren und emotional bildend wirken soll, was den Blick auf die plaisance des Rokoko verstellt. So sind vor allem die Genremalerei und große Teile des Kunstgewerbes im höfischen Kontext des 18. Jahrhunderts zeit­ genössische Produkte eines aristokratischen Eskapismus, werden jedoch außerhalb dieser Sphäre zum Ausdruck des naiven Camp. Zu süßlich wirken die schaukelnden Schäferinnen neben dem klassizistischen Historiengemälde oder der romantischen Landschaft. Aus eben ­diesem Grund jedoch öffnen sie sich schnell einer ironischen Betrachtungsweise, die gerade die vermeintliche Sinnentleertheit und Oberflächlichkeit des Stils feiert, weil in diesen Bildern der Inhalt hinter der Form ganz zurückzutreten scheint. Die Bildgegenstände muten an, als s­eien sie nur um ihrer selbst willen gezeigt; allein um rosiges Inkarnat, knisternde Stoffe oder duftende Blumen darzustellen. Es wundert daher kaum, dass sowohl in f­ rüh-­ästhetizistischen Schriften der Goncourts als auch in 25 Booth, Mark: Campe-­Toi! On the Origins and Definitions of Camp. In: Cleto, Fabio (Hg.): Camp. Queer Aesthetics and the Performing Subject. Edinburgh 1999, S. 69 – 70, hier S. 69. 26 Goncourt, 1881, Bd. I, S. 196. Übersetzung nach Goncourt, 1920, Bd. I, S. 172: „Das Hübsche ist in diesen Zeiten leichtfüßiger Geschichte Frankreichs Kennzeichen und Reiz. Das Hübsche ist das Wesen und die Formel seines Genius. Das Hübsche ist der Ton seiner ­Sitten. Das Hübsche ist die Schule seiner Moden. Das Hübsche ist die Seele der Zeit und ist der Genius Bouchers.“

Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp | 293

spät-­ästhetizistischen Parodien Max Beerbohms oder Beardsleys das Rokoko wiederholt aufgerufen wird. Doch auch den Künstlern und Literaten des 18. Jahrhunderts selbst ist ein bewusster Umgang mit parodistischen Motiven nachzuweisen. Die Goncourts stellen für die Bildkünste vor allem Watteau als frühen Kommentator des Ancien Régime im Bereich seiner fêtes galantes heraus.27 Hinter der Maske des Pierrots wird Watteau auch in der Imagination Walter Paters zum distanzierten Beobachter der Gesellschaft.28 Dieses „ironic detachment“ ist es, das Ken Ireland als einen Reiz des Rokoko beschreibt 29 und Kristin Mahoney als zentrales Charakteristikum dekadenter (Bild)sprache hervorhebt.30 Ebenso wird die Maske in beiden künstlerischen Strömungen zum Topos, der zugleich O ­ berfläche und Parodie ausdrückt. „Il fallait que l’amour devînt une tactique, la passion un art, l’attendrissement un piège, le désir même un masque, afin que ce qui restait de conscience dans le cœur du temps, de sincérité dans ses tendresses, s’éteignît sous la risée suprême de la parodie.“ 31

Bei den Goncourts wird die Maske gar zum Signum der libertinen Ästhetik, bei der Leidenschaft und Liebe hinter Erotik und Berechnung versteckt sind und die Parodie das einzige Mittel zu sein scheint, hinter der Pose der Herablassung über unangenehme Wahrheiten sprechen zu können. Das „être passionné sans sentiment“ 32 Crébillons wird von den Goncourts noch mit einem gewissen Unbehagen beobachtet, gewinnt in Beardsleys Zeitalter jedoch als ästhetischer Topos an Bedeutung und kann laut Booth sogar die Überlegenheit von Camp veranschaulichen.33 Auch der Dandy gibt sich schließlich hedonistisch bzw. libertin sämtlichen Versuchungen hin (oder deklariert dies zumindest), bleibt dabei jedoch stets scheinbar unbeteiligter Beobachter.34 Die Wahrnehmung des 18. Jahrhunderts als eine ­solche Ära der ironisch geprägten, emotionalen Distanz ergibt sich nicht zuletzt aus der Lektüre der Autoren, die ­dieses Weltbild in ihren Texten vermitteln. Parodie wurde in dieser Arbeit wiederholt als ­tradiertes Mittel libertiner Texte herausgestellt. Neben den wenigen Beispielen, von Voltaires Jeanne D’Arc-­Parodie La Pucelle (1752) bis zu Crébillons oder Diderots maskierter Kritik am höfischen Treiben hinter orientalistischen Erzählungen, die im Rahmen dieser Arbeit 27 28 29 30 31

Vgl. Goncourt, 1920, S. 63. Vgl. Pater, 1910, S. 33 f. Vgl. Ireland, 2006, S. 179. Vgl. Mahoney, 2015, S. 28. Goncourt, 1862, S. 161. Übersetzung nach Goncourt, 1986, S. 222: „Aus der Liebe mußte eine ­Taktik werden, aus der Leidenschaft eine Kunst, aus der Rührung eine Falle und aus dem Verlangen sogar eine Maske, damit alles, was im Herzen der Zeit noch an Gewissen und Aufrichtigkeit in ihren Zärtlichkeiten übrigblieb, unter dem schallenden Gelächter der Parodie erstickte.“ 32 Crébillon, 1736 – 38, S. 86. 33 Vgl. Booth, 1999, S. 76. 34 Vgl. Grundmann, 2010, S. 28.

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angeführt werden konnten, sei etwa Pierre Carlet de Marivaux (1688 – 1763) zu nennen, der sich gleich mehrere tradierte Stoffe der Mythologie vornimmt, um sie in burlesken Erzählungen neu zu inszenieren (Bsp: Le Télémaque travesti (1714) oder L’Homère travesti ou L’Iliade en vers burlesques (1715/16)).35 Das wichtigste Beispiel aus dieser europäischen Literaturströmung des 18. Jahrhunderts ist in Bezug auf Beardsley jedoch immer noch Alexander Popes Rape of the Lock, der sich ebenfalls homerischer Motive bedient, um höfische Oberflächlichkeit zu entlarven. Parodie ist somit im Sinne Stackelbergs unbedingt als Rezeptionsform anzusprechen.36 Diese kann unterschiedlichste Erscheinungsformen annehmen und ausdrücken: Wolfgang Karrer spricht zum einen von einer „Karikatur in zweiter Verdünnung“ 37 oder einem „Zeichen des Überdrusses“,38 macht jedoch zum anderen darauf aufmerksam, dass Parodie die ‚liebevolle Verehrung‘ (des Vorbildes) nicht ausschließt.39 Letzteres ist dabei die Form der Parodie, die mit Camp verbunden ist; eine Parodie, die nicht in Zynismus überzugehen droht und stattdessen beinahe zärtlich mit ihrer Grundlage umgeht.40 Ähnlich funktioniert die genuin parodistische Rezeptionsweise auch im Umfeld der englischen Dekadenz, wie es wiederholt in dieser Arbeit festgestellt werden konnte. Insbesondere die Selbstparodie bildet einen der bedeutendsten Faktoren dieser ästhetischen Strömung. Wie anhand der Werke Oscar Wildes und vor allem Max Beerbohms und Aubrey Beardsleys gezeigt wurde, blicken die Protagonisten der Yellow Nineties nur zu gern mit einem ironischen Lächeln auf die eigene artifizielle Selbstinszenierung, die von ihrem Publikum und ihren Kritikern oftmals ernster genommen wird als von ihnen selbst. Da diese selbstironische Haltung lange keine oder nur geringe Beachtung in der Forschung gefunden hat, scheint es umso verständlicher, dass Beardsleys Bilder zunächst als Objekte des Camp verstanden wurden: „a seriousness that fails“.41 In ihrer stilisiert extravaganten Bildsprache werden sie für Susan Sontag zum Gegenstand einer Camp-­ Wahrnehmung. Ob allerdings die Zeichnungen selbst Produkte einer Proto-­Camp-­Ästhetik sind, also eher intendierte Subjekte, lässt ihr Aufsatz offen.42 Meine Arbeit konnte auf dieser Ebene zeigen, dass Beardsley bewusst Mittel anwendet, die man heute dem Obergriff Camp zuordnen würde, und damit gleichermaßen Werke herstellt, die wiederum als campy wahrzunehmen sind.

35 36 37 38 39 40 41 42

Siehe hierzu: Stackelberg, 2009. Vgl. ebd. Karrer, Wolfgang: Parodie, Travestie, Pastiche. München 1977, S. 41. Ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. Shugart; Waggoner, 2008, S. 34. Sontag, 1999, S. 59. Shugart und Waggoner machen auf die meiner Meinung nach treffende Unterscheidung von „objects of camp“ und „camp subjects“ in Bezug auf Frauen aufmerksam. Als Objekt inkarnieren sie Camp auf eine unbewusste, naive Art und Weise (wie Mae West, die immer wieder als Beispiel herangezogen wird). Als Subjekt stellen sie ihre eigene campy Wirkung selbst her. Vgl. ebd. S. 28.

Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp | 295

Unter anderem gehört zu ­diesem Ergebnis, dass sich Beardsleys Parodie nicht nur auf sich selbst und seine Zugehörigkeit zu einer künstlerischen Strömung bezieht, sondern auch auf zeitgenössische normative Kategorien, die er immer wieder mithilfe von grotesken Übertreibungen zu unterwandern versucht. Dazu zählt vor allen Dingen Beardsleys eigener und innerbildlicher, fluider Umgang mit Geschlechtergrenzen. Der junge Zeichner inszeniert sich häufig mehr oder weniger in drag bzw. in Kleidung oder Körperformen, die sein eigentliches Geschlecht infrage stellen (Kap. 6.3). Hinzu kommen die Figuren in seinen Bildern, die entweder als androgyne Wesen erscheinen oder ihr Geschlecht wiede­ rum überbetonen. Damit lässt sich Beardsleys Schaffen abermals in einen der Camp-­ Wahrnehmung substanziellen und zudem subversiven Aspekt einordnen. Mehrfach ist in der Camp-­Forschung nach Sontags Essay kritisiert worden, die Autorin entsage der Ästhetik jegliche gesellschaftliche oder gar politische Relevanz, wenn sie schreibt: „It goes without saying that the Camp sensibility is disengaged, depoliticized – or at least apolitical.“ 43 Gerade die Hinterfragung normativer Geschlechterzuordnungen und Gender-­Kategorien ist es jedoch, die Camp zu einem Ausdruck subversiver Gedanken werden lässt, die auch meiner Meinung nach nicht in erster Linie politisch zu verstehen sein müssen, es aber über den Umweg der antibürgerlichen Gesellschaftskritik sein können. Auch auf dieser Ebene nutzt Camp parodistische Mittel, um diese Subversion zumeist in performativen Akten umzusetzen. Insbesondere die Travestie stellt hierbei einen bereits tradierten Topos des Camp dar, der spätestens seit Judith ­Butlers stets repetierter Erkenntnis, Geschlecht wäre nicht nur konstruiert, sondern auch s­tetig aufgeführt („performed“), immer wieder herangezogen wird, um die Klischees von Männlichkeit und Weiblichkeit ad absurdum zu führen.44 Problematisch sei zwar die Vorstellung einer Einheitlichkeit des Weiblichen, die offenbar der Kunst so mancher drag queen zugrunde liege,45 allerdings dient hierbei das Mittel der Übertreibung zugleich der Hinterfragung beider Geschlechter. Das Männliche löst sich unter der Maskerade des Über-­Weiblichen auf, das Weibliche wird – verdichtet zur Karikatur – in seiner Konstruiertheit offenbart. Im Kapitel über Androgyn und Travestie konnten vergleichbare ­Vorgehensweisen und Ergebnisse vor allem in Beardsleys Umsetzung von Gautiers ä­ sthetizistischer Grenzauflösung der Geschlechter hin zum idealen Androgyn aufgezeigt werden. Der Androgyn, der auch von Sontag als eine Inkunabel des Camp bezeichnet wird,46 spielt für ­Beardsleys Ästhetik im Ganzen und die Gautier-­ Illustrationen im Speziellen eine wichtige Rolle. Zunächst lässt er eine möglicherweise wertende Gewichtung ­zwischen weiblicher oder männlicher Travestie vollkommen hinter sich, wenn er die Charaktere von G ­ autiers Erzählung beinahe ununterscheidbar in fantasievollen Kostümen auftreten lässt, die ihre Körperformen aufs Neue gestalten, 43 Sontag, 1999, S. 54. 44 Vgl. Shugart; Waggoner, 2008, S. 14. 45 Vgl. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London, New York 2014 (London, New York 1990), S. 175. 46 Vgl. Sontag, 1999, S. 56.

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negieren oder ­hervorheben, und von einer ­historischen Mode geprägt sind, die gemeinhin dem Femininen den Vorzug zu geben scheint. In der sartorialen Transformation, die die Mode des Ancien Régime erlaubt, parodiert Beardsley nicht nur Geschlechtlichkeit, sondern zugleich den idealistischen Topos des Androgyn, der am Ende des Jahrhunderts zu einer Schablone des Ästhetizismus geworden ist und sich zudem zu einem Erkennungszeichen der homosexuell geprägten Bohème entwickelt hat.47 Dass die englischen 1890er Jahre bis heute einen Wendepunkt in der Geschichte der Homosexualität darstellen, muss wohl kaum mehr betont werden. Insbesondere die Verurteilung Oscar Wildes 1895 bringt die bis dato florierende Subkultur 48 der h ­ omosexuellen Künstler, Literaten und Intellektuellen mit einem Schlag in die breite Öffentlichkeit. Bereits zuvor wird der ‚effeminierte Mann‘ indes als ein ‚Symptom‘ der vermeintlich kulturellen und gesellschaftlichen „Entartung“ (Nordau) diffamiert. Eine weitaus bedeutendere Entwicklung, die mit den Wilde-­Prozessen einhergeht, ist jedoch die enge Verknüpfung von Künstlertum und Homosexualität, die durch Wildes Inszenierung vor Gericht voran­ getrieben wird. Christopher Reed macht in seiner Studie zu Kunst und Homosexualität besonders auf diesen Wendepunkt aufmerksam. In der Berichterstattung von den Prozessen offenbaren Wildes geistreiche Äußerungen ein vermeintliches Paradigma der homosexuellen Identität.49 „[T]he prosecution of Wilde and his writings seemed finally to reveal homosexuality as the secret for which art is the symptom.“ 50

Im Zuge dessen wird auch der Begriff ‚Ästhet‘ quasi gleichgesetzt mit dem des Homosexuellen.51 Nachvollziehbar wird diese Entwicklung unter anderem anhand der bereits erwähnten Studie von Havelock Ellis und J. A. Symonds über „Das konträre Geschlechtsgefühl“ 1895/96, in der ersterer auf die größere Qualifizierung homosexueller Männer für künstlerische Tätigkeiten aufmerksam macht. „Eine genaue Prüfung meiner Fälle ergiebt die überraschende Thatsache, dass bei 22, also bei 66 %, künstlerische Fähigkeit verschiedenen Grades vorkommt. […] Musikalische Menschen sind unter ihnen sehr häufig. Drei sind Schauspieler und von den übrigen haben mindestens zwei von Kindheit an ausgesprochenes Talent für die Bühne. Eine ausgesprochene Neigung für Naturwissenschaften fand sich keinmal, obgleich drei der Fälle Mediciner betreffen.“ 52

47 Vgl. Busst, A. J. L.: The Image of the Androgyne in the Nineteenth Century. In: Fletcher, Ian (Hg.): Romantic Mythologies. London 1967, S. 1 – 95, hier S. 55. 48 Vgl. Core, 1984, S. 198. 49 Vgl. Reed, 2011, S. 94. 50 Ebd., S. 96. 51 Vgl. ebd., S. 2 – 3. 52 Ellis; Symonds, 1896, S. 227 f.

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Auch wenn Ellis hier nicht gerade eine repräsentative Anzahl von Fallbeispielen zur Unterstützung seiner Beobachtung anführen kann, sei dennoch auf die Prägung eines Klischees hingewiesen, welches sich in diesen Jahren herausbildet. Dem homosexuellen Mann (nicht aber der homosexuellen Frau) wird eine grundlegende Disposition zum Künstlertum unterstellt. Dies erklärt Ellis insbesondere in Bezug auf die Schauspielkunst mit dem Umstand, dass „die Konträren“ ihr Leben lang gezwungen s­ eien, zu schauspielern, um ihre sexuelle Orientierung nicht zu offenbaren – dies umso bedeutsamer in einer Zeit, in der Homosexualität noch unter harter Strafe steht.53 Zudem sieht Ellis die homosexuelle Psyche als einen weiteren Auslöser für das möglicherweise stärker ausgeprägte künstlerische Talent als bei heterosexuellen Menschen: „… die geborenen Invertierten können meiner Meinung nach als Träger von Nerveneigenschaften betrachtet werden, die sie bis zu einer gewissen Grenze Personen mit künstlerischem Talent nahebringen.“ 54

Als wissenschaftliche These und mit empirischem Anspruch gelesen, überzeugt Ellis Vorschlag aus heutiger Sicht zunächst nur bedingt, doch sei ihm vor allem ein wohlwollendes Verständnis von Homosexualität zugesprochen, das für das ausgehende 19. Jahrhundert und im Jahr der Wilde-­Prozesse durchaus revolutionär zu nennen ist. „Das konträre Geschlechtsgefühl“ ist für die Verbindung von der Kultur der englischen Dekadenz hin zur Konzeption von Camp insofern relevant, als dass Ellis hierin vorformuliert, was Susan Sontag später als die ‚Aristokratie des Geschmacks‘ bezeichnen soll. „But since no authentic aristocrats in the old sense exist today to sponsor special tastes, who is the bearer of this taste? Answer: an improvised self-­elected class, mainly homosexuals, who constitute themselves as aristocrats of taste.“ 55

Bereits früh in dieser Arbeit wurde in Bezug auf die Goncourts und ihre Nachfolger im Bereich der Sammelleidenschaft für Werke des 18. Jahrhunderts in Rekurs auf Sontags Formulierung von „Aristokraten des Geschmacks“ gesprochen. Dabei habe ich den Begriff ausgeweitet auf eine Verschiebung des stilbildenden Geschmackspostulats des Adels hin zu einem dandyistisch geprägten Schönheitsempfinden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Dandy in seinen unterschiedlichsten Modulationen wird in der nachaufklärerischen Epoche zum Ersatz des Aristokraten in Bereichen der Selbstinszenierung und Festlegung von Moden. Dandytum und Homosexualität bzw. eine Form der queerness fallen derweil häufig in eins. Insbesondere männliche Homosexualität wird also bereits Ende des 19. Jahrhunderts als eine mögliche Basis für künstlerische Ausdruckskraft und die Fähigkeit für die Ausprägung eines distinguierten Geschmacks angesprochen. Diese Formel 53 Vgl. ebd., S. 228. 54 Ebd., S. 228. 55 Sontag, 1999, S. 64.

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gewinnt im Laufe des 20. Jahrhunderts und im Zuge der Enttabuisierung von Homosexualität an Kraft und dürfte bis heute einen großen Teil der (Selbst)Wahrnehmung der schwulen Kultur bestimmen. Bestätigt wird diese Annahme nicht zuletzt von Richard Dyer in seinem Buch „The Culture of Queers“ (2002), in dem er sich hundert Jahre nach Ellis immer noch die Frage stellt, warum gerade homosexuelle Männer die gesellschaftliche Rolle der Meisterschaft über Stil und Kunst zugedacht bekommen. „Because we had to hide what we really felt (gayness) for so much of the time, we had to master the façade of whatever social set-­up we found ourselves in – we couldn’t afford to stand out in any way, for it might give the game away about our gayness. So we have developed an eye and an ear for surfaces, appearances, forms: style. Small wonder then that when we came to develop our own culture, the habit of style should have remained so dominant in it.“ 56

Homosexualität und ein unbestimmtes Empfinden für Stil und Inszenierung sind somit derart verbunden, dass auch sämtliche Publikationen über Camp diesen Fakt nicht außen vor lassen oder Camp sogar mit homosexueller Ästhetik gleichsetzen. Ich möchte indes Susan Sontag zustimmen, wenn sie schreibt: „While it’s not true that Camp taste is homosexual taste, there is no doubt a peculiar a­ ffinity and overlap.“ 57

Auch in meinem Verständnis des Begriffs – und wohl auch in einer zeitgemäßen Auslegung – soll die sexuelle Orientierung der- oder desjenigen, der/die Camp ausübt oder verkörpert, an zweiter Stelle der Analyse stehen. Ansätzen wie dem von Philip Core (1984), dass Camp stets ein persönliches Geheimnis (sexuelle Orientierung) meint, das zugleich verborgen und instrumentalisiert werden will, möchte ich widersprechen,58 da dies Camp auf eine psychoanalytisch verstandene Äußerung von Leidensdruck beschränkt und sein subversives Potenzial verringert. Sicherlich ist eine nicht-­normative sexuelle Orientierung ein wichtiger Aspekt der Camp-­Historie, soll jedoch insbesondere für den Vergleich von Beardsleys Werken und der Kultur des 18. Jahrhunderts nicht primär analysiert sein. Es sei hauptsächlich auf Beardsleys enge Verbindung zu einer queeren Kultur avant la lettre hingewiesen, die seine dem Camp nahestehende Ästhetik ungemein prägt. Eine weitere Ebene, auf der Camp dienlich sein kann, die Kunst des 18. Jahrhunderts mit Beardsleys Interesse an selbiger zu beschreiben, ist die Liebe zur Übertreibung und zum

56 Dyer, Richard: The Culture of Queers. London, New York 2002, S. 59. 57 Sontag, 1999, S. 64. 58 Vgl. Core, 1984.

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Artifiziellen.59 Diese vereint in sich sowohl den parodistischen- als auch den Travestie­ aspekt von Camp: Übertreibung ist ein Modus der Parodie und Karikatur und dient ebenso als Überbetonung sexueller Charakteristika in der Verkleidung, wie es bisher beschrieben wurde. Susan Sontag sieht die Wurzeln für diesen Aspekt erneut in der Kultur des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, „because of that period’s extraordinary feeling for artifice, for surface, for symmetry“.60 Zwar zeichnet sich das Rokoko durch eine genuine Abkehr vom Pathos des Barock aus und kann somit historisch nicht unbedingt als reiner Ausdruck des Übertriebenen angesehen werden, jedoch sind es einzelne Bestandteile dieser Kultur, wie die Bizarrerie der Rocaille oder die Extravaganzen der Mode, die spätestens seit dem viktorianischen Zeitalter der Zurückhaltung als zu extravagant kritisiert werden: „Un sublime fait d’emphase, de pompe, de dignité, avait ébloui l’esprit de la France“ schreiben schon die Goncourts.61 Im Gegensatz zum bürgerlichen Zeitalter (und auch noch heute) wirkt alles am Rokoko „zu viel“, weshalb sich diese Kunst wiederum in der Camp-­Auffassung verorten lässt. „Camp is art that proposes itself seriously, but cannot be taken altogether seriously because it is ‚too much.‘“ 62

In der Kunst des Rokoko ist ­dieses „too much“ insbesondere die oftmals vorgeworfene Überfeinerung seiner Gesellschaft, in der Affektiertheit und Pose mehr bedeutet als Wahrheit und Natürlichkeit.63 Mehrfach habe ich darauf hingewiesen, dass diese kritisierte aristokratische Verhaltensweise im Laufe des 19. Jahrhunderts für zahlreiche Künstler und Intellektuelle zu einer Selbstinszenierungsstrategie umgedeutet wird, die sich gegen bürgerliches Maß richtet. Meiner Meinung nach ist dieser Akt der Umdeutung des zuvor Kritisierten eine Camp-­Handlungsweise; das vermeintlich Geschmacklose oder Unzeitgemäße wird dabei zum Non plus ultra einer devianten Ästhetik.64 Beardsley selbst nutzt Übertreibung sowohl im artifiziellen Sinne des Rokoko als auch im Modus der Parodie und Karikatur, wie er dies aus der englischen Tradition kennt. Die formale Extravaganz, die der Zeichner in die Kostüme seiner Figuren und in seine teils überfüllten Kompositionen ab 1896 integriert, ergibt sich aus der skizzierten Entwicklung in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, die postuliert, dass sich Form und Inhalt bzw. Form und Funktion nicht zwangsläufig gegenseitig bedingen. Von St. Yenne oder C ­ aylus als ein Symptom des künstlerischen Verfalls gedeutet, von de Piles ausgehend jedoch durchaus 59 Vgl. Sontag, 1999, S. 56. 60 Ebd., S. 57. 61 Goncourt, 1881, Bd. I, S. 195. Übersetzung nach Goncourt, 1920, Bd. I, S. 171: „Ein verstiegener Ton von Übertreibung, Pomp und hohler Würde hatte Frankreichs Geist verblendet.“ 62 Sontag, 1999, S. 59. 63 Vgl. Brewer, 2013, S. 5 f. 64 Vgl. Sontag, 1999, S. 60.

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als Qualität hervorgehoben, kann die Form – also die Farbe in der Malerei, die Linie in der Zeichnung etc. – unabhängig vom Dargestellten bewertet werden. Es ergeben sich daraus formale Experimente insbesondere im Bereich der Entwurfszeichnung, die als e­ rstes Medium die Rocaille hervorbringt: die „Continuing Curve“, w ­ elche sich nach dem Ausstellungskatalog des Smithsonian Museum mindestens bis in den Jugendstil, wenn nicht bis heute, im Kunstgewerbe fortsetzt.65 Die Verbindung von Rokoko und Art Nouveau manifestiert sich vordergründig in der Betonung der geschwungenen, extravaganten Linie, die sich keiner Symmetrie unterwirft, sowie im Bestreben einen Stil zu kreieren, der zumindest das Interieur zu einer ästhetischen Einheit bringt. Unter dem Primat der Oberfläche muss in beiden Stilen selbst die Natur formalisiert werden. Dies scheint zunächst augenfälliger in den Ornamenten des Jugendstils, doch auch die Stuckaturen und Pastoralen des 18. Jahrhunderts sind komponierte Natur. Darin entspricht die Natur-­Künstlichkeit von Art Nouveau und Rokoko in ähnlicher Weise der Rolle, die Natur im Camp-­Kosmos einnimmt. Es ist eine Natur ohne störende Insekten oder Grasflecken auf der Kleidung, denn sie ist nie echt.66 Diese formale Loslösung vom rousseauschen Ruf nach dem „Zurück zur Natur!“ ist für die dekadente Ästhetik von zentraler Bedeutung und erklärt gleichsam deren Hinwendung zum Ancien Régime, wo sich der Aristokrat gerade durch seine Abkehr bzw. Modifizierung vom Ländlichen/Natürlichen distinguiert. Dies führt zu einer Übertreibung oder Überfeinerung von Manieren, Kleidung und den Künsten, die das Leben des Adels und später des Dandys gestalten. Beardsley, den auch ich als den bedeutendsten Vorreiter des Jugendstils verstehe, ist somit einer derjenigen, der in seinen Arbeiten immer wieder die formale Extravaganz des Rokoko aufruft und damit die Formensprache des Art Nouveau stark prägt. Künstlichkeit wird bei ihm zum legitimen Topos, der zuweilen mit einem „tongue-­in-­cheek“-Habitus eingesetzt wird. Auch die oberflächliche Qualität seiner Zeichnungen, allein aufgrund ihrer formalen Könnerschaft zu gefallen, unterwandert Beardsley, indem er den Inhalt erst auf der zweiten oder dritten Wahrnehmungsebene entwickelt, wie dies die Analysen dieser Arbeit gezeigt haben. Darin entspricht Beardsleys Einsatz von Formalismus und Übertreibung eher einer englischen Kunsttradition. Auch Hogarth will seine malerische wie grafische Raffinesse vordergründig wahrgenommen wissen und entwickelt hierfür sogar den theoretischen Unterbau seiner berühmten Analysis of Beauty (1753), in der nicht zuletzt die geschwungene Linie das Zentrum der gelungenen Figurenerfindung bildet. Im zweiten Schritt ist er jedoch Moralist, der mit den Mitteln der Übertreibung die sittlichen Mängel seiner Zeitgenossen aufzeigt.67 Letzteres gilt zwar für Beardsley nicht, doch parodiert auch er seine künstlerischen Mitstreiter, sein Publikum und immer wieder sich selbst. Hinter der Oberfläche der schwarz-­weißen Linienkunst offenbart sich erst für den verständigen 65 Vgl.: Ausst.-Kat.: Rococo: The Continuing Curve, 1730 – 2008. Smithsonian’s Cooper-­Hewitt, National Design Museum, New York, 2008. 66 Vgl. Sontag, 1999, S. 55. 67 Vgl. Busch, 1993, S. 244.

Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp | 301

Rezipienten der ganze Inhalt der Bilder. Beardsley rechnet so mit einem Publikum, dem er selbst angehört, anders als Hogarth also. Dabei hat die englische Karikatur-­Tradition gewichtige Einflüsse auf Beardsleys Schaffen, der immer wieder auf übertriebene Gegenüberstellungen von Groß und Klein, Dick und Dünn oder Alt und Jung zurückgreift, die jeweils mindestens eine der beteiligten Figuren ins Lächerliche ziehen. Der späte Ästhetizismus Beardsleys ist also insofern camp, als er seiner eigenen Künstlichkeit permanent den Spiegel vorhält. Im Gegensatz zum Ästhetizismus der vorangegangenen Generation aber handelt es sich bei Beardsleys Vorgehensweise um den bewussten Einsatz von Camp-­Motiven avant la lettre. Seine Bilder nehmen das „zu viel“ des Rokoko an, um das „zu viel“ der eigenen ästhetischen Tradition (liebevoll) zu parodieren. Dabei bedient sich der junge Zeichner nicht nur an Vorbildern der sogenannten Hochkunst, sondern greift wiederholt zurück auf Quellen, die sich dem musealen Raum entziehen. „High art is work sanctioned by the elite structure of museum culture, which protects its subject matter from censorship by philistines, prudes, and policemen. Low or popular art, on the other hand, is defined not only by its theoretical accessibility to all purchasers […] but also by its subject matter, which outside the academy, is open to the charge of ‚lewdness‘.“ 68

Vor allem letzteres ist es, was Beardsley kontinuierlich an Werken interessiert, die nicht dem Kanon angehören. Solche lassen sich gewiss für den gesamten Verlauf der (Kunst-) geschichte nachweisen, besonders interessieren sollen jedoch die erotischen bis pornografischen Stiche des 18. Jahrhunderts, die Beardsley nicht nur sammelt, sondern auch direkt oder indirekt in seine Zeichnungen einfließen lässt, wie dies anhand mehrerer Beispiele gezeigt wurde. Dies macht ihn in Teilen zu einem ‚Kenner des Camp‘. „The connoisseur of Camp has found more ingenious pleasures. Not in Latin poetry and rare wines and velvet jackets, but in the coarsest, commonest pleasures, in the arts of the masses.“ 69

Auch die Liebe für das bric-­à-­brac des Frisiertisches, die sich ausgehend von der Ästhetik der Goncourts in den Arbeiten Beardsleys fortsetzt, lässt sich (wenn auch in strenger Kritik) laut Andrew Britton in die Camp-­Sichtweise einordnen. „The camp attitude is a mode of perception whereby artefacts become the object of an arrested, or fetishistic, scrutiny. […] The passage from ‚determinate object‘ to ‚fetish‘ preserves the objects safely and reassuringly in a vacuum.“ 70

68 Janzen Kooistra, 2003, S. 177. 69 Sontag, 1999, S. 63. 70 Britton, Andrew: For Interpretation. Notes Against Camp. In: Cleto, Fabio (Hg.): Camp. Queer Aesthetics and the Performing Subject. Edinburgh 1999, S. 136 – 142, hier S. 140.

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Beardsley konnte ebenfalls ein Gespür für Exklusivität nachgewiesen werden und in zentralen Bereichen seiner Selbstinszenierung ist er noch stark der dandyistischen Tradition verhaftet, von welcher Sontag den ‚Kenner des Camp‘ unterschieden wissen will. „The dandy was overbred. His posture was disdain, or else ennui. He sought rare sensations, undefiled by mass appreciation. […] Where the dandy would be continually offended or bored, the connoisseur of Camp is continually amused, delighted. The dandy held a perfumed handkerchief to his nostrils and was liable to swoon; the connoisseur of Camp sniffs the stink and prides himself on his strong nerves.“ 71

Ähnlich wie Wilde, den Sontag als „transitional figure“ bezeichnet,72 möchte ich auch Beardsley in seiner Neigung zum Vulgären (wir denken an furzende Damen, raufende und pinkelnde Zwerge), die stets mit einer parfümierten Gewächshausatmosphäre gepaart ist, als solch eine Figur ­zwischen Dandy des 19. Jahrhunderts und Camp-­Kenner des 20. Jahrhunderts verstanden wissen. Als Illustrator und Plakatkünstler setzt er sich nicht zuletzt in seiner k­ urzen Stellungnahme zu „The Art of Hoarding“ (1894) dezidiert für eine Kunstform ein, die jedem zugänglich im öffentlichen Raum stattfindet, was die etablierten Hierarchien im Kunstbetrieb hinterfragt. „The world of camp then serves to deconstruct the cult of seriousness and ‚values‘ that sought to fill the gap produced by the fading of religion and traditional class society in the West.“ 73

So allumfassend beschreibt es Wayne R. Dynes in seinem Lexikoneintrag zu Camp und beschreibt damit zugleich das ausgehende 19. Jahrhundert als eine Zeit des Übergangs von viktorianischem Zeitalter mit seinen Normen und moralischen Codes hin zur Moderne, die Devianz als Grundlage jeglicher Kunstausübung annehmen wird. Beardsley und seine Zeitgenossen sehen sich noch in der Pflicht, gegen gesellschaft­ liche Restriktionen aufzubegehren, dies allerdings in einer dieser Gesellschaft angepassten Subversion. Das Handwerkszeug des englischen wit bietet dafür die geeignete Plattform. Wenn Sontag Pope und Congreve als bedeutende Vorläufer des Camp ansieht und Philip Core The Rape of the Lock wegen seiner „elevation of the trivial“ 74 zu einem Meisterwerk des Camp erklärt, sprechen sie dabei von nichts anderem als deren Fähigkeit zu wit, also geistreicher Konversation übertragen in die Kunst. Unerwartete Anspielungen und Zusammenhänge wurden als konstitutiv für wit herausgestellt und führen so zu einer Form der Rezeption in Kunst und Literatur, die sich an Quellen außerhalb des Kanons orientiert und so die Leserinnen oder Betrachtenden auf ihre Fähigkeit des Erkennens entlegener 71 Sontag, 1999, S. 63. 72 Ebd. 73 Dynes, Wayne R.: The Encyclopedia of Homosexuality. Oxon, New York 1990, S. 190. 74 Core, 1984, S. 152.

Parodie und Übertreibung – Rokoko, Beardsley, Camp | 303

Vorbilder testet und sie danach zum Lachen und Nachdenken über die erkannten Allusionen bringt. Beardsley wurde und wird häufig in Begriffen beschrieben, die ihn in einen vermeintlich kontinuierlichen Entwicklungsprozess des 19. Jahrhunderts hin zur klassischen Moderne einzufügen versucht. Daher wurden in den bisherigen Monografien auch eher die in diese Fortschrittsvorstellung passenden Aspekte seines Œuvres analysiert: der Japonismus, die deviante Selbstinszenierung oder Tendenzen zur Abstraktion. Die Rokoko-­Rezeption lässt sich indes nicht in diese Konzepte einer aufbrechenden Moderne einbetten, wie Core dies in Bezug auf ein neuerliches Neo-­Rokoko der 1930er Jahre feststellt: „This taste, its creators and adherents, dominated the non-­intellectual productions of the 1930s and was the force behind many developments which we still appreciate but cannot tally with the revolutionary Modernism of the period.“ 75

Der Camp-­Begriff kann ­dieses Unbehagen in Bezug auf einen Teil des beardsleyschen Werkes möglicherweise aufweichen, indem er auf die Vereinbarkeit von moderner Ästhetik und der Hinwendung zu einem vermeintlich unzeitgemäßen Stil hinweist. Meine Analysen und Interpretationen einzelner Beispiele von Beardsleys Rokoko-­ Rezeption dienten vor allem dazu, das Werk eines der meist besprochenen Künstler des späten englischen 19. Jahrhunderts sowie des grafischen Mediums allgemein unter einem Gesichtspunkt zu betrachten, der bisher so gut wie keine Rolle in der Forschung spielte. Ich habe veranschaulicht, wie sich die Rezeption des 18. Jahrhunderts sowohl in eine Kontinuität des romantischen 19. Jahrhunderts einfügt, als auch Beardsleys Zeitgenossenschaft widerspiegelt. Daher wird am Schluss dieser Arbeit nun ein Ausblick auf die Folgen dieser künstlerischen Aneignung gewagt, der wiederum neue Forschungsfragen stellen lässt.

75 Ebd., S. 137.

10 Ausblick

Ich habe gezeigt, in ­welchen unterschiedlichen Facetten Aubrey Beardsley die Ästhetiken, Künste und Kulturen des langen 18. Jahrhunderts produktiv synthetisiert und in sein eigenes Werk integriert. Dabei nutzt der Zeichner sowohl kunsttheoretische Modi wie auch motivische Anleihen der vergangenen Epoche, um das eigene Schaffen und die eigene Zeitgenossenschaft zu kommunizieren und zu kommentieren. Während sich ähnliche Vorgehensweisen in der literarischen Produktion des Decadent Movement aufzeigen ließen, fehlte in der Bildkunst der Zeit bislang der Nachweis einer solchen Rokoko-­Rezeption. Es scheint, als handle es sich bei Beardsleys Vorliebe für das 18. Jahrhundert um eine in ­diesem Umfeld individuelle künstlerische Entscheidung, die maßgeblich von literarischen Einflüssen geprägt ist. Auch außerhalb Englands ließen sich für den betrachteten Zeitraum keine vergleichbaren Bildwerke finden. Lediglich im Bereich der Salonmalerei oder dem zeitgenössischen Kunstgewerbe ist die dargestellte Begeisterung des (Groß)bürgertums zu Repräsentationsformeln des Rokoko zu erkennen. In einer ähnlichen Konsequenz wie Beardsley den Motivschatz des 18. Jahrhunderts im grafischen Medium (auch unabhängig von der literarischen Grundlage) immer wieder repetiert, stellt sich sein Œuvre als einzigartig am Ende des 19. Jahrhunderts dar. Für die Zeitgenossen erscheint Beardsleys Rokoko-­Rezeption als eine Hinwendung zu einem vermeintlich akzeptableren Vorbild im Gegensatz zu seinen vorherigen Quellen (japanischer Kunst etwa) und auch in Monografien des 20. Jahrhunderts bleibt es bei einer solchen Bewertung dieser Werkphase, wie mehrfach gezeigt werden konnte. Da es sich bei Beardsleys Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert um eine eher singuläre Erscheinung im Umfeld des Künstlers handelt, fiel es den meisten Autorinnen und Autoren bisher schwer, sowohl die Beweggründe als auch die daraus resultierenden Interpretationsansätze zu eruieren. Dass sich Beardsleys persönliches rococo-­revival jedoch durchaus in dekadente Topoi integrieren lässt, hat die vorliegende Arbeit an mehreren Beispielen verdeutlicht. Nicht zuletzt die gewählte kulturelle Nähe zu Frankreich, w ­ elche Beardsleys Kunst und Selbstinszenierung stets prägt, ist dabei ein entscheidender Faktor, wenn es um die Grundlagen für ein Interesse am 18. Jahrhundert geht, welches sich in Abgrenzung zu kulturellen Werten des viktorianischen Zeitalters begreift. Im Weiteren s­ eien allerdings einige exemplarisch ausgewählte Künstlerfiguren angeführt, die sich im Umkreis Beardsleys ebenfalls durch eine Annäherung zum 18. Jahrhundert auszeichnen. Der einzige bekannte Zeitgenosse und Landsmann Beardsleys, der ebenfalls im Bereich der Bildkünste insbesondere das französische 18. Jahrhundert rezipiert, ist Charles Conder (1868 – 1909), auf dessen Illustration von Verlaines Gedicht „Mandoline“ im Savoy ich bereits hingewiesen habe (Abb. 9). Der Engländer, der seine Jugend in Australien verbringt und dort einer der Protagonisten der berühmten Heidelberg School des australischen Impressionismus wird, zieht 1890 zurück nach Europa, wo er

Ausblick | 305

sich in Paris und Dieppe ebenso heimisch fühlen wird wie in London.1 Insbesondere diese zweite Werkphase Conders ist geprägt durch einen dezidierten Rückgriff auf Bildformeln der frühen fêtes galantes Watteaus und seiner Schüler. Dabei überträgt Conder die traumwandlerischen Paare aus den kytherischen Gärten auf Seidenstoffe und Fächer, was seine Malerei einmal mehr mit der Eleganz und Mode des Ancien Régime verknüpft. In der Forschung ist Conders Œuvre bisher nur wenig beachtet worden. Nach seinem frühen Tod 1909 erscheinen zunächst eine erste Monografie mit Werkverzeichnis von Frank Gibson (1914)2 und mehr als 20 Jahre später eine etwas detailliertere Monografie von John Rothenstein, Sohn des Malers William Rothenstein und jüngst Direktor der Londoner Tate Gallery.3 Er beschreibt Conders Kunst zunächst mit beinahe denselben Phrasen, wie sie Walter Pater oder die Goncourts für Watteaus Gemälde gebraucht haben (Kap. 2.1 und 2.2). „Conder created an Arcadia peopled by dreamy, capricious figures who lead lives of luxurious idleness. […] Scented breezes may stir their garments, but they know neither wind nor rain. […] But there is a wistfulness, sometimes in their glances; their laughter ceases, they seem to grow weary of their own perfection, of being without past or future.“ 4

Die Dichotomie von Eleganz und Melancholie, die den Watteau-­Diskurs im 19. Jahrhundert durchdringt, ist auch in dieser Beschreibung Conders virulent. Durch die enge intellektuelle Verwandtschaft, die Rothenstein gleich zu Beginn seines Buches für ­Conder und die Maler der fêtes galantes attestiert, erklärt der Autor auch die Vergessenheit, der beide anheimgefallen sind. Wie Watteau, Boucher und Fragonard von den gesellschaftlichen Umstürzen der Französischen Revolution und dem damit einhergehenden Klassi­ zismus Davids vom kunsthistorischen Olymp verbannt worden sind, so kann sich laut ­Rothenstein auch die Kunst Conders mit ihrer Vorliebe für den Müßiggang der high society nach dem Trauma des E ­ rsten Weltkriegs nicht mehr behaupten.5 Im Gegensatz zu Beardsley, dessen Werk noch bis in die 1930er Jahre recht kontinuierlich rezipiert wird, ist der Name Charles Conder weitestgehend in Vergessenheit geraten. Die beiden Künstler begegnen sich mehrfach im Laufe der 1890er Jahre, dies vor allem in Dieppe, wo Conder den Strand und dessen Flaneure studiert und Beardsley vom Trubel der Casinos angezogen wird. In dieser Gegenüberstellung wird bereits die vor allem in der älteren Literatur gezeichnete Differenz z­ wischen den beiden Persönlichkeiten offenbar. In Rothensteins 1 2 3

4 5

Vgl. Galbally, Ann: Charles Conder: a fin-­de-­siècle enigma. In: Ausst.-Kat.: Charles Conder. ­Sydney, Art Gallery of New South Wales, 2003, S. 43 – 54, hier S. 43. Vgl. Gibson, Frank: Charles Conder. His Life and Work. London, New York, Toronto 1914. Vgl. Rothenstein, John: The Life and Death of Conder. London 1938. Erst in den frühen 2000er Jahren kommt es unter der Feder der australischen Kunsthistorikerin Ann Galbally zu zwei Publikationen, die nunmehr den neuesten Forschungsstand zu Charles Conders Gesamtwerk darstellen. Vgl. Ausst.-Kat.: Charles Conder. Sydney, Art Gallery of New South Wales, 2003; Galbally, Ann: Charles Conder. The Last Bohemian. Melbourne 2004. Rothenstein, 1938, S. XIV. Vgl. ebd., S. XVI.

306 |  Ausblick

Beschreibung der beiden kränkelnden Künstler, die 1897 zum letzten Mal in Dieppe aneinander gebunden sind, wirkt Beardsley – sonst Held sämtlicher Monografien über die englischen 1890er – beinahe unsympathisch neben dem vermeintlich ‚natürlicheren‘ Künstlertypus Conder. „To the invalid with scarcely a year to live, attired in tidy black, or sometimes discreetly debonair grey, the spectacle of the other, lounging in a Caldecottish rig-­out – stock, check coat, riding breeches, boots, and spurs […] – with the sea for background, seemed tasteless, and tastelessness he found the least forgivable of all sins. And in the eyes of the adventurous lover, the invalid’s literary obscenities were mere schoolboy nastiness, which not even their ingenuity and dazzling polish notably redeemed. […] Conder was the more natural and inventive artist of the two and Beardsley learnt more from him than he taught him.“ 6

Deutlich versucht Rothenstein hier, Conder als neuen, zu Unrecht vergessenen Helden der 1890er zu stilisieren und spricht Conder gar einen größeren Einfluss auf Beardsley zu, als es umgekehrt der Fall gewesen sein könnte. Dabei handelt es sich um eine Fragestellung, der es in zukünftigen Forschungsansätzen nachzugehen gilt. Sicher ist, dass Conder bereits 1893 seinen ersten Fächer ausstellt und sich seitdem immer wieder mit dem Format und dessen Verbindung mit den Sujets des 18. Jahrhunderts beschäftigt.7 Bei der Betrachtung dieser Arbeiten tauchen wiederholt Motive auf, derer sich auch Beardsley stetig bedient, wie die Maske oder der Pierrot. Frank Gibson postuliert, obwohl er in der Einleitung zu seiner Monografie Conders Werk qualitativ über das Beardsleys stellen will,8 ebenfalls eine Beeinflussung Conders durch Beardsleys Linienkunst.9 Trotz der evidenten gemeinsamen „Nostalgie“, die beide Künstler für das 18. Jahrhundert hegen, wird jedoch in Rothensteins Biografie anhand von Briefen nachvollzogen, dass zumindest Beardsley wahrscheinlich nur wenig von den Werken Conders hält. Nachdem letzterer sechs Holzschnittillustrationen zu der auch von Beardsley bewunderten Erzählung La Fille aux yeux d’or von Balzac angefertigt hat, bittet Leonard Smithers Beardsley um den Entwurf für eine Umschlaggestaltung des bei ihm erscheinenden Bandes. Beardsley reagiert darauf wie folgt: „… I have been thinking about the cover to Conder’s book and I feel that the relations that exist between us (humanly and artistically) stand very much in the way of any collaboration in La Fille aux Yeux d’Or. Whatever may be my private feelings against him, my artistic conscience forbids me to add any decoration to a book which he has illustrated …“ 10

6 7

Ebd., S. 136. Vgl. Galbally, Ann: Fans. In: Ausst.-Kat.: Charles Conder, Sydney, Art Gallery of New South Wales, 2003, S. 159 – 161, hier S. 160. 8 Vgl. Gibson, 1914, S. 7. 9 Vgl. ebd., S. 59. 10 Aubrey Beardsley an Leonard Smithers, 29. Oktober 1895. Zitiert nach: Rothenstein, 1938, S. 127. Der Brief stammt aus der Korrespondenz ­zwischen Beardsley und Smithers, wie sie ein Jahr vor

Ausblick | 307

Einmal mehr fügt sich die Erwähnung dieser Anekdote in Rothensteins offensichtliches Anliegen, Conder gegen Beardsley als Apologeten der Epoche zu rehabilitieren. Dennoch ist eine s­olche Haltung des sich selbst nur zu gern als snobistischen Gebieter über die Linie inszenierenden Beardsley durchaus denkbar. Betrachtet man den Brief als authentisch, dürfte er von Beardsleys Anliegen künden, sich in vielerlei Hinsicht als Unikum zu präsentieren (was ihm auch gelungen ist). Er möchte nicht allzu sehr mit Conder in Verbindung gebracht werden, der ihm motivisch und medial zu nahesteht und ihm damit seines Alleinstellungsmerkmals berauben könnte. So wäre es eine vielversprechende Fragestellung, inwiefern Conder und möglicherweise noch andere, bis heute unbeachtete Zeitgenossen Beardsleys ihn in seiner Hinwendung zum 18. Jahrhundert beeinflusst haben könnten. Für den Rahmen dieser Arbeit lässt sich indes feststellen, dass bisher hauptsächlich literarische Quellen als Einfluss auf Beardsleys Rokoko-­Rezeption evident sind. Nach Beardsleys Tod inspirieren vor allem die Illustrationen zu Oscar Wildes Salome zahlreiche Künstler des frühen 20. Jahrhunderts, nicht nur im Bereich der grafischen Künste.11 Die Russen Wassily Kandinsky und Léon Bakst verdanken Beardsleys befreiter, geschwungener Linie ebenso Grundlagen ihrer eigenen Ästhetik 12 wie Pablo Picasso. Doch möchte ich im Rahmen ­dieses abschließenden Ausblicks zwei Zeichner vorstellen, die eindeutig als ­Beardsleys Nachfolger zu verstehen sind und zugleich am Fokus auf das 18. Jahrhundert teilhaben. So wird im Werk des österreichischen Zeichners und Illustrators Franz von Bayros (1866 – 1924) im Zusammenhang mit Erotika eine Präferenz zur Ästhetik Ludwigs XV. sichtbar, die nicht nur stilistisch stark auf Beardsley rekurriert. Wo sich Conder laut Rothenstein noch nach dem Anschluss an adelige Kreise sehnt, entspringt von Bayros selbst einer solchen Herkunft. Gewissermaßen stellt das Schaffen Choisy Le Conins – so Bayros’ Pseudonym – die logische Fortsetzung von Beardsleys Anleihen des Rokoko dar. Bezeichnenderweise wird kurz nach der großen Beardsley-­Retrospektive 1966 in London auch Franz von Bayros’ erotischem Œuvre erneut Beachtung geschenkt. Es entsteht ein zweibändiger Katalog, der sich unter dem Titel „Das Galante Werk“ (1967) einzig den druckgrafischen Erzeugnissen des Künstlers widmet. Darin schreibt Johann Pilz: „1904 – 1908 sind völlig ausgefüllt mit dem Studium Louis XV. So stark war sein Einfühlen in diese Zeit, daß er ‚der wunderbare Zeichner des reinsten Rokoko‘ genannt wurde.“ 13 Rothensteins Monografie erschien. In der aktuellen Briefsammlung taucht er allerdings nicht auf. Die Gründe hierfür müssen offen bleiben; ob es sich um die nicht eindeutig nachweisbare Originali­ tät des Dokuments handelt oder eine Entscheidung, die möglicherweise sogar ein Bild Beardsleys in der posthumen Rezeption nicht ins Wanken bringen will. 11 Vgl. Zatlin, 1997, S. 16; Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 10. 12 Olexandra Dovzhyk arbeitet derzeit an einer Dissertation zu Aubrey Beardsleys Rezeption in Russland. Vgl. https://anglorussiannetwork.wordpress.com/biographies/olexandra-­dovzhyk/ (06. 03. 2019). 13 Pilz, Johann: Biographie. In: Franz von Bayros. Das Galante Werk, Bd. I. Hamburg 1967, S. 113 – 119, hier S. 116.

308 |  Ausblick

Abb. 72 Franz von Bayros: „Die Tabakdose“ aus der Mappe „Erzählungen am Toilettentisch“, 1908, Heliogravüre, Blattgröße ca. 35,3 × 30 cm.

Hauptsächlich tätig ab Beginn des 20. Jahrhunderts, also nach dem Tode Beardsleys, fertigt Bayros zahlreiche Illustrationen zu klassischen Werken der erotischen Literatur an, in denen er zum wichtigsten Nachfolger Beardsleys, aber auch Félicien Rops’ wird. Sowohl zu den Erzählungen Pietro Aretinos, als auch zu Diderots Les Bijoux indiscrèts (1748), Clelands Fanny Hill (1749) oder Prevosts Manon Lescaut (1731) zeichnet er hoch qualitative Illustrationen. Außerdem gestaltet der zumeist in München und Wien residierende Künstler verschiedene Mappen, unter denen wohl besonders die exquisiten Exlibris und ein Werk mit dem verheißungsvollen Titel Erzählungen am Toilettentische (1908) hervorzuheben sind. Das Blatt „Die Tabakdose“ aus dieser Reihe zeigt eine besondere Nähe zu Beardsleys Figurenauffassung des galanten Zeitalters (Abb. 72): Ein Mann und eine Frau befinden sich in einem Park, der an die Raumgestaltungen Beardsleys gemahnt: mit Rosenstrauch im Vordergrund, wuchernder Platane h ­ inter den Personen und Monopteros am Horizont. Links hat eine Dame im Rasen Platz genommen. Sie trägt einen blumengeschmückten Hut schräg auf ihrer ausladenden Frisur und erinnert mit ihrem Gesicht im Profil und diesen Accessoires sehr deutlich an Beardsleys Belinda des Lockenraubs (Abb. 35) und die Athenerin auf der Schwalbe aus Lysistrata (Abb. 60). Ihre Brüste sind unbedeckt, ihr voluminöses Kleid mit allerlei Falten und Rüschen beginnt erst darunter. Kokett hat sie einen Fuß nach vorn gestreckt, wobei ihr Schuh sichtbar wird, auf den sie entzückt zu schauen scheint. Dabei hält sie mit beiden Händen in ihrem Schoß eine leicht geöffnete Tabakdose, in die sie einen ihrer Finger

Ausblick | 309

gleiten lässt. Die sexuelle Anspielung erschließt sich spätestens durch die Beschreibung. Wie auch sein offensichtliches Vorbild, Beardsley, nutzt von Bayros nur allzu gern Dosen oder Schachteln als Symbole für das weibliche Geschlecht. Die männliche Gestalt am rechten Bildrand scheint Komplize d ­ ieses erotischen Spiels zu sein und legt wissentlich den Finger an die Lippen, wobei er uns Schweigen gebietet und uns gleichsam zu gedulteten Voyeuren der Szene macht. In der Kleidung an einen Abbé erinnernd, schreitet er auf Zehenspitzen heran und will die Dame bei ihrer eigentlich unbeobachteten Handlung offenbar überraschen. Auch das akzentuierte Gehen auf Zehenspitzen ist Beardsleys Motivrepertoire entnommen: von Bayros’ Figur generiert sich zugleich aus Beardsleys Kryptoportrait als „Abbé“ (1896) mit Alongeperücke und weitem Mantel (Abb. 4) sowie der Dandyparodie aus der achten Ausgabe des Savoy, in welcher ein spitzetänzelnder Nachfolger Brummells vor das bekannte Epitaph mit der Aufschrift Et in Arcadia Ego tritt.14 Im Werk des Österreichers, welches nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Qualität dringend einer neuen wissenschaftlichen Betrachtung bedarf, gehen der Motivschatz und die Linienkunst Beardsleys eine Allianz ein, die für die Connaisseurs solcher exquisiten Mappenwerke sofort den erotisch-­frivolen Grundton der Bilder vorgibt. Zudem scheint die distinguierte aristokratische Welt, ­welche von Bayros in nostalgischer Verklärung aufleben lässt, einem Selbstbild des Künstlers zu entsprechen, der sich gemäß seiner Herkunft zu Recht in die Genealogie dekadenter „Aristokraten des Geschmacks“ eingliedern kann. Doch setzt von Bayros vor allem kompositorische Kontrapunkte, die seine Arbeiten vom Verdacht eines bloßen Nachahmers befreien. Immer wieder zeichnen sich seine Bilder durch eine geplante Unübersichtlichkeit aus, die durch einen innerbildlichen Perspektivwechsel generiert wird. Seine Figuren sind oftmals zugleich in Ober- und Untersicht zu sehen und winden sich derart in ihrer Umgebung, dass es schwer fällt, die teils in Ekstase verschlungenen Körper voneinander zu scheiden. Damit reflektiert von Bayros wohl auch zeitgenössische Diskurse über Fragen der perspektivischen Wahrnehmung und ihrer Darstellung in der zweidimensionalen Bildkunst. Ein anderer Illustrator und Autor in der Nachfolge Beardsleys, der ebenfalls 1966 sein revival erlebt, ist Beresford Egan (1905 – 1984). Mit Paul Allens schmaler Monografie „Beresford Egan. An Introduction to his Work“ 15 erscheint die erste Auseinandersetzung mit dem Œuvre des hauptsächlich in schwarzer Tusche arbeitenden Illustrators, der seine größten Erfolge in d ­ iesem Bereich während der 1920er und 30er Jahre feiert. Eindeutig arbeitet sich Egan an seinem frühen Vorbild Aubrey Beardsley ab, dessen Illustrationen er schon in Studienjahren akribisch in Antiquariaten sucht.16 Der in London geborene 14 Vgl. Aubrey Beardsley: „Et in Arcadia Ego“, Oktober 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 21,8 × 15,1 cm, Princeton University Library, NJ. 15 Vgl. Allen, Paul: Beresford Egan. An Introduction to his Work. Lowestoft 1966. 16 Vgl. Woodhouse, Adrian: Beresford Egan. Legburn 2005, S. 8.

310 |  Ausblick

Sohn eines Bänkers verbringt seine Jugend weitestgehend in Südafrika, obwohl es ihn und seine ­Mutter bald zurück nach England zieht, wo er schließlich ab 1926 eine Karriere als Illustrator, Karikaturist für Zeitschriften und Magazine und später sogar als Filmschauspieler antritt.17 Als Zeichner sucht sich der junge Mann schnell die gleichen künstlerischen Vorbilder wie Beardsley in japnischen Holzschnitten, den Bildern Félicien Rops’ und der Grafik des 18. Jahrhunderts.18 Letztere Bezugsebene wird jedoch in den zudem vom zeitgenössischen Art Déco geprägten Arbeiten nicht so vordergründig sichtbar, wie es bei Beardsley oder Franz von Bayros der Fall gewesen ist. Doch zeigen sich auch in Egans Œuvre und Selbstinszenierung immer wieder Anknüpfungspunkte an das 18. Jahrhundert. Insbesondere die Kultivierung einer libertin-­dekadenten Persona zeichnet das Schaffen des Illustrators und Autors aus. So gibt er beispielsweise gemeinsam mit seiner ­ elche sich Frau Catherine Bower Alcock 1928 die Verssatire The Sink of Solitude heraus, w an einem zeitgenössischen, aufsehenerregenden Roman über lesbische Liebe (Radclyffe Halls The Well of Loneliness, 1928) orientiert. Gebunden in „shiny yellow“ und im Stile Alexander Popes ausgeführt, vereint die Publikation deutlich dekadente Topoi mit der parodistischen Finesse des 18. Jahrhunderts.19 1930 folgt ein weiteres illustriertes Buch über den Marquis de Sade; ein Thema, für das sich Egan ganz bewusst entscheidet, um weiter in der Aura des schockierend Sexuellen zu erscheinen. Daneben widmet er sich allerdings vor allem Illustrationsprojekten zu Klassikern der dekadenten Literatur, wie Baudelaires Fleurs du mal oder Wildes Dorian Gray. Neben der bereits mehrfach herangezogenen Monografie von Adrian Woodhouse (2005) stellt Kristin Mahoneys Buch über postviktorianische Dekadenz die einzige aktuelle Auseinandersetzung mit Egans Schaffen dar.20 Darin beschreibt die Autorin den Zeichner innerhalb der Parameter ihres Themas als einen der bedeutendsten Vertreter einer Rezeption der Dekadenz des 19. Jahrhunderts im frühen 20. Jahhrundert; als „reincarnation of Victorian Decadence“.21 Besonders bemerkenswert an den Schlüssen, die Mahoney zieht, ist indes, dass sie die neuerliche Hinwendung zum fin de siècle in den 1920er und 30er Jahren mit einem (post)modernen Impetus verknüpft. „Like postmodernism, which often relies on pastiche, parody, and a return to traditional forms, the post-­Victorian aesthetic expresses its critique of modernity through the recasting and revision of previous avant garde strategies. Post-­Victorian Decadence also shares postmodernism’s playfulness, humor, and sense of ironic detachment. Beerbohm’s camp mode of ironized nostalgia, for example, or the Beardsleyesque satires of Beresford Egan are sly and arch in manner that resembles comic postmodernism …“ 22 17 18 19 20 21 22

Vgl. ebd., S. 3 – 7. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 10 f. Vgl. Mahoney, 2015. Ebd., S. 21. Ebd., S. 23.

Ausblick | 311

Dies führt zurück auf die Ausgangsfragen meiner Arbeit. Dass Dekadenz und Parodie zwei eng miteinander verbundene Phänomene sind, ließ sich schnell nachvollziehen. Ich habe nun gezeigt, dass Beardsleys Rokoko-­Rezeption letztlich ähnliche Züge annimmt wie die von Mahoney beschriebene, postviktorianische Dekadenz von Beresford Egan oder Max Beerbohm: Ähnlich wie Egan sich auf Parodie und ironische Distanz des späten 19. Jahrhunderts beruft, sucht Beardsley seine Vorbilder in einer Epoche, die sich durch vergleichbare ästhetische Parameter auszeichnete. Beide Künstler setzen sich dabei im Medium des druckgrafisch verbreiteten Bildes ab von einer vermeintlich modernistischen Kontinuität, wie sie in kunsthistorischen Skizzierungen der klassischen Moderne nur zu oft assoziiert wird. Das grafische Medium insgesamt zeigt sich an dem in dieser Arbeit analysierten Beispiel einmal mehr als ein künstlerisches Mittel, welches Entwicklungs- und Rezeptionsphänomene im Verlauf der Kunstgeschichte deutlich antizipiert, reflektiert, aber auch kommentiert. Damit lässt sich eine Kunst- und Mediengeschichte erzählen, die Alternativen zu einem eingangs problematisierten Spannungsbogen in d ­ iesem Narrativ bietet. So wie Aubrey Beardsley die (Bild)kultur des 18. Jahrhunderts rezipiert, um sein eigenes Medium technisch auszutesten und seine Zeitgenossenschaft im historischen Gewand zu hinterfragen, können auch andere Beispiele unter der Prämisse betrachtet werden, wie die Rezeption und künstlerische Aneignung genutzt werden, um die Grenzposition der Grafik im Kanon der Künste produktiv für eine Kommentierung desselben zu ­nutzen. Auch in Bezug auf andere Rezeptionsphänomene nicht nur des 19. Jahrhunderts liefert die vorliegende Arbeit einen Impuls, diese nicht allein als einen sich selbst genügenden Eskapismus zu beurteilen, sondern aufzuzeigen, wie die Auseinandersetzung mit Vergangenheiten und Nostalgien zu einer elaborierten Selbstreflexion befähigt. Der Rückbezug auf künstlerische oder genuin unkünstlerische Quellen ist in ­diesem Verständnis stets als ein bewusster Akt zu begreifen, der unterschiedlichste Motivationen zulässt. Diese können von eskapistischer Weltflucht, über mediale, ikonografische oder persönliche Selbstreflexion, bis hin zu deutlich parodistischen Äußerungen über Zeitgenossenschaft und Iszenierungstrategien reichen. Im Werk Aubrey Beardsleys wurde nun deutlich, dass der Zeichner und Illustrator gleich mehrere, wenn nicht alle dieser Motivationen hinter seiner Rezeption des 18. Jahrhunderts vereint.

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Mai 2018 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde das Manuskript nur leicht überarbeitet. Mein Dank gilt zunächst den Betreuenden meiner Promotion, allen voran Prof. Ekaterini Kepetzis, die meine Fortschritte mit einem aufmerksamen Blick für Details und stets den richtigen Worten begleitet hat. Von Ihnen habe ich nicht nur fachlich, sondern auch menschlich viel in dieser Zeit gelernt. Auch Prof. Hanjo Berressem und Prof. Henrik Karge haben die Arbeit methodisch und inhaltlich immer wieder in die richtigen Bahnen gelenkt und mich mit Rat und Tat in meinem Vorhaben unterstützt, wofür ich Ihnen besonders danken möchte. Nicht nur finanziell wurde das Projekt ermöglicht durch ein Stipendium der a. r. t. e. s. Graduate School for the Humanities Cologne, sondern auch das dortige inspirierende Arbeitsumfeld unter den unterschiedlichsten Wissenschaftler*innen, von denen ich vor allem meinen Bürokolleg*innen Svenja Lehnhardt, Stefan Udelhofen und Sung Un Gang danken möchte. Es war immer eine besondere Freude, mit euch Tag für Tag zu arbeiten, zu lachen und voneinander zu lernen. Nicht zuletzt danke ich meiner M ­ utter Cornelia Hecht, meinem Vater Hartmut Hecht und meiner Schwester Julia Hecht sowie meiner ganzen Familie, die mich in dieser Zeit stets liebevoll unterstützt haben. Schließlich geht mein Dank an den Böhlau Verlag. Nur das beständige Engagement von Kirsti Doepner und Julia Beenken machte die Publikation erst möglich.

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Abbildungsnachweis

Abb. 1: William Hogarth: „The Battle of the Pictures“, 1745, Radierung, 20,3 × 22,2 cm, Royal Collection, UK. Quelle: https://www.royalcollection.org.uk/collection/811767/ the-­battle-­of-­the-­pictures. Royal Collection Trust / © Her Majesty Queen Elizabeth II 2019. Abb. 2: unbekannter Künstler: Werbepostkarte für Pears’ Soap, 1898, Farblithografie, Maße unbekannt. Quelle: https://www.pinterest.de/pin/429319776964197386/. Abb. 3: Aubrey Beardsley: Titelblatt The Savoy, Januar 1896, Bleistift, schwarze Tinte und Spuren weißer Gouache auf Velinpapier, 36,7 × 28 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/collections/ object/297831?posi-­tion=3. © President and Fellows of Harvard College. Abb. 4: Aubrey Beardsley: „The Abbé“, Oktober/November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 24,9 × 17,6 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam.ac.uk/item/O138422/the-­abbe-­drawing-­beards-­ley-­aubrey-­ vincent/. © Victoria and Albert Museum, London. Abb. 5: Anonym: „What is this my Son Tom“, gedruckt bei Sayer & Beckett, 1774, Mezzotinto auf Papier, 35 × 25 cm, British Museum, London. Quelle: https://www. britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?assetId=966212001&objectId=3351308&partId=1. © Trustees of the British Museum. Abb. 6: Aubrey Beardsley: Entwurf für das Titelblatt der ersten Ausgabe von The Savoy, September 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 30,5 × 23 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums. org/collections/object/297891?posi-­tion=1. © President and Fellows of Harvard College. Abb. 7: Aubrey Beardsley: Titelblatt, The Savoy 3, Juli 1896, Strichätzung auf Papier, ca. 25,5 × 18,5 cm. Quelle: https://archive.org/details/savoy02symo/page/n8. Abb. 8: Aubrey Beardsley: „John Bull“ (contents page), November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 23,3 × 18,1 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/art/295039 (06. 03. 2019). © President and Fellows of Harvard College. Abb. 9: Charles Conder: „Mandoline“, Januar 1896, Holzstich nach einem Aquarell auf Papier, Maße unbekannt. Quelle: The Savoy 1, Januar 1896, S. 43; Fotografie: Lisa Hecht. Abb. 10: Aubrey Beardsley: „Les Liaisons Dangereuses“, 3. –7. Oktober 1896, Technik unbekannt (wahrscheinlich schwarze Tinte auf Papier), Maße unbekannt, Original zuletzt verzeichnet in Chaucer’s Head Catalogue April 1900, Verbleib unbekannt. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 301. Abb. 11: Aubrey Beardsley: Schlussvignette für „The Three Musicians“, Oktober 1895, schwarze Tinte auf Papier, Maße unbekannt, Original zuletzt verzeichnet in ­Christie’s (London) Sale Catalogue 12. Januar 1900, Verbleib unbekannt. Quelle: Gertner ­Zatlin, 2016, Bd. II, S. 252.

Abbildungsnachweis | 333

Abb. 12: Joseph de Longueil nach Charles Eisen: Vignette in Claude Joseph Dorats „Les Baisers“, 1770, Kupferstich, Maße unbekannt. Quelle: Dorat, Claude Joseph: Les ­Baisers, précédés du mois de Mai, poëme. Paris 1770, S. 86. Abb. 13: Claude du Bosc nach Louis du Guernier: Frontispiz zu Alexander Popes „The Rape of the Lock“, 1714, Kupferstich, 14 × 8,3 cm. Quelle: Pope, Alexander: The Rape of the Lock, London 1714; Fotografie: Lisa Hecht. Abb. 14: Frontispiz und Titelblatt zu Alexander Popes „The Rape of the Lock“, erschienen 1714 bei Bernard Lintot, London. Quelle: Pope, Alexander: The Rape of the Lock, London 1714; Fotografie: Lisa Hecht. Abb. 15: Aubrey Beardsley: „The Dream“, Frontispiz zu Alexander Popes „The Rape of the Lock“, ­zwischen Dezember 1895 und März 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,4 × 17,3 cm, J. Paul Getty Museum, Los Angeles, CA. Quelle: http:// www.getty.edu/museum/media/images/web/larger/13542301.jpg. © J. Paul Getty Trust. Abb. 16: Jean-­Baptiste Martin: „Sylphe dans le Ballet des Élements“, z­ wischen 1770 und 1779, Kupferstich auf Papier, 25,5 × 18,7 cm, Jerome Robbins Dance Division, The New York Public Library. Quelle: https://digitalcollections.nypl.org/items/0fc5ab40-a3aa0130-0c7e-58d385a7b928. © The New York Public Library, 2019. Abb. 17: Aubrey Beardsley: „The Billet-­doux“, ­zwischen Dezember 1895 und März 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinapier, 14,2 × 14,1 cm, Fine Arts Museum of San Francisco, CA. Quelle: https://art.famsf.org/aubrey-­beardsley/billet-­doux-1986212. © 2019 Fine Arts Museums of San Francisco. Abb. 18: Aubrey Beardsley: „The New Star“, März 1896, schwarze Tinte auf Velinpapier, 30,8 × 18,4 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/art/297829. © President and Fellows of Harvard College. Abb. 19: Frontispiz und Titelblatt zu Alexander Popes „The Rape of the Lock“, erschienen 1896 bei Leonard Smithers, London. Quelle: Pope, Alexander: The Rape of the Lock. London 1896. https://archive.org/details/rapeoflockheroic00popeuoft/page/n11. Abb. 20: Aubrey Beardsley: „The Cave of Spleen“, ca. 6. März 1896, schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,4 × 17,5 cm, Boston Museum of Fine Arts, MA. Quelle: http://www.mfa. org/collections/object/the-­cave-­of-­spleen-­illustration-­to-­alexander-­popes-­the-­rape-­of-­ the-­lock-4919. © 2019 Museum of Fine Arts, Boston. Abb. 21: Aubrey Beardsley: „The Death of Pierrot“, Juli 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,5 × 17,4 cm, Kunsthalle Bremen, Kupferstichkabinett. Quelle: ­Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 285. Abb. 22: Jean-­Antoine Watteau: „Pierrot, genannt Gilles“,1718/19, Öl auf Leinwand, 184,5 × 149 cm, Musée du Louvre, Paris. Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/Pierrot_­ (Watteau)#/media/File:Watteau-­Pierrot.jpg. Abb. 23: Aubrey Beardsley: „Don Juan, Sganarelle, and the Beggar“, um 3. Oktober 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 20,8 × 12,3 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/art/294987. © President and Fellows of Harvard College.

334 |  Abbildungsnachweis

Abb. 24: Jean-­Antoine Watteau: „La comédie italienne“, um 1717, Öl auf Leinwand, 37 × 48 cm, Gemäldegalerie, Berlin. Quelle: https://www.prometheus-­bildarchiv.de/. © Foto: Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin. Abb. 25: Aubrey Beardsley: Frontispiz zu Ernest Dowsons „The Pierrot of the Minute“, 6. –8. November 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 21,6 × 11,7 cm, Rosenwald Collection, Library of Congress, Washington. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 331. Abb. 26: Étienne-­Maurice Falconet: „L’Amour ménaçant“, 1757, weißer Marmor, 91,5 × 50 cm, Muée du Louvre, Paris (Erstfassung im Rijksmuseum, Amsterdam). Quelle: http://art. rmngp.fr/fr/library/artworks/etienne-­maurice-­falconet_l-­amour-­menacant_sculpture-­ technique_marbre_1757. Foto © RMN-Grand Palais / Hervé Lewandowski. Abb.  27: Félix Nadar: „Charles Deburau, Pierrot écoutant“, 1854/55, Fotografie, 29,7 × 21,6 cm, Bibliothèque nationale de France, Paris. Quelle: http://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/btv1b10547570g/f1.item. Abb. 28: Aubrey Beardsley: Entwurf für die Umschlaggestaltung der Bände in „Pierrot’s Library“, Sommer 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 15,8 × 11,9 cm, Princeton University Library, NJ. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 172. Abb. 29: Aubrey Beardsley: Entwurf für die Vorsatzblätter der „Pierrot’s Library“, Oktober– November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 16,7 × 23,7 cm, Princeton University Library, NJ. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 175. Abb. 30: Jean-­Antoine Watteau: „Le lorgneur“, um 1716, Öl auf Leinwand, 32,4 × 24 cm, Virginia Museum of Fine Arts, Richmond. Quelle: https://www.vmfa.museum/­ piction/6027262-8053924/. © 1996 – 2019 Virginia Museum of Fine Arts, Richmond. Abb. 31: Paul Nadar: „Sarah Bernhardt dans le rôle de Pierrot assassin“, um 1880, Fotografie, 14,5 × 10,5 cm, Bibliothèque nationale de France, Paris. Quelle: http://gallica.bnf. fr/ark:/12148/btv1b531484000.r=Sarah%20Bern-­hardt%20Pierrot?rk=42918;4. Abb. 32: Aubrey Beardsley: Exlibris für John Lumsden Propert, März 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 19,8 × 12,7 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam.ac.uk/item/O685624/drawing-­beardsley-­aubrey-­vincent/. © Victoria and Albert Museum, London. Abb. 33: Thomas Couture: „Pierrot malade“, 1859/60, Öl auf Holz, 35,1 × 43 cm, Nelson-­ Atkins Museum of Art, Kansas City, Missouri.Quelle: http://art.nelson-­atkins.org/ objects/21851/the-­illness-­of-­pierrot. © 2019 Nelson Atkins. The Nelson-­Atkins Museum of Art. Abb. 34: Unbekannter Künstler: „The Lady’s Maid, or Toilet Head Dress“, 1776, Radierung/Farbdruck, 20,3 × 14,9  cm, British Museum, London. Quelle: http://www.­ britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?​object­ Id=1453205&​­​partId=1&from=ad&fromDate=1700&to=ad&toDate=1800&sub​ ject=16721&page=4 (06. 03. 2019). © Trustees of the British Museum. Abb. 35: Aubrey Beardsley: „The Toilet“, z­ wischen Dezember 1895 und März 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,5 × 17,4 cm, Cleveland Museum of Fine Art, OH. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 215.

Abbildungsnachweis | 335

Abb. 36: Aubrey Beardsley: „La Dame aux Camélias/Girl at Her Toilette“, Februar–März 1894, Bleistift, schwarze Tinte und Aquarell auf Velinpapier, 27,9 × 18,1 cm, Tate Gallery, London. Quelle: http://www.tate.org.uk/art/artworks/beardsley-­la-­dame-­ aux-­camelias-­n04608. Photo © Tate. Abb. 37: François Boucher: „Madame de Pompadour à sa toilette“, 1758, Öl auf Leinwand, 81 × 63 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https:// www.harvardartmuseums.org/art/303561. © President and Fellows of Harvard College. Abb. 38: Claude-­Louis Desrais: „Jolie Femme en Pergnoire à sa Toilette“, um 1780, kolorierter Kupferstich, 28,6 × 19 cm, Museum of London. Quelle: https://collections. museumoflondon.org.uk/online/object/732566.html. Digital image © Museum of London. Abb. 39 und 40: Jacques-­Firmin Beauvarlet nach Jean-­François de Troy: „Toillette [sic] pour le bal, Retour du bal“, 1758, Kupferstich, jeweils 44,5 × 35,4 cm, Bibliothèque nationale de France, Paris. Quellen: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8409192 f.; http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8409193v. Abb. 41: Aubrey Beardsley: „The Toilet of Helen“, ca. 12. November 1895, Bleistift und schwarze Tinte auf Papier, 25 × 17,5 cm, Original zuletzt verzeichnet im Auktionskatalog von Paul Graupe (Berliner Buchhändler) 1918, Verbleib unbekannt. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 258. Abb. 42: Aubrey Beardsley: „The Coiffing“, ca. 3. April 1896, schwarze Tinte auf Papier, 25,7 × 17,5 cm, Privatbesitz (seit 2015). Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 276. Abb. 43: Aubrey Beardsley: „The Toilette of Salome“ (erste Fassung), Sommer 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 23,2 × 19,3 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 34. Abb. 44: Aubrey Beardsley: „The Toilette of Salome“ (zweite Fassung), November 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 22,7 × 16,2 cm, British Museum, London. Quelle: http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_ details/collection_image_gallery.aspx?assetId=36894001&objectId=738639&partId=1. © Trustees of the British Museum. Abb. 45: Unbekannter Künstler: Illustration aus Almanach généalogique pour l’année, 1780, Kupferstich; 10,5 × 6,5 cm, Sammlung Georges Vigarello, Paris. Quelle: Laneyrie-­Dagen, Nadeije; Vigarello, Georges: Ausst.-Kat. La Toilette. Naissance de l’intime/The Invention of Privacy. Paris, Musée Marmottan Monet, 2015, S. 116. Abb. 46: William Hogarth: „The Toilette“, 4. Blatt aus der Serie „Marriage A-la-­Mode“, 1743, Öl auf Leinwand, 69,9 × 90,8 cm, National Gallery, London. Quelle: https://www. nationalgallery.org.uk/paintings/william-­hogarth-­marriage-­a-­la-­mode-4-the-­toilette. The National Gallery © 2019. Abb. 47: Aubrey Beardsley: „Mademoiselle de Maupin“, März 1897, Bleistift, Tinte, Tusche und Gouache auf Papier, 18,3 × 12,9  cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/­collections/ object/297819?posi-­tion=4. © President and Fellows of Harvard College.

336 |  Abbildungsnachweis

Abb. 48: Aubrey Beardsley: „Mrs Pinchwife“, vor dem 18. Oktober 1896, schwarze Tinte auf Papier, 19,7 × 11,4 cm, Verbleib unbekannt. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 296. Abb. 49: Aubrey Beardsley: „D’Albert“, Juli–August 1897, Bleistift, schwarze Tinte, Tusche auf Papier, 10,2 × 7,6 cm, Verbleib unbekannt. Quelle: Fotogravüre in: Smithers, ­Leonard (Hg.): Six Drawings Illustrating Théophile Gautier’s Romance Mademoiselle de M ­ aupin by Aubrey Beardsley. London 1898, No. 44. Fotografie : Lisa Hecht Abb. 50: Aubrey Beardsley: „D’Albert in Search of His Ideals“, Oktober 1897, Bleistift, schwarze Tinte, Tusche und Aquarell auf Papier, 20 × 16,8 cm, Harvard Art Museum/ Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/­ collections/object/297830?posi-­tion=31. © President and Fellows of Harvard College. Abb. 51: unbekannter Künstler: „Lacing a Dandy“, veröffentlicht am 29. Januar 1819, kolorierte Radierung, 30 × 21,6 cm, Art Institute Chicago. Quelle: http://www.artic.edu/ aic/collections/artwork/89777. Abb. 52: Scott & Wilkinson, Cambridge: Herbert Charles Jerome Pollitt in drag, späte 1890er Jahre, Fotografie, Maße unbekannt, Houghton Library, Harvard Library, Cambridge, MA. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Herbert_Charles_Pollitt#/media/ File:Her-­bert_Charles_Jerome_Pollitt_as_Diane_de_Rougy,_1890s.jpg. Abb. 53: Aubrey Beardsley: „A Portrait of the Artist“, März 1895, Technik unbekannt (schwarze Tinte auf Papier), Maße unbekannt, Verbleib unbekannt. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 166. Abb. 54: Aubrey Beardsley: „The Peacock Skirt“, 1893, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 23 × 16,8 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/art/297895. © President and Fellows of Harvard College. Abb. 55: Aubrey Beardsley: „The Stomach Dance“, Spätherbst 1893, Bleistift, schwarze Tinte und weiße Gouache auf Velinpapier, 22,6 × 16,6 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/collections/ object/297866?posi-­tion=12. © President and Fellows of Harvard College. Abb. 56: Aubrey Beardsley: „The Comedy-­Ballet of Marionettes, as performed by the Troupe of the Théâtre-­Impossible, III“, bis 24. Juni 1894, Technik unbekannt (schwarze Tinte auf Papier), Maße unbekannt (ca. 34 × 26 cm), Verbleib unbekannt. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 91. Abb. 57: Aubrey Beardsley: „Lady on a Sofa“, Entwurf zum Titelblatt für Leonard S­ mithers’ Catalogue of Rare Books, Herbst 1895, schwarze Tinte auf Papier, 21,6 × 15,2 cm, Verbleib unbekannt. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 178. Abb. 58: Pierre Maleuvre nach Sigmund Freudenberger: „Le Boudoir“, 1774, Kupferstich, Maße unbekannt, National Gallery of Art, Washington. Quelle: https://www.nga.gov/ collection/art-­object-­page.7292.html. © 2018 National Gallery of Art. Abb. 59: Unbekannter Stecher nach Louis Binet (?): Titelblatt zu Thérèse philosophe, 1782/83, Kupferstich, 17,2 × 10,2 cm. Quelle: Brunn, Ludwig von (Hg.): Ars Erotica. Die erotische Buchillustration im Frankreich des 18. Jahrhunderts, Bd. II. Dortmund, 1983, S. 135.

Abbildungsnachweis | 337

Abb. 60: Aubrey Beardsley: „Two Athenian Women in Distress“, ca. 13. Juli 1896, schwarze Tinte auf Papier, Maße unbekannt, bei einem Brand in Julian Sampsons Haus 1929 zerstört. Quelle: Gertner Zatlin, 2016, Bd. II, S. 318. Abb. 61: Aubrey Beardsley: „The Baron’s Prayer“, Februar/März 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,7 × 17,5 cm, Harvard Art Museum/Fogg Museum, Cambridge, MA. Quelle: https://www.harvardartmuseums.org/art/295100. © President and ­Fellows of Harvard College. Abb. 62: Aubrey Beardsley: „Lysistrata defending the Acropolis“, Juli 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 27,3 × 19,1 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam.ac.uk/item/O685621/lysistrata-­defending-­the-­acropolis-­ drawing-­beardsley-­aubrey-­vincent/. © Victoria and Albert Museum, London. Abb. 63: François-­Roland Elluin nach Antoine Borel: Illustration zu „Thérèse philosophe“, 1748, Kupferstich, 12,8 × 7,9 cm. Quelle: Brunn, 1983, S. 59. Abb. 64: Aubrey Beardsley: „The Toilet of Lampito“, Dezember 1895 oder Juli 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 25,4 × 17,5 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam.ac.uk/item/O685622/the-­toilet-­of-­lampito-­ drawing-­beardsley-­aubrey-­vincent/#. © Victoria and Albert Museum, London. Abb. 65: Unbekannter Künstler: Frontispiz zu „Vénus dans le cloître“, 1746, Kupferstich, Maße unbekannt. Quelle: Barrin, Jean: Vénus dans le cloître ou la religieuse en ­chemise. Düsseldorf 1746, Frontispiz. Abb. 66: Unbekannter Künstler: Illustration zu Gervaise de Latouches „Histoire de Dom B…“, 1748, Kupferstich, Seitenmaße: 12,5 × 19,8 cm. Quelle: Gervaise de Latouche, Jean-­ Charles: Histoire de Dom B…, portier des Chartreux, écrite par lui-­même. Frankfurt 1748, Abb. ­zwischen S. 6 und 7. Abb. 67: Aubrey Beardsley: „The Impatient Adulterer“, begonnen August 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 18,5 × 9,8 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam.ac.uk/item/O132906/the-­impatient-­adulterer-­drawing-­ beardsley-­aubrey-­vincent/#. © Victoria and Albert Museum, London. Abb. 68: Aubrey Beardsley: „Lysistrata shielding her Coynte“, Dezember 1895 oder Juli 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 26,7 × 18,3 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam.ac.uk/item/O685623/lysistrata-­ shielding-­her-­coynte-­drawing-­beardsley-­aubrey-­vincent/. © Victoria and Albert Museum, London. Abb. 69: Aubrey Beardsley: „The Lacedaemonian Ambassadors“, ca. 30. Juni 1896, Bleistift und schwarze Tinte auf Velinpapier, 27,8 × 19,4 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam.ac.uk/item/O132904/the-­lacedaemonian-­ ambassadors-­drawing-­beardsley-­aubrey-­vincent/. © Victoria and Albert Museum, London. Abb. 70: Aubrey Beardsley: „Cinesias Entreating Myrrhina to Coition“, ca. 26. Juni 1896, 26,4 × 18,2 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam. ac.uk/item/O685619/cynesias-­entreating-­myr-­rhina-­to-­coition-­drawing-­beardsley-­ aubrey-­vincent/. © Victoria and Albert Museum, London.

338 |  Abbildungsnachweis

Abb. 71: Aubrey Beardsley: „The Lady with the Monkey“, bis 22. Oktober 1897, Bleistift, schwarze Tusche und Aquarell auf Velinpapier, 20 × 16,9 cm, Victoria & Albert Museum, London. Quelle: http://collections.vam.ac.uk/item/O138423/the-­lady-­with-­the-­monkey-­ drawing-­beardsley-­aubrey-­vincent/. © Victoria and Albert Museum, London. Abb. 72: Franz von Bayros: „Die Tabakdose“ aus der Mappe „Erzählungen am Toilettentisch“, 1908, Heliogravüre, Blattgröße ca. 35,3 × 30 cm. Quelle: Pilz, Johann: Biographie. In: Franz von Bayros. Das Galante Werk. Bd. I, Hamburg 1967, S. 97.

Personenregister

A About, Edmond  233 Addison, Joseph  59, 257 Alighieri, Dante  117 André, Edouard  28 Antoinette, Marie  32 f., 39, 108, 165, 200 f. Aretino, Pietro  308 Aristophanes  24, 92, 245 f., 252, 262, 278, 281 Armour, Margaret  66, 124 Ashbee, Henry Spencer  243 f. Ashley-Cooper, Anthony 3rd  Earl of Shaftesbury  59 f., 64, 151 Aubigny, Julie d’ 213 Autiés, Léonard  108, 200 f., 204 A Baudelaire, Charles  12, 17, 43, 49 f., 57, 70, 123, 171, 203, 310 Beaumont, Chevalier d’Eon de  223 Beauvarlet, Jacques-Firmin  193, 194 Bakst, Léon  307 Balzac, Honoré de  306 Banville, Théodore  41 Barker, William  201 Bayros, Franz von  307 ff., 310 Beardsley, Ellen Agnus (Pitt)  13, 81, 93 f., 177 Beardsley, Mabel  12 f., 28, 81, 94, 109, 170, 215, 225 Beardsley, Vincent Paul  81 Beerbohm, Max  56 f., 69, 80, 90 f., 179, 186 ff., 193, 204, 210, 293 f., 311 Bellini, Giovanni  189, 197 Bernhardt, Sarah  175, 177, 181, 226 f. Binet, Louis  240 Blake, William  117 Blanche, Jacques-Émile  89 Blanc, Charles  41 Blondel, Jacques- François  35, 67 Boccaccio, Giovanni  108

Boldini, Giovanni  45 Borel, Antoine  254 Bouchardon, Edmé  168 Boucher, François  19, 29, 36 ff., 41, 74, 107 f., 131, 190, 191,292, 305 Bourgeois, Émile  145, 146 Bourget, Paul  31 f., 109 Bosc, Claude du  140, 141, 143 Bower Alcock, Catherine  310 Boyer d’Argens, Jean-Baptiste  254 f. Brown, Frederick  82 Brummell, George Bryan  69 f., 220, 309 Burckhardt, Jacob  48 Burdett, Osbert  56 f., 84, 91 Burne-Jones, Edward  82 f., 96 Burton, Sir Richard  107, 243 Byron, George Gordon (Lord)  123 C Camondo, Moïse de  29 f., 34 Camondo, Nissim de  29 Caravaggio , Michelangelo Merisi  258 Carracci, Annibale  142 Caryll, John  139 Casanova, Giacomo  120 ff. Castiglione, Baldassare  60 Catull 90 Caylus, Comte de  37 f., 299 Celliers, Louis  41 Chardin, Jean Siméon  30, 36, 40 Chaucer, Geoffrey  59 Chauvet, Jules Adolphe  243 Chavannes, Pierre Puvis de  83 Chéret, Jules  42 f., 76 Chodowiecki, Daniel  63 Clark, Scotson  188 Cleland, John  308 Coates, Robert  69 Cochin, Charles-Nicolas  88, 108

340 |  Personenregister Cognacq, Ernest  29 f. Conder, Charles  114 f., 304 f. Congreve, William  290, 302 Conins, Choisy Le  307 Cooper, Fenimore  63 Coppola, Sofia  20, 33, Courbet, Gustave  157, 188 Couture, Thomas  180 Crébillon, Claude-Prosper Jolyot de  40, 209, 240, 273, 293 D Dagnan-Bouveret, Pascal  44 David, Jacques- Louis  38, 305 Deburau, Charles  41, 170 f., 175 f. Deburau, Jean-Gaspard  41, 170, 175 Delafosse, Jean-Charles  197 Delécuze, Étienne-Jean  43 Delvaus, Alfred  242 Dent, Joseph Malaby  85 f. Desrais, Claude-Louis  191, 192 Diderot, Denis  17, 36 ff., 40, 64, 273 f., 281, 293, 308 Douglas, Lord Alfred  70 Dorat, Claude Joseph  129 Dowson, Ernest  87, 92, 108, 165 ff., 170, 200 Dumas fils, Alexandre  190 Dyck, Anthonis van  100, 103 E Egan, Beresford  309 ff. Egerton, George  91 Egg, Thomas  220 Eisen, Charles  88, 108, 129, 131 Ellis, Havelock  120 ff., 223, 296 f., 298 Elluin, François- Roland  254 F Falconet, Étienne- Maurice  36, 168, 169 Félibien, André  131 Fermor, Arabella  139 Flaubert, Gustave  57 Fontane, Theodor  31

Foote, Samuel  85 Fragonard, Jean-Honoré  29, 36, 107 f., 168, 305 Freudenberger, Sigmund  237, 238 Fry, Roger  11 f. Füssli, Heinrich  138, 150 G Gainsborough, Thomas  72, 132 Gautier, Théophile  32, 40 f., 44, 49 f., 55, 57, 71 f., 94 f., 155, 158, 171, 179, 186, 210 ff., 217 ff., 221 f., 234, 267, 284 f., 295 Gay, John  278, 282 George II  68 George IV  68 f. Gerard, Alexander  61 Gérôme, Jean-Léon  179 Gide, André  209 Gillot, Claude  132 Goncourt, Edmond de  17, 20, 26 ff., 30 ff., 39, 42, 44, 55, 71 ff., 101, 117 f., 128, 153, 174, 186, 193, 200 ff., 210, 250, 225, 230 f., 235 f., 247, 250, 267 ff., 283, 285, 291 ff., 297, 299, 301, 305 Goncourt, Jules de  17, 20, 27, 30 ff., 33 f., 39, 42, 44, 55, 71 ff., 101, 118, 128, 153, 174, 186, 193, 200 ff., 210, 225, 230 f., 235 f., 247, 250, 267 ff., 285, 291 ff., 297, 299, 301, 305 Gosse, Edmund  116 f., 139 f., 154 Gravelot, Hubert-François  108, 131 f. Gray, John  93, 198 Guernier, Louis du  140, 141, 143 ff., 147 H Hamilton, William Sir  264 Harland, Henry  83 Harris, Frank  81 Hatchett, William  273 Haywood, Eliza  273 Hichens, Robert  70 Hoare, William  154 Hogarth, William  9 f., 22, 58 ff., 62 f., 64, 72, 107, 132, 208, 209 f., 251, 258, 273, 277 f., 300 f. Hokusai, Katsushika  269 Holbein, Hans  58

Personenregister | 341 Homer  138 f., 294 Hook, Theodore  85 Houssaye, Arsène  41 Hunt, Leigh  67 Huysmans, Joris Karl  32 f., 45, 51 f., 70, 174, 186, 236 I Isherwood, Christopher  289 J Jackson, Holbrook  9, 55 ff., 93, 100, 109, 134 f. Jacquemart, Nélie  28, 30 James, Henry  74 Janin, Jules  171 Jay, Marie- Louise  29 Jerrold, Douglas  85 f. Jonson, Ben  95 f., 211 Juvenal  122, 260, 262 K Kandinsky, Wassily  281, 307 Kneller, Godfrey  58, 142, 154 Knight, Richard Payne  264 f. Krafft-Ebing, Richard von  247 ff., 261, 266 L Laclos, Choderlos de  23, 108, 121, 123 La Fontaine, Jean de  108 La Font de Saint-Yenne, Étienne  19, 37 Laforgue, Jules  15, 52 ff., 97 Lamb, Charles  85 f., 277 Lancret, Nicolas  41, 43 Lane, John  9, 81 f., 84, 86 f., 91, 96, 107, 136 f., 166, 172, 202, 215, 251 Lang, Andrew  126, 132 Latouche, Gervaise de  259, 260 Lawrence, David Herbert  251 Leighton, Frederic  282 Leyland, Frederick  96 Lintot, Bernard  139, 142 f., 148 Lombroso, Cesare  122 Longueil, Joseph de  129

Loti, Pierre  282 Louis XIV  31, 34, 90, 103, 145, 146, 165 Louis XV  17, 19, 28, 32, 39, 46, 66, 274, 307 Louis XVI  19, 39, 46 Louis XVIII  39 Louÿs, Pierre  86 Louvet de Couvray, Jean Baptiste  232 M Macfall, Haldane  105 f., 269 Maintenons, Madame de  165 Maleuvres, Pierre  237, 238 Mallarmé, Stéphane  17, 50 Malory, Thomas  83 f., 217 Manet, Édouard  206, 287 Mantegna, Andrea  103 Marivaux, Pierre Carlet de  294 Martial 149 Martin, Jean-Baptiste  145 f. Maurier, George du  71 Medici, Maria de’ 165 Meissonier, Ernest  44 Meissonnier, Juste-Aurèle  35 Mentzel, Christian  100 Mercier, Philip  72 Michelet, Jules  21, 41, 171 Millet, Jean-François  189 Minaj, Nicki  20 Mirabeau, Honoré Gabriel Victor de Riqueti comte de  108 Molière, Jean-Baptiste Poquelin  90, 121, 131, 162 ff. Montesquiou, Robert de  20, 103, 45 f., 283 Morisot, Berthe  44 Morris, William  96, 108, 135 f. Mosnier, Jean Laurent  223 Moreau, Gustave  216 Muller, Christina  181 N Nadar, Félix  41,170 Nadar, Paul  175, 177 Nordau, Max  49 f., 65, 110, 116, 118, 121 f., 296

342 |  Personenregister O Ovid  139, 143, 149, 216 P Paganini, Niccolò  90 Pater, Antoine  73 Pater, Jean- Baptiste  41, 43, 73 Pater, Walter  55,73 f., 208, 293, 305 Paul, Jean  31 Péladan, Joséphin  216 Pennell, Joseph  84 Picasso, Pablo  181, 306 Piles, Roger de  38, 131, 299 Pollitt, Herbert Charles Jerome  135, 223 ff., 224 Polo, Marco  272 Pompadour, Madame de  19, 32, 165, 187, 190 f., 274 Pope, Alexander  22 f., 90 ff., 98, 125 f., 137 ff., 147 ff., 183, 189, 191, 193 f., 209, 248 f., 258, 276 f., 290, 294, 302, 310 Poussin, Nicolas  131, 154 Prévost, Antoine-François  80, 108, 184, 207, 308 Prince of Wales, Frederick  68 Propert, John Lumsden  176, 178 R Raabe, Wilhelm Karl  31 Radot, Claude-Marie  49 Raffalovich, Marc-André  90, 93, 162 f., 167, 274 Redon, Odilon  83 Réjane, Gabrielle Charlotte  226 Renoir, Auguste  44 Reynolds, Joshua  59, 61, 102 Richardson, Jonathan  142 Richepin, Jean  175 f. Rigaud, Hyacinthe  103 Rimbaud, Arthur  186 Rops, Félicien  13, 83 f., 206, 242, 248, 308, 310 Rosenberg, Adolf  162, 174 Ross, Robert  79, 137, 178 f., 212, 232 Rothenstein, William  115 f., 215, 236, 305 ff. Rousseau, Jean- Jacques  36, 121, 239, 300 Ruskin, John  72

S Sade, Donatien Alphonse François Comte de  108, 206 f., 310 Sadeler, Aegidius  181 Saint Aubin, Gabriel de  88, 131 Smith, Samuel  92 Smith, Sydney  85 Smithers, Leonard  23, 28, 81, 87, 89 ff., 94 ff., 99, 107 f., 111 f., 122, 137 f., 144 f., 148 f., 163, 165, 172, 193, 200, 218, 236 f., 241, 243 f., 249, 253, 263, 306 Spranger, Bartholomäus  181 Steele, Richard  59 Staël, Madame de  64 Steele, Richard  59 Stephens, Leslie  140 Stewart, Balfour  49 Stewart, Thomas  223 Swift, Jonathan  209 Swinburne, Charles  12, 57, 123 Symonds, John Addington  223, 296 Symons, Arthur  23, 54, 80 f., 87, 89 f., 97, 109 f., 114, 116 ff., 121, 124, 161, 165 f., 240 T Tissot, James  279, 281 ff. Tizian, Vecellio  189, 197 Touchard-Lafosse, Georges  200 Tournachon, Adrien  41 Troy, Jean- François de  28, 31, 193 f., 194, 204, 251 U Utamaro, Kitagawa  269, 280 Uzanne, Octave  83 V Vallance, Aymer  89 Verlaine, Paul  43 f., 49, 50 f., 83, 89 f., 114 f., 116 f., 171, 181, 186, 207, 304 Vere Stacpoole, Henry de  91, 172114 Voltaire (François-Marie Arouet)  63 f., 108, 116, 168, 254, 273, 293

Personenregister | 343 W Wagner, Richard  97, 197, 216, 241 Wallace, Richard Sir  74 Walpole, Horace  59, 290 Warhol, Andy  20 Watteau, Antoine  9 f., 35, 38, 40 ff., 72 ff., 76, 88 ff., 114 f., 117, 131 f., 160 ff., 161, 164,165, 169, 171 ff., 174 f., 176, 269, 293, 305 Wattier, Charles Émile  44 White, Gleeson  67 Wilde, Oscar  9, 12, 52, 54 ff., 70 f., 78, 84, 86 f., 89, 93,100, 107, 109 f., 113, 119, 125 f., 134, 150, 155, 202, 207 f., 210, 217, 232 ff., 245, 285, 287, 290, 294, 296 f., 302, 307, 310

Whistler, James Abbott McNeill  46, 65, 96, 103, 169, 285, 287 Woolf , Virginia  225 Wren, Christopher  141 Wright, Thomas  264 Wycherley, William  121, 214 Y Yeats, William Butler  116 f., 124 Yturii, Gabriel  46 Z Zola, Émile  57, 203,206, 287