Aëtius: Gestaltungsspielsräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich 3406488536, 9783406488535

Es ist gewiss nicht leicht, sich erneut dem 'letzten Römer' (Prokop) zuzuwenden, gibt es doch seit 1983 mit G.

465 104 25MB

German Pages 364 [382] Year 2002

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Aëtius: Gestaltungsspielsräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich
 3406488536, 9783406488535

Table of contents :
Vorwort VII
I. Einleitung: Das Bild des Aëtius in der Geschichte und in der Forschung 1
II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit 5
III. Aëtius’ politischer Weg im Machtgefüge des Weströmischen Reiches 15
1. Das Reich zu Beginn des fünften Jahrhunderts n. Chr. 16
2. Der Lebensweg des Aëtius bis zur Usurpation des Johannes 423 n. Chr. 20
3. Aëtius und die Usurpation des Johannes 423/25 n. Chr. 25
4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs 425 und ihr Scheitern bis 430 35
5. Aëtius’ Aufstieg zum 'patricius' des Westreichs bis 435 n. Chr. 48
6. Die Macht des 'patricius' Aëtius 435 bis 454 n. Chr. 58
7. Grenzen der Macht - Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs nach 454 70
IV. Aëtius und die Hunnen 85
1. Quellen zum Verhältnis des Aëtius zu den Hunnen 87
2. Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa seit etwa 375 n. Chr. 91
2.1 Strukturelle Gesetzmäßigkeiten im Konflikt der Hunnen mit dem Reich 93
2.2 Die hunnische Kriegerkoalition 96
2.3 Das hunnische Königtum bis hin zu Ruga 102
3. Die Herrschaft Attilas 110
3.1 Die sogenannte Freundschaft des Aëtius mit Attila 110
3.2 Aktionen der Hunnen während der Samtherrschaft Bledas und Attilas (434-445) 114
3.3 Attilas Wendung nach Westen 444/45 116
3.4 Attila auf dem Höhepunkt seiner Macht 123
4. Die Entscheidung im Westen 125
4.1 Die Honoria-Affäre 125
4.2 Auf dem Weg zur großen Konfrontation 129
4.3 Der Feldzug in Gallien 451 135
4.4 Attilas Zug nach Italien 452 145
5. Ergebnis: Der Tod Attilas und die Ermordung des Aëtius 150
V. Die Reichspolitik des Aëtius 425 bis 454 n. Chr. 155
1. Das politische Terrain in Gallien zu Beginn der 420er Jahre 158
1.1 Die Rolle der gallischen Prätorianerpräfektur in der Spätantike 158
1.2 Die Invasion von 406/07 und ihre Folgen 161
1.3 Zusammenfassung 166
2. Die 'restitutio Galliarum' seit 425 n. Chr. 168
2.1 Die Franken in Nordgallien und im Rheinland 170
2.2 Die Burgunden am Rhein 180
2.3 Die Alamannen und Juthungen an Rhein und Donau 185
2.4 Die sogenannte Bagaudenbewegung 190
2.5 Die Alanen und Burgunden im Inneren Galliens 198
2.6 Die Westgoten in Aquitanien 203
2.7 Die Bischöfe von Arles 211
2.8 Zusammenfassung 223
3. Aëtius’ Sorge für die anderen Regionen des Reiches 224
3.1 Spanien 224
3.2 Nordafrika 232
3.3 Britannien 243
4. Ergebnis 250
VI. Aëtius und die italische Senatsaristokratie 255
1. Die Ehreninschrift für Aëtius aus dem Atrium Libertatis 255
1.1 Bisherige Tendenzen der Forschung 256
1.2 Gelöste und offene Fragen 259
2. Das Atrium Libertatis 260
3. Das aus CIL VI 41389 ersichtliche Programm des Aëtius 264
3.1 'Libertas' und 'vindex libertatis' 265
3.2 'Securitas' Italiae 267
3.3 Andere Appositionen und Ehrennamen 269
3.4 Zusammenfassung 271
4. Der römische Senat im fünften Jahrhundert n. Chr. 273
4.1 Die Zusammensetzung 273
4.2 Tätigkeitsbereiche und Selbstverständnis 275
4.3 Macht und Reichtum der großen Familien 278
4.4 Zusammenfassung 284
5. Die Italienpolitik des Aëtius 286
5.1 Bisherige Tendenzen der Forschung 286
5.2 Die Offensive Geiserichs 439 n. Chr. 287
5.3 Die steuerliche Belastung der Senatoren seit Kaiser Honorius 289
5.4 Die Finanzgesetzgebung Valentinians III 291
5.5 Unterstützer und Gegner von Aëtius’ finanzpolitischen Zielen 296
5.6 Zusammenfassung 299
6. Ergebnis: Aëtius, der römische Senat und die Probleme Italiens 300
VII. Zusammenfassung: Der 'letzte Römer' und das Ende des römischen Kaisertums im Westen 305
Appendix I: Die Religionszugehörigkeit des Aëtius 321
Appendix II: Der 'vir inlustris' Cassius und die Wiederbelebung des gallischen Sprengelkommandos Ende der 420er Jahre 324
Quellenverzeichnis 329
Literaturverzeichnis 330
Index 343
1. Quellen 343
2. Personen 349
3. Orte und Sachen 354

Citation preview

K O M M ISSIO N FÜR ALTE G E SC H IC H T E U N D E PIG R A PH IK DES D E U T S C H E N A R C H Ä O L O G IS C H E N INSTITUTS

VESTIGIA BEITRÄG E ZU R ALTEN G E SC H IC H T E BAND 54

TIMO STICKLER

Aëtius Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich

V E R L A G C. H . B E C K M Ü N C H E N

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Emheitsaufnahme Stickler, Timö: Aëtius : Gestaltungsepifelräume eines Heeianfeisters im aus­ gehenden Weströmischen Reich / Timo Stickler. - München : Beck, 2002 (Vestigia ; Bd. 54) ISBN 3-406-48853 6

ISBN 3 406 48853 6 Verlag C. H. Beck OHG, München 2002 Satz, Druck und Bindung: Druckhaus «Thomas Müntzer» GmbH, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (Hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany www.beck.de

Für meine Eltern

Inhaltsverzeichnis V orw ort ................................................................................................................... VII I. Einleitung: Das Bild des Aëtius in der Geschichte und in der F o rs c h u n g ........................................................................

1

II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Z e i t ............................................

5

III. A ë tiu s ’ p o litis c h e r W eg im M ach tg efü g e des W eströ m isch en R e ic h e s .............................................................................................................

15

1. 2.

Das Reich zu Beginn des fünften Jahrhunderts n. C h r ....................... 16 Der Lebensweg des Aëtius bis zur Usurpation des Johannes 423 n. C h r .................................................................................................. 20 3. Aëtius und die Usurpation des Johannes 423/25 n. C h r..................... 25 4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs 425 und ihr Scheitern bis 430......................................................................................................... 35 5. Aëtius’ Aufstieg zum patricius des Westreichs bis 435 n. C h r ........... 48 6. Die Macht des patricius Aëtius 435 bis 454 n. Chr............................... 58 7. Grenzen der Macht - Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs nach 454........................................................................... 70

IV. A ë tiu s u n d die H u n n e n ............................................................................. 1. 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3

85

Quellen zum Verhältnis des Aëtius zu den H unnen............................ 87 Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa seit etwa 375 n. C h r.................................................................................. 91 Strukturelle Gesetzmäßigkeiten im Konflikt der Hunnen mit dem R eich ........................................................................................... 93 Die hunnische K riegerkoalition.............................................................. 96 Das hunnische Königtum bis hin zu R uga..............................................102 Die Herrschaft A ttila s ................................................................................110 Die sogenannte Freundschaft des Aëtius mit A ttila ..............................110 Aktionen der Hunnen während der Samtherrschaft Bledas und Attilas (434-445)........................................................................................ 114 Attilas Wendung nach Westen 444/45 .................................................... 116

Inhaltsverzeichnis

VIII

3.4 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 5.

Attila auf dem Höhepunkt seiner M acht................................................ 123 Die Entscheidung im Westen......................................................................125 Die Honoria-Affäre..................................................................................... 125 Auf dem Weg zur großen K onfrontation................................................129 Der Feldzug in Gallien 4 5 1 ........................................................................135 Attilas Zug nach Italien 452...................................................................... 145 Ergebnis: Der Tod Attilas und die Ermordung des A ë tiu s ..................150

V D ie R e ich sp o litik des A ëtiu s 425 bis 454 n. C h r . .......................... 155 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 3. 3.1 3.2 3.3 4.

Das politische Terrain in Gallien zu Beginn der 420er Jahre................ 158 Die Rolle der gallischen Prätorianerpräfektur in der Spätantike........ 158 Die Invasion von 406/07 und ihre Folgen................................................161 Zusammenfassung....................................................................................... 166 Die restitutio Galliarum seit 425 n. C h r...................................................168 Die Franken in Nordgallien und im R heinland......................................170 Die Burgunden am Rhein............................................................................180 Die Alamannen und Juthungen an Rhein und D o n a u .......................... 185 Die sogenannte Bagaudenbewegung..........................................................190 Die Alanen und Burgunden im Inneren Galliens.................................... 198 Die Westgoten in Aquitanien..................................................................... 203 Die Bischöfe von Arles............................................................................... 211 Zusammenfassung....................................................................................... 223 Aëtius’ Sorge für die anderen Regionen des Reiches..............................224 S panien......................................................................................................... 224 N o rd afrik a................................................................................................... 232 B ritannien..................................................................................................... 243 Ergebnis......................................................................................................... 250

V I. A ëtius u n d die italische S e n a ts a ris to k ra tie ........................................255 1. 1.1 1.2 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4. 4.1

Die Ehreninschrift für Aëtius aus dem Atrium L ibertatis....................255 Bisherige Tendenzen der Forschung..........................................................256 Gelöste und offene Fragen......................................................................... 259 Das Atrium Libertatis................................................................................. 260 Das aus CIL VI 41389 ersichtliche Programm des A ëtiu s....................264 Libertas und vindex libertatis.................................................................... 265 Securitas Ita lia e ............................................................................................267 Andere Appositionen und E hrennam en..................................................269 Zusammenfassung....................................................................................... 271 Der römische Senat im fünften Jahrhundert n. Chr................................ 273 Die Zusammensetzung.............................................................................. 273

Inhaltsverzeichnis

4.2 4.3 4.4 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 6.

IX

Tätigkeitsbereiche und Selbstverständnis................................................. 275 Macht und Reichtum der großen Familien............................................. 278 Zusammenfassung.......................................................................................284 Die Italienpolitik des A ëtiu s..................................................................... 286 Bisherige Tendenzen der F o rsch u n g ....................................................... 286 Die Offensive Geiserichs 439 n. Chr........................................................ 287 Die steuerliche Belastung der Senatoren seit Kaiser H o norius............289 Die Finanzgesetzgebung Valentinians III.................................................291 Unterstützer und Gegner von Aëtius’ finanzpolitischen Z ielen......... 296 Zusammenfassung.......................................................................................299 Ergebnis: Aëtius, der römische Senat und die Probleme Italiens . . . . 300

V II. Z u sam m en fassu n g : D e r „letzte R ö m e r“ u n d das E n d e des rö m isc h e n K aisertu m s im W e ste n ...............................................

305

A p p e n d ix I: D ie R e lig io n sz u g e h ö rig k e it des A ë tiu s ............................ 321 A p p e n d ix II: D e r v ir inlustris C assius u n d die W ied erb eleb u n g des gallischen S p ren g e lk o m m a n d o s E n d e d e r 4 20er J a h re ........

324

Q u e lle n v e rz e ic h n is .............................................................................................

329

L ite ra tu rv e rz e ic h n is ...........................................................................................

330

I n d e x .......................................................................................................................

343

1. 2. 3.

343 349 354

Q u e lle n ........................................................................................................... P e r s o n e n ....................................................................................................... O r te u n d S a c h e n .......................................................................................

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die nur geringfügig veränderte Fassung meiner im Wintersemester 2000/01 von der Philosophischen Fakultät II der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität W ürzburg angenommenen Dissertation (Tag der mündlichen Prüfung: 18. Dez. 2000). Prof. Dr. K. Dietz hat das Thema angeregt und mit ungewöhnlich zu nennen­ der Fürsorge und Sympathie seine Umsetzung begleitet. Vor allem hat er mir als seinem Assistenten stets Entlastung von den Alltags geschähen des Lehrstuhls zu ermöglichen versucht, wenn es die Arbeit an der Dissertation erforderte. Ihm gilt an erster Stelle mein tief empfundener Dank. Die H erren Professoren A. Lippold (Regensburg), D. Timpe (Würzburg), A. Schwarcz (Wien) und K. Borchardt (Würzburg) haben Teile der Arbeit oder das M anuskript in seiner Gänze gelesen und mir viele nützliche Hinweise zuteil werden lassen, w ofür ich herzlich danke. Insbesondere der Erstgenannte hat sich mit außergewöhnlichem Engagement der Lektüre unterzogen und mir eine Fülle von Anregungen vermittelt. Ich hoffe, daß er mit dem Erzeugnis seines wissenschaftlichen „Enkels“ zufrieden ist, auch wenn ich glaubte, nicht alle seine Ratschläge umsetzen zu können. Prof. Dr. G. Alföldy (Heidelberg) hat mir einige spätantike stadtrömische Inschriften in neuer Lesung vor der Drucklegung des entsprechenden CIL-Bandes zukommen lassen, w ofür ich ihm zu D ank verpflichtet bin. So manchen Literaturhinweis hinsichtlich der Archäologie der Völkerwanderungszeit ver­ danke ich H errn Dr. Th. Völling (f) (Würzburg). Dem bereits genannten H errn Prof. Dr. Borchardt bin ich für die bereitwillige Übernahme des Korreferats verbunden. D ankbar bin ich schließlich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mich in meiner Studienzeit viele Semester lang gefördert hat. Dank schulde ich des weiteren der Kommission für Alte Geschichte und Epi­ graphik, voran ihrem D irektor Prof. Dr. M. Wörrle, für die Aufnahme der Dis­ sertation in die Reihe Vestigia. H err PD Dr. H. Müller hat die Drucklegung in gewohnter Zuverlässigkeit redaktionell betreut. Es würde den Rahmen eines Vorwortes zweifellos sprengen, würde ich all jene aufzählen, die zum Gelingen dieser Arbeit in der einen oder anderen Weise beigetragen haben. Mein Dank gilt den Mitgliedern des Lehrstuhls für Alte Ge­ schichte, insbesondere M. Groß, B. Lis, M. Scheuermann und A. Bätz. Die dornige Arbeit des Korrekturlesens haben M. Stickler, B. Scheicher, D. Rau­ schert und C. Gräf mit mir geteilt.

X II

Vorwort

Meinen Eltern, Cäcilie und G ernot Stickler, verdanke ich viel auf meinem bisherigen Lebens- und Bildungsweg, nicht zuletzt, daß sie meiner Beschäfti­ gung mit der Alten Welt immer Verständnis und Aufgeschlossenheit entgegen­ brachten. Ihnen widme ich deshalb, altem akademischen Brauch folgend, dieses Buch. Würzburg, im März 2002

Timo Stickler

I. Einleitung: Das Bild des Aëtius in der Geschichte und in der Forschung

D er Feldherr und Politiker Fl. Aëtius ist unbestritten eine bedeutende Persön­ lichkeit der Geschichte gewesen, und zwar nicht nur in seiner eigenen Lebens­ zeit, dem fünften Jahrhundert n. Chr., sondern bezogen auf die gesamte Spät­ antike. Schon unter den Zeitgenossen im Weströmischen Reich finden wir panegyrische Darstellungen seiner Taten und charakterlichen Eigenschaften.1 Doch auch im Osten des Imperiums war man sich der Bedeutung, die das nahezu dreißigjährige Wirken des patricius für den an politischen Begabungen nicht eben reichen Westteil des Reiches hatte, bewußt. Vor allem aus der Rück­ schau schien die Erm ordung des Aëtius 454 allzu deutlich die Initialzündung für den unabwendbaren Niedergang des Hesperium regnum zu sein, eine A n­ sicht, die schon aus den W orten des Chronisten Marcellinus Comes zur Zeit Kaiser Justinians deutlich hervorgeht.2 Dessen Zeitgenosse Prokop von Kaisareia heftete Aëtius das Etikett vom «letzten Römer» an3 und hat damit ein Stichwort geliefert, das bis ins 20. Jahrhundert von Forschern und Altertums­ liebhabern immer wieder gerne aufgegriffen und zitiert worden ist. N och im beginnenden achten Jahrhundert war der patricius einer breiteren Öffentlichkeit im O sten zumindest ein Begriff, wie Passagen aus den Παραστάσεις σύντομοι χρονικαί, einer frühbyzantinischen Stadtbeschreibung Konstantinopels, zeigen.4 Die westliche Tradition schließlich hat das Andenken an den Bezwinger Attilas auf den Katalaunischen Feldern stets bewahrt. In der Tat findet sich in der historischen Überlieferung nur wenig Kritik, die auf das positive Bild vom «letzten Römer» Schatten werfen könnte. D er an­ onyme gallische Chronist von 452 etwa beklagt, das Oströmische Reich habe 447 im Krieg gegen die H unnen schwere Schläge einstecken müssen, cum nulla ab Occidentalibus ferrentur auxilia .5 Ein Teil der Forschung hat diese Äuße­ rung des Unmuts auf Aëtius beziehen wollen, der allerdings nicht namentlich

1 Siehe etwa die Panegyricus-Fragmente des Merobaudes und die bei Greg. Tur. Franc. 2,8 erhaltene Charakterisierung durch Renatus Profuturus Frigeridus. 2 Marcell. chron. s. a. 454. 3 Prok. Kais. hist. 3,3,14f. 4 Parastaseis 75 u. 87. Dazu Av. Cameron/J. Herrin (Hrsgg.), Constantinople in the Early Eighth Century: The Parastaseis Syntomoi Chronikai, 1984, 270 u. 276. 5 Chron. Gail. 452,132 (s. a. 447).

2

1. Einleitung

an der Stelle genannt ist.6 Deutlicher sind da schon die Worte Prospers von Aquitanien, der anläßlich des Feldzuges Attilas in die Poebene 452 n. Chr. dem patricius vorwirft, er habe gegenüber der sich abzeichnenden Gefahr versagt und sogar die schmähliche Flucht aus Italien erwogen.7 Es ist angesichts der Uberlieferungslage nicht verwunderlich, daß im 19. Jahr­ hundert, als - angeregt durch B. G. Niebuhrs Entdeckung der Merobaudes-Fragmente in St. Gallen 1823 - die moderne Beschäftigung mit Aëtius begann, die positiven Züge das Bild bestimmten, das die Wissenschaft von dem Feldherrn und Politiker entwickelte. Im Zeitalter des Nationalismus konnte es nicht ausbleiben, daß der patridus auch für diese Zwecke instrumentalisiert wurde, doch nur selten begegnet man derartig krassen Fehlurteilen wie dem von G. Hassebrauk, der Aëtius als einen letzthin deutschen (!) Fürsten und H eerführer inter­ pretierte, der an schwächlichen Gestalten wie Galla Placidia und Valentinian III. vorbei das Abendland vor Attila gerettet habe.8 Ein zwar ebenso mißglücktes, aber weniger drastisches und obendrein nicht dem Bereich der altertumswissen­ schaftlichen Forschung entstammendes Beispiel für die Aktualisierung des Aëtius-Stoffes im 19. Jahrhundert bietet G. Verdis 1846 in Venedig uraufgeführte O per «Attila», in der der Heldenbariton Ezio der Titelfigur entgegenschmet­ tern durfte: «Avrai tu l’universo, resti l’Italia a me!» - der patridus als Vor­ kämpfer des Risorgimento gegen die österreichischen «Hunnen»!9 Die Gelehrten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts haben vor allem den dynamischen Feldherrn und entschlossenen Machtpolitiker Aëtius zu w ür­ digen versucht und kamen so mit Hilfe des zur Verfügung stehenden Quellen­ materials zu einem überwiegend günstigen Urteil.10 Erst Th. Mommsen und E. Stein wagten es, Wasser in den Wein einer Forschungsrichtung zu gießen, die den patridus vorwiegend als letztes Bollwerk gegen die unaufhaltsam vor­ dringenden Barbaren begriff. Ersterer veröffentlichte 1901 einen Aufsatz, in dem er den Egoismus, mit dem Aëtius seine Machtstellung in Ravenna er­ kämpfte und behauptete, schonungslos offenlegte;11 letzterer versuchte in seiner großen Synthese über die Spätantike aus dem Jahre 1928 nachzuweisen, daß der Heermeister im Bunde mit der Senatsaristokratie die finanziellen G rund­ lagen des Westreichs mutwillig ausgehöhlt habe, allen gutgemeinten Gegen­ 6 So z. B. Zecchini, Aezio, 260. 7 Prosp. chron. 1367 (s. a. 452). 8 Hassebrauk, Westrom, 31. 9 Hierzu J.W. Porter, in: Bäuml/Birnbaum, Attila, 45-54. - Schon 1732 hatte G.F. Händel die Oper «Ezio» nach einem Libretto von P.Metastasio in London zur Aufführung gebracht. 10 Als Beispiele seien genannt: A. Hansen, De vita Aetii, 1840; G. Wurm, De rebus gestis Aetii dissertatio historica, 1844; Hassebrauk, Westrom; Bugiani, Ezio u. Lizerand, Aetius. 11 Mommsen, Aetius.

I. Einleitung

3

maßnahmen des jugendlichen Kaisers Valentinian III. zum Trotz.12 Es war ein neues Bild mit vielen Schatten, das aus diesen Forschungen hervorging: Aëtius, der engagierte Feldherr, blieb erhalten; Aëtius, der eigensüchtige Verderber des Westreichs, war hinzugekommen. Seither stellte sich die Aufgabe, diese beiden nicht immer problemlos miteinander zu vereinbarenden Tendenzen zu einem neuen Gesamtbild zusammenzuführen. Schon Mommsen hatte den Blick teilweise von dem Individuum Aëtius weg­ gelenkt, hin zu dem Heermeisteramt, das er ausübte und dem patridus-Titel, den er führte.13 Auch Stein machte, indem er die Beziehungen des Feldherrn zu senatorischen Kreisen auslotete, die Strukturen deutlich, innerhalb derer dieser sich bewegte und seine Politik gestaltete.14 Die Forschungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg trugen bezüglich derartiger Fragestellungen viel weiteres Material zusammen.15 O b es sich nun um informelle M achtstrukturen des Adels in Italien oder den Provinzen handelte,16 ob um germanische Stam­ mesbildungsprozesse17 oder um die Ausbildung eines aristokratischen Episko­ pats in Gallien:18 Die Beschäftigung mit all diesen Problemkreisen ermöglichte es, die Welt, in der Aëtius lebte und agierte, besser zu verstehen und die Alter­ nativen, die er hatte, ebenso aufzuzeigen wie die Begrenztheiten, denen er un­ terliegen mußte. Es war auf diese Weise nun möglich, ein Bild vom W irken des patncius zu zeichnen, das nicht mehr nur abhängig war von wenigen chronika­ lischen N otizen und einigen Fragmenten aus der weitgehend verlorenen historiographischen Literatur der Spätantike. Im Jahre 1970 mahnte A. Lippold in einer Rezension das Fehlen einer moder­ nen M onographie über Aëtius an.19 Es war G.Zecchini, der sich dieser Aufgabe unterzog und 1983 die bis heute letzte, umfassende Darstellung über den Heer­ meister vorlegte.20 Schon der Untertitel zeigt, daß der A utor sich durchaus der traditionellen Auffassung verpflichtet sah, die den Titelhelden als «l’ultima difesa dell’Occidente romano» interpretierte. Zecchini hat durch die Aufarbeitung aller 12 Stein, Spätröm. Reich, 501 ff. (= ders., Bas-Empire, 337ff.). 13 Mommsen, Aetius, 545 ff. 14 Stein, Spätröm. Reich, 501 ff. (= ders., Bas-Empire, 337ff.). 15 In welche Richtungen dabei die Forschung ging, zeigt exemplarisch der von Av. Cameron u. a. herausgegebene Bd. 14 der Cambridge Ancient History2. 16 Dazu z. B. Stroheker, Senatorischer Adel; [Cracco] Ruggini, Economia e societä; Matthews, Western Aristocracies; Chastagnol, Sénat romain à l’époque impériale u. Cecconi, Governo imperiale. 17 Dazu grundlegend R.Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, 1977; aus jüng­ ster Zeit z. B. Pohl/Reimitz, Strategies of Distinction u. Heather, Visigoths. 18 Dazu z. B. Heinzeimann, Bischofsherrschaft; Mathisen, Ecclesiastical factionalism u. Baumgart, Bischofsherrschaft. 19 A. Lippold, Gnomon 42, 1970, 797. 20 Zecchini, Aezio.

4

I. Einleitung

das Thema betreffenden Quellen und die Berücksichtigung der bis zum damali­ gen Zeitpunkt erschienenen Literatur Bleibendes geleistet und viele Lücken in unseren Kenntnissen geschlossen. Dennoch bleiben Wünsche offen, gerade be­ züglich der strukturellen Grundlagen von Aëtius’ Politik. Lediglich das Verhält­ nis zur italischen Senatsaristokratie wurde vom A utor näher beleuchtet, doch gerade hier wurden Ereignisse und Protagonisten allzuoft in ein enges Korsett von O ppositionen wie «antiaeziano» und «filoaeziano» eingeordnet.21 A nson­ sten bemühte sich Zecchini um eine weitgehend an der zeitlichen Abfolge orien­ tierte Darstellung, ein Unterfangen, das immer wieder - etwa für den Zeitraum vor dem Jahre 425 n. Chr. - durch akuten Quellenmangel gestört wurde. Meine eigene Darstellung unterläßt es, der Chronologie der Ereignisse zu folgen, da ein solcher, letztendlich biographischer Ansatz zwangsläufig lücken­ haft bleiben müßte und viele Fragen offen ließe. J. Martin hat mit Recht davor gewarnt, die Uberlebenschancen des Weströmischen Reiches im fünften Jahr­ hundert vom Willen und der klugen Politik eines einzelnen abhängig zu ma­ chen.22 Deshalb habe ich vier große Themenkomplexe zusammengestellt, in denen - zwar unabhängig voneinander, aber doch letzthin aufeinander bezo­ gen - die Gegebenheiten, unter denen sich Aëtius’ W irken vollzog, analysiert werden. Der Aufstieg des patricius innerhalb der Strukturen des Imperiums, seine Anstrengungen für die Verteidigung des Westreichs, seine Rolle bei des­ sen innerer Entwicklung und sein Verhalten angesichts der epochalen H eraus­ forderung durch das Reitervolk der H unnen werden hierbei Berücksichtigung finden. In einem abschließenden Kapitel soll dann eine Zusammenschau erfol­ gen, die die Leistungen des Aëtius in den größeren Kontext der Entwicklung des Weströmischen Reiches in seiner Endphase stellt. Gerade in jüngster Zeit ist die Erforschung des fünften Jahrhunderts in er­ freulicher Weise intensiviert worden. W .Lütkenhaus hat in seiner Bonner Dis­ sertation die Politik des Heermeisters und späteren Kaisers Constantius zwi­ schen 411 und 421 n. Chr. untersucht;23 D. H enning unternahm es in seiner M arburger Arbeit, die letzten Jahrzehnte des Westreichs von 454/55 bis zur A nkunft Theoderichs des Großen 489/93 darzustellen.24 Die vorliegenden Stu­ dien zur Politik des Heermeisters Aëtius sollen dazu beitragen, auch für die Zeit vom Ausgang der Herrschaft des Kaisers H onorius bis zur Reichskrise im Gefolge der Ermordung des patricius über den bisherigen Forschungsstand hin­ ausführende Erkenntnisse zu gewinnen.

21 Siehe das zehnte Kapitel «Aezio e l’Italia: i rapport! con Paristocrazia e la politica socio-economica», in: Zecchini, Aezio, 241-256. 22 Martin, Spätantike, 172. 23 Lütkenhaus, Constantius III. 24 Henning, Periclitans res publica.

II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

Zecchini hat in seinem Aëtius-Buch rund ein Drittel des Textes für eine sehr detaillierte Schilderung der literarischen Quellen zu seinem Thema aufge­ wandt.25 Auf mehr als achtzig Seiten diskutiert er - getrennt nach griechischen und lateinischen Autoren - die gesamte einschlägige Überlieferung und sucht nach Kriterien, um deren historische Relevanz und Glaubwürdigkeit zu be­ stimmen. Die Darstellung Zecchinis ist in vielen Bereichen zutreffend und darf bis heute Gültigkeit beanspruchen; sie erweist sich allerdings an denjenigen Stellen als problematisch, wo der A utor - wie oben bereits erwähnt - mit Hilfe von Etikettierungen wie «filo-/antiaeziano», «filo-/antidinastico» und «filo-/antibarbarico» seine Quellen in ein festes Schema einzuordnen versucht. Die Tatsache zum Beispiel, daß der gallische Chronist von 452 anläßlich des Hunnenkrieges von 447 n. Chr. Kritik an der Untätigkeit des Westens übt,26 kann nicht vorschnell als Aëtiusfeindlichkeit verbucht werden.27 Derselbe stellt zum Jahre 451 mit deutlichen W orten die Niederlage Attilas auf den Katalaunischen Feldern heraus und bestätigt so unzweifelhaft den Erfolg des patricius.28 Es hätte dessen nicht bedurft, denn aus anderen Zeugnissen geht hervor, daß der Schlachtausgang keineswegs eindeutig gewesen ist. Ist der anonyme A utor also doch kein eindeutiger «antiaeziano»? Ein anderes Exempel: Prosper von Aquitanien informiert uns in seiner C hro­ nik nicht ohne Genugtuung über die militärischen Erfolge des Aëtius in seiner gallischen Heimat. H öhepunkt im Wirken des patridus ist die Auseinanderset­ zung auf den Katalaunischen Feldern; ausdrücklich hebt Prosper im Verlauf seiner Darstellung die providentia des römischen Feldherrn hervor, der der Sieg wesentlich zu verdanken gewesen sei.29 Im nächsten Jahr jedoch sehen die Verhältnisse völlig anders aus. Mit scharfen W orten geißelt Prosper nun die Untätigkeit des Aëtius angesichts von Attilas Einfall in Italien. Von providentia

25 Es handelt sich um das zweite Kapitel «Le fonti per la storia di Aezio», in: Zecchi­ ni, Aezio, 19-100. 26 Chron. Gail. 452, 132 (s. a. 447). 27 So allerdings Zecchini, Aezio, 77f., der die anonyme Gallische Chronik von 452 als «Punica fonte contemporanea veramente antiaeziana» bezeichnet. 28 Chron. Gail. 452, 139 (s. a. 451): Attila Gallias ingressus quasi iure debitam poscit uxorem: ubi gravi clade inflicta et accepta ad propria concedit. 29 Prosp. chron. 1364 (s. a. 451).

6

II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

ist nun nichts mehr zu spüren, im Gegenteil: Kopflosigkeit zeichnet das H an­ deln der M ilitärführung aus. N u r das beherzte Eingreifen Papst Leos des G ro­ ßen rettet Italien vor den Schlägen des flagellum Dei?° Ist dies die Schilderung eines «filoaeziano»?3031 Die angeführten Beispiele mögen als Beweis dafür genügen, wie schwer es oft ist, in unseren Quellen eine irgendwie geartete Tendenz in bezug auf Aëtius und sein W irken vorzufinden.32 Bei einem Großteil der Überlieferung - nicht nur der chronikalischen und hagiographischen - kommt hinzu, daß die jeweili­ gen A utoren über gar keine «politische» Perspektive hinsichtlich der Ereig­ nisse, über die sie schrieben, verfügten und diese auch nicht anstrebten. Pros­ per etwa ging es in seiner Darstellung der inneren und äußeren W irren des Westreichs vor allem um den übergeordneten Zusammenhang, innerhalb dessen sich all dies abspielte. «He was telling his readers not so much about the war as what they should think of it.»33 Das Agieren der führenden Generäle, ihre discordia und superbia, war nach Prosper Ursache aller Verwicklungen.34 Ver­ meintliche Erfolge wie der Sieg auf den Katalaunischen Feldern stellten einen nur scheinbaren R uhepunkt dar, bevor sich das Rad der Fortuna wieder in Gang setzte. Lediglich geistliche Führer wie der Papst vermochten diesen uner­ bittlichen Kreislauf punktuell zu durchbrechen.35 Daß ein solches Geschichts­ bild für unsere heutigen Fragen zunächst einmal keine direkten A ntw orten pa­ rat hat, ist offenkundig. Das soeben Ausgeführte gilt für A utoren aus dem kirchlichen Milieu, für Chronisten wie Prosper von Aquitanien,36 H ydatius37 und den anonymen galli-

30 Ebd., 1367 (s. a. 452). 31 Zecchini, Aezio, 74, begegnet dem für seine These problematischen Befund, indem er den Autor nicht als «filoaeziano nel senso stretto dei termine» einstuft, sondern ledig­ lich als «favorevole ad Aezio». Die uneingeschränkte Solidarität Prospers von Aquita­ nien habe allerdings dem Papst in Rom gegolten. 32 Als Einführung in die Probleme, die die Interpretation von Quellen aus dem 5. Jh. mit sich bringt, siehe I. Wood, in: Drinkwater/Elton, Fifth-century Gaul, 9-18. 33 Muhlberger, Fifth-Century Chroniclers, 106. 34 Ebd., 92 ff. 35 Ebd., 121 f. 36 Eine Gesamtinterpretation zu Prosper von Aquitanien liefert Muhlberger, FifthCentury Chroniclers, 48 ff. 37 Zu Hydatius ebd., 193 ff.; ferner R.W. Burgess, in: Drinkwater/Elton, Fifth-century Gaul, 19-27; ders., The Chronicle of Hydatius and the Consularia Constantinopolitana, 1993 sowie C. Cardelle de Hartmann, Philologische Studien zur Chronik des Hydatius von Chaves, 1994. - Ich zitiere im folgenden nach der Hydatius-Ausgabe von Momm­ sen. Zu Burgess’ Neuedition siehe die kritischen Anmerkungen von St. Rebenich, Gno­ mon 71, 1999, 437-445.

IL Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

7

sehen Chronisten von 452,38 aber auch für Salvian von Marseille39 und in beson­ derem Maße für die Verfasser von Heiligenviten, etwa Constantius von Lyon.40 In seiner Lebensbeschreibung des Bischofs Germanus von Auxerre steht selbst­ verständlich das Wirken des Titelhelden im Vordergrund, seine Sorge für die ihm anvertraute civitas, sein Kampf gegen Häresien und widergöttliche Mächte und dergleichen. Was Germanus genau aber zum Beispiel in Britannien getan hat, als er die Pelagianer bekämpfte, ob und mit welchen staatlichen Institutio­ nen er dabei verkehrte und wie nun tatsächlich die militärische Auseinanderset­ zung mit den Barbaren verlief, in die er dort mehr oder weniger zufällig geriet, dies alles ist für die Historiker von großer Wichtigkeit; für den Verfasser der Vita und sein Publikum hingegen war es zweitrangig, lediglich eine Kulisse für die «eigentliche» Geschichte, die erzählt werden sollte. Interpretationsprobleme wie die angeführten ergeben sich aber nicht nur bei A utoren aus dem kirchlichen Umfeld. Auch profane Werke sind in ihrer Tendenz nicht ohne weiteres festgelegt. Die Aussagen spätantiker Pan­ egyrici zum Beispiel sind sehr oft augenblicksbezogen.41 Dies liegt im We­ sen dieser Literaturgattung begründet, die ja vielfach an einmalige, öffentli­ che Anlässe gebunden war. Es ist deshalb nicht statthaft, aus den Aussagen von Panegyrikern unseres Zeitraumes wie Merobaudes42 und Sidonius Apol-

38 Zur Gallischen Chronik von 452 Muhlberger, Fifth-Century Chroniclers, 136ff.; ferner ders., in: Drinkwater/Elton, Fifth-century Gaul, 28-37 u. C.Molè Ventura, Prin­ cipi fanciulli, 1992, 235ff. 39 Zu Salvian u. a. J. Badewien, Geschichtsschreibung und Sozialkritik im Werk Salvians von Marseille, 1980 u. N.Brox, in: Döpp/Geerlings, Lexikon der antiken christ­ lichen Literatur, 543 f. 40 Zu Constantius von Lyon und seiner «Vita Germani» u. a. Levison, Germanus; R.Borius (Hrsg.), Constance de Lyon. Vie de Saint Germain d’Auxerre, 1965; Thom­ pson, Germanus und aus jüngster Zeit M. Miele, La «Vita Germani» di Costanzo di Lione, 1996. - Zur historischen Auswertung hagiographischer Literatur im allgemeinen u. a. B. R. Voss, FMS 4, 1970, 53-69; M. Heinzeimann, Francia 1, 1973, 27-44; F. Graus, in: Fonti medioevali e problematica storiografica. Atti dei congresso internazionale tenuto in occasione del 90° anniversario della fondazione dell’Istituto storico Italiano (1883-1973), Roma 22-27 ottobre 1973, Bd. 1, 1976, 375-396; F. Lotter, HZ 229, 1979, 298-356; D. von der Nahmer, Die lateinische Heiligenvita, 1994, 80ff. sowie F.Lifshitz, Viator 25, 1994, 95-113. 41 Zur Literaturgattung des Panegyricus in der Spätantike und Problemen seiner hi­ storischen Auswertung u. a. W. Portmann, Geschichte in der spätantiken Panegyrik, 1988; Mause, Darstellung des Kaisers; H.-U.Wiemer, Libanios und Julian, 1995, 184f. u. 372ff.; Watson, Representing the Past, sowie Henning, Periclitans res publica, 117f. 42 Zu Merobaudes S.Gennaro, Da Claudiano a Merobaude, 1959; Clover, Flavius Merobaudes; Loyen, L’oeuvre u. A.Bruzzone, in: M.Rotili (Hrsg.), Memoria del passato, urgenza del futuro, 1999, 119-124.

8

II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

linaris43 langfristige politische Konzepte und Einstellungen abzuleiten.44 Sido­ nius mochte sich im Jahre 456 despektierlich über den semivir amens Valentinian III. äußern.45 An anderer Stelle erschien ihm derselbe Kaiser als carus popularitate princeps.46 Daß die literarischen Erzeugnisse der Spätantike sich einer abschließenden Einschätzung durch die moderne Forschung entziehen, liegt oft auch daran, daß viele von ihnen nur fragmentarisch überliefert sind. Bezüglich Priskos’ von Panion beispielsweise gilt es in einem Großteil der Wissenschaft als ausge­ macht, daß er Theodosius II. gegenüber kritisch eingestellt war,47 eine Behaup­ tung, die durch einige erhaltene Passagen des Autors gestützt werden kann.48 N u n ist ein Großteil des Werkes aber verloren. Kann man aus der Tatsache, daß Priskos unter Kaiser Marcian in der Reichsbürokratie tätig war, schließen, daß er dessen Korrekturen am Kurs seines Vorgängers sämtlich begrüßte? Die lange Regierungszeit Theodosius’ II. war kein monolithischer Block gewesen, im Gegenteil: Mehrmals hatten sich seine Gattin Eudocia und seine Schwester Pulcheria nebst ihren Helfern in ihrem beherrschenden Einfluß bei Hofe abge­ löst. Wie stand Priskos zu diesen Vorgängen, wie differenziert darf man sich das Bild vorstellen, das er von ihnen zeichnete? Auch hinsichtlich der Ereig­ nisse im Westen des Imperiums bietet uns der A utor zu wenig Material, um zu erkennen, über welche Kenntnisse er wirklich verfügte. Wenn es stimmt, daß er einen Großteil seiner Informationen während eines Aufenthalts in Rom Ende 450 erlangte,49 dürften sie begrenzt gewesen sein, doch zwingt eigentlich nichts zu einer solchen Annahme. In jedem Falle dürfte es unvorsichtig und metho­ disch problematisch sein, auf Basis der wenigen Priskos-Fragmente, die wir noch besitzen, eine generelle Einschätzung des Autors zu wagen. Wir verfügen für die Zeit des Aëtius über keine zeitnahe erzählende H aupt­ quelle vom Range eines Tacitus oder Ammianus Marcellinus. Das Werk des 43 Zu Sidonius Apollinaris C.E. Stevens, Sidonius Apollinaris and his Age, 1933 u. Harries, Sidonius Apollinaris; ferner F.-M. Kaufmann, Studien zu Sidonius Apollinaris, 1995 u. H. Köhler, C. Sollius Apollinaris Sidonius. Briefe, Buch I, 1995. 44 So allerdings Zecchini, Aezio, 65 f. u. 80 ff. 45 Sidon, carm. 7,359. 46 Ders. carm. 9,300. 47 Vgl. z. B. Thompson, Huns, 207ff.; Blockley, Fragmentary Classicising Historians, Bd. 1, 62ff. u. Zecchini, Aezio, 26ff. Vorsichtiger allerdings Baldwin, Priscus, 3Iff. 48 So z. B. durch Priskos frg. 9,3 (Blockley), wo heftige Kritik am Frieden mit Attila 447 n. Chr. und seinen Folgen geübt wird. 49 So die Erwägung von Blockley, Fragmentary Classicising Historians, Bd. 1, 67f., der allgemein nur eine unvollkommene Berücksichtigung westlicher Ereignisse durch Priskos annimmt. Nicht so Baldwin, Priscus, 26f., der unseren Mangel an diesbezüg­ lichen Fragmenten auf späteres byzantinisches Desinteresse an den Vorgängen in Raven­ na zurückführt.

II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

9

Priskos, das diese Rolle vielleicht hätte spielen können, ist - wie gesagt - gro­ ßenteils verloren. Es hätte zumindest den Zeitraum seit etwa 434 abdecken können. Ansonsten sieht es düster aus. Olympiodor, dessen Glaubwürdigkeit bei den H istorikern hoch im Kurs steht, reichte bis zum Regierungsantritt Valentinians III. im Jahre 425 n. Chr., doch auch er liegt uns nur noch in wenigen Fragmenten vor.50 Was die vieltraktierte «Historia Romana» des Symmachus aus der Zeit Theoderichs des G roßen für uns bereit gehalten hätte, ist völlig ungewiß, denn sie ist nahezu vollständig verloren, und die bisherigen Rekon­ struktionsversuche haben sich als nicht zutreffend erwiesen.51 Es bleibt also nur der Weg zu anderen Quellen, den oben diskutierten Chroniken und Heiligenviten zum Beispiel, mit all ihrer dargestellten Problematik, aber auch der übrigen greifbaren Überlieferung, die zwar oft schon dem frühmittelalterlichen (z. B. Gregor von Tours) oder byzantinischen Zeitraum (z. B. Prokop) zuzu­ ordnen ist, nichtsdestoweniger aber viele Einzelinformationen von Wert für unser Thema bereithält. Daß dabei Verzerrungen, Umdeutungen und verän­ derte Schwerpunktsetzungen mit wachsender Entfernung von der Lebenszeit des Aëtius zunehmen, kann nicht überraschen. Schon eine Generation nach dem Tode des patricius war ja das Weströmische Kaisertum erloschen und da­ mit ein wichtiger Faktor für eine Tradierung von dessen Geschichte beseitigt. Der Aëtius-Stoff geriet dadurch zur Verfügungsmasse für germanische Stam­ mesgeschichten und byzantinische Historiographen, die allerdings ihre eigenen Ziele damit verfolgten und auf diese Weise den tatsächlichen Verlauf der Ereig­ nisse von 423/25 bis 454/55 für uns oft mehr verunklaren als erhellen. Außer den literarischen Quellen stehen uns nur wenige weitere Zeugnisse zur Verfügung. An erster Stelle wären hier die Gesetze des am 1. Januar 439 für den Westen in Kraft gesetzten Codex Theodosianus zu nennen. Für die Zeit nach diesem Datum verfügen wir über 36 leges novellae Kaiser Valentinians III., die hinreichend die Gesetzgebungstätigkeit bis zum Tode des Aëtius illustrieren.52 Ansonsten ist an Dokum enten der ravennatischen Kanzlei nahezu nichts von Bedeutung für unseren Zeitraum erhalten geblieben. Die «Notitia dignitatum» könnte man vielleicht in diesem Zusammenhang erwähnen, freilich nur mit Einschränkungen. Es ist bis heute ungeklärt, um was es sich bei die­ sem Schriftstück überhaupt handelt. Durch die Forschung der letzten Jahr­ 50 Zu Olympiodor u. a. J. F. Matthews, JRS 60, 1970, 79-97; B. Baldwin, AC 49, 1980, 212-231; Blockley, Fragmentary Classicising Historians, Bd. 1, 27-47; A.Gillett, Traditio 48, 1993, 1-29 u. A.Baldini, Historia 49, 2000, 488-502. 51 So auch der von W.Enßlin, Des Symmachus Historia Romana als Quelle für Jor­ danes, 1948; vgl. hierzu B.Croke, Chiron 13, 1983, 81-119. 52 Zum Codex Theodosianus zuletzt Harries/Wood, Theodosian Code u. Harries, Law and Empire; zu den Novellen Valentinians III. im speziellen u. a. de Marini Avonzo, Politica legislativa u. Bianchi Fossati Vanzetti, Novelle di Valentiniano III.

10

II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

zehnte ist immer wahrscheinlicher geworden, daß das auf uns gekommene Exemplar wohl kein reguläres Staatshandbuch aus dem tatsächlichen Dienstge­ brauch des primicerius notariorum darstellt. Wichtig ist in diesem Zusammen­ hang die Feststellung von G. Clemente, daß die «Notitia dignitatum» in ihrer vorliegenden Fassung Ausdruck des «conservatorismo culturale burocratico» und des «classicismo della cultura occidentale del IV e V secolo» ist,53 ein Ein­ druck, der von P. Brennan jüngst bestätigt worden ist.54 Die Folgen, die daraus für die Beurteilung des Quellenwertes des Schriftstücks zu ziehen sind, sind schwer einzuschätzen. Jedenfalls dürfte es dem gegenwärtigen Kenntnisstand angemessen sein, daß die Wissenschaft davon abgekommen ist, die zivile und militärische Verwaltung des Imperiums in der Spätantike vorwiegend von der «Notitia dignitatum» ausgehend zu erforschen.55 Dies gilt auch für unseren Zeitraum, in dessen Verlauf sich ohnehin eine zunehmende Kluft zwischen den tatsächlichen Verhältnissen an den Peripherien des Reiches und den bürokrati­ schen Regelungsbemühungen im fernen Ravenna aufgetan haben dürfte. Während die den O sten betreffenden Teile der «Notitia dignitatum» meist in die Zeit nach der Niederringung des Usurpators Eugenius 394 datiert wer­ den,56 existiert für den Westen kein Konsens. Sicher ist, daß sich die soge­ nannte Kanzleireform Stilichos teilweise in dem Schriftstück widerspiegelt.57 Auch nach dessen Tod im Jahre 408 muß es zu Änderungen gekommen sein, besonders in den 420er Jahren. Mit welchen konkreten Ereignissen eine solche Redaktion des Textes zusammenhängt, bleibt allerdings im dunkeln. Die Ver­ bindung des Heermeisters Constantius mit dem Kaiserhaus 417/21,58 die Ein­ setzung Valentinians III. als Augustus im Westen 425,59 Reformmaßnahmen des Constantius,60 des Felix61 und sogar des Aëtius:62 alle diese Möglichkeiten w ur­

53 Clemente, Notitia dignitatum, 43. 54 Brennan, Notitia Dignitatum. Ebenso mit Modifikationen Kulikowski, Notitia Dignitatum. 55 Martin, Spätantike, 192. Vgl. Kulikowski, Notitia Dignitatum, 375f. in bezug auf die den Westen betreffenden Teile der «Notitia dignitatum»: «To a very real extent, it becomes almost worthless as a mine of precise information on the history of the late Roman army and administration.» 56 Brennan, Notitia Dignitatum, 164f. u. 176f. Ebenso Mann, Notitia Dignitatum, 216f. Anders Kulikowski, Notitia Dignitatum, 360 u. 368ff., der eine Datierung unmit­ telbar vor Beginn des Bürgerkrieges gegen Eugenius favorisiert. 57 Hierzu z. B. Demandt, Magister militum, 613 ff.; Scharf, Kanzleireform u. Mann, Notitia Dignitatum. 58 Brennan, Notitia Dignitatum, 165ff. 59 Ebd. 60 Clemente, Notitia dignitatum, 48. 61 Mann, Notitia Dignitatum, 218. 62 Clemente, Notitia dignitatum, 48.

II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

11

den erwogen. Sicher ist lediglich, daß zumindest Teile der «Notitia dignitatum» aus der Lebenszeit von Galla Placidias Sohn stammen müssen, denn nur unter ihm kann eine Einheit wie die der Placidi Valentinianici felices geschaffen w or­ den sein.63 Richten wir abschließend noch einen Blick auf die Ergebnisse der Epigra­ phik, Numismatik und Archäologie. Die Zahl der Inschriften ist für unseren Zeitraum nicht mehr so groß wie noch in der hohen Kaiserzeit. Dennoch gibt es gerade für die Stadt Rom wichtige Funde, unter denen die Ehreninschrift aus dem Atrium Libertatis für Aëtius am bedeutendsten ist.64 Sie wird deshalb einer genaueren Analyse zu unterziehen sein. Die Münzüberlieferung unseres Zeitraumes ist durch die Publikation des ent­ sprechenden Bandes der Reihe «The Roman Imperial Coinage» von J. P. C. Kent nunmehr bequem zugänglich gemacht.65 In einigen Fällen kann sie dazu die­ nen, historische Ereignisse zu illustrieren. Die Hochzeit Kaiser Valentinians III. mit der oströmischen Prinzessin Eudoxia im Jahre 437 etwa wurde durch M ün­ zen mit der Legende feliciter nubtiis gefeiert,66 und auch danach zeugte der Schriftzug salus Orientis felicitas Occidentis vom guten Einvernehmen zwi­ schen Konstantinopel und Ravenna.67 In Trier können wir anhand von Prägun­ gen bis in die 420er Jahre und möglicherweise darüber hinaus die unge­ brochene Präsenz der kaiserlichen Administration in diesem Teil des Reiches belegen.68 Dennoch hat auch die Aussagefähigkeit dieser Quellengattung ihre klar gezogenen Grenzen. In weiten Teilen des Westreichs, etwa in Britannien und im Donauraum nördlich und östlich der Alpen, erlischt nach 400 die Geldzufuhr. Lediglich Edelmetallprägungen, die für die Bezahlung barbarischer Föderaten benötigt wurden, finden sich noch. Interpretierte man lange Zeit diesen Befund dahingehend, daß mit dem Ende des Münzflusses auch die röm i­ sche Herrschaft aufgehört habe, so sieht man den Sachverhalt heute eher als 63 Not. dign. occ. 7,36. Dazu Kulikowski, Notitia Dignitatum, 375 mit Anm. 69. 64 Es handelt sich um CIL VI 41389 (AE 1950, 30). Siehe hierzu im Kapitel «Aëtius und die italische Senatsaristokratie» S. 255ff. Allgemein zur reduzierten Bedeutung der Epigraphik für unseren Zeitraum T. Barnes, in: Atti del XI Congresso Internazionale di Epigrafia Greca e Latina. Roma, 18-24 settembre 1997, Bd. 2, 1999, 565-576. 65 Kent, Roman Imperial Coinage, Bd. 10. Zu Valentinian III. im speziellen auch ders., in: H.-Ch. Noeske/H. Schubert (Hrsgg.), Die Münze. FS M. R.-Alföldi, 1991, 271-282. 66 Kent, Roman Imperial Coinage, Bd. 10, 79. 67 Ebd. 68 Ebd., 26f. u. 171 f. sowie K.-J. Gilles, Die Trierer Münzprägung im frühen Mittelalter, 1982, 11 ff.; Anton, Trier in den germ. Invasionen, 7f. mit Anm. 13 u. Bleckmann, Honorius, 585 Anm. 86. Zweifel allerdings bei King, Roman, local, and barbarian coin­ ages, 193f., die in den betreffenden Trierer Emissionen lokale, später fränkische Silber­ prägungen nahe der Rheingrenze erkennen will.

12

II. Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

ökonomischen Strukturwandel, der mit dem Ende des imperialen M achtan­ spruchs in den betroffenen Regionen nichts zu tun habe.69 Wie problematisch die Interpretation vorhandener oder nicht vorhandener numismatischer Befunde ist, zeigt auch das Beispiel der sogenannten solidi Gal­ lici. J.Lafaurie und - in seinem Gefolge - E.D em ougeot glaubten diese aus einem Gesetz Kaiser Majorians bekannte M ünzgattung70 mit inoffiziellen Prä­ gungen aus Gallien in Verbindung bringen zu können. Aëtius selbst habe für sie verantwortlich gezeichnet. Er habe dadurch aktuelle Rekrutierungsprobleme bewältigen und sich zusätzlichen Machtspielraum insbesondere in Gallien ver­ schaffen wollen.71 Diese These ist nicht unwidersprochen geblieben. Man fragte mit Recht, warum der mächtige patricius auf inoffizielle Prägungen minderer Qualität angewiesen war, da er doch ganz andere Einflußmöglichkeiten bei Hofe hatte.72 Im übrigen sei die Verleihung eines Münzprivilegs an Aëtius ganz unwahrscheinlich.73 In der Tat gibt es für eine solch singuläre Auszeichnung auch keinerlei Anhaltspunkte in den Quellen. Resultat der Forschungskontro­ verse kann es nur sein, sich vor einer vorschnellen Einordnung der solidi Gal­ lici in das Gesamtbild der Gallienpolitik des Aëtius zu hüten, zu interpretierbar ist der numismatische Befund, zu inhomogen auch das Meinungsbild der Spe­ zialisten. Ähnliche Probleme, wie sie soeben für den Bereich des Münzwesens aufge­ zeigt wurden, finden sich auch im Bereich der Archäologie. Fand das fünfte Jahrhundert lange Zeit scheinbar nur an wenigen Fundplätzen wie Krefeld-Gel­ lep statt, so ist durch die Forschungen der letzten Jahrzehnte unsere Vorstel­ lung von der Rhein- und Donaugrenze zur Zeit des Aëtius doch stark präzi­ siert worden.74 H eute können w ir an vielen Stellen eine römische Präsenz bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts nachweisen; der Zeitpunkt für das «Ende» der römischen Herrschaft wird immer weiter hinaufgeschoben. Dennoch ist auch hier Vorsicht geboten: D urch eine verfeinerte Datierung der sogenannten Argonnensigillata hat man gerade in jüngster Zeit versucht, das Ende der mili­ tärischen Präsenz des Imperiums an bestimmten Standorten immer präziser zu

69 Siehe zu diesem Problem im Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius» S. 188 mit Anm. 994. 70 Novell. Maior. 7 (06.11.458), 14f. 71 E.Demougeot, in: dies., Empire romain, 347ff. u. J.Lafaurie in: Marin, Attila, 7792. Letzterer hat die These vom Münzprivileg des Aëtius seit den siebziger Jahren mehrfach vorgetragen. 72 Kent, Roman Imperial Coinage, Bd. 10, 223. 73 King, Roman, local, and barbarian coinages, 189. Ablehnend auch G.Depeyrot, SNR 65, 1986, 113 Anm. 11. 74 Siehe hierzu die Anführung der einzelnen Befunde im Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius».

IL Die Quellen zu Aëtius und seiner Zeit

13

fassen.75 Derartige Versuche müssen vorsichtig rezipiert werden und sollten nicht in allgemeine Darstellungen eingehen, bevor sich nicht die Ansichten der Spezialisten zu einem Konsens eingependelt haben.76 Für die Argonnensigillata wie für die inoffiziellen so/û&’-Prâgungen in Gallien gilt, daß sie nur zusätz­ liches Argument sein dürfen, nicht aber die fehlende literarische Überlieferung ersetzen können.

75 Hierzu exemplarisch D. Bayard, in: Vallet/Kazanski, Armée romaine, 223-240. Er bezeichnet die Argonnensigillata als «un auxiliaire essentiel pour l’historien du Ve siè­ cle» (ebd., 230). Einen Überblick über die Verbreitung dieser spätantiken Keramik in Nordgallien bietet P. van Ossel, Alba Regia 25, 1994, 221-230. 76 Bedenkenswert ist etwa die vorsichtige Stellungnahme von L.Bakker, in: Teichner, Kahl a. Main, 163 ff., der auf die nur bedingte Aussagekraft der Rollstempel der Argon­ nensigillata für die Datierung ausdrücklich hinweist.

III. Aëtius’ politischer Weg im Machtgefüge des Weströmischen Reiches

Es ist gewiß kein leichtes Unterfangen, den Weg des Aëtius vom niedermösischen Offizierssproß bis zum faktischen Beherrscher des Westreichs nachzu­ zeichnen, zu disparat, lückenhaft und stellenweise konfus ist die Quellenlage. Schon zeitgenössische Chronisten wie Prosper von Aquitanien und Hydatius widersprechen sich in ihren Informationen;77 die spätere Überlieferung unter­ liegt vielfach einer Betrachtungsweise, die Aëtius als letztes Bollwerk des West­ reichs, als «letzten Römer» interpretierte.78 Aus einem solchen Blickwinkel her­ aus wurden die nun schon Generationen zurückliegenden Geschehnisse angeordnet und der historische Verlauf hinsichtlich der um 435 endlich erreich­ ten faktischen Alleinherrschaft des Aëtius geglättet. Die Feinheiten der ja kei­ neswegs zielgerichteten Ereignisgeschichte mußten hierunter ebenso leiden wie die Klarheit der staatsrechtlichen Terminologie.79 Die Tendenz der antiken Ge­ schichtsschreibung zur Personalisierung politischer Konflikte tut ein übriges, um die Position des Aëtius und seiner Widersacher im Gefüge des W eströmi­ schen Reiches zu verunklaren. Die Bühne, auf der sich die Ereignisse abspielten, die es im folgenden darzu­ stellen gilt, hat in vielfacher Weise das Handeln der Akteure bestimmt und ihren Bewegungsspielraum eingegrenzt. Es handelt sich um das eine Römische Reich, das zwar seit dem Ende des dritten Jahrhunderts mehrfach geteilt und in verschiedene Amtsbereiche aufgegliedert worden war, an dessen prinzipieller Einheit die Zeitgenossen auch des fünften Jahrhunderts jedoch unverbrüchlich festhielten.80 Freilich hatten sich seit der Endphase der valentinianischen D yna­

77 Vgl. beider Informationen zu der Frage, welches Amt Aëtius nach 429 ausübte: Bei Prosp. chron. 1300 (s. a. 429) firmiert er als magister militum. Nach Hydatius erscheint Aëtius 430/31 als comes (Hyd. chron. 92 [s. a. 430]) oder einfach als dux (Hyd. chron. 96 [s. a. 431]). Zu den damit verbundenen Problemen siehe unten. 78 So Prok. Kais. hist. 3,3,14f. (ανδρα Τωμαίων ύστατον). Vgl. noch den Titel der jüngsten Aëtius-Biographie von Zecchini: «Aezio: l’ultima difesa dell’Occidente romano». 79 Bei Marcell. chron. s. a. 432 etwa erscheinen fälschlicherweise sowohl Aëtius als auch Bonifatius als patricii·, dazu Demandt, Magister militum, 656 u. B.Croke, The Chronicle of Marcellinus, 1995, 80. 80 Vgl. hierzu das Wort des Orosius vom commune imperium divisis tantum sedibus (Oros. hist. 7,36,1). Grundsätzliches zur Thematik v. a. bei A.Pabst, Divisio regni, 1986 u. Bayless, Political Unity. Elemente der Reichseinheit im 5. Jh. diskutieren auch Nagy,

16

III. Aëtius’ politischer Weg

stie (364-392) gewisse strukturelle Veränderungen sichtbar vollzogen, denen die Handlungsträger rings um die jugendlichen Söhne Theodosius’ des G roßen Rechnung zu tragen hatten. Auf diese Veränderungen gilt es zuerst einen Blick zu werfen, um die Möglichkeiten abzustecken, innerhalb derer Aëtius agierte.

1. D as R eich z u B eginn des fü n fte n J a h rh u n d e rts n. C h r. Als Theodosius der Große am 17. Januar 395 in Mailand verstarb, schien er zumindest vordergründig betrachtet - ein durchaus gefestigtes Reich zu hinter­ lassen. Das ganze Imperium Romanum war wieder unter der Herrschaft einer einzigen Dynastie vereint, etwaige U surpatoren aus dem Felde geschlagen, die O rthodoxie durch das 381 verabschiedete Nicaeno-Constantinopolitanum ge­ stärkt und gegen Heiden wie H äretiker gefestigt worden.81 So viel Einheit hatte es selten gegeben, seit Konstantin der Große die Herrschaft im Reich für seine Familie erstritten und die nach ihm benannte Wende eingeleitet hatte. U nter den angeführten Gesichtspunkten war es auch verkraftbar, daß nun, nach dem vor­ zeitigen Tode des Vaters, die unerfahrenen Theodosiussöhne auf Hilfe bei ihrer Regierung angewiesen waren. Die Tatsache, daß diese Situation «informelle Gruppenbildungen»8283 bei H ofe fördern mußte, stellte keine qualitative Ver­ änderung der Herrschaftsgegebenheiten dar. Solange die einflußreichen Persön­ lichkeiten um Arcadius und H onorius im Sinne der Förderung des Reichs­ ganzen aktiviert werden konnten, bestand kein G rund zur Klage gegenüber den pnncipes p u e riP Problematisch war jedoch, daß genau dies nicht gelang. In den Jahren nach 395 kam es zu einer Kette von Krisen im Verhältnis zwischen dem O st- und dem Weströmischen Reich; verantwortlich waren hier­ für vor allem die nach Theodosius’ des G roßen Tod agierenden Regenten. Diesbezügliche Einzelheiten sind in unserem Zusammenhang nicht von BedeuTransfer of Power, 85f. u. Henning, Periclitans res publica, 188ff. Erst langsam bildete sich im Verlaufe des 5. Jhs. ein Konstantinopler Sonderbewußtsein heraus; hierzu u. a. W.E. Kaegi, Byzantium and the Decline of Rome, 1968, zusammenfassend ebd. 224 ff. u. G.Dagron, Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 34, 1988, 43-72. 81 Zu Theodosius dem Großen und seiner Politik u. a. Demandt, Spätantike, 124 ff. mit knapper Diskussion der Quellen. Ausführlich A. Lippold, RE Suppl. 13, 1973, 837961; ders., Theodosius der Große und seine Zeit, 1980 u. St. Williams/G.Friell, Theo­ dosius, 1994. 82 So der von Gizewski, Informelle Gruppenbildungen, gewählte Fachterminus. Ge­ rade in bezug auf die Situation nach 395 spricht Gizewski a. a. O., 131 von der Gefahr einer «Uberdeckung der Anhängerschaft eines Kaisers mit der eines «starken Mannes zu seiner Rechtem.» 83 Diesen Aspekt hat zuletzt auch Bleckmann, Honorius, 562 ff. betont.

1. Das Reich zu Beginn des fünften Jahrhunderts n. Chr.

17

tung;84 wichtig sind jedoch die politischen Strukturen, deren G rund durch diese bis 408 und darüber hinaus reichenden Auseinandersetzungen gelegt w ur­ de. So ist es auffallend, daß in Konstantinopel zivile Beamte wie der praefectus praetorio p e r O rien tem Rufinus (gest. 395) und der praepositus sacri cubiculi Eutropius (gest. 399) bedeutenden Einfluß auf die Geschehnisse zu nehmen vermochten, während im Westen der m agister p ed itu m praesentalis Stilicho (gest. 408) den H auptpart übernahm. Stilicho war noch von Theodosius als faktischer tu to r zumindest für H onorius eingesetzt worden.85 Gerade weil er seine exzeptionelle Stellung nicht durch traditionell begründete auctoritas un­ termauern konnte,86 versuchte er seine formellen Kompetenzen in alle Richtun­ gen auszudehnen. Auf diese Weise gelang es ihm, schrittweise Zugriff auf die gesamte militärische Kommandostruktur des Westens zu erlangen.87 Durch die Knüpfung von Verwandtschaftsbeziehungen, die sich nicht nur auf den Kaiser H onorius, sondern etwa auch auf den comes Africae Bathanarius erstreckten,88 schuf er ein System wechselseitiger Loyalitäten; gegenüber den Belangen des Senates in Rom zeigte er ebenso Interesse wie gegenüber denen der Kirche. Auf diese Weise vermochte sich Stilicho die Stellung eines «Hausmeiers»89 im Westen zu verschaffen, nur begrenzt durch seine reverentia und pietas gegen­ über den Söhnen Theodosius’ des Großen. Daß er diese zuletzt erwähnte Schranke seiner persönlichen Macht zu akzeptieren bereit war, hat Stilicho mehrere Male in den Auseinandersetzungen mit dem O sten bewiesen, als er eben nicht den Schritt zum M ilitärdiktator bzw. U surpator machte, sondern 84 Allgemein zu den Ereignissen nach 395 wiederum Demandt, Spätantike, 137ff. mit den Quellen; grundlegend immer noch S.Mazzarino, Stilicone, 1942 u. E.Demougeot, De l’unité à la division de l’empire romain 395-410, 1951. 85 So Straub, Parens principum. Eine staatsrechtliche Vormundschaft gegenüber un­ mündigen Kaisern gab es nicht bei den Römern; siehe Th. Mommsen, Gesammelte Schriften, Bd. 4, 1906, 516f. mit Anm. 2 u. Lippold, Theodosius (11), 963. Stilichos parentela, seine Stellung als parens principum gegenüber Honorius, beruhte auf einem durch fides und pietas gekennzeichneten Verwandtschaftsverhältnis. 86 Auch als Heerführer war Stilicho bis zu diesem Zeitpunkt nicht übermäßig in Er­ scheinung getreten. Den angeführten Aspekt betont Lütkenhaus, Constantius III., 12f. 87 Hierzu - unter Bezug auf Cod. Theod. 1,7,3 (13.09.398) u. die Not. dign. occ. Demandt, Magister militum, 613 ff. sowie Scharf, Kanzleireform. Zu Stilichos Macht­ grundlage allgemein zuletzt Lütkenhaus, Constantius III., 7ff.; zur Entwicklung des Heermeisteramtes im Westreich Demandt, Magister militum u. zusammenfassend Hen­ ning, Periclitans res publica, 245ff. Demandt a. a. O., 613 betont, daß es sich gerade bei der Machtbildung Stilichos nicht um eine staatsrechtlich ausgereifte Militärdiktatur ge­ handelt habe, sondern um die allmähliche Ausbildung einer hegemonialen Amtsstruktur. 88 Kaiser Honorius war nacheinander mit den Töchtern Stilichos, Maria und Thermantia, verheiratet; hierzu PLRE II Maria (1) u. Thermantia. Bathanarius hatte die Schwester des Heermeisters zur Frau (so Zos. 5,37,6). 89 So Straub, Parens principum, 239.

18

III. Aetius' politischer Weg

die Integrität des senior Augustus Arcadius, auch gegen seine eigenen machtpolitischen Interessen, zu wahren bereit war. Daß es dem Wandalen Stilicho im Westen gelang, sich über mehr als ein Jahrzehnt zu behaupten, während der ebenfalls barbarische m agister utriusque m ilitiae Gainas (gest. 400) in Konstantinopel nach nur kurzer Zeit scheiterte, ist kein Zufall. Schon unter den letzten Kaisern aus valentinianischem Hause hatten Generäle die eigentliche Macht innegehabt, so etwa Merobaudes (gest. 383) und Bauto (gest. nach 385), besonders aber Arbogast (gest. 394). Letzterer hatte nach dem Tode des Magnus Maximus 388 sogar mit Einwilligung Theo­ dosius’ des G roßen die Geschäfte Valentinians II. geführt, war aber schließlich in Ungnade gefallen, gerade weil er es an reverentia gegenüber dem nominellen senior Augustus hatte fehlen lassen, ja seinen Tod herbeigeführt und einen U surpator an seine Stelle gesetzt hatte.90 Trotz des letztendlichen Scheiterns Arbogasts war durch dessen langjähriges, effizientes W irken ein exem plum ge­ setzt worden, dem auch der siegreiche Theodosius Rechnung trug: Die Beauf­ tragung Stilichos im Westen war die bewußt gezogene Konsequenz,91 während sich im O sten des Reiches in einem wechselhaften Prozeß zivile Amtsträger gegenüber dem Militär durchzusetzen vermochten.92 D er angedeutete, im Westen immer deutlicher zutage tretende Machtzuwachs des präsentalen m agister p ed itu m ist nur ein Aspekt, unter dem die Entwick­ lungen des fünften Jahrhunderts zu betrachten sind. Stilichos Kompetenzen akkumulierten sich in und durch die Auseinandersetzungen mit seinen Rivalen am östlichen Hof; mehrfach standen Mailand und Konstantinopel kurz vor einem Bürgerkrieg. Es ging um grundsätzliche Fragen wie die Regentschaft für H onorius und Arcadius, aber auch um machtpolitische Einzelstreitpunkte wie diejenige, ob die Diözesen Macedonia und Dacia vom Westen oder vom O sten zu verwalten seien. Als Katalysator der Auseinandersetzung fungierten des öf­ teren die Westgoten Alarichs, eine ethnisch durchaus heterogene W andergrup­ pe, die sich 378 den Weg ins Reich gewaltsam erstritten und ihn 382 mit Theo­ dosius, dem «Freund des Friedens und der Goten»,93 vertraglich abgesichert

90 Arbogast wagte es, einen engen Vertrauten Valentinians II. in dessen Anwesenheit zu erschlagen und dessen Entlassungsschreiben zu ignorieren (Zos. 4,53). Seine Verant­ wortung für den Tod des Kaisers ist ungeklärt; vgl. jedoch die Einschätzung von A.Pabst, in: M.Clauss, Die röm. Kaiser, 1997, 367. 91 So Straub, Parens principum, 239. 92 Von Rufinus und Eutropius war bereits die Rede; später übten - neben der Kaiserin Pulcheria - der praefectus praetorio per Orientem Anthemius und der magister officio­ rum Helio gewichtigen Einfluß aus. Mit den mächtigen Heermeistern des Westens ver­ gleichbar ist der magister utriusque militiae Aspar (gest. 471), der eine Stilicho ähnliche Stellung zeitweise zu erreichen vermochte, jedoch gleich diesem letztendlich scheiterte. 93 lord. Get. 146 {amator pacis generisque Gothorum).

1. Das Reich zu Beginn des fünften Jahrhunderts n. Chr.

19

hatte. Die angesprochenen Probleme wurden von Stilicho und seinen Rivalen nicht gelöst, sie werden uns sämtlich in der Zeit des Aëtius wieder begegnen, für dessen Politik sie eine ständige Erblast darstellten. Daß dies so kam, lag aber nicht nur an der mangelnden Entschlossenheit der Protagonisten, sondern auch daran, daß gerade zu Beginn des fünften Jahr­ hunderts das Westreich von einer Vielzahl barbarischer Vorstöße heimgesucht wurde, deren Folgewirkungen für Mailand nicht mehr beherrschbar waren.94 Phasenweise war der Machtbereich des Kaisers H onorius auf Italien zusam­ mengeschmolzen, während sich in Gallien, Spanien und N ordafrika die Usur­ patoren tummelten und barbarische Völker verschiedener Couleur das Land durchstreiften. Es war nicht nur der Tatkraft des Heermeisters Constantius und anderer zu verdanken, sondern zu einem beträchtlichen Teil auch reines Glück, daß seit 411 eine schrittweise, von Rückschlägen unterbrochene Stabili­ sierung gelang, so daß sich zum Ende dieses Jahrzehnts die Perspektive einer langfristigen Beruhigung der Lage auftat.95 Die seit 401 in Italien, seit 406 in Gallien und seit 409 in Spanien erfolgten Einbrüche hauen allerdings zur Folge, daß der Westen in seiner ökonomischen Substanz derartig geschädigt wurde, daß er hinsichtlich seines Potentials seither mit dem O sten nicht mehr zu konkurrieren vermochte. Erschwerend kam hin­ zu, daß es H onorius und seinen Nachfolgern nicht gelang, die prinzipiell vor­ handenen Geldmittel der reichen westlichen Senatorengeschlechter im Sinne des Reichsganzen verfügbar zu machen.96 U nter diesen Umständen war jegli­ che Politik Ravennas nach der Jahrhundertwende ein Drahtseilakt, erfolgver­ sprechend eigentlich nur unter extrem günstigen Rahmenbedingungen. Das noch vorhandene Offensivpotential war im Falle seines Verlustes nicht zu er­ setzen; die Barbaren als militärische Größe mußten jederzeit ins politische Kal­ kül einbezogen werden, wollte man nicht das Scheitern von vornherein riskie­ ren. Schwindende ökonomische Basis, reduzierte Wehrkraft und daraus resultierende militärische Mißerfolge: dies war die Grundlage für die Entste­ hung eines Teufelskreises, der die folgenden Regierungen begleitete, ihr H an­ deln determinierte und die Akzeptanz des weströmischen Kaisertums zuneh-

94 Die Bedeutung des Barbareneinfalls von 406/07 hat jüngst noch einmal Bleck­ mann, Honorius, 56Iff. u. 590ff. herausgestrichen. 95 Dieser Eindruck war allerdings trügerisch; siehe ebd., 590ff. - Zu Constantius nun die zusammenfassende Darstellung von Lütkenhaus, Constantius III. 96 Die ökonomische Zwangslage des Westreichs im 5. Jh. streichen heraus Sundwall, Weström. Studien, 154 ff.; Stein, Bas-Empire, 342 ff.; Jones, Later Roman Empire, 204 ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 208 Anm. 128; Wolfram, Reich, 164 u. Henning, Pericli­ tans res publica, 261 f. Versuche, sie zu bessern, gab es, wie z. B. Novell. Valent. 4 (24.01.440), Novell. Valent. 10 (14.03.441) u. Novell. Valent. 15 (11.09.444/18.01.445) zeigen.

20

III. Aëtius’ politischer Weg

mend gefährdete. Es war ein tiefer Fall für die pars Occidentis. N och 364 hatte sich Valentinian I. bei der Reichsordnung von Naissos und Sirmium für die westliche cura entschieden. Doch seit 392 befand sich der senior Augustus im Osten; die Tatsache, daß sich beim Tode Theodosius’ des G roßen nahezu das gesamte Reichsheer in Italien befand, wurde von Stilicho nicht ausgenutzt;97 den nach der Jahrhundertwende erfolgten Machtschwund vermochte H onorius nach 408 durch die auctoritas des älteren Augustus gegenüber Theodosius II. nicht mehr wettzumachen. So geriet der Westen zunehmend nicht nur hinsicht­ lich seiner materiellen Ressourcen gegenüber dem O sten ins Hintertreffen; er büßte auch an Reputation ein. Fassen wir zusammen: Die Politik des Aëtius im fünften Jahrhundert ist na­ türlich nicht losgelöst von den allgemeinen Bedingungen denkbar, unter denen sich das Weströmische Reich in dieser Zeit entwickelt hat. Viele Problemkreise, mit denen er sich auseinandersetzen mußte, hatten ihre Wurzel bereits im vier­ ten Jahrhundert. Dies gilt etwa für die besondere Stellung der präsentalen Heermeister im Machtgefüge des Westens, wie sie sich seit der spätvalentinianischen Zeit herausbildete; dies gilt auch für das von Theodosius dem Großen geerbte Gotenproblem. Alarichs aggressive W andergruppe war diesbezüglich ja nur der Auftakt für eine Entwicklung gewesen, die sich mit Beginn des fünften Jahrhunderts enorm beschleunigte und dauerhafte Schäden hervorrief. Es war eine Frage von entscheidender Bedeutung, ob es gelingen konnte, die inneren Strukturen des Westreichs wieder so zu kräftigen, daß eine A ntw ort auf die gestellten Herausforderungen möglich war. Das Scheitern Stilichos im Jahre 408 ist jedoch ein Anzeichen dafür, wie begrenzt die Chancen des Aëtius ein Vierteljahrhundert später sein mußten - unter militärischen und ökonomischen Umständen, die sich seither ja keineswegs verbessert hatten.

2. D er Lebensweg des Aëtius bis zur U surpation des Johannes 423 n. Chr. Wir wissen nicht viel über Aëtius’ frühe Jahre; erst mit der erneuten Krise des Westreichs 423/25 im Gefolge der Usurpation des Johannes tritt er als politi­ scher Akteur hervor - dann allerdings sofort als zentrale Figur im Spiel um die Macht. Das, was uns die Quellen über die Zeit vorher berichten, ist dürftig

97 Die günstigen Startbedingungen des Westens in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. hebt Wolfram, Reich, 162f. hervor. W.Goffart, AHR 86, 1981, 292ff., glaubt, daß die struk­ turelle Schwächung Ravennas dem Bedürfnis Konstantinopels nach Sicherheit vor Usur­ pationen im Westreich entgegengekommen und deshalb seit Ende des 4. Jhs. von den dortigen Herrschern bewußt gefördert worden sei.

2.

Der Lebensweg des Aëtius bis 423 n. Chr.

21

und reicht kaum aus, um ein klares Bild von der «giovinezza di Aezio»989zu zeichnen. Unsere wesentlichen Zeugnisse sind rasch benannt: Es handelt sich zum einen um eine N otiz in den «Getica» des Jordanes, in der unser Feldherr folgendermaßen charakterisiert wird: A etius ergo patricius tunc praeerat m iliti­ bus , fortissim orum M oesium stirpe progenitus in D orostorena civitate a p a tre G audentio, labores bellicos tolerans, rei publicae R om anae singulariter natus

7

[.. . ." Die andere, ausführlichere Quelle stellt Gregor von Tours dar, der selbst im sechsten Jahrhundert schreibend - wörtlich eine Passage des Renatus Profuturus Frigeridus zitiert. Dieser jedoch dürfte nahezu ein Zeitgenosse des Aëtius gewesen sein: E t quia de hoc viro (scii. A etio) consequenter plu ra m em o­ randa sunt, genus m oresque ordire placet. G audentius pater, Scyciae p ro vin tia e p rim o n s loci, a dom esticatu exorsus m ilitiam , usque a d m agisterii equitum cul­ men profectus. M ater Itala, nobilis ac locuplex faem ina. A etius filius a puero praetorianus, tribus annis A larici obsessus, dehinc Chunorum ; p o st haec C arpilionis gener, ex com ite dom esticorum et loban n is cura pala tii .100

Folgende Fakten lassen sich aus den angeführten Zeugnissen rekonstruieren: Aëtius wurde in D urostorum geboren, einem niedermösischen M ilitärstandort an der Donaugrenze, an dessen Stelle heute die bulgarische Stadt Silistra liegt.101 Sein Vater Gaudentius stammte aus der Provinz Scythia, ganz in der N ähe an der M ündung der Donau ins Schwarze Meer. Es ist das Offiziers­ milieu an der Grenze zum Barbaricum, dem Aëtius und sein Vater zuzurechnen sind. Insofern sollte man die R om anitas der beiden nicht ungebührlich be­ tonen:102 Immerhin gehörte Gaudentius offensichtlich zu den eher privilegier­ ten Schichten seiner Heimatprovinz (Scyciae pro vin tia e prim oris loci). Er war katholisch103 und hatte eine «gute Partie» gemacht, indem er eine reiche Frau von Stand aus Italien geheiratet hatte {m ater Itala, nobilis ac locuplex faem ina). Für den kleinen Aëtius bedeuteten dies günstige Startbedingungen, wenn er einst selbst seine Karriere im Militärdienst beginnen sollte. Denn (ererbte) Kontakte in der Truppe waren das eine, um den Boden für die Zukunft zu

98 So die optimistische Kapitelüberschrift bei Zecchini, Aezio, 115. 99 lord. Get. 176. 100 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8. Zu Renatus Profuturus Frigeridus Zecchini, Ae­ zio, 83 f. u. zuletzt Ph. Wynn, Athenaeum 85, 1997, 69-117. 101 Zu den archäologischen Befunden in den spätantiken Standorten südlich der Do­ nau u. a. V. Popovic, in: Hänsel, Völker Südosteuropas, 95-139. 102 Die Romanitas des Aëtius wurde von der Forschung immer - gerade im Gegen­ satz zu Stilicho - hervorgehoben, so noch jüngst von Zecchini, Aezio, 116. - Aëtius’ Name leitet sich von άετός, dem Adler des Zeus, her (freundlicher Hinweis von Profes­ sor N. Wagner, Würzburg), läßt jedoch keine Rückschlüsse auf die ethnische Zugehörig­ keit seines Trägers zu. 103 Siehe hierzu Appendix I auf S. 321 ff.

22

III. Aëtius’ politischer Weg

bereiten;104 ebenso wichtig war es jedoch, sich im aristokratischen Milieu be­ wegen und den dortigen Verhaltensweisen anpassen zu können.105 Gerade in bezug auf letzteres mangelte es vielen Heerführern, die aus niedrigsten Verhält­ nissen emporgestiegen waren. Ü ber die Karriere des Gaudentius können wir einige Aussagen treffen. O f­ fensichtlich begann er seine Laufbahn bei den protectores domestici (so ist wohl a domesticatu exorsus militiam zu deuten);106 der Dienst in dieser Eliteeinheit bedeutet, daß Gaudentius in einem besonders nahen Dienstverhältnis zum Kai­ ser stand, eine wichtige Voraussetzung für den weiteren Aufstieg.107 Da w ir ihn später im Westen des Reiches antreffen, ist es ein naheliegender Schluß, daß Gaudentius im Jahre 394 Kaiser Theodosius den G roßen auf seinem Feldzug gegen den U surpator Eugenius begleitet hat und danach im Dienste des H o n o ­ rius verblieben ist.108 U m das Jahr 400 war er comes Africae und wirkte dort bei der Wiedereinrichtung des legitimen theodosianischen Regimes nach dem Gildonischen Aufstand 397/98 m it.109 Sein damaliger Mitstreiter war ein gewis­ ser Iovius; er ist höchstwahrscheinlich identisch mit der gleichnamigen Persön­ lichkeit, die nach der Erm ordung Stilichos vorübergehend eine wichtige, wenn auch verwirrende Rolle spielte.110 Gaudentius und Iovius werden nochmals Ende des Jahres 408 gemeinsam genannt, als Alarich beider Söhne, Aëtius und Iason, als Geiseln forderte;111 sie könnten also durch eine dauerhafte politische Partnerschaft verbunden gewesen sein. Welche Inhalte diese Partnerschaft jedoch

104 Diesen Aspekt hebt Demandt, Spätröm. Militäradel, 628ff. hervor. 105 Es ist allerdings problematisch, über diese generelle Aussage hinaus Schlüsse hin­ sichtlich des Bildungsgrades des Aëtius zu ziehen, wie dies Zecchini, Aezio, 116 tut. Daß sich der patricius später von Panegyrikern hat verherrlichen lassen, dürfte seiner herausgehobenen Position entsprochen haben, weniger persönlichen Affinitäten. Von anderen Heerführern wie Stilicho und Bonifatius wissen wir ähnliches. 106 PLRE II Gaudentius (5). 107 Die protectores domestici stellten nicht nur eine Leibwache dar, sie übernahmen auch vertrauliche und besonders wichtige Missionen für den Kaiser. Dazu Grosse, Röm. Militärgeschichte, 138ff.; Frank, Scholae Palatinae, 8Iff. u. Southern/Dixon, Late Ro­ man Army, 56 f. 108 So Zecchini, Aezio, 115f. 109 Diese comitiva ist gut bezeugt, weil Gaudentius damals heidnische Heiligtümer in seinem Amtsbereich zerstören ließ; dazu Consul. Constant, s. a. 399; Aug. civ. 18,54; Cod. Theod. 11,17,3 (21.03.401) u. Quodv. prom. 3,41. 110 Die Gleichsetzung ist zwar wahrscheinlich, aber nicht völlig gesichert, zumal die in der vorausgehenden Fußnote genannten Quellen unterschiedliche Namensformen präsentieren (in den Consul. Constant, s. a. 399 heißt es Iovianus, nicht Iovius)·, dazu PLRE II Iovius (2) u. (3). Zu Iovius und seiner Politik zuletzt Lütkenhaus, Constantius III., 24ff., bes. 25 Anm. 23. 111 Zos. 5,36,1.

2.

Der Lebensweg des Aëtius bis 423 n. Cbr.

23

auszeichneten, ist gerade in der verworrenen Situation nach Stilichos Tod schwer auszumachen. In der angespannten Lage des Jahres 408 ging es für das Weströmi­ sche Reich ums nackte Überleben. Koalitionen und politische Ziele wechselten nahezu Tag für Tag, wie gerade das Verhalten des Iovius in dieser Zeit zur Genüge vor Augen führt. Etiketten wie «streng katholisch», «antigermanisch» und «legitimistisch» geben demgegenüber eine Einheitlichkeit des politischen Wollens vor, die die ständig wechselnde Lage oft genug nicht zuließ. Das Stichwort «Vergeiselung» ist bereits gefallen. Renatus Profuturus Frigeridus berichtet von zwei derartigen Aufenthalten des Aëtius bei fremden Völ­ kern: A etius filius a puero praetorianus, tribus annis A la n d obsessus, dehinc C hunorum . Die genaue Datierung dieser Vergeiselungen ist ungeklärt und wird es aufgrund fehlender weiterer Zeugnisse auch bleiben. Fest steht, daß der Aufenthalt bei den Westgoten in die Jahre zwischen 402 (dem erstmaligen Abzug Alarichs von italischem Boden) und 408 (der erneuten Forderung Alarichs nach Aëtius) fallen muß. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat der Zeitraum von 405 bis 408.112 Er trägt nicht nur dem tribus annis des Frigeridus Rechnung, sondern paßt auch - im Gegensatz zu 402 - zu einem Arrangement, in dem die Römer angesichts der Radagais-Gefahr Zugeständ­ nisse machen mußten. Problematischer ist der Ansatz der Vergeiselung des Aëtius bei den Hunnen. Gesetzt den Fall, daß der Aufenthalt bei Alarich 408 endete, bietet sich als nächstes Datum das Abkommen des H onorius mit dem H unnenführer Uldin im Jahre 409 an. Sollte dieses jedoch nicht in Frage kom ­ men, so ist jeder Zeitpunkt bis zur Usurpation des Johannes 423 prinzipiell denkbar.113 Wie gesagt, die genaue Datierung der Vergeiselungen des Aëtius ist wegen der mangelhaften Quellengrundlage nicht mehr möglich. Allerdings sagen die angesprochenen Ereignisse etwas aus über die Stellung, die Gaudentius und sein Sohn im Gefüge des weströmischen Staates im ersten Jahrzehnt des fünf­ ten Jahrhunderts einnahmen: Offensichtlich wuchs der junge Aëtius in un­ mittelbarer Nähe des Kaisers H onorius bei Hofe auf, so daß er als mögliches Friedenspfand prinzipiell in Frage kam. Renatus Profuturus Frigeridus er­ wähnt in unserer eingangs zitierten Passage, der Generalssohn sei a puero praetorianus gewesen. Gemeint ist damit höchstwahrscheinlich die Stellung eines tribunus praetorianus partis m ilitaris bei Hofe, eine Funktion, die schon Stilicho einst ausgeübt hatte, die also einen guten Ausgangspunkt für eine

112 So Clover, Flavius Merobaudes, 56ff.; Zecchini, Aezio, 120ff. u. die PLRE II Aetius (7). Eine Datierung auf 402/05 wird erwogen von Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 364 Anm. 266. 113 Siehe meine Ausführungen im Kapitel «Aëtius und die Hunnen», S. 87f. mit Anm. 449.

24

III. Aëtius’ politischer Weg

künftige Offizierskarriere bot.114 Aëtius’ Vater bekleidete in dieser Zeit nicht nur selbst hohe Ämter wie das des comes Africae, er verfügte auch - wie das Beispiel des zweimaligen Prätorianerpräfekten und p a trid u s Iovius zeigt über gute Kontakte zu anderen hohen W ürdenträgern des Reiches. Den Sturz Stilichos im August 408 überstand Gaudentius offenbar, ohne an Bedeutung zu verlieren, denn Ende dieses Jahres war er immer noch so wichtig, daß Alarich gerade seinen Sohn als Geisel wünschte. Vielleicht würden wir noch mehr über ihn wissen, wäre für den zweiten Abschnitt von H onorius’ Regie­ rung die Quellengrundlage nicht weitaus schlechter als für die Zeit bis etwa 410 n. C hr.115 So aber verschwindet Gaudentius mitsamt seinem Sohn aus u n ­ serem Blickfeld; lediglich sein Tod wird uns in einer isolierten N achricht noch vermeldet: A etius G au den ti comitis a m ilitibus in Galliis occisi filius [...].116 Möglicherweise übte Aëtius’ Vater zu diesem Zeitpunkt das Amt eines m agi­ ster equitum , das von Renatus Profuturus Frigeridus als H öhepunkt seiner Laufbahn angegeben wird, aus (usque a d m agisterii equitum culmen profectus). Die Tatsache, daß Gaudentius in Gallien sein Ende fand, deutet darauf hin, daß es sich hierbei um das Sprengelkommando für diesen Reichsteil han­ delte.117 Schwieriger ist auch in diesem Fall die zeitliche Einordnung des Er­ eignisses. Terminus ante quem ist das Jahr 425 n. Chr., das Jahr, dem die Todesmeldung der Gallischen C hronik von 452 entstammt. Zecchini hat den Tod des Gaudentius in den Kontext der U surpation von 423/25 einzuordnen versucht und den Vater des Aëtius gleich seinem Sohn zu einem Anhänger des Johannes gemacht. Diese Hypothese ist zwar ansprechend, kann sich jedoch nicht auf eindeutige Belege stützen. Genauso denkbar ist es, daß Gaudentius während der gerade in Gallien wirren Jahre nach 406/07 ein kurzzeitiges m agi­ sterium equitum p e r Gallias ausübte und in dessen Verlauf zu Tode kam. Ge­ legenheit dazu hätte es damals, angesichts vorrückender Barbaren und U surpa­ toren, genug gegeben. Die Frage muß - wie viele andere in dieser Zeit offenbleiben.

114 So die Interpretation von H. C.Teitler, Notarii and Exceptores, 1985, 278f. Anm. 16, der mit Recht in Frigeridus’ praetorianus ein militärisches, nicht ein ziviles Amt erkennen will. Die ältere Forschung hatte seit Mommsen, Aetius, 533 mit Anm. 3 in dem jungen Aëtius einen tribunus et notarius praetorianus gesehen. 115 Zecchini, Aezio, 118 f. diskutiert die Möglichkeit, den Vater des Aëtius mit einem im Jahre 409 bezeugten vicanus Africae Gaudentius (Cod. Theod. 7,15,1 [29.04.409]) zu identifizieren. Die PLRE II Gaudentius (3) trennt diesen zivilen Amtsträger jedoch als eigene Persönlichkeit ab. 116 Chron. Gail. 452, 100 (s. a. 425). Auch Merob. poet. 110-119 spielt auf den Tod des Gaudentius bei einer Meuterei an; dazu Clover, Flavius Merobaudes, 56. 117 So Demandt, Magister militum, 641; Zecchini, Aezio, 118f. u. PLRE II Gauden­ tius (5).

3. Aëtius und die Usurpation des Johannes

25

Von Aëtius erfahren wir, daß er nach der Rückkehr von den H unnen die Tochter des ehemaligen comes domesticorum Carpilio geehelicht hat (post haec Carpilionis gener.; ex comite domesticorum). Weder der Name der Braut noch der genaue Zeitpunkt der H ochzeit sind bekannt. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor, der ebenfalls den Namen Carpilio trug und in der späteren Politik des Aëtius hin und wieder eine Rolle spielte.118 Das Gesagte läßt den Schluß zu, daß sich der Sohn des Gaudentius auch nach dem Ende seiner Vergeiselung bei den Westgoten und H unnen in einer guten Position befand, unabhängig davon, ob sein Vater zu diesem Zeitpunkt noch lebte oder nicht. Er verfügte über gute Kontakte zu Personen des Hofes, wie seine Akzeptierung durch Carpilio als Schwiegersohn zeigt. Aëtius befand sich nun zu Beginn seines vierten Lebens­ jahrzehnts.119 Er hatte politische Erfahrungen in unmittelbarer Nähe des Kaisers H onorius ebenso sammeln können wie am Hofe wichtiger Barbarenfürsten. Er vermochte die materiellen G üter seiner M utter und das militärische Prestige seines Vaters in seine politische Existenz einzubringen. Alles deutete darauf hin, daß er nun eine erfolgreiche Karriere in Ravenna beginnen konnte.120 Doch nichts dergleichen schlägt sich in den Quellen nieder. Statt dessen verschwindet Aëtius gleich seinem Vater aus dem Blickfeld der - zugegebenermaßen dürfti­ gen - Zeugnisse. Er taucht erst wieder im Jahre 425 auf, als H onorius tot ist und der Westen des Römerreiches an einen U surpator zu fallen droht: N un befindet er sich auf der Seite der Feinde des theodosianischen Hauses.

3. Aëtius und die U surpation des Johannes 423/25 n. Chr. Gegen Ende der Herrschaftszeit des H onorius hatte sich das Weströmische Reich soweit stabilisiert, daß einem vordergründigen Beobachter die militäri­ schen Einbrüche der vergangenen Jahre und die Eroberung Roms 410 als «einmaliger Unfall» oder «vorübergehendes Unglück» erscheinen mochten.121

118 Er begleitete Cassiodors Großvater bei einer Gesandtschaft zu den Hunnen (Cassiod. var. 1,4,11 [Fridh]) und lebte eine Zeitlang bei diesen als Geisel (Priskos frg. 11,2 [Blockley], 193f.). 119 Das genaue Geburtsdatum kennen wir nicht. In Merob. carm. 4,42 ist davon die Rede, Aëtius sei vix puberibus [...] sub annis, also mit etwa vierzehn Jahren, als Geisel zu Alarich gegangen. Die Festsetzung des Geburtsdatums hängt also wiederum von der zeitlichen Einordnung dieses Ereignisses ab. Postulieren wir den Aufenthalt bei den Westgoten auf 405/08, so ergibt sich ein mutmaßliches Geburtsdatum zu Beginn der 390er Jahre. Dazu Clover, Flavius Merobaudes, 30 mit Anm. 16. 120 Zecchini, Aezio, 124 setzt folglich den Beginn von Aëtius’ militärischer Karriere in der Endphase der Regierung des Honorius an. 121 So Bleckmann, Honorius, 593.

26

III. Aëtius* politischer Weg

Zu verdanken war diese Erholung vor allem dem Heermeister Constantius, der seit 411 nacheinander verschiedene U surpatoren in den Provinzen aus dem Fel­ de geschlagen und zahlreiche Barbarenvölker unter die Botmäßigkeit des Kai­ sers zurückgezwungen hatte.122 Sein wichtigster Erfolg war der Abschluß eines foedus mit dem Westgotenkönig Wallia im Jahre 418 und die erfolgreiche Reor­ ganisierung Südgalliens unter römischen Vorzeichen.123 Constantius krönte sein Werk im Februar 421, als er sich von H onorius zum Mitkaiser ernennen ließ. Schon vorher war er durch die Verleihung des patncius-Titels bereits in beson­ derer Weise ausgezeichnet w orden124 und hatte die Ansippung an die regieren­ de Dynastie durch die Heirat der Theodosiustochter Galla Placidia vollzogen. Alles deutete auf eine weitere Besserung der allgemeinen Lage hin, als Constan­ tius III. am 2. September 421 überraschend starb.125 Der plötzliche Tod des frischgekürten Augustus brachte die vermeintlich er­ reichte Stabilität des Weströmischen Reiches sofort ins W anken.126 Die Kaiserin­ witwe Galla Placidia vermochte sich gegen den faktischen Nachfolger ihres Ge­ mahls, den magister militum Castinus, vorerst nicht durchzusetzen. Auch konnte sie nicht davon profitieren, daß dieser bei dem Versuch, es militärisch dem verstorbenen Constantius gleichzutun, kläglich scheiterte.127 Zu Beginn des Jahres 423 kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen in Ravenna, in deren Gefolge Galla Placidia mit ihren Kindern H onoria und Valentinian ins

122 Die Quellen zu Constantius* Politik siehe in PLRE II Constantius (17); zusam­ menfassend mit Angabe älterer Literatur nun Lütkenhaus, Constantius III. 123 Zu den Ergebnissen von Constantius’ Gallienpolitik ebd., 94 ff. 124 Zur Bedeutung des patricius-Titels für Constantius ebd., 143 ff. 125 R. Scharf, in: ders., Spätröm. Studien, 26-31 glaubt in Anlehnung an Theoph. Conf. a. m. 5913, daß Constantius III. einem Mordanschlag seiner Gemahlin Galla Pla­ cidia zum Opfer gefallen ist. Zweifellos war das Verhältnis der beiden Eheleute nicht frei von politischen Spannungen, doch selbst, wenn die Erhebung des patricius 421 mittelfristig problematisch für die Kaiserin gewesen sein sollte (so auch Lütkenhaus, Constantius III., 155 ff.), so spricht doch die überwiegende Anzahl der Quellen von einem natürlichen Tod des Constantius. Galla Placidia hat vom Ableben ihres Gatten denn auch zunächst in keiner Weise profitieren können. 126 Für die Auseinandersetzungen nach dem Tode des Constantius u. a. Enßlin, Pla­ cidia (1), 1919ff.; Sirago, Galla Placidia, 233 ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 169ff.; Matthews, Western Aristocracies, 377 ff.; Zecchini, Aezio, 125 ff. u. Lütkenhaus, Con­ stantius III., 170 ff. 127 Castinus scheiterte 422 bei dem Versuch, die Wandalen in Spanien völlig zu ver­ nichten; siehe Hyd. chron. 77 (s. a. 421) u. Prosp. chron. 1278 (s. a. 422). Dazu R. Scharf, Historia 41, 1992, 374-384 u. ders., Spätröm. Truppen in Spanien. Für Castinus’ Fehl­ schlag wird Galla Placidia mitverantwortlich gemacht; siehe etwa Zecchini, Aezio, 126 ff. u. Lütkenhaus, Constantius III., 170ff.

3. Aëtius und die Usurpation des Johannes

27

Exil nach Konstantinopel gezwungen w urde.128 H onorius hatte schließlich doch Partei für Castinus und gegen seine machtbewußte Schwester ergriffen. Freilich war auch diese «Lösung» nicht von Dauer: Schon wenige Monate spä­ ter, im August 423, starb der Kaiser wie schon sein Vater an der Wassersucht. Erneut war die Machtfrage offen gestellt. Wenn Galla Placidia je geglaubt hatte, daß nach dem Ableben ihres Bruders ihr vierjähriger Sohn Valentinian unangefochten werde den Thron besteigen können, so mußte sie diese Ansicht nun sehr rasch korrigieren. Vier Monate reagierte Konstantinopel gar nicht auf die Todesnachricht aus Ravenna. Das faktische Weiterregieren des Castinus wurde hingenommen; offensichtlich spielte man bei Hofe mit dem Gedanken, dem Westen keinen neuen Kaiser mehr zu senden und statt dessen das Reich unter der nominellen Alleinherr­ schaft Theodosius’ II. zu vereinen.129 Daß der Sohn der Galla Placidia und des Constantius im Westen nicht würde herrschen können, war den Legitimisten um die Kaiserin Pulcheria von vornherein klar. Die Erhebung des westlichen patrkius zum Augustus hatte Konstantinopel 421 nicht anerkannt und sogar eine militärische Auseinandersetzung in dieser Frage riskiert, die nur durch den vorzeitigen Tod des Prätendenten verhindert worden war.130 So war Galla Placidias Position am Hofe Theodosius’ II. am Ende des Jahres 423 alles andere als aussichtsreich. Daß es schließlich doch anders kam und sich die Chancen für den Sohn der Tochter Theodosius’ des Großen plötzlich schlagartig verbes­ serten, lag an der Entschlossenheit eines Mannes: des comes Africae Bonifatius. Bonifatius hatte sich bereits in jungen Jahren im Dienste des Constantius ausgezeichnet131 und verfügte Anfang der 420er Jahre über einen tadellosen militärischen Ruf.132 Dennoch kam er in den betreffenden Jahren nicht recht zum Zuge. Gleich der Kaiserin Galla Placidia vermochte er sich nicht gegen­ über dem neuen «starken Mann» Castinus durchzusetzen. Als dieser 422 nach Spanien zu einer Expedition gegen die Wandalen zog, setzte sich Bonifatius

128 Olymp, frg. 38 (Blockley) u. frg. 43,2 (Blockley) [= Philost. 12,13]; Prosp. chron. 1280 (s. a. 423) sowie Chron. Gail. 452, 90 (s. a. 422). 129 So Stein, Bas-Empire, 282f.; Oost, Galla Placidia Augusta, 178ff.; Lippold, Theo­ dosius (11), 972f. u. Nagy, Transfer of Power, 86f. Castinus sei die Rolle eines «repre­ sentative and procurator of the Eastern Roman monarchy» (ebd., 87) zugedacht ge­ wesen. 130 Olymp, frg. 33,1 (Blockley) u. frg. 33,2 (Blockley) [= Philost. 12,12]. Dazu Lip­ pold, Theodosius (11), 970 f. u. Lütkenhaus, Constantius III., 165 ff. 131 Bei der Verteidigung von Marseille gegen den Westgotenkönig Athaulf 413 hatte er eine ruhmreiche Rolle gespielt; siehe Olymp, frg. 22,2 (Blockley). 132 Prosp. chron. 1278 (s. a. 422) [Bonifatium virum bellicis artibus satis clarum]. Zur frühen Karriere des Bonifatius u. a. de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 18 ff. u. Diesner, Laufbahn, 100 ff.

28

III. Aetius’ politischer Weg

deshalb nach N ordafrika ab und übernahm - zunächst widerrechtlich - die comitiva Africae,133 wo er schon einige Jahre zuvor tätig gewesen war und unter anderem Kontakte zu Augustinus geknüpft hatte.134 Zum Zeitpunkt von H onorius’ Tod im August 423 war seine Stellung augenscheinlich von Ravenna legitimiert worden, ein Vorgang, der sinnvoll - angesichts der Feindschaft des Castinus - nur auf die Vermittlung der Galla Placidia zurückgeführt werden kann.135 Bonifatius revanchierte sich wenig später, als er der exilierten Kaiserin und ihren Kindern die Treue hielt und sie mit Geldmitteln unterstützte.136 Die Forschung hat aus diesen Vorgängen geschlossen, daß der comes Africae und die energische Theodosiustochter schon damals durch ein langfristiges politi­ sches Bündnis aneinander gebunden waren, doch ist eine solche Annahme nicht unbedingt nötig, um Bonifatius’ Verhalten in den Jahren nach 422 zu erklären.137 Sein erstes Ziel war es offensichtlich, ungeachtet dessen, wer gerade Kaiser war, die faktische Herrschaft des Castinus im Westreich zu verhindern. Zu diesem Zweck sabotierte er den Wandalenfeldzug des Jahres 422; zu diesem Zweck auch ergriff er im Frühjahr 423 und erst recht nach dem Ableben des H onorius Partei für Galla Placidia. Wir bemerken hier ein Verhalten, das nahe­ zu alle weströmischen Generäle des fünften Jahrhunderts an den Tag gelegt haben und das auch spätere Vorgehensweisen des Aëtius des öfteren zu erklä­ ren hilft: im Vordergrund des Handelns stand immer die Klärung der internen Machtfrage, unabhängig davon, ob diese Priorität dem Gesamtnutzen des Rei­ ches förderlich war oder nicht. Reelle Einbußen des anscheinend prinzipiell für unzerstörbar gehaltenen Reiches wurden bewußt in Kauf genommen. Zur Illu­

133 Ob Bonifatius die comitiva Africae im Jahre 422 gewaltsam usurpiert hat, ist in der Forschung nicht unumstritten - Paronetto, Crisi politica, 405 Anm. 1 etwa glaubt nicht daran und macht ihn schon für das Jahr 417 zum comes dieses Amtsbereichs (ebd., 412 Anm. 1) doch sprechen die Quellen eine klare Sprache: Prosp. chron. 1278 (s. a. 422); Hyd. chron. 78 (s. a. 421) u. Chron. Gail. 511, 571. 134 Bereits vor 422/23 ist Bonifatius als tribunus in Nordafrika bezeugt; siehe Aug. epist. 220, 7. Als Standort wurden Vescera am limes Gemellensis (De Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 22 f. u. Diesner, Laufbahn, 101) und Thubunae (Diesner, Laufbahn, 101 f.) erwogen. Die damaligen Kontakte zu Augustinus ergeben sich aus Aug. epist. 185 u. 189. Dazu ausführlich Diesner, Laufbahn, 115 ff. 135 Zur Legitimierung von Bonifatius’ Stellung noch durch Honorius de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 38f. u. Diesner, Laufbahn, 108. 136 Olymp, frg. 38 (Blockley). Mit Recht weist Zecchini, Aezio, 133 Anm. 28 auf die in Nordafrika gelegenen bona Heracliani hin, deren Erträge Galla Placidia als Witwe des Constantius zustanden. 137 Gemeinhin wird eine gerade Linie gezogen von der Sabotage des Castinus-Feldzuges 422 zur Parteinahme des Bonifatius für Galla Placidia nach deren Exilierung 423 und erst recht nach der Erhebung des Johannes. Exemplarisch dafür die Schilderung der Ereignisgeschichte bei Zecchini, Aezio, 125 ff.

3. Aëtius und die Usurpation des Johannes

29

strierung dieser These mag ein wohl auf 427/28 zu datierender Brief des A ugu­ stinus dienen, in dem er sich bei Bonifatius darüber beklagt, daß dieser den Grenzschutz gegen die A fri barbari vernachlässigt habe, eben aus jenem G rund, weil er den Kampf gegen seine Widersacher bei H ofe offenbar für wichtiger erachtete.138 O.Seeck und andere Gelehrte haben dem Verhalten des Bonifatius für die Entwicklung der Krise des Jahres 423 eine entscheidende Bedeutung zugemes­ sen.139 N icht nur, daß er die mittellose Exilantin Galla Placidia mit Geld unter­ stützte, er vermochte auch gegebenenfalls die Versorgung Roms und Italiens mit afrikanischen N ahrungsm itteln zu stoppen und konnte so die Lage für H onorius und seinen Heermeister Castinus nach Belieben verschärfen.140 N ach dem Tode des Kaisers spitzte sich die Situation immer mehr zu, denn der co­ mes Africae dachte nicht im mindesten daran, seinen Rivalen in Ravenna als Verweser des Westreichs, nun von Theodosius’ II. Gnaden, zu akzeptieren. Statt dessen wurde der bereits angelaufene Interessenausgleich zwischen Casti­ nus und Konstantinopel systematisch unterm iniert.141 Die durch eine Blockade herbeigeführte Lebensmittelknappheit führte schließlich dazu, daß in Rom die H onoratioren zur Selbsthilfe schritten und einen Zivilbeamten des H onorius, den ehemaligen primicerius notariorum Johannes, am 20. N ovem ber 423 zum Kaiser erhoben.142 Castinus, der offensichtlich zu Beginn nicht an der U surpa­ tion beteiligt war, arrangierte sich mit den Verhältnissen.143 Eine Gesandtschaft wurde zu Theodosius II. geschickt mit der vagen Hoffnung, seine Zustimmung zu dem Coup zu erlangen.144

138 Aug. epist. 220,7; zur Datierung des Briefes H.-J. Diesner, in: ders., Kirche und Staat, 94-99. 139 Seeck, Untergang, Bd. 6, 89f.; de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 40ff. u. Stein, Bas-Empire, 282 ff. De Lepper a. a. O., 44 sieht in ihm explizit den Verhinderer der Reichseinigung unter Theodosius II. 140 Seeck, Untergang, Bd. 6, 89 f. glaubt an eine Blockade Italiens schon zu Lebzeiten des Honorius; vgl. jedoch die bedenkenswerten Gegenargumente von de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 38f. Ablehnend auch Nagy, Transfer of Power, 98 Anm. 11. 141 Konstantinopel hat in der Tat lange gewartet, bis es sich zu einem offenen Vorgehen gegen Castinus entschloß. Auch gegen die mangelnde Zeugniskraft von Cod. Iust. 1,30,1 (26.04.424) ist der «starke Mann» im Westen vielleicht sogar noch mit Zustimmung Theodosius’ II. zum Konsul für 424 designiert worden. Dazu Stein, Bas-Empire, 565 Anm. 152; ablehnend hingegen die PLRE II Castinus (2) u. Bagnall, Consuls, 382f. 142 Das Datum in den Fast. Merseb. s. a. 423. Weitere der zahlreichen antiken Belege zu diesem Ereignis in PLRE II Ioannes (6). 143 So dürfte Prosp. chron. 1282 (s. a. 423) zu deuten sein (conivente, ut putabatur, Castino). Dazu Zecchini, Aezio, 134f. 144 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8; Sokr. 7,23,3 f.; Olymp, frg. 39,2 Philost. 12,13 (= Olymp, frg. 39,2 [Blockley]); Theoph. Conf. a. m. 5915 u. Nik. Xanth. 14,7.

30

III. A'ètiusypolitischer Weg

Statt dessen war der U m sturz in Italien für Konstantinopel endlich das Si­ gnal zu energischem Vorgehen; zu keinem Zeitpunkt wurde die Anerkennung des ehemaligen Hofbeamten Johannes ins Auge gefaßt.145 Vielmehr erinnerte man sich nun der ungeliebten Verwandtschaft aus dem Westen und bereitete die Installierung Galla Placidias und ihrer Kinder in Ravenna vor, um für das theodosianische Haus zu retten, was zu retten war. Die Rückeroberung Ita­ liens wurde systematisch vorbereitet und schrittweise in die Tat umgesetzt. Freilich hatte sich das distanzierte Verhältnis gegenüber dem Constantiussohn Valentinian prinzipiell nicht verändert: Zwar wurde der präsumtive Nachfolger des H onorius nun zum nobilissimus puer sowie, am 23. O ktober 424, zum Caesar ernannt, und der Titel Augusta seiner M utter erneut verliehen;146147 die Verantwortlichen um Theodosius II. sorgten jedoch dafür, daß die Vormacht­ stellung des Ostens gegenüber dem Westen nun eindeutig fixiert wurde: Der Sohn des Arcadius war im Verhältnis zum künftigen Kaiser Valentinian III. nicht nur senior Augustus, sondern auch «Urheber von dessen Herrschaft» (auctor imperii)}*7 Galla Placidia durfte zwar im Falle einer erfolgreichen Aus­ schaltung des Johannes das Westreich zusammen mit ihrem Sohn in legitimer Weise regieren; sie vermochte dies jedoch nur, weil dieser von Theodosius II. ausdrücklich in seine Funktion eingesetzt worden war. Der Vorrang der öst­ lichen Reichshälfte war somit festgeschrieben und blieb es auch, wie das viel­ fältige Einwirken Konstantinopels auf die Belange Ravennas in den folgenden

145 Zum Vorgehen Konstantinopels nach der Erhebung des Johannes u. a. Bugiani, Ezio, 55ff.; Nagl, Galla Placidia, 33ff.; Lizerand, Aetius, 20ff.; Enßlin, Placidia (1), 1921 ff.; Stein, Bas-Empire, 282 ff.; Sirago, Galla Placidia, 247ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 178ff.; Bayless, Political Unity, 62ff.; Lippold, Theodosius (11), 972ff.; Storoni Mazzolani, Galla Placidia, 294ff.; Holum, Theodosian Empresses, 128ff.; Zecchini, Aezio, 136ff. u. Nagy, Transfer of Power, 86f. Daß die Erhebung Valentinians zum Caesar im Okt. 424 ein Hintertürchen hinsichtlich späterer Verhandlungen mit Johan­ nes offenlassen sollte, ist angesichts der streng legitimistischen Position des Hofes in Konstantinopel nicht anzunehmen (anders Stein, Bas-Empire, 283). 146 Zur Verleihung der Titel nobilissimus puer und Caesar an Valentinian Olymp, frg. 43,1 (Blockley) u. frg. 43,2 (Blockley) [= Philost. 12,13] sowie CIL I2 275. Zur Ver­ leihung des Augusta-T'\te\s an Galla Placidia Olymp, frg. 43,1 (Blockley) u. Marcell. chron. s. a. 424. 147 Die dominierende Rolle Konstantinopels in den Verhandlungen mit Galla Placidia wird herausgestrichen von Bury, Later Roman Empire, 221 f.; Stein, Bas-Empire, 282ff. u. a. Oost, Galla Placidia Augusta, 210 faßt den Sachverhalt folgendermaßen zusammen: «Galla Placidia could expect, and obtained, the backing of the East as a principal main­ stay of her power in the West.» Das Übergewicht Theodosius’ II. in der Situation von 423/25 zeigt sich auch an den weiter unten zu erörternden formellen Gebietskonzessio­ nen des Weströmischen Reiches an den Osten.

3. Aëtius und die Usurpation des Johannes

31

Jahrzehnten zeigt.148 Demgegenüber hat Valentinian III. ein Leben lang mit der A rt und Weise seiner Legitimierung zu kämpfen gehabt; sein Verhalten gegen­ über der Thronbesteigung Marcians im Jahre 450 zeigt dies,149 und noch bei der Ermordung des Aëtius im Jahre 454 spielte das Selbstverständnis des Kaisers von seinem Standort in der Dynastie und im Reichsganzen eine Rolle.150 Für die Usurpatoren in Ravenna verhießen die Vorbereitungen, die jenseits des Adriatischen Meeres getroffen wurden, nichts Gutes. Kaiser Johannes hatte sich, nachdem er eine Gesandtschaft mit der Bitte um Anerkennung nach Kon­ stantinopel geschickt hatte, sogleich daran gemacht, seinen Herrschaftsbereich zu konsolidieren. Daß er - angesichts der sich immer deutlicher abzeichnen­ den Gefahr aus dem O sten - sofort die Auseinandersetzung mit Bonifatius suchte, zeigt nochmals, daß hier der Hauptfeind des neuen Regimes vermutet wurde. Der Angriff auf Nordafrika folgte allerdings auch einer strategischen Notwendigkeit: ohne die von dort kommenden Nahrungsmittellieferungen wa­ ren die Stadt Rom und Italien nicht lange zu halten.151 In den oft späten Q uel­ len zur Usurpation des Johannes kommt der Gegenspieler der theodosianischen Dynastie bemerkenswert gut weg.152 Daß er eine im Verhältnis zu H onorius und Galla Placidia relativ gemäßigte Religionspolitik praktiziert hat und ein gutes Verhältnis zum Senat pflegte, muß nicht viel für die wahren Intentionen des Johannes bedeuten. Auch der U surpator Eugenius und sein «starker Mann» Arbogast waren bei ihrem Vormarsch nach Italien 393 n. Chr.

148 Noch kurz vor seinem Tod im Jahre 450 hat Theodosius II. in seiner Funktion als pater gegenüber Valentinian III. diesen dazu zu bewegen versucht, seine Schwester Honoria an Attila auszuliefern; siehe Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley], 16f.). 149 Die Anerkennung Marcians im Westen erfolgte erst im Jahre 452, über ein Jahr nach dessen Thronbesteigung; siehe Continuatio codicis Reichenaviensis 21 (s. a. 452) [MGH AA 9, 490], 150 Dies läßt sich aus Io. Ant. frg. 201,2 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 13-20) er­ schließen; dazu Stein, Bas-Empire, 586 Anm. 169. 151 Die Quellengrundlage für eine Aktion des Johannes gegen Bonifatius ist dürftig. Die des öfteren unzuverlässige Chron. Gail. 452 vermeldet unter 96 (s. a. 424): Sigisvuldus ad Africam contra Bonifatium properavit. Von vielen Forschern wird diese Aussage dem späteren Nordafrikafeldzug des Sigisvult im Jahre 428 zugeordnet (so etwa auch von der PLRE II Sigisvultus). De Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 43 hat nicht ohne Grund dagegen argumentiert, ebenso Oost, Galla Placidia Augusta, 187 mit Anm. 68. Auch weitere Quellen deuten auf kriegerische Auseinandersetzungen in dieser Zeit hin, so Prosp. chron. 1286 (s. a. 424) u. Chron. Gail. 452, 98 (s. a. 425). Die Tatsache, daß Castinus in den oberitalischen Auseinandersetzungen des Jahres 425 nicht erwähnt wird, läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß er - und nicht Sigisvult, wie die Chron. Gail. 452 behauptet - auf dem vermeintlichen Hauptkriegsschauplatz in Nordafrika engagiert war. 152 vgl. etwa Prok. Kais. hist. 3,3,6f. u. Marcell. chron. s. a. 425.

32

III. Aëtius' politischer Weg

angesichts der fehlenden dynastischen Legitimation und der Distanz des ortho­ doxen Klerus darauf angewiesen gewesen, Hilfe zu suchen und anzunehmen, wo sie sich bot.153 Doch trotz aller Maßnahmen zeichnete sich für Johannes zur Jahreswende 424/25 eine schwierige Lage ab. Das oströmische H eer unter den drei Feldherrn Ardabur, Aspar und Candidianus eroberte die weströmi­ sche, in Dalmatien gelegene Stadt Salonae (Solin)154 und leitete von dort aus die entscheidende Offensive zu Wasser und zu Lande gegen Italien ein. Auch von den anderen Fronten gab es nichts Hoffnungsvolles zu vermelden: D er Angriff auf Bonifatius in Nordafrika verpuffte wirkungslos;155 Gallien fiel angesichts widerstreitender Loyalitäten zunehmend ins Chaos, das sich wiederum die fö­ derierten Westgoten gerne zunutze machten.156 Es bedurfte besonderer M aß­ nahmen, um die Lage zu retten, und es ist ausgerechnet diese Situation, in der unsere Quellen unvermutet Aëtius, von dem über ein Jahrzehnt nichts mehr zu hören war, ins Spiel bringen. Die ausführlichste Quelle zur Rolle des Aëtius im Bürgerkrieg des Jahres 425 ist wiederum Renatus Profuturus Frigeridus im Exzerpt Gregors von Tours:157 D um haec ita gererentur (gemeint ist die Proklamation Valentinians 153 Der gemäßigte Charakter der von Johannes initiierten Religionspolitik ergibt sich aus der diesbezüglich restriktiven Gesetzgebung Galla Placidias nach deren Macht­ übernahme 425 n. Chr.; hierzu Demougeot, Evolution politique, 286 unter Bezug auf Const. Sirmond. 6 (09.07.425); Cod. Theod. 16,5,62 (17.07.425); Cod. Theod. 16,5,63 (04.08.425) u. Cod. Theod. 16,5,64 (06.08.425); ferner Enßlin, Valentinianus (4), 2233f.; ders., Placidia (1), 1922f. u. J.Gaudemet, Iura 20, 1969, 129-147. - Die Verankerung des Regimes des Johannes zumindest in Teilen der italischen Senatsaristokratie betont Zecchini, Aezio, 134 mit Anm. 30. Immerhin war Johannes in Rom, nicht in der Resi­ denz Ravenna zum Kaiser ausgerufen worden. 154 Bury, Later Roman Empire, 221 u. Enßlin, Placidia (1), 1922 glauben in Anleh­ nung an Sokr. 7,23,2 u. 5 an eine (vorübergehende?) Besetzung von Salonae schon un­ mittelbar nach dem Tode des Honorius. Dazu Sirago, Galla Placidia, 250 mit Anm. 2 u. Zecchini, Aezio, 137 Anm. 43. 155 Prosp. chron. 1286 (s. a. 424): Johannes, dum Africam, quam Bonifatius obtinebat, bello reposcit, ad defensionem sui infirmior factus est. 156 Hierzu Prosp. chron. 1285 (s. a. 424): Exuperantius Pictavus praefectus praetorio Galliarum in civitate Arelatense militum seditione occisus est, idque apud Iohannem inultum fuit. Ebenso Chron. Gall. 452, 97 (s. a. 425). Die Nachricht ist in ihrer Be­ deutung für das Bürgerkriegsgeschehen - etwa, ob Exuperantius ein Parteigänger des Johannes gewesen ist oder nicht - nicht abschließend einzuordnen. Reine Spekulation sind die Darlegungen bei Zecchini, Aezio, 135f. (Ausschaltung des Exuperantius durch Aëtius’ Vater Gaudentius, der dann seinerseits einer Meuterei zum Opfer fällt). - Daß der Vorstoß der Westgoten auf Arles 425 n. Chr. (Prosp. chron. 1290 [s. a. 425]) mit den damaligen Wirren in Gallien zu tun hatte, ist evident; siehe Oost, Galla Placidia Augu­ sta, 186f. u. Zecchini, Aezio, 136 mit Anm. 38. Sirago, Galla Placidia, 248 erwägt sogar, daß sie damit im Sinne ihrer ehemaligen Königin Galla Placidia handelten. 157 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8.

3. Aëtius und die Usurpation des Johannes

33

zum H errscher des Westreichs), legati a d tyrannum reversi sunt, m an data atrocia reportantes. Q uibus perm otus Johannis A etium , id tem poris curam palatii, cum ingenti auri pon dere a d Chunus transm ittit, notus sibi obsidatus sui tem po­ re et fa m iliari amicicia divinctos, cum m andatis huiusmodi: cum prim u m partes adversae Italiam ingressae foren t, ipse a tergo adoriretur, se a d fro n te ven tu ­ rum. D er Text berichtet also davon, daß Aëtius im Aufträge des Johannes eine

Mission zu den H unnen unternommen habe, um sie - angesichts der bedräng­ ten Lage des Usurpators - zur bezahlten Hilfeleistung zu bewegen. Auch das Amt, das er in dieser Zeit ausübte, wird genannt: Aëtius fungierte 425 n. Chr. als cura p a la tii , d. h. er hatte ein wichtiges Führungsamt innerhalb der kaiserli­ chen Garden, der scholae palatinae, inne, mit dem bereits der Rang eines v ir spectabilis verbunden war.158 Wie und warum der Sohn des Gaudentius in diese Funktion gekommen ist, ist ungewiß. Zecchini vermutet, daß Aëtius und sein Vater in der Zeit des patricius Constantius als ehemalige Anhänger des Stilicho politisch kaltgestellt waren.159 Deshalb hätten sie die neue Chance, die ihnen Johannes und Castinus eröffneten, beherzt ergriffen. Während so Gaudentius in Gallien als m agister m ilitum für Johannes gefallen sei, hätte dessen Sohn sich unterdessen bei seinen altbekannten Hunnenfreunden für diesen nützlich zu machen versucht.160 Aëtius’ Parteinahme für den U surpator - so Zecchini habe auch inhaltliche Gründe gehabt, nämlich die Wiederaufnahme stilichonianischer Ziele (Aufgeschlossenheit gegenüber den Barbaren, gemäßigter Katholi­ zismus) durch das neue Regime; sie habe mithin nicht nur dem Fortkommen hinsichtlich der Karriere gedient.161 Die angeführte Hypothese ist, aufs Ganze gesehen, wenig tragfähig, denn sie stellt eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten dar. O b Gaudentius 423/25 noch lebte, ist - wie oben gezeigt - völlig ungewiß. Ü ber Aëtius’ politisches Wirken in der Zeit vor der Usurpation des Johannes läßt sich nur spekulieren. Es ist jedenfalls wenig wahrscheinlich, daß er und sein Vater nach fünfzehn Jahren noch die Ziele und Inhalte von Stilichos Politik verfolgten. Wenn es, wie hinzugefügt werden muß, solche überhaupt je gegeben hat: Sowohl bei

158 Zum Amt des cura palatii Jones, Later Roman Empire, 372 f. sowie Barnwell, Emperor, Prefects & Kings, 21 u. 184 Anm. 6. Demandt, Magister militum, 654 glaubt allerdings, daß Aëtius bei seiner Hunnenmission 425 im Dienste des Johannes schon comes rei militaris gewesen ist. 159 So Zecchini, Aezio, 124. Die gegenteilige Vermutung hingegen bei Lütkenhaus, Constantius III., 163 Anm. 111. 160 So Zecchini, Aezio, 13 7 ff. Zur Rolle des Aëtius in der Bürgerkriegssituation 425 n. Chr. u. a. Bugiani, Ezio, 64 ff.; Lizerand, Aetius, 21 ff.; Seeck, Untergang, Bd. 6, 94 f.; Bury, Later Roman Empire, 223 f.; Stein, Bas-Empire, 283f. sowie Oost, Galla Placidia Augusta, 187f. u. 189f. mit Anm. 78. 161 So Zecchini, Aezio, 137f.

34

III. Aëtius’politischer Weg

Stilicho als auch bei Constantius, bei Castinus, Bonifatius und allen anderen Akteuren im Kampf um die Dominanz im Weströmischen Reich stand der Gewinn von Macht und Einfluß im Vordergrund ihres Wirkens. Umstände, Inhalte, augenblickliche Konstellationen, die diesem Ziel förderlich waren, w ur­ den genutzt, doch entwickelte sich daraus praktisch nie eine langfristige politi­ sche Programmatik, denn dazu fehlte jedem einzelnen von ihnen die Kraft, das gesamte, instabile System dauerhaft zu kontrollieren. Zwar mochten sich Situa­ tionen ergeben, in denen der eine oder andere der Protagonisten seine sämtli­ chen Widersacher aus dem Felde geschlagen hatte und so für einen M oment unangreifbar schien,162 doch war dieser Zustand meist nicht von Dauer. Stellt man das Streben nach Macht und Einfluß in den M ittelpunkt der Aus­ einandersetzungen zwischen den einzelnen Generälen des Weströmischen Rei­ ches im fünften Jahrhundert, so ist dies vielleicht doch ein Ausgangspunkt, um die Parteinahme des Aëtius für den U surpator Johannes zu erklären. Wir ha­ ben bereits gesehen, daß der aus der hunnischen Geiselhaft zurückgekehrte Sohn des Gaudentius durch die H eirat mit der Tochter eines ehemaligen comes domesticorum sehr wohl unter Beweis gestellt hat, daß ihm die nötigen K on­ takte - und wohl auch die erforderlichen Geldmittel - zur Verfügung standen, um eine erfolgreiche Karriere am H ofe des H onorius zu beginnen. Sollte er in der letzten Lebenszeit des Theodosiussohnes auf der Seite des Castinus gegen Galla Placidia gestanden haben - dies ist jedenfalls wahrscheinlicher als das Gegenteil, da w ir ihn ja auch 425 auf dieser Seite finden - , so dürfte dies seinen Aufstieg nur beschleunigt haben. Problematisch w urde aber die Situa­ tion im August 423, als der Kaiser starb und Konstantinopel keine Anstalten machte, einen wie auch immer legitimierten Nachfolger zu kreieren. W ürde das Erlöschen des westlichen Kaisertums auch die Auflösung des Kaiserhofs in Ravenna nach sich ziehen? Würden westliche Militär- und Zivilposten künftig zunehmend mit östlichen Kandidaten besetzt? Es gab sicherlich so manchen aktuellen und künftigen W ürdenträger in Italien, der in der zweiten Jahres­ hälfte 423 um seine Pfründe fürchtete.163 N icht ohne G rund ist mit Johannes ein ehemaliger Hofbeam ter des H onorius nach einer Frist von vier M onaten auf den Thron gesetzt worden. Für junge, «hungrige» Offiziere vom Stile des Aëtius bot seine Regierung die Möglichkeit eines raschen Aufstiegs in der Mili­

162 So Stilicho nach seinem Sieg über Radagais 406, Constantius nach seiner Kaiserer­ hebung 421, Castinus nach der Exilierung Galla Placidias 423, Bonifatius nach dem Sieg über Aëtius 432, Aëtius nach der Ernennung zum patricius 435. 163 Schon Stein, Bas-Empire, 282 hat vermutet, daß eine derartige Motivation bei der Usurpation des Johannes eine Rolle gespielt hat. In unserem Zusammenhang von «vecchio nazionalismo» zu sprechen wie Sirago, Galla Placidia, 244, löst jedoch falsche As­ soziationen aus.

4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs und ihr Scheitern

35

tärhierarchie, der ihnen im Falle eines Sieges ihrer oströmischen Kollegen vom Zuschnitt des damals jugendlichen Aspar gefährdet schien.164 Um so prekärer mußte sich die Lage für Aëtius darstellen, als er, mit seinem hunnischen Hilfs­ heer zurückgekehrt, vor Aquileia erfahren mußte, daß sich das Schicksal seines kaiserlichen Herrn vor drei Tagen bereits erfüllt hatte.

4. Die oström ische N euordnung des Westreichs 425 und ihr Scheitern bis 430 Die Kampagne gegen Johannes im Sommer 425 konnte überraschend schnell und erfolgreich zu Ende geführt w erden.165 Zwar gelang es dem Usurpator, einen von Galla Placidias Feldherrn, den Heermeister Ardabur, nach einem Schiffbruch festzusetzen, doch ließ er sich, immer noch in der H offnung auf einen diplomatischen Ausgleich mit Theodosius IL, von diesem so lange in vermeintlicher Sicherheit wiegen, bis der Sohn des Gefangenen, Aspar, mit einem Teil des Heeres herangeeilt war und das für nahezu uneinnehmbar gehal­ tene Ravenna im Handstreich genommen hatte. Johannes wurde festgenommen und grausam hingerichtet. Schon Anfang Juli wurden die ersten Gesetze des legitimen Regimes in Aquileia, der vorläufigen Residenzstadt des neuen Caesar, unterzeichnet.166 Am 23. O ktober 425 erfolgte in Rom die Proklamation Valentinians zum Augustus.167 Damit war der Feldzug gegen den U surpator zu einem erfolgreichen Ende geführt. Freilich traten nach der glücklichen Überwindung des Johannes neue Proble­ me an die Stelle der alten: In Gallien waren die Westgoten zur Belagerung von Arles geschritten, dem Zentrum der allerdings paralysierten römischen Macht­ strukturen.168 Wollte man nicht einen völligen Zusammenbruch wie in den Jah­ ren nach 406/07 riskieren, so war rasches Handeln geboten. Gleiches galt für

164 Aspar war damals noch ein junger General am Beginn seiner Karriere und agierte unter dem Kommando seines Vaters; dazu Vernadsky, Aspar, 43 ff. Die Quellen bei PLRE II Aspar. 165 Zum Verlauf der Kampagne von 425 u. a. Stein, Bas-Empire, 283 f.; Oost, Galla Placidia Augusta, 188f. (mit Angabe der Quellen ebd., 189 Anm. 74 u. 77) u. Zecchini, Aezio, 137 ff. 166 Es handelt sich um Const. Sirmond. 6 (09.07.425) u. Cod. Theod. 16,5,62 (17.07.425). 167 Hyd. chron. 85 (s. a. 425); Prosp. chron. 1289 (s. a. 425); Olymp, frg. 33,1 sowie frg. 43,1 u. frg. 43,2 (Blockley) [= Philost. 12,13 f.]; Sokr. 7,24; Chron. Pasch, s. a. 425 (Dindorf); Theoph. Conf. a. m. 5915 u. 5916 sowie Io. Mal. chron. 356 (Dindorf) = 275f. (Thum). 168 Dies geht aus Prosp. chron. 1290 (s. a. 425) hervor.

36

III. Aëtius’ politischer Weg

andere Reichsteile wie beispielsweise Spanien. H ier hatten die Wandalen nach ihrem Sieg über Castinus 422 ihre Beutezüge wieder aufgenommen und wagten sich inzwischen sogar an die Eroberung großer Städte im Süden der Halbinsel. Im Verlaufe des Jahres 425 fiel Sevilla in ihre H and und - was schlimmer wog - die Hafenstadt Cartagena: Schon machten sich wandalische Kaperflotten zu den Balearen und nach Mauretanien auf, um zu plündern - ein Wetterleuchten der künftigen Invasion N ordafrikas.169 U m den Herausforderungen an allen Fronten gegenübertreten zu können, mußte also so schnell wie möglich eine handlungsfähige Zentrale geschaffen werden. Zu diesem Zweck waren vor allem die wichtigsten Generalsposten bei Hofe und in den Provinzen neu zu besetzen, denn die U nterstützer des alten Regimes kamen dafür selbstverständlich nicht mehr in Frage.170 Als erster Kan­ didat für das Amt des m agister p e d itu m praesentalis mußte dabei vordergrün­ dig der comes Africae Bonifatius erscheinen, hatte er doch von Anfang an seine besondere Treue zu Galla Placidia und damit auch zum theodosianischen Haus insgesamt unter Beweis gestellt. Diesbezügliche Ambitionen wurden jedoch herb enttäuscht: Zwar hielt sich Bonifatius nach 425 in Italien auf, um eine neue W ürde zu empfangen,171 doch handelte es sich dabei nicht um die Posi­ tion des gestürzten Castinus; vielmehr w urde er mit dem Amt eines comes dom esticorum abgefunden. Das mangelnde politische Gewicht dieses eigentlich an den Kaiserhof gebundenen Amtes tritt noch dadurch hervor, daß Bonifatius es in der Situation nach 425 nicht in Ravenna ausübte, sondern in seinem bis­ herigen Amtsbereich in N ordafrika.172 Die zentrale Heermeisterstelle bei Hofe erhielt statt dessen ein gewisser Felix, ja er wurde nicht nur m agister utriusque m ilitiae wie vor ihm schon Stilicho, sondern erhielt auch den patricius- Titel, ganz wie Constantius, der verstorbene Ehemann der Galla Placidia.173 Wie es scheint, sollte Felix ganz offen als neuer «starker Mann» präsentiert werden. 169 Hyd. chron. 86 (s. a. 425). 170 Castinus wurde nach der Niederlage des Usurpators Johannes verbannt; siehe Prosp. chron. 1288 (s. a. 425). Problematisch ist das Zeugnis von Ps.-Bonifatius (Ps.-Aug. epist. app. lOf. [= Migne 33, 1097f.]), Castinus sei zu Bonifatius nach Nordafrika geflohen; dazu de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 9ff. u. F.M. Clover, BHAC 1977/78 (1980), 83ff. 171 Zur Anwesenheit des Bonifatius in Italien 425/26 Aug. epist. 220,4. Dazu u. a. Diesner, Laufbahn, 107 mit Anm. 27. Vielleicht hat er damals Pelagia, die spätere Ge­ mahlin des Aëtius, geheiratet. 172 Aug. epist. 220,7. Die meisten Zeugnisse bezeichnen ihn weiterhin einfach als co­ mes, so lord. Rom. 330; Vict. Vit. 1,19; Prok. Kais. hist. 3,3,16 (στρατηγόν [. . .] Λιβύης άπάσης); Io. Ant. frg. 196 u. Theoph. Conf. a. m. 5931. 173 Hyd. chron. 84 (s. a. 424/25). Gegen Prosp. chron. 1300 (s. a. 429) zeigen CIL VI 41393 (ILS 1293) u. CIL XIII 10032, 1 (ILS 1298), daß Felix schon 425 den Patriziat verliehen bekommen hat; dazu Demandt, Magister militum, 653. Übereinstimmend die PLRE II Felix (14).

4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs und ihr Scheitern

37

Ü ber den politischen, erst recht den persönlichen H intergrund des Fl. C on­ stantius Felix lassen sich heute keine näheren Aussagen mehr treffen. Er taucht mit seinem Am tsantritt 425 in der Geschichte auf und verschwindet mit seiner Erm ordung 430 aus ihr.174 Seine Frau, die mit ihm getötet wurde, hieß Padusia.175 Einige Forscher haben von hier aus eine Beziehung zu einer gewissen Spadusa knüpfen wollen, die bei O lym piodor als Vertraute der Galla Placidia eingeführt w ird.176 Mit etwas gutem Willen könnte so Felix - über seine G e­ mahlin - als ein Gefolgsmann der Kaiserin erscheinen.177 Freilich gibt es keine objektiven Kriterien, die eine solche Annahme zur Gewißheit werden lassen.178 Die allgemeinen Umstände des Herrschaftsantritts Valentinians III. lassen eher das Gegenteil erwarten. W ir müssen uns immer wieder vor Augen führen, daß die Bedingungen, unter denen Galla Placidia und ihr Sohn zur Macht im Westen des Römischen Reiches gelangten, keineswegs die günstigsten waren. D er östliche Zweig des theodosianischen Hauses hatte ihre Rückführung nach Italien nur widerwillig in Angriff genommen. Gerade weil der regierende Kaiser in Konstantinopel als Sohn des nicht purpurgeborenen Arcadius nur unter Erschwernissen seine ver­ meintlich geringere Legitimität gegenüber H onorius hatte verfechten kön­ nen,179 war man nun darauf bedacht, Valentinian III., wenn man ihn denn nun schon anerkennen mußte, eindeutig herabzustufen. Dies war dadurch zum A usdruck gekommen, daß Theodosius II. ihm gegenüber als auctor imperii fungierte.180 Sollte aber die Vormacht des Ostens gegenüber dem Westen Be­ stand haben, so war es vonnöten, daß diese auch strukturell und institutionell abgesichert wurde. Mindestens zwei der Generäle, die Valentinian nach Italien

174 Siehe die in PLRE II Felix (14) gesammelten Zeugnisse. 175 CIL VI 41393 (ILS 1293) u. Prosp. chron. 1303 (s. a. 430). 176 Olymp, frg. 38 (Blockley). 177 So Schmidt, Bonifatius, 449 Anm. 3; Oost, Galla Placidia Augusta, 170 mit Anm. 2 und mit Modifikationen auch Zecchini, Aezio, 141 f. 178 PLRE II Spadusa: «The identity of Spadusa with Padusia [...] cannot be exclu­ ded, although it is only an hypothesis.» Skeptisch schon de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 53 Anm. 1; zustimmend hingegen Demougeot, Evolution politique, 286 mit Anm. 39. 179 Arcadius war kein πορφυρογέννητος wie Honorius; dazu Scharf, Dynastische Stel­ lung, 8 ff. 180 Siehe Scharf, Dynastische Stellung, 20f., der die Herrschaft Valentinians III. im Westen als «Sekundogenitur» (ebd., 20) im Verhältnis zum östlichen Zweig des theodo­ sianischen Hauses bezeichnet. Vgl. auch das Resümee von Bayless, Political Unity, 69 bezüglich der Ereignisse von 423/25: «In short, the center of gravity had now openly shifted from Rome to Constantinople.»

38

III. Aëtius' politischer Weg

führten, waren deshalb Vertreter Konstantinopels.181 Sowohl bei der CaesarErhebung in Thessaloniki als auch bei der abschließenden Thronbesteigung in Rom fungierte der m agister officiorum Helio als Stellvertreter Theodosius’ IL, des Stifters der Legitimität des neuen A ugustus. Ist es in solch einer Situation möglich, daß M änner in hohe Positionen eingesetzt wurden, die den Verant­ wortlichen in Konstantinopel nicht genehm waren? Im Gegenteil, es darf ange­ nommen werden, daß alle Entscheidungen in Personalangelegenheiten und Sachfragen, die im Sommer 425 getroffen w urden, in erster Linie den Willen Konstantinopels widerspiegeln, nicht unbedingt den Galla Placidias. Daß Bonifatius mit dem Titel eines comes dom esticorum abgespeist und nach N ordafrika abgeschoben wurde, fügt sich in eine solche Interpretation der Verhältnisse be­ stens ein: D urch sein eigenmächtiges Vorgehen seit 422 hatte er die Stellung schon des H onorius geschwächt und, nach dessen Tod, die Vereinigung der beiden Reichshälften unter Theodosius II. zum Scheitern gebracht. Aus der Sicht der Galla Placidia hätte er vielleicht den Patriziat verdient gehabt, für Konstantinopel jedoch war er außerhalb Italiens an der Peripherie des Im ­ periums vorläufig genau richtig positioniert.182 Aus den vorausgegangenen Darlegungen ergibt sich, daß die Annahme, der m agister utriusque m ilitiae Felix sei ein Mann Konstantinopels gewesen, weit­ aus mehr Plausibilität für sich beanspruchen kann als andere.183 Gleich C on­ stantius III. vereinigte er den bis dahin in dieser Verwendungsweise singulären Titel patricius mit seinen formellen Kompetenzen. D adurch sollte er an zusätz­ licher A utorität für die Zeit nach dem Abzug der östlichen Invasionskräfte gewinnen, wenn er sich weitgehend allein im Milieu der spätrömischen Militär­ aristokratie des Westens zu behaupten hatte. Auch wenn es nun darum geht, die Stellung des Aëtius innerhalb des neuen Regimes zu umreißen, sind die obigen Darlegungen von der oströmischen D o­

181 Nämlich Ardabur und sein Sohn Aspar. Bei Candidianus könnte es sich um einen Weströmer gehandelt haben, wenn er mit dem Mann gleichen Namens identisch ist, der bei der Hochzeit Galla Placidias mit Athaulf im Januar 414 zugegen war; hierzu PLRE II Candidianus (2) u. (3). 182 Vgl. auch die entsprechende Einschätzung bei Sirago, Galla Placidia, 265f. u. Diesner, Laufbahn, 110 ff. 183 So schon Gentili, Rivalità, 366f.; Stein, Bas-Empire, 318f. u. Sirago, Galla Placidia, 265. - Bury, Later Roman Empire, 225 hebt darüber hinaus die Bedeutung Aspars für die Geschicke des Westens in den ersten Jahren nach 425 hervor. «Unbroken concord» (ebd., 240) mit Konstantinopel sei die Voraussetzung für den Erfolg von Galla Placidias Regentschaft gewesen. Auch Sirago, Galla Placidia, 264 f. u. Storoni Mazzolani, Galla Placidia, 313f. betonen den starken oströmischen Einfluß zu Beginn von Galla Placidias Regentschaft.

4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs und ihr Scheitern

39

minanz im Westen nach der Ausschaltung des Johannes von Bedeutung.184 Der Sohn des Gaudentius agierte angesichts seiner Parteinahme für die falsche Seite im Sommer 425 von einer denkbar schlechten Startposition aus. Daß er nicht sogleich ersten Säuberungen zum O pfer und wie die meisten subalternen O ffi­ ziere des Usurpators dem Vergessen der Geschichte anheimfiel, hatte er nur der Tatsache zu verdanken, daß er zu diesem Zeitpunkt über ein schlagkräfti­ ges hunnisches Hilfsheer verfügte.185 Dieses aber konnte er nun nicht einfach wieder nach Hause schicken: N icht nur, daß Aëtius sich damit jeglichen Schut­ zes für seine Person beraubt hätte; auch die Barbaren selbst, die ja durch Geld und Versprechungen geködert worden waren, drohten nun, da sich alle Per­ spektiven auf Raub und Beute in nichts auflösten, zu einer sich verselbständi­ genden Gefahr zu werden.186 Aëtius zerschlug diesen Gordischen Knoten, in­ dem er das ihn begleitende Söldnerheer nun für seine persönlichen Zwecke einsetzte, ein Vorgehen, das sich so sehr bewährte, daß er es in den 430er Jah­ ren mehrfach kopierte.187 Am H of Valentinians in Aquileia mußten die Verantwortlichen rasch erken­ nen, daß ein harsches Vorgehen gegen Aëtius den relativ unblutig errungenen Erfolg gegen Johannes gefährden konnte. Deshalb entschloß man sich nach ersten bewaffneten Auseinandersetzungen zu einer Vermittlungslösung:188 Dem Sohn des Gaudentius wurde Pardon gewährt, er selbst in die Dienste der neuen Machthaber übernommen, sein hunnisches H eer aber reichlich abgefunden und dadurch zum Abzug gebracht.189 Sicherlich war diese Lösung nicht unproble­ matisch, denn mit Aëtius und Bonifatius hatte man nunm ehr zwei potentielle

184 Zur Einbindung des Aëtius in das Regime Galla Placidias u. a. Sirago, Galla Placi­ dia, 266 ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 189 f.; Demandt, Magister militum, 654 f. u. 662 ff. sowie Zecchini, Aezio, 139f. 185 Philost. 12, 14 (= Olymp, frg. 43,2 [Blockley]) spricht von 60.000 Hunnen im Gefolge des Aëtius, sicherlich eine übertriebene Zahlenangabe. 186 Vgl. in diesem Zusammenhang das Verhalten Alarichs, nachdem Stilicho aufgrund innerer Schwierigkeiten 407/08 die Offensive gegenüber dem Ostreich abgebrochen hatte; exemplarisch dazu die Sichtweise von Olymp, frg. 6 (Blockley). 187 Aëtius setzte sowohl in Gallien während der 430er Jahre hunnische Auxilien ein als auch im Bürgerkrieg gegen Galla Placidia zu Anfang dieses Jahrzehnts. Siehe zu diesem Thema die entsprechenden Passagen im Kapitel «Aëtius und die Hunnen», S. 88f. u. 11 Off. 188 Zu den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Aëtius und dem oströmi­ schen Expeditionsheer Philost. 12,14 (= Olymp, frg. 43,2 [Blockley]). Die moderne For­ schung hält diesen Bericht allerdings für dramatisiert; siehe Zecchini, Aezio, 139 Anm. 49. 189 Prosp. chron. 1288 (s. a. 425); Cassiod. chron. 1211 (s. a. 425) u. Philost. 12,14 (= Olymp, frg. 43,2 [Blockley]). Der unerwartet glimpfliche Abzug der Hunnen wird von den ersten beiden Quellen eigens hervorgehoben.

40

III. Aëtius’ politischer Weg

Unruhestifter, die Felix künftig das Leben schwer machen konnten und jeden­ falls die Konsolidierung des Westens unter oströmischen Vorzeichen behinder­ ten. Dennoch war die augenblickliche Sicherstellung des Erfolges gegen Johan­ nes nicht zu teuer erkauft. Wahrend Bonifatius in N ordafrika mit seinen regionalen Aufgaben mehr als beschäftigt war,190 w urde Aëtius im Range eines comes rei militaris in die andere Peripherie des Römischen Reiches, nach Gal­ lien, geschickt.191 O b er mit diesem Raum Erfahrungen hatte oder nicht, ist unbekannt;192 in jedem Fall war er hier mit einer Sicherheitsproblematik kon­ frontiert, die auch erfahrenere Generäle als ihn überfordern konnten, denn nicht nur die zahlreichen barbarischen Föderaten dort wollten gebändigt sein, auch innerrömisch war - angesichts von Bagaudenunruhen, Eifersüchteleien unter adeligen Bischöfen und gallorömischem Senatorendünkel - viel Finger­ spitzengefühl vonnöten.193 Mochten Bonifatius und Aëtius in entfernten Gebieten auch mehr oder w e­ niger unabhängig agieren, wichtig war für Felix und seine Helfer, daß er im italischen Kernraum des Reiches und damit an den zentralen Schaltstellen der ravennatischen Hofbürokratie unbehelligt walten konnte. Von dem wenigen, das wir über seine Tätigkeit wissen, gilt es nun auf seine übergeordneten Ziele zu schließen.194 Aus den Quellen ergibt sich hierbei ein Bild, das von diversen Meuchelmorden und mehr oder minder erfolgreichen militärischen O peratio­ nen geprägt ist. Bei zweien der Attentatsopfer handelt es sich um Kleriker, nämlich um den Bischof Patroclus von Arles, der 426 einem Tribunen namens 190 Schon Courtois, Vandales, 65 ff. u. Diesner, Vandalenreich, 31 ff. haben auf die latenten Sicherheitsprobleme im Gefolge der Entromanisierung Nordafrikas in der Spät­ antike aufmerksam gemacht. 191 Demandt, Magister militum, 654 glaubt, daß Aëtius schon unter Johannes bei sei­ ner Expedition zu den Hunnen den Titel eines comes rei militaris gehabt hat. Unsere Quellen freilich bezeichnen ihn einmal als cura palatii (Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8), ein andermal als υποστράτηγος (Philost. 12,14 [= Olymp, frg. 43,2 (Blockley)]) des Usurpators. - Daß Aëtius hingegen als comes rei militaris nach Gallien ging - und nicht als magister equitum per Gallias, wie noch Enßlin, Heermeisteramt, 476 f. geglaubt hatte - dürfte aus Demandts detaillierten Forschungen sicher hervorgehen, s. dens., Magister militum, 662 ff. Die ganze Diskussion muß hier nicht nochmals nachgezeichnet werden. N ur so viel: Aus CIL VI 41389 geht hervor, daß Aëtius im Laufe seiner Karrie­ re zwei Heermeisterstellen ausgeübt hat, das Sprengelkommando in Gallien und das zentrale Hofkommando des magister utriusque militiae. Dies entspricht den beiden Da­ ten (429 und 430), die uns die Überlieferung nennt. Ein drittes Heermeisteramt 425 ist demgegenüber nicht mehr unterzubringen. 192 Denkbar wäre immerhin, daß er seinen Vater Gaudentius bei dessen magisterium equitum per Gallias begleitet hätte. 193 Siehe hierzu eigens das Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius». 194 Zur Politik des Felix u. a. Sirago, Galla Placidia, 264ff.; Oost, Galla Placidia Au­ gusta, 210 ff. u. Zecchini, Aezio, 142 ff.

4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs und ihr Scheitern

41

Barnabus zum O pfer fiel195 und um den Diakon Titus, der im selben Jahr in Rom getötet w urde.196 Ein Hintergrund für die Taten läßt sich aufgrund feh­ lender näherer Informationen nicht mit der erforderlichen Gewißheit rekon­ struieren;197 es sei aber daran erinnert, daß - wie oben bereits erwähnt - das Regime Valentinians III. unter den Vorzeichen einer vergleichsweise restrikti­ ven religiösen Gesetzgebung seine Tätigkeit begann. Dabei mögen sich Rei­ bungspunkte ergeben haben, die sich in Gewalttätigkeiten entluden.198 Für Pa­ troclus ist noch darauf zu verweisen, daß er unter der M itwirkung des damaligen Heermeisters Constantius 412 in sein Bischofsamt eingesetzt worden w ar199 und seitdem in Gallien und sogar Spanien eine bemerkenswerte und nicht unumstrittene Rührigkeit an den Tag gelegt hatte. Auch wenn seither über zehn Jahre vergangen waren, so war seine Erm ordung doch sicherlich kein Zeichen der Zustimmung für die Politik, die der Ehemann der Galla Placidia in Gallien initiiert und gefördert hatte.200 In jedem Fall zeigt der Vorgang, daß Felix sich in seinem Machtanspruch keineswegs auf Italien beschränkte, sondern auf die Gestaltung des ganzen Reiches bezogene Ambitionen hatte. Der zuletzt erwähnte Aspekt läßt sich auch hinsichtlich der «Außenpolitik» des Felix exemplifizieren. Zwei militärische Aktionen sind mit dem Namen des patn cius verbunden, zum einen eine Kampagne zur Rückgewinnung Panno­ niens von den H unnen im Jahre 427, zum anderen der bis zur Jahreswende 428/29 reichende Versuch, Bonifatius von seiner Funktion als comes Africae gewaltsam abzulösen. Beide Vorgänge verdienen unsere nähere Betrachtung, denn sie versprechen weitere Auskunft über die Intentionen des Felix zu ge­ ben; des weiteren ist nach der Rolle zu fragen, die Aëtius bei ihnen spielte. Marcellinus Comes hat zum Jahre 427 folgende, dürre N otiz: Pannoniae, quae p e r quinquaginta annos ab H unnis retinebantur, a R om anis receptae sunt.20i Es ist der einzige Hinweis darauf, daß das Weströmische Reich in die­

ser Zeit einen Feldzug zur Rückgewinnung von Territorien an der Donau durchgeführt hat. Entsprechend vielstimmig ist der C hor derer, die eine Inter­

195 Prosp. chron. 1292 (s. a. 426). 196 Ebd. Völlig isoliert und damit rätselhaft ist die Mitteilung Fast. Merseb. s. a 428: His consulibus ocdsus est Pirrus Romae X kal. Aug. 197 Spekulative Versuche bei Zecchini, Aezio, 142 ff. 198 Doch dürfte gegen Zecchini, Aezio, ebd. der streng orthodoxe Charakter der Ge­ setzgebung Valentinians III. gerade gegen etwaige pelagianische Tendenzen des Felix sprechen. 199 Prosp. chron. 1247 (s. a. 412). 200 Zur Person und Politik des Patroclus von Arles siehe die auf S. 212 Anm. 1131 angeführte Literatur. Zu seiner Rolle im Kontext der Gallienpolitik des Constantius zu­ letzt Lütkenhaus, Constantius III., 121 ff. 201 Marcell, chron. s. a. 427.

42

III. Aëtins’ politischer Weg

pretation des Satzes wagten.202 Immer wieder wurde der militärische Erfolg, der der Mitteilung des Chronisten doch immerhin zugrunde zu liegen scheint, dem Felix angerechnet.203 Bisweilen wurde als eigentliche Stoßrichtung des patricius Aëtius vermutet. D urch die Bezwingung der H unnen, die ja als «Freunde» des damaligen comes galten, habe in Wirklichkeit dieser selbst ge­ troffen werden sollen.204 Freilich spricht die innere Struktur der Hunnenmacht, wie sie sich um 430 n. Chr. darstellt, gegen eine solche Interpretation, wie ich an anderer Stelle darlegen werde.205 Es ist deshalb eine Alternative zu suchen, um die rätselhafte Mitteilung des Marcellinus Comes besser erklären zu kön­ nen. A.Alföldi hat diesbezüglich den Weg aufgezeigt: Er verwies auf die «innenpolitische» Dimension der M ilitäraktion gegen die H unnen und stellte sie in einen Zusammenhang mit den 424 vereinbarten und 437 durchgeführten Gebietsabtretungen des Westreichs gegenüber dem O sten.206 In den Verhand­ lungen zwischen Galla Placidia und dem H o f in Konstantinopel anläßlich des Feldzuges gegen Johannes war nämlich nicht nur der prinzipielle Vorrang Theodosius’ II. vor Valentinian III. zur Sprache gekommen; es hatte auch kon­ krete Vereinbarungen bezüglich einer alten, territorialen Streitfrage gegeben: Seit der Reichsteilung zwischen H onorius und Arcadius war der Besitz der Diözesen Dacia und Macedonia zwischen O st und West umstritten gewesen und hatte mehrfach die Kontrahenten an den Rand eines Krieges gebracht. Die schwache Position Galla Placidias bot Konstantinopel nun die Möglichkeit, eine Regelung in seinem Sinne herbeizuführen. Die betreffenden Teile der illy­ rischen Prätorianerpräfektur verblieben nun offiziell beim O sten;207 darüber hinaus scheint es zu gewissen, nicht allzusehr ins Gewicht fallenden Gebiets­ abtretungen gekommen zu sein.208 Die territorialen Zugewinne des Ostreiches waren jedoch nur dann von N utzen, wenn sie vor dem Feind einigermaßen sicher waren. In diesen Zusammenhang aber könnte die Mitteilung des Marcel­ linus Comes aus dem Jahre 427 gehören: Sie stellt einen Aspekt der militäri202 Siehe die Ausführungen im Kapitel «Aëtius und die Hunnen», S. 106 f. Ein in­ struktiver Überblick über die Vielfalt der Forschungsmeinungen findet sich bei Värady, Das letzte Jahrhundert, 292 ff. 203 So als einer der ersten Seeck, Untergang, Bd. 6, 106 f. 204 Ebd. Ebenso Stein, Bas-Empire, 318. Ablehnend hingegen Zecchini, Aezio, 145f. 205 Siehe unten, im Rahmen des Kapitels «Aëtius und die Hunnen», S. 9Iff. 206 Alföldi, Untergang, 92 ff. 207 Ausführlich E. Stein, WS 36, 1914, 344-347. 208 Ders., RhM 74, 1925, 354ff. Es handelt sich hierbei vor allem um die Stadt Sir­ mium (Sremska Mitrovica). Vielleicht ist deren Abtretung an den Osten erst 437 erfolgt, und zwar deswegen, weil sie durch das Vordringen der Hunnen in den pannonischen Raum inzwischen vom Rest des Westreichs isoliert worden war. Allgemein zum Schicksal Sirmiums im 5. Jh. M. Mirkovic, in: V. Popovic (Hrsg.), Sirmium, Bd. 1, 1971, 41 ff.

4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs und ihr Scheitern

43

sehen Umsetzung des Arrangements von 424 dar. Wenn Felix an der Aktion beteiligt war - denn sein Name wird nicht genannt, nur von nicht näher bezeichneten Rom ani ist die Rede - , dann handelte er im Sinne Konstantinopels und entspricht damit ganz dem Bild, das wir uns von ihm und seiner Tätigkeit in Ravenna gemacht haben.209 Die receptio Pannoniarum 427 war, nachdem die Eroberung Italiens 425 ge­ radezu im Handstreich gelungen war, ein weiterer Schritt, die pars Occidentis zum Vorteil des von Konstantinopel gelenkten Reichsganzen - zu konsolidie­ ren. Mit der Aggression gegen Bonifatius erfolgte nun völlig konsequent der nächste. Es ist ja durchaus die Frage berechtigt, warum die Verantwortlichen in Ravenna ausgerechnet die Auseinandersetzung mit dem alten Bundesgenossen der Kaiserinmutter suchten, da es doch genug Probleme mit in das Reich einund vordringenden Barbaren gab, die der Lösung harrten. Aus der Konstantinopler Perspektive jedoch entbehrt das von uns beobachtete Vorgehen nicht im mindesten der Logik: Wichtig war es, nachdem sich der dynastische Machtan­ spruch des theodosianischen Hauses erfolgreich durchgesetzt hatte, den neuen Herrschaftsbereich so weit als möglich innerrömisch abzusichern und vor Zer­ splitterung zu schützen. Unsichere Kantonisten wie Bonifatius wurden deshalb nur so lange geduldet, wie es unumgänglich war; daß ihre Bekämpfung das Geschäft landsuchender und plündernder Barbaren erleichterte, nahm man als demgegenüber zweitrangig hin.210 Bei Prosper wird Felix als Anstifter der Aktion gegen Bonifatius genannt,211 doch fällt in späteren Quellen auch der Name des Aëtius.212 Die Mehrheit der Forscher hat diese Zeugnisse zurückgewiesen und sie als Vordatierung des spä­ teren Bürgerkrieges von 432 gedeutet.213 In der Tat ist es schwer denkbar, daß

209 In der Forschung hat man sogar die direkte Mitwirkung Konstantinopels bei der Militäraktion von 427 erwogen; so etwa schon Alföldi, Untergang, 92ff. 210 Die Verantwortlichen in Ravenna und Konstantinopel befanden sich mit der Set­ zung dieser Priorität in bester römischer Gesellschaft: Man vergleiche nur Constantius II. und Magnentius, die ihren Bürgerkrieg 351/53 ohne Rücksicht auf «außenpolitische» Konsequenzen durchfochten. In der Folge hatte der Sieger samt seinen Caesares sich noch jahrelang mit Germanen und Persern herumzuschlagen. - Es stellt keine Schwie­ rigkeit dar, weitere Beispiele für eine solche Verhaltensweise auch zu anderen Zeiten der römischen Geschichte zu finden: Auch die Bürgerkriegsprotagonisten am Ende der rö­ mischen Republik und die Exponenten des Vierkaiserjahres 69 n. Chr. nahmen, um ihren innerrömischen Machtkampf führen zu können, im Zweifelsfalle substantielle Ver­ luste des Reiches in Kauf. 211 Prosp. chron. 1294 (s. a. 427). 212 So bei Prok. Kais. hist. 3,3,16-29; Io. Ant. frg. 196 u. Theoph. Conf. a. m. 5931. 213 So zuletzt Zecchini, Aezio, 146f. mit ausführlicher Nennung älterer Literatur. An einer Mitschuld des Aëtius halten u. a. Gentili, Rivalità, 366 f. u. de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 47 ff. fest.

44

III. Aëtius’ politischer Weg

Aëtius und Bonifatius schon 427 die K onfrontation gesucht haben. D er erstere befand sich zu diesem Zeitpunkt in Gallien und hatte mit der Reorganisierung seines Tätigkeitsbereichs alle H ände voll zu tun; selbst wenn w ir dem Sohn des Gaudentius höhere Ambitionen Zutrauen mögen, so war doch jedenfalls die Zeit noch nicht reif dafür, die Hausmacht für eine Aktion von eigenem G e­ wicht noch nicht bereitet.214 Die spätere Überlieferung hat Aëtius aus der Kenntnis seiner langjährigen Herrschaft im Westreich heraus eine Zielstrebig­ keit unterstellt, die Ende der 420er Jahre noch keinesfalls absehbar war. Die letztlich nur ephemere Dominanz des Felix in diesen Jahren war hingegen längst vergessen. Daß der in Gallien agierende comes seinem Kollegen in N o rd ­ afrika schon damals nicht wohlgesonnen war, ist zwar ohne weiteres denkbar, es hätte im Jahre 427 jedoch noch keinerlei politische Relevanz gehabt. D er Verlauf des Konflikts ist für uns in seinen G rundzügen relativ leicht zu rekonstruieren.215 Nachdem Bonifatius sich trotz Aufforderung geweigert hatte, seinen Amtsbereich zu verlassen, wurde er - wie einst Gildo im Jahre 397 - zum hostis publicus erklärt. Eine erste, ins Jahr 427 fallende Expediti­ on216 unter den drei Befehlshabern Mavortius, Gallio und Sanoeces scheiterte jedoch kläglich: Dem belagerten Bonifatius gelang es, die Anführer des raven­ natischen Invasionsheeres auseinanderzudividieren und zu töten.217 U m die Jahreswende wurde deshalb eine zweite Expedition von Italien aus in Bewe­ gung gesetzt, diesmal unter dem comes Sigisvult.218 Seine Mission hatte im Lau­ 214 Es ist deshalb auch nicht notwendig zu erwarten, daß sich Aëtius 426/27 in Italien aufhielt; so allerdings de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 50 f. u. PLRE II Aetius (7). 215 Zusammenfassend u. a. Bugiani, Ezio, 83 ff.; Lizerand, Aetius, 27ff.; Seeck, Unter­ gang, Bd. 6, 107 ff.; Bury, Later Roman Empire, 244 ff.; Gentili, Rivalità, 368 ff.; de Lep­ per, De rebus gestis Bonifatii, 57ff.; Stein, Bas-Empire, 318ff.; Sirago, Galla Placidia, 277ff.; Diesner, Laufbahn, 11 Off.; Oost, Galla Placidia Augusta, 220ff.; Paronetto, Crisi politica, 420 ff. u. Zecchini, Aezio, 146 ff. 216 Von de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 57ff. u. Paronetto, Crisi politica, 428ff. wird ein Kriegsbeginn schon für 426 erwogen. 217 Zusammenfassung der Ereignisse bei Prosp. chron. 1294 (s. a. 427): Bonifatio, cuius intra Africam potentia gloriaque augebatur; bellum ad arbitrium Felicis, quia ad Italiam venire abnuerat, publico nomine inlatum est ducibus Mavortio et Gallione et Sanoece. Qui obsidentes Bonifatium prodente Sanoece occisi sunt, mox etiam ipso qui prodiderat inter­ fecto. Schmidt, Bonifatius, 455 f. u. Gentili, Rivalità, 368 glauben, daß es sich bei den drei von Prosper genannten duces um Untergebene des Bonifatius aus seinem eigenen Macht­ bereich gehandelt habe; erst Sigisvult habe eine Expeditionsarmee von Italien herange­ führt. Doch geht dies nicht aus der Quelle hervor. - Zur Kriegserklärung gegenüber Gildo 397 siehe CIL IX 4051 (ILS 795) u. CIL VI 41382. 218 Prosp. chron. 1294 (s. a. 427): [...] bellique contra Bonifatium coepti in Segisvultum comitem cura translata est. In diesen Zusammenhang gehört möglicherweise auch Chron. Gail. 452, 96 (s. a. 424); vgl. jedoch oben S. 31 Anm. 151. Sigisvult hatte den Rang eines comes, war also wohl an die Stelle des Bonifatius gesetzt worden; siehe Aug.

4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs und ihr Scheitern

45

fe des Jahres 428 mehr Erfolg. Er vermochte offensichtlich, Bonifatius aus Kar­ thago zu vertreiben und ins Landesinnere, in die Mauretania Sitifensis, abzu­ drängen.219 Von Anfang an jedoch versuchte Sigisvult auch, Verhandlungen aufzunehmen und dem hostis publicus so eine Brücke zu bauen.220 Ohnehin sprach nun, da die handstreichartige Eroberung Nordafrikas offensichtlich ge­ scheitert war und der Krieg sich gefährlich in die Länge zu ziehen drohte, immer mehr für eine Verständigungslösung, wollte man nicht die militärische Substanz des Westreichs sinnlos aufbrauchen. Schon nutzten berberische Streif­ scharen die Beschäftigung des römischen Gegners mit sich selbst aus, um in den Provinzen ihr Unwesen zu treiben;221 unter den auf beiden Bürgerkriegs­ seiten kämpfenden germanischen Hilfsverbänden litt die Zivilbevölkerung in gleicher Weise.222 Der afrikanische Klerus murrte zunehmend über die häreti­ sche Begleitung in der Gefolgschaft des Arianers Sigisvult.223 Vielleicht fürch­ tete man zu dieser Zeit auch schon eine Invasion der Wandalen, die soeben mit Geiserich einen neuen, tatkräftigen König erhalten hatten.224

coli. c. Maximin. (Migne 42, 709 [Zitat siehe unten Anm. 220]) u. ders. serm. 140 (Migne 38,773): [...] dictum Maximini Arianorum episcopi, qui cum Segisvulto comite constitu­ tus in Africa blasphemabat. 219 Dies geht aus Possid. vita Aug. 17,9 hervor, wo davon die Rede ist, daß der im Dienste des Sigisvult stehende arianische Bischof Maximinus de Hippone rediens ad Carthaginem zieht. Bonifatius war also zu diesem Zeitpunkt 428 aus Karthago bereits abgezogen. Daß er sich in die Mauretania Sitifensis im Landesinneren zurückzog, kann aus Aug. epist. 229,1 erschlossen werden. Hier ist davon die Rede, daß sich der kaiser­ liche Emissär Darius im Winter 428/29 - doch wohl zwecks der Verhandlungen mit Bonifatius - in dieser Gegend aufhielt. - Den ganzen Komplex untersucht ausführlich de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 60 ff. 220 Siehe die Aussage des Bischofs Maximinus in Aug. coli. c. Maximin. (Migne 42, 709): [...] missus a comite Segisvulto contemplatione pacis adveni. 221 Aug. epist. 220,7 in einem Brief an Bonifatius zur Jahreswende 427/28: Quid au­ tem dicam de vastatione Africae, quam faciunt Afri barbari resistente nullo, dum tu talis tuis necessitatibus occuparis nec aliquid ordinas, unde ista calamitas avertatur? 222 Die germanischen Hilfsverbände auf beiden Seiten erwähnt eigens Prosp. chron. 1294 (s. a. 427): Exinde gentibus, quae uti navibus nesciebant, dum a concertantibus in auxilium vocantur, mare pervium factum est. 223 Siehe etwa Aug. serm. 140 (Migne 38, 773 [Zitat siehe oben Anm. 218]); weitere, den arianischen Bischof Maximinus betreffende Zeugnisse bei de Lepper, De rebus ges­ tis Bonifatii, 61. Zur Unzufriedenheit des afrikanischen Klerus mit dem Krieg ebd., 73 f. - Paronetto, Crisi politica, 425 ff. lehnt die zuletzt genannte Begründung für die allge­ meine Friedensbereitschaft im Winter 428/29 ab und glaubt, daß die Beteiligten vor Beginn der Schiffahrtssaison im Frühling eine Einigung herbeiführten, um die Kornver­ sorgung Roms und der Föderaten sicherzustellen. 224 Geiserich folgte im Jahre 428 seinem Halbbruder Gunderich als König der Wan­ dalen nach; siehe Hyd. chron. 89 (s. a. 428).

46

III. Aëtius’politischer Weg

Die genannten G ründe führten nach dem Ende der für die Kriegsführung geeigneten Saison im W inter 428/29 zu intensiven Verhandlungen, über die wir aufgrund des erhaltenen Briefwechsels zwischen Augustinus und dem kaiserli­ chen Emissär Darius unterrichtet sind.225 Bonifatius wurde zunächst ein durch die Vergeiselung eines gewissen Verimodus abgesicherter Waffenstillstand ge­ währt;226 offensichtlich wurde er in seine W ürde als comes Africae wiedereinge­ setzt, sein hostis-Status somit aufgehoben. Pünktlich zu Beginn der Wandalen­ invasion in Nordafrika im Mai 429 war Bonifatius als Kommandeur wieder einsatzbereit.227 Fassen wir die Resultate der nahezu zweijährigen Auseinandersetzung zu­ sammen: Für Ravenna waren sie nahezu katastrophal. N icht nur, daß es nicht gelungen war, das primäre Kriegsziel, nämlich die Absetzung des Bonifatius, zu erreichen. Nachdem es diesem gelungen war, sich erfolgreich zu behaupten, war an eine erfolgreiche Integration des comes Africae in das Gefüge des West­ reichs nun nicht mehr zu denken, zumindest solange Felix das Sagen hatte: Bonifatius blieb ein Fremdkörper im Planspiel Konstantinopels. Vor allem aber für Felix war das Scheitern der Kampagne von 427/28, die offensichtlich mit beträchtlichem Aufwand durchgeführt worden war,228 ein herber Rückschlag.229 Die Aggression gegen den treuen Gefolgsmann Galla Placidias war in ihrer Begründung nicht unproblematisch gewesen230 und hätte sich nur durch einen unzweifelhaften Erfolg rechtfertigen lassen. Jetzt haftete Felix nicht nur der Makel des Scheiterns an; auch gegenüber der Kaiserinmutter war seine Position geschwächt. Selbst durch ostentative Ehrungen wie die Verleihung des K on­ 225 Aug. epist. 229-231. Zu diesem Briefwechsel de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 65 ff. u. Diesner, Datierung. 226 Daß es sich zunächst nur um einen Waffenstillstand handelte, zeigt die Formulie­ rung in Aug. epist. 230,3: si non extinximus bella, certe distulimus. - Verimodus war möglicherweise ein Sohn des Bonifatius; siehe de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 71 u. Zecchini, Aezio, 149. Scharf, Sebastianus, 142 ff. hingegen sieht in ihm einen Schwa­ ger des Bonifatius bzw. Bruder der Pelagia. 227 Von der Wandaleninvasion ist im Briefwechsel zwischen Augustinus und Darius noch nicht die Rede; daher die berechtigte Datierung des Friedensschlusses durch Dies­ ner, Datierung, 91 ff. auf den Jahreswechsel 428/29. Das Datum der Wandaleninvasion bei Hyd. chron. 90 (s. a. 429). 228 Dies zeigt schon die Erklärung des Bonifatius zum hostis publicus, die vom Senat in Rom vorgenommen werden mußte; die Verantwortung für den Feldzug sollte offen­ bar auf viele Schultern verteilt, die Front gegen den Feind so geschlossen wie möglich gehalten werden. 229 So schon Sirago, Galla Placidia, 284ff. 230 Dies kann man der vorsichtigen Formulierung des Augustinus in einem Brief an Bonifatius entnehmen; siehe Aug. epist. 220,5: Iustam quidem dicis habere te causam, cuius ego iudex non sum, quoniam partes ambas audire non possum. Dazu Paronetto, Crisi politica, 408 ff.

4. Die oströmische Neuordnung des Westreichs und ihr Scheitern

47

sulats im Jahre 428 ließ sich dieser Autoritätsverlust nicht ohne weiteres ausgleichen.23123 Zu den Profiteuren der Misere von 427/28 gehörte Aëtius. Der Fall des Bonifatius hatte gezeigt, daß eine Behauptung gegenüber Ravenna, wenn auch mit großen Risiken für das Reichsganze, möglich war. Das Roll-back Konstantino­ pels gegenüber den Elementen, die dem neuen Regime hinderlich waren, war zum Stillstand gekommen. Spätestens mit dem Beginn der Invasion Geiserichs in N ordafrika im Mai 429 war klar, daß Felix seine Offensivfähigkeit eingebüßt hatte, denn nun mußten in der Tat alle Kräfte mobilisiert werden, um den Ver­ lust zentraler, steuerkräftiger Regionen des Reiches zu verhindern. Für Aëtius bedeutete dies, daß er sich in Gallien sicher fühlen konnte; eine Aggression wie die gegen Bonifatius war nicht mehr zu gewärtigen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß Prosper genau zu diesem Zeitpunkt die Beförderung des Aëtius zum Heer­ meister vermeldet. Die betreffende N otiz lautet: Feltce a d patriciam dignitatem provecto A etius m agister m ilitum factus est.2i2 Die Forschung hat mit dieser Mitteilung immer ihre Schwierigkeiten gehabt, denn Felix hatte - wie oben bereits erwähnt - das m agisterium utriusque m ilitiae und den Patriziat schon im Jahre 425 erhalten.233 Warum also seine Erwähnung im Jahre 429 im Zu­ sammenhang mit Aëtius’ Beförderung? Prospers Ausdrucksweise wird verständlich im Lichte der Situation nach dem Bürgerkrieg mit Bonifatius. Gerade in dieser Zeit hatte Aëtius in Gallien große militärische Erfolge erzielt.234 Im Jahre 428 gelang es ihm, durch einen Feldzug gegen die Franken die alte Rheingrenze des Reiches wieder zu errei­ chen und, wie es scheint, sie zumindest nominell wiederherzustellen.235 Dies war seit Stilicho nicht mehr geschehen; selbst Constantius hatte in diesem Raum seine Probleme gehabt.236 D er militärische Erfolg des Aëtius ermög­ lichte, ja erzwang geradezu dessen H onorierung durch den Kaiser in Ravenna, konnten doch hierdurch die Fehlschläge in N ordafrika teilweise vergessen ge­ macht werden. Aus diesem G runde wurde 429 n. Chr. das nach 406/07 er­

231 Die Zeugnisse für Felix’ Konsulat in PLRE II Felix (14) u. Bagnall, Consuls, 390 f. Die schwierige Lage des Felix nach den Fehlschlägen in Nordafrika betont Sirago, Galla Placidia, 284 ff. 232 Prosp. chron. 1300 (s. a. 429). 233 Die Diskussion der Quelle bei Demandt, Magister militum, 653 mit Verweisen auf weitere Literatur. 234 Siehe meine Ausführungen im Rahmen des Kapitels «Die Reichspolitik des Aëtius» aufS. 168 ff. 235 Prosp. chron. 1298 (s. a. 428) u. Cassiod. chron. 1217 (s. a. 428). 236 Noch in der letzten Lebenszeit des Constantius hatte der damalige comes domesti­ corum Castinus einen Feldzug gegen die Franken geführt; siehe Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9.

48

III. Aëtius’ politischer Weg

loschene m agisterium equ itu m p e r G allias neu geschaffen und mit Aëtius als erstem Inhaber besetzt - eine glanzvolle Krönung seiner Gallienpolitik.237 N u r durch den Titel des patricius war Felix ihm gegenüber nun noch ausgezeichnet, wie Prosper mit seiner N otiz zeigt: er hatte diese H ervorhebung offensichtlich bitter nötig.238239 Felix’ Stellung war im Jahre 429 schwer ins Wanken geraten; Aëtius klopfte bereits an die Pforten der Macht.

5. A ëtius’ Aufstieg zum p a tr ic iu s des Westreichs bis 435 n. Chr. N ach allem, was zuletzt dargelegt wurde, ist es nicht weiter verwunderlich, daß wir schon bald vom Ende des Felix hören. Zum Jahre 430 vermeldet Hydatius mit dürren W orten die Erm ordung des noch vor wenigen Jahren scheinbar u n ­ angefochtenen Machthabers: Felix qu i dicebatu r patricius R aven n a tum ultu oc­ ciditur m ilitari.™ Ergänzenden Quellen kann man entnehmen, daß er mitsamt seiner Ehefrau Padusia und einem Diakon namens G runitus240 einem A ttentat auf den Stufen der Basilica Ursiana in Ravenna zum O pfer fiel.241 Die Verant­ w ortung des Aëtius für die Tat wird von der Überlieferung nicht bestritten, doch wird sie als Reaktion auf ein seinerseits von Felix geplantes Kom plott dargestellt.242 Die H intergründe für den U m sturz müssen angesichts unserer U nkenntnis über weitere Einzelheiten im dunkeln bleiben. Felix konnte viele G ründe ha­ ben, sich seines unbequemen Kollegen zu entledigen: Die Beförderung zum m agister equitum p e r Gallias hatte Aëtius, der es noch vor wenigen Jahren nur mit Hilfe hunnischer Söldner vermocht hatte, sein politisches Überleben den neuen Machthabern abzupressen, ein Prestige verschafft, das auch ohne weitere militärische Erfolge mittelbar für Felix gefährlich war. N u n hatte aber der ge237 Als letzter magister equitum per Gallias vor Aëtius ist Chariobaudes im Jahre 408 bezeugt; siehe Zos. 5,32,4. Daß Aëtius im Jahre 429 Heermeister in Gallien wurde und nicht präsentaler magister equitum , zeigt - u. a. unter Verweis auf CIL VI 41389 Demandt, Magister militum, 662 ff. Hierzu ferner Appendix II auf S. 324 ff. 238 Anders Sirago, Galla Placidia, 275 Anm. 2, der Prosp. chron. 1300 (s. a. 429) als Zeichen einer «concomitanza dell’avanzamento di carriera» bei Felix und Aëtius bewer­ tet. 239 Hyd. chron. 94 (s. a. 430). Ebenso ohne weitere Einzelheiten Marcell. chron. s. a. 430. 240 Prosp. chron. 1303 (s. a. 430). 241 Agnell. lib. pontif. 31. Er präzisiert das Datum der Ermordung auf Mai 430. 242 Prosp. chron. 1303 (s. a. 430): Aetius Felicem cum uxore Padusia et Grunito diaco­ no, cum eos insidiari sibi praesensisset, interimit. Ähnlich Io. Ant. frg. 201,3 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 32-34), der allerdings Aëtius der Heimtücke bezichtigt (άνεΐλε δέ καί Φήλικα δόλω) und auch der Kaiserinmutter Galla Placidia eine Rolle in den Ausein­ andersetzungen zuweist.

5.

Aëtius' Aufstieg zum patricius des Westreichs

49

rade ernannte Heermeister in der kurzen Zeit seiner Amtsausübung bereits eine beträchtliche Aktivität an den Tag gelegt. Für die Jahreswende 429/30 sind uns zwei Feldzüge des Aëtius bekannt: Vor Arles wies er eine Attacke der Westgoten zurück und nahm deren Anführer Anaolsus gefangen;243 nördlich der Alpen besiegte er eine juthungische Schar, die auf Reichsgebiet vorgedrun­ gen war, und bekämpfte eine nicht näher charakterisierte Bevölkerungsgruppe in N orikum .244 Beide Aktionen werden von Hydatius noch vor der im Mai 430 anzusetzenden Erm ordung des Felix notiert; die Chronologie der Ereig­ nisse wird hierdurch zwar sehr zusammengedrängt, doch erscheint sie nicht unmöglich. Die Kämpfe, die zur Gefangennahme des Anaolsus führten, kann man nicht als einen regelrechten Krieg zwischen Römern und Westgoten be­ trachten; deren damaliger König Theoderich I. war an den Auseinandersetzun­ gen augenscheinlich nicht beteiligt. Es handelte sich also eher um eine Polizei­ aktion gegen marodierende Barbaren. Gleiches darf man für die Kämpfe im nördlichen Alpenraum annehmen. Anscheinend wurden sie im W inter 430 nicht zu Ende geführt, denn im Folgejahr hören wir wieder von Razzien in Rätien und N orikum .245 Dennoch: Auch wenn es sich bei den Feldzügen von 429/30 um militärisch zweitrangige Aktionen gehandelt haben mag, so bezeugten sie doch zur Genüge, daß der Heermeister Aëtius seine neuen Aufgaben mit Ent­ schlossenheit anpackte und - so scheint es - mit Erfolg durchführte. Gegen die Juthungen und N orer operierte er hierbei sogar auf einem Gebiet, das zur itali­ schen Prätorianerpräfektur gehörte, eigentlich also außerhalb des gallischen Sprengelkommandos lag.246 D er politische Druck, den die agile Kriegsführung des Aëtius auf Felix ausübte, muß in jedem Fall enorm gewesen sein; der tu­ multus militans in Ravenna im Mai 430 wurde regelrecht herbeigezwungen.247

243 Hyd. chron. 92 (s. a. 430): Per Aetium comitem haud procul de Arelate quaedam Gothorum manus extinguitur Anaolso optimate eorum capto. 244 Hyd. chron. 93 (s. a. 430): Iuthungi per eum (scii. Aetium) similiter debellantur et Nori. Ebenfalls auf diese Ereignisse zu beziehen sind Chron. Gail. 452, 106 (s. a. 430) u. Sidon, carm. 7,230-235. Eine ausführlichere Diskussion erfolgt im Kapitel «Die Reichs­ politik des Aëtius», S. 185 ff. 245 Hyd. chron. 95 (s. a. 431) u. erneut Sidon, carm. 7,230-235. Die Tatsache, daß Chron. Gail. 452, 106 (s. a. 430) davon spricht, Aëtius habe die Vernichtung der einge­ drungenen Juthungen «beabsichtigt» (Aetius Iuthungorum gentem deleri intendit), stützt die Vermutung, es habe sich im Winter 430 nur um vorläufige Aktionen gehandelt. 246 Auf den Sachverhalt hat Demandt, Magister militum, 666 hingewiesen. Wir wissen allerdings nicht, in welcher Form das magisterium equitum per Gallias im Jahre 429 wiedererrichtet worden ist. Eine Ausdehnung der militärischen Kompetenzen des Aëtius auf den nördlichen Alpenraum ist zumindest nicht ausgeschlossen. Doch auch dies hätte Felix sicher zu denken geben müssen. 247 Den Zusammenhang zwischen den erfolgreichen Feldzügen des Aëtius und dem tumultus militaris in Ravenna im Mai 430 betont O ’Flynn, Generalissimos, 78f. Zecchini,

50

III. Aëtins’ politischer Weg

Mit der Ausschaltung des Felix hatte Aëtius vordergründig ein wichtiges Ziel erreicht; er war nun der erste Heermeister des Westens anstelle des gestürzten magister utriusque militiae.248249 Ü ber den Patriziat verfügte er allerdings nicht, doch dies war auch bei anderen «starken Männern» vor ihm - wie Stilicho und Castinus249 - nicht der Fall gewesen. Problematisch war für Aëtius, daß er im höfischen Milieu Ravennas - zumindest für uns erkennbar - über keine starke U nterstützergruppe verfügte. Zwar hatte sich Felix durch die Nieder­ lagen der letzten Zeit zweifelsohne diskreditiert; dennoch konnte es für die Konstantinopel zugeneigte Partei bei H ofe keine Empfehlung sein, daß Aëtius den Exponenten Theodosius’ II. getötet hatte. Doch auch Galla Placidia, der eine Emanzipation von dem seit 425 dominierenden oströmischen Einfluß nur recht sein konnte,250 war sicherlich nicht die geeignete Partnerin des neuen magister utriusque militiae, denn dieser hatte fünf Jahre zuvor auf der falschen Seite gestanden, auf der des Johannes und Castinus. Seine Erfolge in Gallien waren zwar gut für das Imperium und die Vergrößerung seines Steueraufkom­ mens, die zentrale Machtfrage im Weströmischen Reich verkomplizierten sie aber nur. Ein politisches Bündnis zwischen Aëtius und Galla Placidia scheint insofern jenseits tagespolitischer Erwägungen schwer denkbar. Wohl nur durch die schwierige Lage in N ordafrika wurde die vom drückenden oströmischen Einfluß befreite Kaiserinmutter abgehalten, sofort den Versuch eines Befrei­ ungsschlages gegen Aëtius zu wagen. D ort hatte sich die Situation seit der Wiedereinsetzung des Bonifatius in die comitiva Africae nicht zum Besseren entwickelt, denn kaum war der inner­ römische Konflikt bereinigt, rollte im fernen Westen die Invasion der Wan­ dalen an.251 Im Mai 429 überquerte König Geiserich mit seinem Volk die Meer­ Aezio, 157 hat Aëtius’ «attività frenetica» außerhalb Italiens während der Jahre 430/32 dafür verantwortlich gemacht, daß sich dessen Machtposition bei Hofe nicht konsolidie­ ren konnte. 248 Hyd. chron. 95 (s. a. 431), wo Aëtius allerdings unter dem unpräzisen Titel dux utnusque militiae firmiert. Aëtius war der erste uns bekannte General, der innerhalb der Heermeisterstellen aufstieg; dazu Demandt, Magister militum, 654. 249 Stilicho hatte allerdings den Titel parens principum geführt; siehe Straub, Parens principum. Daß Castinus nicht patricius war, vermuten Enßlin, Heermeisteramt, 474 f. u. Demandt, Magister militum, 635 f. 250 Deshalb ist es unwahrscheinlich, daß sie mit Felix 430 gemeinsame Sache gegen Aëtius machte, wie Io. Ant. frg. 201,3 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 32-34) angibt. Der patricius war zu diesem Zeitpunkt noch der unbequemere Kontrahent. 251 Zur Invasion der Wandalen in Nordafrika zusammenfassend u. a. Bugiani, Ezio, 105ff.; Bury, Later Roman Empire, 246ff.; Schmidt, Wandalen, 30ff.; Gautier, Genséric, 167ff.; Courtois, Vandales, 155ff.; Stein, Bas-Empire, 319ff.; Sirago, Galla Placidia, 278ff.; Courcelle, Histoire littéraire, 115ff.; Diesner, Untergang, 46ff.; ders., Vandalen­ reich, 49 ff.; Clover, Geiseric the statesman, 32 ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 224 ff. u. Zecchini, Aezio, 154 ff.

5.

Aëtius ’ Aufstieg zum patricius des Westreichs

n

enge von Gibraltar252 und rückte in einem unaufhaltsamen Vormarsch zu Lande nach O sten vor, bis er im Frühjahr 430 die K ulturzone im heutigen Tunesien erreichte.253 Bonifatius, der jetzt wieder über eine reguläre Armee verfügen konnte, wurde in offener Feldschlacht besiegt.254 Immerhin konnte die handstreichartige Eroberung Karthagos verhindert werden; die Kämpfe konzentrierten sich statt dessen von nun an auf die Stadt H ippo Regius (Bône), wo sich Bonifatius einschließen und eine vierzehnmonatige Belagerung über sich ergehen ließ.255 Dies führte zu einer vorübergehenden Erstarrung des Konflikts: Die Wandalen vermochten die Römer nicht völlig zu besiegen oder zum Abschluß eines foedus zu zwingen; diese waren nicht dazu imstande, die eingedrungenen Barbaren im ersten Gegenstoß wieder aus der nordafrikani­ schen Kulturzone zu vertreiben. Es bedurfte eines neuen Impulses, um den Bewegungskrieg erfolgversprechend wiederaufnehmen zu können. Die Erm ordung des Felix im Mai 430 fällt vielleicht nicht von ungefähr ge­ nau in die Zeit, als sich mit der Niederlage des Bonifatius und der beginnenden Belagerung von H ippo Regius die Misere jenseits des Mittelmeeres in ihrem vollen Umfang abzeichnete. Die Verantwortung für das Geschehen ließ sich eben nicht nur dem unbotmäßigen comes Africae anlasten; vielmehr war der totale Zusammenbruch der römischen Verteidigungsstrukturen Folge eines schon lange virulenten Desintegrationsprozesses auf sozialem, wirtschaftlichem, religiösem und nicht zuletzt politisch-militärischem Gebiet, an dem viele nicht zuletzt Felix - ihren Anteil hatten.256 Erst die spätere Überlieferung hat in vereinfachender Personalisierung Bonifatius zum Alleinschuldigen für die Wandaleninvasion erklärt.257

252 Das Datum bei Hyd. chron. 90 (s. a. 429). Die Zahl der wandalischen Invasoren wird mit 80.000 angegeben; siehe Vict. Vit. 1, 2. 253 Das Itinerar Geiserichs bei J.Le Gail, RPh 10, 1936, 268-273. 254 Prok. Kais. hist. 3,3,31. Zum Krieg zwischen Bonifatius und den Wandalen u. a. de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 87ff. 255 Prok. Kais. hist. 3,3,3 lf. Zur Datierung der Belagerung von Hippo Regius Zecchini, Aezio, 156 mit Anm. 59, der selbst den Zeitraum von Mai/Juni 430 bis Juli/Aug. 431 favorisiert. 256 Zu den Hintergründen von Geiserichs erfolgreicher Invasion u. a. Diesner, Unter­ gang, 79 ff. u. Clover, Geiseric the statesman, 15 ff. 257 Prok. Kais. hist. 3,3,22-26; Io. Ant. frg. 196; lord. Get. 167; lord. Rom. 330 u. Theoph. Conf. a. m. 5931. Die offenkundigen Mängel dieser Tradition hat schon Schmidt, Bonifatius, mustergültig aufgezeigt. Daß dennoch viele an der (Mit-)Verantwortung des Bonifatius, weiterhin festhalten, zeigt der Forschungsüberblick bei Zecchini, Aezio, 155 Anm. 56. Als Faktum bleibt bestehen, daß die zeitgenössische Über­ lieferung wie Prosper von Aquitanien, Hydatius und noch Victor von Vita in den 480er Jahren nichts von einem Hilfsgesuch des comes Africae an Geiserich weiß.

52

III. Aëtius'politischer Weg

D er Erhalt der «Kornkammer» N ordafrika für das Reich war eine Lebens­ frage für Rom und Italien. Wollte der soeben gekürte magister utrim que mili­ tiae Aëtius nicht das Schicksal seines Vorgängers teilen, so mußte er gerade auf diesem Schauplatz seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Doch wie konnte man eine Offensive jenseits des Meeres organisieren, ohne zur gleichen Zeit die frisch errungenen Erfolge in Gallien zu gefährden? Zum M ehrfronten­ krieg war das Weströmische Reich schon zu diesem Zeitpunkt nur noch be­ dingt in der Lage.258 N u r wenn es gelang, Konstantinopel mit in die Verant­ w ortung zu nehmen, war es möglich, Geiserich in Afrika gefährlich zu werden und gleichzeitig in Gallien und im N ordalpenraum die seit 425 bewährte, auf energischen Offensiven basierende Politik weiterzuführen. Das dargelegte Kalkül stellt selbstverständlich nur eine H ypothese dar, denn über Aëtius’ Überlegungen nach seiner ersten Machtergreifung im Jahre 430 liegen uns keine Quellen vor. Dennoch ermöglicht sie eine weitaus schlüssigere Erklärung der Ereignisse von 430 bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges 432 als andere Rekonstruktionsversuche. Während des besagten Zeitraumes sehen wir Aëtius - wie schon vorher von 425 bis 430 n. Chr. - permanent in seinem bisherigen Aktionsraum am Werk: er zwingt norische Aufständische unter die Botmäßigkeit des Reiches zurück,259 kämpft gegen Juthungen260 und Fran­ ken,261 ja nimmt sogar über eine Gesandtschaft um den galicischen Bischof Hydatius Kontakt nach Spanien auf - für uns die erste sichtbare Betätigung der weströmischen Regierung in diesem Raum seit dem Desaster des Castinus 422 n. Chr.262 Daß Aëtius als neuer «starker Mann» des Westens sich nicht den militäri­ schen Brennpunkt N ordafrika als Aufgabengebiet ausgesucht hat, kann nur auf eine bewußte Entscheidung zurückgeführt werden. Während er unerm üd­ lich an den nördlichen Peripherien des Reiches die Konsolidierung voran­ trieb, ging im Jahre 431 in Karthago ein oströmisches Hilfsheer unter dem Heermeister Aspar an Land.263 Die Durchführung dieser M ilitäraktion kam einer Anerkennung der immerhin gewaltsam errungenen Machtposition des

258 So die Einschätzung von Wolfram, Reich, 164 u. Bleckmann, Honorius, 595. 259 Hyd. chron. 95 (s. a. 431); Chron. Gail. 452, 106 (s. a. 430) u. Sidon, carm. 7,230235. 260 Chron. Gail. 452, 106 (s. a. 430) u. Sidon, carm. 7,230-235. Die Operationen in Rätien dürften - dem Wortlaut der Quellen nach - mehr als eine Kampagne in An­ spruch genommen haben; siehe auch Weber, Aëtius u. Scharf, Iuthungenfeldzug, 144f. 261 Hyd. chron. 98 (s. a. 432) u. lord. Get. 176. 262 Hyd. chron. 96 (s. a. 431) u. 98 (s. a. 432). 263 Prok. Kais. hist. 3,3,35; Euagrios 2,1; Theoph. Conf. a. m. 5931 u. 5943 sowie Io. Zon. hist. 13,24,12. Das Datum ergibt sich aus Conc. Ephes. a. 431 (Schwartz 1,4) 124,2; dazu PLRE II Aspar.

5. Aëtius’ Aufstieg zum patricius des Westreichs

53

Aëtius gleich, denn im Falle eines erfolgreichen Kampfes gegen die Wandalen würde davon nicht nur der immer noch minderjährige Kaiser Valentinian III. profitieren, sondern auch und vor allem der neue magister utrimque militiae des Westens. Es ist aufschlußreich, daß Aspar im Jahre 431 das oströmische Expeditionsheer nach N ordafrika führen durfte. Schon 425 hatte er an der Rückführung Galla Placidias nach Italien teilgenommen und in diesem Zu­ sammenhang Aëtius und seinen kompromißlosen Machtwillen kennengelernt; vielleicht prädestinierte ihn diese Erfahrung für die Kampagne des Jahres 431. Auffallend ist, daß auch nach diesem Zeitpunkt, wann immer militärische Hilfeleistungen des Ostens für Aëtius durchgeführt wurden - so 441 erneut gegen die Wandalen und 452 gegen die H unnen - Aspar zumindest indirekt mit im Spiel war.264 Das militärische Kalkül, das wir hinter der Mission Aspars in N ordafrika vermuten dürfen, ging allerdings, wie der Fortgang der Ereignisse zeigt, nicht auf: Zwar wurde im Sommer 431 die Belagerung von H ippo Regius durch die Wandalen aufgehoben;265 der Bewegungskrieg kam wieder in Gang. Doch blie­ ben den vereinten römischen Kräften durchschlagende Erfolge versagt. Wohl im Frühjahr 432 erlitten Bonifatius und Aspar sogar eine eindeutige Niederlage gegen Geiserich; auch H ippo Regius mußte nun den Wandalen geöffnet wer­ den.266 Die Situation glich derjenigen zwei Jahre zuvor: Nachdem der erste Ansturm Aspars wirkungslos verpufft war, richtete man sich erneut auf einen langwierigen Kleinkrieg ein. Eine rasche Vertreibung der Wandalen aus N o rd ­ afrika war immer weniger möglich. Schon schienen Verhandlungen der einzige Ausweg zu sein.267 In dieser Situation zum Ende des Jahres 432, die in näch­ ster Zukunft keine entscheidenden Militäraktionen mehr auf dem afrikanischen

264 Sowohl 441 als auch 452 verfügte Aspar über großen Einfluß bei den jeweils am­ tierenden Kaisern. Er hat die Hilfsexpeditionen für den Westen nicht behindert, aller­ dings auch nicht selbst an ihnen teilgenommen. Ein Teil der Forschung hingegen hat angenommen, Aspar habe nach 434, durch seine schlechten Erfahrungen mit den Wan­ dalen belehrt, Militäraktionen gegen Geiserich wie die von 441 nicht gefördert; so Ver­ nadsky, Aspar, 49f. u. Clover, Geiseric the statesman, 49ff. G. Gaggero, in: M.Khanoussi u. a. (Hrsgg.), L’Africa romana XI, 1997, 1640f., hat den hypothetischen Charakter solcher Annahmen betont. 265 Zur Dauer der Belagerung von Hippo Regius siehe S. 51 Anm. 255. Sie ergibt sich aus Possid. vita Aug. 28,12. 29,3 u. 30,3. Einen Zusammenhang zwischen dem Ab­ bruch der Belagerung durch die Wandalen und der Ankunft Aspars sieht Gautier, Genséric, 179, allerdings nennt Prok. Kais. hist. 3,3,34 f. den Abzug der Wandalen von Hip­ po Regius vor der Landung der Oströmer. 266 Prok. Kais. hist. 3,3,35 f. u. Theoph. Conf. a. m. 5931. Zum Datum PLRE II Aspar. 267 Clover, Geiseric the statesman, 41 ff. unter Berufung auf die u. a. von Prok. Kais. hist. 3,4,2-11 geschilderte Erzählung von der Gefangennahme des künftigen

54

III. Aëtius’ politischer Weg

Kriegsschauplatz erwarten ließ, berief Galla Placidia den comes Africae Bonifatius nach Ravenna zurück.268 Sie hatte ihm neue Aufgaben zugedacht. Für Aëtius bedeutete die unerfreuliche Entwicklung des Krieges mit Geiserich eine beträchtliche Gefährdung seiner noch nicht konsolidierten Macht. Er hatte zu Beginn des Jahres 432 sein erstes Konsulat angetreten;269 die Offensive Aspars gab zu optimistischen Einschätzungen Anlaß. Doch durch die M iß­ erfolge im Verlauf des Jahres 432 näherte sich seine Position immer mehr der seines Vorgängers Felix im Mai 430 an. Mochte er noch so viele Erfolge jen­ seits der Alpen aufweisen können, die Wandalengefahr in N ordafrika war doch für die Öffentlichkeit Italiens viel deutlicher greifbar und bedrohte obendrein ganz real die Sicherheit und die Nahrungsmittelversorgung weiter Bevölke­ rungskreise. Aëtius scheint sich als Konsequenz aus den Negativentwicklungen nach Italien zurückbegeben zu haben, doch als Bonifatius von Galla Placidia nach Ravenna geholt wurde, war seine Machtstellung schon so paralysiert, daß an ein wirkungsvolles Vorgehen gegen die sich abzeichnenden Maßnahmen der Augusta nicht mehr zu denken war.270 Für die M utter Valentinians III. war nun der richtige Augenblick gekommen, in das Geschehen einzugreifen und die Verhältnisse so zu ordnen, daß es ihren Interessen und denen des bald regierungsfähigen Kaisers entsprach.271 Sowohl Felix als auch Aëtius hatten es zwar vermocht, die faktische Herrschaft im Reiche zu erringen und zeitweise auszuüben, sie waren aber auch beide an der komplizierten Kriegslage in N ordafrika gescheitert und hatten so ihre unange­ fochtene M achtposition aufs Spiel gesetzt. Mit Felix war obendrein der u n ­ mittelbare oströmische Einfluß, der nach 425 eine selbständige Regierung Galla Placidias nahezu unmöglich gemacht hatte, weitgehend ausgeschaltet worden. Die Kaiserinmutter war also von einem vielfachen Alpdruck befreit. Zum er­ sten Mal seit der Thronbesteigung Valentinians III. übte sie die Rolle einer Kaisers Marcian durch Geiserich. Weitere Quellen zu dieser Geschichte in PLRE II Marcianus (8). 268 Chron. Gail. 452, 109 (s. a. 432); Hyd. chron. 99 (s. a. 432); Prok. Kais. hist. 3,3,36 u. Theoph. Conf. a. m. 5931. 269 Die Quellen in PLRE II Aetius (7) u. Bagnall, Consuls, 398 f. 270 Alle Maßnahmen, die Aëtius 432/33 zur Rettung seiner Stellung ergriff, zeugen von seiner prinzipiellen Unterlegenheit. Zweimal muß er sein Heil in der Flucht suchen, nämlich nach der Niederlage gegen Bonifatius und nach dem Attentatsversuch des Sebastianus. Eine Erklärung für diese merkwürdige Hilflosigkeit zu finden, ist angesichts der dürftigen Grundlage unseres Quellenmaterials aussichtslos. 271 Zum Bürgerkrieg der Jahre 432/33 u. a. Bugiani, Ezio, 119ff.; Nagl, Galla Placi­ dia, 43 ff.; Lizerand, Aetius, 33 ff.; Bury, Later Roman Empire, 248; de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 101 ff.; Enßlin, Placidia (1), 1926f.; Stein, Bas-Empire, 321 f.; Sirago, Galla Placidia, 288 ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 232 ff.; Storoni Mazzolani, Galla Placidia, 332ff.; Zecchini, Aezio, 159ff. u. Demougeot, Evolution politique, 290f.

5. Aëtius" Aufstieg zum patricius des Westreichs

55

Agierenden, nicht die eines bloßen, der Legitimation halber gebrauchten Spiel­ steins in der Konzeption anderer aus. Zwar brauchte sie einen General, der ihre Interessen verfocht, doch mit Bonifatius verfügte sie über einen Gefolgs­ mann, der seine Loyalität schon in vielen, auch schwierigen Situationen be­ wiesen hatte; der angeschlagene Ruf des zuletzt erfolglosen comes Africae war auch eine Gewähr dafür, daß der neue «starke Mann» nicht zu selbstbewußt gegenüber seiner Gönnerin auftrumpfen konnte. Aëtius wurde also als magister utriusque militiae abgelöst und der heimge­ kehrte Bonifatius an seine Stelle gesetzt.272 Möglicherweise erhielt er zum sel­ ben Zeitpunkt auch den Titel patricius, um von vornherein klar zu machen, daß die Kaiserinmutter ganz auf ihren neuen «Champion» setzte.273 Als näch­ stes mußte Aëtius beseitigt werden. Dieser hatte seine Absetzung zwar nicht verhindern können; er fügte sich aber nicht, ohne sich vorher zur Wehr zu setzen. Bei Rimini kam es noch im W inter 432/33 zwischen den Rivalen zum Gefecht.274 Bonifatius siegte, Aëtius mußte weichen und sich auf seine befestig­ ten G üter zurückziehen.275 U nd dennoch beinhaltete der Tag von Rimini, kaum daß die Umsetzung der machtpolitischen Ziele Galla Placidias in greif­ bare Nähe gerückt war, schon den Keim für ihr Scheitern. Bonifatius hatte nämlich während des Kampfes eine Verwundung erlitten, der er nach kurzer Zeit erlag.276 Damit war die Machtfrage erneut gestellt, doch dachte die M utter Valentinians III. nicht im mindesten daran, den einmal eingeschlagenen Weg nun zu verlassen und Aëtius zurückzuholen. Statt dessen berief sie den Schwie­ gersohn des Bonifatius, Sebastianus, zu dessen Nachfolger im Amt des magi­ ster utriusque militiae.277 Dieser konnte es zwar an militärischem Prestige nicht mit seinen beiden Vorgängern aufnehmen, er verfügte aber nun zumindest über

272 Prosp. chron. 1310 (s. a. 432) u. Hyd. chron. 99 (s. a. 432). 273 Bei Marcell. chron. s. a. 432 u. 435 wird Bonifatius patricius genannt. Dazu Demandt, Magister militum, 656. 274 Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 432: Pugna facta inter Aetium et Bonifatium in V de Arimino. Die chronologische Verortung ergibt sich aus Chron. Gail. 452, 110 (s. a. 432), die von einem besonders harten Winter 432 spricht und der Meldung der zwi­ schen Aëtius und Bonifatius geschlagenen Schlacht unmittelbar vorausgeht; dazu Zecchini, Aezio, 160 mit Anm. 74. 275 Prosp. chron. 1310 (s. a. 432). Schon zwischen seiner Absetzung und der Ent­ scheidungsschlacht bei Rimini hatte er hier Zuflucht gesucht; siehe Chron. Gail. 452, 109 (s. a. 432). 276 Prosp. chron. 1310 (s. a. 432); Chron. Gail. 452, 111 (s. a. 432); Io. Ant. frg. 201, 3 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 29-32); Hyd. chron. 99 (s. a. 432) u. Marcell. chron. s. a. 432. Dazu Zecchini, Aezio, 161 Anm. 77. 277 Hyd. chron. 99 (s. a. 432). Zum Fortgang der Auseinandersetzungen, nun zwi­ schen Aëtius und Sebastianus de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 107ff.; zu Sebastia­ nus allgemein Scharf, Sebastianus.

56

III. Aëtius’politischer Weg

das finanzielle Erbe, die Buccellarier und die übrige Klientel seines Schwieger­ vaters. Sebastianus wußte, daß er - wollte er überhaupt eine Chance zur Be­ hauptung haben - zuerst Aëtius beseitigen mußte. E r wählte dazu den wenig ritterlichen Weg eines Attentats und überfiel den gefährlichen Rivalen auf einem seiner italischen Landgüter, doch gelang Aëtius die Flucht nach Rom. D ort schiffte er sich ein und floh über Dalmatien und Pannonien zu den H u n ­ nen im Gebiet jenseits der Donau.278 N och im selben Jahre 433 kehrte er mit einem hunnischen Hilfsheer wieder nach Italien zurück.279 Es wiederholte sich nun das Szenario von 425 n. Chr., nur daß es keine oströmischen Truppen mehr gab, die Galla Placidia hätten zu Hilfe eilen können. Sebastianus allein aber war zu schwach, um Aëtius und seinen Söldnern entgegentreten zu kön­ nen. Als auch der Hilferuf an die einst der Kaiserinmutter verpflichteten West­ goten nichts fruchtete,280 fügte er sich in sein Schicksal und verließ Ravenna.281 In Konstantinopel fand er vorübergehende Aufnahme.282 Mit dem Wiedereinzug des Aëtius in Ravenna hatte Galla Placidias Versuch, in das weströmische Machtspiel als entscheidender Faktor einzugreifen, nach gut einem Jahr sein Ende gefunden. Das Ergebnis war desaströs in vielerlei Hinsicht. N icht nur, daß durch die Bürgerkriegsauseinandersetzungen einmal mehr wertvolle materielle und militärische Ressourcen des Reiches vergeudet worden waren, die an anderer Stelle dringend gebraucht wurden; durch die Einbeziehung der H unnen und Westgoten in den Konflikt war darüber hinaus die Schwäche und Inhomogenität des ganzen weströmischen Machtgebildes soweit es denn überhaupt noch vorhanden war - allen Beobachtern sichtbar vor Augen geführt worden.283 Schon wenige Jahre später hatte Aëtius diesen Prestigeverlust mit erneuten, endlosen Kämpfen in Gallien zu bezahlen. Im ­ merhin konnte man hoffen, daß nun, nachdem die Machtfrage in Ravenna end­ gültig geklärt war, eine Konsolidierung eintreten werde und alle Beteiligten der kaiserliche Hof, Aëtius und die übrige weströmische Generalität - wieder gemeinsam in eine Richtung marschieren würden.

278 Prosp. chron. 1310 (s. a. 432); Chron. Gail. 452, 112 (s. a. 433) u. Chron. Gail. 511, 587. 279 Prosp. chron. 1310 (s. a. 432); Chron. Gail. 452, 112 (s. a. 433) u. 115 (s. a. 434) sowie Chron. Gail. 511, 588. 280 Chron. Gail. 452, 113 (s. a. 433). 281 Hyd. chron. 99 (s. a. 432). 282 Hyd. chron. 104 (s. a. 434). 283 Siehe in diesem Zusammenhang das Resümee von Seeck, Untergang, Bd. 6, 115: «Daß Placidia voll tiefen Grimmes war und die erste Gelegenheit benutzte, um Aëtius zu beseitigen, war ganz berechtigt, wenn sie nur nicht zu diesem Zwecke Africa ebenso preisgegeben hätte, wie er Pannonien.»

5. Aëtius’ Aufstieg zum patricius des Westreichs

57

D er einzige im Westen operierende General, der sich während der Jahre 432/ 33 im Sinne des Reichsganzen engagierte, war ironischerweise der O ström er Aspar, der zu dieser Zeit immer noch in N ordafrika stationiert war und, wenn er auch nicht sonderlich aktiv gewesen zu sein scheint, doch durch seine bloße Anwesenheit ein weiteres Vordringen der Wandalen verhinderte. Wie er zu dem gleichzeitig entbrennenden Bürgerkrieg gestanden haben mag, läßt sich nicht sagen. Die Abberufung des Bonifatius hat Aspar jedenfalls ohne erkenn­ bare Reaktion hingenommen; immerhin war dadurch ein Ziel erreicht worden, das Konstantinopel nach allen Erfahrungen mit dem comes Africae seit 422 nur recht sein konnte. Was sollte er auch anderes tun, als, solange in Italien die Kämpfe tobten, in N ordafrika die Stellung zu halten? Ein Abzug nach Kon­ stantinopel hätte nur Geiserich genützt, nicht Theodosius II. Zu Jahresbeginn 434 wurde Aspar nun von Kaiser Valentinian III. zum Konsul für den Westen ernannt.284 Diese außergewöhnliche Ehrung mag darauf hindeuten, daß man in Ravenna nach den überstandenen Wirrnissen jetzt den Blick wieder auf den afrikanischen Kriegsschauplatz richtete. Allem Anschein nach wurden die Ver­ handlungen mit Geiserich nun intensiviert. Als Aspar am Ende des Jahres 434 nach Konstantinopel zurückkehrte,285 waren die meisten strittigen Punkte wohl schon geklärt, ein Wiederaufflammen der Auseinandersetzungen nicht mehr zu erwarten. Dennoch wurde der Vertrag zwischen dem kaiserlichen Emissär Trigetius und König Geiserich erst am 11. Februar 435 in H ippo Regius unter­ zeichnet.286 Seine Bestimmungen waren für die Römer verhältnismäßig günstig, denn ihnen zufolge w urden die Wandalen in den landwirtschaftlich weniger attraktiven Gebieten im Inneren Nordafrikas angesiedelt.287 Doch waren dies Kriterien, die jetzt nicht mehr so bedeutungsvoll waren wie noch vor drei Jahren. Felix und Bonifatius waren tot, Sebastianus vertrieben, Galla Placidia und ihr Sohn einstweilen wehrlos: Die Frage einer Friedensregelung für N o rd ­ afrika hatte viel an Sprengkraft eingebüßt. Aëtius saß nun fest im Sattel; er hätte sich in dieser Situation nahezu jeden halbwegs erträglichen Frieden leisten können. Ü ber die Tätigkeit des wieder in seine Ämter eingesetzten magister utrimque militiae zwischen 433 und 436 erfahren wir seltsam wenig. Von der geradezu hastigen Aktivität der vorausgehenden Jahre ist nichts zu spüren. Wir erfahren, 284 Zu den Quellen PLRE II Aspar u. Bagnall, Consuls, 402 f. 285 Prok. Kais. hist. 3,3,36 u. Euagrios 2,1. 286 Prosp. chron. 1321 (s. a. 435). 287 Zum Frieden mit Geiserich von 435 siehe die kritische Position von Stein, BasEmpire, 322, während Diesner, Untergang, 49 betont, daß das Abkommen «auch als Resultat gewisser Rückschläge der vandalischen Invasion angesehen werden» muß. Aus­ führlich Courtois, Vandales, 169 ff. u. Clover, Geiseric the statesman, 53 ff. - Die Vor­ läufigkeit des Friedens von 435 betont Schulz, Völkerrecht, 93 f.

58

III. Aëtius’politischer Weg

daß er Pelagia, die Witwe des Bonifatius, heiratete und sich damit dessen Ver­ mögen und Klientel aneignete. Verbrämt w urde die rein machtpolitische Verbin­ dung dadurch, daß man sie auf den letzten Willen des sterbenden Rivalen zu­ rückführte.288 Sebastianus, der etwas dagegen hätte haben können, w ar längst außer Landes getrieben. Spätestens mit der Aneignung der Machtmittel des Boni­ fatius aber hatte Aëtius keine ihm gewachsene K onkurrenz mehr zu fürchten. Am 5. September 435 erfolgte der letzte, nur noch formelle Schritt der end­ gültigen Machtübernahme: An diesem Tag ließ sich Aëtius von Kaiser Valentinian III. den Titel patricius verleihen.289 E r stand damit auf einer Stufe mit Constantius vor seiner Kaisererhebung 421. Warum Aëtius nach 433 so lange gewartet hat, sich diese ultimative Ehrung zu verschaffen, ist nicht bekannt. Vielleicht wollte er den Frieden mit den Wandalen in N ordafrika abwarten, um gleich Constantius einen Anlaß für die Verleihung des Titels zu haben,290 doch hätte er dies - angesichts seiner Dominanz - nicht nötig gehabt. Von nun an lautete sein voller Titel vir inlustris comes et magister utriusque militiae et patricius:291 Aëtius hatte den formellen H öhepunkt seiner Macht erreicht.

6. Die M acht des p a tr ic iu s Aëtius 435 bis 454 n. Chr. N ach dem Bürgerkrieg von 432/33 war und blieb Aëtius’ Machtstellung im Weströmischen Reich unangefochten bis zu seiner Erm ordung im Jahre 454 n. Chr.292 Von irgendwelchen Versuchen, offen gegen ihn vorzugehen, ist in den verbliebenen Quellen jedenfalls nichts zu erkennen. Dies gilt für den kai­ serlichen Hof, wo Galla Placidia sich mit den Jahren zunehmend frommen Werken widmete,293 ebenso wie für politische Kräfte außerhalb Ravennas, in 288 Marcell. chron. s. a. 432 u. Io. Ant. frg. 201,3 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 2932). Dazu de Lepper, De rebus gestis Bonifatii, 113ff. 289 Fast. Merseb. s. a. 435: His consulibus Aetius magister militum patricius factus est non. Sept. Ravennae. 290 Constantius hatte den Titel patricius nicht zuletzt im Kontext seiner erfolgreichen Westgotenpolitik erhalten; dazu Enßlin, Heermeisteramt, 472 ff. 291 Novell. Valent. 17 (08.07.445): Aetio viro inl(ustri) com(iti) et mag(istro) utriusque militiae et patricio. 292 Sirago, Galla Placidia, 339 ff., wo er Aëtius’ Stellung als «unico padrone del governo di Ravenna» (ebd., 339) nach dem Bürgerkrieg von 432/33 schildert. Vgl. auch Oost, Galla Placidia Augusta, 234ff., der allerdings betont, Aëtius sei selbst nach seinem Sieg über Galla Placidia nicht «all-powerful» (ebd., 234) gewesen. 293 Das diesbezüglich zusammengestellte Material bei Schild, Galla Placidia, 60 ff.; Nagl, Galla Placidia, 46ff.; Enßlin, Placidia (1), 1927ff.; Sirago, Galla Placidia, 259ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 264 ff.; Storoni Mazzolani, Galla Placidia, 373 ff. u. Demougeot, Evolution politique, 294 ff. Siehe auch unten S. 69 Anm. 361.

6. Die Macht des patricius Aëtius

59

den verschiedenen regionalen und überregionalen Aristokratien und Militär­ strukturen. N icht, daß sich die Rahmenbedingungen der Machtausübung seit­ dem für Aëtius zum Positiven verändert hätten. Gerade in den Jahren seiner Dominanz in Ravenna sah sich der patridus vielfachen äußeren Bedrohungen ausgesetzt, so etwa durch die Westgoten 436/39, die Wandalen 439/42 und die H unnen 451/52, um nur die wichtigsten zu nennen. Auch an den inneren Schwierigkeiten des Westreichs änderte sich in dieser Zeit nichts; der schlei­ chende, bisweilen beschleunigte Korrosionsprozeß setzte sich trotz mancher, doch stets nur punktuell wirksamer Maßnahmen, fort.294 Um so interessanter ist es, nach den Gründen zu fragen, die es Aëtius gerade in dieser Zeit erlaubten, seine Macht über nahezu zwanzig Jahre hinweg unge­ schmälert zu bewahren. Wir haben in den vorigen Kapiteln den Einfluß Kon­ stantinopels immer wieder im Westen am Werk gesehen; auch Aëtius hat nach seinem Eintritt in die große Reichspolitik 430 die materielle und militärische Dominanz seiner östlichen Partner akzeptiert und für seine Zwecke einzu­ setzen versucht, wie sein Umgang mit Aspar zeigt. Es wird deshalb zuerst zu fragen sein, wie sich nach 435 unter dem neuen patridus das Verhältnis Raven­ nas zu Konstantinopel weiterentwickelt hat. Sodann gilt es den Blick nach in­ nen zu richten, auf die institutioneilen und informellen Grundlagen von Aëtius’ «Hausmeiertum».295 Der Charakter seines Patriziats steht hier im Vordergrund, denn die Pflege von Kontakten zu Senat, Kirche und Föderaten, die ebenfalls in diesen Bereich gehören, werden in anderem Zusammenhang behandelt.296 Kern aber einer Betrachtung und Einschätzung von Aëtius’ politischem Spiel­ raum muß der kaiserliche H of Valentinians III. sein; an ihm ist der scheinbar allmächtige Heermeister 454 denn auch gescheitert. Der zuletzt genannte Ge­ sichtspunkt ist allerdings der schwierigste, denn die Quellen lassen uns hier nahezu völlig im Stich; eine Beurteilung persönlicher Beziehungen im Umfeld von Kaiser und Kaiserinmutter ist auf ihrer Grundlage kaum möglich. Unsere Darstellung des bisherigen politischen Weges des Aëtius läßt er­ warten, daß der nunmehr alleinige Militärherrscher im Westreich nach 433 die Beziehungen zu Konstantinopel keineswegs abreißen ließ, sie vielmehr zur A b­ sicherung und Pflege seiner Machtposition nutzte; auch von seiten des O st­ reiches ist eine grundsätzlich feindliche Position gegenüber dem neuen «starken Mann» nicht ohne weiteres zu erwarten. Dem stehen die Zeugnisse aus den Jahren 430/32 entgegen, insbesondere die Hilfsexpedition in N ordafrika seit 431.

294 Siehe hierzu die zusammenfassenden Einschätzungen im Kapitel über die Italien­ politik des Aëtius, S. 300 ff. 295 Seeck, Untergang, Bd. 6, 97. 296 Nämlich in den Kapiteln zur Reichs- und Italienpolitik des Aëtius auf S. 168 ff. bzw. 255 ff. sowie in Appendix I auf S. 324 ff.

60

III. Aetius' politischer Weg

In der Tat weisen schon das in Karthago angetretene Konsulat Aspars und die problemlose Abwicklung des oströmischen Engagements im Westen bis 434 auf eine koordinierte, auf gegenseitiger Abstimmung basierende Vorgehensweise hin.297 Für die folgenden Jahre läßt sich der gewonnene Eindruck einer von Entspannung geprägten Atmosphäre zwischen O st und West erhärten. Am 29. O ktober 437 fand die dreizehn Jahre zuvor vereinbarte H ochzeit zwischen Valentinian III. und Eudoxia, der Tochter des östlichen Kaiserpaares, statt.298 D er Sohn der Galla Placidia war zu diesem Ereignis eigens nach K onstantino­ pel gereist und hatte auf diese Weise nochmals hinlänglich deutlich gemacht, wer im Imperium Romanum der senior Augustus war und wem er die H err­ schaft in seinem Reichsteil verdankte. Das frisch vermählte Paar verbrachte den W inter in Thessaloniki299 und kehrte im März 438, bei Beginn der guten Jah­ reszeit, nach Ravenna zurück.300 Steuernachlässe301 und dem festlichen Anlaß entsprechende Münzemissionen302 feierten das Ereignis, das so der Ö ffent­ lichkeit als Resultat des einträchtigen Verhältnisses zwischen den beiden Zwei­ gen des theodosianischen Hauses präsentiert werden konnte. Schon bald stellte sich der erhoffte Nachwuchs in der kaiserlichen Familie ein, wie die Erhebung der Eudoxia zur Augusta am 6. August des Jahres 438 oder 439 bezeugt;303 der G eburt der Prinzessin Eudocia folgte wenige Jahre später die einer Schwester namens Placidia, so daß alles darauf hindeutete, daß man sich um die Zukunft des Kaiserhauses keine allzu großen Sorgen machen mußte.304 Bedenkt man,

297 Scharf, Sebastianus, 148 hingegen glaubt, daß der Verhandlungsfrieden mit Geiserich 435 der Entfernung oströmischer Truppen aus Nordafrika und somit der Macht­ stabilisierung des Aëtius - ohne eine etwaige Bedrohung durch Kräfte Konstantinopels - diente. 298 Euagrios 1,20,2; Prosp. chron. 1328 (s. a. 437); Chron. Gail. 511, 593; Cassiod. chron. 1229 (s. a. 437); Merob. carm. 1,10; Gest, in sen. 2; Io. Mal. chron. 356 (Dindorf) = 276 (Thurn); Chron. Pasch, s. a. 437 (Dindorf); Sokr. 7,44 u. Marcell. chron. s. a. 437. Dazu Sirago, Galla Placidia, 313f.; Oost, Galla Placidia Augusta, 242 ff.; Clover, Flavius Merobaudes, 21 f. mit Anm. 56; Lippold, Theodosius (11), 987f. u. Zecchini, Aezio, 172. 299 Marcell. chron. s. a. 437. 300 Marcell. chron. s. a. 438. 301 Novell. Valent. 1,1 (08.07.438). 302 Dazu Enßlin, Valentinianus (4), 2236; Clover, Flavius Merobaudes, 22; Holum, Theodosian Empresses, 209 u. Kent, Roman Imperial Coinage, Bd. 10, 79. 303 Das Jahr ist aufgrund der Überlieferungslage unklar; siehe Agnell. lib. pontif. 31; Chron. Gail. 511, 599 u. Pol. Silv. 1,83. Dazu Clover, Flavius Merobaudes, 23. Späte­ stens zur selben Zeit wie Eudoxia dürfte auch die Schwester Valentinians III., Honoria, den A ugusta-Titel erhalten haben; dazu Scharf, Apfel-Affäre, 438ff. 304 Daß der ersehnte Thronerbe nicht mehr folgen würde, war ja keineswegs abzu­ sehen. Zu den Töchtern Valentinians III. siehe die Quellen bei PLRE II Eudocia (1) u. Placidia (1). Placidia wurde zwischen 439 u. 443 geboren; siehe Merob. carm. 1,19-23 mit dem Kommentar von Clover, Flavius Merobaudes, 24 ff.

6. Die Macht des patricius Aëtius

61

unter welch schwierigen innerdynastischen Bedingungen Valentinian III. 424/ 25 seine Herrschaft begonnen hatte, so war die Hochzeit mit Eudoxia auch in dieser Hinsicht Zeichen für einen erfolgreichen Ausgleich zwischen den einsti­ gen Kontrahenten in O st und West. N och ein weiteres wichtiges Ereignis war mit der Reise des westlichen Augustus nach Konstantinopel verbunden: Bei seiner Rückkehr führte Valentinian III. ein Exemplar des Codex Theodosianus mit sich, der im Februar 438 nach lang­ jährigen Vorarbeiten von seinem östlichen Kollegen publiziert worden war.305 Das Gesetzeswerk wurde am 1. Januar 439 nun auch für den Westen in Kraft gesetzt und bekräftigte damit die Einheitlichkeit des gesamten Imperium Ro­ manum als Rechtsraum.306 Auch für die Wahrung dieser Rechtseinheit wurde Sorge getragen, indem künftige Novellen nur dann Gültigkeit erhielten, wenn sie im jeweils anderen Reichsteil ebenfalls publiziert wurden.307 Ganz gleich, wie die Praxis dieser auf das Gesamtimperium bezogenen Rechtspolitik später funktionierte, der Wille zu einheitlichem Vorgehen ist zumindest in der Situa­ tion Ende der 430er Jahre deutlich erkennbar.308 H ätten Theodosius II. und seine Berater derartige Projekte ins Werk gesetzt, wenn Aëtius, der gerade zu dieser Zeit sein zweites Konsulat erhielt, ein Stein des Anstoßes für Konstanti­ nopel gewesen wäre?309 Viel schlüssiger ist doch die Vermutung, daß die neue politische Stabilität im Westen, die innere Vereinheitlichung durch eine gemein­ same Rechtspolitik und der Abschluß der innerdynastischen Versöhnung Zei­ chen des Willens zu einer umfassenden Konsolidierung darstellen, die gegen das Jahr 440 so weit gediehen war wie schon lange nicht mehr.310 305 Novell. Theod. 1 (15.02.438). 306 Gest, in sen. 2f. u. 7; dazu Sirago, Galla Placidia, 315 ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 245f.; Lippold, Theodosius (11), 988f.; J. F. Matthews, in: Harries/Wood, Theodosian Code, 19-44 u. Harries, Law and Empire, 65ff. - Lippold, Theodosius (11), 101 Iff., warnt allerdings davor, trotz der angeführten Gemeinsamkeiten die Tendenz zum Ausein­ anderdriften der beiden partes imperii Romani im Verlaufe des 5. Jhs. zu unterschätzen. 307 Novell. Theod. 1 (15.02.438), 5f. Dazu Harries, Law and Empire, 61. 308 Durch Novell. Theod. 2 (01.10.447) u. Novell. Valent. 26 (03.06.448) ist bezeugt, daß 447/48 nochmals Novellen Theodosius’ II. nach Westen geschickt und dort publi­ ziert worden sind; einen umgekehrten Vorgang kennen wir nicht. Zur schwierigen Beur­ teilung dieses Faktums Enßlin, Valentinianus (4), 2236. 309 Im Jahre 437 entstammten mit Aëtius und Sigisvult sogar beide Konsuln dem Westreich, ein weiterer Beleg für das damalige gute Einvernehmen zwischen Ravenna und Konstantinopel; zu den Quellen PLRE II Aetius (7) u. Sigisvultus sowie Bagnall, Consuls, 408 f. 310 Auch Demougeot, Evolution politique, 291 weist Aëtius für diese Jahre einen Höhepunkt von dessen Akzeptanz zu. Siehe auch Oost, Galla Placidia Augusta, 279 mit Anm. 103, der für die 440er Jahre eine Billigung von Aëtius’ Position durch Theodosius II. annimmt. Die Zustimmung zu Aëtius’ Machtstellung zur Jahreswende 438/39 be­ zeugen auch die durch die Gest, in sen. 5 bezeugten Akklamationen für den patricius.

62

III. Aëtius’ politischer Weg

Unbedingte Voraussetzung dafür war die Klärung der Machtfrage im Westen gewesen. Sie eröffnete nach den Krisen der vergangenen Jahrzehnte vielleicht die letzte Chance für eine militärische Erholung der pars Occidentis. D er einzige jedoch, der diese nach 435 noch zu leisten vermochte, war - realistisch betrach­ tet - Aëtius; dies dürfte auch am Hofe Theodosius’ II. verstanden worden sein. Die Grundlage, von der aus Aëtius operieren und seine dominierende Posi­ tion immer weiter festigen konnte, war formal nicht geregelt. Es gab nicht das Amt eines «Hausmeiers» oder eines «Generalissimus» im Weströmischen Reich.311 Die institutioneile Grundlage von Aëtius’ Macht war das magistenum peditum praesentalis, das militärische Kommando über die Fußtruppen bei Hofe, ein Amt, das schon Stilicho als Basis seiner Macht gedient und dessen Spiel­ raum er durch die nach ihm benannte Kanzleireform systematisch erweitert hatte. Die Einzelheiten der Maßnahmen Stilichos bleiben aufgrund der schwie­ rigen Quellenlage im dunkeln.312 Sicher ist, daß es sich nicht um eine N eu­ regelung aus einem Guß, sondern um mehrere kleine Reformschritte handelte, an deren Ende gleichwohl die Herausbildung einer «hegemonialen () A m tsstruktur»313 im militärischen Bereich stehen mochte. Sicher ist auch, daß die von Stilicho in Gang gesetzte Kompetenzumverteilung zugunsten des magister peditum praesentalis auch nach seinem Tode weiterging, so daß diesem schließlich nicht nur die Fußtruppen des höfischen Bewegungsheeres unterstanden, sondern auch der magister equitum per Gallias und nahezu die gesamte provinziale Militärorganisation der comites und duces einschließlich der Grenzarmee, der Flotten sowie der laeti und gentiles. Auch ohne daß wir den speziellen Anteil des Aëtius an diesem Prozeß bestimmen könnten, nahm die Tendenz zur Zentralisierung der militärischen Kommandostrukturen im fünften Jahrhundert doch immer weiter zu,314 mit dem schließlichen Ergebnis, 311 O ’Flynn, Generalissimos, 83: «[...] the function that, for convenience, is termed had not been formalized and was quite devoid of any legal or constitu­ tional status.» 312 Hierzu Demandt, Magister militum, 613 ff. u. Scharf, Kanzleireform. Beide argu­ mentieren auf der Grundlage von Cod. Theod. 1,7,3 (13.09.398) und den Bestimmungen der «Notitia dignitatum». Grundlegendes zur obersten Befehlsstruktur im spätrömi­ schen Reich bei Grosse, Röm. Militärgeschichte, 180 ff.; D. Hoffmann, in: D.M. Pippidi (Hrsg.), Actes du IXe congrès international d’études sur les frontières romaines, 1974, 381-397, u. Southern/Dixon, Late Roman Army, 57ff. 313 Demandt, Magister militum, 613. 314 Änderungen in der Befehls- und Verwaltungsstruktur wurden oft vorgenommen, wenn die Zentrale aus aktuellem Anlaß Zugriff auf einen bestimmten Kommandobe­ reich ausübte, so etwa in Nordafrika nach der Niederschlagung des Gildonischen Auf­ standes 398; siehe Cod. Theod. 1,7,3 (13.09.398). Hierzu Scharf, Kanzleireform, 461 u. 470f. - Für das 5. Jh. kennen wir für diese Art der Vorgehensweise leider kein hinrei­ chend gesichertes Beispiel.

6. Die Macht des patricius Aëtius

63

daß der magister utnusque militiae, wie er nun zumeist genannt wurde, zu einer, wenn nicht der zentralen Figur bei Hofe werden mußte.315 Zwar führte sein alter Kollege, der magister equitum praesentalis inzwischen denselben klangvollen Titel,316 war also nominell und vom Rang her in keiner Weise zu­ rückgestellt, aber in seinen Kompetenzen wurde er immer mehr beschnitten. Es ist sicherlich kein Zufall, daß wir aus der ganzen Regierungszeit Valentinians III. nur eine einzige Person kennen, die die zweite Heermeisterstelle bei Hofe ausübte. Es handelt sich dabei um Fl. Sigisvultus, der im Wandalen­ krieg von 439/42 bei der Verteidigung Italiens offensichtlich eine wichtige Rolle spielte; bezeichnenderweise war ihm solches jedoch möglich, weil sich Aëtius zu dieser Zeit nicht im Lande aufhielt.317 Dies war allerdings in den 440er Jahren nicht mehr so häufig der Fall wie noch im vorausgegangenen Jahrzehnt. Im Gegensatz zum magisterium utriusque militiae war der Patriziat, mit dem sich Aëtius seit 435 schmücken konnte, kein reguläres Amt, sondern ein bloßer Titel.318 Die Stellung des patridus war gerade dadurch gekennzeichnet, daß der politische Einfluß, über den er verfügte, nicht auf einer öffentlichen Funktion beruhte, sondern auf seiner persönlichen Beziehung zum Kaiser.319 Im vierten Jahrhundert waren nur sehr wenige Persönlichkeiten und diese lediglich ad personam mit dem Titel bedacht worden.320 Allerdings bildete sich seit H ono-

315 Mommsen, Aetius, 554 spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung eines «Reichsgeneralissimat(s)», Heil, Patriziat, 37 von der «Herrschaft des zweiten Mannes im Staate.» - Der Prozeß der Zentralisierung ging auch nach Aëtius’ Tod wei­ ter; dazu Henning, Periclitans res publica, 245 ff. Eine praerogativa partis armatae hat es allerdings auch unter Rikimer nicht gegeben; siehe ebd., 252 ff. 316 Der Titel magister utriusque militiae kommt Ende des 4.Jhs. in Konstantinopel auf und ersetzt dort die alten Bezeichnungen magister peditum bzw. equitum praesenta­ lis. Dieser Vorgang findet seit Stilicho auch im Westen statt, hat aber keine Bedeutung für die Kompetenzen der Amtsträger; hierzu Demandt, Magister militum, 614f. Überhaupt wird die Terminologie der militärischen Dienstbezeichnungen in spätrömi­ scher Zeit nicht stringent gehandhabt. 317 Die wesentlichen Quellen zu Sigisvult in der PLRE II Sigisvultus. Zum magisteri­ um equitum praesentalis in der Zeit Valentinians III. siehe Demandt, Magister militum, 661 f. 318 Zum Patriziat siehe generell immer noch die materialreiche Studie von G.B.Picotti, ASI, ser. 7, 9, 1928, 3-80 sowie - aus jüngerer Zeit - Heil, Patriziat; R. W. Mathisen, ByzZ 79, 1986, 35-49; Barnwell, Emperor, Prefects & Kings, 44ff. u. Lütkenhaus, Constantius III., 143 ff. 319 Dazu Heil, Patriziat, 21 ff. Er definiert den konstantinischen Patriziat als «recht­ liche Konkretisierung und Fixierung» (ebd., 25) der besonderen Stellung einer Person um den Kaiser. Es habe sich ursprünglich um eine singuläre Ehrung gehandelt, «deren Wiederholung sie dann erst einem Titel annäherte» (ebd., 19). 320 Ebd., 15 ff.

64

III. Aëtius’ politischer Weg

rius ein - wie es W. Heil ausgedrückt hat - «konstantinische(r) Patriziat west­ licher Prägung»321 heraus. Ausschlaggebend für diese originäre Entwicklung, die im Ostreich keine Parallele hat, war die im vorigen Absatz geschilderte zunehmende Konzentration von Machtbefugnissen beim magister peditum praesentalis seit Stilicho.322 Es war der Heermeister Constantius, der durch den Titel patricius seine seit 411 schrittweise aufgebaute Position als «starker Mann» nach dem Kaiser krönte und so ein exemplum schuf für etwaige N ach­ ahmer.323 Allerdings ist es nicht allen seitherigen magistri utriusque militiae des Westens gelungen, dieses Ziel zu erreichen.324 Erst seit 435 war der Patriziat dauerhaft mit diesem wichtigsten militärischen H ofam t verbunden und blieb es bis zum Ende des westlichen Kaisertums im Jahre 476. Es war dies das aus­ schlaggebende Element, w odurch Aëtius vor seinen formal gleichberechtigten Heermeisterkollegen ausgezeichnet war.325 N u r amtierende Konsuln übertrafen noch seine dignitas, doch auch in diesem Bereich war er bald durch ein zweites (437) und sogar drittes Konsulat (446) in exzeptioneller Weise ausgezeichnet.326 Die rangmäßige Spitzenstellung, die Aëtius seit 435 einnahm, bewirkte, daß er zunehmend auf Sachgebiete Einfluß zu nehmen vermochte, die mit seinem Amt als Hofgeneral nichts oder nur bedingt etwas zu tun hatten. Auch diese Entwicklung ist durch Stilicho und Constantius vorbereitet und durch die lan­ ge, unangefochtene Wirkungszeit des Aëtius zusätzlich beschleunigt worden. Da die Rolle unseres patricius in Fragen des Kirchenwesens, der Wirtschafts­ und der Finanzpolitik sowie sein Verhältnis zu Senatoren und Föderaten schon 321 Ebd., 27. 322 Heil, Patriziat, 36f. betont, der westliche Patriziat des 5. Jhs. stelle gegenüber sei­ nem Vorläufer aus konstantinischer Zeit keine Entartung dar, denn auch bei ihm seien die entscheidenden Kennzeichen eine große Machtfülle des Titelträgers ohne klare recht­ liche Fixierung und eine starke Bezogenheit auf den Kaiser. Anders noch Mommsen, Aetius, 537 Anm. 6 u. 547, der von einem «abusiven» Gebrauch des Titels patricius im Weströmischen Reich gesprochen hatte. 323 Zum Patriziat des Constantius ausführlich Lütkenhaus, Constantius III., 143 ff. Demandt, Magister militum, 630 f. datiert die Verleihung des patricius-Titels an ihn auf den Winter 414/15. 324 So waren z. B. Castinus und Sebastianus nicht patricii; siehe Demandt, Magister militum, 636 u. 657. Auch bei Bonifatius bleibt gegen dens., a. a. O., 656 eine gewisse Unsicherheit. 325 Enßlin, Heermeisteramt, 480f. u. 497f.: «Dieser patricius ist der nächste am Thron und zwar als der Mann, der die oberste militärische Kommandogewalt übte.» Ebenso Demandt, Magister militum, 632. 326 Zu den Quellen von Aëtius’ zweitem und drittem Konsulat PLRE II Aetius (7) sowie Bagnall, Consuls, 408 f. u. 426 f. Das früher angenommene vierte Konsulat des Aëtius im Jahre 454 wird heute überwiegend einem gleichnamigen oströmischen Kolle­ gen zugewiesen; siehe Demandt, Magister militum, 658 u. Bagnall, Consuls, 442f. Dies­ bezüglich skeptisch immer noch Zecchini, Attila in Italia, 105 Anm. 45.

6. Die Macht des patricius Aëtius

65

anderweitig behandelt wird, erübrigt sich eine ausführliche Erörterung an die­ ser Stelle.327 Generell sei allerdings folgender übergreifender Aspekt hervorge­ hoben: Die faktische Machtposition, die Aëtius innehatte, war, wie gesagt, ge­ kennzeichnet durch seine Kontrolle des für das Reich lebensnotwendigen militärischen Sektors und durch seine Ausnahmestellung innerhalb der Rang­ hierarchie bei H ofe.328 Allein dies bewirkte, daß er für alle G ruppen und Ein­ zelpersonen, die politische Interessen verfochten und ihre Durchsetzung wünschten, zu einem unumgänglichen Ansprechpartner werden mußte, denn die Lösung von Sachfragen basierte allzuoft weniger auf der Einhaltung des Dienstweges, als vielmehr auf der Aktivierung realen politischen Einflusses von mächtigen Männern und Frauen bei Hofe.329 Jedes gelungene Eingreifen in Einzelfragen durch Aëtius bewirkte aber eine Multiplizierung derartiger Ge­ legenheiten und somit ein ständiges Anwachsen seiner informellen Macht und seiner faktischen Kompetenzen.330 Das soeben Ausgeführte zeigt auch, warum eine Institutionalisierung der Stellung des patricius nach 435 weder durchgeführt wurde noch überhaupt be­ absichtigt sein konnte: Sie hätte ja unweigerlich eine Begrenzung der potentiel­ len Eingriffsmöglichkeiten des Aëtius bedeutet. N u r wenn dessen Machtstel­ lung eine informelle blieb, war gewährleistet, daß sie im Bedarfsfälle - ob es sich nun um die Lebensmittelversorgung der Stadt Rom handelte331 oder um die Absetzung eines Bischofs332 - nach allen Richtungen weiter ausgedehnt werden konnte. Es liegt vollkommen in der Logik dieser Feststellung, daß wir

327 Siehe hierzu die einschlägigen Kapitel auf S. 168ff., 21 Iff. u. 255ff. 328 Zum Funktionieren des spätantiken Kaiserhofes von Ravenna siehe das zusam­ mengestellte Material bei Deichmann, Ravenna, 108 ff. u. Barnwell, Emperor, Prefects & Kings, 20 ff. 329 Sehr erhellend für diese Zusammenhänge ist die Bestechungskampagne des Patri­ archen Kyrill von Alexandrien anläßlich des Dritten Ökumenischen Konzils von Ephe­ sos 431 n. Chr.; die Zusammenhänge bei P. Brown, Macht und Rhetorik in der Spät­ antike, 1995, 25 ff. - Auch Constantius’ Einwirken auf den Fortgang der Ereignisse während des Eulalianischen Schismas von 418/19 läßt sich besser aufgrund von dessen informeller Macht bei Hofe erklären als mit speziellen, auf seinem Patriziat beruhenden «Funktionen», die er damals ausgeübt habe; so allerdings Lütkenhaus, Constantius III., 146 ff. 330 Zur Rolle informeller Machtstrukturen am spätantiken Kaiserhof siehe die ver­ schiedenen Beiträge in dem Sammelband von Winterling, Comitatus sowie Gizewski, Informelle Gruppenbildungen. Letzterer betont die Rolle von Parteibildungen «um eine zentrale politische Figur im Umkreis des Kaisers» (ebd., 132) und hebt ausdrücklich die Möglichkeit, den Kaiser im eigenen Interesse zu aktivieren, als entscheidendes Moment politischen Einflusses hervor (ebd., 115f.). 331 Novell. Valent. 36 (29.06.452). 332 Novell. Valent. 17 (08.07.445).

66

III. Aëtius' politischer Weg

über einen etwaigen bürokratischen Apparat des patridus Aëtius nahezu nichts wissen. Die inschriftliche Bezeugung einer patricia sedes333 ist jedenfalls kein ausreichender Beleg für eine Institutionalisierung und Bürokratisierung von dessen faktisch ausgeübter Macht. D er besondere politische Spielraum des Aëtius nach 435 beruhte nicht zu­ letzt darauf, daß er spätestens seit diesem Zeitpunkt alle M itkonkurrenten um Macht und Einfluß durch seinen Reichtum und die G röße seiner Klientel bei weitem übertraf. Innerhalb des weströmischen «Militäradels»334 hatte er nach der Ausschaltung seiner Hauptgegner Felix, Bonifatius und Sebastianus die alleinige Spitze erklommen. D urch die H eirat mit Bonifatius’ Witwe Pelagia erwarb er sich auch das materielle und personelle Potential, das hinter diesem gestanden hatte; es ist ganz kennzeichnend, daß Sebastianus, immerhin der Schwiegersohn des 432 verstorbenen Bonifatius, nach seiner Entfernung aus Ravenna nirgends mehr Fuß fassen konnte.335 Aus Konstantinopel, w ohin er anfangs geflüchtet war, wurde er bald vertrieben - ein Störenfried angesichts der sich zum Jahre 437 anbahnenden Eintrachtsbekundungen zwischen O st und West.336 Nach einem ruhelosen Leben als Pirat und Condottiere337 ging er schließlich vor Karthago an Land, wo er von Geiserich, der einen Friedens­ schluß mit Ravenna nicht gefährden wollte, alsbald ermordet wurde.338 Dies war die Perspektive eines Heermeisters, der von seiner materiellen, personellen und machtpolitischen Basis abgeschnitten worden war. Aëtius hingegen konnte nach dem überstandenen Bürgerkrieg aus dem vol­ len schöpfen. Sein Reichtum, sein Ansehen und sein politischer Einfluß ermög­ lichten es ihm, informelle Strukturen um sich herum aufzubauen, die teilweise seinen Tod überdauerten. An wichtigen Positionen wurden seine Freunde und Gefolgsleute installiert;339 viele uns bekannte Persönlichkeiten aus dem Offi-

333 CIL VI 8406. Dazu Enßlin, Heermeisteramt, 499f. 334 Der Begriff stammt von Demandt, Spätröm. Militäradel. Die ebd., 628ff. aufge­ führten Kriterien zur Bestimmung des spätrömischen Militäradels sind sämtlich von großer Wichtigkeit für eine Beurteilung der Machtstellung des Aëtius, wie sie - unab­ hängig davon - auch aus unserem Text hervorgeht: gegenseitige Begünstigung im Offi­ zierskorps, Beziehung zum Kaiser, eine Art dynastische Legitimation auf der Ebene der Offiziersfamilien, Reichtum, Patronatswesen und Buccellariertum. 335 Zu Sebastianus’ weiterem Lebensweg nach 433 ausführlich Scharf, Sebastianus, 147ff. sowie F.M. Clover, AJAH 4, 1979, 65-76. 336 Hyd. chron. 129 (s. a. 444) u. Marcell. chron. s. a. 435. 337 Hyd. chron. 129 (s. a. 444) u. 132 (s. a. 445) sowie Suda Θ 145. 338 Marcell. chron. s. a. 435; Prosp. chron. 1342 (s. a. 440); Vict. Vit. 1,19-21; Hyd. chron. 132 (s. a. 445) u. 144 (s. a. 450). 339 So etwa Marcellinus als comes Dalmatiae; siehe Prok. Kais. hist. 3,6,7 (= Priskos frg. 53,3 [Blockley], 19-23).

6. Die Macht des patricius Aëtius

67

zierskorps der 450er Jahre haben schon unter Aëtius gedient oder waren dome­ stic aus seinem persönlichen Stab,340 so zum Beispiel Majorian,341 Rikimer342 und Aegidius.343 Generell verdankten viele W ürdenträger im zivilen wie militä­ rischen Bereich den Fortgang ihrer Karriere dem übermächtigen patricius der 430er bis 450er Jahre. O b sie dies gerne oder unter Zähneknirschen taten, kann niemand sagen; ebensowenig ist es möglich, aus dem Verhalten einzelner nach 454 zu rekonstruieren, wie sie vor diesem Datum zu Aëtius gestanden ha­ ben.344 Die Frage nach einer «Opposition» zu Aëtius ist nicht beantwortbar.345 Zwar mag es so manchem vornehmen Senator im Einzelfalle möglich gewesen sein, dem Reichtum des patncius346 oder der Zahl seiner Ehrungen347 Paroli bieten zu können, doch dem umfassenden, sich auf den militärischen wie den zivilen Sektor erstreckenden N etz von Beziehungen und Loyalitäten hatten auch ein Petronius Maximus oder ein Albinus nichts entgegenzusetzen.348 Beim 340 Zu den domestici und - eng damit verbunden - buccellarii zuletzt unter Anfüh­ rung reicher Literatur Schmitt, Buccellarii, der allerdings davor warnt, derartige Institu­ tionen in ihrer Bedeutung zu überschätzen; siehe etwa in bezug auf Aëtius ebd., 160 Anm. 115. 341 Sidon, carm. 5,198-200 u. 206-227. Dazu Oost, Aëtius and Majorian. u. Max, Majorian, 43ff. Schon Majorians Vater hatte Aëtius - vielleicht als numerarius - ge­ dient; siehe Sidon, carm. 5,116-125. Dazu Max, Majorian, 24ff. u. PLRE II Anonymus (114). Zur möglichen Identität von Majorians Vater mit dem ägyptischen Kaufmann Domninus Henning, Periclitans res publica, 20 mit Anm. 19 u. 36 mit Anm. 49. 342 Sidon, carm. 5,266-268. Dazu G. Lacam, Ricimer, 1986, 91 ff. 343 Priskos frg. 39,1 (Blockley), 4-7. 344 Vor allem für die Person des Petronius Maximus ist dies immer wieder versucht worden; siehe Wes, Ende des Kaisertums, 127ff. u. Zecchini, Gesta, 70ff. 345 Insofern sind die wiederholten Versuche bei Zecchini, Gesta; dems., Anicii, 125 ff. u. dems., Aezio, die bedeutenden Adelsgeschlechter der Decier und Anicier sowie Ein­ zelpersonen wie Sigisvult als Unterstützer oder Opponenten des Aëtius zu kategorisie­ ren, zum Scheitern verurteilt. 346 Siehe die bei Olymp, frg. 41,2 (Blockley) angeführten Beispiele für senatorischen Reichtum. 347 Petronius Maximus etwa war zweimal Konsul, zweimal Prätorianerpräfekt, zwei­ mal Stadtpräfekt von Rom und sogar patridus. Auch er verfügte durch seine Tätigkeit als praeceptor Valentinians III. über ein besonderes Nahverhältnis zum Kaiser; zu seiner außergewöhnlichen Karriere Weber, Albinus, 480f.; Panciera, Precettore u. Henning, Periclitans res publica, 2 8 ff. 348 Dies zeigt sich gerade an Petronius Maximus, der nach seiner Machtergreifung 455 kläglich scheiterte. Zu Albinus ausführlich Weber, Albinus. - Die von Sirago, Galla Placidia, 349 Anm. 2 ins Spiel gebrachte Theorie einer Heermeisterreform Valentinians III., wonach durch eine Vermehrung von patridi und magistn utriusque militiae der über­ mächtige Status des Aëtius hätte aufgehoben werden sollen, hat keine Zustimmung gefun­ den (s. Demandt, Magister militum, 661) und ist angesichts des Gesagten auch nicht wahr­ scheinlich. Die exzeptionelle Stellung des Aëtius war nicht beliebig kopierbar. - Eine Liste von patridi aus der Zeit Valentinians III. bietet T. Barnes, Phoenix 29, 1975, 165.

68

III. Aëtius’ politischer Weg

Tode des Aëtius im Jahre 454 waren sie alle notgedrungen «aeziani»,349 die mit seiner G unst Karriere gemacht hatten. Erst danach mochten sich wieder neue Loyalitätsgeflechte ausbilden, die allerdings niemals mehr dieselbe Kohärenz wie in den zwanzig Jahren zuvor erlangten, weil die Voraussetzungen dazu die langjährige Dominanz des Aëtius und die ebenso langjährige, Stabilisierung verleihende Regierung Valentinians III. - fehlten.350 D er Name Valentinians III. ist bereits gefallen; nach seiner Bedeutung müs­ sen wir nun abschließend fragen, wenn es darum geht, die Stellung zu beschrei­ ben, die Aëtius auf dem H öhepunkt seiner Macht im Gefüge des W eströmi­ schen Reiches eingenommen hat. Die Forschung tut sich begreiflicherweise schwer damit, das Faktum zu erklären, daß der junge Kaiser und Galla Placidia nach dem erbittert geführten Bürgerkrieg von 432/33 noch über zwanzig Jahre ihren patricius haben walten lassen, bis dieser endlich erm ordet wurde. Daß Valentinian III. seinen von der M utter geschürten persönlichen H aß so lange bezwungen haben soll, um ihn dann endlich in einer eigenhändig ausgeführten M ordtat auszuleben, ist nur schwer denkbar.351 U ber die Persönlichkeitsstruk­ tur des Herrschers können wir aufgrund der A rt unseres Quellenmaterials keine vernünftigen Aussagen treffen; späte Zeugnisse diskreditieren Valentinian III. als wollüstig, abergläubisch und im ganzen wenig regierungsfähig,352 aber diese Diffamierungen erklären sich vielleicht aus dem Kontrast zu einer Tradi­ tion, die Galla Placidia als besonders fromm und tugendhaft schildert.353 Im übrigen, so Cassiodor etwa ein Jahrhundert später, habe die Kaiserinmutter durch ihre Herrschsucht dazu beigetragen, daß ihr Sohn nicht in der erforderli­ chen Weise in seine Rolle als Kaiser hineingewachsen sei.354 Bieten uns so die Quellen zur Persönlichkeit Valentinians III. nur wenige Anhaltspunkte, um das Verhältnis zu seinem patncius besser verstehen zu hel349 Der Terminus stammt von Zecchini, Aezio, der die politischen Handlungsträger unseres Zeitraums gerne in «aeziani» und «antiaeziani» aufteilt. 350 Vgl. hierzu auch die Einschätzung von Henning, Periclitans res publica, 213 ff. 351 Vgl. allerdings die Einschätzung von Oost, Galla Placidia Augusta, 239, die auf eine solche Erklärung hinausläuft: «[...] she (seil. Galla Placidia) now hated him with a cold hate which she doubtless transmitted to her son and which Aëtius’ undeniable services to the Empire in Gaul did nothing to assuage.» 352 Prok. Kais. hist. 3,3,10-13 u. 3,4,15-23; Io. Ant. frg. 200,1 sowie Theoph. Conf. a. m. 5947. Dazu Sirago, Galla Placidia, 325f. Vgl. allerdings auch die positive Tradition bei Agnell. lib. pontif. 40 sowie Lib. pontif. 46,8ff., 38ff. u. 47ff., wo Valentinian III. als frommer und der Kirche gewogener Kaiser erscheint. Dazu Deichmann, Ravenna, 169 ff. 353 Oost, Galla Placidia Augusta, 264 ff. mit den entsprechenden Zeugnissen. 354 Cassiod. var. ll,l,9 f. (Fridh); ähnlich Prok. Kais. hist. 3,3,9f. Dazu Sirago, Galla Placidia, 255ff. - Den ohnehin geschrumpften Spielraum, den ein weströmischer Kaiser im 5. Jh. hatte, beschreibt Barnwell, Emperor, Prefects & Kings, 11 ff.

6. Die Macht des patricius Aëtius

69

fen, so gibt es doch noch andere Zeugnisse, die mehr Licht ins Dunkel brin­ gen. In Gesetzestexten etwa wird Aëtius von seinem Kaiser als patricius noster355 tituliert und mit der Anrede p(arens) k(arissime) a(tque) a(mantissime)356 bedacht. Selbstverständlich lassen diese Förmlichkeiten keinen Rückschluß auf das tatsächliche Verhältnis zwischen Aëtius und Valentinian III. zu. Dennoch wird durch sie ein wichtiger Aspekt noch einmal verdeutlicht: Aëtius übte sei­ nem Kaiser gegenüber die Funktion eines parens aus. Ähnlich wie Stilicho vor ihm war er also durch pietas und fides diesem verpflichtet,357 andererseits konnte er für sich in Anspruch nehmen, eine mehr oder weniger umfassende A rt von tutela über Valentinian III. auszuüben, zum N utzen des Weströmi­ schen Reiches als des ihm anvertrauten Gutes selbstverständlich.358 Aëtius hatte im Bürgerkrieg von 432/33 gezeigt, daß er nicht dazu bereit war, die einmal errungene tutela über den Kaiser wieder abzugeben. H ierdurch unterschied er sich von Stilicho, der mehrmals aus reverentia gegenüber Arcadius und H o n o ­ rius seinen persönlichen M achtambitionen zuwidergehandelt und so seine Er­ m ordung heraufbeschworen hatte.359 Von Aëtius war ein solches Verhalten nicht zu erwarten, dies war nach 433 auch dem letzten klar.360 Die parentela, unter der sich Valentinian III. befand, war also ein zweischnei­ diges Schwert. Zwar war der Kaiser vor einer Usurpation des Aëtius sicher, stellte er doch das Unterpfand von dessen legitimer Sachwalterschaft im Reiche dar; dennoch war an ein persönliches Regiment des spätestens seit 437 voll­ jährigen Kaisers nicht zu denken.361 Allerdings gibt es Indizien dafür, daß der 355 Novell. Valent. 9 (24.06.440) u. Novell. Valent. 36 (29.06.452). 356 Novell. Valent. 17 (08.07.445) u. Novell. Valent. 33 (31.01.451). 357 Straub, Parens principum. Stilicho hatte den Titel parens principum geführt. Nach Straub verfolgte er das Ziel, quasi als tutor oder «Hausmeier» (ebd., 239) der Kaiser Honorius und Arcadius zu agieren. - Zum Titel parens pnncipum auch F. Kolb, in: G. Bonamente/K. Rosen (Hrsgg.), Historiae Augustae Colloquium Bonnense. Atti dei Convegni sulla Historia Augusta V, 1997, 153-160, bes. 159f. 358 Vgl. Sirago, Galla Placidia, 339f., der Aëtius als «vero protettore, non solo morale, ma anche materiale dell’imperatore» in der Zeit nach dem Bürgerkrieg von 432/33 be­ zeichnet. 359 Straub, Parens principum, 234f. u. 239. 360 Vgl. O ’Flynn, Generalissimos, 80: «On this occasion (433) he did not even have the pretence of supporting an emperor, legitimate or otherwise; he was unashamedly working for himself - if indirectly for the empire - and was demanding what he consi­ dered to be his just reward.» 361 Die selbständige Regierung Valentinians III. läßt man gemeinhin mit seiner Heirat im Jahre 437 beginnen; siehe Oost, Galla Placidia Augusta, 251 ff. Allerdings ist es fraglich, ob der politische Einfluß seiner Mutter zu diesem Zeitpunkt sozusagen offiziell beendet wurde (so etwa Sirago, Galla Placidia, 313, der allerdings einen fortdauernden, informellen Einfluß Galla Placidias auf die kaiserliche Politik annimmt). Anders z. B. schon Schild, Galla Placidia, 54. 61 u. 68, der die Regentschaft der Galla Placidia bis zu ihrem Tode im

70

III. Aëtius’ politischer Weg

H o f sich dem patricius nicht ohne jeglichen W iderstand gefügt hat, so etwa in der Finanzgesetzgebung. In den 440er Jahren ist hier eine Tendenz erkennbar, die darauf abzielte, die Verfügungsgewalt des Aëtius über die einzutreibenden Steuern zugunsten höfischer Beamter zu begrenzen.362 Unabhängig davon, ob diese Bemühungen nun von Erfolg gekrönt waren, ist an diesem Beispiel doch erkennbar, daß der H of Valentinians III. auch während der Zeit der unange­ fochtenen Dom inanz des Aëtius ein politischer Raum war, der von diesem nicht völlig kontrolliert werden konnte. E r blieb ein Reservoir von Personen und Gesinnungen, die dem patridus gefährlich werden konnten, die - zum in­ dest im Einzelfall - dem N etz seiner informellen und institutioneilen Macht entgegenzuhandeln vermochten. U m so wichtiger war es für Aëtius, immer weitere Versuche zu unternehmen, den Kaiser und die Reichsstrukturen noch vollständiger unter seine Kontrolle zu bekommen, die eigene Person noch u n ­ entbehrlicher für Valentinian III. zu machen,363 ja - noch besser - seine und die Interessen des Hofes immer unentw irrbarer miteinander zu verknüpfen.

7. G renzen der M acht - A ëtius’ E rm ordung und die Krise des W estreichs nach 454 D er Fortgang der Geschichte lehrt uns, daß es Aëtius versagt geblieben ist, seine im letzten Abschnitt angedeuteten langfristigen Pläne bis zu seinem Tode erfolgreich in die Tat umzusetzen: D er zur Mitte des fünften Jahrhunderts mächtigste Mann im Weströmischen Reich ist nicht im Bett gestorben. Statt dessen fiel er einem Anschlag zum O pfer und teilte so das Schicksal seines großen Vorgängers Stilicho und vieler anderer Protagonisten bis 476 n. Chr.364 Abschließend wird zu fragen sein, wie es dazu kommen konnte und welche Folgen der Sturz des Aëtius nach sich gezogen hat; denn die Erschütterungen der pars Occidentis nach 454 erlauben einige Rückschlüsse auf die politischen Verhältnisse vor dieser Zeit im allgemeinen und auf den Charakter der H err­ schaft des patridus im besonderen.

Jahre 450 andauern läßt. Immerhin hat sie noch unmittelbar vor ihrem Ableben bei ihrem Sohn erfolgreich interveniert, um dessen Schwester Honoria vor der drohenden Hinrich­ tung zu retten; siehe Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley], 19-21). 362 Siehe hierzu im Kapitel über die Italienpolitik des Aëtius S. 291 ff. 363 Dieses Motiv in der Politik des Aëtius hebt auch O ’Flynn, Generalissimos, 102 hervor. 364 Es sei allerdings hervorgehoben, daß der Patriziat weströmischer Prägung nicht zwangsläufig im gewaltsamen Tode endete, wie die mit Aëtius vergleichbaren Beispiele Constantius (gest. 421) und Rikimer (gest. 472) zeigen. Beide erlagen einer Krankheit, nicht ihren Feinden.

7.

Grenzen der Macht - Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs

71

Zunächst zu den Fakten:365 Am 21. oder 22. September 454366 hielt sich Aë­ tius mit weiteren Amtsträgern - der praefectus praetorio per Italiam Boëthius wird von den Quellen namentlich genannt367 - im Palast des Kaisers in Rom368 auf, um über bestimmte Finanzfragen Bericht zu erstatten.369 Während der Audienz sprang Valentinian III. plötzlich auf, überschüttete den patricius mit Vorwürfen verschiedener A rt und fügte dem völlig Überraschten schließlich eigenhändig370 mit dem Schwert eine Verletzung zu; Höflinge - an ihrer Spitze der Eunuch Heraclius - traten hinzu und vollendeten den Meuchelmord. Auch andere Anhänger des Aëtius, die zugegen waren, fielen unter ihren Schlägen.371 Das Attentat war keineswegs Resultat eines spontanen Wutausbruchs des Kai­ sers gewesen, wie schon der reibungslose Ablauf beweist;372 statt dessen zeigt der weitere Fortgang, daß Valentinian III. und seine Helfer ihren U m sturz­ versuch gut vorbereitet hatten. Die Leiche des ermordeten Aëtius wurde auf dem Forum öffentlich wie die eines Verbrechers ausgestellt,373 um den geglück­ ten Anschlag zu dokumentieren. Der Kaiser selbst begab sich in den Senat, um seine Tat zu rechtfertigen und sogleich die politische Initiative an sich zu rei­ ßen.374 Man schickte Gesandtschaften zu den Föderaten des Reiches, um von vornherein den Eindruck eines etwa vorhandenen Machtvakuums zu zer­ streuen.375 Valentinian III. hatte die Erfordernisse der Stunde richtig erkannt:

365 Die Quellen zum Sturz des Aëtius sind gesammelt in PLRE II Aetius (7), Boethi­ us (1) u. Heraclius (3). Am ausführlichsten sind Prosp. chron. 1373 (s. a. 454) u. Io. Ant. frg. 201,1-4 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 1-43). Dazu u. a. Bugiani, Ezio, 191 ff.; Lizerand, Aetius, 11 Off.; Seeck, Untergang, Bd. 6, 318ff.; Bury, Later Roman Empire, 298 f.; Stein, Bas-Empire, 347ff.; Sirago, Galla Placidia, 364f.; Oost, Galla Placidia Augusta, 299ff.; Zecchini, Aezio, 281 ff. u. Henning, Periclitans res publica, 16ff. 366 Das Datum ist umstritten: Den 21. Sept, nennen die Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 454, den 22. Sept, haben die Fast. Merseb. s. a. 454. 367 Siehe u. a. Prosp. chron. 1373 (s. a. 454) u. Io. Ant. frg. 201,4 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 39f.). Weitere Quellen unter PLRE II Boethius (1). Er ist mehrfach als Freund des Aëtius bezeugt. 368 Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 454 u. Io. Ant. frg. 201,4 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 40-43). Dazu Henning, Periclitans res publica, 17 Anm. 5. 369 So Io. Ant. frg. 201,2 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 9-17). 370 So ausdrücklich Io. Ant. frg. 201,2 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 20-27); Prosp. chron. 1373 (s. a. 454); Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 454; Hyd. chron. 160 (s. a. 454); Cassiod. chron. 1260 (s. a. 454); Vict. Tonn, chron. s. a. 454 u. Sidon, carm. 5,305 f. 371 Hyd. chron. 160 (s. a. 454). 372 Siehe auch Io. Ant. frg. 201,2 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 22-24), der davon spricht, Heraclius habe eigens eine Waffe in die Sitzung geschmuggelt. 373 Io. Ant. frg. 201,4 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 40f.). 374 Io. Ant. frg. 201,4 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 41-43). 375 Hyd. chron. 161 (s. a. 454), wo von der betreffenden Gesandtschaft zu den Swe­ ben die Rede ist.

72

III. Aëtius’ politischer Weg

Seine offenbar von niemandem erwartete Tat hatte eine Organisierung poten­ tieller Gegner gar nicht erst zugelassen. Den im Senat maßgeblichen viri illust­ res376 blieb nichts anderes übrig, als den neuen Status quo vorerst anzuerken­ nen und auf eine Indienstnahme durch die neue Regierung zu spekulieren. Die germanischen Bündner w urden zwar durch den Verlust ihres langjährigen Verhandlungs- und Konfliktpartners Aëtius in U nruhe versetzt;377 gerade die wichtigsten unter ihnen jedoch - der westgotische König Theoderich II. und der Wandalenkönig Geiserich - standen zu ihren Verträgen.378 N u r in einem einzigen Fall können wir ein explizites Scheitern der Bemühungen Valentinians III., Anerkennung für sein gewaltsames Vorgehen zu finden, beobachten, näm­ lich in Dalmatien. H ier kündigte der verantwortliche comes Marcellinus, ein alter Freund des Aëtius, dem Kaiser in Rom den Gehorsam auf.379 Von diesem Zeitpunkt an betrieben er und seine Nachfolger eine quasi unabhängige Macht­ politik, bis Dalmatien im Jahre 481, schon nach dem Erlöschen des westlichen Kaisertums, von O doaker zurückerobert werden konnte.380 Welche Motive hatten Valentinian III. zu seiner Tat gerade jetzt bewogen? D urch die Darlegungen des vorigen Kapitels ist deutlich geworden, daß die Dominanz des parens patriciusque noster zum Alpdruck werden konnte, ja werden mußte, seit der junge Kaiser die Grenze zum Erwachsenenalter über­ schritten hatte und somit einer wie auch immer gearteten tutela eigentlich nicht mehr bedurfte. Andererseits hing der Grad der als solcher empfundenen Be­ d in g u n g und Einengung durch die übermächtige Persönlichkeit des Aëtius stark davon ab, inwieweit der Sohn Galla Placidias überhaupt politische Ambi­ tionen hatte. N un gibt es keinerlei Hinweise, daß Valentinian III. wie sein Cousin Theodosius II. überhaupt kein weitergehendes Interesse an den Staats­

376 N ur sie hatten damals noch das ius sententiam dicendi·, siehe Dig. 1,9,12,1. 377 Ob die bei Sidon, carm. 7,369-375 genannten Vorstöße der Sachsen, Alamannen und Franken schon im Herbst 454 oder erst nach dem Tode Valentinians III. im Früh­ jahr 455 erfolgten, ist ungewiß; dazu u. a. Henning, Periclitans res publica, 18 mit Anm. 14 u. 241 f. 378 Theoderich II. verhielt sich 454/55 abwartend. Erst nach dem Tode des Petronius Maximus und der Eroberung Roms durch die Wandalen griff er in das Geschehen ein, und auch dann zugunsten des neuen, von ihm gestützten Kaisers Avitus, nicht gegen ihn; siehe u. a. Henning, Periclitans res publica, 222 f. - Geiserich hat erst nach Valenti­ nians III. Tod Initiativen gegen das Weströmische Reich ergriffen. Nach Aëtius’ Tod verhielt er sich ruhig, ja sogar zuvorkommend, wie die Berufung eines katholischen Bischofs nach Karthago gerade in dieser Zeit beweist (Vict. Vit. 1,24); doch siehe dazu im Rahmen des Kapitels «Die Reichspolitik des Aëtius» S. 24Iff. 379 Prok. Kais. hist. 3,6,7 (= Priskos frg. 53,3 [Blockley], 19-23). 380 Zur Sezession Dalmatiens vom Westreich Henning, Periclitans res publica, 277ff. Zur Person des Marcellinus ebd., 92 u. PLRE II Marcellinus (6).

7.

Grenzen der Macht - Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs

73

geschäften gehabt hat;381 andererseits ist von jugendlichem Tatendrang seit den 430er Jahren auch nichts zu spüren.382 Aëtiusfeindliche Aktionen gab es - wie gesehen - bisweilen, aber sie können nicht explizit mit dem Namen des Kai­ sers selbst verbunden werden. Die Quellen, die von der Ermordung des Aëtius berichten, geben verschie­ dene Umstände an, die zu der Bluttat führten. Eine zentrale Rolle wird mehr­ fach dem Eunuchen Heraclius zugewiesen;383 er habe Valentinian III. davon überzeugt, Aëtius zu töten, weil durch dessen Ambitionen bezüglich einer H ei­ ratsverbindung mit dem theodosianischen Haus das Leben des Kaisers selbst mittelfristig in Gefahr sei.384 Heraclius spielte bei dem A ttentat im Palast eine aktive Rolle und hat in der letzten Phase von Valentinians III. Regierung eine zentrale Position innegehabt; folglich wurde er auch gemeinsam mit seinem H errn am 16. März 455 ermordet.385 Die Persönlichkeit des Heraclius wird in unseren Zeugnissen keineswegs positiv gesehen. Klischees wie dasjenige vom intriganten Eunuchen386 weisen darauf hin, daß man in der Umgebung des Kaisers den Machtzuwachs des praepositus sacri cubiculi mit Unbehagen und Mißgunst verfolgte. Enttäuschte Karrierehoffnungen nach dem Tode des lang­ jährigen «starken Mannes» Aëtius konnten allzu schnell auf die vermeintlichen Ränkespiele des Heraclius zurückgeführt werden, der sich offensichtlich dazu anschickte, eine ähnlich umfassende Machtposition wie sein östlicher Kollege Chrysaphius in den 440er Jahren einzunehmen.387 N och die Denunziation Va-

381 Theodosius II. soll verschiedenen Nachrichten zufolge nahezu alles unterschrie­ ben haben, was man ihm vorlegte; dazu unter Anführung der Quellen Lippold, Theo­ dosius (11), 1040 ff. 382 Anders Zecchini, Aezio, 172, der für die Zeit nach 437 von einer zunehmenden Aktivität Valentinians III. ausgeht und in seiner Politik eine «giovanile intransigenza» (ebd.) gegenüber dem patricius zu erkennen glaubt. Auch Oost, Galla Placidia Augusta, 251 ff. glaubt an einen größeren politischen Spielraum des Kaisers nach 437. Vgl. auch die positive Charakterisierung des Kaisers durch Stein, Bas-Empire, 338ff. 383 Prosp. chron. 1373 (s. a. 454); Io. Ant. frg. 201,1 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 1-8) u. Theoph. Conf. a. m. 5946 (= Priskos frg. 30,2 [Blockley]). Andere Quellen er­ wähnen nur die Mitwirkung von Eunuchen; so Io. Ant. frg. 200,1 u. Prok. Kais. hist. 3,4,24-27. Möglicherweise ist auch mit dem anonymen spatharius bei Hyd. chron. 160 (s. a. 454) Heraclius gemeint; hierzu PLRE II Heraclius (3). 384 So Prosp. chron. 1373 (s. a. 454). 385 Prosp. chron. 1375 (s. a. 455); Marcell. Com. s. a. 455; Io. Ant. frg. 201,4 f. (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 43-72); Euagrios 2,7 u. lord. Rom. 334 (= Priskos frg. 30,3 [Blockley]). 386 Zu diesem und anderen Klischees, mit denen sich mächtige Eunuchen bei Hofe konfrontiert sahen, u. a. Guyot, Eunuchen, 157ff.; Schölten, Eunuch, 186ff. u. Schlinkert, Ordo senatorius, 270ff. 387 Die Quellen zu seiner Person finden sich bei PLRE II Chrysaphius. Er übte im übrigen das Amt eines spatharius aus.

74

III. Aëtius’ politischer Weg

lentinians III. als semivir amens durch Sidonius Apollinaris im Januar 456 ist möglicherweise ein Zeugnis für die Ressentiments gegenüber dem Eunuchen, die die politischen Eliten angesichts der neugestalteten Lage empfanden.388 Ungeachtet der Entwicklung nach dem September 454 ist die M itwirkung des Heraclius an der Ermordung des Aëtius nochmals ein Zeichen für die Machtschwäche Valentinians III. gegenüber seinem patncius vor dem Anschlag. Denn offensichtlich war die Planung von Attentaten nur noch im allerengsten Umkreis des Kaisers, im sacrum cubiculum möglich.389 Unsere Quellen stellen uns die M ordtat an Aëtius als reine Hofverschwörung dar. Von im Vorfeld geschmiedeten Koalitionen mit wichtigen Senatoren, Militärbefehlshabern oder Föderatenkönigen ist bis auf eine zweifelhafte Ausnahme nicht die Rede;390 sie mußten vielmehr erst im nachhinein gewonnen werden, und ob dies gelingen würde, war offensichtlich alles andere als gewiß.391 Das institutioneile und in­ formelle Machtgeflecht, das Aëtius über das Weströmische Reich gelegt hatte, war zu Beginn der 450er Jahre dicht genug, um nicht einfach zerrissen werden

388 Sidon, carm. 7,359. Zum Begriff semivir Guyot, Eunuchen, 38 Anm. 7; der Be­ griff drückt meist den Vorwurf der Effemination aus. - Zur Erwartungshaltung des senatorischen Publikums beim Vortrag von Sidonius’ Avitus-Panegyricus Henning, Peri­ clitans res publica, 18f. 389 Schlinkert, Ordo senatorius, 276ff. u. 281 ff. betont, daß der praepositus sacri cubi­ culi eine besondere Rolle dabei spielte, den Kaiser von den Ansprüchen der traditionalen Eliten abzuschirmen: «Denn das sacrum cubiculum war schließlich die Zone des Palastes, welche der Masse der Adligen am Hof verschlossen war» (ebd., 277). Nicht nur diesen, wie wir hinzufügen können: Auch Aëtius als parens Valentinians III. dürfte hier auf gewisse Grenzen gestoßen sein, die er nicht zuletzt durch sein Heiratsprojekt mit Gaudentius zu überwinden trachtete. - Zur Institution des sacrum cubiculum und den damit verbundenen höfischen Ämtern, insbesondere dem praepositus sacri cubiculi siehe neben Schölten, Eunuch u. Schlinkert, Ordo senatorius, 237ff. auch die zusam­ menfassenden Angaben bei Delmaire, Institutions du Bas-Empire, 15Iff. 390 Es handelt sich um das angebliche Mitwirken des Petronius Maximus; siehe Io. Ant. frg. 200,lf. u. frg. 201,lf. (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 1-13); Prok. Kais. hist. 3,4,15-27; Nik. Xanth. 15,11 u. Marcell. Com. s. a. 455. Zecchini, Gesta, 70ff. u. ders., Aezio, 282 Anm. 18 hat zahlreiche Argumente, die gegen diese Tradition sprechen, ge­ sammelt. Bedenkenswert ist beispielsweise der Einwand, daß in Sidon, epist. 2,13 von einer Mittäterschaft an der Verschwörung nicht die Rede ist, obwohl Sidonius in diesem Brief mit Kritik an dem später glücklosen Augustus nicht spart. Es ist wahrscheinlich gerade die Tatsache, daß Petronius Maximus sein Kaisertum dem Ende sowohl des Aëtius als auch Valentinians III. verdankte, dafür verantwortlich gewesen, daß man spä­ ter sein Wirken nicht nur im Hintergrund der Ereignisse vom März 455, sondern auch schon derer vom September 454 vermutete. 391 Dies zeigt das energische Vorgehen Valentinians III. nach dem Attentat, mit dem er den Senat (Io. Ant. frg. 201,4 [= Priskos frg. 30,1 (Blockley), 41-43]) und die Föderaten (Hyd. chron. 161 [s. a. 454]) zu gewinnen suchte.

7. Grenzen der Macht - Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs

75

zu können. N u r im engsten, persönlichen Umfeld des Kaisers gab es noch Nischen, die er nicht zu kontrollieren vermochte. Es ist angesichts dessen kein Wunder, daß ausgerechnet der Eunuch Heraclius einer der Protagonisten des Umsturzes werden konnte.392 Die Bluttat vom 21./22. September 454 war ein risikoreiches Unternehmen, das im Falle eines Scheiterns sicher keinen zweiten Versuch zugelassen hätte. Wie wenig der Kaiser und seine Mitverschwörer ih­ rer Umgebung trauten, zeigt sich daran, daß Valentinian III. selbst sich dazu bereit fand, den ersten Streich auszuführen. Unmittelbar vor der Tat war es zu einer heftigen verbalen Auseinanderset­ zung zwischen Valentinian III. und Aëtius gekommen; dies geht aus Prosper von Aquitanien393 und Johannes Antiochenus394 hervor. Ü ber den Gegenstand des Streites berichten unsere Gewährsmänner allerdings Verschiedenes. Der Zeitgenosse Prosper schildert zunächst, daß der Kaiser und sein patncius ihr Verhältnis durch wechselseitige Eide noch fester geknüpft und eine Ehe zwi­ schen ihren Kindern vereinbart hätten. Ü ber dieser Frage sei es allerdings zu einer tiefen Verstimmung gekommen, die durch den Eunuchen Heraclius da­ hingehend ausgenutzt worden sei, daß Valentinian III. schließlich die Erm or­ dung des Aëtius plante. Die Eskalation am Tage des Attentats sei mithin da­ durch entstanden, daß der patricius erneut ungestüm nach dem Vollzug der Heirat zwischen Gaudentius und Placidia verlangt habe. Problematisch an der besprochenen Prosper-Stelle ist, daß das Drängen des Aëtius auf die endliche Durchführung der vereinbarten Hochzeit nur in einer Variante des Textes überliefert wird.395 Zwar auch mit textkritischen Problemen behaftet, aber dennoch gesicherter ist deshalb die wohl auf Priskos zurück­ gehende Erzählung des Johannes Antiochenus.396 Er berichtet, Valentinian III. habe bei einem plötzlichen Wutanfall geäußert, er werde die bestehenden Zu­ stände nicht länger dulden. Aëtius habe schon die Verantwortung dafür zu tragen, daß der Kaiser Marcian in Konstantinopel seine Anerkennung erhalten habe. Jetzt wolle er ihm nach dem O sten auch die Herrschaft über den Westen entreißen. D er Bericht des Johannes Antiochenus stellt nicht unbedingt einen Widerspruch zu Prosper dar, denn daß Valentinian III. seinen Thron im We­

392 Siehe hierzu die Einschätzung von Schlinkert, Ordo senatorius, 284: «Die soziale Entwurzelung der Eunuchen garantierte die in den Beziehun­ gen im Haus und versetzte die diskriminierte Randgruppe zudem in den Status eines idealen Instruments, das sich vom Hausherrn jederzeit und für beliebige Zwecke einsetzen ließ.» 393 Prosp. chron. 1373 (s. a. 454). 394 Io. Ant. frg. 201,2 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 13-20). 395 Hierzu die kritische Ausgabe von Th. Mommsen (MGH AA 9, 483). 396 Zur Problematik der Textherstellung Blockley, Fragmentary Classicising Histo­ rians, Bd. 2, 393 Anm. 129.

76

III. Aëtius’ politischer Weg

sten gefährdet sah, hing ja eben mit dem H eiratsprojekt des Aëtius zusammen. Die Erwähnung der Anerkennung Marcians als Kaiser im Ostreich diente dem­ gegenüber lediglich als zusätzliches Argument, um zu verdeutlichen, wie der patricius schrittweise seinen Kaiser zu entmachten trachtete. In der Tat hatte Valentinian III. im März 452 erst nach langem Zögern und unter dem D ruck des drohenden Einmarsches Attilas nach Italien dessen Regierung legalisiert.397 Ganz gleich, wie der Wortwechsel zwischen dem Kaiser und Aëtius unm it­ telbar vor dem A ttentat nun genau abgelaufen sein mag, sowohl aus Prosper als auch aus Johannes Antiochenus geht hervor, daß sein Thema die tatsäch­ liche oder vermeintliche Bedrohung der Herrschaft Valentinians III. durch sei­ nen «starken Mann» war. Ein wichtiges Element dieser Bedrohung aber war das H eiratsprojekt zwischen Gaudentius und Placidia, weswegen hierin eine wichtige Ursache, nicht ein bloßer Anlaß für die Erm ordung des Aëtius ge­ sehen werden muß.398 Ü ber diesen so folgenreichen Plan wissen wir allerdings erstaunlich wenig: Lediglich von Prosper wird er explizit erwähnt,399 und dies sogleich in Verbindung mit dem Ende des Aëtius im Jahre 454, so daß man glauben könnte, das Heiratsbündnis zwischen Valentinian III. und seinem pa­ tricius sei kurz vor dessen Tod vereinbart worden. Andere Indizien wurden jedoch zum Nachweis dessen herangezogen, daß eine Verbindung zwischen Aëtius’ jüngerem Sohn und der Prinzessin Placidia - zumindest von seiten des patricius - schon längere Zeit geplant war. Leider ist die Quelle, die dieser H ypothese zugrunde liegt, alles andere als eindeutig. Es handelt sich um den Panegyricus des Sidonius Apollinaris für Kaiser Majorian vom Dezember 458. In einer durch mythologische Anspielungen und rhetorische Figuren im Sinn geradezu verunklarten Passage schildert der Dichter ein Gespräch zwischen Aëtius und seiner Frau; letztere drängt auf eine Beseitigung des jungen Offi­ ziers Majorian, denn schon jetzt sei sein Ruhm gewaltig und die Sterne verkün­ deten sein künftiges Kaisertum, w odurch die Chancen des kleinen Gaudentius, beider Sohn, in Gefahr seien. Aëtius läßt sich schließlich zu einer Entfernung Majorians aus dem aktiven Dienst bewegen, doch weigert er sich, seinen Tod zu verantworten.400 St. I. O ost hat die besprochene Passage dahingehend gedeutet, daß der H in ­ tergrund für die Entlassung Majorians ein Heiratsprojekt Kaiser Valentinians

397 Continuatio codicis Reichenaviensis 21 (s. a. 452) [MGH AA 9, 490]. Dazu Stein, Bas-Empire, 586 Anm. 169 u. Bayless, Political Unity, 94 f. 398 So auch Zecchini, Aezio, 281 f. Möglicherweise war Aëtius’ Sohn aus einer frühe­ ren Ehe, Carpilio, um 454 schon nicht mehr am Leben, so daß er für ein Heiratsprojekt nicht mehr in Frage kam; siehe ebd., 282 Anm. 13. 399 Nämlich in der schon vielfach zitierten Stelle Prosp. chron. 1373 (s. a. 454). 400 Sidon, carm. 5,126-294.

7.

Grenzen der Macht - Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs

77

III. gewesen sei, mit dem dieser seine eigene Nachfolge habe regeln wollen.401 Während seine ältere Tochter Eudocia bereits 442 dem wandalischen Thronfol­ ger H unerich versprochen w orden war, sollte die jüngere Placidia nun mit dem hoffnungsvollen, jungen Offizier des Aëtius eine Verbindung eingehen, um dem Reich einen künftigen Soldatenkaiser zu bescheren. Chronologisch wurde der von Sidonius Apollinaris geschilderte Vorgang in der Zeit vor 451 verortet, da Majorian während Attilas Gallienfeldzug offensichtlich nicht mehr im Dienst war.402 Nach O ost könnten w ir also davon ausgehen, daß Aëtius schon um 450 eine Ansippung seines Sohnes Gaudentius an das theodosianische Haus ins Auge gefaßt, damals mithin schon Kaiserpläne gehegt hat.403 Es gibt freilich gewichtige Argumente, die gegen eine solche Interpretation des Sidonius Apollinaris sprechen. Zum einen verfügen wir über keinen A n­ haltspunkt darüber, daß Valentinian III. um 450 die G eburt weiterer Kinder nicht mehr erwartete. Er war zu diesem Zeitpunkt um die dreißig Jahre alt, seine Gemahlin Eudoxia sogar etwas jünger. Warum sollte dem kaiserlichen Paar nach zwei Töchtern nicht noch der ersehnte Thronfolger geschenkt wer­ den? Doch selbst gesetzt den Fall, Valentinian III. hätte die Ansippung eines präsumtiven Nachfolgers an das theodosianische Haus erwogen, hätte er aus­ gerechnet auf einen jungen, nicht aus den ersten Familien des Reiches stam­ menden Offizier zurückgegriffen, der zwar einige Male schon seine Fähigkei­ ten unter Beweis gestellt, aber noch keineswegs durchschlagende Erfolge für das Imperium erfochten hatte?404 Die patres familias des amtierenden Kaiser­ hauses zeigten sich sehr wählerisch, wenn es um die Verheiratung ihrer Töchter ging, und gerade Valentinian III. hatte im Falle seiner Schwester gezeigt, daß ohne seine ausdrückliche Zustimmung eine wie auch immer geartete Lösung nicht denkbar war. Es ist sicher kein Zufall, daß die Angelegenheit H onorias eine der wenigen ist, wo wir den ansonsten passiv erscheinenden Kaiser auch hinsichtlich der Quellenlage als Agierenden wahrnehmen.405 401 Ausführlich Oost, Aëtius and Majorian. 402 Ebd., 29 Anm. 6 u. Frank, Scholae Palatinae, 191. 403 Ebenso Max, Majorian, 46ff. u. Henning, Periclitans res publica, 16 u. 37. 404 Zur Herkunft Majorians zuletzt Henning, Periclitans res publica, 36 f. Trifft die Identifizierung von dessen anonymem Vater mit Domninus zu, dann wäre Majorian Sohn eines Kaufmanns aus Ägypten gewesen; siehe ebd., 36 mit Anm. 49. Anders aller­ dings die PLRE II Anonymus (114). Auch Max, Majorian, 46ff. registriert die nicht vorhandene hohe Abkunft Majorians. Er erwägt ebd. einen Zusammenhang der geplan­ ten Verlobung Placidias mit der Ansippung Marcians ans theodosianische Kaiserhaus im Jahre 450. 405 Siehe hierzu im Kapitel «Aëtius und die Hunnen» S. 125 ff. Selbst als es Valentinian III. nicht mehr möglich war, ein eheloses Leben seiner Schwester zu erzwingen, wählte er doch einen vornehmen Senator namens Herculanus zu ihrem Gemahl und ehrte ihn 452 durch das Konsulat; siehe Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley]).

78

III. Aëtius' politischer Weg

Schon aufgrund der ausgeführten Erwägungen ist die These von O ost er­ schüttert. Es kom m t hinzu, daß von einer geplanten Verheiratung Majorians mit Placidia bei Sidonius Apollinaris nicht die Rede ist - auch nicht in m ytho­ logischer Verkleidung. Daß der junge Offizier einmal Kaiser werden würde, war aus der Rückschau des Jahres 458 eine Tatsache; daß dadurch die zu einem bestimmten Zeitpunkt vor 454 einmal erhofften Chancen des Gaudentius zu­ nichte gemacht würden, ebenso. Für etwaige Pläne der Jahre um 450 sagt dies jedoch nur wenig aus. D er Panegyricus auf Majorian ist ein zeitgeschichtliches und darüber hinaus ein für Sidonius Apollinaris sehr persönliches D oku­ ment;406 er gefällt sich darin, den Werdegang des Kaisers im Kontext der Reichsgeschichte und der mythischen Archetypen zu spiegeln. Deshalb die O rientierung der Geschehnisse an Aëtius und die überdimensionierte Inszenie­ rung der Intrige seiner Frau. Was wirklich hinter der Entfernung Majorians aus dem Dienst vor 451 gestanden haben mag, wird dadurch vollkommen verdun­ kelt: Weltbewegende politische Konstellationen werden es mit großer Wahr­ scheinlichkeit nicht gewesen sein.407 Da sich das Zeugnis des Sidonius Apollinaris für die Frage nach den Heirats­ plänen des Aëtius als nicht brauchbar erweist, steht nichts dem im Wege, die Verlobung des Gaudentius mit Placidia wieder näher an das Jahr 454 heranzu­ rücken. Immerhin hatte Prosper von Aquitanien einen eindeutigen, auch zeit­ lichen Zusammenhang zwischen den von Kaiser und patncius ausgetauschten Eiden, dem Eheprojekt und der Erm ordung des Aëtius gesehen.408 Die Z u­ sammengehörigkeit der Ereignisse wird nun auch durch einige bereits zuvor erörterte Aspekte bekräftigt: Gerade wenn Valentinian III. die H offnung auf einen Thronfolger noch nicht aufgegeben hatte, mußte die Ansippung des Gaudentius an das theodosianische Haus eine Gefahr für ihn persönlich und die Herrschaft seiner Familie darstellen. U nd des weiteren: M ehr als einmal

406 Henning, Periclitans res publica, 138ff. Sidonius hatte mit einem großen Teil des gallischen Senatsadels im Bürgerkrieg von 456 n. Chr. Partei für Avitus ergriffen und war, als er im Dez. 458 Kaiser Majorian in Lyon seinen Panegyricus vortrug, auf dessen Gunst angewiesen. - Allgemein zur historischen Aussagekraft von Sidonius’ Panegyrici ebd., 117 f.; ferner Watson, Representing the Past, zusammenfassend 196f. Den Panegy­ ricus auf Majorian hat zuletzt Ph. Rousseau, Historia 49, 2000, 251-257, bes. 254f., eingehender untersucht. Er glaubt, daß sich in der Passage um die Intrigen von Aëtius’ Frau die Kritik des gallorömischen Senatsadels an dem neuen Kaiser manifestiert. 407 Auch Oost, Aëtius and Majorian, 28 registriert, daß die geplante Verlobung Majo­ rians und Placidias keinerlei Niederschlag in anderen Quellen hinterlassen hat und hilft sich mit der Vermutung, daß sie wohl noch ein recht unkonkretes Projekt gewesen sei: «It is probable, however, that there was no actual, formal engagement.» 408 Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang von Prosp. chron. 1373 (s. a. 454) und der Einordnung aller drei Ereignisse in das Jahr 454 n. Chr.

7.

Grenzen der Macht - Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs

79

hatte der Kaiser gezeigt, daß er seine Rolle als pater familias ernst nahm.409 Die Verlobung Eudocias mit Geiserichs Sohn Hunerich kam nur mit seiner aus­ drücklichen Genehmigung zustande.410 Heiratspläne seiner Schwester H onoria mit Attila im Vorfeld des großen Hunnenkrieges von 451/52 hatte er nicht toleriert, ja sogar eine für das Westreich lebensgefährliche Auseinandersetzung in Kauf genommen, um seine Souveränität in Angelegenheiten der kaiserlichen Familie zu wahren.411 Diese offensichtliche Grundeinstellung zeigt sich erneut nach dem Tode des senior Augustus Theodosius II. N u r unter eminentem D ruck - nämlich angesichts des bevorstehenden Eindringens Attilas nach Ita­ lien - war der Kaiser der pars Occidentis bereit, mit eineinhalb) ähriger Verzö­ gerung seinen östlichen Kollegen Marcian anzuerkennen und so die Wahl Pul­ cherias nachträglich zu legitimieren.412 Daß Valentinian III. unmittelbar vor dem Attentat dieses Ereignis nochmals thematisierte, zeigt, worum es dem Kai­ ser ging: Das Heiratsprojekt des patricius mit der Prinzessin Placidia stellte mittelfristig eine Gefährdung für die Souveränität des senior Augustus über seine Familie dar. Mit dem Eindringen des Aëtius in die Dynastie würde Valen­ tinian III. das letzte Machtmittel verlieren, über das er noch verfügte. Die Be­ fürchtung des Kaisers erklärt gleichzeitig das Drängen des patricius·. Aëtius war zu Beginn der 450er Jahre über sechzig Jahre alt; er hatte somit mehr G rund zur Eile bei der abschließenden Regelung der Verwandtschaftsverhältnisse als sein kaiserlicher Herr. Die Ansippung an das theodosianische Haus, das Ein­ dringen ins sacrum cubiculum nicht nur als nomineller parens des aktuellen Kaisers, sondern als tatsächlicher cognatus des potentiellen Thronfolgers, war der Schlußstein seiner auf immer größeren Machtgewinn angelegten Politik, die sich nun in der nächsten Generation mit Gaudentius fortzusetzen drohte. N u r ein radikaler Befreiungsschlag konnte dies noch verhindern. Die letzte Herrschaftsphase Valentinians III. von September 454 bis März 455 zeigt, daß der Kaiser die Chance, die sich ihm durch Aëtius’ Tod geboten hatte, im Sinne eines persönlichen Regiments zu nutzen versuchte.413 Wir ha­ ben schon gesehen, daß die Maßnahmen unmittelbar nach dem geglückten

409 Zu Valentinians III. Anerkennungspolitik zusammenfassend Henning, Periclitans res publica, 188ff. Schon Mommsen, Aetius, 541 Anm. 2 hebt polemisch hervor, daß dynastische Auseinandersetzungen für Theodosius II. und seinen westlichen Cousin Vorrang vor «außenpolitischen» hatten. 410 Anders ist es nicht erklärbar, daß in einem Mosaik des kaiserlichen Palastes die Huldigung Hunerichs dargestellt wurde; siehe Merob. carm. 1, 7f. Dazu Clover, Flavius Merobaudes, 20f. u. 24. 411 Siehe dazu ausführlich im Kapitel «Aëtius und die Hunnen» S. 125 ff. 412 Continuatio codicis Reichenaviensis 21 (s. a. 452) [MGH AA 9, 490]. 413 Zu Valentinians III. letzter Herrschaftsphase u. a. Henning, Periclitans res publica, 16ff.

80

III. A ëtius'politischer Weg

Mordanschlag offensiv und - bis auf eine, uns bekannte Ausnahme - erfolg­ reich in die Wege geleitet wurden. Sowohl nach innen als auch nach außen blieb die Machtstellung Valentinians III. im wesentlichen unangefochten. Die wichtigste Aufgabe bestand nun darin, das Vakuum, das Aëtius hinterlassen hatte, von neuem zu füllen. Auch hinsichtlich dieses zentralen Problems verrät das Vorgehen des Kaisers durchaus Entschlossenheit und Konsequenz: Er ver­ mied es bewußt, einen neuen magister utriusque militiae et patricius zu berufen und versuchte statt dessen, die informelle Macht und die institutionellen Be­ fugnisse des Aëtius auf mehrere Personen zu verteilen, wobei viele Kompeten­ zen, die dem Kaisertum in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwunden worden waren, zwangsläufig an ihn zurückfallen mußten.414 Es bedurfte aller­ dings einigen Fingerspitzengefühls, in der Situation nach dem 21./22. Septem­ ber 454 die Ämter und W ürden neu zu ordnen; nicht nur, daß die langjährigen Gefolgsleute des Aëtius nicht verprellt werden durften, auch die Karriere­ wünsche all der «Neutralen», die angesichts des Umsturzes loyal zum Kaiser gestanden hatten und nun eine Belohnung erwarteten, wollten berücksichtigt sein. Daß Valentinian III. in dieser Situation Fehler machte, ist verzeihlich und mußte vielleicht so kommen, denn im Vergleich zu Aëtius fehlte ihm eine durch jahrelange Praxis erworbene und durch persönliche Erfolge legitimierte Autorität, die diejenigen, die bei Gunsterweisen übergangen wurden, dazu zwang, stillzuhalten und auf die nächste Chance zu warten.415 Einer von denen, deren Dienste durch das neue Regime scheinbar nicht be­ nötigt wurden, war der Senator Petronius Maximus.416 Von frühester Jugend an hatte er einen staunenswerten cursus honorum durchlaufen, war unter ande­ rem zweimal Konsul gewesen und hatte in den 440er Jahren den patricius-Titel erlangt.417 Doch nun verzichtete Valentinian III. darauf, den reichen und mäch­ tigen Patron in das neue Regime einzubinden und ihm dadurch eine adäquate Demonstration seiner Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus zu ermöglichen.

414 Daß Valentinian III. die Neubesetzung der Machtstellung des Aëtius nicht plante, geht aus Io. Ant. frg. 201,4 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 43-51) hervor. 415 Die Aufgabe, die sich Valentinian III. stellte, bestand darin, eine - in der Termi­ nologie von Gizewski, Informelle Gruppenbildungen, 139 - «Kerngruppe wichtiger Vertrauensleute» neu um sich herum zu konstituieren. Für die außen vor Bleibenden mochte dies als Bildung einer Hofkamarilla erscheinen; zu dieser strukturellen Proble­ matik ebd., 138 ff. 416 Wesentliche Quellen zu Petronius Maximus finden sich in der PLRE II Maximus (22); eine Darstellung seines cursus honorum vor seinem Kaisertum auch bei Weber, Albinus, 480 f.; Panciera, Precettore u. Henning, Periclitans res publica, 28 ff. 417 Möglicherweise ist Novell. Valent. 11 (13.03.443) eigens erlassen worden, um die Position des Petronius Maximus innerhalb der Reichshierarchie zu stärken; in diesem Sinne Enßlin, Valentinianus (4), 2242 f.

7.

Grenzen der Macht - Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs

81

Das westliche Konsulat für das Jahr 455 übernahm statt dessen der Kaiser, der soeben seine Tricennalien gefeiert hatte, selbst. Anscheinend strebte Petronius Maximus in seinem Ehrgeiz nach einer Position, die derjenigen des ermordeten Aëtius gleichkam - so dürfte die Mitteilung des Johannes Antiochenus zu deu­ ten sein, er habe erst ein drittes Konsulat, dann den Patriziat vom Kaiser ge­ fordert.418 Dafür, daß er mit diesen Vorhaben sämtlich scheiterte, wurden die Ränkespiele des praepositus sacri cubiculi Heraclius verantwortlich gemacht. Für die ambitionierten Mitglieder des hohen Adels mußte es so aussehen, als habe man die - wenn auch drückende - Herrschaft des «starken Mannes» Aëtius mit dem Hofregiment eines Eunuchen eingetauscht. Die Folge ließ nicht auf sich warten: Persönliche Ressentiments und enttäuschte Karrierehoffnungen gingen eine gefährliche Mischung ein. D er Anspruch des Petronius Maximus, in die Fußstapfen des Aëtius zu tre­ ten, mag unrealistisch erscheinen, denn der honorige Senator hatte eine reine Zivilkarriere durchschritten; seine Kontakte zur Militäraristokratie im Demandtschen Sinne dürften nicht die Qualität besessen haben, um einen Patriziat westlicher Prägung, wie er sich im fünften Jahrhundert herausgebildet hatte, erfolgreich ausüben zu können.419 Petronius Maximus hatte allerdings den Vor­ teil, über große Autorität, reiche Geldmittel und vielverzweigte Patronatsbezie­ hungen zu verfügen. Zusätzlich kam es ihm entgegen, daß durch die A rt und Weise, wie Valentinian III. die militärischen Stellen nach Aëtius’ Tod besetzte, eine M achtkonzentration in der Armee von vornherein unterbunden wurde. Von den aktiven Befehlshabern ist uns lediglich Majorian, der in diesen M ona­ ten reaktiviert wurde, als comes domesticorum bekannt,420 während wir über die Verteilung der Funktionen der zentralen Heermeisterstellen keine Aussage treffen können.421 Welche Ambitionen Majorian in dieser Zeit schon gehabt hat, ist ebenso unklar. Seine Aufgabe war es vor allen Dingen, die H aus­ truppen des Aëtius unter Kontrolle zu halten,422 doch waren es ausgerechnet zwei Buccellarier des verstorbenen patricius, die am 16. März 455 das Attentat

418 Io. Ant. frg. 201,4 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 43-46). 419 Dies zeigte sich auch schnell während des kurzen Kaisertums des Petronius Maxi­ mus von März bis Mai 455; siehe Henning, Periclitans res publica, 20 ff. u. 118 ff. 420 Chron. Gail. 511, 628 u. Sidon, carm. 5,306-308. 421 Wer in der letzten Herrschaftsphase Valentinians III. magister equitum praesenta­ lis gewesen ist, ist nicht bekannt. Ebenso ungewiß ist es, ob die durch Aëtius’ Tod vakante Stelle des magister peditum praesentalis neu besetzt wurde oder nicht. In unse­ ren Quellen ist nur davon die Rede, daß eine Machtkumulation wie die des Aëtius fort­ an verhindert werden sollte. 422 Sidon, carm. 5,306-308, desgleichen Prosp. chron. 1375 (s. a. 455). Dazu Schmitt, Buccellarii, 160 Anm. 115 u. 170.

82

III. Aëtins' politischer Weg

auf Valentinian III. ausübten,423 und unmittelbar darauf erschien Majorian schon als vorzeigbarer Kandidat für das Kaisertum.424 Es ist angesichts dessen wohl mehr als eine bloße Hypothese, wenn w ir ihm unterstellen, daß er sich mit der comitiva domesticorum im September 454 nur vorübergehend zufrie­ denzugeben gedachte; zumindest nach 455 arbeitete er ungeachtet aller Wirr­ nisse und Regimewechsel unverdrossen und mit wechselnden Koalitionen an seinem Ziel, der Erlangung des A#g«st«s-Titels.425 Valentinian III. hat die Gefahren, die ihm aus der Neubesetzung der Ämter und Funktionen im zivilen wie militärischen Bereich erwuchsen, nicht völlig verkannt. Er gab seine jüngere Tochter Placidia nun doch frei und verlobte sie mit einem Mitglied des vornehmen Aniciergeschlechts, O lybrius, ganz sicher, um an Rückhalt in der italischen Senatsaristokratie zu gewinnen.426 Doch auch in diesem Fall wurden andere Hochadelige wie Petronius Maximus notwendig übergangen, so daß der Gewinn der einen factio die zunehmende Entfremdung der anderen bedeuten mußte.427 Im militärischen Bereich bemühte sich Valentin­ ian III., Profil zu gewinnen, indem er persönlich an Reit- und Waffenübungen teilnahm und es so seinem Vater, dem ehemaligen General Constantius III. gleichzutun versuchte. Bei einer dieser Gelegenheiten wurde er am 16. März 455 nahe der kaiserlichen Villa ad duas lauros an der Via Labicana ermordet, des­ gleichen der ebenfalls anwesende Heraclius.428 D er Tod des Kaisers rief augen­

423 Ihre Namen waren Optila und Thraustila; siehe PLRE II Optila u. Thraustila (1). Letzterer soll Schwiegersohn des Aëtius gewesen sein; siehe Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 455. Zu beider germanischen Namensformen N. Wagner, BN N.F. 29/30, 1994/95, 358-370. - Schmitt, Buccellarii, 160 Anm. 115 betont, daß das oft bemühte Rachemotiv bei der Ermordung Valentinians III. sekundär gewesen sei. Das Verhältnis zwischen dem Dienstherrn und seinen Buccellariern sei ein pragmatisches gewesen, wie auch die problemlose Übernahme der Gefolgsleute des Aëtius durch den Kaiser zeige. Allerdings ist hier Skepsis geboten: Der patricius hatte über viele Jahrzehnte prägend auf seine Haustruppen einwirken können; dies mag mehr als ein nur «pragmatisches» Verhältnis bewirkt haben. Des weiteren: Es bleibt das Faktum, daß es zwei Buccellarier des Aëtius waren - darunter möglicherweise sogar ein Schwiegersohn - , die den Mord am Kaiser ausführten. 424 Io. Ant. frg. 201,6 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 73-82). 425 Auch Henning, Periclitans res publica, 37 erwägt ein Einverständnis Majorians mit der Ermordung Valentinians III. Zum Aufstieg Majorians zum Kaisertum ebd., 37 ff. 426 Io. Zon. hist. 13,25,27. Dazu Clover, Family, 174ff. unter Anführung und Diskus­ sion weiterer Quellen. 427 Sowohl Olybrius als auch Petronius Maximus gehörten der gens Anicia an; den­ noch oder gerade deswegen ist mit Konkurrenzverhältnissen auch innerhalb desselben Familienverbandes zu rechnen; dazu Clover, Family, 191 f. 428 Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 455; Marcell. Com. s. a. 455; lord. Rom. 334 (= Priskos frg. 30,3 [Blockley]); Io. Ant. frg. 201,5 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 58-72);

7.

Grenzen der Macht — Aëtius’ Ermordung und die Krise des Westreichs

83

scheinlich keine laute Em pörung unter den militärischen und zivilen Eliten her­ vor; nur um die Nachfolge entbrannte kurze Zeit ein Streit, bis das Geld des Petronius Maximus den Ausschlag zu seinen Gunsten gab.429 D er Sturz Valentinians III. führt noch einmal vor Augen, welchen Begren­ zungen das persönliche Regiment des jungen Kaisers unterlag. Im Gegensatz zu Aëtius verfügte er zwar über eine Vielzahl formaler Kompetenzen, um den Staat nach dem 21./22. September 454 nach seinem G utdünken ordnen zu kön­ nen, doch mangelte es ihm an der A utorität jahrzehntelangen politischen Wir­ kens, um das verwirrende Spiel widerstreitender Kräfte am H o f und in den Provinzen kontrollieren zu können, dem er ausgesetzt war. Nachdem er die Dominanz des militärischen Sektors durch die Erm ordung des patricius ge­ brochen hatte, war es sicherlich eine schlechte, wenn auch verständliche E nt­ scheidung, nun dem ihm persönlich verpflichteten praepositus sacri cubiculi Heraclius den Aufbau einer starken informellen M achtposition zu erlauben. Valentinian III. mochte sich noch so sehr vor der Truppe als «Soldatenkaiser» gerieren, es blieb der fatale Eindruck, der semivir amens erlaube es nun seinem Eunuchen, in der gleichen Weise zu walten wie vorher dem kernigen Militär Aëtius. Es war allerdings eine Fehleinschätzung, daß die Verschwörer vom 16. März 455 glaubten, das Reich könne nach dem Verlust des großen Feld­ herrn nun auch das Ende des vermeintlich effeminierten Kaisers ohne Substanz­ einbuße verkraften. Keiner der Handlungsträger nach 455 - auch nicht so mächtige wie Majorian oder Rikimer - hat es vermocht, in demselben Ausmaß wie Aëtius eine auf das Reichsganze bezogene Bündelung informeller und in­ stitutioneller Macht zustande zu bringen. Statt dessen splitterte sich das einst auf die theodosianische Dynastie und ihren «starken Mann» ausgerichtete Loyalitätsgeflecht immer mehr in seine regionalen und schichtenspezifischen Bestandteile auf und schwächte so die res publica als Ganzes. Das Ende des Weströmischen Reiches war nahe.

Euagrios 2,7; Greg. Tur. Franc. 2,8; Georg. Kedr. 1,605 (Bekker) u. Io. Mal. chron. 360 (Dindorf) = 281 (Thurn). Zur Ermordung Valentinians III. und ihren unmittelbaren Folgen u. a. Seeck, Untergang, Bd. 6, 320ff.; Bury, Later Roman Empire, 299f.; Stein, Bas-Empire, 349 f.; Oost, Galla Placidia Augusta, 303 ff. u. Henning, Periclitans res pu­ blica, 19ff. u. 118ff. 429 Io. Ant. frg. 201,6 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 73-82). Schon am Tag nach dem gelungenen Attentat hatte Petronius Maximus seinen Thronanspruch durchgesetzt.

IV. Aëtius und die Hunnen

Es gehört zu den Gemeinplätzen der Forschung, die enge Verbundenheit des Aëtius mit den H unnen und ihren militärischen Führern hervorzuheben. Schon O .Seeck spricht vom guten Einvernehmen zwischen dem römischen General und Attila, das dem westlichen Kaisertum bis etwa 450 Plünderungen und Kriegszüge analog zu den Territorien des Ostens erspart habe.430 Auch in den beiden anderen großen Synthesen der Zwischenkriegszeit zur Spätantike, bei J. B.Bury431 und E. Stein,432 wird diese Prämisse als selbstverständlich gesetzt. Die gesamte Karriere des Aëtius konnte man in diesem Lichte deuten: «Seine größten Erfolge hat er zunächst mit Hilfe der H unnen, dann gegen sie errun­ gen.»433 Man glaubte sogar, diese eigentümliche politische Prägung des patricius in seiner Jugendzeit verorten zu können, hatte er doch einen gewissen Zeit­ raum als Geisel bei den H unnen verbracht.434 N och die Anfang der 80er Jahre erschienene Aëtius-Monographie von Zecchini stand unter dem Eindruck die­ ser traditionellen Sichtweise;435 abweichende Meinungen hingegen waren eher selten436 und drangen nur bedingt in die Handbuchliteratur vor.437 Je nachdem, ob man zu der Politik des Aëtius Zutrauen hatte oder nicht, konnte man ihm «geschickte Diplomatie» attestieren438 oder ihn als «eine Kreatur der Hunnen» desavouieren.439

430 Seeck, Untergang, Bd. 6, 296f. 431 Bury, Later Roman Empire, 243 f. u. 288. 432 Stein, Bas-Empire, 318. 433 Altheim, Geschichte der Hunnen, 187. 434 So Demougeot, Formation de l’Europe, 513ff. Sie glaubt sogar, daß Aëtius schon als Geisel Beziehungen zu den späteren Hunnenherrschern Attila und Bleda geknüpft hat. 435 Vgl. seine einschlägigen Passagen zur Hunnenpolitik des Aëtius: Zecchini, Aezio, bes. 257ff. Noch jüngst hat Wirth, Attila, 58 vom «Zustand eines gedeihlichen Neben­ einanders» zwischen Aëtius und den Hunnen zumindest bis Ende 439 n. Chr. gespro­ chen; ähnlich auch ebd., 92. 436 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 79 f. 437 Vgl. Demandt, Spätantike, 151 anläßlich der Vergeiselung des Aëtius: «Seitdem besaß er gute Beziehungen zu ihnen (seil, den Hunnen).» J. Martin, Spätantike, 40 hin­ gegen, der sich stark auf die Forschungsergebnisse von Maenchen-Helfen stützt, spricht nur von der «sogenannte(n) Freundschaft zwischen den Hunnen und Aëtius.» 438 So Demandt, Spätantike, 154. 439 So Bona, Hunnenreich, 53.

86

IV Aëtius und die Hunnen

Die Postulierung einer von vor 425 bis mindestens 445 reichenden Freund­ schaft zwischen Aëtius und den H unnen erzwingt gewisse Folgeannahmen, die bei näherem Hinsehen nicht unproblematisch sind. So wäre allein schon eine über nahezu zwanzig Jahre unverändert gebliebene M ilitärdoktrin eine bemer­ kenswerte Tatsache, die an U n Wahrscheinlichkeit gewinnt, wenn man bedenkt, welch vielfältigen und unvorhersehbaren Pressionen der weströmische Staat in demselben Zeitraum ausgesetzt war. Problematisch ist aber auch die Annahme, auf hunnischer Seite habe es in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts ein stabiles politisches Zentrum gegeben, das zu langfristiger Planung ebenso im­ stande wie überhaupt gewillt gewesen sei. Schon eine Lektüre der berühmten Priskos-Passagen zur Gesandtschaft des Jahres 449 bei Attila440 läßt hier Zwei­ fel aufkommen. Aus ihr geht hervor, daß gerade der rasche Wechsel von Inten­ tionen zu Attilas politischer Taktik gehörte, eine Beobachtung, die sich am diplomatischen Vorspiel seines Westfeldzuges 450/51 belegen läßt.441 Ist also eine einheitliche, auf dauerhafte Bündnisse angelegte hunnische Poli­ tik schon für Attila selbst, der doch immerhin der bedeutendste König seines Volkes war, eher fraglich, so gilt dies erst recht für seine Vorgänger. N och in der jüngsten Forschung ist die Ansicht vertreten worden, daß w ir es vom er­ sten Auftreten der europäischen H unnen an mit einem kontinuierlichen hunni­ schen Königtum zu tun hätten.442 Die Machtbildungen Uldins um 405, Rugas um 430 sowie Attilas und Bledas um 445 können dieser These zufolge als Aus­ formungen der einen, an die gens der H unnen gebundenen Herrschaft verstan­ den werden. Freilich ist die Bedeutung der Familienbande in der hunnischen Führungs­ schicht alles andere als klar. Bleda fiel 445 einem Mordanschlag seines Bruders Attila zum Opfer. Beider Vater M undzuc war gerade nicht Teilhaber der Macht des Königs Ruga, der seit dem Tode O ktars um 430 allein die H unnen regiert hat. Ein vierter Bruder dieser Herrschergeneration vor Attila, Oibarsios, lebte noch 449 am Hofe seines Neffen, offensichtlich jedoch ohne hervorgehobene Machtbefugnisse. Schon dieser kurze Einblick in die verwickelten verwandt­ schaftlichen Verhältnisse am hunnischen H of in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts zeigt, daß es nicht ohne weiteres gestattet ist, politische K ontinui­ täten, etwa bezüglich eines dauerhaften Bündnisses mit Aëtius, zu postulieren. Die Vielzahl an potentiellen Machtträgern innerhalb der führenden Schicht des Hunnenreiches läßt eher Gegenteiliges erwarten. In jedem Fall ist die Quellen­ lage derartig diffus und kompliziert, daß sie es nicht erlaubt, gesicherte Aus­ sagen diesbezüglich zu treffen. Berechtigt erscheint statt dessen schon jetzt fol­ 440 Priskos frg. 11-14 (Blockley). 441 Dazu ausführlich unten S. 125 ff. 442 So etwa Bona, Hunnenreich, 35 und noch jüngst Schäfer, Untersuchungen, 166ff.

1. Quellen zum Verhältnis des Aëtius zu den Hunnen

87

gende Aussage: Das Hunnenreich war nicht der politische Monolith, als der es in manchen Quellen und noch in der modernen Literatur unter dem starken Eindruck der Persönlichkeit Attilas erscheint.443 Wenn es im folgenden darum geht, das Verhältnis des Aëtius und damit des Weströmischen Reiches im allgemeinen zu den H unnen zu klären, so ist es vonnöten, die soeben als fragwürdig erwiesenen Prämissen beiseite zu lassen und zunächst das Augenmerk auf die Quellen zu richten, die bezüglich unserer Fragestellung zur Verfügung stehen. In einem zweiten Schritt gilt es Einblick zu gewinnen in die Struktur der hunnischen Machtbildung in Europa und in die Gestaltung ihres Verhältnisses zum Imperium. Vor diesem H intergrund wird die Politik des Aëtius und Attilas, die in die große Auseinandersetzung 451/52 mündete, verständlicher werden.

1. Q uellen zum Verhältnis des Aëtius zu den H unnen Wie so oft bei der Überlieferung des fünften Jahrhunderts sind die uns inter­ essierenden Informationen breit gestreut in den Themen, die sie anschneiden; für eine zweifelsfreie Einordnung in den Geschehnisablauf und eine sichere Interpretation ihres Inhalts bieten sie jedoch häufig zuwenig Material.444 Bei Gregor von Tours finden wir im Rahmen einer größeren, dem Geschichts­ schreiber Renatus Profuturus Frigeridus entnommenen Passage die Mitteilung, daß Aëtius sich zuerst für drei Jahre als Geisel bei den Westgoten aufgehalten habe; dann habe er für einen gewissen - leider vom A utor nicht näher ein­ gegrenzten - Zeitraum in gleicher Funktion bei den H unnen gelebt: Aetius filius a puero praetorianus, tribus annis Alarici obsessus, dehinc Chunorum; post haec Carpilionis gener; ex comite domesticorum et Iohannis cura palatii.445 Die chronologische Einordnung der Geiselhaft des Aëtius bei Alarich ist in der Forschung umstritten. Da letzterer Ende 408 erneut nach Aëtius verlangte,446 muß sie vor diesem Zeitpunkt, zwischen 402 und 408 eingeordnet werden.447 In

443 Nicht zuletzt in bezug auf diese Erkenntnis, die nicht oft genug betont werden kann, sind die Forschungen von Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, bei aller Kritik im Einzelfall, Vorreiter gewesen. 444 Die wichtigsten Quellen finden sich versammelt bei C.D. Gordon, The Age of Attila, 1972 u. K. Dietz, in: W. Menghin u. a. (Hrsgg.), Germanen, Hunnen u. Awaren, 1987, 27-67. 445 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8. 446 Zos. 5,36,1. 447 Vielfach wird ein Ansatz der westgotischen Geiselhaft auf 405/08 bevorzugt; hier­ zu oben S. 23. - Merob. poet. 1-4 bezieht sich, wie Clover, Flavius Merobaudes, 42 schlüssig dargelegt hat, nicht auf den Aufenthalt des Aëtius bei den Hunnen.

88

IV. Aëtius und die Hunnen

jedem Fall fällt der Aufenthalt bei den H unnen in die Zeit nach diesem Er­ eignis. Als Terminus ante quem bietet sich das Jahr 425 an, in dem Aëtius cura palatii des Usurpators Johannes war.448 Daß Aëtius aus seinen in der Geiselhaft geknüpften Kontakten später Vorteile zu ziehen vermochte, wird im weiteren Verlauf der angeführten Gregor-Stelle ausdrücklich bezeugt.449 Wer die K on­ taktpersonen freilich waren und ob sie auch für das politische Vorgehen des Aëtius nach 425 noch ausschlaggebend gewesen oder etwa durch andere ersetzt worden sind, ist nicht sicher zu ermitteln, da w ir über die hunnische Seite zu wenig wissen. Mehrfach ist bezeugt, daß Aëtius bei militärischen Auseinandersetzungen auf hunnische Hilfstruppen zurückgegriffen hat. Erstmals war dies im Rahmen des Bürgerkrieges von 423/25 der Fall, als er im Dienste des Usurpators Johannes ein großes Entsatzheer anwarb und nach Ravenna führte. Zwar traf Aëtius drei Tage zu spät ein, um seinen H errn noch zu retten, doch vermochte er immer­ hin mit Hilfe seiner H unnen Pardon für die eigene Person zu erreichen.450 Im Bürgerkrieg gegen Galla Placidia seit 432 wiederholte sich das Szenario. Aëtius, zunächst von seinen Widersachern vertrieben, kehrte an der Spitze eines vom H unnenkönig Ruga geliehenen Hilfsheeres nach Italien zurück und erkämpfte sich seine schon verloren geglaubte Machtstellung erneut.451 Während für 425 die Rückkehr der hunnischen Truppen ins Barbaricum bezeugt ist,452 könnten sie diesmal zumindest teilweise im Reich verblieben sein, denn in den Jahren nach 435 ist im Rahmen von Aëtius’ Konsolidierungspolitik in Gallien mehr­ fach von ihnen die Rede. Ihre schweren Verluste bei der Niederlage vor Tou­ louse 439 erregten auch bei den Zeitgenossen Aufsehen.453 Scheinbar haben 448 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8. 449 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8: Quibus permotus Iohannis Aetium, id temporis curam palatii, cum ingenti auri pondere ad Chunus transmittit, notus sibi obsidatus sui tempore et familiari amicicia divinctos, [...]. Eine genauere Eingrenzung des Aufenthalts des Aëtius bei den Hunnen als 408/25 ist eigentlich nicht möglich und beruht, wo sie versucht wurde, auf mehr oder minder großen Spekulationen. Als besonders instruk­ tives Beispiel diesbezüglich sei Värady, Das letzte Jahrhundert, 257 ff. genannt (voll­ kommen hypothetische Datierung auf 416). Einen Überblick über die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten gewährt Zecchini, Aezio, 120ff. 450 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8; Prosp. chron. 1288 (s. a. 425); Chron. Gail. 452, 100 (s. a. 425) u. Philost. 12,14 (= Olymp, frg. 43,2 [Blockley]). Siehe hierzu oben S. 32 ff. 451 Prosp. chron. 1310 (s. a. 432); Chron. Gail. 452, 112 (s. a. 433) u. Chron. Gail. 511, 587. 452 Prosp. chron. 1288 (s. a. 425) u. Philost. 12,14 (= Olymp, frg. 43,2 [Blockley]). 453 Zum Einsatz hunnischer Auxilien gegen Bagauden, Burgunden und Westgoten Prosp. chron. 1322 (s. a 435), 1326 (s. a. 437) u. 1335 (s. a. 439); Cassiod. chron. 1226 (s. a. 435) u. 1232 (s. a 439); Sidon, carm. 7,246-248; Hyd. chron. 116 (s. a. 439); lord. Get. 176f. sowie Salv. gub. 7,39.

1. Quellen zum Verhältnis des Aëtius zu den Hunnen

89

sich die hunnischen Auxilien davon nicht erholt, denn mit diesem Datum ver­ stummen die auf sie bezogenen Quellen. Zu einem unbestimmten Zeitpunkt vor 449 muß es zu einem Vertragsab­ schluß zwischen dem Weströmischen Reich und den H unnen gekommen sein, denn Priskos berichtet, daß während der in dieses Jahr fallenden Gesandtschaft auf seiten Attilas davon die Rede gewesen sei. Er forderte von den Römern die Rückerstattung aller Überläufer seit den Zeiten, da Carpilio bei ihm Geisel gewesen war.454 Daß die Vergeiselung dieses ältesten Sohnes des Aëtius mit einem Vertragsabschluß einhergegangen sein muß, ist plausibel und trifft sich mit anderen isolierten Informationen. So wissen wir von Cassiodor, daß sein gleichnamiger Großvater im Aufträge des Aëtius und Valentinians III. mit A tti­ la erfolgreich verhandelt habe; sein Begleiter sei damals Carpilio gewesen, doch ist von einer Vergeiselung desselben an dieser Stelle nicht explizit die Rede.455 Anderenorts erwähnt Priskos, daß Orestes, ein Gefolgsmann Attilas, aus jenem Teil Pannoniens nahe der Save stammte, der infolge eines Vertrages mit Aëtius an die H unnen gefallen sei.456 Die Schwierigkeit besteht nun darin, diese ver­ streuten Informationen in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Aëtius mehrere Verträge mit verschiedenen H unnen­ herrschern vereinbart hat, doch über diese Frage läßt sich ebensogut spekulie­ ren wie über den Inhalt etwaiger Abmachungen. Es wird im weiteren Verlauf ausführlich darauf einzugehen sein, welche Möglichkeiten die Forschung dies­ bezüglich erwogen hat und welche tatsächlich plausibel sind. Am besten sind wir über den Krieg informiert, den Aëtius in den Jahren 451/52 gegen Attila führte. Die Ereignisse rings um die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern sind breit bezeugt, am ausführlichsten bei Gregor von Tours und Jordanes.457 H inzuzuziehen ist die reiche chronikalische und hagiographische Überheferung. Freilich, auch hier ist die Auswahl unserer Informa­ tionen selektiv und oft einseitig, so daß zum Beispiel gerade der genaue Verlauf der Entscheidungsschlacht gegen Attila nicht mehr nachzuvollziehen ist.458 454 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 191-195: συμπέμψειν δέ αύτφ καί ’Ήσλαν Τωμαίοις λέξοντα πάντας τούς παρά σφίσι καταφυγόντας βαρβάρους άπό τών Καρπιλεόνος χρόνων, ος ώμήρευσε παρ’ αύτφ παΐς ών Άετίου τού εν τη έσπεροι 'Ρωμαίων στρατηγού, έκπέμψαι παρ’ αύτόν. 455 Cassiod. var. 1,4,10-12 (Fridh). 456 Priskos frg. 11,1 (Blockley), 2-5: [...] σύν Όρέστη, ός τού 'Ρωμαϊκού γένους ών φκει την πρός τφ Σάφ ποταμφ Παιάνων χώραν τφ βαρβάρφ κατά τάς Άετίου στρατηγού τών έσπερίων Τωμαίων συνθήκας ύπακούουσαν. An anderer Stelle ist von Constantiolus die Rede, άνδρός έκ τής Παιάνων χώρας τής ύπό Άττήλςι ταττομένης; siehe Priskos frg. 11,2 (Blockley), 578 f. 457 Greg. Tur. Franc. 2,6f. u. lord. Get. 185-218. 458 Zur Quellenlage bezüglich der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern ausführ­ lich Täckholm, Aetius u. Barnish, Old Kaspars.

90

IV. Aëtius und die Hunnen

Weitgehend im dunkeln tappen wir auch hinsichtlich der Vorgeschichte des großen Krieges. Warum Attila nach jahrelanger Traktierung des Oströmischen Reiches scheinbar unvermittelt sein Augenmerk auf Ravenna richtete, ist nicht offenkundig und bedarf der Klärung. Die antiken Beobachter haben der soge­ nannten Honoria-Affäre um 450 eine wichtige Rolle diesbezüglich zugemes­ sen,459 doch gibt es auch andere Spuren, die darauf hinweisen, daß allgemein spätestens seit 448 eine Abkühlung des Verhältnisses zwischen dem Westreich und Attila im Gange war.460 Die Rolle des Aëtius selbst während der Gescheh­ nisse bleibt widersprüchlich. Wird ihm für den Gallienfeldzug von 451 überein­ stimmend eine besonnene Kriegsführung attestiert,461 so scheint er im Jahr dar­ auf bei Attilas Italienzug all seine Feldherrnkunst verlernt zu haben. D er Einbruch der H unnen durch die Julischen Alpen konnte jedenfalls nicht ver­ hindert werden, und ob der Rückzug der beutebeladenen Gegner wenigstens zum Teil den Aktivitäten des Aëtius zu verdanken war, geht aus den Quellen nicht mit der notwendigen Klarheit hervor.462 Die wenigen hier angeschnittenen Problemkreise lassen immerhin soviel er­ kennen, daß Aëtius sowohl von seinem persönlichen Lebensweg, als auch von den Erfordernissen der weströmischen Politik her, durchgehend mit dem H u n ­ nenproblem befaßt war. Mehrfach hat er hunnische Kräfte dazu zu bewegen vermocht, sich für seine Zwecke einzusetzen, so daß sich für das Westreich nicht in gleicher Weise ein kostenintensives Wechselspiel von Aggressionen und in die Länge gezogenen Verhandlungen nachvollziehen läßt, wie dies für den O sten zu beobachten ist. Erst am Ende von Aëtius’ Ära kommt es zu einer Eskalation, die dann allerdings - ebenfalls im Unterschied zum O sten - fast den Charakter eines erbitterten Entscheidungskampfes annimmt. Aus all dem geht hervor, daß die Gestaltung des weströmischen Verhältnisses zu den H u n ­

459 Die Überlieferung zur sogenannten Honoria-Affäre ist relativ breit, aber durch schon antike Mutmaßungen und Klatschgeschichten verdunkelt; siehe Marcell. chron. s. a. 434; Theoph. Conf., a. m. 5943 (= Priskos frg. 21,2 [Blockley]); lord. Rom. 328 u. Get. 223 f.; Suda O 404; Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley]) sowie Priskos frg. 20,1 u. 3 (Blockley). 460 Siehe etwa die Flucht des gallischen Bagaudenführers Eudoxius zu Attila im Jahr 448; dazu Chron. Gail. 452, 133 (s. a. 448). Der Anlaß der bei Priskos frg. 11,2 (Block­ ley), 313-355 u. 575-636 geschilderten Gesandtschaft des weströmischen Kaisers bei Attila deutet ebenfalls auf bereits latente Spannungen hin. 461 Prosp. chron. 1364 (s. a. 451): [...] tantaque patncü Aetii providentia fuit, ut rap­ tim congregatis undique bellatoribus viris adversae multitudini non inpar occurreret. 462 Heftige Kritik bei Prosp. chron. 1367 (s. a. 452): [...] nihil duce nostro Aetio secundum prioris belli opera prospiciente, ita ut ne elusuris quidem Alpium, quibus hostes prohiberi poterant, uteretur, hoc solum spebus suis superesse existimans, si ab omni Italia cum imperatore discederet. Ob der bei Hyd. chron. 154 (s. a. 453) genannte Aëtius mit dem patricius des Westreichs identisch ist, ist umstritten. Dazu unten S. 147f.

2.

Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

91

nen - ungeachtet der Anwendung der problematischen Kategorie «Freund­ schaft» für das Verhältnis von Aëtius etwa zu Attila - zumindest phasenweise andere Formen angenommen hat als im Osten. D er Schlüssel zu seinem Ver­ ständnis liegt aber nicht nur in den dürftigen Quellen auf römischer Seite ver­ borgen, sondern ebenso in denen der noch weniger faßbaren hunnischen. Es gilt deshalb, nun einen Blick auf die Strukturen der hunnischen Macht in E uro­ pa zu werfen, wie sie sich seit dem Ende des vierten Jahrhunderts, vor allem aber dann unter der Alleinherrschaft Attilas entwickelt hat.

2. Die Entfaltung der hunnischen M acht in E uropa seit etwa 375 n. Chr. Es ist eine in der Geschichtswissenschaft bis heute unbestrittene Tatsache, daß den H unnen bei der Auslösung der sogenannten Völkerwanderung im späten vierten Jahrhundert eine besondere Rolle zukommt. Sicherlich hat man sich davon abgewandt, ihr Auftreten als gewitterartigen Ansturm primitiver H orden zu begreifen, der eine Schneise vollkommener Verwüstung hinterlassen habe.463 Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat überzeugend herausgearbeitet, daß das militärische Vorgehen der H unnen keineswegs nur von Erfolgen gekrönt gewesen ist.464 Bisweilen waren sie auch zur Zusammenarbeit mit Ravenna und Konstantinopel bereit, ja, durch ihre Machtausdehnung jenseits der Donau ver­ schafften sie dem Reich eine willkommene «Atempause»465 gegenüber den dort ansässigen barbarischen Völkern. Dennoch begreift man das Einwirken der H unnen auf die Mittelmeerwelt heute als einen «protracted process»,466 als einen langsamen, immer wieder neu angefachten Destabilisierungsvorgang, der langfristig zum Zusammenbruch des Westreichs geführt habe.467 463 Diese Sicht beruht mehr oder weniger auf dem Bild, das Ammian von den H un­ nen zeichnet; siehe dens. 31,2,1-11. Zur Einordnung seines Berichts siehe die kritischen Stellungnahmen von Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 7ff. u. Ch. King, AJAH 12, 1987, 77-95. - B.Anke, Studien, hat jüngst die archäologische Hinterlassenschaft der Hunnen und anderer reiternomadischer Völker in Europa umfassend gesichtet und da­ bei die kulturellen Wechselwirkungen mit den Germanen herausgestellt; zusammenfas­ send ders., RGA 15, 2000, 256-261. Sein Werk ersetzt nunmehr das ältere Standard­ werk von J. Werner, Beiträge zur Archäologie des Attila-Reiches, 1956. 464 Lindner, Nomadism, 9: «[...] their victories were few and pyrrhic.» Schon Thomp­ son, Huns, 226 ff., hatte der militärischen Größe Attilas einige Schrammen zugefügt. 465 Wolfram, Reich, 204. Auch W.Pohl, Sfida attilana, 83, weist dem hunnischen «quasi-monopolio sui guerrieri barbari lungo il Danubio» eine wichtige Funktion für die Konsolidierung insbesondere des Westreichs bis in die 450er Jahre zu. 466 Heather, Huns, 37. 467 Ebd., passim.

92

IV Aëtius und die Hunnen

Angesichts der Bedeutung, die man den H unnen für die spätrömische Ge­ schichte zuweist, ist es um so verwunderlicher, daß man über ihre innere Struktur und Verfassung nur wenige sichere Aussagen treffen kann.468 Selbst die Sprache und ethnische Zugehörigkeit bleibt im ungewissen. Zwar scheinen zentralasiatische Elemente eine dominierende Rolle bei der hunnischen Ethnogenese gespielt zu haben, doch ist eine präzise Etikettierung, etwa als Turkvolk,469 zweifelhaft. Ein Traditionszusammenhang mit den aus der chinesischen Geschichte bekannten Xiongnu ist nicht erwiesen.470 Bezüglich des Charakters der hunnischen Sozialstruktur ist die Forschung zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen gelangt.471 Die relative Stabilität primitiver Verhältnisse wurde ebenso postuliert472 wie die Herauskristallisierung eines frühfeudalen Gebil­ des.473 Eine besondere Rolle für die weitere Entwicklung der H unnen wurde dabei der Alleinherrschaft Attilas zugewiesen. U nter seiner Herrschaft zu be­ obachtende Zentralisierungstendenzen konnten als «Beginn eines Beamtenstaa­ tes»474 interpretiert werden. Seine Vision eines vor allem auf der Ausbeutung der seßhaften Bevölkerung beruhenden Imperiums habe die Veränderung der hunnischen Sozialstruktur vorausgesetzt;475 als Hinweise auf einen derartigen Wandel werden immer wieder die attilanischen λογάδες angeführt.476 O b Attila

468 Hierzu zusammenfassend Wirth, Attila, 9 ff. u. 123 ff. sowie Pohl, Hunnen, 253 f. 469 So Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 255 ff., bes. 301 ff.; ebenso mit Einschrän­ kungen O.Pritsak, Harvard Ukrainian Studies 6, 1982, 428-476, bes. 470 und noch neuerdings dezidiert Bona, Hunnenreich, 32ff. Vgl. jedoch die gewichtigen Gegenargu­ mente bei Doerfer, Sprache der Hunnen. Ebenfalls ablehnend Sinor, Historical Attila, 5f. u. Anke, Studien, 5f. 470 Hierzu ebenfalls die bei Doerfer, Sprache der Hunnen gesammelten Argumente mit der negativen Schlußfolgerung ebd., 46. Ebenso Sinor, Historical Attila, 4f.; Wirth, Attila, 15f. u. Pohl, Hunnen, 248. 471 Hierzu der Forschungsüberblick bei Schäfer, Untersuchungen, 66 ff. Schon Maen­ chen-Helfen, Welt der Hunnen, 145 bemerkt dazu: «In keinem Zweig der Hunnenfor­ schung fällt die Diskrepanz zwischen den wenigen Fakten und den Theorien, die darauf errichtet wurden, so auf, wie bei der Erforschung der hunnischen Gesellschaft.» 472 So besonders von Thompson, Huns, 46 ff. Vgl. auch Harmatta, Dissolution, der die Hunnen in die Kategorien der marxistischen Geschichtstheorie einzuordnen ver­ sucht, jedoch ebd., 304 zu dem Schluß kommt: «[...] since, however, the Huns did not pass beyond a certain rudimentary stage either of slavery or of feudal relations, their society had no definite character of its own.» 473 So z. B. Altheim, Geschichte der Hunnen, 280ff. 474 Ders., Attila, 103. 475 Dies ist die These von Wirth, Attila und Byzanz, bes. 57ff. Er hat sie in seiner jüngst erschienenen Monographie zu Attila erneuert; siehe dens., Attila, 9 u. 136ff. Hef­ tige Kritik an Wirths Ausführungen übt Maenchen-Helfen, Attila. 476 So von Wirth, Attila und Byzanz, 65 f. mit Anm. 120; siehe aber auch beispiels­ weise Thompson, Huns, 177ff.; Harmatta, Dissolution, 297ff. und noch jüngst Schäfer,

2. Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

93

allerdings wirklich Visionen von einer ferneren Gestaltung seiner Herrschaft hatte oder sich nicht vielleicht doch nur um das Naheliegende gekümmert hat, muß offen bleiben. Aufgrund der Quellenlage konnte schon K. Bierbach 1906 bezüglich etwaiger Weltreichspläne nur zu folgendem Ergebnis kommen: «Man mag ihm getrost die Absicht zuschreiben. Für die Frage nach der Bedeutung Attilas ist es gleichgültig, was er wollte.»477 Mit Sicherheit haben sich die Möglichkeiten und Ziele der hunnischen Führer im Laufe ihrer politischen Akkulturation in Europa verändert. O b man dabei so weit gehen muß wie R. P. Lindner, der eine Abkehr von der nomadischen Lebensweise aufgrund der ökologischen Gegebenheiten diesseits der Karpaten annimmt, bleibe dahinge­ stellt.478 Immerhin haben seine Beobachtungen den Blick darauf gelenkt, daß die europäischen H unnen nicht nur als Agierende im Lichte unserer dürftigen Quellen wahrgenommen werden dürfen, sondern daß sie ihrerseits gezwungen waren, auf neue Lebensbedingungen Antworten zu suchen.

2.1 Strukturelle Gesetzmäßigkeiten im Konflikt der Hunnen mit dem Reich D er Charakter unserer Überlieferung bringt es mit sich, daß w ir in bezug auf die H unnen noch am besten dann informiert sind, wenn sie in Auseinanderset­ zungen mit dem Römischen Reich gerieten. Es ist deshalb sinnvoll, wie es W.Pohl in verschiedenen Beiträgen versucht hat, das Verhältnis nomadischer Reiterkulturen zur spätantiken Welt ausgehend von ethnologischen und sozio­ logischen Konfliktmodellen zu beleuchten. Im M ittelpunkt seiner Darlegungen standen dabei nicht nur die H unnen des fünften, sondern ebenso die Awaren des sechsten und siebten Jahrhunderts.479 Pohl geht von der Beobachtung aus, daß die barbarischen Völker der Spätan­ tike keineswegs einer Sphäre zugeordnet werden können, die man als «außer­ halb des Reiches» bezeichnen könnte. Durch die Austragung von Konflikten mit Konstantinopel und Ravenna waren sie vielmehr eng auf die römische Staatlichkeit bezogen, so daß H. Wolfram plakativ formulieren konnte: «Wie

Untersuchungen, 150 ff. - Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 147ff. versucht die Be­ deutung von λογάδες gemäß der Lexikonbedeutung auf «auserlesene Männer» zu redu­ zieren. 477 Bierbach, Die letzten Jahre Attilas, 58. 478 Siehe Lindner, Nomadism; Anke, Studien, 139ff. betont aufgrund der archäologi­ schen Befunde mehrfach reiternomadische Eigenheiten (z. B. in der Bewaffnung), die von den Hunnen auch in Europa tradiert und von den Germanen nicht oder nur un­ vollständig übernommen worden sind. - Zu den kulturellen Wechselwirkungen zwi­ schen Hunnen, Germanen und Römern im mittleren Donauraum siehe auch J.Tejral, in: Vallet/Kazanski, Noblesse romaine, 139-154 u. dens., in: Fischer, Germanen, 217-292. 479 Pohl, Awaren; ders., Konfliktverlauf u. ders., Sfida attilana.

94

IV. Aëtius und die Hunnen

sich die O pposition als Teil der Verfassung darstellt, so gehören auch die bar­ barischen Völker zur spätrömischen Staatlichkeit.»480 Selbstverständlich trifft diese Aussage nicht nur auf die H unnen und Awaren, sondern auch auf die zahlreichen germanischen und anderen barbarischen Völker zu, die in der Spät­ antike innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen siedelten und in politischen Beziehungen zu den Römern standen. Auch für die hohe Kaiserzeit ließe sich prinzipiell dasselbe postulieren, wenngleich hier die Rahmenbedingungen und politischen Spielräume noch ganz andere waren. H unnen und Römer standen während des fünften Jahrhunderts in reger Kommunikation miteinander. Dieser Kommunikation lagen bestimmte, immer wiederkehrende Abläufe und Spielregeln zugrunde, zu denen demonstrative Handlungsweisen (z. B. der ostentative Zorn des Hunnenherrschers) und kal­ kulierte Schädigungen (z. B. Plünderungen auf Reichsgebiet) gehörten, die aber bezeichnenderweise nur im Ausnahmefall zu ernsthaften Eskalationen führ­ ten.481 D er rasche Wechsel von offener Konfliktaustragung und Versöhnungs­ versuchen, den man für mittelalterliche Auseinandersetzungen konstatiert hat, läßt sich auch im römisch-hunnischen Verhältnis beobachten.482 Kennzeich­ nend für diese A rt der Konfliktkommunikation ist die Tatsache, daß sie immer in Gang blieb, «auch wenn die Waffen jahrelang ruhen mochten.»483 Denn dem permanenten Konflikt verdankte der H unnenherrscher seine Position innerhalb der Kriegergruppe. Durch die Erpressung von Jahrgeldern und Geschenken steigerte er nicht nur sein Prestige nach innen und sein Überlegenheitsgefühl nach außen, er bekam hierdurch auch die Mittel in die Hand, um die eigene Gefolgschaft auf Kurs zu halten. Man denke nur an Attilas Hinweis während der Krise von 447, im Falle einer Ablehnung seiner Forderungen ουδέ αύτόν έτν έθέλοντα τό Σκυθνκόν έφέξειν πλήθος.484 Die Aussage läßt sich freilich als D ro ­ hung verstehen; sie ist jedoch auch ein Hinweis darauf, unter welchem Erfolgs­ druck der H unnenherrscher stand. Erlahmte die in Gang gesetzte, permanenten Zugewinn an lukrativer Beute versprechende Dynamik, so drohten sich unzu­ friedene Kriegergruppen abzusetzen und auf eigene Rechnung U nternehm un­

480 H. Wolfram, in: E. Chrysos/A.Schwarcz (Hrsgg.), Das Reich und die Barbaren, 1989, 243. 481 Zur theoretischen Grundlegung von Pohls Thesen siehe sein Einleitungskapitel in: ders., Konfliktverlauf, 167ff. Er stützt sich insbesondere auf das Konfliktmodell von N. Luhmann. 482 Ebd., 170ff. 483 Ebd. 184. 484 Priskos frg. 9,1 (Blockley), 7f. Dazu Pohl, Konfliktverlauf, 179 u. Wirth, Attila und Byzanz, 53 f. Auch germanische Heerführer mögen unter demselben Druck gestan­ den haben. Vgl. in diesem Zusammenhang die Reaktion des Ostgotenkönigs Walamir auf die Vorhaltungen der römischen Gesandten bei Priskos frg. 37 (Blockley).

2.

Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

95

gen zu starten.485 Weder Attila noch Theodosius II. oder Valentinian III. konnte es jedoch recht sein, wenn «gentile Anarchie»486 drohte. Der Konflikt war also der «Normalzustand» im Verhältnis zwischen den H unnen und den Römern, ein Konflikt freilich, der zwar permanent schwelte, aber doch nicht der willkürlichen Eskalation überliefert wurde. Selbst wenn der Griff zu den Waffen schon getan war, bot sich doch immer eine Möglich­ keit zur Deeskalation, wenn die römische Seite zu Zugeständnissen bereit war. Diese sind vorwiegend in den materiellen Leistungen greifbar, die sich von Konflikt zu Konflikt erhöhten.487 Eine Deeskalation konnte jedoch auch da­ durch herbeigeführt werden, daß man dem H unnenkönig die Möglichkeit gab, sein wiederhergestelltes oder gesteigertes Prestige zur Schau zu stellen. Dies war etwa der Fall, wenn besonders hochrangige Gesandte die römische Sache vertraten488 oder wenn Forderungen, die Einzelpersonen aus dem Macht­ bereich Ravennas oder Konstantinopels betrafen, erfüllt wurden.489 Territoriale Ziele traten demgegenüber ganz offensichtlich zurück. Mit den W orten Pohls: «Gleichsam exemplarisch versucht(e) der H unnenkönig dem Kaiser die K on­ trolle über seine Untertanen streitig zu machen. Dadurch konnte in einem Per­ sonenverbandsstaat die Reichweite der Macht wohl besser augenfällig gemacht werden als durch die Kontrolle über (noch dazu menschenleeres) Territo­ rium.»490 Die Redistribution der Beutegüter und Jahrgelder an seine Gefolgs­ leute ermöglichte es dem Hunnenherrscher, seine Stellung innerhalb seiner Gruppe zu befestigen, w odurch er auch für die Römer berechenbarer wurde. Attila hat dadurch, daß er diese Politik eines «Wechsel(s) von Kriegszügen und Verhandlungen, von Forderungen, Drohungen und Verträgen»491 auf die Spitze trieb, eine auch den Zeitgenossen außerordentlich erscheinende M achtzusam­

485 Gleichgültig, ob man in Attila einen «großen Räuber» sehen darf - so MaenchenHelfen, Attila, 276 - oder ihm höhere Ziele wie Wirth, Attila und Byzanz unterstellt, zumindest für seine inhomogene Kriegergefolgschaft war Beutemachen ein zentrales Motiv, wie Bierbach, Die letzten Jahre Attilas, 56ff. mit der erforderlichen Nüchternheit feststellt. Siehe auch die ähnliche Einschätzung von Bury, Later Roman Empire, 272 f. 486 Pohl, Konfliktverlauf, 202. So auch ders., Awaren, 208 in bezug auf die Awaren. 487 Bis 447 erhöhten sie sich auf 2.100 Goldpfund jährlich zuzüglich einer einmaligen Abschlagszahlung von 6.000 Pfund; siehe Priskos frg. 9,3 (Blockley), 1-10. 488 Siehe Priskos frg. 11,1 (Blockley), 14-18, wo Attila Verhandlungspartner von konsularischem Rang fordert. Umgekehrt versuchten auch bestimmte römische Kreise eine Monopolisierung der Kontakte mit Attila durchzusetzen; dazu Pohl, Konfliktver­ lauf, 191 f. 489 Die Silvanus-Affäre (Priskos frg. 11,2 [Blockley], 326-355) und die Heiratspläne Attilas für seinen Sekretär Constantius (Priskos frg. 15,4 [Blockley]) sind hierfür gute Beispiele. Siehe in diesem Zusammenhang auch Pohl, Sfida attilana, 71 f. 490 Pohl, Konfliktverlauf, 184. 491 Ebd., 202.

96

IV. Aëtius und die Hunnen

menballung erlangt. U m sie zu erhalten, war er jedoch auf das Reich und die dort produzierten Prestigegüter angewiesen, ja man kann sagen, sie waren erst die Voraussetzung für den Aufbau seiner königlichen Macht.492 Die römischen Kaiser konnten zwar die durch Attila repräsentierte Gefahr weder durch Krieg noch durch Verträge dauerhaft bannen, doch w urden sie auch nicht tödlich bedroht. Als es dann 451/52 doch zum Entscheidungskampf kam, bestanden Ravenna und Konstantinopel die Bewährungsprobe.

2.2 Die hunnische Kriegerkoalition Die H unnen kämpften seit dem Zeitpunkt ihres Auftretens in Europa nicht allein; vielmehr waren sie der M ittelpunkt einer sich stets vergrößernden Kriegerkoalition. Diese Interessengemeinschaft entwickelte sich offensichtlich nicht im Sinne einer Ethnogenese zu einer neuen politischen Einheit weiter. Die germanischen und iranischen Hilfsvölker der H unnen blieben statt dessen in ihrer ethnischen Identität unbehelligt; sie stellten lediglich ihre Kampfkraft dem mobilen hunnischen Herrschaftszentrum zur Verfügung.493 Ihre gentilen O berhäupter - wie etwa um 450 der Gepidenkönig Ardarich und der O stgotenkönig Walamir494 - waren persönlich dem H unnenkönig zur Gefolg­ schaft verpflichtet und oft durch Verwandtschaftsbeziehungen und Geisel­ stellungen an ihn gebunden. D urch die vom Reich erpreßten Tribute und die auf Feldzügen gewonnene Beute waren zusätzlich Mittel vorhanden, um die hunnische wie nichthunnische Gefolgschaft zu disziplinieren und zur dauer­ haften Mitarbeit zu bewegen. Pohl hat am Beispiel der Awaren gezeigt, wie die Zuweisung von Prestige in Steppengesellschaften zur sozialen Differen­ zierung eingesetzt wurde.495 Erfolge in der Jagd und im Krieg sowie die Ver­ fügung über bestimmte Statussymbole waren Elemente eines bestimmten Wertekodexes, dessen Gültigkeit vom König garantiert und immer wieder neu aktualisiert werden mußte. Auf diese Weise konnte es dem H unnenherrscher gelingen, ein politisches System zu schaffen, «das seinen Mitgliedern den ge­ regelten Erwerb von Prestige ermöglichte.»496 Voraussetzung dafür war freilich 492 Pohl, Awaren, 2, ferner ebd., 205, spricht - allerdings in bezug auf die Awaren in einem ähnlichen Zusammenhang von der Partizipation an den Gütern des Mittel­ meerraumes durch eine «Ökonomie der Gewalt». 493 Hierzu Pohl, Gepiden, 244 ff. Ähnlich Schäfer, Untersuchungen, 97 ff., der im Hunnenreich die «Bildung eines interethnischen Großreiches auf stammesgesellschaft­ licher Basis mit weitgehender Autonomie der Stämme» (ebd., 107) sieht. 494 Zu ihren Persönlichkeiten PLRE II Ardaricus u. PLRE II Valamer. 495 Pohl, Awaren, 178 ff. 496 Ebd., 185. Pohl, Konfliktverlauf, 186, sieht im Erwerb und in der Zurschaustel­ lung von Prestige geradezu eine Art von barbarischer «Staatsräson».

2. Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

97

der permanente Zustrom entsprechender materieller G üter aus der mediterra­ nen Kulturzone, mithin also die latente Auseinandersetzung mit dem Römi­ schen Reich. Bei besonders treuem Dienst konnte ein Gefolgsmann bis in die Gruppe jener M änner um den König Vordringen, den Priskos als λογάδες bezeichnet.497 Es ist - wie oben schon kurz erwähnt - bis heute umstritten, was man sich unter diesem Personenkreis vorzustellen hat. Sicherlich handelte es sich nicht um den «Traditionskern der hunnischen Ethnogenese»,498 wie T. Schäfer glaubt, denn im Kreise der λογάδες befanden sich nicht nur H unnen, sondern auch andere Barbaren und sogar Römer.499 Vielmehr kann zumindest für die Zeit Attilas bezüglich der λογάδες von einer am H of des Hunnenkönigs konzen­ trierten, ihm durch persönliche Loyalität verbundenen «internationalen» barba­ rischen Aristokratie gesprochen werden.500 Die Angehörigen dieses Kreises er­ freuten sich nicht nur bei Attila, sondern auch bei den Römern großer Anerkennung; sie dienten wechselseitig als Diplomaten und vermochten ihr Prestige auf beiden Seiten durch Erhalt von Geschenken und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu steigern. Auch nach Attilas Tod 453 war für viele λογάδες die Tür zum politischen Engagement nicht verschlossen.501 Die Tatsache, daß die λογάδες zumindest unter Attila eine offensichtlich so wichtige Rolle spielten, hat zu Überlegungen geführt, ob sie von ihm bewußt zur Durchsetzung bestimmter sozial- und machtpolitischer Entwicklungen ein­ gesetzt worden sind.502 Immerhin war die Förderung eines gewissen, durch besondere persönliche Loyalität ausgezeichneten Gefolgschaftskreises geeignet, fremde gentile Eliten in den hunnischen Herrschaftsapparat zu integrieren und gleichzeitig vielleicht althergebrachte, genuin hunnische Stammesstrukturen aufzubrechen.503 Dennoch besteht die Frage, ob eine solche Entwicklung wirk­ lich intendiert war. Die Bildung eines Kreises von herausgehobenen επιτήδειοι oder eben λογάδες kann auch als Begleiterscheinung des rasanten hunnischen

497 Siehe hierzu z. B. den Gesandtschaftsbericht bei Priskos frg. 11-14 (Blockley), der in vielfacher Weise die Bedeutung und das Verhalten der λογάδες aufzeigt. 498 Schäfer, Untersuchungen, 241. 499 Nämlich Orestes, der spätere patricius und Vater des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus. Eine Liste mit den von Priskos mit Namen genannten λογάδες bietet Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 147. 500 So Pohl, Gepiden, 245. 501 Das beste Beispiel hierfür ist der oben erwähnte Orestes, der 475 einen neuen, wenn auch kurzen Karrierehöhepunkt im Weströmischen Reich erlebte. Aber auch sein Widersacher Odoaker war Sohn des attilanischen λογάς Edeco. Siehe in diesem Zusam­ menhang auch Pohl, Sfida attilana, 73 f. 502 So etwa bei Wirth, Attila und Byzanz, 65 f. 503 Dies wird auch von Pohl, Gepiden, 245 f. durchaus so gesehen.

98

IV. Aëtius und die Hunnen

Machtzuwachses unter Attila erklärt werden.504 Andererseits ist es keineswegs ausgeschlossen und sogar prinzipiell wahrscheinlich, daß unter früheren H u n ­ nenherrschern ähnliche Personenkreise schon existierten.505 Die Konzentration der iranischen und germanischen Hilfsvölker rings um ein mobiles Machtzentrum war nur ein - wenn auch für dessen Kampfkraft entscheidender - Aspekt der hunnischen Herrschaftsbildung. Ihre Interessen waren bei etwaigen militärischen Unternehmungen stets mit zu berücksichti­ gen; dies kann man etwa daran sehen, daß der Gepidenkönig Ardarich in Attilas Kriegsrat eine bedeutende Rolle spielte.506 Dennoch gab es einen H err­ schaftszirkel, der prinzipiell Angehörigen der hunnischen gens, vielleicht sogar der königlichen Familie im engeren Sinne Vorbehalten war. Nach Attilas Tod im Jahre 453 entzündete sich der Streit daran, daß verdiente nichthunnische Gefolgsleute wie eben Ardarich befürchteten, die Söhne des Verstorbenen könnten sich dahingehend einigen, ut ad instar familiae bellicosi reges cum populis mitterentur in sortem ,507 Die Kriegerkoalition, die die H unnen im Laufe des fünften Jahrhunderts geschaffen hatten, war eben vor allem ein Inter­ essenverband, der durch das Prestige seiner hunnischen A nführer immer wieder neu legitimiert werden mußte. Energische Leitfiguren, wie es Uldin, Ruga und Attila offensichtlich waren - andere Figuren wie etwa Charaton, O ktar und Bleda bleiben für uns bloße Schattengestalten - , hatten dies vermocht. Sie schmiedeten einen Verband, dem sich Ende der 440er Jahre kein Barbaren­ stamm nördlich der Donau mehr entziehen konnte. Die Führer der einzelnen gentes mußten sich entscheiden, ob sie mit Attila gingen oder einen Ausgleich mit dem Kaiser im Osten oder Westen suchten. Viele wählten damals die «hunnische Alternative»508 und damit eine Daseinsform, die in vielem «un modello di vita differente»509 war gegenüber den Möglichkeiten, die das Reich bot.

504 So grundsätzlich Wirth, Attila und Byzanz, 65 f. mit Anm. 120, wenngleich auch er den λογάδες eine wichtige Funktion bei der Stabilisierung von Attilas Macht nach 447/48 zuweist. 505 Siehe etwa die bei Soz. 9,5,4 erwähnten λοχαγοί des Hunnenkönigs Uldin. Ob der angedeutete Zusammenhang besteht, ist natürlich aufgrund der Quellenlage nicht nach­ weisbar; positiv Thompson, Huns, 63 f. u. 182, ablehnend hingegen Harmatta, Dissolu­ tion, 291 f. u. Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 48 f. 506 lord. Get. 199. Jordanes spricht allgemein von consilia, doch trifft er die Aussage anläßlich von Attilas Gallienzug 451, also im Hinblick auf militärische Ereignisse. 507 lord. Get. 259 (= Priskos frg. 25 [Blockley], 6f.). 508 So die plakative Kapitelüberschrift bei Wolfram, Reich, 183. Was ein Leben nach der «hunnischen Alternative» für die germanischen gentes in Attilas Machtbereich be­ deutete, zeigt ders., in: Bäuml/Birnbaum, Attila, 16-25. 509 Pohl, Sfida attilana, 73.

2. Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

99

Dabei war das Besondere der Hunnenherrschaft gar nicht ihr zentralasia­ tisch-nomadischer Charakter.510 Eine Reihe uns bekannter H unnen, allen voran Attila selbst, trug germanische Namen.511 Der hohe Grad an organisatorischer und militärischer Spezialisierung war zwar furchterregend, bot aber den an ihr Teilhabenden auch ein hohes Maß an Sicherheit. Erleichternd kam hinzu, daß sich im Laufe der Zeit die Kampftechnik der H unnen unter dem Einfluß der europäischen Naturgegebenheiten immer mehr an das Bekannte angleichen mußte.512 Die Fähigkeit nomadischer Kriegergesellschaften zur effektiven Kon­ trolle weiter Räume allerdings war ein Erbteil aus der Steppe und kam den H unnen beim Aufbau ihrer Macht zugute. Die hierarchische D urchstrukturie­ rung der Gruppe bei gleichzeitig großer Flexibilität gegenüber neu H inzukom ­ menden ließ die hunnische Kriegerkoalition für interessierte Außenstehende berechenbar erscheinen und bot ihnen reale Perspektiven. Offenkundig fühlten sich die bereits in sie eingetretenen iranischen und germanischen Hilfsvölker in ihr prinzipiell gut aufgehoben. Etwaige Spannungen wurden durch permanente Aggression und Kampfbereitschaft nach außen abgelenkt. Auch wenn die Entwicklung besagter nichthunnischer G ruppen sich fortan unter der Decke der Hunnenmacht und damit für uns weitgehend unsichtbar vollzog, kamen bereits eingeleitete Prozesse der Ethnogenese nicht zum Stillstand. Als nach 453 die hunnische Herrschaft zerfiel, konnten viele Stammesgruppen wieder an bereits vorhandene Traditionskerne anknüpfen. Allerdings waren die gentilen G ruppen innerhalb des Attilareiches vielfach sehr instabil. Die Bedeu­ tung ihrer Anführer bei Hofe hing ganz von ihrem Prestige und ihrer persön­ lichen Loyalität ab. Da die hunnische Herrschaftsweise - wie bereits betont als Machtausübung über Personen, nicht in erster Linie über Territorien prakti­ ziert wurde und obendrein in sich ständig erneuernder Dynamik von Aggressi­ on zu Aggression fortschritt, war es den einzelnen Hilfsvölkern schwer mög­ lich, eine stabile Identität aufzubauen.513 Bei den Ostgoten führte dieser Sachverhalt nach 453 sogar zu einem vorübergehenden Zerfall der ge«s.514 Die 510 Dies betont Pohl ebd., 79 ff. 511 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 261 ff.; Doerfer, Sprache der Hunnen, 28 ff. und neuerdings G. Schramm, Ein Damm bricht, 1997, 27 ff. 512 Lindner, Nomadism, der 5ff. Beispiele dafür anführt, daß die Hunnen - vielleicht sollte man besser sagen: die für und mit den Hunnen kämpfenden Barbaren - um 450 auch zu Fuß in die Schlacht zogen. Schon Bury, Later Roman Empire, 278f. betont das Vorhandensein von Anpassungsprozessen auch bei den Hunnen. 513 Pohl, Gepiden, 244 spricht von einem «Konglomerat relativ instabiler gentiler Ge­ sellschaften», über das Attila geherrscht habe. Siehe auch die ausführliche Erörterung der Problematik durch P. Heather, in: Pohl/Reimitz, Strategies of Distinction, 95-111. 514 Dazu Pohl, Gepiden, 261. Eine Ausnahme stellen die Gepiden Ardarichs dar, die sich nach 454 aufgrund ihrer intakten bäuerlichen Grundlage im Kerngebiet des ehema­ ligen Attilareiches behaupten konnten.

100

IV. Aëtius und die Hunnen

überlebenden Sieger und Verlierer des Scherbenhaufens, den die Schlacht am Nedao 454 hinterließ, suchten nun ihr Heil in der einzig noch verbliebenen «römischen Alternative». An der Spitze der hunnischen Kriegerkoalition standen Anführer, die in unse­ ren Quellen auf verschiedenartige Weise bezeichnet werden, so als φύλαρχον, άρχοντες, ηγούμενοι, ρήγες/reges und sogar βασιλείς. O . J. Maenchen-Helfen hat zeigen können, daß diese Terminologie, der sich ja Gewährsmänner bedienen, die oft keinen ausreichenden Einblick in die innerhunnischen Strukturen hatten, keinerlei Rückschlüsse auf die tatsächlichen Machtbefugnisse zuläßt.515 Seit dem Ende des vierten Jahrhunderts kennen w ir - beginnend mit U ldin - namentlich hunnische Heerführer, die nördlich der Donau agierten.516 Zweifellos übten sie ihre Macht zunächst einmal nach den Traditionen ihres eigenen, hunnischen Ethnos aus, wie auch immer man diese Herrschaftspraxis etikettieren mag.517 Doch schon U ldin war nicht nur ό την θύννων εχων κατ’ εκείνους τούς χρόνους ήγεμονίαν,518 sondern auch ό ήγούμενος τών ύπέρ τόν Τστρον βαρβάρων.519 Auch er führte also schon eine ethnisch heterogene Kriegerkoalition an. Offensicht­ lich gab es neben ihm auch andere hunnische Führer, über die er gleichwohl eine ήγεμονία ausübte. Diese war durchaus aufkündbar. Als im Jahre 408 Uldin einen neuen Zug gegen das Ostreich unternahm, ließen ihn so viele seiner Ge­ folgsleute im Stich, daß er die Offensive abbrechen mußte.520 Daß auch Attila noch um den Zusammenhalt seiner Kriegerkoalition ringen mußte, ist oben schon hinreichend deutlich geworden.521 Gleich nach seinem Herrschaftsantritt ließ er sich im sogenannten Vertrag von Margus 434 Angehörige seines Volkes ausliefern, die sich seiner Macht - und wohl auch schon der seines Onkels Ruga - offensichtlich widersetzt hatten.522 N och in den 440er Jahren brachte Attila den hunnischen Teilstamm der Akatziren zur Räson und unterstellte ihn fortan seinem Sohn Ellac.523 Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß auch der 515 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 149 ff. mit den entsprechenden Belegstellen. 516 Der bei lord. Get. 130 u. 248 f. erwähnte Hunnenkönig Baiamber bleibt für uns völlig schattenhaft, da er nicht mit dem Reich in Berührung gekommen ist. Er müßte um 375 regiert haben. In diese Zeit versetzt denn auch Schäfer, Untersuchungen, 98f. den Beginn eines durchgehenden Hunnenreiches. 517 Schäfer ebd., 242 verwendet den Begriff «Häuptlingstum». 518 Zos. 5,22,1. 5,9 Soz. 9,5,1. 520 Ebd., 9,5,1-5. 521 Siehe die Diskussion von Priskos frg. 9,1 (Blockley), 7f. oben auf S. 94f. 522 Priskos frg. 2 (Blockley), 40-43. Der Konflikt, der zum Vertrag von Margus führte, hatte mit Auseinandersetzungen begonnen, die schon Ruga mit Opponenten seiner Herrschaft hatte. 523 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 241-259. Zur Einordnung dieses Ereignisses unten S. 116 ff.

2.

Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

101

mächtige Attila über viele hunnische und nichthunnische Völker gebot, aber nicht über alle. Wieviel mehr muß diese Aussage für seine Vorgänger gegolten haben. Erschwerend kam für jeden H unnenherrscher hinzu, daß der Zusam­ menhalt der einmal geschmiedeten barbarischen Kriegerkoalition ständig neu durch militärische Erfolge legitimiert werden mußte. Das Prestige eines Attila konnte zwar eine gewisse Durststrecke überbrücken, wie die Jahre 447 bis 453 n. Chr. zeigen, doch das Schicksal seiner Söhne erweist die ganze Anfälligkeit des Konstrukts, das die Wissenschaft viel zu lange als Weltreich vom Ural bis zum Rhein fehlinterpretiert hat.524 Dynastische Kriterien spielten bei der Stabi­ lisierung der H unnenmacht offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle. Zwar sind die Herrschergenerationen R uga/O ktar und Bleda/Attila verwandtschaft­ lich miteinander verbunden, doch für die Zeit vorher können wir keine Aussa­ gen treffen.525 Es ist auch völlig unklar, nach welchen Prinzipien die Macht un­ ter den Familienmitgliedern verteilt wurde. Daß Attila, so wie er im Gesandtschaftsbericht des Priskos gezeichnet wird, hierbei vielleicht größeren Spielraum hatte als Charaton zwei Generationen vorher, ist denkbar.526 Doch Attila war nur wenige Jahre, von 445 bis 453, Alleinherrscher. Schon die voraus­ gehende Herrschaftsphase, in der er mit seinem älteren Bruder Bleda regierte, bleibt für uns nebelhaft.527 Die Diskussionen um eine mögliche Doppelherr­ schaft bei den H unnen haben jedenfalls zu keinem Ergebnis geführt,528 so daß

524 Siehe z. B. R. Grousset, L’empire des steppes, 1948, 123. 525 Seeck, Untergang, Bd. 6, 282 glaubt, daß Ruga und Oktar Söhne Uldins gewesen sind. Allerdings gibt es hierfür keinen Anhaltspunkt. Auch über die bei Schäfer, Unter­ suchungen, 98 f. u. 166ff. sowie Bona, Hunnenreich, 35 formulierte Hypothese, es habe seit etwa 375 - beginnend mit Baiamber - ein durchgehendes hunnisches Königtum mit bereits ähnlichen Kennzeichen wie später im 5. Jh. gegeben, läßt sich keine abschlie­ ßende Sicherheit gewinnen. 526 Charaton erscheint bei Olymp, frg. 19 (Blockley) als ό των ρηγών πρώτος unter den Hunnen. Bei ihm ist es aufgrund seiner isolierten Erwähnung besonders schwierig, Aussagen über seine Position innerhalb des hunnischen Machtgefüges zu treffen. Bezie­ hungen zu Uldin und zu Ruga/Oktar sind nicht zu erkennen. 527 Schon beim Zeitgenossen Priskos erscheint Attila als treibende Kraft bei den hun­ nischen Aktionen, wie Wirth, Attila und Byzanz, 48 Anm. 39 mit Recht hervorhebt. Demgegenüber hat Bona, Hunnenreich, 56 ff. versucht, zumindest die hunnischen Er­ folge der Jahre 441/42 auf das Konto Bledas zu verbuchen. 528 Dazu Altheim, Attila, 97ff., der zentralasiatische Parallelen für eine Doppelherr­ schaft anführt und - eher skeptisch - Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 62 f. Schon Bury, Later Roman Empire, 275 erwog - ähnlich wie später Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 63 - eine geographische Aufteilung des Machtbereiches zwischen Attila und Bleda. Allerdings widerspricht der personale Charakter der hunnischen Herr­ schaftsausübung einer solchen These. Sie beruhte ja auf der Verteilung von populi, nicht von Territorien. - Zum Problem der Zweiteilung der Hunnenherrschaft zuletzt Wirth, Attila, 15.

102

IV. Aëtius und die Hunnen

es, wie oft im fünften Jahrhundert und erst recht in bezug auf die H unnen, angebracht ist, die W orte Maenchen-Helfens in Erinnerung zu rufen, daß es nämlich «das beste zu sein scheint, die verschiedenen Informationsfragmente bloß zu registrieren und es dabei zu belassen.»529

2.3 Das hunnische Königtum bis hin zu Ruga Seit der Zerschlagung des Ermanarich-Reiches in den 370er Jahren bildeten hunnische Kriegergruppen eine feste und für die Zeitgenossen deutlich erkenn­ bare Größe auf dem ansonsten reichlich unübersichtlichen Kampfterrain nörd­ lich der unteren D onau.530 Es war keineswegs so, daß sich die H unnenherr­ schaft wie ein Leichentuch über O steuropa und die ukrainischen Steppen legte. Ein Domino-Effekt mit sofortigen katastrophalen Wirkungen trat nicht ein.531 Zwar scheinen die Ereignisse rings um die Schlacht bei Adrianopel 378, aus der Distanz betrachtet, eine neue Epoche anzukündigen,532 doch das «Alltagsge­ schäft» an der Donaugrenze bestand auch danach vor allem in der Kontrolle alanischer und gotischer Kleingruppen, die ohne Unterlaß ins Reichsinnere vorzudringen drohten. U nter den Barbaren, die als Konflikt- und Verhand­ lungspartner in unseren Quellen auftauchen, mögen sich auch schon hunnische Krieger befunden haben,533 doch verfügten sie noch nicht über ein eigenes po­ litisches Profil. Ihr Aktionsradius muß schon damals beachtlich gewesen sein. Im Jahre 384 treten H unnen erstmals als römische Hilfstruppen im Westen des Reiches auf.534 E.D em ougeot hat die Rolle, die hunnische Kräfte in dieser Zeit diesseits und jenseits der Reichsgrenzen spielten, folgendermaßen beschrieben: «D’ailleurs, jusqu’à l’époque de Ruas sans doute, les H uns ne pratiquèrent que ce mercenariat collectif, sans caractère national, limité à quelques contrats de recrutement.»535 Die dauerhafte Festsetzung der H unnen nördlich der Donau hatte zur Folge, daß das strategische Gleichgewicht, das im Laufe des vierten Jahrhunderts durch die römischen Kaiser und ihre barbarischen Partner in diesem Raum

529 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 58. 530 Zu dieser frühesten Phase der hunnischen Geschichte in Europa u. a. MaenchenHelfen, Welt der Hunnen, 19 ff. u. Wirth, Attila, 27 ff. 531 Heather, Huns, 5 ff. 532 Immerhin ließ Ammianus Marcellinus mit der Schlacht bei Adrianopel, die das Leben des Kaisers Valens forderte und das Ostreich nahezu ohne Feldheer zurückließ, sein Geschichtswerk enden. 533 So Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 2Iff. 534 Dazu ebd., 30ff. mit den entsprechenden Belegen. 535 Demougeot, Attila et les Gaules, 216.

2.

Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

103

herbeigeführt worden war, sich wachsenden Gefährdungen ausgesetzt sah.536 In dem Maße, wie die hunnische Macht sich in der ungarischen und walachischen Tiefebene konsolidierte, hatten die römischen Regierungen zunehmend mit ger­ manischen G ruppen zu schaffen, die sich den H unnen entziehen wollten und um Aufnahme ins Reich nachsuchten. Dadurch wurde langfristig der staatliche Zusammenhalt des Reiches gefährdet; ad hoc gefundene Lösungen wie die Maßnahmen Theodosius’ des Großen 382 gegenüber den Goten mochten Er­ leichterung verschaffen. Langfristig erwiesen sie sich als problematisch. U m 400 n. Chr. tritt uns mit Uldin ein Hunnenherrscher entgegen, der be­ reits über eine bedeutende Macht verfügte.537 Sein Aktionsradius reichte vom Alföld bis zum Donaudelta; er verkehrte mit Ravenna wie mit Konstantinopel. An seinem Verhalten lassen sich bereits wesentliche Züge hunnischer H err­ schaftspraxis ablesen, die wir in den vorausgegangenen Kapiteln Umrissen ha­ ben. Im Jahre 400 leistete Uldin dem Kaiser Arcadius einen Dienst, indem er für ihn den außer Kontrolle geratenen Gotengeneral Gainas beseitigte.538 Gain­ as hatte nach seinem Scheitern in Konstantinopel versucht, jenseits der Donau, also außerhalb der Reichsgrenzen, Rettung zu finden. Für Uldin, der wohl schon damals als ήγούμενος των υπέρ τόν ’Ίστρον βαρβάρων539 bezeichnet wer­ den konnte, war die Vorstellung, daß eine von ihm unabhängige barbarische Kriegergruppe in Konkurrenz zu ihm agierte, in keiner Weise attraktiv. Indem er Gainas aus dem Weg schaffte, zeigte er, daß er gewillt war, alle Barbaren seines Interessengebietes in die «hunnische Alternative» zu zwingen. Daß ihn diese Tat obendrein dem oströmischen Kaiser nahebrachte, war ein willkomme­ ner Nebeneffekt. Gegenüber dem Westreich läßt sich ein ganz ähnlicher Vorgang beobachten. Im Jahre 406 half Uldin dem Heermeister Stilicho bei der Vernichtung der großen barbarischen Kriegergruppe, die der Gote Radagais über die Alpen bis in die Toskana geführt hatte.540 Radagais war nicht der einzige, der sich damals auf den Weg ins Reich machte. Schon wenige Jahre zuvor waren die Wandalen in Bewegung geraten; Stilicho hatte sie nur mit Mühe im Jahre 401 an der oberen Donau zum Stehen gebracht.541 Ende 406 jedoch machten sie sich mit

536 Heather, Huns, 20. 537 Zu seiner Person und Politik Demougeot, Attila et les Gaules, 215 ff.; A. Lippold, RE 9 A, 1, 1961, 510-512; Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 43ff. u. Bona, Hunnen­ reich, 18 ff. 538 Zos. 5,21,6-22,3; Soz. 8,4,20; Io. Ant. frg. 190; Marcell. chron. s. a. 400 u. 401. 539 Soz. 9,5,1 (allerdings zum Jahr 408). 540 Oros. hist. 7,37,12; Marcell. chron. s. a. 406 u. lord. Rom. 321. Dazu A. Lippold, BHAC 1970 (1972), 149ff. 541 Claud. 26,278-281 u. 414f. Dazu Courtois, Vandales, 39 mit Anm. 4.

104

IV. Aëtius und die Hunnen

anderen iranischen und germanischen Stammesgruppen erneut auf den Weg, überschritten bei Mainz den Rhein und leiteten so eine entscheidende Phase der Völkerwanderung ein, deren mittelbare Folgen den Untergang des West­ reichs wesentlich mitverursachten.542 Die Forschung hat die geschilderten Vor­ gänge mit der zunehmenden Ausbreitung der H unnenm acht nach Westen in Verbindung gebracht.543 Die Barbarengruppen des Donauraums mußten sich nun entscheiden. Wollten sie sich nicht der nun deutlich an Konturen gewin­ nenden hunnischen Kriegerkoalition anschließen, so blieb ihnen nur das Aus­ weichen ins Reich. H eerführer wie der heidnische Radagais jedoch, die weder «hunnische» noch «römische» Barbaren werden wollten, hatten einen schweren Stand. Die claims zwischen den Großmächten waren bereits abgesteckt.544 Bei der gemeinsamen Aktion mit Stilicho 406 sehen w ir U ldin auf dem H ö ­ hepunkt seiner Geltung; man hat erwogen, daß damals der Vertrag geschlossen wurde, demzufolge Aëtius als Geisel zu den H unnen ging.545 Schon wenige Jahre darauf ist es mit Uldins Macht jedoch nicht mehr allzuweit her. Im Jahre 408 scheitert eine Offensive gegen das Oströmische Reich an der Unzuverläs­ sigkeit seiner eigenen Gefolgsleute.546 In den folgenden Jahren treten hunnische Reiter in westgotischen und römischen Diensten auf, aber die Umstände, unter denen diese Engagements zustande kamen, bleiben im dunkeln.547 Von Uldin jedenfalls ist nicht mehr die Rede. Sieht man von dem schattenhaften Charaton ab, der laut O lym piodor um 412/13 bei den H unnen ό των ρηγών πρώτος ge­ wesen sein soll,548 so herrscht auf hunnischer Seite bis zur Herrschaft Rugas in 542 Zu den Quellen Stein, Bas-Empire, 551 f. Anm. 161. 543 So schon Stein, ebd., unter Berufung auf Alföldi, Untergang, 69f. Vgl. aber auch ähnliche Einschätzungen bei Demougeot, Formation de l’Europe, 52Iff. u. Heather, Huns, 16. 544 Wolfram, Reich, 187; ders., Goten, 175f. u. Pohl, Sfida attilana, 83. 545 So Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 50 u. 364 Anm. 266 unter Berufung auf Alföldi, Untergang, 87; ähnlich Wirth, Attila, 34 (Datierung auf die Zeit um 408). Zur Problematik siehe oben S. 23 u. 87f. Eine sichere Lösung ist nicht in Sicht. Eine Vergeiselung im Jahr 409 im Zuge des Hilfegesuchs des Honorius an die Hunnen (Zos. 5,50,1) ist ebenso denkbar (so etwa Demougeot, Attila et les Gaules, 216f. u. dies., Formation de l’Europe, 524 f.), allerdings ist ungewiß, ob es zu einer Hilfeleistung Uldins überhaupt gekommen ist (dazu Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 50). Bereits Ende des Jahres 408 verlangte Alarich nach Aëtius als Geisel (Zos. 5,36,1). Wenn er damals diesbezüglich schon wieder verfügbar war, hätte er nur zwei Jahre bei den Hunnen zugebracht, vielleicht etwas wenig Zeit, um jahrzehntelang wirksame amicitiae zu knüpfen. 546 Soz. 9,5,1-5; dazu Cod. Theod. 5,6,3 (12.04.409). In den Jahren 404/05 hatte Uldin schon einmal das Oströmische Reich überfallen; siehe Soz. 8,25,1 u. Nik. Xanth. 13,35. 547 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 50 ff. 548 Olymp, frg. 19 (Blockley).

2.

Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

105

den 420er Jahren weitgehend Stille. Vielleicht waren innere Konflikte ausgebro­ chen. Die weströmische Regierung - ohnehin durch vielfache Belastungen dau­ erhaft gebunden — konnte die H unnen offensichtlich guten Gewissens sich selbst überlassen. Durch den comes Generid trat in den ihnen zugewandten Reichsteilen sogar eine Konsolidierung ein.549 Erst mit König Ruga betreten wir auch hinsichtlich der Quellen wieder feste­ ren Boden.550 Ihm gelang es offensichtlich nach der vorübergehenden Schwä­ chephase der hunnischen Kriegerkoalition in den Jahren nach 408 die Initiative zurückzugewinnen. Im Jahre 422 erkämpfte er gegen Theodosius II. einen Tri­ but von 350 Goldpfund pro Jahr.551 Wie Uldin operierte Ruga ebenso in Rich­ tung auf das oströmische Thrakien wie auf das weströmische Pannonien. Späte­ stens mit seiner Herrschaft ist die A nkunft der H unnen im ungarischen Donauraum vollzogen.552 Das Kerngebiet ihrer Macht lag von nun an inner­ halb des Karpatenbogens und in der Theißebene.553 Schon um 440 existierten hier hunnische Königsgräber, deren Plünderung Anlaß für kriegerische Ausein­ andersetzungen gab.554 Selbstverständlich strahlte der Aktionsraum der von Ruga und seinem Bruder und Mitherrscher O ktar geführten Kriegergruppen auch in den Osten, in die Walachei und die ukrainischen Steppen, und nach Westen aus.555 Oktar, von dem uns im übrigen praktisch nichts Sicheres be­ kannt ist, soll im Verlauf einer Auseinandersetzung mit rechtsrheinischen Burgunden um 430 ums Leben gekommen sein.556

549 Zos. 5,46,2 zufolge übte Generid ein Generalkommando über die Truppen in Dal­ matien, Oberpannonien, Norikum und Rätien aus. Dazu Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 51. 550 Zusammenfassend Wirth, Attila, 37ff. 551 Croke, Evidence. 552 Heather, Huns, 16 ff. Freilich operierten auch schon Uldin und - wenn Maen­ chen-Helfen, Welt der Hunnen, 49 u. 53 f., richtig liegt - Charaton im Donauraum. Ebd., 32 postuliert er die Anwesenheit der Hunnen in der ungarischen Tiefebene sogar schon für die 380er Jahre. Auch Demougeot, Attila et les Gaules, 217f. sieht bereits einen hunnischen Machtzuwachs in der Donauebene vor Ruga. Diesbezügliche Erwä­ gungen auch bei Wirth, Attila, 32 f. 553 Pohl, Gepiden, 249 ff. 554 Priskos frg. 6,1 (Blockley). 555 Anke, Studien, 147 registriert eine unterschiedliche Konzentration reiternomadi­ scher Funde mit den Schwerpunkten mittlerer Donauraum, nördlicher Pontus und mitt­ leres Wolgagebiet. Im späteren Kernraum von Attilas Macht kann er v. a. Hinterlassen­ schaften militärischer Kontingente nachweisen, nicht jedoch - wie man es erwarten würde - Fürstengräber; siehe ebd., 149f. 556 Sokr. 7,30. Demougeot, Formation de l’Europe, 516f. erwägt für diese Zeit eine durch die römische Wiedergewinnung Pannoniens 427 verursachte Ablenkung der hun­ nischen Vorstöße nach Nordwesten, doch ist die prinzipielle Glaubwürdigkeit der So­ krates-Stelle nicht unumstritten; siehe Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 60 ff.

106

IV Aëtius und die Hunnen

Daß spätestens mit Ruga die H unnen ihren Schwerpunkt nicht mehr jenseits der Karpaten, sondern in der ungarischen Tiefebene hatten, zeigt nicht zuletzt sein intensives Engagement gegenüber dem Westreich. Im Jahre 425 trat er im Bürgerkrieg zwischen Theodosius IL und Johannes für den U surpator ein.557 Die familiaris amicitia mit der ehemaligen Geisel Aëtius mag dabei eine be­ stimmte, vielleicht sogar entscheidende Rolle gespielt haben.558 Dennoch ließen sich die hunnischen Auxilien nicht nur ihr Anrücken, sondern sicherlich auch ihren glimpflich verlaufenen Abzug cum ingenti auri pondere bezahlen.559 Zwei Jahre später vermeldet Marcellinus Comes, nach fünfzig Jahren seien die Pan­ noniae, die Grenzregion zwischen den Alpen und der Donau, von den R ö­ mern wieder unter ihre Botmäßigkeit gebracht worden.560 Es ist viel Tinte dar­ über vergossen worden, was diese isolierte Nachricht zu bedeuten hat.561 Die Zeitangabe per quinquaginta annos führt zurück in die Zeit unmittelbar nach dem Zerbrechen des Ermanarich-Reiches, als eine alanisch-gotische Gruppe unter der Führung des Alatheus und Saphrax von Kaiser Gratian auf pannonischem Territorium angesiedelt wurde. Seither hatte dieser Raum viele Wirrnisse durchlebt, und es ist zweifellos denkbar, daß auch hunnische Streifscharen die 557 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8; Prosp. chron. 1288 (s. a. 425) u. Chron. Gail. 452, 100 (s. a. 425). Theoretisch wäre es möglich, daß Aëtius bei Oktar oder anderen, uns unbekannten Hunnenführern Hilfstruppen warb. Die Tatsache allerdings, daß er schon wenige Jahre darauf erneut deren Unterstützung (Chron. Gail. 452, 112 [s. a. 433]: impetrato auxilio) in Anspruch nehmen konnte - diesmal ist Ruga als König der Hunnen ausdrücklich bezeugt (ebd.: ad Chunorum gentem, cui tunc Rugila praeerat) deutet auf längerfristige, an bestimmte Personen gebundene Kontakte. Hierfür kommt jedoch vor allem Ruga in Betracht. Auch Sokr. 7,43 u. Io. Nikiu 84,81 u. 85 (Zotenberg/Charles) sprechen für Ruga als Unterstützer des Usurpators Johannes. 558 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8: Chunus (!) [ . . .], notus sibi obsidatus sui tempore et familiari amicicia divinctos. 559 Ebd. Demougeot, Formation de TEurope, 516 vermutet auch den Abschluß eines «pacte d 'amicitia» zwecks künftiger Fälle. Zur Johannes-Usurpation und der Rolle der Hunnen und des Aëtius in ihrem Verlauf u. a. Seeck, Untergang, Bd. 6, 90 ff.; Bury, Later Roman Empire, 221 ff.; Demougeot, Attila et les Gaules, 217f.; Stein, Bas-Empire, 282ff.; Sirago, Galla Placidia, 242ff. u. 266f.; Oost, Galla Placidia Augusta, 180ff.; Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 56f.; Zecchini, Aezio, 133 ff.; Bona, Hunnenreich, 47ff. sowie Wirth, Attila, 41 f. Siehe hierzu oben S. 32 ff. 560 Marcell. chron. s. a. 427: Pannoniae, quae per quinquaginta annos ab Hunnis reti­ nebantur, a Romanis receptae sunt. 561 Siehe allein den immerhin bis in die 60er Jahre reichenden Forschungsüberblick bei Värady, Das letzte Jahrhundert, 292 ff. Seine Argumentation ebd., 278 ff. leidet unter der Prämisse, daß er alle Ereignisse des von ihm untersuchten Zeitraums in bezug auf das (angebliche) Schicksal der seit 379 in Pannonien ansässigen Föderaten vorwiegend alanischer und gotischer Herkunft analysiert. Ob aber die Alatheus-Saphrax-Gruppe um 425 noch eine Rolle spielte, ob sie überhaupt noch existierte, ist auch mit allem Scharf­ sinn nicht sicher zu ermitteln.

2. Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

107

faktische Herrenlosigkeit der Pannoniae ausnutzten, um dort ihre Pferde zu tummeln.562 U m rechtliche Besitzansprüche kann es schon deswegen 427 nicht gegangen sein, weil - wie oben breit ausgeführt - hunnische Herrschaft eine Herrschaft über Personen bedeutete, nicht über Territorien. Wenn die west­ römische Regierung deshalb nach der Rückkehr der legitimen Dynastie nach Ravenna hinsichtlich der zum Reich gehörigen Territorien bis zur Donau aktiv wurde, so handelte es sich hierbei um die Bewältigung eines «innenpolitischen» Problems, das möglicherweise sogar erst durch den Heiratsvertrag zwischen Galla Placidia und Theodosius II. von 424 einer Lösung bedurfte.563 Sollten Valentinian III. und Eudoxia wirklich eines Tages heiraten und Teile von Illyrikum in den Besitz des Ostens übergehen, so mußten die betreffenden Territo­ rien zunächst einmal für das Reich gesichert werden. Daß Rugas Möglichkeiten, seine Interessen gegenüber Ravenna zu vertreten, nicht von der Verfügung über ein mehr oder weniger großes Territorium inner­ halb des Reiches abhingen, zeigen die Ereignisse fünf Jahre nach der römischen «Rückeroberung» Pannoniens. Während des Bürgerkrieges zwischen Galla Pla­ cidia und dem inzwischen zu mächtig gewordenen Aëtius wurde letzterer zwar von seinem schärfsten Rivalen Bonifatius bezwungen und in der Folge abge­ setzt.564 Es gelang ihm aber nach einem Attentat auf seine Person die Flucht, und zwar ad Dalmatiam, deinde per Pannonias ad Chunos.565 H ier lieh er sich, impetrato auxilio,566 ein offensichtlich aus H unnen und ihren Verbündeten be­ stehendes Hilfsheer und setzte, solchermaßen ausgestattet, seinen Macht­ anspruch gegenüber der Kaiserinmutter durch. Es war das zweite Mal, daß

562 Daß die Ereignisse seit ca. 375 nicht zwangsläufig ein Ende der Romanitas in Pannonien herbeiführten, zeigen Ä. Salamon/L. Barköczi, in: Straub, Severin, 147-178 u. E.Töth, in: Hänsel, Völker Südosteuropas, 251-264. Hier wie auch im Alpenvorland und an den Rheinstandorten kann von einem Wendepunkt hinsichtlich der kulturellen und politischen Prägung erst ab Mitte des 5. Jhs. gesprochen werden, und auch dann bricht die provinzialrömische Komponente im Fundmaterial keineswegs ab. - Eine zu­ sammenfassende Darstellung zu der Entwicklung in Pannonien seit Ende des 4. Jhs. bietet A. Möcsy, Pannonia and Upper Moesia, 1974, 339 ff. 563 Schon Alföldi, Untergang, 92ff. hat die «innenpolitische» Dimension der Nach­ richt von Marcellinus Comes gesehen. Mit Recht weist er ebd., 94 f. auch darauf hin, daß «Placidias Regierung damals in Gallien und anderswo zu viel Mißerfolge hatte, als daß sie sich gegen die Hunnen hätte wenden können.» 564 Hierzu, insbesondere zur Rolle der Hunnen Prosp. chron. 1310 (s. a. 432); Chron. Gail. 452, 112 (s. a. 433) u. Chron. Gail. 511, 587. Dazu u. a. Stein, Bas-Empire, 321 f.; Sirago, Galla Placidia, 288ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 232ff.; Demougeot, Formation de l’Europe, 517ff.; Zecchini, Aezio, 159ff. u. Bona, Hunnenreich, 52. Eine ausführliche Diskussion der Bürgerkriegsjahre ab 432 oben auf S. 54 ff. 565 Prosp. chron. 1310 (s. a. 432). 566 Chron. Gail. 452, 112 (s. a. 433).

108

IV. Aëtius und die Hunnen

Ruga in die inneren Angelegenheiten des Westreichs eingriff, und es war eben­ so das zweite Mal, daß er dies zugunsten des Aëtius tat. Wie 425 taucht in unserer Überlieferung das Motiv der am idtia auf.567 Von irgendwelchen Gegenleistungen des wieder in seine Position gebrachten Heermeisters ist hin­ gegen in den Quellen nicht die Rede. Dennoch stellten und stellen sie einen wichtigen Gegenstand der Forschung dar. Im M ittelpunkt der Überlegungen stehen dabei etwaige, von Aëtius zu verantwortende Gebietsabtretungen an der Donau, wobei man gewisse Äußerungen von Priskos als Beleg heranziehen zu können glaubt. Insbesondere aufgrund der Stelle φκει την πρός τφ Σάφ ποταμφ Παιόνων χώραν τφ βαρβάρω κατά τάς Άετίου στρατηγού των έσπερίων Τωμαίων συνθήκας ύπακούουσαν568 kamen schon Seeck,569 Bury570 und Stein571 zu der Schlußfolge­ rung, Aëtius habe in den 430er Jahren pannonisches Territorium an die H u n ­ nen abgetreten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese These, etwa von Demougeot572 vertreten, und noch vor wenigen Jahren hat sie Bona573 in seinem H unnenbuch erneuert. Dies ist um so verwunderlicher, als schon in den 60er Jahren Maenchen-Helfen durch eine genaue Interpretation der betreffen­ den Priskos-Stelle nachweisen konnte, daß in ihr von einer formellen A btre­ tung von römischem Territorium, noch dazu an Ruga (die angeführte Stelle bezieht sich auf Attila) nicht die Rede ist.574 Am Ende seiner Interpretation resümierte er: «Es ist denkbar, daß Aetius für Rugas Hilfe mit Land bezahlte. [...] Es ist ebenso möglich, daß er dafür bar in Geld bezahlte; vielleicht schloß er ein Bündnis mit Ruga und versprach, ihm Subsidien zu bezahlen. Vielleicht hat er auch all das gleichzeitig getan. Das sind aber bloße Annahmen.»575 567 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,8 (familiari amicicia) u. Prosp. chron. 1310 (s. a. 432) [quorum amidtia auxilioque usus\. 568 P risk a frg. H,1 (Blockley), 3-5. Die Stelle beschreibt die geographische Her­ kunft des zu den λογάδες zählenden Orestes. 569 Seeck, Untergang, Bd. 6, 115. Er versetzt die vertragliche Abtretung Pannoniens allerdings merkwürdigerweise ins Jahr 431. 570 Bury, Later Roman Empire, 272 mit Anm. 3 (Abtretung von Territorien an der Save und vielleicht der Valeria). 571 Stein, Bas-Empire, 322 (Abtretung von Pannonia II und Valeria). 572 Demougeot, Attila et les Gaules, 217 ff. (Abtretung zumindest der Einkünfte Pan­ noniens an den magister militum Attila). Sehr detailliert, jedoch weitgehend ohne siche­ re Quellengrundlage, auch die Ausführungen bei Värady, Das letzte Jahrhundert, 303 ff. Er sieht die Zuweisung von Föderatenland in der Pannonia II an die Hunnen als einen wichtigen Vertragspunkt an. - Zu weiteren Stellungnahmen siehe den Forschungsüber­ blick bei Zecchini, Aezio, 163 Anm. 84. Er selbst vertritt ebd. die Abtretung von Pan­ nonia II und Savia an die Hunnen als Föderatenland. 573 Bona, Hunnenreich, 52 (Abtretung von Valeria und Pannonia I). 574 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 64 ff. 575 Ebd., 66.

2. Die Entfaltung der hunnischen Macht in Europa

109

Die Ereignisse zu Beginn der 430er Jahre zeigen ebenso wie die in der ersten Dekade des fünften Jahrhunderts, wie sehr die Geschehnisse bei H unnen und Römern schon aufeinander bezogen waren und wie sehr sie aufeinander w irk­ ten. Das Vorgehen Uldins hatte vor Augen geführt, wie die hunnische Macht­ ausbreitung in der ungarischen Tiefebene barbarische G ruppen in Bewegung brachte und zu einer Entscheidung nötigte, sich entweder Uldins Kriegerkoali­ tion anzuschließen oder es mit den Römern zu versuchen. Trotz des desolaten Zustandes, in dem sich die weströmische Politik insbesondere nach 408 befand, boten sich hierin doch begrenzte Perspektiven eines gemeinsamen römisch­ hunnischen Handelns, wie das Radagais-Beispiel zeigt. Wenige Jahrzehnte später haben wir es mit einer anderen Qualität der Zu­ sammenarbeit zu tun. Ganz gleich, wie es um die amicitia zwischen Ruga und Aëtius gestanden haben mag, sicher ist, daß beide von ihrem Zusammenwirken 425 und 432 N utzen hatten. War für den einen die Rückgewinnung der Macht die beste Rechtfertigung seines ungewöhnlichen Vorgehens, Hilfe von jenseits der Reichsgrenzen herbeizuholen,576 so konnte doch Ruga noch viel mehr auf der Habenseite verbuchen. D urch sein zweimaliges, erfolgreiches Eingreifen577 in die inneren Verhältnisse des Weströmischen Reiches war sein Prestige unter seinen germanischen, iranischen und hunnischen Hilfsvölkern sicher stark ge­ wachsen, die Attraktivität seiner Kriegerkoalition größer geworden. Die mate­ riellen Abfindungen und Belohnungen von römischer Seite mochten ein übri­ ges dazutun, um die persönliche Macht Rugas zu steigern und ihn immer mehr über die anderen, konkurrierenden hunnischen ρήγες herauszuheben.578579Dem­ gegenüber war die Zuteilung des einen oder anderen Landstücks in den Pannoniae zweitrangig. S79 Kurz nachdem mit der Hilfe Rugas die Machtverhältnisse im Westen wieder geklärt worden waren, wandte sich dieser gegen das Oströmische Reich, vor­ zugsweise deshalb, weil oppositionelle Hunnenstämme bei Theodosius II. Z u­

576 Seine Widersacher hatten immerhin ebenfalls - wenn auch vergeblich - die föde­ rierten Westgoten zu Hilfe gerufen; siehe Chron. Gail. 452, 113 (s. a. 433). 577 Auch das Eingreifen für den Usurpator Johannes hatte sich für Ruga, zumindest finanziell, ausgezahlt. 578 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 67 fällt ein abgewogenes Urteil über die Möglichkeiten und Grenzen von Rugas Macht. Er erwägt ebd. ein Zugreifen des H un­ nenkönigs über den Diplomaten Plinta auch auf die oströmische «Innenpolitik», analog zu den im Westen bezeugten Ereignissen. 579 Den Ereignissen von 432 angemessen ist die Einschätzung von L. Müsset, Les invasions: les vagues germaniques, 21969, 75: «Par reconnaissance, il (scil. Aetius) les aida à se consolider en Pannonie.» Mehr brauchten die Hunnen nicht.

110

IV Aëtius und die Hunnen

flucht gesucht und diesem ihre Dienste angeboten hatten.580 Möglicherweise ging es in den nun folgenden Verhandlungen auch schon um eine Aufstockung der 422 vereinbarten Jahrgelder von 350 Goldpfund.581 Angesichts des gerade Gesagten war der Versuch, nun den «Marktwert» seiner hunnischen Krieger­ gruppe auch in Konstantinopel zu steigern, durchaus erfolgversprechend. Doch noch bevor eine Einigung in Sicht war, im Jahre 434, starb Ruga, möglicher­ weise durch einen Blitzschlag.582

3. D ie H e rrs c h a ft A ttilas

3.1 Die sogenannte Freundschaft des Aëtius mit Attila

In den Jahren, die auf den Bürgerkrieg mit Galla Placidia folgten, befand sich Aëtius oft in Gallien, um die dortigen Sicherheitsprobleme zu lösen. Bis 439 zogen sich die Kämpfe gegen Westgoten, Burgunden und Bagauden hin; erst danach konnte sich der patricius, pacatis motibus Galliarum,583 dem mittler­ weile von den Wandalen akut bedrohten Italien zuwenden. In jenen Jahren tauchen immer wieder hunnische Auxilien an der Seite des Aëtius selbst oder seiner U nterführer auf.584 Offensichtlich waren sie ein auffallendes Kennzei­ chen seiner Kriegsführung, «Männer fürs Grobe», die nicht nur bei den Fein­ den für Furcht und Schrecken sorgten, sondern bisweilen auch die eigentlich

580 Priskos frg. 2 (Blockley) u. Theodor, hist. 5,37,4. Vielleicht fühlten sie sich durch den Prestigegewinn Rugas in ihrer eigenen Stellung innerhalb der Hierarchie bedroht. Unter den Hunnen, die 434 von den Römern ausgeliefert werden mußten, befanden sich auch παϊδες [. . .] του βασιλείου γένους; siehe Priskos frg. 2 (Blockley), 41. 581 So Croke, Evidence, 350ff. 582 Sokr. 7,43,3; Theodor, hist. 5,37,4 u. Io. Nikiu 84,85 (Zotenberg/Charles). Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 67ff. wollte Rugas Tod in die zweite Hälfte der 430er Jahre verlegen. Siehe jedoch die Gegenargumente bei Croke, Evidence, 355ff. 583 Chron. Gail. 452, 123 (s. a. 439). - Zu den einzelnen Vorgängen siehe den Überblick bei Zecchini, Aezio, 21 Iff. 584 Prosp. chron. 1326 (s. a. 437) u. 1335 (s. a. 439); Cassiod. chron. 1226 (s. a. 435) u. 1232 (s. a 439); Sidon, carm. 7,246-248; Hyd. chron. 116 (s. a. 439); lord. Get. 176f. sowie Salv. gub. 7,39. Die Formulierung bei Prosp. chron. 1335 (s. a. 439), Litorius, qui secunda ab Aetio patricio potestate Chunis auxiliaribus praeerat, zeigt, daß die hunni­ schen Hilfstruppen nicht Auxilien wie andere auch waren, sondern einen zentralen Be­ standteil im militärischen Konzept des Aëtius bildeten. - Zu den archäologischen Zeug­ nissen barbarischer Krieger östlicher Provenienz in Westeuropa siehe im Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius» S. 201 Anm. 1072.

3. Die Herrschaft Attilas

111

zu schützende Provinzialbevölkerung bedrohten.585 Als die H unnen im Jahre 439 bei Toulouse mit ihrem Feldherrn, dem magister equitum per Gallias Litorius eine katastrophale Niederlage erlitten, wurde das Ereignis auch bei Beob­ achtern auf römischer Seite mit Genugtuung zur Kenntnis genommen.586 Es stellt sich die Frage, wie Aëtius zu den hunnischen Auxilien, die ihm offenbar eine beständige Überlegenheit über seine Gegner verliehen, gekom­ men ist. Drei Möglichkeiten bieten sich an: Erstens, Aëtius hat das hunnische Hilfsheer, das ihm die Rückkehr an die Macht ermöglicht hatte, nicht mehr zu Ruga zurückgeschickt, sondern weiter in seinen Diensten beschäftigt.587 Zwei­ tens, das Übereinkommen Rugas mit Aëtius beinhaltete nicht nur die augen­ blickliche, sondern eine langfristige Gestellung von Auxilien.588 Dies würde das Abkommen von 432 in seiner Bedeutung selbstverständlich aufwerten. Es be­ steht jedoch auch noch eine dritte Möglichkeit: Im Jahre 434 starb Ruga, noch während seiner oben erwähnten Verhandlungen mit dem Oströmischen Reich. Schon damals hatte er - trotz oder gerade wegen seines Macht- und Prestige­ zuwachses - mit O pposition auf hunnischer Seite zu kämpfen. Sein plötzlicher Tod wird die ohnehin angespannte Situation keineswegs bereinigt haben. Das aggressive Vorgehen Bledas und Attilas bei der Wiederaufnahme der Verhand­ lungen mit Konstantinopel und die demonstrative Hinrichtung der παΐδες [ ...] του βασιλείου γένους589 unmittelbar nach ihrer Auslieferung durch die Römer zeigt, daß die beiden Brüder ihrer Machtstellung nicht sicher waren.590 Erst das erfolgreich zustande gebrachte Abkommen mit einer Erhöhung des Jahrestri­ buts auf 700 G oldpfund dürfte ihr Prestige so weit gefestigt haben, daß von einem gelungenen Herrschaftswechsel gesprochen werden kann. In der Zwi­ schenzeit jedoch war der Zusammenhalt der barbarischen Kriegerkoalition stark gefährdet. Wie 408/09 beim Scheitern Uldins und 453/54 nach dem Tode Attilas dürften sich auch 434 unzufriedene, sich benachteiligt fühlende G rup­ pen dem Zugriff von Rugas Neffen entzogen haben. Welcher andere Weg aber war ihnen offen als der ins Reich? Es besteht also ein berechtigter G rund zu

585 Ygj jn djesern Zusammenhang die Heldentat des späteren Kaisers Avitus ange­ sichts der marodierenden hunnischen Auxilien des Litorius bei Sidon, carm. 7,242-294. Die Hunnen charakterisiert Sidon, ebd., 248-250 wie folgt: qui proxima quaeque / dis­ cursu, flammis, ferro, feritate, rapinis / delebant, pacis fallentes nomen inane. 586 Siehe insbesondere Salv. gub. 7,39: praesumeremus nos in Chunis spem ponere, illi (scii. Gothi) in deo. 587 So Zecchini, Aezio, 216 und offensichtlich auch Thompson, Huns, 71 ff. 588 Die am häufigsten erwogene Alternative; siehe Värady, Das letzte Jahrhundert, 307ff.; Demougeot, Formation de l’Europe, 517ff. u. Bona, Hunnenreich, 52ff. 589 Priskos frg. 2 (Blockley) 41. 590 Auch Wirth, Attila und Byzanz, 45 ff. betont die Verschärfung der Lage durch den Tod Rugas und den Machtantritt Bledas und Attilas.

112

IV. Aëtius und die Hunnen

der Vermutung, daß sich Aëtius’ Auxilien in Gallien nicht nur aus Angehöri­ gen des 432 geliehenen Hilfsheeres zusammensetzten - diese Möglichkeit bleibt bestehen, ist zumindest nicht widerlegbar - , sondern auch und vor allem aus Unzufriedenen und Strandgut des hunnischen Machtwechsels von 434. Daß Aëtius als amicus des verstorbenen Ruga galt, mag so manchen, mit des­ sen Neffen unzufriedenen Überläufer in seiner Entscheidung bestärkt haben. Die vorgeschlagene Erklärung für die Anwesenheit hunnischer Auxilien im Weströmischen Reich hat den Vorteil, daß sie nicht mehr dazu zwingt, eine Fortführung der amicitia Rugas durch Bleda und Attila zu postulieren.591 Für ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Aëtius und Attila gibt es nämlich keinen expliziten Beleg. Im Gegenteil: Als letzterer sich Ende der 440er Jahre dem Westen zuwendet, tut er dies sogleich in feindseliger Weise, und auch für die vorausgehende Zeit gibt es Hinweise auf Spannungen.592 Zweifellos gab es nach 434 Kontakte zwischen Ravenna und dem H unnenhof in der Theißebe­ ne. Zu einem unbestimmten Zeitpunkt verhandelte Cassiodor der Ältere für Kaiser Valentinian III. und Aëtius mit Attila (offensichtlich nicht mehr mit Bleda).593 Auch für die Geiselhaft von Aëtius’ Sohn Carpilio bei den H unnen muß ein Zeitpunkt nach 434 gesucht werden, denn er war laut Priskos in dieser Funktion an Attilas H of.594 Schließlich ist mehrfach in unseren Quellen von Sekretären die Rede, die Aëtius zu den H unnen gesandt habe. Wir kennen zwei υπογράφεις mit Namen Constantius, wobei der eine aus Gallien,595 der andere aus Italien596 stammte; ein dritter, uns bekannter notarius war der Pannonier Orestes.597 D er Gallier Constantius diente um 440 noch Bleda und

591 Siehe hierzu die auf S. 85 angeführten Belege. Auch Sirago, Galla Placidia, 297 hält Attila und Bleda für «amici di Aezio». Derartige Urteile beruhen praktisch immer darauf, daß aus der Existenz der Hunnenauxilien in Gallien auf generell gute Kontakte des Aëtius zu den Hunnen geschlossen wird. Vgl. etwa Zecchini, Aezio, 258: «Fino dunque al 443 l’atmosfera tra Occidente e Unni era buona.» Bona, Hunnenreich, 53 f., konnte sich auf diese Weise zu der Aussage versteigen, Aëtius sei «letzten Endes eine Kreatur der Hunnen» gewesen; nur scheinbar habe in den 430/40er Jahren ein weströ­ misch-hunnisches «Idyll» geherrscht. 592 Hierzu die grundsätzlichen Erwägungen bei Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 69 ff., an deren Ende die angebliche Freundschaft zwischen Aëtius und Attila entschlos­ sen negiert wird (ebd., 79 f.). 593 Cassiod. var. 1,4,10-12 (Fridh). 594 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 193 f.: [...] από των Καρπιλεόνος χρόνων, δς ώμήρευσε παρ’ αύτφ (scii, τφ Άττήλςι). Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß Carpilio unter Ruga zu den Hunnen kam und unter Attila und Bleda immer noch dort weilte. Von Bleda ist allerdings bei Priskos nicht die Rede. 595 PLRE II Constantius (6). 596 PLRE II Constantius (7). 597 PLRE II Orestes (2) u. Henning, Periclitans res publica, 55 f.

3. Die Herrschaft Attilas

113

Attila gemeinsam;598 die beiden anderen erscheinen erst im Zuge des von Priskos erstellten Gesandtenberichts von 449, in einer Zeit, als die politische Großwetterlage sich bereits stark eingetrübt hatte.599 Können so der Italiker Constantius und Orestes schon einmal gar nicht als Beleg für gute Beziehun­ gen zwischen Aëtius und Attila herhalten, so gilt dies auch für den Gallier Constantius, der aufgrund seines Verhaltens noch vor der Erm ordung Bledas 445 ein schreckliches Ende gefunden hat.600 Gerade sein Schicksal zeigt die Möglichkeiten und Risiken derartiger Existenzen zur Genüge.601 Constantius handelte bei den H unnen nicht als bloßer Schreiber oder gar Entwicklungshel­ fer hinsichtlich der Errichtung eines «Beamtenstaates»,602 er war vielmehr ein Sachwalter römischer Interessen in umfassendem Sinne. Als er während des Krieges von 441/42 Verhandlungen mit dem Bischof von Sirmium auf eigene Faust führte, um mit dem Erlös liturgischer Goldgefäße Gefangene freikaufen zu können, wurde ihm dies zum Verhängnis. D er Gesandtschaftsbericht des Priskos zeigt sehr schön, welche Funktion die notarii bzw. υπογράφεις zu übernehmen in der Lage waren; im günstigsten Fall dienten sie dazu, das per­ sonelle Geflecht zwischen Ravenna und dem H unnenhof immer enger zu ge­ stalten und auf diese Weise mögliche Spannungen frühzeitig erkennen und be­ reinigen zu helfen.603 N och eine weitere Person ist uns bekannt, die Aëtius mit Attila verbindet. Es handelt sich um den Zwerg Zerkon, der - einst ein Höfling des östlichen Heermeisters Aspar - später von den H unnen geraubt wurde und bei ihnen bis zum Tode Bledas 445 verblieb. Attila schenkte ihn dem Aëtius; dieser wie­ derum gab ihn dem Aspar zurück.604 Man hat allen Ernstes von dieser Episode auf freundschaftliche Verhältnisse zwischen den Beteiligten schließen wollen,605

598 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 330-332: άπέσταλτο δέ καν αύτός παρά Άττήλαν τε καί Βλήδαν [. . .] ύπογραφέως χάριν. 599 Der Italiker Constantius kam erst mit der weströmischen Gesandtschaft von 449 an Attilas Hof; siehe Priskos frg. 11,2 (Blockley), 320-326. Wann Orestes in hunnische Dienste trat und ob er dies im Aufträge des Aëtius tat, wissen wir nicht. - Zu den Streitfragen, die die Gesandtschaft veranlaßten siehe Sasel Kos, Embassy, 109 ff. 600 Hierzu Priskos frg. 11,2 (Blockley), 326-355. 601 R. C. Blockley, EMC 31, n. s. 6, 1987, 355-357. 602 Altheim, Attila, 103. 603 Im Falle des Orestes ist dies besonders gut erkennbar. Die weströmische Gesandt­ schaft des Jahres 449 führte eigens dessen Vater Tatulus und Schwiegervater Romulus mit sich, ganz offensichtlich, um eine Verständigung von vornherein zu erleichtern; da­ zu Sasel Kos, Embassy, 108 ff. - Siehe auch die Einschätzung von Demougeot, Attila et les Gaules, 224 f. 604 Priskos frg. 13,2 (Blockley) [= Suda Z 29] u. Priskos frg. 13,3 (Blockley). 605 So Zecchini, Aezio, 29, der aus ihr auf «amichevoli rapporti personali tra Aezio e Aspar» schließt.

114

IV. Aëtius und die Hunnen

doch geht daraus allenfalls ein diplomatischer Austausch von Geschenken her­ vor, nicht mehr. Pohl hat gezeigt, wie gerade in bezug auf die Steppenvölker der H unnen und Awaren gegenseitige Geschenke dabei helfen konnten, auch in extrem gespannter Situation «eine Ebene der Veständigung aufrechtzuerhal­ ten.»606 Zur Illustration besonders guter Beziehungen kann die Zerkon-Episode jedenfalls nicht dienen. Fassen wir die Ergebnisse zusammen: Weder die Operationen hunnischer Auxilien in Gallien nach 435 noch die Anwesenheit weströmischer Sekretäre am hunnischen H of oder der Austausch von Geschenken deuten zweifelsfrei auf ein besonders gutes Verhältnis zwischen Aëtius und Attila hin. Das Bünd­ nis mit Ruga 432 war ein einmaliges, in einer besonderen politischen Situation zustande gekommenes Ereignis gewesen. Höchstwahrscheinlich hat es keine dauerhaften Folgen gehabt. Alles andere würde auch der hunnischen A rt und Weise, Kontakte zum Reich zu pflegen, widersprechen, denn eine langjährige Allianz wäre dem Bestreben, den «Marktwert» der barbarischen Kriegerkoali­ tion nördlich der Donau von Zeit zu Zeit durch massive D rohungen zu heben, hinderlich gewesen.607 Im Jahre 434 waren Attila und Bleda zunächst damit beschäftigt, ihre nach dem plötzlichen Tod Rugas erworbene Machtposition zu festigen. Vom Westreich, das nach dem Bürgerkrieg der letzten Jahre in N o rd ­ afrika und Gallien schwer zu kämpfen hatte, hatten sie weder etwas zu be­ fürchten noch - finanziell - zu erwarten. So wandten sie sich zunächst nach Osten, wo die zögerliche und nachgiebige Politik Theodosius’ II. und seines Hofes für die folgenden eineinhalb Jahrzehnte zufriedenstellende Einkünfte be­ scherte. Aëtius hätte weder durch militärische Stärke noch durch eine beson­ ders geschickte Diplomatie eine andere Entscheidung der Brüder verhindern können. Er nutzte jedoch die unvermutete Atempause, um in der folgenden Zeit seinen Reichsteil soweit wie möglich zu konsolidieren. Als im Verlauf der 440er Jahre dann die Erpressungen der H unnen auch Ravenna erreichten, war er vorbereitet.

3.2 Aktionen der Hunnen während der Samtherrschaft Bledas und Attilas (434-445) Der sogenannte Vertrag von Margus im Jahre 434 sorgte für eine vorüberge­ hende Entlastung Theodosius’ II. an der D onaufront, zumal Bleda und Attila ihre Herrschaft zunächst nach der anderen, dem Römerreich abgewandten Sei-

606 Pohl, Konfliktverlauf, 199. 607 Schulz, Völkerrecht, llOff. hebt den präliminaren Charakter der hunnisch-römi­ schen Verträge als ein grundsätzliches Kennzeichen derselben hervor.

3. Die Herrschaft Attilas

113

te absichern mußten.608 Dennoch rissen die Aggressionen gen Süden in den folgenden Jahren nicht ab. Sie konnten es auch gar nicht, denn nur die Eigen­ dynamik der einmal in Gang gesetzten Beutezüge und Erpressungsversuche hielt die hunnisch-barbarische Kriegerkoalition am Leben. Die vom Reich in die Hände Bledas und Attilas gelangten materiellen G üter steigerten das Presti­ ge der Hunnenkönige, führten hierdurch zu einem neuen Anschwellen der von ihnen geführten Barbarengruppen und lösten so mittelbar eine neue Invasion aus. Sollten die Verantwortlichen in Konstantinopel jemals geglaubt haben, sie könnten die Neffen Rugas nördlich der Donau im Sinne einer Stabilisierung des Vorfeldes des Reiches instrumentalisieren,609 so mußten sie spätestens 441 das Scheitern dieser Konzeption erkennen. Zwar hatten Bleda und Attila das dort drohende barbarische Gewaltpotential weitgehend unter ihre Botmäßig­ keit gebracht, doch setzten sie dieses nun bedenkenlos gegen Theodosius II. ein, um diesen zur Annahme ihrer Forderungen zu bewegen. Die Geschehnisse der 440er Jahre auf dem Balkan sind für Aëtius und das Weströmische Reich nur von zweitrangiger Bedeutung und können deshalb gedrängt dargestellt werden.610 Im Jahre 441 lieferte die Plünderung hunnischer Königsgräber nördlich der Donau durch den Bischof von Margus Bleda und Attila einen willkommenen und sogar gerechtfertigten Anlaß dafür, die Angrif­ fe gegen Konstantinopel wiederaufzunehmen.611 N och ärgerlicher und bedroh­ licher als dieses Ereignis muß es für die Könige gewesen sein, daß Theodosius II. sich in den vergangenen Jahren offensichtlich nicht an die Abmachungen von 434 gehalten hatte.612 Auch später sollten die H unnen immer wieder die Erfahrung machen, daß Verträge mit den Römern nur so lange Bestand hatten,

608 Zum Vertrag von Margus Priskos frg. 2 (Blockley). Dazu u. a. Thompson, Huns, 82 f. u. Wirth, Attila und Byzanz, 46 ff. Nach Vertragsabschluß kämpften Bleda und Attila laut Priskos frg. 2 (Blockley), 44-46 gegen die Sorosger und andere «skythische» Völker. Dazu Demougeot, Formation de l’Europe, 527ff. 609 Diese Vermutung stellt Wirth, Attila und Byzanz, 49 an. 6,0 Die Quellen zur Kampagne von 441/42 sind gesammelt bei Zecchini, Aezio, 177 Anm. 34, die zum Krieg von 447 ebd., 260 Anm. 11. - Behandlung der Thematik u. a. bei Bury, Later Roman Empire, 273ff.; Stein, Bas-Empire, 289ff.; Thompson, Huns, 86ff.; Homeyer, Attila, 69ff.; Demougeot, Attila et les Gaules, 223ff.; Sirago, Galla Placidia, 297ff.; Altheim, Geschichte der Hunnen, 289ff.; Wirth, Attila und Byzanz, 50ff.; Lippold, Theodosius (11), 991 ff.; Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 80 ff.; Demou­ geot, Formation de l’Europe, 534ff.; Bona, Hunnenreich, 56ff. sowie Wirth, Attila, 60ff. u. 69 ff. - Ich folge in meiner Darstellung der beiden Kriege von 441/42 u. 447 der schlüssig begründeten Chronologie Maenchen-Helfens. Ebenso Zecchini, Aezio, 177 Anm. 34 u. Pohl, Hunnen, 251. Eine abweichende Datierung der Ereignisse bietet hin­ gegen R. Scharf, in: ders., Spätröm. Studien, 48-58. 611 Priskos frg. 6,1 (Blockley). 612 Ebd.

116

IV. Aëtius und die Hunnen

wie diese sich schwach fühlten. Dabei zeitigte die oströmische Verschleppungs­ taktik durchaus Erfolge, denn sie zwang den Gegner zu immer ausgedehnteren militärischen Operationen, die ein immer größeres Risiko erforderten. Die ex­ treme Brutalität Attilas insbesondere bei der Kampagne von 447 ist wohl zum Teil durch einen solchermaßen erzeugten Erfolgsdruck zu erklären. Als im Jahre 441 klar war, daß der Kaiser ohne Zwang nicht reagieren w ür­ de, setzten Bleda und Attila zur Großoffensive an.613 In den folgenden zwei Feldzügen eroberten sie mehrere bedeutende Städte wie Viminacium, Margus, Sirmium und Naissos. Das ganze römische Verteidigungssystem an der Donau stürzte zusammen, aber bevor die H unnen über Thrakien auf Konstantinopel vorstoßen konnten, brachen sie die Offensive aus nicht mehr nachzuvollziehen­ den G ründen ab. Theodosius II. ließ sich zu einer vorübergehenden Friedens­ regelung herab.614 Doch bereits ein Jahr später waren die Befestigungen an der Donau wieder instand gesetzt, und ein weiteres Jahr später stellte die römische Seite die 442 vereinbarten Zahlungen ein. Die Verantwortlichen in Konstanti­ nopel glaubten sich dies leisten zu könnten. «Die H unnen hatten sich als schrecklicher Feind erwiesen, sie waren aber noch keine Großmacht.»615 In dieser Situation kam es zu keiner neuen Eskalation, wie man hätte denken können. Es geschah aber etwa anderes: Im Verlauf des Jahreswechsels 444/45 wurde König Bleda von seinem Bruder Attila ermordet.

3.3 Attilas W endung nach Westen 444/45

Die Ermordung B ledas, die doch offenkundig ein Einschnitt für die hunnische Kriegerkoalition gewesen sein muß,616 wird von der Überlieferung ganz unter­ schiedlich datiert.617 Maenchen-Helfen hat in einer detaillierten Analyse ver­

6,3 Wirth, Attila und Byzanz, 50ff. zeigt sehr schön, wie sich 441 die ursprünglich lokal begrenzte Streitfrage um den Bischof von Margus zur großen Eskalation auswuchs. 614 Bönas Einschätzung des Friedens von 442 als eines Erfolges Bledas (ders., H un­ nenreich, 60) stehen die folgenden Ereignisse (Bledas Ermordung 445, Attilas Groß­ offensive 447) entgegen. Den Mißerfolg der Kampagne von 441/42 (mit den mutmaß­ lichen Folgen für Bleda) betont hingegen mit Recht Wolfram, Reich, 190f. 615 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 87. 616 Chron. Gail. 452, 131 (s. a. 446), wo ausdrücklich festgestellt wird, daß Bleda fratris fraude zu Tode gekommen sei. Wie Cassiod. chron. 1243 (s. a. 444) zeigt, mußte Attila die populi seines Bruders erst zur Botmäßigkeit zwingen. - Zecchini, Attila in Italia, 93 sieht in Bleda «un elemento moderato», das nach 445 gefehlt habe. Ähnlich Oost, Galla Placidia Augusta, 28 lf. 617 Die Ansätze schwanken zwischen 441 und 446 n. Chr.; siehe Chron. Gail. 452, 131 (s. a. 446); Cassiod. chron. 1243 (s. a. 444); Theoph. Conf. a. m. 5942 (= Priskos frg. 9,4 [Blockley]); Prosp. chron. 1353 (s. a. 444); Marcell. chron. s. a. 445 u. lord. Get. 181.

J. Die Herrschaft Attilas

117

schiedener Quellen bedenkenswerte Argumente für einen Ansatz zu Beginn des Jahres 445 gefunden.618 Ihm zufolge drohte in der zweiten Jahreshälfte 444 eine militärische Auseinandersetzung zwischen dem Weströmischen Reich und den Hunnen. In der Tat deuten zwei Novellen Valentinians III. aus dieser Zeit darauf hin, daß sich Ravenna unmittelbar bevorstehender Kriegsgefahr aus­ gesetzt sah.619 Auch Merobaudes blickte in seinem Panegyricus anläßlich des dritten Konsulats des Aëtius am 1. Januar 446 auf eine jüngst gemeisterte Be­ drohung durch die saevi reges im N orden zurück.620 Bleda und Attila hatten also noch gemeinsam eine Offensive gegen das Weströmische Reich ins Auge gefaßt. Die Spannungen scheinen allerdings den Winter 444/45 nicht überdauert zu haben, denn schon bald darauf finden wir Attila - und zwar allein, Bleda war also schon tot - in schwere Kämpfe mit den Akatziren verwickelt. Offen­ sichtlich hatten die Römer versucht, dieses wohl am Schwarzen Meer beheima­ tete Volk gegen die H unnen aufzuwiegeln.621 D er neue Alleinherrscher wandte sich diesem Problem jedoch nicht zu, ohne vorher mit Ravenna zu einem Kon­ trakt gekommen zu sein. Die Uberlieferungslage hierzu ist wieder alles andere als rosig. Maenchen-Helfen glaubt eine isolierte Nachricht des Anonymus Valesianus622 mit dem Bericht Cassiodors623 über die erfolgreiche Gesandt­ schaft seines Großvaters kombinieren zu dürfen.624 Demnach hätte Attila sich im Winter 444/45 nach Italien auf gemacht, um dort einen Vertrag auszuhan­ deln. Gegenstand dessen seien unter anderem die bei Priskos bezeugten A b­

618 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 71 ff. 619 Es handelt sich um Novell. Valent. 6,3 (14.07.444) [Neuregelung der Rekrutenge­ stellung] und Novell. Valent. 15 (11.09.444/18.01.445) [Einführung des siliqu aticu m als neue Steuer]. 620 Merob. poet. 1-4. Auch die Verse ebd., 50-97 weisen auf eine Bedrohung von hunnischer Seite im Zeitraum zwischen Aëtius’ zweitem und drittem Konsulat (437/46) hin. Zur Datierung von Merobaudes’ Vers-Panegyricus siehe Clover, Flavius Merobau­ des, 41. 621 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 241-259. Zu den Akatziren ausführlich MaenchenHelfen, Welt der Hunnen, 289 ff. 622 Anon. Vales. 8,38: O restes P an n o n iu sy q u i eo tem pore q u a n d o A ttila a d Ita lia m v e n ity se illi iu n xit et eius n o tariu s fa c tu s fu e ra t. Orestes ist schon 449 als Gefolgsmann Attilas bezeugt, die Nachricht kann sich also nicht auf dessen Italienzug von 452 bezie­ hen. Zwischen 434 und 452 kommt jedoch nur die von Maenchen-Helfen erschlossene Krise von 444/45 als Anlaß für einen Italienbesuch Attilas in Frage. 623 Cassiod. var. 1,4, 10-12 (Fridh). 624 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 77ff.

118

IV. Aëtius und die Hunnen

tretungen in Pannonien gewesen625 sowie die ebenfalls dort belegte Verleihung eines Heermeistertitels an Attila.626 Maenchen-Helfens Überlegungen sind scharfsinnig und überzeugend, aber sie bleiben vielfach H ypothesen, so daß sie in der Forschung auch auf Kritik gestoßen sind. Ebenso verhält es sich jedoch mit den Alternativen, die ihnen entgegengestellt werden.627 Es ist deshalb sicher von N utzen, zunächst den Gesamtzusammenhang der weströmisch-hunnischen Beziehungen ins Gedächt­ nis zurückzurufen, wie er sich uns nach den bisherigen Ergebnissen präsen­ tiert. Sowohl Uldin als auch Ruga, deren Handeln wir aufgrund der Quellenlage noch am besten beurteilen können, haben versucht, eine große barbarische Kriegerkoalition außerhalb des römischen Machtbereichs zu schmieden. Wenn es ihren Zielen nützte - und das heißt: wenn es ihr Prestige steigerte und ihnen zusätzliche (Geld-)Mittel zur Machtausdehnung in die H and gab - , wa­ ren sie bereit, mit Ravenna und Konstantinopel zusammenzuarbeiten. A nson­ sten beobachten wir alle Erpressungs- und Nötigungsversuche, wie sie uns auch bei Attila aufgrund der relativ guten Überlieferung vertraut sind. Das Zusammengehen von König Ruga mit Aëtius im Jahre 432 ist, in diesem Lichte betrachtet, keine langfristig konzipierte, «politische» Tat, sie ist eine ad hoc getroffene Entscheidung, die beiden Seiten vor allem aktuellen N utzen ver­ schaffte. Wäre Ruga nicht schon 434 überraschend gestorben, so hätte er mit dem durch sein westliches Engagement erworbenen Prestige und Gold seinen Kontrahenten in Ravenna und Konstantinopel noch viel Ärger bereiten kön­

625 Priskos frg. 11,1 (Blockley), 3-5. Dieses Zitat stützt möglicherweise die in Anm. 622 angestellten Überlegungen. Die Stelle handelt davon, daß Orestes aus einem Gebiet an der Save stammte, das von Aëtius vertraglich Attila abgetreten wurde. Wenn die Ein­ ordnung von Anon. Vales. 8,38 in den Kontext der weströmisch-hunnischen Krise 444/ 45 stimmt, dann hat Orestes seinen Dienst bei Attila aufgenommen, als er dessen Unter­ tan wurde. Der Zusammenhang war Priskos vielleicht sogar noch präsent. 626 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 627-631: ήν δ’ (ή) αξία, ής ό Κωνσταντίολος έπεμνήσθη, στρατηγού Τωμαίων, ής χάριν ό Άττήλας παρά βασιλέως έδέδεκτο τό του φό­ ρου έπικαλύπτοντος όνομα, ώστε αύτφ σιτηρεσίου προφάσει του τοΐς στρατηγοϊς χορηγού­ μενου τάς συντάξεις έκπέμπεσθαι. Aus der Aussage des Constantiolus geht nicht mit Sicherheit hervor, ob das Heermeisteramt von Theodosius II. oder von Valentinian III. an Attila verliehen worden ist. Freilich wird sie von einem Weströmer getroffen, und Priskos glaubt dessen Worte mit dem angeführten Satz präzisieren zu müssen. All das und die Tatsache, daß von der Verleihung eines Heermeistertitels an Attila durch Theo­ dosius II. - trotz der besseren Quellenlage im Osten - nichts bekannt ist, deutet auf die von Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 79 erwogene Lösung. 627 Siehe in diesem Zusammenhang Zecchini, Aezio, 261, der Maenchen-Helfens Re­ konstruktion einer Krise im Winter 444/45 ebd. als «isolato e immotivato» bezeichnet und die Gesandtschaft Cassiodors d. Ä. und Carpilios auf 448 datiert.

J. Die Herrschaft Attilas

119

nen. Seine Nachfolger Bleda und Attila setzten diese «Politik» nahtlos fort, wie der Vertrag von Margus und die Kampagne von 441/42 zeigen. Die im Rahmen von Maenchen-Helfens Argumentation angeführten Stellen bei Priskos weisen nun auf Vertragsinhalte hin, die über aktuelle Abmachungen wie die Uldins und Rugas weit hinausgehen: Abtretung von Reichsgebiet, Ver­ leihung eines Heermeistertitels. Am besten ließe sich noch die Vergeiselung Carpilios in die Zeit vor 434 datieren, denn auch Aëtius selbst hatte seine Zeit als Geisel offensichtlich einem ephemeren Militärabkommen zwischen den H unnen und H onorius zu verdanken.628 Allerdings betont Attila in der betref­ fenden Priskos-Stelle ausdrücklich, Carpilio sei παρ’ αύτφ Geisel gewesen;629 selbst wenn er also in Folge des Abkommens von 432 zu den H unnen gekom­ men wäre, so müßten wir annehmen, daß er nach Rugas Tod 434 zunächst nicht nach Ravenna zurückkehrte. Angesichts des situationsbezogenen Charak­ ters des Ruga-Aëtius-Abkommens wäre dies verwunderlich. Abgesehen davon wäre es auch seltsam, daß Attila erst anläßlich der Gesandtschaft von 449 auf Mißstände bei der Auslieferung von Überläufern aufmerksam machte,630 nach­ dem zumindest 444/45 schon die Möglichkeit dazu gewesen wäre. Es ist des­ halb plausibler, die Geiselhaft Carpilios an den Zeitpunkt der Priskos-Gesandtschaft heranzurücken und mutmaßlich auf den Winter 444/45 zu datieren.631 Carpilio begleitete Cassiodors Großvater zu Attila,632 verblieb aber im Gegen­ satz zu diesem an dessen Hof. Zu einem unbekannten Zeitpunkt vor dem neuer­ lichen Beginn der weströmisch-hunnischen Spannungen 448/49 muß er aller­ dings nach Ravenna zurückgekehrt sein. Wie bereits gesagt, gehen die bei Priskos genannten Vertragsinhalte über eine situationsbezogene, ephemere Regelung hinaus. Die Tatsache, daß man dies als ein N ovum in den römisch-hunnischen Beziehungen bezeichnen muß, führt zu der Frage, wie es dazu kommen konnte. N u r die Persönlichkeit Attilas und eine durch ihn bewirkte qualitative Veränderung der hunnischen Politik gegen­ über dem Reich bietet dafür eine Erklärung. 628 Dies gilt unabhängig davon, ob Aëtius 406 oder 409 zu den Hunnen gekommen ist. - Zu Carpilios Vergeiselung Priskos frg. 11,2 (Blockley), 193 f. Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 371 f. Anm. 481 verzichtet mit Bedacht auf eine Datierung in den Winter 444/45. 629 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 194. 630 Ebd., 171-204. 631 Weitere Datierungsvorschläge sind aufgelistet bei Zecchini, Aezio, 163 Anm. 84. Er selbst tritt mit vielen anderen für das Jahr 434, den Herrschaftsantritt Attilas und Bledas, ein. Andere Forscher favorisieren den Zeitpunkt des Ruga-Aëtius-Abkommens Anfang der 430er Jahre (z. B. Värady, Das letzte Jahrhundert, 309 u. Wirth, Attila, 47) oder gar den Zeitraum während des Bürgerkrieges 424/25 (z. B. Bury, Later Roman Empire, 241). 632 Cassiod. var. 1,4,10-12 (Fridh).

120

IV. Aëtius und die Hunnen

Wenn Attila sich vom römischen Kaiser zum magister militum hat ernennen lassen, so bedeutet dies eine A bkehr vom G rundsatz der prinzipiellen Tren­ nung der römischen und hunnischen Machtsphäre, wie sie von seinen Vorgän­ gern praktiziert worden war. D er Versuch, alle barbarischen Kriegergruppen nördlich der Donau unter hunnischer Vorherrschaft zusammenzufassen und so den die Stabilität der Machtverhältnisse gefährdenden Diffusionsprozeß zwi­ schen dem Barbaricum und dem Reich immer mehr einzuschränken, war ein essentielles Ziel noch bei der Kampagne von 441/42 gewesen.633 Auch künftig war die Auslieferung von Flüchtlingen selbstverständlich ein Thema, besonders wenn es darum ging, bei stockenden Verhandlungen den D ruck auf das Reich zu erhöhen.634 Dennoch beobachten w ir Neues. Die Ernennung zum Heermei­ ster bedeutete, daß Attila nun auf einer ganz anderen Ebene in die inneren Verhältnisse des Westreichs eingreifen, diese quasi ex officio mitgestalten konnte. Als - wenn auch nomineller - General konnte Attila in Anspruch nehmen, Verteidigungsaufgaben für den Kaiser zu übernehmen; zunächst war ein solches Engagement sicherlich in den Räumen denkbar, die ohnehin fak­ tisch in der H and der H unnen waren, also Pannonien im weitesten Sinne. Sol­ chermaßen dürften denn auch die «Abtretungen» zu verstehen sein, von denen Priskos spricht: Es waren Landstriche, die von nun an von dem römischen General Attila «verteidigt» wurden. Somit handelt es sich auch hier nicht um formelle Abtretungen des Westreichs, ebensowenig um Föderatenland, denn die H unnen bedurften keines Landes zwecks Ansiedlung. Die Territorien, die Attila 445 erhielt, waren hingegen das Unterpfand seiner neuerworbenen Machtstellung als magister m ilitum .635 Für die weströmische Regierung war die Regelung des Winters 444/45, die offensichtlich unter größtem militärischen und diplomatischen D ruck zustande gekommen war, mehr als problematisch. Attila war hiermit Tür und Tor zu einem noch intensiveren Eingreifen geöffnet. Cassiodor spricht in seinem, wenn auch rhetorisch verbrämten Bericht über die Gesandtschaft seines G roß­ vaters davon, Attila sei als einer aufgetreten, der in heilloser Verblendung die

633 Diese Intention verbirgt sich hinter der Aufforderung, alle φυγάδες auszuliefern; siehe Priskos frg. 6,1 (Blockley). 634 So etwa erneut im Krieg von 447; siehe Priskos frg. 9,1 (Blockley). 635 Eine solche Deutung trägt der von Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 64 ff. gewonnenen Erkenntnis Rechnung, daß es sich hinsichtlich der von Priskos erwähnten Gebiete nicht um formelle Abtretungen von Reichsgebiet handelt. - Für einen Föderatenstatus der Hunnen sind u. a. Värady, Das letzte Jahrhundert, 307 ff. u. Sasel Kos, Embassy, 105f. eingetreten. - E.Tôth, AAntHung 41, 1989, 197-226, zusammenfassend 222ff., glaubt, daß es im Zusammenhang mit Aëtius’ Hunnenpolitik zu einer Neuord­ nung des pannonischen Raumes gekommen ist, in deren Verlauf eine Provinz Valeria Media im Südostalpenraum konstituiert wurde.

3. Die Herrschaft Attilas

121

Weltherrschaft anstrebte.636 Dasselbe Motiv begegnet allerdings auch bei dem viel nüchterneren Priskos. Er berichtet, daß die weströmischen Gesandten Angst vor dem Tag hatten, da der H unnenkönig mit dem Titel eines στρατηγός 'Ρωμαίων nicht mehr zufrieden sein würde und statt dessen βασιλεύς sein wolle wie die Kaiser in O st und West.637 Der Spielraum, den das Weströmische Reich hatte, um die «Besänftigung» des immerzu eine Bedrohung darstellenden Attila herbeizuführen, wurde immer enger, das Repertoire an Mitteln dazu war nahe­ zu ausgeschöpft.638 Doch auch Attila selbst hatte durch die Annahme des Heermeistertitels einen risikoreichen Weg eingeschlagen. Immerhin war dadurch das Konzept einer «hunnischen Alternative» jenseits des Römischen Reiches aufgebrochen; hunni­ sche und römische Interessen drohten sich, für den Fall, daß Attila seinen Auf­ trag als magister militum ernst nahm, miteinander zu vermischen. Die Folgen dessen waren nicht vorauszusehen und auch nur zum Teil zu kontrollieren. O hne Zweifel bot sich Attila nun die Perspektive, seiner persönlichen, auf Charisma, Prestige und Reichtum beruhenden Stellung innerhalb der von ihm geleiteten barbarischen Kriegerkoalition durch das Heermeisteramt einen quasi institutionalisierten Rahmen zu verleihen. Auch die Heerkönige der germani­ schen gentes, die den Weg ins Reich gesucht hatten und noch suchten, erstrebten die Legitimierung durch den Kaiser, um die eigene, oft umstrittene Machtposi­ tion innerhalb ihrer Wandergruppe zu stabilisieren. Wolfram hat die Folgen dieser Vorgehensweise dargelegt:639 Durch die Verleihung eines militärischen Mandats wurde das betroffene gentile O berhaupt innerhalb seiner gens gestärkt und die Entstehung einer einheitlichen ethnischen Identität unter einem einzi­ gen Königsgeschlecht gefördert. Gegner einer solchen Entwicklung konnten nun um so leichter als Deserteure kriminalisiert werden. Bei Attila sind die Umstände freilich anders als etwa bei den Westgoten.640 Seine Kriegerkoalition war viel zu heterogen, um Operationsfeld einer neuen, riesenhaften Ethno636 Cassiod. var. 1,4,11 (Fridh): Vidit in trepidus q u em tim e b at im p eriu m ; f a d e s illas terribiles et m in aces fre tu s v e ritate d espexit nec d u b ita v it eius altercation ib u s ob v iare, q u i fu r o r e nescio q u o rap ta tu s m u n d i d o m in atu m v id e b a tu r expetere.

637 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 620-636. 638 Zum Motiv der «Besänftigung» des Barbarenherrschers siehe Pohl, Konfliktver­ lauf, 195. 639 Wolfram, Gotisches Königtum, 5 ff. Ausschlaggebend für die erfolgreiche Ausbil­ dung einer gentilen Königsherrschaft war ihm zufolge die Verleihung eines römischen Militäramtes durch den Kaiser und die - dadurch geförderte - Anerkennung eines gen­ tilen Mandats von seiten der gens; siehe ebd., 6. Zum Thema auch ders., Reich, 166ff. u. ders., Goten, 17ff. 640 Alarich wurde 399 zum m ag iste r m ilitu m p e r Illy ricu m ernannt. Wenn Attila nicht nur rein nominell στρατηγός Τωμαίων gewesen ist, so wäre auch in bezug auf ihn am ehesten mit der Verleihung dieses Heermeisteramtes zu rechnen. - Zecchini, Aezio,

122

IV. Aëtius und die Hunnen

genese zu werden.641 Dennoch gibt es Hinweise darauf, daß der Hunnenkönig einen M achtkonzentrationsprozeß zugunsten seiner Familie gefördert hat. Man denke beispielsweise an die Einsetzung seines Sohnes Ellac als Herrscher über die Akatziren nach deren Niederwerfung.642 Auch das Verhalten der Attila­ söhne nach 453 deutet darauf hin, daß sie es vor allem ihrer Abkunft, nicht ihrem Prestige verdanken wollten, Gebieter über die populi ihres Vaters zu sein.643 Ihr völliges Scheitern zeigt, daß Attilas Weg vielleicht problematisch, aber nicht unbegründet gewesen war. Die Legitimierung der Herrschaft durch das persönliche Prestige ihres Inhabers hatte zur Folge, daß bei dessen Tod oder Ausscheiden der Zusammenhalt der Kriegerkoalition massiv gefährdet war. So war es bei Uldin und Ruga gewesen, aber auch Attila selbst stand nach der Ermordung seines Bruders unter Erfolgsdruck.644 Die Institutionalisierung seiner Machtposition durch die Römer konnte seiner ursprünglich vorwiegend auf individuellen Leistungen beruhenden Stellung innerhalb der hunnischen gens und der barbarischen Kriegerkoalition Festigkeit und Dauer verleihen. Der Preis dafür würde langfristig die schrittweise Abkehr von der «hunnischen Alternative» sein, das Erlahmen einer sich stets erneuernden kriegerischen Eigendynamik zugunsten einer Territorialisierung des Machtanspruchs.645 «So groß war die Macht der alten Welt, daß sie ihre Sieger ganz in ihre Formen hineinzwang, wie O doakar auch Theoderich.»646 Attila starb, bevor dies ge­ schehen konnte.

261 f. glaubt, daß durch die Verleihung des Heermeistertitels an Attila eine persönliche Rivalität zwischen dem Hunnenkönig und Aëtius gestiftet wurde. Am Ende habe das Ziel einer «successione ad Aezio nella carica effettiva di generalissimo delPOccidente» (ebd., 266) gestanden. 641 Pohl, Gepiden, 244 ff. weist eigens darauf hin, daß die hunnische Kriegerkoalition den Prozeß einer Ethnogenese nicht vollzogen, sondern lediglich die Kampfkraft vieler gen tes zusammengefaßt hat. Wolfram, Reich, 184 hat deshalb in Anlehnung an R.Wenskus von einem hunnischen «Stammesschwarm» gesprochen. 642 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 241-259. 643 lord. Get. 259 (= Priskos frg. 25 [Blockley], 5-7): n am f ili A ttilae, q u o ru m p e r licentiam libidinis p en e p o p u lu s fu it, gen tes sib i d iv id i a e q u a sorte p o sceb an t, u t a d in star fa m ilia e bellicosi reges cum p o p u lis m itteren tu r in sortem .

644 Seine regen Aktivitäten gegen Ravenna 445 und Konstantinopel 447 zeigen dies. Auch der Feldzug gegen die Akatziren fällt in nicht allzu ferne Zeit nach dem Tode Bledas; siehe Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen; 77 f. 645 Pohl, Sfida attilana, 86 f. sieht in der Tatsache, daß die Hunnen keine Reichsgrün­ dung auf römischem Territorium wie etwa die Germanen vollzogen, eine Ursache für die strukturelle Schwäche der Attilaherrschaft. 646 Bierbach, Die letzten Jahre Attilas, 60.

3. Die Herrschaft Attilas

123

3.4 Attila auf dem H öhepunkt seiner Macht Wohl noch 446 nahm Attila seine Drohungen gegen Theodosius II. wieder auf. Seit zwei Jahren waren keine Zahlungen mehr von oströmischer Seite ge­ tätigt worden, und auch Überläufer wurden schon lange nicht mehr ausgelie­ fert. D er D ruck auf den H unnenkönig von seiten der eigenen Gefolgschaft erhöhte sich ständig, so daß Attila, um die Initiative zu behalten, schließlich die Verhandlungen mit den Römern für gescheitert erklärte und eine Offensive einleitete. Die Hinhaltetaktik der Verantwortlichen in Konstantinopel sollte sich bitter rächen, denn Attila - angesichts seines beschädigten Prestiges stark herausgefordert - «zeigte nun, wozu ein erfolgreicher Heerkönig imstande und verpflichtet war.»647 In einem furiosen Siegeszug drangen die H unnen 447 bis zu den Thermopylen und an die Dardanellen vor. Ganz Thrakien wurde verwüstet, und erst die Mauern Konstantinopels boten vor ihren Angriffen zweifelhafte Sicherheit. Als sich alle Verteidigungsanstrengungen als w irkungs­ los herausstellten, entschloß sich die Regierung, um Frieden zu bitten. Die Bedingungen, die Attila nun mit dem als Emissär ausgewählten Anatolius aus­ handelte, waren härter als alles bisher Gekannte.648 Die Tributrückstände seit 444 mußten durch eine Pauschale von 6.000 Goldpfund beglichen werden. H inzu kamen künftig 2.100 Goldpfund per annum. Eine Pufferzone von fünf Tagesreisen sollte von nun an sicherstellen, daß die Römer an der D onau­ grenze nicht mehr verteidigungsfähig waren. Der H of Theodosius’ II. mußte all dies akzeptieren. Mit seinem Sieg hatte Attila nicht nur bewiesen, daß er «mehr als nur ein Ärgernis für die Römer»649 sein konnte, wenn er alle seine militärischen Mittel konsequent einsetzte. Er hatte auch seinen Machtanspruch gegenüber den eige­ nen Gefolgsleuten eindrucksvoll rechtfertigen können. Andererseits war eine W eiterführung der kriegerischen Dynamik gegenüber dem Reich auf dem kräf­ teraubenden Niveau von 447 kaum möglich. Schon diese Kampagne hatte deut­ liche Schwachstellen auf hunnischer Seite erkennen lassen. Bei einem Zusam­ menstoß am Fluß Utus (Vit) in der Dacia ripensis war es den H unnen zwar gelungen, den römischen Heermeister Arnegisclus in offener Feldschlacht zu besiegen; sie selbst erlitten aber hohe Verluste.650 Den Verteidigern der Stadt Asemus gelang es nicht nur, allen Angriffen des Feindes zu trotzen, sondern

647 Wolfram, Reich, 191. Zu Quellen und Sekundärliteratur bezüglich des Krieges von 447 siehe das auf S. 115 Anm. 610 Angeführte. 648 Priskos frg. 9,3 (Blockley), 1-38 u. frg. 11,1 (Blockley), 1-18. 649 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 94. 650 Marcell. chron. s. a. 447; lord. Rom. 331 u. Chron. Pasch, s. a. 447 (Dindorf).

124

IV. Aëtius und die Hunnen

ihm sogar empfindliche Verluste zuzufügen.651 Wie vermutlich schon 442 w ur­ de die Offensive Attilas in einer fortgeschrittenen Phase des Kampfes durch eine um sich greifende Seuche gebremst.652 D er Sieg von 447 war - wie Maenchen-Helfen mit Recht festgestellt hat 653- Attilas Sieg; er war aber nicht ohne weiteres wiederholbar. Offensichtlich hat auch Attila erkannt, daß das im Anatoliusfrieden Erreichte vorerst nicht zu übertreffen war. Es ist zumindest auffallend, daß er schon sehr bald nach 447 seine Politik gegenüber Konstantinopel mäßigte. Zwar beunru­ higte er die Römer durch die unablässige Aussendung von Gesandtschaften, die auf den vereinbarten Friedensbedingungen beharrten und mit Drohungen nicht sparten;654 tatsächlich aber nahm er deren mangelhafte Umsetzung mit zunächst nicht erklärbarer Langmut hin. Besonders deutlich trat der offenkun­ dig im Gang befindliche Sinneswandel Attilas bei der durch Priskos geschilder­ ten Gesandtschaft des Jahres 449 zutage, in deren Verlauf sogar ein durch den kaiserlichen Eunuchen Chrysaphius geplantes A ttentat auf den H unnenkönig aufgedeckt wurde.655 Attila reagierte auch hier mit ostentativem Zorn und üblen D rohungen - und beließ es dabei. Im Frühjahr 450 unternahmen die Emissäre N om us und Anatolius eine erneute Gesandtschaft ins Barbarenland jenseits der Donau, um die durch die Attentatsaffäre belasteten Beziehungen zu den H unnen entspannen zu helfen. Das Ergebnis kann man als geradezu sen­ sationell bezeichnen:656 Attila erneuerte seine Friedensgarantien, signalisierte Kompromißbereitschaft bezüglich der die Überläufer betreffenden Fragen und zog sich aus der 447 eingerichteten Pufferzone südlich der Donau zurück. Theodosius II. und seine Berater konnten aufatmen, dies um so mehr, als etwa zu dieser Zeit immer deutlicher wurde, worin der G rund für Attilas Sinnes­ wandel lag und welchen neuen Zielen er sich künftig zuzuwenden gedachte: Der O sten war genug traktiert worden; die «Atempause» für den Westen hin­ gegen war vorbei.

651 Priskos frg. 9,3 (Blockley), 39-80. 652 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 89ff. unter Berufung auf Isaak von Antio­ chia u. a. 653 Ebd., 93. 654 Priskos frg. 10 u. 11,1 (Blockley). 655 Ders. frg. 11,1 f. (Blockley). 656 Ders. frg. 15,4 (Blockley).

4. Die Entscheidung im Westen

125

4. Die Entscheidung im Westen 4.1 Die Honoria-Affäre In Ravenna hatte man seit der Krise vom W inter 444/45 mit ihren problemati­ schen Ergebnissen alles mögliche unternommen, um Attila gegenüber nicht aufzufallen. Zwar mußte jedem Beobachter klar sein, daß die Konzentration des H unnenkönigs auf das Ostreich nur vorübergehend war und überdies ei­ nen Vorgeschmack auf die auch dem Westen drohenden Pressionen vermittelte, doch war Ravenna rein kräftemäßig gar nicht in der Lage dazu, aktiv in die Geschehnisse etwa des Jahres 447 einzugreifen und sie im eigenen Interesse zu steuern.657 Die doch wohl als Kritik zu verstehende Mitteilung der Gallischen C hronik von 452, der O sten habe sich Attilas erwehren müssen, cum nulla ab Occidentalibus ferrentur auxilia ,658 stellt deshalb kein gutes Zeugnis für den Realitätssinn ihres Verfassers aus. Das gleiche gilt für moderne Autoren, die unter Berufung auf dieses Zeugnis insbesondere Aëtius eine «mancanza di solidarietà» unterstellen.659 Es war schon beachtlich genug, daß es Valentinian III. und seinem patricius nach dem faktischen Verlust großer Teile Galliens, Spa­ niens und Nordafrikas gelungen war, eine nicht mehr für möglich gehaltene Konsolidierung des westlichen Reichsteils herbeizuführen. In seinem Panegyri­ cus von 446 konnte Merobaudes diese Leistung mit Recht loben.660 Die schein­ bare Stabilität des Hesperium regnum stand allerdings auf tönernen Füßen; nie­ mand konnte eine sichere Prognose für den Fall stellen, daß es Attila einfiel, «to test the maze of complex western political alliances as a prelude to possible expansion.»661 Es ist nicht mehr zeitlich zu fixieren, wann genau nach 447 Attila beschloß, die Stoßrichtung seiner aggressiven Politik zu ändern. Möglicherweise deutet schon die Aufnahme des Bagaudenführers Eudoxius am hunnischen H o f im Jahre 448 darauf hin, daß «Argumente» gesammelt wurden, um ein künftiges Eingreifen im Westen zu rechtfertigen.662 Andererseits war die Aufnahme von 657 Siehe den instruktiven Vergleich der Kräfteverhältnisse zwischen Ost und West bei Wolfram, Gotisches Königtum, 13ff. u. dems., Reich, 162ff. 658 Chron. Gail. 452, 132 (s. a. 447). 659 So Zecchini, Aezio, 260. 660 Merob. poet. Dazu Clover, Flavius Merobaudes, 64 ff. (Text), 13 ff. (Übersetzung) u. 41 ff. (Kommentar). 661 Hohlfelder, Marcian’s Gamble, 55. 662 Chron. Gail. 452, 133 (s. a. 448): E u d o x iu s a rte m edicus , p r a v i , sed exercitati in ge­ n ii , in B a c a u d a id tem poris m o ta d elatu s a d C h u n o s confugit. - Eine größere Bedeutung wird der Flucht des Eudoxius zugewiesen bei Demougeot, Formation de l’Europe, 546 f. mit Anm. 100.

126

IV. Aëtius und die Hunnen

Flüchtlingen der jeweiligen Gegenseite nichts Ungewöhnliches bei H unnen wie Römern. Beim Gallienfeldzug des Jahres 451 jedenfalls hat Eudoxius keine signifikante Rolle gespielt.663 Im übrigen war - wie oben gezeigt - Attilas Verhalten gegenüber Konstantinopel während des Jahres 448 immer noch von Drohungen und Pressionen bestimmt, so daß zumindest für die römischen Be­ obachter eine Kursänderung noch nicht erkennbar gewesen sein dürfte. Erst die Gesandtschaft des Jahres 449, die trotz des Chrysaphius-Komplotts einen glimpflichen Verlauf nahm, zeigte in aller Deutlichkeit, daß Attila eine Ausein­ andersetzung mit Theodosius II. zum jetzigen Zeitpunkt nicht wünschte. Viel­ leicht hatte er damals schon Kenntnis von der sogenannten Honoria-Affäre gewonnen.664 Folgendes hatte sich zugetragen:665 H onoria, die zwei Jahre ältere Schwester Kaiser Valentinians III. war seit der Restituierung ihrer Familie im Westen durchaus mit großen Ehren bedacht worden. M ünzen wurden für sie ge­ prägt.666 Spätestens anläßlich der H ochzeit ihres Bruders erhielt auch sie den Titel Augusta und stand so formell auf einer Stufe mit ihrer M utter Galla Placidia und ihrer Schwägerin Eudoxia.667 Bezüglich der realen Machtausübung frei­ lich hatte H onoria schlechte Karten. N icht nur, daß die wichtigsten Entschei­ dungen im Westen aufgrund der seit etwa 375 vom Heermeister Merobaudes in Gang gesetzten Entwicklung ohnehin von Militärs getroffen wurden; auch in­ nerhalb der Dynastie selbst gab es mit der rüstigen Kaiserinmutter Galla Placidia eine Person, die im Zweifelsfall das H eft selbst in die H and zu nehmen wußte. An eine Rolle wie die der Pulcheria im Osten, die seit ihrer Jugend für ihren Bruder Theodosius II. mehr oder weniger die Regierung führte, war für H onoria im Westen nicht zu denken.668 Es ist möglich, daß die Schwester des Kaisers - wie andere weibliche Mitglieder des theodosianischen Hauses - be­ w ußt von ihren Verwandten aus dem Zentrum der Macht entfernt wurde, um 663 Das schließt freilich nicht aus, daß die Bagaudenproblematik an sich im Verlauf des Gallienfeldzugs von 451 eine Rolle gespielt haben könnte. Für die Ereignisse um Orléans wurde dies erwogen von Loyen, Rôle de Saint Aignan u. bes. von Czuth, Rolle des Volkes; dazu unten S. 138f. 664 So Sasel Kos, Embassy, 109ff., die die Meinung vertritt, die bei Priskos frg. 11,2 (Blockley), 313-355 u. 575-636 erwähnte weströmische Gesandtschaft sei in eben dieser Angelegenheit an Attilas Hof gekommen. Vgl. dazu allerdings unten S. 130 Anm. 688. 665 Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley]); Priskos frg. 20,1 u. 20,3 (Block­ ley); Marcell. chron. s. a. 434; lord. Rom. 328; lord. Get. 223 f.; Theoph. Conf. a. m. 5943 (= Priskos frg. 21,2 [Blockley]) u. Suda O 404. 666 Siehe schon Bury, Honoria, 4f.; zuletzt Kent, Roman Imperial Coinage, Bd. 10, 160 ff. 667 Die Verleihung des Augusta-T\\.e\s an Honoria ist in der Datierung umstritten. Die Ansätze reichen von 425 (Bury, Honoria, 3f.) bis 437/38 (Scharf, Apfel-Affäre, 440). 668 Ein solches Bestreben vermutet allerdings Seeck, Untergang, Bd. 6, 297.

4. Die Entscheidung im Westen

127

politische Verwicklungen von vornherein auszuschließen.669 Immerhin verfügte sie über genug Vermögen und Güter, um der Dienste eines procurator zu be­ dürfen.670 Als H onoria mit diesem Mann namens Eugenius ein Verhältnis be­ gann und möglicherweise sogar von ihm schwanger wurde,671 setzte eine Eska­ lation ein, die den Beteiligten rasch über den Kopf wuchs. Valentinian III., der die Affäre seiner Schwester offensichtlich als Angriff auf die geltende Machtverteilung innerhalb der Dynastie auffaßte, reagierte mit aller Härte. N icht nur, daß der Liebhaber der H onoria sofort getötet wurde; sie selbst wurde überdies ihrer Ehren entkleidet und rasch mit einem macht­ politisch ungefährlichen Senator namens Herculanus verlobt.672 Allerdings hatte Valentinian III. nicht mit der durch die Erbitterung gesteigerten Tatkraft seiner Schwester gerechnet. Ü ber ihren Eunuchen Hyacinthus nahm sie Kon­ takt mit Attila auf und forderte ihn auf, ihre Entmündigung zu rächen. Geld­ mittel sollten die Entscheidung des Hunnenkönigs erleichtern, ein mitgesandter Ring die Glaubwürdigkeit des Boten und der Botschaft bekräftigen. Damit war aus der dynastischen Affäre ein handfester politischer Interessenkonflikt ge­ worden. Einen besseren Vorwand konnte sich Attila gar nicht wünschen ange­ sichts seiner «ambition d ’imposer sa participation au pouvoir impérial.»673 Die Überlieferung zur H onoria-Affäre leidet darunter, daß sie - das Thema lud freilich auch dazu ein! - so unheilbar mit Elementen byzantinischen H ofklatschs angereichert ist, daß eine nüchterne Einschätzung ihrer politischen Be­ deutung kaum noch zu bewerkstelligen ist. Immerhin ist sich die Forschung weitgehend einig darin, daß der Honoria-Affäre eine Schlüsselrolle bei der Er­ klärung der Politik Attilas zu Beginn der 450er Jahre zukommt.674 Relative

669 Die besten Beispiele sind Arcadia und Marina, die Schwestern Theodosius’ IL, die auf Veranlassung der Pulcheria ein jungfräuliches und heiligmäßiges Leben in relativer Abgeschiedenheit führten; dazu u. a. Soz. 9,1,3. Vgl. in diesem Zusammenhang lord. Get. 224: [ . . . ] H o n o r ia , dum p ro p te r a u la e decus a d castitatem ten eretu r n u tu fr a tr is inclusa , clam eunucho m isso A ttilam in vitasse [ . ..]. Von Eugenius ist hier nicht die Re­ de. 670 Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley]); Marcell. chron. s. a. 434; lord. Rom. 328 u. Suda O 404. 671 Dies legt zumindest Marcell. chron. s. a. 434 nahe: H o n o r ia V alentiniani im p e ra­ toris soro r a b E u g en io p ro cu rato re suo stu p rata concepit, [...]. Bei Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley]), der ja auf Priskos beruht, ist hiervon nicht die Rede, doch könnte die hektische Verlobung mit dem Senator Herculanus vielleicht darauf hin­ deuten, daß man das zu erwartende Kind «unterbringen» wollte. 672 Zu Herculanus siehe PLRE II Herculanus (2). Der Verlobung folgte, wie Priskos frg. 20,1 (Blockley) zeigt, auch die tatsächliche Heirat mit Herculanus. 673 Demougeot, Formation de l’Europe, 520. 674 Siehe u. a. Zecchini, Attila in Italia, 96 ff. - Nahezu alle Forscher räumen der Honoria-Affäre eine besondere Rolle in der Vorgeschichte des Attilakrieges von 451/52

128

IV. Aëtius und die Hunnen

Einigkeit besteht auch darin, daß Honorias Verhalten nicht als Ausbruchsver­ such einer gelangweilten Prinzessin aus dem Goldkäfig zu erklären ist. «Her motive was not profligate passion but political ambition.»675 Es ist allerdings nicht klar, welche konkreten Ziele H onoria gehabt hat. Zecchini vermutet hin­ ter den Vorgängen einen Versuch, den inzwischen nahezu allmächtig geworde­ nen patricius Aëtius durch Attila zu ersetzen.676 Seine Argumente klingen auf den ersten Blick plausibel: Galla Placidia selbst hatte über dreißig Jahre zuvor mit der H eirat des Barbaren Athaulf das Wagnis unternommen, die Romania und die Gothia zu verbinden.677 Ihr gemeinsames Kind mit dem programmati­ schen Namen Theodosius war 415 jedoch nach kurzer Lebenszeit gestorben, und auch das H eiratsprojekt als Ganzes scheiterte an den politischen Rahmen­ bedingungen auf westgotischer wie römischer Seite. War es ein Zufall, daß ge­ rade im Jahre 450 die Leiche des kleinen Theodosius von Barcelona nach Rom überführt und dort unter großem Gepränge beigesetzt wurde?678 H atte nicht Galla Placidia durch ihre Intervention bei Valentinian III. ihre Tochter vor dem sicheren H inrichtungstod bewahrt, mithin also Sympathie für ihr Verhalten ge­ zeigt?679 Zecchini selbst sieht ein, daß es der H unne und Heide Attila schwer gehabt hätte, seine Ansippung an das Kaiserhaus ideell und praktisch durchzufech­ ten;680 es bedurfte mehr als eines Heermeisteramtes, um ein «novello Ataulfo»681 zu werden. Aber auch andere Argumente sprechen dagegen, daß w ohl­ wollende H interm änner H onoria bei ihrem Vorhaben unterstützten. Da ist zum einen der entschiedene Widerstand Valentinians III. von Anfang an. Im Verlaufe der Honoria-Affäre tritt seine Meinung so dezidiert zutage wie nur selten in seiner fast dreißigjährigen Herrschaft. Sollte ausgerechnet der Mann, der unter Aëtius’ politischer Übermacht doch am meisten zu leiden hatte, nun dessen eifrigster Parteigänger geworden sein? Valentinian III. hat seine A utoriein; siehe im einzelnen Bugiani, Ezio, 165 ff.; Lizerand, Aetius, 82 f.; Seeck, Untergang, Bd. 6, 297ff.; Bury, Honoria; dens., Later Roman Empire, 288ff.; Thompson, Huns, 143ff.; Demougeot, Attila et les Gaules, 228ff.; Stein, Bas-Empire, 332ff.; Sirago, Galla Placidia, 327ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 282ff.; Demougeot, Formation de l’Europe, 546 ff.; Zecchini, Aezio, 263 ff.; Bona, Hunnenreich, 89 ff. u. Wirth, Attila, 93 ff. 675 Bury, Honoria, 11. 676 Zecchini, Attila in Italia, 96 ff. 677 Oros. hist. 7,43,3-7. 678 Continuatio codicis Reichenaviensis 12 (s. a. 451) [MGH AA 9, 489]: T h eod osiu s cum m a g n a p o m p a a P lac id ia et L e o n e et o m n i sen atu d ed u ctu s et in m au so leo a d a p o ­ stolum P etru m depositus est. Dazu Oost, Some Problems, 7f.

679 Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley], 19-21). Siehe hierzu Scharf, Dynastische Stellung, 25, der das Verhalten der Kaiserin in dieser Weise deutet. 680 Zecchini, Attila in Italia, 104. 681 Ebd., 101.

4. Die Entscheidung im Westen

129

tat innerhalb des westlichen Zweiges des theodosianischen Hauses rücksichts­ los zur Geltung gebracht und sich dabei von realpolitischen Einwänden selbst seines Cousins Theodosius’ II. nicht beeindrucken lassen.682 Wie oft im fünften Jahrhundert wurden auch 449/50 im Kaiserhaus Entscheidungen unter rein dynastiepolitischen Gesichtspunkten getroffen, unabhängig von den Gefahren, die dadurch heraufbeschworen wurden.683 Auch Honorias Verhalten sollte in diesem Lichte betrachtet werden. «Her motive was ambition, not licentious­ ness; her crime was political»,684 das bedeutet, daß die Schwester des Kaisers ihre im Laufe der Jahre marginalisierte Stellung innerhalb der Dynastie gegen Valentinian III. aufzuwerten suchte. Das Familienoberhaupt Galla Placidia spielte dabei als Machtfaktor möglicherweise nur eine geringe Rolle; allenfalls kann es darum gegangen sein, angesichts ihres vielleicht abzusehenden Todes sie starb dann am 27. N ovem ber 450 - die letzte Chance zu nutzen, um die eigene Position gegen den Kaiser, seine Gemahlin Eudoxia und seine Kinder Eudocia und Placidia zu verbessern. Daß Honoria zu diesem Zwecke Attila als Werkzeug zu benutzen bereit war, war allerdings ein kühner und riskanter Schritt. Denn auch sie selbst konnte wohl kaum voraussehen, was es bedeutete, daß der H unnenkönig den ihm überbrachten Ring annahm.

4.2 Auf dem Weg zur großen Konfrontation Wir haben oben festgestellt, daß Attila bereits im Jahre 449 grundsätzlich den Vorsatz gehabt haben muß, vom O sten abzulassen und sich dem Weströmi­ schen Reich zuzuwenden. Die Honoria-Affäre hat diese Entscheidungsfindung sicherlich begünstigt, vielleicht auch beschleunigt, aber sie hat sie sicher nicht erst herbeigeführt.685 Welches Ziel sich Attila als erstes ausgesucht hat, ist un­ klar; die Flucht des Bagaudenführers Eudoxius im Jahre 448 allein kann nicht als Argument für ein besonderes Interesse an Gallien herhalten.686 Auch das

682 Theodosius II. setzte sich angesichts der hunnischen Drohkulisse für die Ausliefe­ rung Honorias an Attila ein; siehe Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley], 16f.). 683 Man denke nur an Stilicho, der - angesichts der drängenden Verteidigungsaufga­ ben im Westen unter realpolitischen Gesichtspunkten unverständlich - viel zu lange der Politik gegenüber dem Hof des Arcadius Priorität einräumte. - Auch Theodosius II. hat 423/25 die Entscheidung gegen den Usurpator Johannes und für Valentinian III. unter rein dynastiepolitischen, nicht sachlichen Gesichtspunkten getroffen und ist damit ein großes Risiko eingegangen. 684 Bury, Honoria, 12. 685 Hohlfelder, Marcian’s Gamble, 55 f. mißt der Honoria-Affäre eine Katalysator­ funktion für Attilas Pläne zu. 686 Siehe oben S. 125 f.

130

IV. Aëtius und die Hunnen

Verhalten Attilas gegenüber der weströmischen Gesandtschaft im Jahre 449 gibt für die Frage nach seinen Zielen nicht allzuviel her. Priskos schildert die Emissäre als besorgt und verunsichert; ihre Behandlung durch Attila ist zwar schroff, sein Verhalten ihrem Anliegen gegenüber aber nicht völlig kom prom iß­ los - all das deutet nicht auf unmittelbare Gefahren hin, sondern entspricht dem auch bei oströmischen Gesandten oft aufgeführten Szenario.687 Wohl zu Beginn des Jahres 45 0688 setzte Attila jenen diplomatischen Prozeß in Gang, dessen letztendliches Scheitern die Kontrahenten auf die Katalaunischen Felder führte. Die zuvorkommende Abwicklung der Gesandtschaft des Nom us und Anatolius im Frühjahr war hierbei der erste, wohlerwogene Schritt Attilas.689 Wenig später konfrontierte der H unnenkönig Konstantinopel mit der Erklärung, daß er Honorias Interessen aufgrund von deren Hilfegesuch gegenüber dem Westreich vertreten wolle.690 Es ist Theodosius II. nicht zu verdenken, daß er die unverhofft zustande gekommene Sicherung seiner D o ­ naugrenze nicht wieder gefährden wollte; er folgte deshalb dem «Wink mit dem Zaunpfahl» und setzte seine Autorität als senior Augustus dazu ein, Valentinian III. zur Auslieferung zu bewegen. Das auf Priskos zurückgehende Johannes-Antiochenus-Fragment, das uns von diesen Vorgängen berichtet, ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Aus ihm geht zu Beginn lediglich die A b­ sicht Attilas hervor, sich für H onoria - notfalls militärisch - zu engagieren. Nach einer kurzen Darstellung des Hergangs der Affäre wird dann nochmals auf die aktuellen Pläne des Hunnenkönigs eingegangen: έβουλεύετο δε όπως τον Άέτιον προκαταλάβον μή γάρ άλλως τεύξεσθαι τής έλπίδος, εΐ μή γε έκεΐνον ποιήσοιτο εκποδών.691 Sicherlich war Aëtius als führender Heermeister des We­ stens im Konfliktfalle der Hauptgegner Attilas. Insofern zeugt seine Aussage von einer richtigen Einschätzung der realpolitischen und militärischen Gege­ benheiten. Dennoch läßt sie aufhorchen: Tatsächlich hat Attila 451 zuerst und vor allem Aëtius persönlich bekämpft, indem er in dessen Hausmacht Gallien 687 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 580-585. - Die weströmische Gesandtschaft verhan­ delte über die Bereinigung der sogenannten Silvanus-Affäre. Ursprünglich hatte Attila die Auslieferung des Silvanus gefordert, weil er den Hunnen zustehende Beute zu Geld gemacht habe. Aus Priskos geht hervor, daß sich der Hunnenkönig nach der Audienz offensichtlich mit der Rückerstattung der Beute zufriedengab. 688 Daß die Gesandtschaft von 449 schon die Honoria-Affäre zum Gegenstand hatte, wie Sasel Kos, Embassy, 109 ff. glaubt, ist aus Priskos nicht belegbar. - Zur schwierigen Chronologie des diplomatischen Verkehrs 450 u. a. Demougeot, Attila et les Gaules, 228ff.; dies., Formation de l’Europe, 546ff. u. Zecchini, Aezio, 264 mit Anm. 26. 689 Priskos frg. 15,4 (Blockley). 690 Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley]). Den inneren Zusammenhang zwischen dem Erfolg des Nomus und Anatolius und der Gesandtschaft an Theodosius II. sieht auch Hohlfelder, Marcian’s Gamble, 56f. 691 Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley], 13-15).

4. Die Entscheidung im Westen

131

eindrang und dort die Entscheidung suchte. D er Zug nach Italien mit dem möglichen Ziel einer Befreiung Honorias erfolgte erst nach dem Scheitern die­ ses Plans im Jahr darauf. Unser Fragment deutet darauf hin, daß Attila schon 450 die Prioritäten in dieser Weise setzte.692 H onoria hatte ihm mit ihrer Bot­ schaft allerdings eine zusätzliche Möglichkeit gegeben, D ruck auf den ravenna­ tischen H of auszuüben. Valentinian III. hat offensichtlich erst durch seinen Cousin Theodosius II. von den Machenschaften seiner Schwester erfahren.693 Ähnlich wie schon im Falle des Eugenius handelte er entschlossen und kompromißlos. D er Eunuch H ya­ cinthus wurde einem peinlichen Verhör unterzogen und hingerichtet; H onoria entging wohl nur auf Fürsprache Galla Placidias einem ähnlichen Schicksal.694 Wie Aëtius zum Vorgehen Valentinians III. gestanden hat, berichten die Quellen nicht. Es ist aber anzunehmen, daß er mit der ablehnenden Haltung gegenüber den H unnen einverstanden war, denn ein etwaiges Nachgeben hätte seine Stel­ lung bei Hofe massiv gefährdet. Die Bedenken derjenigen, die sich im Sommer des Jahres 450 dazu entschlossen, der Empfehlung des senior Angustus nicht zu folgen, richteten sich weniger gegen den N ichtröm er Attila. Prinzipiell war eine Ansippung barbarischer H errscher an das Kaiserhaus nichts Neuartiges.695 So war etwa Eudoxia, die Gemahlin des Kaisers Arcadius und M utter Theodosius’ IL, eine Tochter des fränkischen Heermeisters Bauto gewesen.696 Valentinian III. selbst hatte im Zuge des Friedensschlusses von 442 seine ältere Tochter Eudocia mit dem wandalischen Thronfolger Hunerich verlobt.697 Derartige Verbindun­ gen wurden von den Zeitgenossen offensichtlich nicht als Skandal empfunden. Bei Attila lagen die Verhältnisse freilich etwas anders. Zum einen hatte es die theodosianische Familie hier mit einem heidnischen Hunnen, nicht mit einem christianisierten Germanen zu tun. Bedenklicher aber als dieses war, daß der Hunnenherrscher mit einer H eirat Honorias nicht nur weiteres Prestige ge­ winnen und den eigenen Machtanspruch zusätzlich legitimieren wollte, sondern daß er offensichtlich auf die βασιλικά σκήπτρα schielte, die der kaiserlichen Schwester seiner Meinung nach ebenso zustanden wie ihrem Bruder.698

692 Insofern ist die bei Wirth, Attila, 120 u. 139 geäußerte Ansicht, Attila habe die ernste Auseinandersetzung mit Aëtius gar nicht gewünscht, nicht begründet. 693 So richtig Demougeot, Attila et les Gaules, 229 u. Stein, Bas-Empire, 333. 694 Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley], 19-21). 695 R. C. Blockley, Florilegium 4, 1982, 63-79. Wolfram, Gotisches Königtum, lOf. u. ders., Reich, 165f. streicht allerdings heraus, daß sich die germanischen Hoffnungen be­ züglich einer Ansippung an das Kaiserhaus praktisch in keinem Fall erfüllten. 696 Philost. 11, 6. 697 Merob. carm. 1; dazu Clover, Flavius Merobaudes, 20 ff. u. 5 Iff. sowie Loy en, L’oeuvre, 168. Ausführliches dazu im Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius» auf S. 239f. 698 Dies wird schon bei Io. Ant. frg. 199,2 (= Priskos frg. 17 [Blockley]) deutlich.

132

IV. Aëtius und die Hunnen

Am 28. Juli 450 starb Theodosius II. an den Verletzungen, die er sich bei einem Sturz vom Pferd zugezogen hatte. Damit war ein politisches Vakuum eingetreten, das erst einen M onat später, am 25. August, durch die Proklama­ tion des neuen Kaisers Marcian wieder ausgefüllt wurde. D er frisch gekürte Herrscher, der sich der U nterstützung der Pulcheria erfreute, leitete nunmehr einen vollkommenen Kurswechsel in der Politik des Ostreichs ein, ein Vor­ gang, der freilich nicht sogleich als solcher erkennbar war.699 Angesichts des Regierungswechsels schickte Attila erneut Gesandtschaften nach Konstanti­ nopel und Ravenna, um seinen Anspruch auf H onoria vorzutragen. Das Er­ gebnis war ernüchternd:700 Marcian ließ ihn wissen, daß er nicht bereit sei, die von Theodosius II. zugesagten Jahrgelder länger zu zahlen.701 Valentinian III. belehrte den H unnenkönig, daß H onoria keinerlei Herrschaftsrechte besitze und im übrigen schon vergeben sei; eine Auslieferung komme somit nicht in Frage. Attila mußte, um sein Prestige zu wahren, handeln. Angesichts der Abwehr­ haltung sowohl in O st als auch in West war er jedoch genötigt, Prioritäten zu setzen. Nach einigem Zögern entschied er sich schließlich dafür, den ohnehin geplanten Feldzug im Westen nun auch durchzuführen.702 Marcian hatte dieses Verhalten Attilas fest in sein Kalkül einbezogen, indem er darauf vertraute, daß die hunnischen Kriegsvorbereitungen gegen Ravenna bereits so weit fort­ geschritten waren, daß eine Neuorientierung nicht mehr möglich war.703 Im W inter 450/51 kam es nichtsdestotrotz zu einem erneuten diplomatischen Aus­ tausch zwischen den Mächten.704 Attila schickte eine weitere Gesandtschaft nach Italien, durch die er die Auslieferung seiner «Verlobten» H onoria ver­ langte. Als Mitgift forderte er die Hälfte des Weströmischen Reiches, denn so seine Begründung - die Schwester des Kaisers habe ihren Teil an der αρχή von ihrem Vater Constantius III. erhalten, sei jedoch der H absucht ihres Bru­ ders zum O pfer gefallen. Trotz des öffentlichkeitswirksamen Eintretens für H onoria kristallisierte sich Gallien immer mehr als künftiger Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Aëtius und Attila heraus. D urch das Eingreifen in einen Erbfolgestreit, der ein wohl am Rhein zu suchendes fränkisches reg-

699 Hohlfelder, Marcian’s Gamble, bes. 57 ff. Er weist mit Recht darauf hin, daß die Tötung des Eunuchen Chrysaphius nach dem Herrschaftsantritt Marcians von Attila als positives Signal aufgefaßt werden konnte, war dadurch doch der Anstifter des Attentats­ versuchs von 449 beseitigt. - Zum Thema auch Thompson, Foreign policies. Er sieht die Kehrtwende Marcians allerdings sehr kritisch. 700 Priskos frg. 20,1 (Blockley). 701 Dazu Hohlfelder, Marcian’s Gamble, 58ff. 702 Priskos frg. 20,1 (Blockley). 703 Hohlfelder, Marcian’s Gamble, 59, der von einem «calculated risk» Marcians spricht. 704 Priskos frg. 20,3 (Blockley).

4. Die Entscheidung im Westen

133

num entzweite, bauten die H unnen bereits Einfallpositionen auf oder aus.705 Doch auch Aëtius schloß die Reihen seiner Föderaten. Im Falle der Franken gelang es ihm, den jüngeren der beiden Thronkandidaten für sich zu gewinnen, und vielleicht befand sich Ravenna schon damals in Verhandlungen mit dem Westgotenkönig Theoderich I., dessen U nterstützung für eine erfolgreiche A b­ wehr der H unnen unverzichtbar war.706 Bei Jordanes finden wir Nachrichten von einer weiteren diplomatischen O f­ fensive Attilas nach Ravenna und Toulouse.707 Wahrend er sich Kaiser Valentinian III. als Schwert gegen die Westgoten empfahl und seine amicitia dem Reich gegenüber bekräftigte, forderte er Theoderich I. gleichzeitig zum Kampf gegen die Römer auf. Es ist in der Forschung umstritten, wie diese Episode chronologisch einzuordnen ist, doch fügt sie sich am besten in die Zeit unm it­ telbar vor Ausbruch der Kampfhandlungen ein, als es lediglich noch darum ging, die Reihen des Gegners zu verunsichern und seine Bündnisse zu spren­ gen.708 N och beim Einmarsch in Gallien ließ Attila verlauten, er sei als custos Romanae amicitiae gekommen.709 Als sich das Jahr 450 dem Ende zuneigte, mußte jeder der beteiligten Mächte klar geworden sein, daß im kommenden Frühjahr der große Krieg kommen würde. Marcian konnte, nachdem seine Rechnung einmal aufgegangen war und Attila sich nach Westen orientiert hatte, ruhig abwarten, wie sich die Lage wei­ terentwickelte. Ende des Jahres befanden sich seine Gesandten in Rom, um wegen des bevorstehenden Konzils von Kalchedon Gespräche zu führen. Sie mögen damals auch die Krise mit den H unnen erörtert haben.710 Immerhin hatte Marcian, anders als sein Vorgänger Theodosius IL, den Kurs Ravennas in der Honoria-Frage unterstützt. M ehr konnte er vorerst nicht tun, wollte es vielleicht auch nicht, da die Anerkennung durch den nunmehrigen senior A u -

705 Ebd. 706 lord. Get. 186-190; ein Hilfsabkommen kam allerdings erst im folgenden Jahr zustande. 707 lord. Get. 185f. 708 Demougeot, Attila et les Gaules, 228 glaubt, daß Jordanes die beiden Gesandt­ schaften zu Valentinian III. und Theoderich I. unzulässigerweise auf denselben Zeit­ punkt verlegt hat. - Den taktischen Zweck von Attilas letzten Gesandtschaften betonen Tackholm, Aetius, 264 f. u. Clover, Geiseric and Attila, 113 f. - Clover, Geiseric and Attila, 104-117 hat nachgewiesen, daß auch die angebliche Einbeziehung Geiserichs in die Vorgeschichte des Attilakrieges ein mißverstandener Reflex der hunnischen Propa­ ganda ist. Der Wandalenkönig blieb «an interested spectator during the Hunnish in­ vasion of 451/2» (ebd., 115). 709 Prosp. chron. 1364 (s. a. 451). 710 Die Anwesenheit des Priskos ist durch Priskos frg. 20,3 (Blockley) bezeugt, die eines gewissen comes Maximinus durch Leo M. epist. 75 vom 9. Nov. 450 (Schwartz 2,4), 33; dazu Blockley, Fragmentary Classicising Historians, Bd. 1, 48 u. 143 Anm. 7.

134

IV. Aëtius und die Hunnen

gustus Valentinian III. immer noch auf sich warten ließ.711 D urch die Gesandt­ schaft des Heermeisters Apollonius testete Marcian etwa zu dieser Zeit noch­ mals die Stimmung Attilas aus, nur um feststellen zu müssen, daß eine Ent­ spannung der Lage unter den gegenwärtigen Umständen nicht möglich war.712 Alles hing von der kommenden militärischen Entscheidung ab.713 Die Situation, in der sich das Weströmische Reich zu Jahresende befand, war nicht eben rosig. Attila hatte die Entscheidung getroffen, es mit Ravenna zuerst aufzunehmen; seine Stoßrichtung ging nach Gallien. W ürde es ihm gelingen, Aëtius hier zu schlagen und das Wehrpotential des Landes unter seine Botmä­ ßigkeit zu zwingen, so wäre weiterer Widerstand in Italien nahezu zwecklos gewesen.714 Die Verantwortlichen in Ravenna mühten sich angesichts dieser Aussichten redlich: Geschlossenheit hatte man immerhin gegenüber dem H u n ­ nenkönig demonstriert, ihm keine Möglichkeit gegeben, etwa den patricius ge­ gen den Kaiser, die Schwester gegen den Bruder auszuspielen. Hinsichtlich der realen Machtmittel sah es allerdings düster aus. Italien selbst gab aufgrund einer verheerenden H ungersnot im abgelaufenen Jahr nahezu keine Mittel her, um die drohende Gefahr zu bestehen.715 Als Aëtius zu Jahresbeginn in Arles seine Truppen sammelte, stellte der italische exercitus nur einen geringen Bestandteil der verfügbaren Einheiten dar.716 Alles hing davon ab, daß es gelang, die galli­ schen Föderaten zur Heeresfolge zu bewegen, und unter ihnen besonders die Westgoten. Als Attila im Frühjahr 451 sein vielgestaltiges H eer in Bewegung setzte, war dieses zentrale Problem noch nicht gelöst. 711 Sie erfolgte erst am 30. März 452, siehe Continuatio codicis Reichenaviensis 21 (s. a. 452) [MGH AA 9, 490]. Dazu Stein, Bas-Empire, 31 lf. u. 586 Anm. 169. 712 Priskos frg. 23,3 (Blockley). Zur Datierung Enßlin, Marcianus (34), 1516 u. Hohl­ felder, Marcian’s Gamble, 60f. mit 67 Anm. 38. 713 Das große Risiko von Marcians Politik betont Thompson, Foreign policies, 67ff. 714 Zecchini, Attila in Italia, 102 ff. sieht als Hauptgrund von Attilas Wendung nach Gallien dessen Bestreben, hier seine in Anspruch genommene Herrscherrolle im Westen auszuüben. Mitgespielt haben mag auch, daß Italien angesichts der Hungersnot von 450 zu dieser Zeit kein attraktives Ziel war. 715 Siehe die Bestimmungen von Novell. Valent. 29 (24.04.[?]450) u. Novell. Valent. 33 (31.01.451). 716 Scharf, Ripari und Olibriones?, 1, der ebenfalls einen Bezug zur Hungersnot von 450 herstellt. Allerdings zeigt J. H. W. G. Liebeschuetz in seinen Beiträgen, daß der Bedeu­ tungsgewinn barbarischer Föderatenkontingente gegenüber dem regulären exercitus im 5. Jh. eine generell zu beobachtende Entwicklung darstellt. Viele Einheiten wurden eigens für die bevorstehende Kampagne geworben, eine Vorgehensweise, die Kosten - etwa für die Unterhaltung eines stehenden Heeres - ersparte, im ungünstigen Fall aber den Beginn der militärischen Operationen stark verzögern konnte. Hierzu Liebeschuetz, Generals; ders., Barbarians and Bishops, 32 ff. u. ders., End of the Roman army, mit dem vorwegge­ nommenen Resümee: «[...] regulars ceased to be the decisive element in field armies. The men who increasingly came to decide battles were barbarian federates» (ebd., 267).

4. Die Entscheidung im Westen

135

4.3 Der Feldzug in Gallien 451 Die Ereignisse rings um die sogenannte Schlacht auf den Katalaunischen Fel­ dern sind oft beschrieben worden. In vielen Punkten der Darstellung gibt es dabei keinen Dissens in der Forschung.717 Allerdings stellt sich die Überliefe­ rung, gerade in bezug auf die entscheidende Schlacht selbst, als sehr verzwickt dar. Dies liegt - wie S.J.B.Barnish zeigen konnte - am epochalen Charakter des Ereignisses, der schon von den Zeitgenossen erkannt w urde718 und nachfol­ gende Generationen ermuntert hat, ihre Stadt, ihren Bischof, ja ihre gens mit Attilas Gallienzug in Verbindung zu bringen.719 Die klare Überlieferung der historischen Geschehnisse konnte darunter nur leiden. Der angesprochene Pro­ zeß hatte überdies gerade für die Rolle des Aëtius schwerwiegende Konsequen­ zen. Wahrend das westgotische Königtum, zahlreiche gallische Bistümer und andere Beteiligte nach 451 die Überlieferung gestalten und im Zweifelsfall zu ihren Gunsten verändern konnten, erlosch das weströmische Kaisertum bereits 476 - im abtrünnigen Nordgallien bereits 461 eine Teilnahme am Tradi­ tionsbildungsprozeß war mithin kaum mehr möglich.720 Dies erklärt, warum einerseits in unserer Überlieferung eine starke Tendenz dazu besteht, die römi­ sche Seite in ihrer Bedeutung zu marginalisieren und andererseits Aëtius’ in den Quellen zunehmend diffus erscheinende Handlungsweise zu dämonisieren. Umgekehrt erscheinen die Westgoten immer mehr als die für das Geschehen entscheidenden Handlungsträger und einzelne Bischöfe als eigentliche Retter in der N o t.721 717 Zur Ereignisgeschichte von Attilas Gallienfeldzug u. a. Bugiani, Ezio, 167ff.; Lizerand, Aetius, 85 ff.; Seeck, Untergang, Bd. 6, 301 ff.; Bury, Later Roman Empire, 291 ff.; Thompson, Huns, 148 ff.; Homeyer, Attila, 140 ff.; Demougeot, Attila et les Gaules, 231 ff.; Stein, Bas-Empire, 334f.; Sirago, Galla Placidia, 358ff.; Altheim, Geschichte der Hunnen, 319ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 295ff.; Tackholm, Aetius; Demougeot, Formation de l’Europe, 549ff.; Zecchini, Aezio, 266ff.; Ferrill, Fall of the Roman Em­ pire, 147ff.; Bona, Hunnenreich, 92 ff.; Wirth, Attila, 98 ff. u. Castritius, Katalaunische Felder. 718 Siehe Lex Burg. lib. const. 17,1, wo die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern als chronologischer Fixpunkt gebraucht wird. Auch Sidonius Apollinaris hat sich schon früh mit der Thematik beschäftigt; siehe Sidon, epist. 8,15 u. dens. carm. 7,315-366. 719 Barnish, Old Kaspars. Die reiche Überlieferung zu den Vorgängen rings um die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern ist auch erörtert bei Täckholm, Aetius und in bezug auf die Heiligenviten - bei Griffe, Gaule chrétienne, 53 ff. Eine Auswahl hagiographischer Quellen auch bei Zecchini, Aezio, 267 Anm. 34. 720 Vgl. Täckholm, Aetius, 273: «The history of the Western Empire had no longer any champion of its own.» 721 Die Hervorhebung der Goten beginnt mit Cassiod. chron. 1253 (s. a. 451) und setzt sich in der ausführlichen Darstellung des Jordanes fort; siehe dens. Get. 176-228. Dazu Täckholm, Aetius, 262 f. u. Barnish, Old Kaspars, 39 ff. - Der Zusammenhang

136

IV. Aëtius und die Hunnen

Im Frühjahr 451 machte sich Attila mit mehreren zehntausend Mann entlang der Donau nach Westen auf.722 Welchen Weg genau er dabei wählte, ist unbe­ kannt.723 Jedenfalls hatten, als er das Rhein-M ain-Gebiet erreichte, viele Hilfs­ völker seinen Heereszug verstärkt, darunter Thüringer, Burgunden und Fran­ ken, die wohl erst während des Marsches hinzugestoßen waren.724 Attila überschritt - vielleicht bei Koblenz725 - den Rhein und stieß ins Innere Gal­ liens vor. Heiligenviten und Zerstörungshorizonte ermöglichen eine Rekon­ struktion seines Itinerars. D er Zug führte über Trier,726 M etz727 und Reims728 nach Troyes,729 von dort in Richtung auf Orléans. Panik breitete sich in weiten

von «Frömmigkeit» und «Rettung vor Attila» wird vor allem durch Gregor von Tours herausgestellt. Er sorgt überdies für eine Betonung des fränkischen Beitrags zu den Er­ eignissen des Jahres 451; siehe Greg. Tur. Franc. 2,6f. Dazu Barnish, Old Kaspars, 43. 722 Die bei lord. Get. 182 genannte Zahl von einer halben Million Kriegern ist sicher weit übertrieben. Moderne Schätzungen liegen im Bereich von 30.000 Mann; dazu Thompson, Huns, 300 Anm. 65; Demougeot, Attila et les Gaules, 231 f. u. Zecchini, Aezio, 266. Großzügiger in seinen Berechnungen hingegen Bachrach, Hun Army, 66f., der einige zehntausend Krieger mehr auf römischer wie hunnischer Seite für möglich hält. 723 Dazu Demougeot, Attila et les Gaules, 233 ff. u. Castritius, Grenzverteidigung, 18 Anm. 7. 724 Eine Übersicht über die Verbündeten Attilas gibt Sidon, carm. 7,319-325: [...]

/ b arb aH es totas in te tran sfu d e rat A rctos, / G allia. P u g n ace m R u g u m com itan te G elon o / G e p id a tru x seq u itu r; Sciru m B u rg u n d io cogit; / C h u n u s, B ellonotus, N eu ru s, B a sta rn a , Toringus, / Bructerus, u lu osa v e l q u em N ic e r allu it u n d a /

su bito cum ru p ta tu m u ltu

Inwieweit dieser Völkerkatalog allerdings von poetischen Gesetz­ mäßigkeiten bestimmt ist, ist unklar. Dazu Loyen, Recherches, 51 f.; Thompson, Huns, 148ff. u. Demougeot, Attila et les Gaules, 232. Auffallend ist jedenfalls das Fehlen der Ostgoten unter Walamir, die ganz sicher am Gallienzug teilgenommen haben (lord. Get. 199f.). Zu Attilas Heer während des Gallienfeldzugs auch jüngst Bachrach, Hun Army, 63 ff. 725 Die Vermutung liegt nahe, daß Attila zunächst den bei Priskos frg. 20,3 (Blockley) erwähnten Erbfolgestreit in einem fränkischen regn u m zu seinen Gunsten ent­ schied; immerhin handelte es sich um eine πρόφασις seines Gallienzuges. Insofern bietet sich ein Übergang am Mittelrhein an, zumal von dort aus moselaufwärts das nächste Ziel Trier leicht erreicht werden konnte; zum Thema Thompson, Huns, 149f. u. De­ mougeot, Attila et les Gaules, 233. 726 Demougeot, Attila et les Gaules, 233 mit Anm. 111 unter Berufung auf Hinkmars «Vita Remigii episcopi Remensis». 727 Metz wurde am 7. April erobert; siehe Hyd. chron. 150 (s. a. 452) u. Greg. Tur. Franc. 2,6. 728 Demougeot, Attila et les Gaules, 234 f. mit Anm. 115 u. Griffe, Gaule chrétienne, 56 f. 729 Der Bischof Lupus von Troyes spielte während des ganzen Gallienfeldzuges of­ fensichtlich eine gewisse Rolle, auch noch beim Abzug Attilas; siehe Vita Lupi 5 [MGH SS rer. Merov. 3, 121]. Dazu Griffe, Gaule chrétienne, 61 f. u. Ewig, Bemerkungen zur Vita des Bischofs Lupus, 17f.

p ro ru m p it Fran cus.

4. Die Entscheidung im Westen

137

Teilen Galliens aus, auch dort, wo keine unmittelbare Gefahr drohte.730 Vieler­ orts mühten sich die Bischöfe redlich, den ihnen anvertrauten Städten und Ge­ meinden die Zerstörungswut des flagellum Dei zu ersparen. N icht immer ge­ lang es ihnen, und wenn, dann nur dadurch, daß man die Güter, die die H unnen ohnehin geraubt hätten, nunmehr freiwillig herausgab. Daß Attila den Weg über Orléans wählte, zeigt, daß er noch immer gewillt war, die von seiner Propaganda unverdrossen gepflegte Rolle des custos imperii Rom ani gegenüber den Westgoten weiterzuspielen.731 Dennoch zögerte der H o f in Toulouse noch immer, den Schulterschluß mit Aëtius zu wagen. Als Attila die Belagerung von Orléans schon eingeleitet hatte, waren die Verhandlungen mit Theoderich I. noch in vollem Gange. Für die Westgoten ging es in der Tat um viel. Im Jahre 439 war das foedus von 418 zuletzt bestätigt und durch ein Heiratsbündnis mit Aëtius zusätzlich bekräftigt worden.732 Seither war es zwar nicht mehr zu militärischen Aus­ einandersetzungen gekommen; dennoch waren die Beziehungen zwischen Tou­ louse und Ravenna weiterhin problematisch, zumal die kaiserliche Regierung nicht davor zurückschreckte, enge Beziehungen zum Wandalenkönig Geiserich, dem Erzfeind der Westgoten, zu knüpfen.733 Theoderich I., den der dadurch erweiterte Machtspielraum des Westreichs zu Beginn der 440er Jahre beunruhi­ gen mußte, reagierte seinerseits, indem er seine Bewegungsfreiheit durch ein Heiratsbündnis mit dem Swebenkönig Rechiar zu vergrößern suchte.734 In diesen Zustand einer «ambiguous hostility»735 platzte nun der Attilazug. Theo­ derich I. erkannte sicherlich spätestens mit dem Rheinübergang Attilas, welche Gefahr ihm drohte. Er mußte jedoch unbedingt verhindern, daß die faktische Selbständigkeit, die er in den vergangenen Jahrzehnten für sein Volk Stück für Stück errungen hatte, angesichts der drohenden Entwicklung wieder beschnit-

730 In Paris rechnete die Bevölkerung mit dem Schlimmsten. Das Abschwenken von Attilas Heereszug nach Orléans wurde später der hl. Genovefa zugeschrieben; dazu Griffe, Gaule chrétienne, 56 u. bes. M. Heinzelmann/J.-Cl. Poulin, Les Vies anciennes de sainte Geneviève de Paris, 1986, 90f. 731 Darauf deutet auch Prosp. chron. 1364 (s. a. 451) hin. 732 Siehe u. a. Hyd. chron. 117 (s. a. 439); Prosp. chron. 1338 (s. a. 439); Sidon, carm. 7,295-315 u. lord. Get. 176f. Zum damaligen Heiratsbündnis mit Aëtius u. a. Zecchini, Aezio, 222 mit Anm. 39. Ausführliches im Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius» auf S. 206 f. 733 Es handelt sich um den Friedensschluß von 442. Damals erfolgte auch die Ver­ lobung des wandalischen Kronprinzen Hunerich mit der Kaisertochter Eudocia. Hunerich war vorher mit einer Tochter Theoderichs I. verheiratet gewesen und hatte sie we­ gen einer angeblichen Verschwörung mißhandeln lassen und verstoßen. Siehe hierzu im Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius» S. 236 u. 239f. 734 Hyd. chron. 140 (s. a. 449). 735 Clover, Geiseric and Attila, 113.

138

IV. Aëtius und die Hunnen

ten wurde. Ravenna war unter dem Druck der Verhältnisse denn auch zu weit­ reichenden Zugeständnissen bereit. Durch das Verhandlungsgeschick des gallorömischen Senators Avitus gelang es schließlich, einen Kompromiß zu finden, dergestalt, daß man die Hilfeleistung der Westgoten in der anstehenden Aus­ einandersetzung nicht als Folge der alten pax von 418 bzw. 439 interpretierte, sondern ein neues, situationsbezogenes foedus vereinbarte.736 Die einstige Al­ lianzpflicht Theoderichs I. lebte 451 also nicht wieder auf; sie wnarde eigens für den Krieg mit Attila neu vereinbart und war nur auf diesen bezogen. Avitus hatte ein diplomatisches Kunststück vollbracht: «The Visigothic support of the Empire is not to be considered as an act of loyalty towards the Emperor.»737 Die Einigung mit Theoderich I. war gerade noch zum rechten Zeitpunkt zu­ stande gekommen, denn an den Grenzen des westgotischen regnum hatte sich inzwischen die Lage bedrohlich zugespitzt. Lediglich dem hinhaltenden Wider­ stand der Bewohner von Orléans unter ihrem entschlossenen Bischof Anianus war es zu verdanken, daß Attilas Vorstoß nach Süden noch nicht weiter gedie­ hen war.738 Nach mehrwöchiger Belagerung lagen allerdings die Nerven blank. Die in der Gegend beheimateten alanischen Föderaten unter ihrem König Sangibanus wurden verdächtigt, mit Attila gemeinsame Sache machen zu wollen.739 U nd auch in der Stadt selbst witterte man Verrat. Der Orléanais war in den Jahren vor 450 ein Zentrum der Bagauden gewesen. Erst vor kurzer Zeit hatte man das Problem notdürftig in den Griff bekommen, angesichts der H unnen­

736 Schulz, Völkerrecht, 89 ff. Die diplomatischen Bemühungen des Avitus werden bei Sidon, carm. 7,328-356 - wenn auch in panegyrischer Absicht - geschildert. Siehe auch den Briefwechsel Valentinians III. mit Theoderich I. bei lord. Get. 186-189. - Die Tat­ sache, daß Avitus als Emissär mit Theoderich I. verhandelte und etwaige Briefe von Valentinian III. selbst ausgingen, sollte nicht dazu verleiten, Aëtius’ Rolle in der West­ gotenfrage übermäßig zu problematisieren. Die Verantwortlichen in Toulouse wußten, daß der patricius den Oberbefehl in den kommenden Auseinandersetzungen innehaben würde. Sein Verhältnis zu Theoderich war keine «mésentente» (Demougeot, Attila et les Gaules, 239); vielmehr waren beide durch das Heiratsbündnis von 439 verbunden. So wie Avitus 451 in Toulouse verhandelte, zogen sicherlich viele Emissäre im Winter 450/ 51 zu den gallischen Bündnern, um deren Unterstützung zu sichern, während Aëtius in Arles die Gesamtkoordinierung oblag. 737 Täckholm, Aetius, 266. 738 Zu den Ereignissen um Orléans im Mai/Juni 451 ausführlich Loy en, Rôle de Saint Aignan u. Czüth, Rolle des Volkes. Die Hauptquellen des Geschehens sind Sidon, epist. 8,15,1; Greg. Tur. Franc. 2,7 u. Vita Anian. 4 u. 7-10 (MGH SS rer. Merov. 3, 110 bzw. 112ff.). Zur Einschätzung der Quellenlage Loyen, Rôle de Saint Aignan, 65ff. u. Czüth, Rolle des Volkes, 3 ff. 739 lord. Get. 194f. u. 197. Der Sachverhalt ist allerdings umstritten. Bachrach, Alans in Gaul, 483 u. ders., History of the Alans, 65f. glaubt hier lediglich gotische Ressenti­ ments am Werk; Alföldi, Champs Catalauniques, llOf. sieht in den Verratsgelüsten des Sangibanus eine literarische Reminiszenz Cassiodors.

4. Die Entscheidung im Westen

139

gefahr sogar eine Amnestie verkündet,740 doch jetzt, während der Belagerung, wuchs die Angst vor der vermeintlichen fünften Kolonne. Anianus, der eine Reise nach Arles unternommen hatte, um bei Aëtius persönlich vorzusprechen, konnte nach seiner Rückkehr nur Durchhalteparolen bis zum vereinbarten Stichtag für die A nkunft des Entsatzheeres, dem 14. Juni, ausgeben.741 Die Einigung mit den Westgoten war noch nicht vollzogen, stand jedoch unmittel­ bar bevor. An besagtem 14. Juni überschlugen sich die Ereignisse.742 Schon hatten die der Belagerung müden Bewohner von Orléans die Tore für Attila geöffnet; hunnische proceres waren in die Stadt gekommen, um - wohl ein Zugeständnis an die Einwohnerschaft - die Plünderung ohne Blutvergießen zu organisieren. In diesem M oment erschien das von Aëtius geführte Entsatzheer und trieb den Feind aus der Stadt wieder hinaus - Aurelianensis urbis obsidio, oppugnatio, inruptio nec direptio, wie Sidonius Apollinaris das kuriose Ereignis auf den Punkt brachte.743 Attila wagte nicht die sofortige Entscheidungsschlacht; er zog sich augenblicklich auf der Heerstraße in Richtung Troyes zurück. Die Fixie­ rung auf Orléans hatte ihn viel Zeit und Aufwand gekostet. D er Wechsel des Schauplatzes gab ihm nun die Chance, die Initiative zurückzugewinnen und dem Gegner den Schlachtort zu diktieren. D er Tag von Orléans stellt für die römische Kriegsführung einen entschei­ denden W endepunkt in der Kampagne des Jahres 451 dar. Die erste Phase des Krieges war geprägt gewesen von einem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch Attilas. Hiobsbotschaft auf Hiobsbotschaft traf im Arier H auptquartier ein, doch Aëtius konnte es angesichts der abweisenden Haltung Theoderichs I. nicht wagen, auf eigene Faust nach N orden zu ziehen; ihm waren die H ände gebunden. In dieser Situation hat der Bischof von Orléans mit seinem mutigen Widerstand Attila so lange aufgehalten, bis die Diplomatie den D urchbruch erzielt hatte und die Koalition von Westgoten und Römern geschmiedet war. Vor Orléans erlitt Attila «une défaite réelle»,744 und zwar nicht, weil er eine Stadt oder eine Schlacht verloren hatte, sondern weil es ihm nicht gelungen

740 So ist wohl Vita Anian. 3 (MGH SS rer. Merov. 3, 109f.) zu deuten. Auf Bagaudenunruhen in der betreffenden Gegend während der 440er Jahre weisen Sidon, carm. 5,210f. (Verteidigung von Tours durch den späteren Kaiser Majorian), Constantius vita Germ. 28 (Aufruhr in Auxerre gegen die aus alanischen Föderierten bestehende Besat­ zungsmacht) und vielleicht auch Chron. Gail. 452, 133 (s. a. 448) [Flucht des Bagaudenführers Eudoxius zu Attila]. Ausführliches im Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius» auf S. 190 ff. 741 Vita Anian. 7-10 (MGH SS rer. Merov. 3, 112ff.). 742 Vita Anian. 10 (MGH SS rer. Merov. 3, 115ff.). 743 Sidon, epist. 8,15,1. 744 Demougeot, Attila et les Gaules, 242.

140

IV. Aëtius und die Hunnen

war, der Vereinigung seiner Gegner zuvorzukommen. G etrennt hätte er West­ goten und Römer wohl leicht aus dem Felde schlagen können und dabei oben­ drein noch - je nach Belieben - seine Propaganda als custos Romanae amici­ tiae und Sachwalter der H onoria ausspielen können. Jetzt aber waren die Fronten eindeutig, jede weitere Propaganda überflüssig. Alle Bewohner Gal­ liens wußten nun, wer der Verteidiger, wer der Eindringling war. Durch den Gewinn Theoderichs I. und den erfolgreichen Entsatz von Orléans hatte Aëti­ us die entscheidenden Voraussetzungen erfüllt, um Attila mit einer kampfkräf­ tigen Koalition überhaupt erst entgegentreten zu können. In der zweiten Phase der Kampagne vermochte er nun das gesamte ihm zur Verfügung stehende Potential Galliens einzusetzen. Er hatte Vertrauen gewonnen, während Attilas Angriffs- und Propagandawelle gebrochen war. Die Rückzugsbewegung auf Troyes war insofern mehr als ein bloßes strategisches Manöver.745 Sie war die Wende, der nur durch einen eindeutigen Sieg über Aëtius noch Einhalt geboten werden konnte.746 Obw ohl Attila durch den Rückzug von Orléans seine Aktionsfreiheit wie­ dergewonnen hatte, stand er unter starkem Druck, nun, da ein einziges Treffen den ganzen Feldzug entscheiden mußte. In früheren Fällen hatte sich gezeigt, daß die H unnen in offener Feldschlacht Schwächen an den Tag legten.747 Auch sonst waren die Bedingungen nicht optimal: D er beginnende Hochsommer er­ schwerte das Furagieren für die Pferde; der ideale Zeitpunkt für eine vor allem auf Berittene gestützte Kriegsführung war längst überschritten.748 Täglich er­ hielt Aëtius noch Zuzug von gallischen Föderaten. U nter diesen Umständen wagte Attila schließlich doch noch die Schlacht, bevor die Lage sich weiter verschlechtern konnte. Maenchen-Helfen hat einmal die Suche nach dem O rt, an dem sich das Geschehen Ende Juni 451 entfaltete, als «Lieblingshobby von Lokalhistorikern und pensionierten Obersten»749 bezeichnet. In der Tat ist es praktisch unmöglich, die gelehrte und weniger gelehrte Literatur, die zu diesem Thema veröffentlicht worden ist, auch nur zu überschauen.750 Gesicherte Er­

745 Obgleich Bury, Later Roman Empire, 292 nicht unrecht hat, wenn er den Entsatz von Orléans als «bloodless strategic victory» bezeichnet. 746 Auch Zecchini, Aezio, 268 f. betont die Bedeutung der Ereignisse vor Orléans für den Gesamtverlauf der Kampagne. 747 Man denke an die Schlacht am Fluß Utus (Vit) im Krieg von 447. Siehe oben S. 123. 748 Dazu Lindner, Nomadism, lOf. 749 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 98. Zum Datum der Schlacht Bury, Later Roman Empire, 292 Anm. 5, der sich für die Zeit um den 20. Juni 451 entscheidet; ähnlich Castritius, Katalaunische Felder, 330. Anders Wirth, Attila, 102, der - allerdings ohne nähere Begründung - das Treffen auf Mitte Sept, des Jahres verlegt. 750 Eine ausführliche Diskussion von Quellen und Sekundärliteratur zur Lokalisie­ rungsfrage bietet u. a. Demougeot, Attila et les Gaules, 242 ff.

4. Die Entscheidung im Westen

141

gebnisse sind ebensowenig zu erwarten, denn alle Autoren, die sich an den campi Catalaunici, an Mauriacum und Tricasses versucht haben, verfügen über dieselben, militärgeographisch weitgehend unergiebigen Quellen. Wesentliches hat bereits Alföldi in den zwanziger Jahren gesagt, als er nachweisen konnte, daß die Katalaunischen Felder aufgrund eines Überlieferungsfehlers schon von Cassiodor fälschlicherweise mit Mauriacum gleichgesetzt wurden.751 Die Schlacht fand also auf dem campus Mauriacensis in der Nähe von Troyes statt. Wo aber genau dieser O rt zu suchen ist, muß - und darf, solange keine neuen Indizien auftauchen - offen bleiben. Ebenso problematisch wie die Lokalisierung ist auch der Verlauf des Gesche­ hens, das sich 451 zwischen H unnen und Römern abspielte.752 Bei Jordanes finden wir eine Auflistung von Truppenteilen, die an der Seite des Aëtius ge­ kämpft haben:753 H i enim adfuerunt auxiliares: Franci, Sarmatae, Armoriciani, Liticiani, Burgundiones, Saxones, Ripari, Olibriones, quondam milites Romani, tunc vero iam in numero auxiliarium exquisiti, aliaeque nonnulli Celticae vel Germanie (!) nationes. Großenteils stellt die Identifizierung dieser Gruppen kein Problem dar.754 Es handelt sich zumeist um föderierte Völker (wie die Franken, die Burgunden und die vorwiegend an der gallischen Kanalküste sta­ tionierten Sachsen; auch die Armoriciani waren zu dieser Zeit schon foederati). Daneben gibt es aber auch genuin «römische» Truppen, so die mit gentiles des vierten Jahrhunderts in Zusammenhang stehenden Sarmatae und die mit den laeti in Verbindung zu bringenden Liticiani. Beide Truppenteile waren einst zu Verteidigungszwecken in geschlossenen Verbänden vor allem in Nordgallien angesiedelte Barbaren. Unsicher ist lediglich die Identifizierung der - auch überlieferungsgeschichtlich schwierigen - Ripari und Olibriones.755 Die Liste ist nicht vollständig, denn es fehlen beispielsweise diverse alanische Gruppen, die von Aëtius, über Gallien verteilt, angesiedelt worden waren.756 Zu den ge­ nannten auxiliares hinzu kommen vor allem aber noch die Einheiten des röm i­ schen exercitus und die Armee Theoderichs I.

751 Alföldi, Champs Catalauniques. 752 Die wesentlichen Quellen zur Schlacht auf den Katalaunischen Feldern sind lord. Get. 194-217; Prosp. chron. 1364 (s. a. 451); Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 451; Hyd. chron. 150 (s. a. 452); Cassiod. chron. 1253 (s. a. 451); Chron. Gail. 452, 139 (s. a. 451); Chron. Gail. 511, 615 u. Greg. Tur. Franc. 2,7. Umfassende Diskussion der Überliefe­ rung bei Täckholm, Aetius, 259 ff. u. Barnish, Old Kaspars. 753 lord. Get. 191. 754 Dazu Scharf, Ripari und Olibriones?, lf. u. Bachrach, Hun Army, 60ff. 755 Scharf, Ripari und Olibriones?, 2ff. Er liest Riparioli Bri{t)ones und sieht in letz­ teren «Truppen des ehemals römischen Britannien, die vor 451 n. Chr. nach Gallien verlegt wurden» (ebd., 11). 756 Die Alanen des Sangibanus etwa nahmen an der Schlacht teil; siehe lord. Get. 197.

142

IV. Aëtius und die Hunnen

N och kurz vor der eigentlichen Schlacht hatten sich Franken und Gepiden in einem nächtlichen Gefecht gegenseitig schwere Verluste zugefügt und damit einmal mehr unter Beweis gestellt, daß die Kriegsgegner nun die definitive Entscheidung suchten.757 Die bei Jordanes überlieferten Orakel auf hunnischer Seite sprechen nicht gerade für einen besonderen Optimismus Attilas.758 D en­ noch entspann sich am nächsten Tag eine wechselvolle, für beide Seiten sehr verlustreiche Schlacht, deren genauer Verlauf allerdings nicht mehr exakt zu rekonstruieren ist.759 Als die N acht einbrach, waren die H unnen und ihre Ver­ bündeten so schlimm zugerichtet, daß sie sich in ihre Wagenburg zurückzogen. Am folgenden Tag boten sie nicht mehr die Erneuerung der Schlacht an, viel­ mehr warteten sie erschöpft hinter ihren Verhauen die weitere Entwicklung ab; Attila rechnete mit dem Schlimmsten. Doch auch Aëtius’ Truppenteile waren angeschlagen; auch sie hatten es nicht gewagt, auf dem Schlachtfeld zu nächti­ gen. Die Westgoten, die großen Anteil am gemeinsamen Erfolg gehabt hatten, waren unvermutet mit dem Tod ihres Königs Theoderich I. konfrontiert. Was in dieser hochangespannten Atmosphäre geschah und wer welche E nt­ scheidung herbeigeführt hat, ist aufgrund der eingangs dieses Kapitels skizzier­ ten Quellenlage nicht mehr nachzuvollziehen.760 Das Bild des intrigierenden Aëtius, der nacheinander zuerst die Westgoten, dann die Franken vom Schlachtfeld listenreich entfernt hat, um Attila und seinen H unnen einen siche­ ren Abzug zu ermöglichen und die Beute allein zu kassieren, ist, wie U. Tackholm gezeigt hat, eine K onstruktion aus späterer Zeit,761 denn die den Geschehnissen am nächsten stehenden Chronisten wissen noch nichts von der­ artigen Vorfällen. Sie konstatieren lediglich die Niederlage der H unnen und ihren Abzug aus Gallien.762 Trotzdem ist es natürlich ein seltsamer Vorgang, daß im Angesicht des Sieges die Kriegskoalition des Aëtius offensichtlich aus­

757 Ebd., 217. 758 Ebd., 195f. 759 Hauptquelle für den Verlauf der Schlacht ist der bisweilen geradezu konfuse Be­ richt bei lord. Get. 197-212. Immerhin lassen sich folgende Elemente seiner Darstel­ lung isolieren: (1) eine Zweiteilung der Schlacht, an deren Beginn der Kampf um einen strategisch wichtigen Hügel stand; (2) eine gewisse, wohl über Cassiodor auf Priskos zurückgehende rhetorische Gestaltung des Geschehens; (3) die besondere Hervor­ hebung der Goten hinsichtlich des Schlachtausgangs. - Zur Schlachtendarstellung des Jordanes Täckholm, Aetius, 266 ff.; Zecchini, Aezio, 269 ff. u. Barnish, Old Kaspars, 39ff. 760 Siehe oben S. 135. 761 Wohl erst mit Cassiodor beginnt die Hervorhebung der Westgoten einerseits, die Dämonisierung des patricius andererseits. Beide Tendenzen werden von lord. Get. 194217 u. Greg. Tur. Franc. 2,7 ausgebaut und sind noch bei Ps.-Fred. chron. 2,53 (MGH SS rer. Merov. 2, 73 f.) virulent. Hierzu Tackholm, Aetius, 262 f. 762 Hyd. chron. 150 (s. a. 452) u. Prosp. chron. 1364 (s. a. 451).

4. Die Entscheidung im Westen

143

einanderfiel, und es stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte.763 Mit Recht hat Täckholm betont, daß dem patncius an einer vollkommenen Vernich­ tung des Hunnenheeres durchaus gelegen sein konnte,764 denn der aus Gallien vertriebene Attila w ürde im nächsten Jahr wiederkommen müssen, um sein an­ geschlagenes Prestige aufzufrischen und seinen Verbündeten den Erfolg zu er­ möglichen, der sie an ihn band. Von einer Schonung Attilas hatte Aëtius nichts Positives zu erwarten. Die zahlreichen hunnischen Hilfskontingente stellten erst dann ein Kriegerreservoir für Ravenna dar, wenn der Heerkönig, der sie zusammengeschweißt hatte, tot war. Erst dann würde die von Attila diktierte kriegerische Dynamik an der Grenze zum Barbaricum gebrochen sein.765 Ganz anders stellte sich die Situation für Westgoten und Franken dar. Ge­ rade erstere hatten sich nur unter dem äußersten D ruck der Verhältnisse dazu bereit gefunden, unter dem Oberbefehl des Aëtius zu kämpfen, nämlich nach­ dem sie hatten einsehen müssen, daß ihr ursprünglicher Plan, ihr regnum an den Grenzen zu verteidigen, zu risikoreich war.766 Jetzt war auch noch der langjährige König Theoderich I. gefallen. Sein Sohn Thorism und, der noch auf dem Schlachtfeld an dessen Stelle trat, sah sich mit einer Schar von Brüdern konfrontiert, denen gegenüber A utorität auszuüben ihm ohnehin schwer fallen würde. Zu enge Anlehnung an die unversehens erstarkten Römer aber war diesbezüglich geradezu kontraproduktiv.767 An vorderster Stelle stand für T ho­ rismund also, daß das Band des foedus, das seit 418 stets loser geworden war, durch die Ergebnisse der Kampagne von 451 nicht wieder festgezurrt wurde. Grundsätzlich vergleichbar mit der Situation der Westgoten war die der Franken. Sie hatten in den späten 440er Jahren eine Niederlage gegen Aëtius erlitten und waren dadurch in ihrem Expansionsdrang gebremst worden.768 Im Gegensatz zu den Westgoten verfügten die Franken um die Mitte des fünften

763 Zu dieser Frage u. a. Seeck, Untergang, Bd. 6, 309 ff.; Demougeot, Attila et les Gaules, 245f.; Sirago, Galla Placidia, 360f.; Tackholm, Aetius, 268ff.; Demougeot, For­ mation de l’Europe, 551 f. u. Zecchini, Aezio, 271 ff. 764 Täckholm, Aetius, 270f. 765 Insofern ist die von Seeck, Untergang, Bd. 6, 309 ff.; Sirago, Galla Placidia, 361 u. Demougeot, Formation de l’Europe, 551 f. implizierte Annahme, Aëtius habe durch die Schonung der Hunnen deren Potential in irgendeiner Weise für sich nutzbar machen wollen, nicht nachvollziehbar. 766 Sidon, carm. 7,332-335. 767 Thorismund hat in den folgenden Jahren denn auch eine prononciert römerfeind­ liche Politik in Gallien praktiziert. Während seiner Regierungszeit kämpfte er gegen alanische Föderaten nördlich der Loire (Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 453 u. Greg. Tur. Franc. 2,7) und belagerte vergeblich Arles (Chron. Gail. 511, 621 u. Sidon, epist. 7,12,3). Dennoch fiel er im Jahre 453 einem Komplott seiner Brüder zum Opfer. 768 Es ist die sogenannte Niederlage am Vicus Helena; siehe Sidon, carm. 5,211-227. Ausführliches im Kapitel «Die Reichspolitik des Aëtius» auf S. 178f.

144

IV. Aëtius und die Hunnen

Jahrhunderts noch nicht über ein einheitliches regnum, so daß sie schon auf­ grund dessen gegenüber dem Reich in einer schwächeren Position waren.769 Auch sie hatten also gute Gründe, den totalen Sieg des Aëtius und vor allem seine daraus resultierende konkurrenzlose M achtposition in Gallien zu fürch­ ten. Für die am Rhein beheimateten fränkischen Kontingente kam hinzu, daß Attila seinen Rückzug durch ihre Territorien lenkte.770 Sie rechneten deshalb zu Recht damit, daß die angeschlagenen H unnen sich an denen schadlos halten würden, deren inneren Konflikten sie den mißglückten Feldzug mit verdank­ ten.771 Das Gesagte deutet alles in allem darauf hin, daß Täckholm recht hatte, als er die bei Jordanes und anderen greifbare Tradition vom intrigenspinnenden und beutegierigen Aëtius verwarf und statt dessen annahm, daß die Westgoten und Franken 451 aus freien Stücken das Schlachtfeld verließen und so den viel­ leicht möglichen totalen Sieg bewußt verhinderten.772 Aëtius allein jedenfalls konnte mit den ihm verbleibenden Kontingenten nicht verhindern, daß Attila sein zwar angeschlagenes, aber prinzipiell intaktes H eer zurück über den Rhein führte.773 Doch auch so war der auf den Katalaunischen Feldern errungene Erfolg etwas Großartiges und - angesichts der verzweifelten Lage zu Jahres­ anfang - Unvermutetes. Aëtius und mit ihm alle Verantwortlichen des West­ römischen Reiches hatten es vermocht, eine Koalition zusammenzuschmieden, wie sie, angesichts der seit 406/07 in Gallien in Gang gekommenen Entwick­ lung, für kaum noch möglich gehalten worden war. «Once again, by such deli­ cate balancing of forces either potentially or actually hostile to it did the en­ feebled Western Empire manage to prolong its existence in the fifth century.»774 Das Urteil St. I. O osts ist skeptisch, doch blickt es vom Ende des weströmischen Kaisertums zurück auf die Katalaunischen Felder. Für die Zeit­ genossen mochte das Resümee anders lauten. Zwar hatten Westgoten und Franken den Krieg nicht mit Aëtius zu Ende geführt und auf diese Weise de­ monstriert, daß sie nur dann bereit waren, gemeinsam mit dem Reich zu han­ deln, wenn ihre ureigenen Interessen massiv berührt waren. Dennoch: D er viel­ stimmige C hor der zahlreichen Celticae vel Germanie (!) nationes unter der

769 Dies wird in den Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 451 eigens betont. 770 In den Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 451 spielt dieses Argument eine gewisse Rolle in der Argumentation des Aëtius, der die Franken vom Schlachtfeld entfernen will. 771 Priskos frg. 20,3 (Blockley). 772 Täckholm, Aetius, 272 f. 773 Bischof Lupus von Troyes hat Attila vielleicht bei seinem Rückzug an den Rhein begleitet; siehe Vita Lupi 5 (MGH SS rer. Merov. 3, 121). Dazu Griffe, Gaule chré­ tienne, 6lf. u. Ewig, Bemerkungen zur Vita des Bischofs Lupus, 17f. 774 Oost, Galla Placidia Augusta, 297.

4. Die Entscheidung im Westen

145

Führung der Römer775 hatte Handlungsfähigkeit gegen einen scheinbar über­ mächtigen Feind bewiesen. Mittelfristig mochte der Tag von Mauriacum eine Perspektive römischen Wirkens in Gallien bieten, gebunden freilich an die Autorität des Aëtius und die Langlebigkeit der Dynastie. Keiner der Akteure von 451 konnte wissen, daß schon fünf Jahre später beide Voraussetzungen nicht mehr gegeben waren.

4.4 Attilas Zug nach Italien 452 N och im September 451, also nach der Rückkehr aus Gallien, finden wir hun­ nische Streifscharen auf Beutezügen im Ostreich. Vielleicht war es Attilas Ziel, der verlustreichen Feldzugskampagne in Gallien wenigstens einen erfolgreichen und lukrativen Ausklang zu verschaffen. Die H unnen mußten allerdings zur Kenntnis nehmen, daß Kaiser Marcian seiner harten Haltung des Vorjahres auch die entsprechenden Taten folgen ließ. Nach einigen Gefechten trieb er sie wieder über die Grenzen zurück.776 Daß Attila den Krieg im Jahre 452 er­ neuern würde, war - auch wenn die Verluste groß waren - gewiß. Dies war er nicht nur seinem Prestige schuldig, er m ußte auch wieder angreifen, wollte er nicht riskieren, daß seine Kriegerkoalition auseinanderfiel. Die in den vergange­ nen Jahren des Erfolgs immer mehr angewachsene Zahl von barbarischen Gruppen, die Attila um sich und seine Familie geschart hatte, wurde ihm nun zum Problem. Ein neuer Feldzug bot so nicht nur die Chance zur Rache für das im Vorjahr Erlittene, er vermochte auch die Beutegüter bereitzustellen, um die ins Wanken geratende hierarchische O rdnung innerhalb der H unnenherr­ schaft neu zu befestigen.777 Daß das Ziel nun Italien war, entbehrt keinesfalls der Logik. H ier hatte es Attila nicht mit den zahlreichen, kampfkräftigen Föde­ ralen des Reiches zu tun, sondern vor allem mit dem römischen exercitus selbst. Für sich genommen, war dies eine lösbare Aufgabe. Verwegen wäre 775 lord. Get. 191. De Boone, Franken, 146 hebt mit Recht die Leistung des Aëtius bezüglich der Koordinierung der verschiedenen barbarischen Föderatenkontingente her­ vor. Auch Elton, Defence, 171 f. betont, daß die Schlacht auf den Katalaunischen Fel­ dern eine römische Verteidigungsleistung gewesen ist. Wirth, Attila, 117 hingegen ist skeptisch bezüglich der Ergebnisse von 451 und glaubt, daß der gemeinsam errungene Sieg «den Germanen in Gallien neue Impulse gab, die sich denn nur wieder gegen das Imperium richten konnten». 776 Theod. An. 101,18f. (Hansen) sowie Conc. Chalc. a. 451 Mansi 6, 557°. 560® u. 560c . Dazu Enßlin, Marcianus (34), 1516 u. Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 98. 777 Angesichts all dessen ist es nicht zu erwarten, daß man in Ravenna von Attilas neuerlichem Vorstoß überrascht wurde. So allerdings die Einschätzung von Thompson, Huns, 159: «[...] the news of his (seil. Attilas) arrival in Italy must have struck the patrician with the violence of a thunderbolt.» - Zur schwierigen Lage Attilas nach der Niederlage in Gallien Wirth, Attila, 105 ff.

146

IV. Aëtius und die Hunnen

hingegen ein Angriff auf das Ostreich gewesen. N icht nur, daß Marcian diplo­ matisch und militärisch keinerlei Schwäche gezeigt hatte. Sich den geballten Kriegsressourcen Konstantinopels auszusetzen, wäre nach der verlustreichen Gallienexpedition auch für Attila ein Risiko gewesen. Man hat in der Forschung bezüglich der Kampagne von 452 vor allem die Frage diskutiert, wie es geschehen konnte, daß Attila in diesem Jahr nach Ita­ lien eindrang, ohne daß ihm mit spürbarem Widerstand begegnet w urde.778 Ein Teil unserer antiken Quellen gibt für diesen offenkundigen Fehlschlag Aëtius persönlich die Schuld.779 Ü berhaupt ist es auffallend, daß der patricius, im Vor­ jahr noch wegen seiner providentia gefeiert, im Jahre 452 geradezu unsichtbar bleibt: Die Sperrung der elusurae Alpium versäumt er, der Verwüstung O berita­ liens sieht er tatenlos zu, an der Friedensgesandtschaft Papst Leos des Großen ist er augenscheinlich nicht beteiligt. Bezeichnenderweise ist lediglich davon die Rede, daß er mit dem Kaiser erwogen habe, aus Italien zu fliehen.780 Alles in allem ist es ein desaströses Bild, das die Überlieferung von Aëtius im Jahre 452 entwirft, ein Bild, das in der Forschung entsprechende Spuren hinterlassen mußte.781 Freilich hat es auch nicht an Fürsprechern und Entlastungszeugen gefehlt. Maenchen-Helfen hat in einer detaillierten Analyse der Quellen nachzuweisen versucht, daß Aëtius «nicht die dilettantischen Fehler beging, deren er bezich­ tigt wird.»782 Sein Hinweis darauf, daß der eher flache Zugang nach Italien über die Julischen Alpen schon für römische Strategen vor 452 ein Sicherheits­ problem gewesen ist, das die wenigsten zu lösen vermochten, ist sachlich rich­ tig.783 Dennoch: Die H unnen eröffneten die Kriegssaison im Jahre 452 relativ spät;784 sie wurden - zumindest laut der Quellen - weder in den elusurae Alpium noch vor Aquileia ernsthaft attackiert. Im Gegenteil, die gut befestigte

778 Demougeot, Attila et les Gaules, 247 u. Oost, Galla Placidia Augusta, 297, der die Unterschätzung von Attilas Italienzug als Aëtius’ «worst mistake of his political and military career» bezeichnet. 779 Prosp. chron. 1367 (s. a. 452): A ttila red in tegratis virib u s, q u a s in G a llia am iserat, I ta lia m in g red i p e r P a n n o n ias intendit, n ih il duce nostro A etio secu n d u m p rio ris belli op era prospiciente, ita ut ne elusuris q u id em A lp iu m , q u ib u s hostes p ro h ib e ri p o te ran t, uteretur, [ . . . ] .

780 Ebd. 781 So etwa bei Thompson, Huns, 158f. u. Oost, Galla Placidia Augusta, 297ff. 782 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 98. Siehe seine ausführliche Analyse des Ita­ lienfeldzuges von 452, ebd. 97 ff. 783 Ebd., 101 f. Als Beispiele werden Feldzüge von Magnus Maximus 388 bis Theoderich d. Gr. 489 angeführt. In keinem der Fälle wurden die Julischen Alpen als Haupt­ sperre gegen den Gegner genutzt: «Der Kampf um Italien begann im Tal des Isonzo oder vor den Mauern von Aquileia» (ebd., 102). 784 Ebd. 99 ff. (Datierung auf Frühsommer 452).

4. Die Entscheidung im Westen

147

Stadt an der Adria wurde nicht entsetzt wie Orléans, sie wurde ihrem Schicksal überlassen.785 Scheinbar unbehelligt vermochten die H unnen durch Venetien und die Lombardei bis nach Mailand vorzudringen.786 Für diese Kette von Katastrophen muß es eine Erklärung geben, die aus den Quellen allerdings nicht hervorgeht. Bis zur Gesandtschaft Leos des Großen bleiben die H and­ lungsträger des Westreichs passiv. N u r Hydatius weiß von einem militärischen Engagement, und dieses unternimmt ausgerechnet der oströmische Kaiser Marcian.787 Das aktive Eingreifen Konstantinopels ist das hervorstechendste Kennzei­ chen des Hunnenkrieges im Jahre 452. Die Tatsache, daß ausgerechnet der am Ende der römischen Welt beheimatete Hydatius detaillierte Informationen zu den Einzelheiten liefert, ist kein Grund, an seinen Angaben zu zweifeln.788 Ihm zufolge wurden die H unnen in der Po-Ebene von H unger und Seuchen heimgesucht. Ausschlaggebend für ihren schließlichen Mißerfolg sei aber gewe­ sen, daß der Kaiser Marcian den W eströmern Auxilien geschickt habe und seinerseits den oströmischen exercitus in das Kerngebiet der Hunnenmacht, also in die ungarische Tiefebene, habe vorrücken lassen.789 Die auxilia, von denen Hydatius schreibt, sollen von einem Aetius dux geführt worden sein. Vielerorts bezog man diese Angabe nicht auf den patricius des Westens, son­ dern auf einen gleichnamigen comes domesticorum des Ostens, doch scheint der Sprachgebrauch des galicischen Chronisten eher für die erste Lösung zu

785 Quellen zur Eroberung von Aquileia sind Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 452; Agnell. lib. pontif. 42; Marcell. chron. s. a. 452; Chron. Gail. 511, 617; Cassiod. chron. 1255 (s. a. 452); Fast. Merseb. s. a. 452; Prok. Kais. hist. 3,4,30-35 (= Priskos frg. 22,2 [Blockley]); lord. Get. 219-221 (= Priskos frg. 22,1 [Blockley]); Greg. Tur. Franc. 2,7; Theoph. Conf. a. m. 5945 u. Paulus Diaconus hist. Rom. 14,9 f. (Crivellucci, 195f.). Zu den Einzelheiten der Belagerung Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 99 ff. u. S. Blason Scarel, in: A.Scarel (Hrsg.), Attila e gli Unni, 1995, 24 f. Die Eroberung Aquileias erfolgte laut Fast. Merseb. s. a. 452 am 18. Juli 452. 786 lord. Get. 222 u. Paulus Diaconus hist. Rom. 14,9-13 (Crivellucci, 195 ff.). Zum Itinerar Attilas während des Italienfeldzugs M.Calzolari, L’itinerario, der aller­ dings an den Angaben des Paulus Diaconus zweifelt. 787 Hyd. chron. 154 (s. a. 453): Secu n do reg n i an n o p rin cipis M a rc ia n i H u n i, q u i I t a ­ liam p ra e d a b a n tu r, a liq u a n tis etiam civ itatib u s inruptis, d iv in itu s p a rtim fa m e , p a rtim m o rb o q u o d a m p la g is caelestibus fe riu n tu r: m issis etiam p e r M a rc ian u m p rin cip e m A etio duce c ae d u n tu r au x iliis p a rite rq u e in sed ib u s suis et caelestibus p la g is et p e r M a rc ia n i su b ig u n tu r exercitum et ita su b a cti p a c e fa c ta cum R o m an is p ro p ria s u n iversi rep etu n t sedes, a d q u a s rex eoru m A ttila m ox reversu s interiit.

788 Dies tut Burgess, New Reading. Er glaubt, daß Hydatius falschen Informationen oströmischer Kaufleute aufgesessen ist, die die Leistungen der Weströmer zugunsten Marcians schmälern wollten. 789 Hyd. chron. 154 (s. a. 453).

148

IV. Aëtius und die Hunnen

sprechen.790 Auf diese Weise wäre dann doch noch ein militärisches Engage­ ment des Aëtius in der Kampagne von 452 belegt. Worin die Strategie Ravennas während des Italienfeldzuges bestand, geht aus all dem dennoch nicht hervor. Die Bedingungen für die Kriegsführung des Aëtius müssen allerdings, soviel mag man zugestehen, erschwert gewesen sein. Zwei Aspekte bieten sich zur Erörterung an.791 Erstens: Die H ungersnot von 450 mochte auch zwei Jahre später noch die Aushebung und Versorgung von Massenheeren in Italien behindert haben - ein Umstand, unter dem dann im­ merhin auch die H unnen zu leiden hatten, sobald sie in die oberitalische Ebene hinabgestiegen waren. Zweitens: Die daraus resultierende Schwäche des west­ römischen exercitus im Jahre 452 zwang Aëtius, sich wie im Vorjahr nach Hilfstruppen umzusehen. Diese konnten aber, da die gallischen Föderaten dies­ mal nicht zur Verfügung standen, nur aus dem Ostreich kommen. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß Marcian gerade im März 452 vom Westreich als Kollege im Kaisertum anerkannt w urde.792 Es gibt Hinweise dar­ auf, daß Valentinian III. diese Entscheidung nicht leichtgefallen ist und daß er Aëtius für ihr Zustandekommen verantwortlich gemacht hat.793 Zweierlei kann aus den besagten Vorgängen geschlossen werden. Zum einen war Ravenna zu­ mindest diplomatisch auf die Auseinandersetzung von 452 nicht unvorbereitet, zum anderen mag die Passivität angesichts des bereits vorrückenden Attila wie schon im Vorjahr mit noch im Gange befindlichen Verhandlungen oder der Verzögerung der oströmischen Militärhilfe Zusammenhängen.794 Die Eroberung von Mailand und Pavia bezeichnet das weiteste Vordringen Attilas in Oberitalien;795 von einem darauf folgenden Zug in die Cispadana ist

790 Hierzu die kleinen Forschungsüberblicke bei Zecchini, Aezio, 277 Anm. 65 u. Burgess, New Reading, 361 f. mit Anm. 13. Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 103f. hat gezeigt, daß die auxilia Marcians von seinem eigenen exercitus eindeutig getrennt werden müssen. In Hydatius’ Sprachgebrauch bezeichnet Aetius dux immer den west­ lichen patncms; siehe etwa Hyd. chron. 108 (s. a. 436), 110 (s. a. 437), 112 (s. a. 438), 150 (s. a. 452) u. 160 (s. a. 454). Es wäre insofern wirklich kurios, wenn er ausgerechnet in Hyd. chron. 154 (s. a. 453) einen namensgleichen oströmischen General mit derselben Ausdrucksweise einführen würde. Siehe in diesem Sinne auch Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 103; Burgess, New Reading, 361 f. u. Zecchini, Attila in Italia, 105 f. Anm. 45. 791 So schon Sirago, Galla Placidia, 362. 792 Continuatio codicis Reichenaviensis 21 (s. a. 452) [MGH AA 9, 490]. 793 Io. Ant. frg. 201,2 (= Priskos frg. 30,1 [Blockley], 13-20). Dazu Stein, Bas-Empi­ re, 31 lf. u. 586 mit Anm 169. 794 Dies war nichts Ungewöhnliches. Im Geiserichkrieg 439/42, über zehn Jahre zu­ vor, war die im Juni 440 bereits zugesagte Militärhilfe gegen die Wandalen erst im Jahr darauf in Sizilien eingetroffen. 795 lord. Get. 222 (= Priskos frg. 22,1 [Blockley]); Suda M 405 (= Priskos frg. 22,3 [Blockley]) u. K 2123 sowie Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 452.

4. Die Entscheidung im Westen

149

in den Quellen nicht explizit die Rede. Vielmehr zogen sich die H unnen offen­ bar nördlich des Po nach O sten zurück. Mit Recht bringt man dieses Verhalten mit beginnenden Schwierigkeiten in Zusammenhang.796 In der drückenden Sommerhitze wurden die beutebeladenen und dadurch ohnehin in ihrer O pera­ tionsfähigkeit zunehmend behinderten Kriegerscharen das O pfer von Krank­ heiten und Seuchen. Die Versorgung in einer Ebene, die im Grunde keine N ah­ rung bot «außer Rindern und dem Wasser des Po»,797 war immer schwerer zu gewährleisten. Eine Wiederaufnahme der Offensive Richtung Süden, über den Apennin direkt nach Rom wurde im hunnischen Kriegsrat zwar erwogen, aber nicht mehr umgesetzt.798 O b dabei Aberglaube eine Rolle spielte, oder einfach die militärischen Voraussetzungen nicht mehr gegeben waren, muß offenblei­ ben. Am Ufer des Flusses Mincio - schon eindeutig in der Rückwärtsbewe­ gung und jedenfalls weit entfernt von seinen Kriegszielen - erwartete Attila schließlich eine weströmische Gesandtschaft, angeführt von Papst Leo dem Großen und den Senatoren Avienus und Trygetius.799 In den Verhandlungen, die nun folgten, spielte H onoria, die Schwester des Kaisers, noch einmal eine gewisse Rolle. Attila beharrte auf ihrer Ausliefe­ rung,800 doch fand sie augenscheinlich nie statt, ein weiteres Zeichen dafür, von welch angeschlagener Position aus der Hunnenkönig am Mincio verhandelte. Am Ende blieb lediglich die Drohung, bei Nichtbeachtung seiner Forderungen wiederzukehren und noch schlimmer in Italien zu wüten.801 Das Schicksal Honorias verliert sich danach im Dunkel der Geschichte. Im Jahre 452 muß sie noch gelebt haben, wenn sie O bjekt der Kriegspropaganda gewesen ist. Bei der Eroberung Roms durch die Wandalen 455 jedoch ist von ihr nicht mehr die Rede; Geiserich hat sie damals nicht als Faustpfand nach Karthago entführt wie die anderen Mitglieder des theodosianischen Hauses.802 796 Dazu Calzolari, L’itinerario, 122 ff. 797 Vgl. Prok. Kais. hist. 6,25,16, hier allerdings unter Bezug auf die nach Oberitalien einfallenden Franken im Jahre 539: άλλο τι ούδέν έν χώρρ έρήμφ ανθρώπων δτι μή βόας τε καί τοΰ Πάδου τό ύδωρ προσφέρεσθαι είχον. 798 lord. Get. 222. Das warnende Beispiel von Alarichs Scheitern hielt Attila angeb­ lich davon ab. 799 Prosp. chron. 1367 (s. a. 452); Cassiod. chron. 1256 (s. a. 452); Vict. Tonn, chron. s. a. 449 u. lord. Get. 223. Zu den Persönlichkeiten der an der Gesandtschaft teilneh­ menden Senatoren siehe PLRE II Avienus (4) u. Trygetius (1). Es gibt kein Anzeichen dafür, daß Leo der Große oder Valentinian III. an Aëtius vorbei mit Attila verhandelt haben, wie Zecchini, Aezio, 276 Anm. 63 mit Recht feststellt. Auch das a Valentiniano imp. [...] directus bei Cassiod. chron. 1256 (s. a. 452) ist hierfür kein Indiz, denn daß eine Gesandtschaft offiziell vom Kaiser beauftragt wurde, ist selbstverständlich. 800 lord. Get. 223. 801 Ebd. 802 Sirago, Galla Placidia, 333 glaubt an ein früheres Ableben der internierten Schwe­ ster des Kaisers schon 450/52, aber die Tatsache, daß Honoria 452 noch ein Thema

no

IV. Aëtius und die Hunnen

Die ganze Rahmenkonstellation, in der die Leo-Gesandtschaft stattfand, zeigt, daß sie die Bedeutung, die ihr insbesondere die Kirche nach 452 zuge­ messen hat, nicht gehabt hat.803 Sie war Schlußstein, nicht W endepunkt des italischen Abenteuers Attilas. N och Jahre später hat der Papst sich um Proble­ me der damals von den H unnen Verschleppten und nun Zurückkehrenden ge­ kümmert; hierin lag die Bedeutung seines Engagements.804 Die militärisch-poli­ tischen Voraussetzungen für die humanitäre Bewältigung von Attilas Italienzug aber hatten andere geschaffen. Es war die erfolgreiche Verständigung von K on­ stantinopel und Ravenna im Frühjahr 452, die es - zwar erst spät wirksam geworden - ermöglichte, Mittelitalien vor den H unnen abzuschirmen und sie so in der Transpadana festzuhalten. Die Tatsache, daß die Anerkennung Marcians Aëtius noch zwei Jahre später zur Kritik gereichte, zeigt zur Genüge, daß es sein Verdienst war, den oströmischen Kaiser ins Boot geholt zu haben. Er hatte den strategischen Erfolg freilich teuer bezahlt. Gewiß: «Attilas Feldzug war schlimmer als ein Fehlschlag.»805 Er hatte keines seiner Ziele erreicht, seine Kriegerkoalition war angesichts der ausbleibenden Erfolge mehr denn je von Zerfall bedroht, und Aëtius blieb maßgeblicher Heermeister des Westens. D en­ noch hatte die «tattica attendista»,806 durch welche Zwänge sie auch immer veranlaßt war, dem militärischen Renommee des patridus schweren Schaden zugefügt. Die Abdrängung Attilas aus Italien war - das zeigt die harsche Kri­ tik Prospers von Aquitanien - zumindest nach Meinung der Leidtragenden der Kampagne von 452 kein Zweck gewesen, der die Mittel heiligte.

5. Ergebnis: D er Tod Attilas und die E rm ordung des Aëtius Attila hat nach dem Scheitern seines italischen Abenteuers den Krieg gegen das Reich nicht mehr erneuern können. Freilich drohte er Kaiser Marcian mit einer verheerenden Offensive im kommenden Jahr,807 doch bevor er seine neuen

gewesen ist, spricht dafür, daß sie damals noch lebte. Bezeichnend ist auch, daß ihr Gatte Herculanus ausgerechnet im Jahr von Attilas Italienzug mit dem Konsulat geehrt wurde. 803 Schon in den S. 149 Anm. 799 angeführten Quellen ist die spätere legendarische Entwicklung greifbar. - Zur Leo-Gesandtschaft u. a. Wirth, Attila, 109 f., der sie auf den Juli oder die erste Augusthälfte 452 datiert. 804 Dazu Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 105 f. Prinzipielles zur Problematik bei A. Erler, Der Loskauf Gefangener, 1978. 805 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 105. 806 Zecchini, Aezio, 277. 807 Priskos frg. 23,1 (Blockley); lord. Get. 225 (= Priskos frg. 23,2 [Blockley]) u. Theoph. Conf. a. m. 5946 (= Priskos frg. 24,2 [Blockley]).

5. Ergebnis

m

Pläne umsetzen konnte, starb der Hunnenkönig.808 Seinen Söhnen aber gelang es nicht, die barbarische Kriegerkoalition zusammenzuhalten, die der Vater ge­ schmiedet hatte. Wohl im Jahre 454 unterlag der älteste von ihnen, Ellac, dem Gepidenkönig Ardarich, der sich zum A nführer einer opponierenden Gruppe von gentes aufgeschwungen hatte. Mit dieser Schlacht am Fluß Nedao endet die hunnische Großmacht.809 Einige Jahre hindurch freilich spielten verschie­ dene, von Attilasöhnen angeführte G ruppen noch eine gewisse Rolle an der römischen Donaugrenze. Sie wurden entweder ins Reich integriert oder zer­ schlagen.810 Attilas Tod im Jahre 453 kam für Freund und Feind überraschend, und es ist natürlich verführerisch zu fragen, was er noch hätte ins Werk setzen können, wenn ihm die Gelegenheit zur Rache gegeben worden wäre. D arüber läßt sich freilich nur spekulieren; ob Marcian 453 wirklich nur durch den Tod seines Kontrahenten vor den H unnen gerettet worden ist,811 werden wir nie erfahren. Doch auch am H of in Konstantinopel selbst wird man erleichtert gewesen sein, daß man eine A ntw ort auf die Frage, wie stark Attila noch war, nun nicht mehr abzuwarten brauchte.812 Für den Westen war der Tod des Hunnenkönigs ebenfalls eine gute N ach­ richt. N icht nur, daß damit auch für Ravenna ein gravierendes Sicherheitspro­ blem aus dem Weg geräumt war, die gentilen G ruppen und Grüppchen jenseits der Donau standen nun Aëtius wieder als Kriegerpotential zur Verfügung und konnten seine Abhängigkeit vom guten Willen der Föderaten etwas lindern.813 808 Prosp. chron. 1370 (s. a. 453); Marcell. chron. s. a. 454; Hyd. chron. 154 (s. a. 453); Cassiod. chron. 1258 (s. a. 453); lord. Get. 254-258 (= Priskos frg. 24,1 [Blockley]); Chron. Gail. 511, 622; Vict. Tonn, chron. s. a. 453; Io. Mal. chron. 359 (Dindorf) = 279 (Thurn); Chron. Pasch, s. a 450 (Dindorf) [= Priskos frg. 21,1 (Blockley)] u. Theoph. Conf. a. m. 5946 (= Priskos frg. 24,2 [Blockley]). 809 Zum Zerfall des Attilareiches Prosp. chron. 1370 (s. a. 453); Vict. Tonn, chron. s. a. 453; Eugipp. Sev. 1,1 u. lord. Get. 259-263 (= Priskos frg. 25 [Blockley]). Dazu u. a. Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 107 ff.; Pohl, Gepiden, 252 ff. u. Wirth, Attila, 113 ff. 810 Zuletzt wurde Dintzic 469 besiegt und getötet; siehe Marcell. chron. s. a. 469 u. Chron. Pasch, s. a. 468 (Dindorf). 811 So Thompson, Foreign policies, 70. 812 Auch nach dem Italienfeldzug 452 hatte Kaiser Marcian noch Grund zur Sorge gegenüber Attila; siehe lord. Get. 255. 813 Vgl. in diesem Zusammenhang die sogenannte revocatio Pannoniarum durch Kai­ ser Avitus im Jahre 455 bei Sidon, carm. 7,589f. Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 108 ff., hat mit Recht diese machtpolitisch ephemere Aktion mit der Anwerbung von Soldtruppen in Verbindung gebracht. Gerade Avitus war ja stark von den mit ihm ver­ bündeten westgotischen Föderaten abhängig. - Welche Chancen und Probleme sich aus dem Zerfall der Hunnenmacht für das Römerreich ergaben, zeigt am Beispiel der Goten A. Schwarcz, MIÖG 100, 1992, 50-83.

152

IV. Aëtius und die Hunnen

Blickt man auf die Zeit seit 425 zurück, als der junge Aëtius zum ersten Mal mit hunnischen H ilfstruppen aufgetreten war und in die Politik des Westreichs eingegriffen hatte, so erkennt man, wie sehr sich die Rahmenbedingungen eines Zusammenwirkens zwischen Römern und H unnen seit damals geändert hatten. Besagter Wandel liegt nicht in erster Linie darin begründet, daß die eine oder die andere Seite aus den grundsätzlichen Gegebenheiten ihres Handelns oder ihrer Existenz ausgebrochen wäre. Dies hat vielleicht erst Attila getan, als er über das Heermeisteramt und die Ansippung an das Kaiserhaus die traditionel­ len Bedingungen und Bedingtheiten seiner Herrschaft zu verändern suchte. Ansonsten aber verhielten sich Römer und H unnen so, wie sie sich immer verhalten hatten. Die Akteure in Ravenna benutzten die Barbaren von jenseits der Grenze als willkommenes Potential im «innenpolitischen» Machtkampf, sei es nun im Bürgerkrieg gegen römische Generäle oder in der Auseinander­ setzung mit barbarischen Föderaten. Die hunnischen Führer verdienten sich auf diese Weise die Mittel, um durch Verteilung von Reichtümern ihre eigene Gefolgschaft zu disziplinieren und dauerhaft an sich zu binden. Einige von ihnen waren darin sehr erfolgreich, so etwa Uldin und Ruga. Sie konnten es sich dann erlauben, ihrerseits D ruck auszuüben und ihren «Marktwert» auch ohne Gegenleistung einzufordern. Es war die zunehmende Schwäche des Weströmischen Reiches, die dieses Spiel um Macht und Ressourcen immer risikoreicher machte. Im O sten gingen die Auseinandersetzungen mit den H unnen niemals so sehr an die Substanz, daß das Reich gefährdet gewesen wäre. Selbst 447, als Attila den Zenit seiner Macht erklommen hatte, war er Theodosius II. nur hundert G oldpfund mehr w ert als einige Jahrzehnte später der gotische Condottiere Theoderich Strabo dem Kaiser Zeno.814 Im Westen hingegen war der Spielraum der Regierung in Ravenna seit 425 trotz teilweise beachtlicher Anstrengungen immer kleiner ge­ worden. Föderaten entzogen sich ihren Verpflichtungen, das Steueraufkommen schmolz dahin, ganze Provinzen gingen für den zentralen Verwaltungsapparat verloren, inzwischen auch ohne daß barbarische Stammesgruppen in diesem Prozeß den Katalysator spielten. N u r die rastlose Tätigkeit des Aëtius hat in den Jahrzehnten nach 425 verhindert, daß die weströmischen Verteidigungs­ anstrengungen, zumindest in Gallien, nicht nur Strohfeuer blieben, sondern in den 440er Jahren Früchte zu tragen begannen.815 Freilich mußte in einer solchermaßen labilen Gesamtsituation jede außer­ ordentliche Belastung eine gefährliche Herausforderung darstellen. Aëtius hat deshalb, wann immer möglich, den militärischen D ruck auf das Westreich zu 814 Maenchen-Helfen, Welt der Hunnen, 94 u. Wolfram, Reich, 191. 815 Permanente Mobilität der Kriegsführung hebt Elton, Defence, bes. 170 f. als Kenn­ zeichen der Gallienpolitik des Aëtius hervor.

5. Ergebnis

153

minimieren versucht. Der Abschluß eines Verzichtfriedens mit den Westgoten 439 und den Wandalen 442 zeigt dies, das mutmaßliche Übereinkommen mit Attila 444/45 ebenso. Ein Engagement Ravennas 447 im O sten war in keiner Weise realistisch, wollte Aëtius nicht die Ressourcen voreilig verschwenden, die er dann benötigte, wenn er selbst ins Visier Attilas geriet. Als es gegen 450 soweit war, sollte sich diese besonnene Politik auszahlen. Angesichts der Zwänge, unter denen das Weströmische Reich im allgemei­ nen, Aëtius im besonderen agieren mußte, ist es - dies sei nochmals hervor­ gehoben - nicht statthaft, der Kategorie «Freundschaft» in den politischen Beziehungen zu den H unnen allzuviel Bedeutung zuzumessen. Aëtius mag zu Ruga ein besonderes Verhältnis gehabt haben; bestimmte zentrale Ereignisse seines Lebens sind durch die Hilfe des Hunnenkönigs maßgeblich beeinflußt worden. Die dürftige Überlieferung läßt hierfür jedoch kein weitergehendes Urteil zu. Die Strukturen hunnischer Machtausübung, wie wir sie bei Attila dann besser beobachten können, sprechen allerdings prinzipiell gegen eine auf langfristige Zusammenarbeit angelegte Politik Rugas. Situationsbezogenes, den häufigen Wechsel des politischen Klimas bewußt in Kauf nehmendes Agieren: dies war die Methode, die den Hunnenkönigen den meisten Gewinn ver­ sprach. Es war Attila, der mit dieser «traditionellen» Vorgehensweise der H unnen, «alternée d ’aggressions et de demandes d ’argent»,816 an entscheidenden Punk­ ten brach. Die Übernahme eines Heermeistertitels und die versuchte Ansippung an das theodosianische Kaiserhaus sind Indizien dafür, daß er bestrebt war, seiner persönlichen Machtstellung durch Institutionalisierung und K nüp­ fen von verwandtschaftlichen Beziehungen den Segen des Reiches und damit mittelfristige Überlebenschancen zu verschaffen. Dieses Projekt Attilas, das das A ttribut «politisch» nun wirklich verdient hat, scheiterte in allen wesentlichen Punkten und ermöglichte «il coronamento della politica di Aezio.»817 Mit Hilfe einer ebenso beharrlichen wie flexiblen Diplomatie gelang es dem patrici­ us, nacheinander die Westgoten und Konstantinopel im Sinne Ravennas zu aktivieren und so eine Konstellation zu schaffen, die auch für einen Attila nicht zu bezwingen war. Es war wirklich eine «Völkerschlacht», die sich bei Mauriacum in Gallien abspielte, und es war die Autorität des Aëtius, die sie ermöglicht und somit eine Verteidigungsleistung bewerkstelligt hatte, die gut zehn Jahre vorher nicht denkbar gewesen wäre. Auch wenn der Erfolg von 451 nur vorübergehender N atur gewesen ist und den strukturellen Niedergang des Westreichs nicht aufhalten konnte, ist dies eine große Leistung gewesen, deren Wert man unter anderem auch daran erkennt, daß «die Katalaunischen 816 Demougeot, Attila et les Gaules, 248. 817 Sirago, Galla Placidia, 333.

Π4

IV. Aëtius und die Hunnen

Felder» im kollektiven Gedächtnis Europas bis heute Assoziationen auslösen.818 Attilas H eiratsprojekt war am starren dynastischen Selbstverständnis Valentinians III. gescheitert. D er Sohn Galla Placidias nahm lieber die große Eskalation in Kauf, als seiner ohnehin auf problematischem Wege zustande gekommenen Legitimität Schaden zuzufügen. Auch Aëtius sollte nach 452 diese Seite des Kaisers kennenlernen. In den Jahren nach dem Attilakrieg entspann sich am H of von Ravenna ein verwirrendes Spiel um die noch nicht vergebene Tochter Valentinians III.819 Aëtius hatte nun sein Heiratsprojekt. Mit mehr oder weni­ ger offenem Zwang sorgte er für eine Verlobung seines Sohnes Gaudentius mit der jungen Placidia. Doch scheiterte Aëtius schließlich in dieser Frage genauso wie Attila. D er Angriff auf sein dynastisches Selbstverständnis und auf seine Souveränität innerhalb des theodosianischen Hauses veranlaßte Valentinian III. schließlich dazu, mit aller Konsequenz zu reagieren, ebenso wie er es im Falle Honorias getan hatte.

818 Barnish, Old Kaspars, 44 ff. betont die Identifikationsmöglichkeiten, die der Attila­ zug 451 für die Völker und Städte Galliens im Mittelalter bot. Gegenüber dem TrojaZyklus konnte er sich langfristig jedoch nicht durchsetzen. Siehe auch Demougeot, Attila et les Gaules, 250, die die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern als «une victoire de la Gaule germano-romaine», nicht so sehr als Sieg Ravennas deutet. 819 Siehe dazu oben S. 144 f.

V. Die Reichspolitik des Aëtius 425 bis 454 n. Chr.

N ahezu dreißig Jahre lang hat Aëtius die Politik des Weströmischen Reiches mitbestimmt, davon über zwanzig Jahre als zentrale Figur am Hofe von Ra­ venna. Für das fünfte Jahrhundert steht er somit einzig dar; erst Theoderich der Große konnte mit einer vergleichbaren Lebensleistung aufwarten.820 Es ist deshalb nur allzu verständlich, daß man seit jeher auf die Resultate dieses Wir­ kens blickte: H at die langjährige Tätigkeit des Aëtius dem Westreich N utzen gebracht, seine gerade zu Anfang des fünften Jahrhunderts bedrohte Existenz stabilisiert? Schon den spätantiken Beobachtern ist aufgefallen, daß mit dem Tode des mächtigen Heermeisters im Jahre 454 eine Zäsur einherging, von der sich das Hesperium regnum nicht mehr zu erholen vermochte.821 War es das Verdienst des «letzten Römers»,822 daß die brüchige Fassade des Reiches an Rhein und Donau bis zu diesem Zeitpunkt aufrechterhalten werden konnte, um dann rasch - innerhalb einer Generation - zusammenzufallen? O der lag der Kern des Unglücks nicht gerade in der eigensüchtigen, vor allem auf den eigenen Machterhalt bedachten Politik des Heermeisters, der mehr als einmal die Auseinandersetzung mit den inneren Gegnern dem Kampf an den Grenzen vorgezogen und es so unterlassen hatte, die vielfältigen Gebrechen, an denen das Reich litt, an der Wurzel zu bekämpfen?823 Die innenpolitische Tabula rasa, die Aëtius bei seinem Tode hinterließ, so könnte man argumentieren, habe den raschen Zusammenbruch nach 454, erst recht nach dem Tode des jungen Kaisers Valentinian III., ermöglicht. 820 Theoderich der Große regierte allein in Italien 37 Jahre, von 489 bis 526, hatte vorher allerdings schon seit 474 als rex auf dem Balkan die Geschicke seines gotischen Volkes bestimmt. - Die langen Regierungszeiten der Kaiser Honorius (393-423) und Valentinian III. (425-455) kann man mit Aëtius’ Wirkungsspanne nicht vergleichen, handelte es sich bei ihnen doch um prin cipes p u e ri bzw. prin cipes clau si mit nur einge­ schränkten politischen Handlungsmöglichkeiten. Nächst Aëtius finden wir die dauerhaf­ testen politischen Spitzenkarrieren bezeichnenderweise bei den präsentalen Heermei­ stern Stilicho (395-408) und Rikimer (456-472). 821 Marcell. chron. s. a. 454: A etiu s m a g n a O cciden talis rei p u b lic ae salu s et reg i A tti-

;

lae terro r a V alentiniano im p erato re cum B o eth io am ico in p a la tio tru cid atu r a tq u e cum ipso H esp eriu m cecidit regn u m nec h acten us v a lu it relevari.

822 So die Charakterisierung bei Prok. Kais. hist. 3,3,14f. 823 Im Bürgerkrieg von 424/25 etwa und nochmals 432/33 hatte Aëtius nicht gezö­ gert, seine persönlichen Interessen mit Hilfe angeworbener hunnischer Hilfstruppen durchzufechten.

156

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Der angeführte Gedankengang ist 1973 von J.R .M oss vorgetragen worden und hat einer kritischen Aëtius-Sicht in der Forschung weiteren Vorschub ge­ leistet.824 Wahrend Stein schon in den 1920er Jahren die vermeintlich verhäng­ nisvollen Folgen des innenpolitischen Wirkens des Heermeisters gegeißelt hatte,825 übte der englische H istoriker heftige Kritik an der «außenpolitischen» Konzeption des Aëtius. Statt den «central bloc»826 des Reiches rings um das Mittelmeer - insbesondere Nordafrika - zu verteidigen, habe dieser die schwindenden Kräfte des Westreichs in Gallien an strategisch ungünstiger Stelle vergeudet.827 D urch die Vernachlässigung der römischen Seemacht sei die Kontrolle über die innere Linie an die Wandalen verloren gegangen.828 Erst Majorian habe 460 viel zu spät diese Scharte vergeblich auszuwetzen versucht. Moss’ Anschuldigungen gipfeln in dem Vorwurf des Verrats an Aëtius: Geiserich habe Dankbarkeit empfinden müssen angesichts der kooperativen Politik des patricius gegenüber dem Wandalenreich.829 Das geschilderte negative Bild von den über zwanzig Jahre dauernden Be­ mühungen des Heermeisters um eine Konsolidierung des Reiches ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Martin weist in seiner Uberblicksdarstellung zur Spätantike darauf hin, daß Aëtius sich nicht mehr in der Zeit eines Diokletian oder Konstantin bewegt habe; die komplexen Probleme des Westreichs seien nicht mehr durch das noch so engagierte Wirken eines einzelnen zu meistern gewesen.830 Auch Zecchini versucht in seiner Monographie überspannte Er­ wartungen an den patricius zu dämpfen. Aëtius habe - «essenzialmente un grande restauratore»831 - mit allen verfügbaren Mitteln die Substanz des Rei­ ches zu wahren versucht. Dies sei ihm auch weitgehend gelungen.832 Zwar ha­ be das Reich während der Zeit seiner Machtausübung zweifellos Einbußen er­ litten (etwa in Britannien), doch habe Aëtius trotzdem nie die imperiale Perspektive aus den Augen verloren. Auch periphere Landschaften wie Spanien und das Rheinland seien in seinem Aktionsfeld gewesen; gerade dadurch aber habe er sich von seinem mittelbaren Nachfolger Rikimer unterschieden, der

824 Moss, Effects. 825 Stein, Bas-Empire, 337ff. Dazu ausführlich das Kapitel «Aëtius und die italische Senatsaristokratie» auf S. 255 ff. 826 Moss, Effects, 719. 827 Ebd., 712. 828 Ebd., 722ff. Auch Ferrill, Fall of the Roman Empire, 138 sieht in der Vernach­ lässigung der römischen Flotte durch Aëtius ein Versäumnis. 829 Moss, Effects, 729. 830 Martin, Spätantike, 171 f. 831 Zecchini, Aezio, 289. 832 Ebd., 280: «insomma [...] l’integritä territoriale dell’impero era in sostanza salva [···]·»

V. Die Reichspolitik des Aëtius

157

den Zusammenhalt des Reichs ganz offensichtlich nicht mehr gewährleisten konnte.833 Die Positionen von Moss und Zecchini sind schwer miteinander zu vereinba­ ren; es genügt sicher auch nicht festzustellen, nun, nach der Stabilisierung Gal­ liens in den 430er und 440er Jahren und nach dem Sieg über Attila 451/52 wäre Aëtius sicher auch dazu in der Lage gewesen, mit den Wandalen fertig zu werden.834 D er patricius hat in den über zwanzig Jahren, in denen er bezüglich der politischen und militärischen Prioritäten ein gewichtiges W ort mitzureden vermochte, nun einmal nicht den Entscheidungskampf mit Geiserich auf die Tagesordnung gesetzt, ein Faktum, das sicherlich der Erklärung bedarf, zumal die Wandalenfrage bis zum Beginn der 430er Jahre im Zentrum der ravennati­ schen Macht- und Intrigenspiele stand und auch danach nichts von ihrer Bri­ sanz verlor. Umgekehrt gilt Gleiches für die Bevorzugung der gallischen Provinzen durch Aëtius. Viele Jahre hindurch hat sich der rührige patricius ausschließ­ lich in diesem Teil des Reiches aufgehalten und dort Saison für Saison Krieg geführt. D er Heermeister hat phasenweise an Rhein und Donau persönlich die Operationen geleitet, nicht aber in Spanien, wo er nur durch Mittels­ männer seine bzw. die Interessen des Reiches wahrnahm. Gegenüber Britan­ nien unterließ er sogar dies. Ein - wenn auch hinsichtlich seiner Historizität problematischer - H ilferuf der Inselbewohner blieb ohne sichtbare Folgen. Auch wenn Aëtius im Sinne Zecchinis den Blick auf das Gesamtreich nicht verloren hat, fordert die Konzentration seiner Machtmittel auf Gallien eine Erklärung. Freilich ist die Beantwortung der aufgeworfenen Frage alles an­ dere als leicht, denn, wie so oft im fünften Jahrhundert, wenn es nicht nur um nackte Fakten, sondern um die Aufhellung von Motiven und Beweg­ gründen geht, läßt uns auch in diesem Fall die Quellenlage weitgehend im Stich. Für die Truppenbewegungen und Feldzüge des Aëtius verfügen wir oft genug nur über dürre Informationen aus - immerhin - zeitnahen C hro­ niken (z. B. Hydatius, Prosper von Aquitanien und die Gallische Chronik von 452) oder Panegyrici (nämlich die des Sidonius Apollinaris und des Merobaudes). Die jeweiligen H intergründe bleiben aber fast immer im dun­ keln, im ersten Fall wegen der durch das literarische Genus geforderten Kürze, im zweiten durch die ebenfalls gattungstypische Verunklarung der erzählten Vorgänge, sollten sie doch in erster Linie zum Ruhm der gelobten Persönlichkeit beitragen, nicht eine historische Hintergrundinform ation dar­ stellen. N icht umsonst hat H. Elton in bezug auf die erste Hälfte des fünften

833 Ebd., 209 u. 288 f. 834 So der optimistische Bury, Later Roman Empire, 300.

158

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Jahrhunderts von einer Ära gesprochen, «when we know what happened, but not why.»835 Wenn es im folgenden darum geht, die Reichspolitik des Aëtius möglichst umfassend darzustellen, so ist es zweckmäßig, damit in Gallien zu beginnen, denn da in diesem Teil des Imperiums - zumindest über lange Jahre - zwei­ fellos ein Schwerpunkt der Tätigkeit des patricius lag, kann man erwarten, hier auch am ehesten Hinweise auf eventuelle übergeordnete politisch-militärische Konzeptionen, etwa gegenüber eingewanderten oder einwandernden Barbaren, zu gewinnen. Es gilt also zunächst, die Rolle Galliens bzw. - im weiteren Sinne - der Prätorianerpräfektur Gallien im Weströmischen Reich des fünften Jahrhunderts zu bestimmen. Ferner müssen die Handlungsträger des Schauplat­ zes vorgestellt und ihre Machtmittel bewertet werden. N u r dadurch läßt sich der Handlungsspielraum des Aëtius bewerten, den er zu nutzen vermochte. Der nächste Schritt wird dann sein, die Reichsterritorien außerhalb Galliens einzubeziehen, zunächst die zur selben Prätorianerpräfektur gehörenden spani­ schen und britischen Provinzen, dann auch die Donauprovinzen und schließ­ lich Nordafrika, dem von einem großen Teil der modernen Forschung eine entscheidende Rolle für das Überleben des Westreichs zugebilligt w ird.836

1. Das politische Terrain in Gallien zu Beginn der 420er Jahre 1.1 Die Rolle der gallischen Prätorianerpräfektur in der Spätantike Der Raum, in dem Aëtius seit 425 vornehmlich agierte, hatte seit dem ausge­ henden vierten Jahrhundert starke, teils schmerzhafte Veränderungen erfahren müssen.837 Seit der Zeit der sogenannten Soldatenkaiser hatte Gallien zunächst an Bedeutung für das Reichsganze hinzugewonnen. In konstantinischer Zeit

835 Elton, Defence, 170; das Zitat bezieht sich explizit auf die Ära der Feldzüge des Aëtius. 836 So noch jüngst Harries, Sidonius Apollinaris, 245 f. u. Elton, Warfare, 267. 837 Zur Zivil- und Militärverwaltung Galliens in der Spätantike immer noch Nesselhauf, Spätröm. Verwaltung; ferner D. Hoffmann, NA 84, 1973, 1-18; U.Nonn, in: Geuenich, Franken und Alemannen, 82-94 u. M. Kaiser, in: Bridger/Gilles, Spätröm. Befestigungsanlagen, 35-40. Die Entwicklung der Grenzzonen des Weströmischen Rei­ ches am Rhein erörtern E.M.Wightman, Gallia Belgica, 1985, 300ff. u. R.Brulet, in: T. Bechert/W.J. H. Willems (Hrsgg.), Die römische Reichsgrenze von der Mosel bis zur Nordseeküste, 1995, 103-119; ferner C. R. Whittaker, Frontiers of the Roman Empire, 1994, 250ff. Zu seinem Konzept, das die Grenzräume des Imperiums als breite Kom­ munikationszonen mit dem Barbaricum auffaßt, vgl. allerdings die Kritik von E. L. Wheeler, The Journal of Military History 57, 1993, 7-41 u. 215-240.

1. Das politische Terrain in Gallien

159

richtete man einen Amtsbereich für den p r a e f e c t u s p r a e t o r i o p e r G a l l i a s ein, ein Länderkomplex, der c u n c ta t r a n s A lp e s S3S umfaßte. Zu diesem transalpinen Block zählten nach dem Verständnis der Zeit auch Britannien, das durch H an­ dels- und Verkehrsrouten vielfach mit Gallien verbunden war, und die spani­ schen Provinzen einschließlich Mauretania Tingitana jenseits der Straße von Gibraltar.838839 Trier, die H auptstadt der neuen Prätorianerpräfektur, war bereits seit Ende des dritten Jahrhunderts dadurch aufgewertet worden, daß es von da an nahezu durchgehend Residenz eines C a e s a r oder A u g u s t u s war. Die getrof­ fenen Regelungen stellten keine völlige Umwälzung dar; vielmehr trugen sie bestimmten geopolitischen Vorgaben Rechnung, wie sie sich seit der frühen Kaiserzeit immer wieder bemerkbar gemacht hatten, am signifikantesten in der Bildung des - freilich ephemeren - sogenannten Gallischen Sonderreiches zwi­ schen 260 und 274 n. Chr.840 Die nahezu ununterbrochene kaiserliche Präsenz in Gallien während des vierten Jahrhunderts hatte positive Folgen in vielerlei Hinsicht. Die imperiale H ofhaltung in Trier, aber auch anderen Städten, wie Arles, Vienne oder Paris, sorgte nicht nur für eine ökonomische Belebung; sie stimulierte auch die Kul­ turszene und das Bildungswesen über das engere kaiserliche Umfeld hinaus.841 Die Tatsache, daß Generäle und Eliteformationen unmittelbar vor O rt waren, sorgte für ein höheres Maß an militärischer Sicherheit. So konnten auch schwe­ re Krisen, wie die nach der Usurpation des Magnentius im Jahre 350, offensiv angegangen und systematisch bereinigt werden. D urch die Befestigungsmaß­ nahmen des C a e s a r Julian (355-361) und des A u g u s t u s Valentinian I. (364-375) war am Rhein ein Grad an objektiver und erst recht subjektiver Sicherheit erreicht worden, der kaum mehr gesteigert werden konnte.842 Die Anwesenheit der kaiserlichen Hofhaltung hatte schließlich auch zur Folge, daß sich die Eliten der gallischen Provinzen fortdauernd für das Imperium engagierten. 838 Ps. Aurel Vict. epit. 41,19f. Auch Zos. 2,39,2 definiert das betreffende Territorium als τά ύπέρ τάς ’Άλπεις απαντα. Dazu Heinen, Röm. Westen, 188 ff. u. 201 ff. 839 Ebd., 201 ff. Spanien galt nach dem Verständnis zumindest eines Teils der antiken Geographie (z. B. Strabon) geradezu als Annex Galliens. 840 Ebd., 186ff. Das sog. Gallische Sonderreich umfaßte auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung weite Teile der späteren transalpinen Prätorianerpräfektur; seine Zentren waren Köln und Trier. 841 Als Beispiel seien hier nur die teils anonym überlieferten Panegyrici aus tetrarchischer und konstantinischer Zeit genannt. 842 Hierzu aus jüngerer Zeit u. a. Drinkwater, Germanic Threat, der hervorhebt, das am Rhein zur Schau getragene Verantwortungsbewußtsein der Kaiser habe u. a. der Stärkung des subjektiven Sicherheitsempfindens der provinzialen Eliten in Gallien ge­ dient. Deswegen allerdings von einer «stage-show» (ebd., 28) zu sprechen, erscheint doch etwas übertrieben: Die Gefahren durch eindringende und plündernde Alamannen und Franken waren doch ohne Zweifel real.

160

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Nach den Wirren des dritten Jahrhunderts konnte so verhindert werden, daß der sich in konstantinischer Zeit erneuernde Senatorenstand in seinen regiona­ len Wirkungskreisen verharrte und statt dessen seinen Ehrgeiz auch auf hohe zivile Reichsämter richtete. Ein für uns gut sichtbarer H öhepunkt dieser E nt­ wicklung aus gallischer Sicht war in der Regierungszeit des Kaisers Gratian (367-383) erreicht, als der aus Bordeaux stammende Literat Ausonius die Gal­ lienpräfektur und das Konsulat erreichte und so den Anteil des gallorömischen Senatsadels an der Gestaltung des Reiches exemplarisch vor Augen führte.843 Es ist kein Wunder, daß, von einem solchen Niveau aus betrachtet, die auf die 380er Jahre folgenden Dezennien von den gallischen Zeitgenossen nur als Rückschritt begriffen werden konnten. Der zeitweilig von der herrschenden Dynastie anerkannte U surpator Magnus Maximus (383-388) hatte noch in Trier geherrscht, doch nach dessen Niederringung richtete Valentinian II. (375-392) seinen H of in Vienne ein. Das kurze Zwischenspiel des Eugenius und Arbogast fand 394 ein blutiges Ende, und als sich die Wogen wieder ge­ glättet hatten, zeigte sich, daß der neue Herrscher, der erst zehnjährige H onori­ us, nicht einmal in Südgallien seine Residenz nehmen würde, sondern im ober­ italischen Mailand verblieb. Schon im Sommer 389 hatte der gallische Rhetor Pacatus offene Kritik am scheinbaren Desinteresse Theodosius’ des Großen hinsichtlich der transalpinen Provinzen geübt.844 Auch späteren Generationen des gallorömischen Senatsadels schien der genannte Zeitraum die entscheidende Phase zu sein, in der sich die kaiserliche Zentrale von Gallien und seinen Eliten entfremdete und sie sich selbst überließ.845 Es paßt gut in diesen Zusammen­ hang, daß irgendwann in der Zeit vor oder nach 400 die Residenz des galli­ schen Prätorianerpräfekten nicht mehr im grenznahen Trier, sondern im provençalischen Arles eingerichtet wurde. Um den genauen Zeitpunkt hat sich eine Forschungsdiskussion entwickelt, die an dieser Stelle nicht im einzelnen nachgezeichnet werden muß.846 B. Bleckmann hat mit Recht Kritik an dem 843 Generell zur Rolle des gallorömischen Senatsadels im 4. Jh. immer noch Stroheker, Senatorischer Adel, 5 ff.; ferner Matthews, Western Aristocracies u. J. F. Drinkwater, in: Herzig/Frei-Stolba, Labor omnibus unus, 136-153. Instruktiv ist auch das Bild, das Harries, Sidonius Apollinaris, 23 ff. von der gallorömischen Senatsaristokratie zur Zeit des Sidonius Apollinaris zeichnet. Zu Ausonius und seinem Umfeld siehe u. a. die um­ fassende Darstellung von H.S.Sivan, Ausonius of Bordeaux, 1993. 844 Paneg. 2 (12), 23,1-4. 845 Sidon, carm. 5,353-363. 846 Die traditionellen Datierungsansätze schwanken zwischen 394/95 (J.-R. Palanque, REA 36, 1934, 359-365) u. 407 (A.Chastagnol, RH 249, 1973, 23-40). Hierzu die aus­ führlichen Erörterungen von Bleckmann, Honorius, 575 ff. mit weiteren Literaturanga­ ben. Zuletzt hat sich Drinkwater, Usurpers, 274 ff. der Thematik angenommen. Er tritt für eine Zwischenstation der Prätorianerpräfektur in Lyon seit 402 n. Chr. ein. Erst im Ge­ folge der Usurpation Konstantins (III.) nach 407 sei Arles in den Vordergrund gerückt.

1. Das politische Terrain in Gallien

161

Terminus «Verlegung» geübt, der eine planmäßige Grundsatzentscheidung der kaiserlichen Administration vorspiegele.847 Tatsächlich sei die Konzentration zentraler militärischer und ziviler Verwaltungsinstitutionen im Süden Galliens eine zunächst nicht unbedingt als endgültig aufgefaßte Maßnahme gewesen, die erst durch die Umwälzungen der Jahre 406 bis 418 irreversibel geworden sei.848

1.2 Die Invasion von 406/07 und ihre Folgen In der Tat kommt den Ereignissen, die zu Beginn des fünften Jahrhunderts die transalpinen Territorien des Reiches erschütterten, für die Entwicklung der Fol­ gezeit eine entscheidende Bedeutung zu.849 Um die Jahreswende 406/07 gelang es einem Konglomerat verschiedener Barbarengruppen, die Rheingrenze in der Gegend von Mainz zu durchbrechen und tief ins Innere des Imperiums vorzu­ dringen. Die Quellen850 nennen die Wandalen, Alanen und Sweben unter den Beteiligten; auch alamannische und burgundische G ruppen nutzten die Situati­ on, um jenseits der Flußgrenze zu plündern oder sich gar dort festzusetzen.851 Offensichtlich war die Invasion für die kaiserliche Zentrale völlig unvorherge­ sehen gekommen.852 Von einer bewußten Vernachlässigung der Rheingrenze im Vorfeld des Ereignisses, wie sie dem Heermeister Stilicho schon in der Antike immer wieder zur Last gelegt worden ist,853 kann bei näherer Betrachtung

847 Bleckmann, Honorius, 578 ff. 848 Die Folgen der Ansiedlung der Prätorianerpräfektur für die städtische Entwick­ lung von Arles im 5. Jh. diskutieren Cl. Sintès, AntTard 2, 1994, 181-192 u. S.T. Loseby, in: N. Christie/S. T. Loseby (Hrsgg.), Towns in Transition, 1996, 45-70. 849 Die Ereignisse rings um die Invasion von 406/07 sind oft innerhalb eines größe­ ren Zusammenhangs behandelt worden; siehe u. a. Seeck, Untergang, Bd. 5, 21920, 377ff.; Bury, Later Roman Empire, 185 ff.; Stein, Bas-Empire, 250 ff.; Courcelle, Histoire littéraire, 79ff.; Demougeot, Formation de l’Europe, 430ff.; Wolfram, Reich, 231 ff. u. Lütkenhaus, Constantius III., 38ff. Zuletzt hat Drinkwater, Usurpers, die Invasion von 406/07 im Kontext der Usurpationen Konstantins (III.) und des Iovinus erörtert. 850 Siehe u. a. Hier, epist. 123,15,2-4 (Hilberg); Oros. hist. 7,38,3 u. 40,3 sowie Zos. 6,3,1. Weitere Quellenangaben bei Stein, Bas-Empire, 551 f. Anm. 161. 851 Die genauen Vorgänge, insbesondere der Verbleib der einzelnen Völker im Reich, bleiben aufgrund der Quellenlage völlig im dunkeln. Die Sweben etwa haben sich als gens vielleicht erst im Laufe der Wanderung nach Galicien gebildet; dazu Hamann, Sueben, 62 ff. u. unten S. 226 f. Von den Alamannen wissen wir zwar, daß sie an den Bürgerkriegskämpfen um das Jahr 410 teilgenommen haben (Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9); von einer Ansiedlung auf linksrheinischem, römischem Territorium verlautet jedoch nichts. 852 Drinkwater, Germanic Threat, 29f. 853 Siehe etwa Rut. Nam. 2,41-60, der Stilicho sogar des Verrats am Reich be­ schuldigt. Weitere Zeugnisse bei Stein, Bas-Empire, 552 Anm. 163 u. Demandt, Spät­ antike, 144.

162

V. Die Reichspolitik des Aëtius

nicht die Rede sein.854 Vielmehr funktionierten die traditionellen Abwehr­ mechanismen des Reiches bei der sich abzeichnenden Gefahr problemlos: Die Franken am Nieder- und Mittelrhein nahmen ihre Bündnispflichten gegenüber dem Imperium getreulich wahr und traten den Invasoren entgegen.855 In dieser Situation kamen jedoch einige Umstände hinzu, die - zusammenwirkend - aus dem ärgerlichen Grenzzwischenfall eine Katastrophe machten: Zum einen w ur­ den die Franken nach wechselvollem Kampf besiegt; die Invasoren vermochten plündernd ins gallische Hinterland vorzudringen. N u r wenige G ruppen konn­ ten durch Zugeständnisse von ihrem Tun abgehalten und in den Dienst des Reiches übernommen werden.856 Zum anderen: Die Ereignisse rings um die Barbareninvasion verquickten sich mit virulenten inneren Problemen des Im ­ periums. Vielleicht schon seit dem vorigen Jahr 406 n. Chr. war es in Britan­ nien zu kurzlebigen Usurpationsversuchen gekommen, die nun, angesichts des auf dem Kontinent um sich greifenden Chaos, eine gefährliche Dimension an­ zunehmen drohten.857 Als im Frühjahr 407 Konstantin (III.) mit dem briti­ schen Feldheer nach Gallien übersetzte, mußte es Stilicho und seinen Beratern klar sein, daß sein H auptproblem nicht mehr in Konstantinopel, in der Ausein­ andersetzung mit den Hinterm ännern des östlichen Kaisers Arcadius lag, son­ dern jenseits der Alpen, wo das theodosianische Regime im Laufe des Jahres zusammenfiel wie ein Kartenhaus. Es würde zu weit führen, den verschiedenen Wendungen der krisenhaften Jahre zwischen 406 und 418 in allen Einzelheiten zu folgen. Wichtig für unse­ ren Zusammenhang sind die Ergebnisse und irreversiblen Entwicklungen dieser Jahre, bestimmten sie doch die Gallien- und Reichspolitik der folgenden Jahr­ zehnte und damit auch die des Aëtius. Folgende Aspekte müssen hierbei her­ vorgehoben werden: Erstens: Die 406/07 über den Rhein eingedrungenen Barbaren blieben im Land. Schon der U surpator Konstantin (III.) hatte unter ihnen Truppen rekru­ tiert, um seine begrenzten Kräfte gegen den legitimen H errscher H onorius und

854 Zur Verteidigung der Rheingrenze ab etwa 400 siehe die unten auf S. 184 Anm. 975 genannte Literatur; ferner E.Demougeot, RH 236, 1966, 39ff. 855 Oros. hist. 7,40,3 u. Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9. Dazu Verlinden, Franken, 2. Lütkenhaus, Constantius III., 40f. mit Anm. 89 datiert diese Episode entgegen der Mehrzahl der Forscher auf 410 n. Chr. 856 So spaltete sich der Alane Goar mit seiner Gruppe von den Invasoren ab und verständigte sich mit den Römern; siehe Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9. 857 Zu den Usurpationen Konstantins (III.) und des Iovinus u. a. C. E. Stevens, Athenaeum 35, 1957, 316-347; E.Demougeot, in: dies., Empire romain, 171-213; R. Scharf, Francia 20, 1993, 1-13; K. Ehling, Francia 23, 1997, 1-11; Drinkwater, Usur­ pers u. zuletzt J. K. Haalebos, in: Fischer, Germanen, 93-98.

1. Das politische Terrain in Gallien

163

etwaige Mitstreiter um das Kaiseramt zu verstärken.858 Auch Iovinus, der 411 nach dem Scheitern Konstantins den Purpur nahm, versicherte sich burgundischer und alanischer Hilfe und nahm Kontakt zu den Westgoten Athaulfs auf.859 Als mit seinem Sturz 413 langsam Ruhe in weiten Teilen Galliens ein­ kehrte, waren vielerorts Fakten geschaffen und an eine völlige Vertreibung der Barbaren nicht mehr zu denken: «Es blieb letztlich bei einer ungenügend ge­ sicherten Rheingrenze und der Präsenz von Barbaren im Reichsinnern, die sich der Autorität des Kaisers entzogen.»860 D urch den Abschluß verschiedener foedera konnte der Status quo allenfalls langfristig stabilisiert, nicht aber kurz­ fristig revidiert werden. Zweitens: Die Bürgerkriegsjahre zwischen 407 und 415 hatten - in Verbin­ dung mit der Barbarennot - nicht nur enorme materielle Schäden verursacht; sie hatten auch in weiten Teilen der Bevölkerung, besonders bei den politisch aktiven Eliten, Erbitterung und Enttäuschung hinterlassen. Gerade in den Krei­ sen des gallorömischen Senatsadels hatten die U surpatoren dieser Jahre vielfach Anklang gefunden, schienen doch nun die Tage endlich wiederzukehren, da ein Kaiser vor O rt und persönlich seiner Verantwortung gerecht wurde. Mit Iovi­ nus war sogar ein gallischer Aristokrat vermeintlich an die Spitze des Staates gelangt.861 Viele seiner Standes genossen schlossen sich ihm an und verharrten selbst dann noch in O pposition zum Regime des theodosianischen princeps clausus, als Iovinus längst an den harten militärischen Realitäten gescheitert war. H onorius wußte um die ihm feindliche Gesinnung der gallorömischen Senatoren; vielleicht fiel deshalb die Abrechnung des Jahres 413 so grausam aus.862 N och Jahrzehnte später war die Tatsache, daß sein Gallienpräfekt Dar­ danus eigenhändig Iovinus hingerichtet hatte, unter den einheimischen Aristo­ kraten nicht vergessen, gerade weil Dardanus einer der ihren war und sich so offensichtlich einer unverzeihlichen Kollaboration schuldig gemacht hatte.863 Es hat Jahre gedauert, bis der Heermeister und spätere Kaiser Constantius III. ein Stück weit Vertrauen zurückgewonnen hatte.864 858 Lütkenhaus, Constantius III., 38 mit Anm. 75 u. Drinkwater, Usurpers, 282. 859 Lütkenhaus, Constantius III., 52 ff. u. Drinkwater, Usurpers, 287ff. 860 Bleckmann, Honorius, 562. 861 Oros. hist. 7,42,6 (v ir G a llia ru m nobilissim us). 862 Olymp, frg. 20,1 (Blockley) u. Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9. 863 Sidon, epist. 5,9,1 (o m n ia in D a r d a n o crim in a sim u l execraren tu r). Dazu Drinkwa­ ter, Usurpers, 291 f. 864 Mathisen, Fifth-century visitors, betont allerdings, daß der Trend zur Abkehr Galliens vom Reich seit Ende des 4. Jhs. unumkehrbar war. - Zum Verhalten der gallo­ römischen Senatoren während der Ereignisse von 406/18 u. a. Stroheker, Senatorischer Adel, 43 ff.; Matthews, Western Aristocracies, 307 ff. u. Lütkenhaus, Constantius III., 38 ff. Antitheodosianische Affekte finden sich noch lange, so etwa in den 450er Jahren bei Sidon, carm. 5,356-363 u. carm. 7,537-547.

164

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Drittens: N icht nur die politischen Eliten Galliens waren durch die Er­ eignisse nach 406/07 gegenüber Ravenna in einen Zustand von tiefer Ver­ unsicherung bis hin zu bewußter Ablehnung geraten; auch weite Bevölke­ rungskreise in der gesamten Prätorianerpräfektur teilten diese Befindlichkeit. Sowohl in Britannien als auch in der Aremorika, einem Küstengebiet, das sich grob zwischen den Flußmündungen von Loire und Seine lokalisieren läßt, vertrieb die Bevölkerung ihre Zivil- und Militäradministration und begann ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.865 Während in Gallien die Situation nach dem Abflachen der Krise bis 417 recht und schlecht wiederhergestellt werden konnte,866 ist die Insel jenseits des Kanals nie mehr völlig unter die Kontrolle des Reiches gelangt.867 Auch in Spanien, wohin im H erbst des Jahres 409 die Wandalen und Sweben sowie große Teile der Alanen gelangt waren,868 brach im Zuge des Bürgerkrieges, in dem Römer und Barbaren in wechselnden Koalitionen mit- und gegeneinander kämpften, die öffentliche O rdnung teilweise zusammen.869870 Erst seit es dem Heermeister Constantius 416 gelungen war, die Westgoten unter ihrem König Wallia für die Umset­ zung seiner Interessen zu verpflichten, kehrte langsam Ruhe ein. Mit dessen Hilfe gelang es in den Kampagnen der folgenden Jahre, die Invasoren von 406/07 empfindlich zu treffen. Dennoch waren die Ergebnisse nicht völlig befriedigend: Als Wallia 418 auf Geheiß des Constantius nach Südgallien ab­ zog, um dort seine ihm endlich zugewiesenen Wohnsitze zu beziehen, war die problematische Situation in Spanien keineswegs bereinigt. Im Süden for­ mierte sich aus den Trümmern der von den Westgoten dezimierten Völker­ koalition unter dem Hasdingenkönig Gunderich der neue Großstamm der Wandalen, der auch in den folgenden Jahren die Aufmerksamkeit der Ver­ antwortlichen in Ravenna auf sich ziehen sollte. Im N ordw esten der Iberi­ schen Halbinsel schließlich waren die Sweben übriggeblieben. Zu gering an Anzahl, um dem Reich wirklich schaden zu können, führten sie dennoch ohne fo ed m i70 ihre räuberische Existenz fort und stellten einen U nruhefaktor dar, der, bei fortdauernder Vernachlässigung durch die Reichszentrale, die Grenzen eines lediglich regionalen Konfliktherds zusehends zu sprengen drohte. 865 Zos. 6,5,2-6,1. 866 Rut. Nam. 1,213-216. Zu der damit verbundenen Bagaudenproblematik siehe unten S. 190 ff. 867 Hierzu unten S. 244 ff. 868 Oros. hist. 7,40,8 f.; Hyd. chron. 42 (s. a. 409) u. Soz. 9,12. 869 Zur Ereignisgeschichte in Spanien seit 409 knapp und unter Hinzuziehung der wichtigsten Quellen Demandt, Spätantike, 147 ff. 870 Diesen Sachverhalt haben Thompson, Hydatius, 154 ff. und jüngst wieder Violante Branco, St. Martin of Braga, 72 ff. hervorgehoben. Dazu unten S. 231 f.

1. Das politische Terrain in Gallien

165

Viertens: W ir haben die Westgoten bereits erwähnt. Auch in diesem spe­ ziellen Fall w ürde es die Themenstellung sprengen, die mit dem Zug dieser gens vom Balkan bis nach Südgallien verbundenen Probleme im einzelnen zu diskutieren, zumal in der Forschung diesbezüglich immer noch alles andere als Einigkeit herrscht.871 N u r so viel sei im Hinblick auf den Fortgang der Geschichte im fünften Jahrhundert gesagt: Mit den Westgoten Alarichs tauchte - erstmals 401 - ein M achtfaktor in Italien auf, der in den folgen­ den Jahren die ohnehin schon problemgesättigte Atmosphäre des Westreichs immer wieder anheizte, bereits bestehende Konflikte in neue Richtungen lenkte und jedenfalls ihre Bereinigung eher behinderte als förderte.872 Dabei ist es aus römischer Sicht weniger entscheidend, wer die Westgoten waren, d. h. wie man die G ruppe charakterisieren könnte, an deren Spitze Alarich und später Athaulf ihre Interessen verfochten. Viel entscheidender ist die Frage, welche Funktion sie in dieser Zeit im Kontext der Reichspolitik aus­ übten, und dies um so mehr, je länger sie sich der drohenden Vernichtung durch ihre römischen Kontrahenten zu entziehen vermochten. Die A ntw ort darauf kann mit Wolfram nur dahingehend ausfallen, daß es sich bei den Westgoten zu Beginn der 420er Jahre um ein «römisches» H eer handelte,873 ein Heer, das sich als unverzichtbar erwiesen hatte, um die aufgetretenen Probleme zu meistern - man denke nur an die Beseitigung des Usurpators Iovinus 413 und die Spanienkampagnen der Jahre 416/18. Die Unverzichtbarkeit der Westgoten aufgrund militärischer Erwägungen hatten sowohl Stilicho als auch Constantius anerkennen müssen;874 sie hatte auch für Aëtius am Anfang aller Gallienpolitik zu stehen. Mittelfristig konnten Wallia und seine Nachfolger dadurch in eine strukturell günstige Verhandlungsposition gegenüber dem Westreich gelangen, die für Ravenna nicht unproblematisch war. Machtpolitik in Gallien wurde zu einer Gratwanderung, und die D urch­ setzung bestimmter Ziele bemaß sich zunehmend nicht mehr nur nach dem,

871 Einen aktuellen Überblick über die verschiedenen Themen der Forschung bieten Ferreiro, Visigoths u. Heather, Visigoths. 872 Zum Zug Alarichs und den damit verbundenen Problemen siehe aus neuerer Zeit u. a. Liebeschuetz, Barbarians and Bishops, 48ff.; dens., in: Drinkwater/Elton, Fifthcentury Gaul, 75-83 sowie C.E.V.Nixon, in: Drinkwater/Elton, Fifth-century Gaul, 64-74 u. Heather, Goths, 138ff. 873 Wolfram, Reich, 214. Offensichtlich waren die Westgoten auch in ihrer materiellen Kultur bereits stark assimiliert, denn sie lassen sich archäologisch in Aquitanien prak­ tisch nicht nachweisen; dazu V. Bierbrauer, FMS 28, 1994, 153 ff.; B. Sasse, Arch. Inf. 20, 1997, 29-48 u. Heather, Goths, 182 f. 874 Stilicho hatte die Westgoten mehrfach gegen Konstantinopel einzuspannen ver­ sucht; Constantius benutzte sie gegen die unliebsamen Barbarenvölker in Spanien.

166

V. Die Reichspolitik des Aëtius

was in Ravenna oder Arles beschlossen worden war, sondern auch nach dem, was in Toulouse vom gotischen rex und seinen optimates als w ün­ schenswert erachtet w urde.875

1.3 Zusammenfassung Fassen wir die Ergebnisse unserer Darlegungen hinsichtlich der Aussichten zu­ sammen, die Aëtius erwarteten, als er im Jahre 425 nach Gallien kam, so läßt sich zunächst konstatieren, daß die Probleme, mit denen er sich auseinander­ zusetzen hatte, immer noch dieselben waren, wie sie sich seit zwanzig Jahren herausgebildet hatten: Da sind einmal die barbarischen Gruppen, die 406/07 den Rhein überschritten. Sie hatten unter dem D ruck der kriegerischen Ereig­ nisse zwar so manchen Wandel durchmachen müssen, doch waren sie immer noch ein unübersehbarer Faktor im Kräftespiel des Reiches. Manche von ihnen hatten sich ein foedus erstritten (wie z. B. die Burgunden am Rhein); viele aber - etwa diverse alanische Gruppen in Gallien - harrten noch immer einer ab­ schließenden Regelung ihres Verhältnisses zum Kaiser in Ravenna.876 Einen festen Platz im Gefüge der gallischen Prätorianerpräfektur hatten be­ reits die Westgoten gefunden, die unter ihrem König Wallia im Jahre 418 in der Aquitania II sowie in einigen angrenzenden civitates der Narbonensis I und der Novempopulana angesiedelt worden waren.877 Doch war ihre Anwesenheit im südgallischen Raum aufgrund der militärischen Stärke, über die sie verfüg­ ten, «eine außergewöhnlich prekäre Maßnahme.»878 N och im Jahre 418 starb Wallia; schon drei Jahre später war auch sein Vertragspartner Constantius, der

875 Schon im Jahre 422 wurde dies deutlich, als der Vernichtungsfeldzug des Castinus gegen die Wandalen in Andalusien an der mangelnden Unterstützung durch die West­ goten scheiterte; siehe Hyd. chron. 77 (s. a. 421). 876 Oft läßt sich der Abschluß eines foedus - angesichts der wechselnden Koalitionen der Jahre nach 406 und der nicht immer klaren Legitimität der Handlungsträger auf römischer Seite - schwer nachweisen. Für die Burgunden hat man allerdings zu er­ schließen versucht, daß sie sowohl mit den Usurpatoren Konstantin (III.) und Iovinus, als auch mit dem legitimen Herrscher Honorius (bzw. seinem Heermeister Constantius) zu einem Abkommen gelangten; siehe Zos. 6,3; Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9; Oros. hist. 7,40,4 [Verständigung mit Konstantin]; Olymp, frg. 18 (Blockley) [Unterstützung des Iovinus] u. Prosp. chron. 1250 (s. a. 413) [Ansicdlung am Rhein]. 877 Zur Ansiedlung der Westgoten in Südgallien zuletzt Bleckmann, Honorius, 586 ff. mit ausführlicher Diskussion der reichen Literatur zu diesem Thema. Eine Einführung in die Problematik der Modalitäten, unter denen eine Ansiedlung barbarischer Bevölke­ rungsgruppen im 5.Jh. vollzogen wurde, bietet der Sammelband von W.Pohl (Hrsg.), Kingdoms of the Empire, 1997; siehe auch den Forschungsüberblick bei Martin, Spätan­ tike, 170. 878 Bleckmann, Honorius, 590.

1. Das politische Terrain in Gallien

167

es mittlerweile bis zum Augustus gebracht hatte, nicht mehr am Leben. Es sollte sich zeigen, daß seine Nachfolger an den Schaltstellen der Macht viel zu zerstritten waren, um eine konsequente, Respekt gebietende Politik gegenüber dem jungen und auf Profilierung angewiesenen Westgotenkönig Theoderich I. durchzuhalten. Die Folgen konnten nicht ausbleiben; Aëtius würde mit ihnen zu kämpfen haben. Prekär war nicht nur die Ansiedlung der Goten und anderer barbarischer G ruppen im Reich; auch auf «römischer» Seite hatte sich seit 406/07 vieles in eine problematische Richtung entwickelt. Dies gilt nicht zum mindesten für die Franken in Nordgallien. Als Föderaten des Reichs hatten sie sich für H onorius geschlagen, waren jedoch aufgrund des rasanten Fortgangs der Er­ eignisse von Ravenna völlig sich selbst überlassen worden. Es ist nicht verwun­ derlich, daß die fränkischen Teilherrscher ihre Konsequenzen aus dem Desaster zogen. Die wiederholte Zerstörung von Trier scheint eine Folge dessen gewe­ sen zu sein.879 Als die Regierung von Ravenna um 420 im Rheinland wieder Präsenz zeigte, mußte auch gegenüber den Franken der Respekt erst wieder­ hergestellt werden.880 Auch hinsichtlich der gallorömischen Senatsaristokratie war durch das rüde Vorgehen der regierungstreuen Kräfte so manche Verständigungschance vertan worden, und nur ein langsamer Prozeß der W iederannäherung versprach Bes­ serung. Constantius hatte im Jahre 418 das concilium V II provinciarum wohl nicht zuletzt deshalb wiedereingerichtet, weil er sich davon eine Kräftigung der Loyalität der regionalen G roßen gegenüber dem Reichsganzen erhoffte.881 Doch der Weg der Loyalität war auch damals schon keine Einbahnstraße: N u r wenn sich Ravenna in angemessener Weise um die Belange Galliens und seiner Eliten kümmerte, konnte ein ähnlicher Zusammenbruch wie nach 406/07 in Zukunft verhindert werden. Dies erforderte eine Zusammenarbeit zumindest mit Teilen des örtlichen Senatsadels. Einer solchen Aufgabe konnte sich kein Beauftragter des Kaisers künftig entziehen, wollte er etwas in Gallien er­ reichen.

879 Die von Salv. gub. 6,39. 75 u. 89 überlieferte viermalige Zerstörung von Trier läßt sich nicht vollkommen sicher chronologisch verorten. Anton, Trier in den germ. Inva­ sionen, 5 datiert die ersten drei Male auf 410/11, 413 u. 419/20 n. Chr. Ebenso E. Ewig, in: ders., Spätantikes und fränkisches Gallien, Bd. 2, 1979, 37; Kuhnen, Trier, 140 u. zuletzt H. Heinen, ZPE 131, 2000, 271 f. 880 Siehe den Feldzug des damaligen comes domesticorum Castinus um 420 (Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9). 881 Heather, Emergence, 91 («to keep loyalties firmly focused on the Empire»). Zur Politik des Constantius gegenüber den gallischen Eliten ausführlich Lütkenhaus, Con­ stantius III., 11 Off.

168

V. Die Reichspolitik des Aëtius

2. Die r e s titu tio G a llia r u m seit 425 n. Chr. Als Aëtius 425 gallischen Boden betrat, war das Jahr bereits vorangeschrit­ ten,882 und die Lage im Lande war ebenso schlecht wie zehn Jahre zuvor. G rund dafür war der jüngste Bürgerkrieg, der seit dem Tode des Kaisers H onorius im A ugust 423 das Westreich erschüttert hatte.883 Die Regierung des ehemaligen Hofbeamten Johannes, die sich seit dem N ovem ber desselben Jah­ res zu etablieren versuchte, w urde von Theodosius II. und Pulcheria zwar nicht anerkannt, doch wartete Konstantinopel, statt sofort entschlossen zu reagieren, so lange zu, daß in der Zwischenzeit zumindest in Gallien alle seit den Tagen des Constantius erreichten Konsolidierungserfolge wieder zunichte gemacht wurden. Was sich dabei in der transalpinen Prätorianerpräfektur genau ereignete, bleibt aufgrund der dürftigen Quellenlage weitgehend im dunkeln. Offensichtlich war es Johannes nicht gelungen, seinen M achtanspruch wir­ kungsvoll durchzusetzen. W ir hören von der Erm ordung des Gallienpräfekten Exuperantius im Jahre 424,884 zweifellos ein Anzeichen für inneren Zwist auf römischer Seite, doch geht aus den Mitteilungen nicht einmal mit hinreichender Deutlichkeit hervor, ob der Betreffende ein Parteigänger des Usurpators oder der theodosianischen Dynastie gewesen ist.885 Als der comes rei militaris Aëtius886 in der zweiten Jahreshälfte 425 in Gallien eintraf, war im Zuge des Bürgerkrieges offensichtlich die gesamte Militärverwaltung zusammengebro­ chen.887 Arles, die H auptstadt der Prätorianerpräfektur, wurde gerade von Westgoten belagert.888 Zwar gelang es ohne größere Schwierigkeiten, die Stadt

882 Aëtius kann erst nach der Hinrichtung des Usurpators Johannes und den darauf folgenden Verhandlungen mit der neuen Regierung Galla Placidias und ihres Sohnes nach Gallien aufgebrochen sein. Auch die Heimsendung des hunnischen Hilfsheeres wird ihre Zeit in Anspruch genommen haben. Als zeitlicher Anhaltspunkt kann das erste Gesetz (Const. Sirmond. 6) des neuen Regimes gelten, das am 9. Juli 425 in Aquileia ausgestellt wurde. 883 Zu den reichspolitischen Zusammenhängen siehe im Kapitel «Aëtius’ politischer Weg im Machtgefüge des Weströmischen Reiches» S. 25ff. 884 Prosp. chron. 1285 (s. a. 424) u. Chron. Gail. 452, 97 (s. a. 425). 885 Siehe hierzu im Kapitel «Aëtius’ politischer Weg im Machtgefüge des Weströmi­ schen Reiches» S. 32 Anm. 156. 886 Zu Aëtius’ damaliger Stellung in der Militärhierarchie siehe im Kapitel «Aëtius’ politischer Weg im Machtgefüge des Weströmischen Reiches» S. 40 Anm. 191. 887 Von einem etwaigen m ag ister eq u itu m p e r G a llia s ist zu diesem Zeitpunkt nichts zu hören. Hingegen wird in der Const. Sirmond. 6 (09.07.425) ein p rae fe c tu s p ra e to rio p e r G a llia s namens Amatius genannt; zweifellos stellte er den Kopf der wieder ins Le­ ben gerufenen theodosianischen Zivilverwaltung im transalpinen Raum dar. 888 Prosp. chron. 1290 (s. a. 425) u. Chron. Gail. 452, 102 (s. a. 427).

2.

Die restitutio Galliarum

169

zu entsetzen, doch war klar, daß ein Neuaufbau der römischen Positionen in Gallien bei N ull beginnen mußte.889 Aëtius hat von 425 an drei Jahrzehnte hindurch die Geschicke Galliens maß­ geblich bestimmt und sich der vielfältigen Probleme dieses Landes ange­ nommen. Auch schärfster D ruck von anderer Stelle - sei es durch barbarische Pressionen von jenseits der Reichsgrenzen oder durch innenpolitische H eraus­ forderungen - haben ihn nur vorübergehend davon abgehalten. Zwar hielt sich der patridus seit etwa 440 öfter in Italien auf, so daß Zecchini geradezu von zwei Phasen im W irken des Aëtius sprechen wollte, einer ersten, bis 439 rei­ chenden, in der er sich intensiv und persönlich mit Gallien beschäftigte und einer zweiten, mehr Italien und übergeordneten Problemen des Reichs gewid­ meten.890 Doch hat auch er erkannt, daß von einem Nachlassen im Engage­ ment des obersten Heermeisters in Gallien eigentlich nicht die Rede sein kann: Auch in den 440er Jahren hat Aëtius wiederholt in die Geschehnisse jenseits der Alpen eingegriffen und war persönlich vor O rt, nicht zuletzt während der entscheidenden Prüfung seiner gallischen Machtposition durch den Attilafeld­ zug des Jahres 451 n. Chr. Bis zum Schluß gab er seine zentrale Position in diesem Reichsteil nicht preis und tat es damit seinem Vorgänger Constantius gleich, der sich in den gut zehn Jahren seines Wirkens geradezu eine M onopol­ stellung für die Beziehungen zwischen den gallischen Provinzen und Ravenna verschafft hatte.891 Im folgenden gilt es aufzuzeigen, wie der patricius die Beziehungen Ravennas zu den einzelnen barbarischen Kriegergruppen und gentes in der Zeit nach 425 geordnet hat. Das Verhältnis zu den politisch aktiven gesellschaftlichen G rup­ pen der gallischen Romanitas (Senatsaristokratie und Episkopat) muß hierbei von Fall zu Fall berücksichtigt werden. Eine Darstellung von eigenem Gewicht erfordern schließlich die verschiedenen Probleme, die unter dem Oberbegriff «Bagaudenbewegung» subsumiert werden können. Die Schwierigkeit, Begriffe wie «Innenpolitik» und «Außenpolitik», «römisch» und «barbarisch», «(kelto)romanisch» und «germanisch» auf die Verhältnisse im Gallien des fünften Jahrhunderts anzuwenden, wird nicht zuletzt an diesem Themenkomplex be­ sonders deutlich werden.

889 Bleckmann, Honorius, 594 betont die Zäsur, die die Usurpation des Johannes für die gallischen Provinzen darstellte. Eine Einstufung der Vorgänge von 406/07 als «ein­ maliger Vorfall» und «vorübergehendes Unglück» (ebd., 593) sei nach dem erneuten Schwächeanfall der Provinzialverwaltung von 423/25 nicht mehr möglich gewesen. 890 Zecchini, Aezio, 223. 229 u. 239. 891 Lütkenhaus, Constantius III., 94 ff., zusammenfassend 181.

170

V. Die Reichspolitik des Aëtius

2.1 Die Franken in N ordgallien und im Rheinland892

Die erste selbständige M ilitäraktion des Aëtius in seinem neuen Tätigkeitsbe­ reich, von der w ir nach Bereinigung der unmittelbaren Gefahr für Arles erfah­ ren, führte in den N orden der Prätorianerpräfektur. Prosper von Aquitanien vermeldet zum Jahre 428 n. Chr.: Pars G alliarum propin qu a Rheno, qu am F ran à possidendam occupaverant, A e tii [com itis] arm is recepta,893894 Ähnliches lesen w ir bei dem viel später schreibenden Cassiodor: H is conss. A etius m ultis Francis caesis qu am occupaverant propin qu am R heno p a rte m recipit G allia­ ru m .994 Es scheint dies nicht der letzte Feldzug gegen die Franken gewesen zu

sein. Zum Jahre 431 berichtet der spanische Bischof Hydatius von einer G e­ sandtschaft, die er nach Gallien unternommen hatte, um den «starken Mann» des Westreichs um Hilfe für seine von den Sweben geplagte galicische Heimat zu bitten.895896Aëtius führte damals in Gallien Krieg. Offensichtlich war er nicht dazu imstande, seine militärischen Ziele in der laufenden Kampagne zu errei­ chen, denn erst im darauf folgenden Jahr 432 schickte er die bischöfliche Gesandtschaft nach Hause, und auch dann zog er nicht selbst nach Spanien, sondern gab Hydatius lediglich den comes Censorius, einen Mann seines Ver­ trauens, mit, nachdem die O perationen zu Ende geführt worden waren. Jetzt werden die Franken ausdrücklich als Gegner genannt: Superatis p e r A etiu m in certam ine Francis et in pace susceptis Censorius comes legatus m ittitu r a d Suevos supradicto secum H y d a tio redeunte.89b Damit hätte sich das Quellenmaterial für

die Zeit bis zum Gallienfeldzug Attilas im Jahre 451 denn auch schon fast er­

892 Der Begriff «Ripuarier» für die im Rheinland beheimateten Franken ist seit lan­ gem außer Gebrauch. M. Springer hat darüber hinaus gegenüber der älteren Forschung nachzuweisen versucht, daß man auch von «den Saliern» und «den Rheinfranken» wäh­ rend unseres Zeitraumes nicht sprechen kann; siehe dens., in: Wieczorek u. a., Franken, 485-487 u. dens., in: Geuenich, Franken und Alemannen, 200—269. Zustimmend in bezug auf ersteres P. Périn, in: Geuenich, Franken und Alemannen, 59 Anm. 5. - Ich trage den Erkenntnissen Springers Rechnung, indem ich im folgenden von den «Fran­ ken in Nordgallien» und «im Rheinland» spreche. Entscheidend dürfte sein, daß man die Franken des 5.Jhs. nicht als homogene, in zwei geographisch definierten Räumen sich manifestierende historische Größe betrachtet, sondern als ein Konglomerat vieler unterschiedlicher Teilstämme mit ihren reges bzw. regu li. Die erfolgreiche Reichsbildung der Merowinger seit den 460er Jahren täuscht hier eine zielgerichtete Entwicklung vor, die es in Wirklichkeit nicht gegeben hat. 893 Prosp. chron. 1298 (s. a. 428). 894 Cassiod. chron. 1217 (s. a. 428). 895 Hyd. chron. 96 (s. a. 431): R u rsu m S u e v i in itam cum C allae c is p a c e m lib a ta sib i occasione con turb an t.

Ob

q u o ru m

d ep raed atio n e m

H y d a tiu s episcopus a d

ducem , q u i exp edition em a g e b a t in G allis, su sd p it legation em .

896 Hyd. chron. 98 (s. a. 432).

A etiu m

2.

Die restitutio Galliarum

171

schöpft.897 Was uns sonst noch zur Verfügung steht, ist schwer einzuordnen: Jordanes schreibt mehr als unpräzise, Aëtius habe den Franken schwere Ver­ luste zugefügt und sie dem Römischen Reich unterworfen.898 Salvian klagt irgendwann im zweiten Viertel des fünften Jahrhunderts, die Stadt Köln sei hostibus plena, womit er eigentlich nur die Franken gemeint haben kann.899 Merobaudes schließlich verkündet in seinem Vers-Panegyricus von 446 in wie gewohnt - mehr verschleiernden als erhellenden Formulierungen, Aëtius habe die Rheingrenze durch fam ulantia foedera neu befestigt.900 Lediglich bei Sidonius Apollinaris finden sich noch Hinweise auf ein konkretes Ereignis der römisch-fränkischen Beziehungen vor dem Jahre 451. In seinem Panegyricus auf Kaiser Majorian vom Dezember 458 berichtet er, wie der Gerühmte als noch junger Mann im Dienste des Aëtius einen Sieg über die Franken erfoch­ ten habe.901 Diese sogenannte Schlacht am Vicus Helena muß allerdings auch nach den Vorstellungen der Zeit eher ein Scharmützel gewesen sein, stellte sie doch im Grunde lediglich einen Überfall auf eine Hochzeitsgesellschaft der Barbaren dar.902 Immerhin ist sie Zeugnis für Spannungen, die in der zweiten Hälfte der 440er Jahre zwischen den Franken in Nordgallien unter ihrem Kö­ nig Chlodio und Aëtius herrschten. Es ist in jeder Hinsicht sinnvoll, wenn wir unseren Rundgang durch die aëtianische Gallienpolitik mit den Franken beginnen, stellten diese doch eine feste Größe der kaiserlichen Politik am Rande des Barbaricums dar, die schon seit langem in das Machtkalkül hinsichtlich des Grenzschutzes am Nieder- und Mittelrhein einbezogen werden mußte.903 Seit dem wegweisenden Abkommen,

897 Das Material, das uns die Schriftquellen bzgl. der Kampagnen des Aëtius gegen die Franken bieten, ist bei Verlinden, Franken u. de Boone, Franken, 129ff. auf knap­ pem Raum zusammengestellt. 898 lord. Get. 176: Aetius ergo patricius tunc praeerat militibus [...], qui superbam Suavorum Francorumque barbariem immensis caedibus servire Romano imperio coegis­ set. Daß Jordanes hier den Titel patricius verwendet, kann wohl nicht als Hilfe bei der Datierung dienen. 899 Salv. gub. 6,39. 900 Merob. poet. 5-7: Addidit hiberni famulantia foedera Rhenus / orbis et Hesperiis flecti contentus habenis / gaudet ab alterna Thybrin sibi crescere ripa. 901 Sidon, carm. 5,211-254. Zu Datierung und Lokalisierung der Schlacht siehe unten S. 179 Anm. 943. 902 Siehe schon Loyen, Recherches, 73, der von einer bloßen «démonstration» spricht. 903 Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse im römisch-fränkischen Ver­ hältnis seit dem 3. Jh. bieten u. a. Zöllner, Franken, 1ff.; Ewig, Probleme der fränk. Frühgeschichte; ders., Franken am Rhein; Beisei, Fränk.-röm. Beziehungen, 11 ff.; James, Franks, 34 ff. u. Anton, Franken, 414 ff. Vgl. auch die knappe Darstellung von Kaiser, Röm. Erbe, 17ff. u. 58ff. (mit aktuellem Forschungsüberblick).

172

V. Die Reichspolitik des Aëtius

das der damalige Caesar Julian 358 mit den Franken in Toxandrien geschlossen hatte, war deren Bedeutung für die römische Militärpolitik stetig gewachsen.904 Valentinian I. und seine Nachfolger rekrutierten viele Auxilien unter den Ger­ manen jenseits der Reichsgrenzen; unter den zahlreichen Franken, die damals angeworben wurden, vermochte so mancher auf der Karriereleiter ganz nach oben zu gelangen.905 Dieser Trend hin zu einer fränkischen Generalität im Dienste des Reiches setzte sich auch nach dem Ende der valentinianischen D y ­ nastie fort und erreichte mit der zweifelhaften Persönlichkeit des Heermeisters Arbogast (gest. 394) ihren H öhepunkt.906 Im fünften Jahrhundert haben frän­ kische Große nicht mehr eine solch dominante Rolle gespielt wie in den D e­ zennien zuvor, doch noch in den Wirren nach 406/07 finden sich unter den Protagonisten Generäle von offenkundig fränkischer A bkunft wie Allobich (gest. 409 oder 410) und Edobich (gest. 411).907 Die geschilderte Entwicklung führte in der zweiten Hälfte des vierten Jahr­ hunderts zwangsläufig zu engen persönlichen Kontakten zwischen den Eliten des Reiches und denen der einzelnen fränkischen Teilstämme.908 Welche Per­ spektiven sich dadurch bei günstigen Umständen ergeben konnten, zeigt der Fall des unter Kaiser Gratian dienenden Generals Mallobaudes, der auf röm i­ scher Seite als comes domesticorum ein wichtiges Hofam t ausübte, in seiner fränkischen Heimat jedoch als gentiler Heerkönig (rex) firmierte.909 Anderer­ seits blieben die Auswirkungen all dessen keineswegs auf die Spitzen der je­ weiligen Gesellschaften beschränkt, sie hatten auch Folgen für breite Teile der Bevölkerung diesseits und jenseits des Rheins, sozusagen «an der Basis.» Die 904 Der Inhalt des Vertrages, den Julian mit den Franken schloß, ist in der Forschung umstritten. Entscheidend ist, ob man Amm. 17,8 entnimmt, daß sie als dediticii oder als foederati Toxandrien (das heutige Teisterbant) besiedelten; siehe hierzu den knappen Forschungsüberblick bei Kaiser, Röm. Erbe, 60 f. 905 Hierzu u. a. K. F. Stroheker, in: ders., Germanentum und Spätantike, 9-29; M.Waas, Germanen im römischen Dienst im 4. Jh. n. Chr., 1971; Martin, Zwischen den Fronten u. ders., Alemannen. Letzterer sieht in der Bevorzugung fränkischer Generäle durch Valentinian I. eine bewußte Abkehr von der alamannenfreundlichen Rekrutierungspraxis Julians und seiner Vorgänger. 906 Die wesentlichen Quellen zu Arbogast finden sich in PLRE I Arbogastes. Noch in der zweiten Hälfe des 5.Jhs. herrschte ein Abkömmling von ihm als comes über die civitas Trier und ihre Umgebung. Er war somit - neben dem rex Romanorum Syagrius - einer der letzten Repräsentanten im engeren Sinne «römischer» Amtsgewalt im nord­ gallischen Raum; hierzu ausführlich Anton, Trier im Übergang, 22 ff., zusammenfassend ders., Trier in den germ. Invasionen, 5f. 907 Die Quellen zu ihrem Wirken finden sich in PLRE II Allobichus u. Edobichus. Eine eventuelle Verwandtschaft der beiden erwägt Ewig, Probleme der fränk. Früh­ geschichte, 62. 908 Dieser Aspekt wird ebd., 56 ff. besonders hervorgehoben. 909 Zu den Quellen PLRE I Mallobaudes.

2.

Die restitutio Galliarum

173

Archäologie nimmt seit langem die Wandlungen in den Blick, die die grenz­ nahen Provinzen Germania II und Belgica II insbesondere seit etwa 350 er­ fuhren.910 Eine Wertung der Befunde hängt eng damit zusammen, wie man die in dieser Zeit sich ausbildende Reihengräberzivilisation deutet und in den historischen Verlauf einordnet. Eine maßgebliche, von H.W . Böhme geprägte Richtung der Forschung geht davon aus, daß sich in der Entwicklung der Bei­ gabensitte nördlich der Loire die Herausbildung einer gallorömisch-germanischen «Mischzivilisation» verfolgen läßt.911 Die zahlreichen, als Föderaten angeworbenen und mit ihren Familien in Nordgallien angesiedelten Germanen hätten sich mit der Zeit vollkommen akkulturiert und seien zu einer «reichs­ fränkischen» Bevölkerung geworden.912 Die Folgen, die sich hieraus für ein Verständnis der politischen Lage nach 400 ergeben, sind ebenso evident wie tiefgreifend. Es hatte sich in den nordgallischen Grenzprovinzen über Jahr­ zehnte hinweg ein Milieu entwickelt, dessen Verhältnis zum Reichsganzen mit den herkömmlichen Zuordnungen «innen» und «außen» nicht sinnvoll be­ schrieben werden kann. Vertraglich gebundene Franken aus Toxandrien, in Auxilien dienende reichsfränkische Kontingente, reguläre Truppen des römischen Feldheeres, zwangsrekrutierte Laeten und freiwillig verpflichtete Gentilen: sie alle mochten nach bestimmten Rechtskategorien geschieden sein,913 doch konn­ ten die verbindenden Elemente sich als stark erweisen - etwa die Zugehörig­ keit zur gleichen gens, der Dienst unter dem gleichen Feldherrn - , im Einzel­ fall sogar dominieren. Es bieten sich von hier aus Perspektiven zur Deutung 910 Einen Überblick über die Themen der Forschung und über die Richtungen, die sie bei ihrer Klärung eingeschlagen hat, kann man dem Sammelband von Geuenich, Franken und Alemannen, und dem Katalog von Wieczorek u. a., Franken entnehmen. 911 Böhme, Franken und Romanen, 44. Siehe auch dens., Germ. Grabfunde, 195 ff., bes. 207. Weitere Stellungnahmen zu diesem Thema bietet Kaiser, Röm. Erbe, 57f. Die Diskussion bleibt im Fluß. G. Fialsall, in: Drinkwater/Elton, Fifth-century Gaul, 196207 z. B. ist 1992 in einem Überblick über vierzig Jahre Forschung zur Reihengräber­ zivilisation dafür eingetreten, deren Ursprünge in erster Linie in sozialen Umbrüchen des spätantiken Gallien zu sehen, und sucht Bezüge zur Bagaudenbewegung. Problema­ tisch ist in diesem Zusammenhang, daß die Reihengräbersitte auch außerhalb des Rei­ ches, etwa im Donauraum, vorkommt; dazu J. Werner, in: ders. (Hrsg.), Aus Bayerns Frühzeit, 1962, 23Iff. 912 So Böhme, Franken und Romanen, 51. 913 Die laeti etwa erscheinen noch in Novell. Sev. 2 (25.09.465) als juristisch klar defi­ nierte Gruppe. - Allgemein kann man sagen, daß die rechtlichen Kategorien der hohen Kaiserzeit im Umgang mit fremden Völkern auch in der Spätantike beibehalten, doch vielfach in der Alltagspraxis mit neuen, situationsbezogenen Inhalten gefüllt wurden. Dies führte - wie Schulz, Völkerrecht, 127ff. zeigt - zwangsläufig dazu, daß die recht­ liche Eindeutigkeit leiden mußte. Ein gutes Fallbeispiel für diesen Sachverhalt bietet die vieldiskutierte Frage, ob die Franken in Toxandrien im Jahre 358 als dediticii oder foe­ derati angesiedelt wurden; dazu oben S. 172 Anm. 904.

174

V. Die Reichspolitik des Aëtius

des Geschehens, das Gallien im fünften Jahrhundert unter Beibehaltung viel­ facher Kontinuitäten in eine neue historische Epoche, die des merowingischen Frühmittelalters, überleitete, ein Geschehen, dessen Ablauf auch Aëtius nach 425 allenfalls begleitet, nicht aber dauerhaft aufgehalten hat.914 Als die Franken um die Jahreswende 406/07 die eindringenden Wandalen und ihre Bündner daran zu hindern versuchten, ihre Invasion ins Innere der gallischen Prätorianerpräfektur fortzusetzen, da handelten sie nicht als «Franken»; vielmehr leisteten sie ihren Beitrag zur «römischen» Verteidigung Galliens. Die Bindung an Ravenna hervorzuheben ist entscheidend, denn sie erklärt das wei­ tere Verhalten der Protagonisten: Die vertraglich gebundenen fränkischen Teil­ stämme am Nieder- und Mittelrhein begannen in den folgenden Jahren - ange­ sichts des Abzugs nahezu aller kampfkräftigen Einheiten zu den Schauplätzen des Bürgerkrieges - Konsequenzen aus dem offenkundigen Zerfall des theodosianischen Regimes zu ziehen. Die bereits erwähnte mehrmalige Zerstörung Triers gehört hierher.915 N ach dem Wiedererstarken Ravennas unter Constanti­ us konnten die alten Positionen am Rhein nur schrittweise und bruchstückhaft rekonstruiert werden. Die isoliert überlieferte Tötung des fränkischen rex Theudomer mag in diesen Zusammenhang gehören, ganz sicher aber der Feld­ zug des Castinus in den N orden Galliens um 420 n. Chr.916 Aëtius’ Franken­ feldzüge von 428 und 431/32 müssen - nach der erneuten Zäsur der Jahre 423/25 - in einen ähnlichen Zusammenhang eingeordnet werden. Im Lichte der vorausgegangenen Darlegungen ergeben sich nun zwei Pro­ blemkreise: Zum einen, inwieweit ist es Aëtius nach 425 gelungen, das in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts geschaffene römische Grenzregime am Nieder- und Mittelrhein wieder funktionstüchtig zu machen? Zweitens, wie gestaltete sich fortan das Verhältnis zu den vertraglich gebundenen fränkischen Teilstämmen in Toxandrien und anderswo? Die Forschung nimmt an, daß auf den Katalaunischen Feldern 451 n. Chr. sowohl die in Nordgallien als auch die im Rheinland beheimateten Franken als foederati auf seiten der Römer agier­ ten.917 Irgendwann vor diesem Zeitpunkt muß es also zu entsprechenden Ver-

914 Wie der Umgang mit den föderierten barbarischen gentes den spätrömischen Handlungsträgern in Gallien über den Kopf wuchs, zeigt Wirth, Foederierte Staaten, 248 ff. 915 Siehe oben S. 167 mit Anm. 879. 916 Beide Ereignisse werden von Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9 überliefert. Im Falle Theudomers beruft sich Gregor auf die Fasti consulares. Hierzu Ewig, Probleme der fränk. Frühgeschichte, 60. 917 Exemplarisch für diese Meinung seien Zöllner, Franken; Ewig, Probleme der fränk. Frühgeschichte; ders., Franken am Rhein u. Beisei, Fränk.-röm. Beziehungen ge­ nannt, die die foedera mit den Franken im Rheinland und in Nordgallien jeweils vor 451 chronologisch einordnen.

2. Die restitutio Galliarum

17!

einbarungen gekommen sein, doch ist der genaue Zeitpunkt aufgrund der oben ersichtlichen Quellenlage alles andere als leicht zu bestimmen. Auch ohne der problematischen Unterteilung in salische und rheinische Franken zu folgen, bietet es sich an, den Wirkungsbereich des Aëtius in Nordgallien entsprechend der spätantiken Militärorganisation in zwei Teile zu gliedern: die Belgica II im N orden mit einem gewissen Schwerpunkt in der Picardie und im Artois, und die G renzzone an Mosel, Mittel- und Niederrhein mit den alten Verwaltungs­ zentren Köln und Trier.918 Bezüglich der Germania II ist zunächst auffallend, daß w ir nach den Kam­ pagnen von 428 und 431/32 nichts mehr von einer Aktivität des Aëtius in diesem Raum hören. Während des Kampfes gegen die Burgunden 436/37, der ja immerhin in deren Siedlungsgebiet propinqua Rheno stattfand und phasen­ weise bis auf die Belgica I ausstrahlte, gerieten die Franken offenbar nicht in Bewegung.919 Auch von der Tatsache, daß zur gleichen Zeit Bagaudenunruhen in der Aremorika ausbrachen und Theoderich I. die Konditionen seines foedus durch Aggressionen gegen N arbonne aufzubessern suchte, ließen sie sich nicht locken. Als der Kampf zwischen den Westgoten und der Regierung von Raven­ na 439 seinen H öhepunkt erreichte, blieb am Rhein alles ruhig.920 E.Ewig hat vermutet, daß die dortigen Franken die U nruhen dieser Jahre dazu benutzt hätten, eine Verbesserung ihres Status gegen Aëtius durchzusetzen. Dies seien die fam ulantia foedera gewesen, von denen Merobaudes noch 446 sprach. Als Folge seien fränkische Kontingente in die Standorte an der Rheingrenze einge­ rückt, so in Köln, wo Salvian kurz darauf klagen konnte, die Stadt sei hostibus p lenaf 21 aber auch in anderen O rten wie Xanten und Tongern.922 Aufgrund der archäologischen Befunde läßt sich an vielen O rten der Rhein­ zone eine kontinuierliche Besiedlung teilweise bis zur Mitte des fünften Jahr­ hunderts nachweisen.923 Dies gilt im übrigen nicht nur für die Germania II, 918 Auf die Verteidigungsschwerpunkte Rhein-Mosel-Raum und Picardie weisen Theuws/Hiddink, Kontakt zu Rom, 66 ff. hin. Als Verbindung beider Gebiete diente die Route Köln-Tongern-Bavay-Amiens-Boulogne; dazu R. Brulet u. a., Forts romains de la route Bavay-Tongres, 1995 u. Thoen/Vermeulen, Phasen der Germanisierung, 5f. 919 Hierzu unten S. 182ff. Der Burgundenkrieg von 436/37 wird in einem Teil der For­ schung mit der vierten Zerstörung Triers in Verbindung gebracht; siehe Ewig, Probleme der fränk. Frühgeschichte, 67f. Unentschieden de Boone, Franken, 132 u. 134; Anton, Trier im Übergang, 1ff. u. ders., Trier in den germ. Invasionen, 5, die auch eine Zerstörung durch die Franken anläßlich der Ereignisse um den Feldzug von 428 für möglich halten. 920 Bzgl. des Bagaudenkrieges 435/37 und des Westgotenkrieges 436/39 siehe eben­ falls die entsprechenden Abschnitte auf S. 191 f. bzw. 204 ff. 921 Salv. gub. 6,39. 922 Ewig, Probleme der fränk. Frühgeschichte, 68 ff. u. ders., Franken am Rhein, 118 f. 923 Siehe die einzelnen Beiträge in dem Tagungsband von Bridger/Gilles, Spätrömi­ sche Befestigungsanlagen.

176

V. Die Reichspolitik des Aëtius

sondern auch für die Germania I.924 Es sei in diesem Zusammenhang u. a. auf die Ergebnisse der Grabungen in Gennep,925 Zülpich,926 Jülich,927 besonders aber Krefeld-Gellep hingewiesen.928 H ier erfolgte schon im Laufe der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts eine Änderung der Bestattungssitten. Das G rab­ inventar weist zunehmend frühfränkische Züge auf; römische Produkte bleiben auch nach 400 in Gebrauch, erfahren aber einen Qualitätsabfall. Anfang des fünften Jahrhunderts kommt es zu einer Neugestaltung des Areals, wie die Anlage eines zwischen der Ringmauer und dem westlichen Graben des Kastells gelegenen vicus zeigt. Ch. Reichmann hat diese Bauten einer neuen, fränki­ schen Besatzungstruppe zugewiesen, die in dieser Zeit einquartiert worden sei.929 Erst um 500 ist der vicus bei der Anlage eines merowingischen Kastells zerstört worden. Krefeld-Gellep ist hinsichtlich seiner umfassenden, sich über mehrere Siedlungsphasen erstreckenden Befunde ein Glücksfall. Hingegen feh­ len ähnlich aussagekräftige archäologische Zeugnisse zugunsten einer fränki­ schen Präsenz in Köln für die Zeit vor der Mitte des fünften Jahrhunderts. Dies ist um so bedauerlicher, als sich diese Stadt mit den Jahrzehnten zu einem Zentrum der am Rhein siedelnden Franken entwickelt hat.930 Von Trier wissen wir aus literarischen Quellen, daß es bis über das Ende des westlichen Kaiser­ tums hinaus von römischen Funktionsträgern verwaltet worden ist.931 Der archäologische Befund allein wäre auch hier sicher interpretationsfähig.932 Im ­ merhin gibt es Hinweise auf einen Fortbestand der spätantiken Stadtstrukturen der Kaiserresidenz bis weit ins fünfte Jahrhundert hinein. Erst um 500 ist eine fränkische Siedlungstätigkeit im Umfeld deutlich zu erkennen. Die Grabungsergebnisse an Rhein und Mosel lehren zweierlei: Zum einen, es gab barbarische, mithin fränkische Soldaten und Siedler in den römischen Grenzprovinzen in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts. D er Befund von Krefeld-Gellep legt nahe, daß sie in dieser Zeit stationiert wurden, um das Reich zu verteidigen. Zum anderen weist nichts darauf hin, daß die römischen 924 Dazu unten in dem Abschnitt über die Burgunden S. 181 f. 925 H. A. Heidinga u. a., RGA 11, 1998, 73-77. 926 M.Dodt, in: Geuenich, Franken und Alemannen, 193-199. 927 H.Aouni, Archäologie im Rheinland 1992, 87-89 u. M. Perse, RGA 16, 2000, 107 ff. 928 Dazu Reichmann, Die spätantiken Befestigungen; R.Pirling, in: Vallet/Kazanski, Armée romaine, 109-123 u. dies., in: Wieczorek u. a., Franken, 81-84. 929 Reichmann, Die spätantiken Befestigungen, 518f. 930 B. Päffgen/S. Ristow, in: Wieczorek u. a., Franken, 148f. sehen im ehemaligen p r a e ­ toriu m Kölns das Herrschaftszentrum des sog. Kölner Frankenreichs, das erst 511 von Chlodwig vereinnahmt werden konnte. Zum Kölner Frankenreich auch F.Staab, in: Wieczorek u. a., Franken, 237-240. 931 Es handelt sich um den com es Arbogast; hierzu oben S. 172 Anm. 906. 932 Siehe die Zusammenfassung bei Kuhnen, Trier.

2.

Die restitutio Galliarum

177

Verantwortlichen mit dieser Regelung des Grenzregimes nicht einverstanden gewesen wären. Ein deutliches Zeichen hierfür ist die Tatsache, daß die barbari­ schen Soldaten mit Erzeugnissen aus römischen fabricae beliefert wurden. Böhme hat die vielfach gefundenen sogenannten Einfachen Gürtelgarnituren geradezu als Kennzeichen der Föderaten im Dienste des Aëtius bezeichnet.933 Das Grenzregime am Nieder- und Mittelrhein war von römischen Verantwort­ lichen gewollt; es wurde mit römischer Infrastruktur, römischer Logistik und römischem Sold mutmaßlich mindestens bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts am Leben erhalten. Insofern war es intakt. Die Tatsache, daß man fränkische Jungmannschaften von jenseits des Flusses anwarb, um Kastelle wie KrefeldGellep zu besetzen, ist demgegenüber zweitrangig und stellt im Verhältnis zur Praxis der hohen Kaiserzeit allenfalls eine quantitative, nicht aber eine qualita­ tive Veränderung dar. Die Darlegungen der vorigen Abschnitte machen die allgemeine Situation in der Germania II, wie man sie sich in der ersten Hälfte des fünften Jahrhun­ derts zu denken hat, etwas transparenter. Vielleicht lindern sie dadurch ein wenig die Erkenntnis, daß wir über den genauen Verlauf der Operationen des Aëtius 428 und 431/32, über etwaige Verhandlungen mit fränkischen Königen und Anführern und über deren Ergebnisse im Grunde nichts wissen. Sicher, irgendwann in den 430er oder 440er Jahren w ird es wohl zu einer oder mehre­ ren Vereinbarungen gekommen sein, mit denen die bereits auf Reichsterrito­ rium siedelnden und die der Rheingrenze gegenüberliegenden Frankengruppen zufrieden gewesen sein müssen; sonst wäre ein Stillhalten bis zum Anfang der 450er Jahre nicht erklärbar. H . H. A nton hat vermutet, daß Franken im Gefolge der Auseinandersetzungen um 430 zunächst als dediticii im Rheinland geduldet wurden und daß sich später ihr Status in den von foederati verbessert habe.934 Eine solche Vorstellung, die der der Franken in Nordgallien nach 358 gleicht, ist plausibel, bleibt aber hypothetisch. Ähnlich wie in der Belgica II ist auch im Falle der Franken des Rheinlandes von mehreren Schritten im Umgang mit einer Vielzahl von reges und reguli zu rechnen; ein Konzentrationsprozeß u n ­ ter den Germanen setzte wohl erst langsam ein, war jedoch um 450 schon relativ weit fortgeschritten, wenn wir Priskos’ Erzählung vom Erbfolgestreit bei den Franken im Vorfeld des Attilakrieges Glauben schenken dürfen.935 Das spätere Kölner Reich war unter dem Deckmantel des ausgehenden westlichen

933 Böhme, Childerich, 75 ff. 934 Anton, Franken, 417. 935 Priskos frg. 20,3 (Blockley): Nach dem Tode eines fränkischen Königs wendet sich einer von dessen Söhnen an Attila, der andere an Aëtius um Hilfe. - In der Forschung ist allerdings immer wieder erwogen worden, diese Episode auf die frühen Merowinger, etwa Childerich oder den ominösen Merowech zu beziehen; siehe z. B.

178

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Kaiserreichs und seiner Grenzpolitik am Rhein bereits im Entstehen begriffen. Wie im Falle Chlodios und seiner mutmaßlichen Nachkommen Childerich und Chlodwig mag auch hier - ohne daß uns N am en überliefert wären - der be­ vorzugte Kontakt mit den Repräsentanten Ravennas die Ausbildung einer re­ gionalen Machtstellung begünstigt haben. Werfen w ir einen Blick auf Nordgallien. Prinzipiell lassen sich hier dieselben strukturellen Veränderungen und Kontinuitäten beobachten, die wir für das Rheinland und für die nördlichen Territorien des Westreichs allgemein bereits erörtert haben. Wir verfolgen also seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhun­ derts die Herausbildung eines «reichsfränkischen» Milieus zwischen Loire und Rhein.936 Die römischen Standorte, wie z. B. Arras, Amiens, Vron und VireuxMolhain, bleiben bis weit über 400 hinaus in Gebrauch;937 römische fabricae liefern ihre Produkte an fränkische und andere barbarische Föderaten, Laeten und Gentilen aus.938 In Toxandrien sitzen weiterhin die von Julian ins Reich gelassenen Franken. Mutmaßlich haben sie sich im Verlauf der Jahrzehnte auch schon über ihr ursprüngliches Siedlungsland ausgedehnt, denn in den 440er Jahren operiert der rex Chlodio939 von Dispargum aus, das immer wieder mit Duisburg bei Brüssel in Verbindung gebracht wird.940 Die römische Militär­ administration hat - vorausgesetzt, die vorgeschlagene Lokalisierung stimmt derartiges nicht verhindert, sie mußte es auch nicht, denn in der heterogenen Verteidigungsstruktur Nordgalliens stellten solche Verschiebungen keine quali­ tative Veränderung dar. Entscheidend war lediglich, daß die ans Reich gebun­ denen Franken, etwa diejenigen um Chlodio, ihre Aufgaben im Einklang mit den Einheiten des regulären römischen exercitus wahrnahmen. N u r im Einzel­ fall schritt Aëtius zur «direkte(n) Einmischung»,941 so in den 440er Jahren am

Blockley, Fragmentary Classicising Historians, Bd. 2, 390 Anm. 107 u. Demandt, Spät­ antike, 154 Anm. 96. Zu Merowech siehe auch die vorsichtigen Erwägungen von L. Schmidt, Klio 34, 1942, 309. 936 Böhme, Germ. Grabfunde; ders., Childerich, 74 ff.; ders., Franken und Romanen, sowie zusammenfassend James, Franks, 44 ff. u. Thoen/Vermeulen, Phasen der Germanisierung, 6 ff. 937 D. Bayard u. a. (Hrsgg.), La Picardie, berceau de la France, 1986, 37 (zu Amiens); Will, Remarques, 533 (Arras und Amiens); Cl. Seillier, JRGZ 36, 1989, 599-634 (Vron) u. J.-P. Lémant, Le cimetière et la fortification du Bas-Empire de Vireux-Molhain, Dép. Ardennes, 1985 (Vireux-Molhain). - Einen Gesamtüberblick bietet Cl. Seillier, in: Vallet/ Kazanski, Armée romaine, 187-194. 938 Böhme, Childerich, 74 ff. 939 Zur Person Chlodios siehe Wenskus, Chlodio. 940 Zöllner, Franken, 27 mit Anm. 6 u. 7 sowie Wenskus, Chlodio, 477. Zur Proble­ matik der Identifizierung H. Tiefenbach, RGA 5, 1984, 497f. 941 So die treffliche Charakterisierung weströmischer Politik in Nordgallien im 5.Jh. durch Theuws/Hiddink, Kontakt zu Rom, 69. Passend dazu auch die Einschätzung von

2. Die restitutio Galliarum

179

Vicus Helena, doch bleiben die Motive, die ein solches persönliches Engage­ ment des patricius veranlaßten, weitgehend im dunkeln.942 E.Will vermutet, daß hinter den Kämpfen dieser Jahre das Bemühen stand, die wichtige Kom­ munikationsroute von Köln über Bavay bis nach Boulogne offenzuhalten, eine ansprechende Hypothese, die jedoch so lange unsicher bleiben muß, bis die Lokalisierung des Vicus Helena eindeutig geklärt ist.943 Müßig ist es, zu speku­ lieren, ob Chlodio in dieser Zeit schon Cambrai oder Tournai eingenommen oder inwieweit er andere Eroberungen nördlich der Somme getätigt hat. Die Stelle bei Gregor von Tours, die uns über diese Ereignisse informiert, stellt einen zusammenfassenden Rückblick dar und läßt chronologischen Spielraum bis in die Zeit um 454/55.944 Rekapitulieren wir unsere Ergebnisse hinsichtlich der Franken und ihrer Rol­ le im römischen Grenzregime des fünften Jahrhunderts: Festzuhalten bleibt zu­ nächst, daß Aëtius - wie auch seine Vorgänger Stilicho und Constantius - die Rheingrenze keineswegs aufgegeben hat. Die römischen Standorte in der Belgi­ ca II und der Germania II waren - glaubt man den aktuellen archäologischen Datierungen des Fundmaterials - bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts in­ takt. Sie waren Teil einer vielschichtigen Strategie, die neben regulären «römi­ schen» Truppeneinheiten auch vertraglich gebundene fränkische G ruppen in Nordgallien und im Rheinland wie selbstverständlich einbezog. Deren Loyali­ tät war immer dann gefährdet, wenn das Reich nicht genug Präsenz zeigte; daher die Feldzüge von 428 und 431/32. Andererseits gab es in den G renzpro­ vinzen keinen Überlebenskampf zwischen landsuchenden Barbaren und einem nur mühsam die Integrität des Reichsterritoriums wahrenden Aëtius. D er patri­ cius dürfte sich nur dann direkt eingemischt haben, wenn Grundvoraussetzun­ gen für das Funktionieren des beschriebenen Systems in Frage gestellt waren. Dies war unter anderem dann der Fall, wenn wichtige Verbindungslinien unter­ brochen wurden, etwa die Route über Trier durch das Moseltal zum Rhein Wood, Fall of the Western Empire, 260: «[...] it is perhaps best to interpret Roman authority in Gaul after 406 as primarily hegemonial.» 942 Siehe die Schilderung bei Sidon, carm. 5,211-254. Die Datierung ergibt sich dar­ aus, daß der spätere Kaiser Majorian zu diesem Zeitpunkt noch puerilibus annis (ebd., 249) gewesen sein muß. 943 Will, Remarques, 524 f. Er selbst weist zurecht auf die Fragwürdigkeit der heuti­ gen Toponyme in bezug auf die Lage des Vicus Helena hin und schlägt eine Lokalisie­ rung östlich von Arras, südlich oder nördlich der Sensée vor; siehe ebd., 517ff. A. Loyen, REA 46, 1944, 121-134 diskutiert ausführlich alle Angaben des Sidonius zur Lage des Vicus Helena und spricht sich schließlich für eine Lokalisierung östlich bzw. nordöstlich von Arras aus, vielleicht bei Vis-en-Artois oder Vitry-en-Artois (ebd., 133 f.). 944 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9 u. Lib. hist. Franc. 5 (MGH SS rer. Merov. 2, 245 f.).

180

V. Die Reichspolitik des Aëtius

oder die Straße von Köln über Bavay nach Boulogne. Auf solchen Vorgaben beruhte also weströmische Politik im nordgallischen Grenzraum zur Zeit des Aëtius; solange es eine Zentrale - sei es in Ravenna oder in Arles - gab, die sie verfolgte, war Gallien «römisch.»

2.2 Die Burgunden am Rhein Unser bisheriges Augenmerk richtete sich vorwiegend auf die römischen Pro­ vinzen Germania II und Belgica II, da sich ihnen gegenüber die fränkischen Siedlungsgebiete jenseits des Rheins befanden. Es stellt sich nun aber auch die Frage, wie die Verhältnisse in den südlich anschließenden Regionen der Pro­ vinz Germania I, insbesondere am O berrhein waren. Prinzipiell ist hier mit ähnlichen Ergebnissen zu rechnen wie im vorigen Kapitel, doch wer waren die barbarischen Partner der Römer? Nach längerer Diskussion ist die althistori­ sche wie archäologische Forschung heute überwiegend der Meinung, daß es sich dabei um die Burgunden handelte. Doch schauen w ir zunächst, was die Quellen hierfür bereithalten. Die Burgunden tauchen in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts im Gesichtskreis der Römer auf.945 Nach ersten Auseinandersetzungen siedelten sie sich hinter den Alamannen, mit denen sie später eine traditionelle Feind­ schaft unterhielten, an. Die Grenze zwischen beiden gentes bildete vielleicht der ehemalige römische Limes.946 Dies ist die Situation, wie sie noch in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts von Ammian geschildert wird. In den Jahren um die Jahrhundertwende siedelten die Burgunden im Rhein-Main-Gebiet, wo man sie durch verschiedene Grabungen der letzten Zeit lokalisieren zu können glaubt.947 Die Invasion von 406/07 bedeutete, wie für die Franken, so auch für die Burgunden und ihr Verhältnis zu Ravenna einen wichtigen Einschnitt. Im Ge­ folge der Wandalen und ihrer Verbündeten überschritten auch sie den Rhein und beteiligten sich an den innerrömischen Auseinandersetzungen der folgen­ den Jahre.948 O lym piodor zufolge war ihr König Γυντιάριος ein wichtiger Ver­

945 Zur Frühgeschichte der Burgunden und ihren ersten Berührungen mit dem Rö­ merreich u. a. Schmidt, Ostgermanen, 129ff.; Perrin, Burgondes, 73ff.; Boehm, Ge­ schichte Burgunds, 46ff.; Solari, Roma e i Burgundi, 477ff. u. Anton, Burgunden, 235ff. 946 Ebd., 237f. 947 Hierzu zusammenfassend Teichner, Nibelungen; ders., in: Gaillard de Semainville, Burgondes, 73-82 u. ders., in: Fischer, Germanen, 145-159. Im Blickpunkt des Interesses ist insbesondere der Befund von Kahl am Main; dazu ausführlich ders., Kahl a. Main. 948 Hier, epist. 123,15,2 (Hilberg); Oros. hist. 7,38,3 u. lord. Get. 161. Dazu Schmidt, Ostgermanen, 134ff.; Perrin, Burgondes, 219ff.; Boehm, Geschichte Burgunds, 48ff.; Solari, Roma e i Burgundi, 486ff. u. Anton, Burgunden, 238ff.

2. Die restitutio Galliarum

181

bündeter des Usurpators Iovinus. Dessen Proklamation zum Kaiser fand an einem O rt namens Μουνδιακόν im Jahre 411 statt.949 Die heftige und anhalten­ de Diskussion darüber, ob es sich hierbei um Mainz in der Germania I oder M ontzen in der Germania II handelte,950 verliert viel von ihrer Brisanz, wenn man bedenkt, daß dadurch keinerlei Aussage darüber getroffen werden kann, wo die Burgunden später siedelten.951 Nach dem Scheitern ihres Thronpräten­ denten Iovinus im Jahre 413 finden w ir sie jedenfalls - offensichtlich mit Zu­ stimmung oder doch D uldung der weströmischen Regierung952 - wieder am Rhein: Burgundiones partem Galliae propinquam Rheno optinuerunt.953954 Die aus dem Nibelungenlied bekannte epische Tradition von Gunthers Reich in der Gegend um Worms verleitet dazu, das Territorium, das die Burgunden damals in Besitz nahmen, hier zu suchen. Gewiß stehen den Anhängern der alten «Niederrheinthese» keine schlagkräftigen Argumente zur Verfügung, da - wie gesehen - das Olympiodor-Fragment für diese Frage nichts hergibt. Doch auch eine Siedlung südlich von Mainz läßt sich nur schwer belegen. Durch literarische Quellen gelingt dies schon gar nicht: Sie gehen in ihren Angaben über Prospers propinquam Rheno954 nicht hinaus. Aber auch auf archäologischer Seite gibt es nur wenige Einzelfunde zugunsten der Anwesenheit ostgermani­ scher Kontingente in Rheinhessen und der Pfalz.955 J. Oldenstein hat die zweite Phase des Kastells von Alzey mit den Burgunden in Verbindung zu bringen versucht.956 Es ist inzwischen mehr als nur die bloße Wahrscheinlichkeit, die

949 Olymp, frg. 18 (Blockley): 'Ότι Ίοβϊνος έν Μουνδιακφ τής έτέρας Γερμανίας κατά σπουδήν Γώαρ του Αλάνου καί Γυντιαρίου, ος φύλαρχος έχρημάτιζε τών Βουργουντιόνων, τύραννος άνηγορεύθη. Aus der Stelle geht u. a. hervor, daß die Burgunden zu diesem Zeitpunkt bereits ein gentiles Heerkönigtum ausgebildet hatten; siehe Perrin, Burgondes, 237f. u. Anton, Burgunden, 240. Auch bei Prosp. chron. 1322 (s. a. 435) wird Gundicharius als rex bezeichnet. 950 Forschungsüberblicke bei Stroheker, Studien, 247ff.; Solari, Roma e i Burgundi, 489ff. u. Anton, Burgunden, 238ff. Siehe auch D .Hoffmann, in: Arculiana. FS H.Bögli, 1995, 56Iff. 951 So schon Stroheker, Studien, 252 f. 952 Lütkenhaus, Constantius III., 58 hingegen glaubt, daß die Ansiedlung der Bur­ gunden am Rhein noch auf den Usurpator Iovinus zurückgeht. 953 Prosp. chron. 1250 (s. a. 413). 954 Ebd. 955 Teichner, Nibelungen, 26 f. u. ders., Kahl a. Main, 141 ff. sowie H.Amendt, in: Gaillard de Semainville, Burgondes, 83-86. Den Befund von Worms charakterisiert M. Grünewald, in: Wieczorek u. a., Franken, 160-162; das gesamte Oberrheingebiet im Blick haben die Studien von H. Bernhard, SJ 37, 1981, 23-85; dems., SJ 38, 1982, 72109 u. dems., in: Fischer, Germanen, 15-46, bes. 40ff. 956 Ausführlich Oldenstein, Die letzten Jahrzehnte, bes. llOff. sowie zusammen­ fassend ders., in: Vallet/Kazanski, Armée romaine, 125-133 u. ders., in: Gaillard de Semainville, Burgondes, 87-93.

182

V. Die Reichspolitik des Aëtius

für die «Oberrheinthese» spricht; für ein abschließendes Fazit ist die Zeit je­ doch noch nicht reif. Vom weiteren Fortgang des römisch-burgundischen Verhältnisses erfahren wir nichts; doch in den 430er Jahren vermelden unsere Quellen mehrere N ie­ derlagen des Gundicharius - vielleicht noch der Γυντιάριος O lym piodors oder doch einer seiner Erben - und die Vernichtung von großen Teilen seiner gens. Die Überlieferung ist sich über den groben Verlauf der Ereignisse einig, doch bleiben viele, zumal chronologische Einzelheiten im dunkeln. Prosper von Aquitanien macht mit seiner C hronik den Anfang und vermeldet zum Jahre 435: Eodem tempore Gundicbarium Burgundionum regem intra Gallias habi­ tantem Aetius bello obtrivit pacemque ei supplicanti dedit, qua non diu potitus est, siquidem illum Chuni cum populo suo ab stirpe deleverint.957958 Ähnliches berichtet, allerdings zum Jahre 436 n. Chr. die Gallische C hronik von 452: Bel­ lum contra Burgundionum gentem memorabile exarsit, quo universa paene gens cum rege per Aetium deleta.959 Hydatius teilt seine Informationen zu dem Krieg zwischen Römern und Burgunden auf zwei Jahreseintragungen auf; zu­ nächst, für 436 n. Chr.: Burgundiones, qui rebellaverant, a Romanis duce Aetio debellantur959 dann, ein Jahr darauf, folgt lapidar: Burgundionum caesa X X millia (7).960 Dies ist im wesentlichen alles, was w ir über die «Nibelungennot», die in der Epik des Mittelalters ein so großes Thema werden sollte, wissen. In der Ehreninschrift für Aëtius vom Atrium Libertatis wird dessen Burgundensieg erwähnt;961 Sidonius spielt 456 in seinem Panegyricus auf Kaiser Avitus auf ihn an.962 Hieraus ergibt sich, daß die Burgunden in eine der belgischen Provinzen vorgedrungen waren (Belgam, Burgundio quem trux / presserat). Die vorgestellten Überlieferungsbruchstücke vom Untergang des rheinischen Burgundenreichs werfen mehrere Fragen auf, die auch bei näherem Hinsehen nicht immer abschließend beantwortet werden können, zu widersprüchlich ist das Quellenmaterial. Da ist zum einen die Frage nach der Datierung von

957 Prosp. chron. 1322 (s. a 435). Ähnlich die Notiz bei Cassiod. chron. 1226 (s. a. 435): Gundicharium Burgundionum regem Aetius bello subegit pacemque ei reddidit supplicanti, quem non multo post Hunni peremerunt. 958 Chron. Gall. 452, 118 (s. a. 436). Noch unbestimmter Chron. Gall. 511, 596: Bur­ gundiones victi ab Aetio patricio. 959 Hyd. chron. 108 (s. a. 436). 960 Hyd. chron. 110 (s. a. 437). 961 CIL VI 41389, 7-9: ob Italiae securitatem, / quam procul, domitis gentib(us) peremptisque / [BJurgundionib(us) et Gotis oppressis, vincendo praestit[it]. 962 Sidon, carm. 7,230-235 (von Avitus): Aetium interea, Scythico quia saepe duello est / edoctus, sequeris; qui, quamquam celsus in armis, / nil sine te gessit, cum plurima tu sine illo. / Nam post Iuthungos et Norica bella subacto / victor Vindelico Belgam, Bur­ gundio quem trux / presserat, absolvit iunctus tibi

2. Die restitutio Galliarum

183

Aëtius’ Burgundenkrieg. Offensichtlich erstreckte sich die Auseinandersetzung auf zwei Kampagnen, eine vom patricius selbst geleitete zur Abwehr von G undicharius’ Vorstoß in die belgischen Provinzen und eine weitere, an der hunni­ sche Truppen beteiligt waren. Zecchini hat die Kämpfe am O berrhein in den Kontext der militärischen Auseinandersetzungen mit den Bagauden 435/37 und Westgoten 436/39 gestellt und Aëtius’ Vorstöße auf 436/37 datiert:963 Während der magister equitum per Gallias Litorius zunächst gegen Tibatto in der Aremorika operiert habe, dann seit 437 gegen Theoderich I., habe der patricius nachweislich erst 438 in die Kämpfe mit den Westgoten eingegriffen;964 vorher sei er also mit den Burgunden beschäftigt gewesen. Dies widerspricht zwar dem Zeugnis Prospers von Aquitanien, ermöglicht aber zweifellos eine sinn­ volle Chronologie, die zudem dadurch gestützt wird, daß Aëtius noch am 5. September 435 in Ravenna weilte, wo er von Kaiser Valentinian III. den Patri­ ziat verliehen bekam.965 Er kann also frühestens im W inter 435/36 die Kam­ pagne gegen die Burgunden begonnen haben. Schwieriger ist die Frage zu lösen, welche Rolle die H unnen bei der Vernich­ tung des Gundicharius und seiner Burgunden spielten. Aus den Texten geht nicht hinreichend sicher hervor, ob es sich bei den Chuni um Auxilien aus dem H eer des Aëtius handelte oder um Krieger von außerhalb des Reiches. Entspre­ chend vielstimmig ist der C hor derer, die eine Lösung des Problems versuch­ ten. N och in einem kürzlich erschienenen Kongreßband zur aktuellen Burgundenforschung finden sich beide Ansichten nebeneinander.966 Erschwerend kommen zur Überlieferungslage zwei Gesichtspunkte hinzu: Zum einen er­ fahren wir in der Tat - wenn auch aus einer dubiosen Quelle967 - von burgundisch-hunnischen Spannungen um 430 n. Chr.968 Zweitens, nicht alle Bur­ gunden zogen 406/07 über den Rhein; bis in die 450er Jahre gab es eine

963 Zecchini, Aezio, 214 ff. 964 Hyd. chron. 112 (s. a. 438). 965 Fast. Merseb. s. a. 435. 966 Vgl. J. Richard, in: Gaillard de Semainville, Burgondes, 18 (mögliche Beteiligung Attilas an der Vernichtung der Burgunden) u. H. Wolfram, in: Gaillard de Semainville, Burgondes, 24 (Vernichtung der Burgunden durch hunnische Auxilien des Aëtius). 967 Es handelt sich um Sokr. 7,30. Nach dieser Quelle sollen die Burgunden einem Angriff des Hunnenkönigs Uptar (anderweitig als Oktar bekannt; siehe PLRE II Octar) nur dadurch entkommen sein, daß sie sich auf Reichsgebiet rasch taufen ließen. Es handelte sich in diesem Fall also um rechts des Rheins verbliebene Burgunden. - Mit der betreffenden Sokrates-Quelle ist das Problem des angeblichen burgundischen «Urkatholizismus» verbunden; die Forschung bleibt diesbezüglich allerdings skeptisch; siehe Anton, Burgunden, 240 f. mit weiterer Literatur. 968 Einige Forscher sehen im hunnischen Druck auf die Burgunden die Ursache für deren weiteres Ausgreifen ins Reich, so etwa Stroheker, Studien, 257f. u. Anton, Bur­ gunden, 241.

184

V. Die Reichspolitik des Aëtius

beträchtliche Gruppe von ihnen, die im Freien Germanien wohnen blieb und auf den Katalaunischen Feldern mit Attila kämpfte.969 Kurzum, hunnische Machtinteressen im Vorfeld der römischen Rheingrenze sind für 436/37 anzu­ nehmen, ein militärisches Eingreifen erscheint zumindest denkbar. Dennoch ist es aus allgemeinen Erwägungen eher unwahrscheinlich, daß ein Flunnenfürst vom Range Attilas und Bledas auf Reichsterritorium vorgedrungen sein könnte, um Furcht und Schrecken zu verbreiten. Dies aber wäre die Voraus­ setzung gewesen, um Gundicharius in die H and zu bekommen.970 Unsere Quellen sagen zwar nicht viel, sie lassen aber keinen Zweifel daran, daß Aëtius bei der Vernichtung der Burgunden die entscheidende Initiative zukam.971 In seiner Inschrift vom Atrium Libertatis wurde der Sieg über Gundicharius als bedeutender Erfolg verbucht.972 Daß die hunnischen Auxilien einen besonde­ ren Ruf genossen und auch Reichsangehörigen nicht immer geheuer waren, geht aus mehreren Bemerkungen, etwa bei Sidonius Apollinaris und Salvian hervor.973 Dies mag den Anlaß gegeben haben, ihre Rolle bei der Vernichtung der Burgunden 436/37 eigens hervorzuheben.974 Aëtius hat mit dem Erfolg über die Burgunden 436/37 die Schlagkraft des Weströmischen Reiches eindrucksvoll unter Beweis gestellt; die Sicherheit der Grenzabschnitte am O berrhein wurde durch ihre Dezimierung und spätere Aussiedelung offensichtlich nicht gefährdet.975 Ü ber die Motive, die den patri-

969 Sidon, carm. 7,322. Enge, nicht nur feindliche Beziehungen zwischen Hunnen und Burgunden lassen sich auch aus archäologischen Befunden ableiten, so etwa aus der reiternomadischen Sitte der künstlichen Schädeldeformation, die man im späteren Sied­ lungsgebiet in der Sapaudia des öfteren findet; hierzu zuletzt Ch. Simon, in: Gaillard de Semainville, Burgondes, 205-215. - Nach dem Zerfall der Hunnenmacht 454 zogen rechtsrheinische Burgunden in das Genfer Reich ihrer Stammesgenossen; siehe hierzu das Zeugnis der Lex Burg. extr. 21,12 aus dem Jahre 501 n. Chr. Dazu Schmidt, O st­ germanen, 138. 970 Perrin, Burgondes, 266 f. hingegen erwägt, Gundicharius habe sich nach der Nie­ derlage gegen Aëtius auf rechtsrheinischem Gebiet auszudehnen versucht und sei dort von Attila aufgerieben worden. 971 Dieser Punkt wird denn auch von S.Mazzarino, Aezio, 138 besonders hervorge­ hoben, der von einer «volontà politica» und einer «piena responsabilità» des Aëtius spricht. 972 CIL VI 41389, 7-9. 973 Sidon, carm. 7,241-294 (der spätere Kaiser Avitus bewährt sich angesichts der Ausschreitungen der hunnischen Soldaten des Litorius) u. Salv. gub. 7,39-44 (Unmut über die heidnischen hunnischen Hilfstruppen des Litorius in der Auseinandersetzung mit dem christlichen Westgotenkönig Theoderich I.). 974 Beck, Volks- und Sprachgrenzen, 440 f. spricht denn auch von einer stark legen­ denhaften Verbindung der Katastrophe von 436/37 mit Attila und den Hunnen. 975 Zur Organisation der römischen Grenzabschnitte südlich von Mainz nach 400 u. a. E. Stein, BRGK 18, 1928, 92-114; Nesselhauf, Spätröm. Verwaltung, 66ff.; E.Demougeot,

2.

Die restitutio Galliarum

185

dus zu seinem harschen Vorgehen bewogen haben, können w ir aufgrund der mehr oder weniger isolierten Nachrichten, die uns vorliegen, nur spekulieren. Das Vordringen des Gundicharius in die belgischen Provinzen allein jedenfalls erklärt nicht die Unbedingtheit, mit der Aëtius die Burgunden niedergeworfen hat. Solches hatten sich die Franken in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach geleistet. Sah er die Route von Trier zu den Rheingarnisonen durch das burgundische Vorgehen gefährdet? Wollte er angesichts des bereits in Gang ge­ kommenen Aufstandes in der Aremorika und der beginnenden Aggressionen Theoderichs I. ein Zeichen setzen? Den Spekulationen sind keine Grenzen ge­ setzt. Das Ergebnis von Aëtius’ Kampagnen war jedenfalls, daß die Rhein­ grenze auch südlich von Mainz bis zu der auf den Tod des Heermeisters fol­ genden Reichskrise 454/55 stabil war. Auch hier blieben die «römischen» Rahm enstrukturen erhalten.

2.3 Die Alamannen und Juthungen an Rhein und Donau

Es bietet sich an, an dieser Stelle einen ergänzenden Blick auf die Ereignisse am O ber- und H ochrhein sowie an der Donau während der ersten Hälfte des fünf­ ten Jahrhunderts zu werfen. Zwar dringen wir hiermit auch in Gebiete vor, die nicht mehr zum Aktionsbereich des praefectus praetorio per Gallias gehörten, sondern dem für Italien, N ordafrika und Illyrikum verantwortlichen O ber­ beamten unterstellt waren. Dennoch gibt es - abgesehen von der Tatsache, daß damit eine systematische Darstellung der Flußgrenzen des Weströmischen Rei­ ches ermöglicht wird - durch das Quellenmaterial nahegelegte G ründe für ein solches Vorgehen. So hat Aëtius offensichtlich noch während seiner Amtszeit als magister equitum per Gallias in Rätien und N orikum militärische O peratio­ nen durchgeführt, streng genommen also außerhalb seines Verantwortungsbe­ reichs. Unabhängig davon, wie diese Tatsache zu bewerten ist,976 deutet sie doch darauf hin, daß man zwischen den Sicherheitsproblemen an Rhein und Donau während der 430er Jahre einen inneren Zusammenhang sah, dem man

RAlsace 92, 1953, 7-28; Mazzarino, Aezio, 142ff.; E.Ewig, in: Ewig/Werner, Von der Spätantike zum frühen Mittelalter, 271 ff. u. Oldenstein, Die letzten Jahrzehnte. Das Hauptproblem, dem sich die Forschung ausgesetzt sieht, ist die Deutung der von der «Notitia dignitatum» überlieferten Informationen über die Standorte und Befehlsstruk­ turen am Rhein. Die vorgetragenen Lösungen sind dabei ebenso scharfsinnig wie um­ stritten; eine communis opinio scheint noch in weiter Ferne. Für unsere Zwecke ausrei­ chend ist die inzwischen allgemein akzeptierte Auffassung, daß das römische Grenzregime am Rhein zu Beginn des 5. Jhs. keineswegs endete, sondern mindestens bis zur Mitte des Jhs. - wenn auch in veränderter Form - noch fortdauerte. 976 Dazu oben im Rahmen des Kapitels «Aëtius’ politischer Weg im Machtgefüge des Weströmischen Reiches» S. 49 mit Anm. 246.

186

V. Die Reichspolitik des Aëtius

entsprechend Rechnung trug. Zumindest einer der potentiellen Gegner Rave­ nnas war denn auch auf beiden Schauplätzen anzutreffen, nämlich die Alaman­ nen. Das Verhältnis dieser gens zum Weströmischen Reich zu beschreiben ist nicht leicht möglich. N och im vierten Jahrhundert waren die Alamannen einer der gefürchtetsten Gegner des Imperiums an O berrhein und Donau ge­ wesen.977 Vom Rhein-M ain-Gebiet ausgehend entlang der Flußgrenze bis zum Ries erstreckten sich ihre Herrschaftszentren; zwar bildeten die Alamannen kein einheitliches H eerkönigtum aus, doch vermochten sie auch so, den röm i­ schen Verantwortlichen auf der Gegenseite Arger zu bereiten und sie bisweilen zu Zugeständnissen zu nötigen. Bis in valentinianische Zeit finden wir viele alamannische Große als Offiziere im spätantiken Heer.978 Die römische Admi­ nistration versuchte u. a. durch eine intensive Vorfeldkontrolle - etwa im Rhein-Main-Gebiet - alamannische Aggressionen von vornherein zu unter­ binden. Die Burgunden spielten bei dieser oftmals erfolgreichen Konzeption offenbar eine wichtige Rolle.979 Nach 400 ändert sich dieses Bild seltsamerweise gründlich. Zwar überschrei­ ten alamannische G ruppen im Gefolge der Invasion von 406/07 ebenfalls den Rhein und beteiligen sich an den Bürgerkriegen im Inneren Galliens.980 Von einer dauerhaften Siedlung links des Grenzflusses findet sich in den literari­ schen Quellen jedoch keine Spur, und auch das archäologische Material läßt uns diesbezüglich im Stich. Die Tatsache, daß sich im Jahre 413 Gundicharius mit seinen Gefolgsleuten am O berrhein ansiedeln durfte und dort römische Verteidigungsaufgaben wahrnahm, deutet darauf hin, daß Ravenna auch in die­ ser Zeit noch auf die traditionelle burgundisch-alamannische Feindschaft setzte. Ü berhaupt scheinen die Burgunden damals ein Übergewicht über ihre Gegner erlangt zu haben, denn es gibt archäologische Hinweise, daß sie sich auch im Rhein-M ain-Gebiet auf Kosten der alamannischen Bukinobanten auszudehnen vermochten.981 Selbst nach der katastrophalen Niederlage des Gundicharius 436/37 gegen Aëtius änderte sich an den grundsätzlichen Machtverhältnissen offensichtlich nicht viel: Zwar füllten die Alamannen nun das von den Burgun­ den hinterlassene Vakuum rechts des Rheins aus.982 Hinsichtlich eines Vordrin­ gens auf Reichsterritorium zeigten sie aber weiterhin keine Begehrlichkeiten.

977 Hierzu die aktuelle Zusammenfassung von Geuenich, Alemannen, 28 ff. 978 Dazu K. F. Stroheker, in: ders., Germanentum und Spätantike, 30-53 sowie zuletzt Martin, Zwischen den Fronten u. ders., Alemannen. 979 Teichner, Kahl a. Main, 136 ff. 980 Hier, epist. 123,15,2 (Hilberg) u. Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9. 981 Martin, Historische Schlagzeilen, 163 f. 982 Ebd., 164 ff.

2. Die restitutio Galliarum

187

Erst während der Reichskrise nach dem Tode des Aëtius und Valentinians III. 454/55 erfahren wir, daß alamannische G ruppen den Rhein überschreiten;983 von einer dauerhaften Siedlung - etwa im Elsaß - kann aber auch jetzt auf­ grund der archäologischen Zeugnisse noch nicht gesprochen werden.984 D en­ noch setzte in den folgenden Jahrzehnten eine kurze Phase alamannischer Expansionstätigkeit ein, die auf gallischem Gebiet bis zum Doubs und darüber hinaus reichte.985 Der Sieg Chlodwigs zu Beginn des sechsten Jahrhunderts machte dem endgültig ein Ende. Erst um diese Zeit auch wird die alamannische Siedlungstätigkeit jenseits von Ober- und Hochrhein in Gang gekommen sein.986 Die Frage ist berechtigt, worin die Gründe dafür liegen, daß die Alamannen in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts nicht die Rolle zu spielen ver­ mochten wie in den Dezennien zuvor. Mehrere Möglichkeiten kommen in Betracht. H .Castritius hat vermutet, daß in dem betreffenden Zeitraum neue ethnogenetische Prozesse in Gang gekommen seien, als deren Folge die gens Alamannorum tiefgreifende Wandlungen erfahren habe. So seien bis etwa 450 die Namen der einstigen Teilstämme (wie z. B. Bukinobanten, Juthungen) ver­ schwunden; auch die historisch folgenreiche Verschmelzung mit den Sweben falle in diese Zeit.987 Denkbar ist auch, daß die Alamannen nach 400 in enge Abhängigkeit von den H unnen gerieten und deshalb in ihrer Bewegungsfrei­ heit gebunden waren. Allerdings werden sie im Völkerkatalog des Sidonius Apollinaris nicht auf der Seite Attilas erwähnt, und die archäologischen H in ­ weise sind dürftig.988 Alles in allem bleibt es deshalb weiterhin ein Rätsel, war­ um die Alamannen vor 454/55 als Machtfaktor am Oberrhein nahezu ausscheiden. Aëtius jedenfalls bereiteten sie keine Sorge. Wie am Oberrhein, so verfügen wir auch an Donau und Iller über keine literarischen und nur wenige archäologische Informationen bezüglich etwaiger alamannischer Aktivitäten.989 In den rätischen Grenzstandorten der spätrömi983 Sidon, carm. 7,373-375: [...] Rhenumque, ferox Alamanne, bibebas / Romani ripis et utroque superbus in agro / vel civis vel victor eras. 984 So Martin, Historische Schlagzeilen, 167 u. A.Wieczorek, in: ders. u. a., Franken, 241 f. Weniger ausschließlich Geuenich, Alemannen, 67 f. 985 Castritius, Spätantike und nachröm. Zeit am Mittelrhein, 68 ff.; Geuenich, Aleman­ nen, 75ff. u. Martin, Historische Schlagzeilen, 167ff. 986 Geuenich, Alemannen, 75ff. Ähnlich schon R.Moosbrugger-Leu, SZG 13, 1963, 468f. (Datierung auf Ende 5.Jh./Anf. 6. Jh.). Noch späterer Ansatz bei Martin, Spätröm.-frühmittelalterliche Besiedlung, 434 (zweites Drittel 6. Jh.). 987 Castritius, Spätantike und nachröm. Zeit am Mittelrhein, 65 ff. 988 Martin, Historische Schlagzeilen, 166. 989 Zu den archäologischen Quellen V. Bierbrauer, in: G. Gottlieb u. a. (Hrsgg.), Ge­ schichte der Stadt Augsburg, 21985, 87-100; Fischer, Spätzeit und Ende, 393 u. ders., Von den Römern zu den Bajuwaren, 405 ff. sowie Martin, Historische Schlagzeilen, 167.

188

V Die Reichspolitik des Aëtius

sehen Armee finden sich ostgermanische Fundstücke sowie Hinweise auf eine Bevölkerungsgruppe böhmischer Provenienz.990 Die literarischen Quellen las­ sen uns hinsichtlich der Deutung dieses Befundes allerdings im Stich; da es sich bei den genannten G ruppen um Föderatenkontingente, nicht um reguläre röm i­ sche Einheiten gehandelt haben wird, finden sie auch in den entsprechenden Passagen der «Notitia dignitatum» keine Erwähnung.991 Immerhin kann man die archäologischen Befunde vorsichtig dahingehend deuten, daß auch an der Donau das römische Grenzregime vorwiegend mit angeworbenen Soldaten aus dem Barbaricum aufrechterhalten wurde.992 Eine Räumung Rätiens durch Stilicho nach 400 hat in der von der früheren Forschung postulierten A rt und Weise nicht stattgefunden.993 Auch das in diese Zeit fallende Ende der M ünzzufuhr in den Gebieten nördlich der Alpen läßt nicht auf ein Ende der Römerherrschaft schließen, eher schon auf einen grundsätzlichen Wandel der ökonomischen Rahmenbedingungen.994 Die Verteidigungsstrukturen des Reiches an der D o­ nau blieben bis in die Zeit des hl. Severin (gest. 482) prinzipiell intakt.995 Als Gegner der Römer an der Donau erscheinen in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts die Juthungen, ein ursprünglich eigenständiges, elbgerma990 Fischer, Spätzeit und Ende, 396ff. Bei den nach Böhmen weisenden Funden han­ delt es sich v. a. um Keramik der sog. Gruppe Friedenhain-Pfest’ovice, in der einige Forscher ein Bindeglied zu den frühmittelalterlichen Bajuwaren erblicken wollen; siehe Fischer, Von den Römern zu den Bajuwaren, 409 ff. u. Dietz/Fischer, Römer in Regens­ burg, 218 ff.; zurückhaltender E. Keller, in: W. Menghin/W. Pülhorn (Hrsgg.), Die Völ­ kerwanderungszeit im Karpatenbecken, 1988, 81 ff. 991 Die rätischen Passagen der «Notitia dignitatum» geben nach gängiger Meinung den Stand der Grenzorganisation um 375 wieder; siehe Fischer, Spätzeit und Ende, 362 ff. Einzelne Indizien könnten allerdings auf Einschübe aus späterer Zeit (Dietz/Fi­ scher, Römer in Regensburg, 21 If.), so z. B. aus der des comes Generid 409, hinweisen (Castritius, Grenzverteidigung, 23 mit Anm. 24). 992 Hierzu E. Keller, AKB 7, 1977, 63-73 u. ders., JRGZ 33, 1986, 575-592; zusam­ menfassend Fischer, Spätzeit und Ende, 364 ff.; Dietz/Fischer, Römer in Regensburg, 194 ff. u. M. Mackensen, in: J.D.Creighton/R.J.A. Wilson (Hrsgg.), Roman Germany, 1999, 199-244. 993 Dietz/Fischer, Römer in Regensburg, 21 Off. 994 Hierzu ebd., 212ff. u. H.-J. Kellner, VTLF 78, 1998, 89-114. Edelmetallprägungen aus später Zeit finden sich relativ häufig, da sie für die Entlohnung der (barbarischen) Soldaten benötigt wurden. Das tägliche Leben hingegen beruhte zunehmend auf Tauschwirtschaft. - Für den Donauraum kann man vergleichbare Prozesse beobachten; siehe G.Dembski, in: Straub, Severin, 201-215. 995 Eugipp. Sev. 20. Dazu Dietz/Fischer, Römer in Regensburg, 213 u. 216f. sowie ausführlicher F. Lotter, Severinus von Noricum, 1976, 204ff. u. 266ff. Allerdings scheint es zu weitgegriffen, in Severin einen Beauftragten Kaiser Valentinians III. bzw. des Aëti­ us zu sehen, dessen Aufgabe es gewesen sei, nach dem Zerfall des Attilareiches die Positionen des Imperiums in der Donauregion zu reorganisieren; so allerdings ebd., 220f. u. 266 sowie Zecchini, Aezio, 208.

2. Die restitutio Galliarum

189

nisches Volk, das seit dem vierten Jahrhundert zunehmend mit den Alamannen zusammen genannt wird.996 Im Jahre 383/84 hatte es zuletzt Rätien heim­ gesucht.997 Unsere Informationen sind - wie schon so oft - kurz und wenig detailreich. Zum Jahre 430 n. Chr. vermeldet die Gallische C hronik von 452 lapidar: Aetius luth ungor um gentem deleri intendit. " 89Dazu scheint eine N otiz des Hydatius aus demselben Jahr zu passen: Iuthungi per eum (seil. Aetium ) similiter debellantur et N o n .999 Die N ori dieses Eintrags kehren kurz darauf wieder, diesmal 431 n. Chr.: Aetius dux utriusque militiae Noros edomat rebel­ lantes.1000 Damit hätten sich die datierbaren Angaben auch schon wieder er­ schöpft. Sidonius Apollinaris berichtet in seinem Avitus-Panegyricus, der spätere Kaiser habe an den erwähnten Kämpfen teilgenommen und stellt so eine un­ abhängige Bestätigung der chronikalischen Überlieferung dar.1001 In einer In­ schrift des Dichters und Generals Merobaudes schließlich ist von dessen militä­ rischen und poetischen Aktivitäten in den Alpen die Rede; auch dies mag mit unseren Ereignissen in Beziehung stehen.1002 Unseren Quellen läßt sich zunächst entnehmen, daß die Operationen, die Aëtius an der Donau führte, zwei Kampagnen in Anspruch nahmen. Darauf deutet nicht nur die Verteilung der Informationen auf die Jahre 430 und 431 n. Chr. hin, sondern auch die Formulierung der Gallischen C hronik von 452 (ideleri intendit), die impliziert, daß eine sofortige Vertreibung der Juthungen nicht gelang. Kürzlich hat R. Scharf eine schon länger bekannte Inschrift aus Augsburg, auf der drei Einheiten der italischen Präsentalarmee genannt wer­ den, mit den Ereignissen in Verbindung zu bringen versucht.1003 Im Mai 430 wurde der patricius Felix in Ravenna getötet. Infolge dieses Umsturzes gelangte Aëtius erstmals in den Besitz des obersten Heermeisteramtes, war nun aller­ dings auch am Hofe Valentinians III. persönlich gefordert. Vielleicht hat sich diese Veränderung der innenpolitischen Lage auch auf die Operationen nörd996 Amm., 17,6,1 spricht von ihnen als einer Alamannorum pars. Zur Frühgeschichte der Juthungen zuletzt H. Castritius, in: Geuenich, Franken und Alemannen, 349-366 u. D. Geuenich, RGA 16, 2000, 142-144. 997 Ambr. epist. 73(18),21 u. 30(24),6-8 sowie Sokr. 5,11,2. Dazu Fischer, Spätzeit und Ende, 390ff. Zu den archäologischen Zeugnissen der Juthungen ebd., 394f. 998 Chron. Gail. 452, 106 (s. a. 430). 999 Hyd. chron. 93 (s. a. 430). 1000 Hyd. chron. 95 (s. a. 431). 1001 Sidon, carm. 7,230-235 (von Avitus): Aetium interea, Scythico quia saepe duello est / edoctus, sequeris; qui, quamquam celsus in armis, / nil sine te gessit, cum plurima tu sine illo. / Nam post Iuthungos et Norica bella subacto / victor Vindelico Belgam, Burgundio quem trux / presserat, absolvit iunctus tibi, 1002 CIL VI 1724 (ILS 2950), 9f.: inter arma litteris militabat, / et in Alpibus acuebat eloquium. 1003 Scharf, Iuthungenfeldzug, bes. 144f. Abdruck der Inschrift ebd., 132f.

190

V. Die Reichspolitik des Aëtius

lieh der Alpen ausgewirkt, und zwar dahingehend, daß Aëtius seine Kampagne gegen die Juthungen zunächst unterbrechen mußte, um sie im kommenden Jahr 431 - unter Einsatz seiner neu hinzugewonnenen Ressourcen - wieder­ aufzunehmen. Unsere Überlieferung spricht nicht nur von den Juthungen, die Aëtius in Rätien bekämpfen mußte, sie erwähnt auch A o n 1004 bzw. Norica bella.1005 Hydatius präzisiert an einer Stelle sogar zu N ori rebellantes.1006 Die Forschung ist insofern zumeist davon ausgegangen, daß es sich bei diesen nicht um ein­ gedrungene Barbaren oder aufständische Föderaten gehandelt hat, sondern um Einheimische, die sich gegen das Regime der Reichsregierung aufgelehnt und es abzuschütteln versucht hätten.1007 In der Tat ist es schwer denkbar, daß unsere Gewährsleute andernfalls nicht dazu imstande gewesen wären, eine geeignetere Bezeichnung für sie zu finden. Die Provinzen an der Donau waren bis zum Untergang des westlichen Kaisertums und darüber hinaus römisches Territo­ rium .1008 N och 449 ist uns mit Promotus ein Funktionsträger des Reiches aus N orikum bezeugt.1009 Erst der Rugierkrieg Odoakers 487/88 und die auf die­ sen folgende Umsiedlung von Teilen der romanischen Bevölkerung nach Italien hat für einen gewissen Einschnitt gesorgt, doch auch dieser darf nicht über­ schätzt w erden.1010 Gerade in Rätien und N orikum lassen sich gut die Kon­ tinuitäten beobachten, die Spätantike und Frühmittelalter verbinden.1011

2.4 Die sogenannte Bagaudenbewegung

Mit den Nori rebellantes haben wir bereits ein Problem angeschnitten, das von den Grenzen wegführt ins Innere des Weströmischen Reichs. Während der er­ sten Hälfte des fünften Jahrhunderts kommt es in vielen Teilen des Imperiums

1004 Hyd. chron. 93 (s. a. 430). 1005 Sidon, carm. 7,233. 1006 Hyd. chron. 95 (s. a. 431). 1007 So etwa Scharf, Iuthungenfeldzug, 144 u. Fischer, Spätzeit und Ende, 399. Siehe auch Weber, Aëtius, der allerdings eine Verwechslung der Nori mit den barbarischen Neun in Erwägung zieht (ebd., 475). 1008 K.Reindel, VHVO 106, 1966, 23-41; ebenso G.Alföldy, Noricum, 1974, 213ff.; Castritius, Grenzverteidigung u. Fischer, Spätzeit und Ende, 398ff. 1009 Priskos frg. 11,2 (Blockley), 318f.: Προμοΰτος τής Νωρικών αρχών χώρας. 1010 Fischer, Von den Römern zu den Bajuwaren, 411 läßt die italische Herrschaft über die Donauländer bis 536 dauern, als der Ostgotenkönig Witigis im Gefolge der Gotenkriege die Gebiete nördlich der Alpen an die Merowinger abtrat. 1011 Hierzu die exemplarische Studie von H. v. Petrikovits, Die römischen Provinzen am Rhein und an der oberen und mittleren Donau im 5. Jahrhundert n. Chr. Ein Ver­ gleich, 1983.

2.

Die restitutio Galliarum

191

wiederholt zu Aufständen, durch die ganze Landstriche der legitimen Regie­ rung entzogen werden, die oft erst nach Jahren unter die Botmäßigkeit des Kaisers zurückgebracht werden können. Vielfach werden sie unter dem O ber­ begriff «Bagaudenbewegung» zusammengefaßt, obwohl die Bezeichnung Ba­ caudae in den Quellen nur für einige dieser Abspaltungsbewegungen gebraucht w ird.1012 Ganz offensichtlich handelt es sich hier um ein «innerrömisches» Pro­ blem, das zunächst losgelöst von den auf Reichsgebiet siedelnden Föderaten betrachtet werden muß, zumal Bagauden vor allem in Gebieten auftraten, die gerade nicht barbarischen Völkern zur Ansiedlung zugeteilt worden waren, so etwa in dem Gebiet zwischen Loire und Seine und in Hispania Tarra­ conensis. Betrachten w ir die Quellen, die uns von diesem Phänomen während der Wirkungszeit des Aëtius berichten:10131045 Im Jahre 435 brach der Gallischen C hronik von 452 zufolge im N orden Galliens ein Aufstand aus, der weite Teile des Landes mit sich riß und offensichtlich vor allem bei den Unterschichten U nterstützung fand. H aupt der Bewegung, die explizit mit dem Namen Bacauda bedacht wird, war ein gewisser Tibatto: Gallia ulterior Tibattonem prin­ cipem rebellionis secuta a Romana societate discessit, a quo tracto initio omnia paene Galliarum servitia in Bacaudam conspiravere.1014 Zwei Jahre später wird die Gefangennahme Tibattos und die Niederschlagung des Aufstandes ver­ meldet: Capto Tibattone et ceteris seditionis partim principibus vinctis, partim necatis Bacaudarum commotio conquiescit.1015 Die Operationen waren von Aëtius’ General Litorius zu Ende geführt worden, der - nach vollbrachter Tat - mit seinen hunnischen Auxilien auf den nächsten Kriegsschauplatz nach Süden eilte, um N arbonne von der Belagerung durch Theoderich I. zu ent­ setzen.1016 Etwa ein Jahrzehnt später - eine genaue Datierung fehlt in diesem Fall gibt es Indizien für neue U nruhen im N orden Galliens. Der Bischof Germanus von Auxerre setzt sich - so sein Biograph Constantius von Lyon - für die Bewohner der Aremorika ein, die offensichtlich in Konflikt mit der Reichs­

1012 Die Bezeichnung Bacaudae leitet sich wohl aus kelt. *bägä «Kampf» (vgl. air. bag [ä, fern.] «Kampf») ab; dazu C. E. Minor, Traditio 31, 1975, 318-322; ebenso San­ chez Leon, Bagaudas, 31 ff. 1013 Das Verhältnis des Aëtius zu den Bagauden behandeln u. a. Borza, Bacaudae, 40 ff.; Clover, Flavius Merobaudes, 46 ff.; Dockès, Révoltes bagaudes, 221 ff.; Zecchini, Aezio, 192ff. (in Spanien), 217f. u. 226f. (in Gallien); Van Dam, Leadership and Com­ munity, 36 ff. sowie Sänchez Leon, Bagaudas, 62 ff. 1014 Chron. Gail. 452, 117 (s. a. 435). 1015 Chron. Gail. 452, 119 (s. a. 437). 1016 Sidon, carm. 7,246-248: Litorius Scythicos equites tum forte subacto / celsus Aremorico Geticum rapiebat in agmen / per terras, Arveme, tuas. [...].

192

V. Die Reichspolitik des Aëtius

regierung geraten sind. Es gelingt ihm, den Alanenkönig Goar, der zu ihrer Bestrafung ausgesandt worden ist, zurückzuhalten. Hierauf begibt er sich nach Ravenna zu Aëtius und Kaiser Valentinian III., um die Sache der Aremorikaner zu vertreten.1017 Doch muß er in Italien erfahren, daß diese zu ihrer pristina rebellio zurückgekehrt seien; wieder wird der bereits bekannte Tibatto als A n­ stifter genannt.1018 Der Quellenwert der «Vita Germani» ist zwar durchaus um ­ stritten,1019 doch weisen auch andere Zeugnisse aus dieser Zeit auf Spannungen und U nruhen in Nordgallien hin. So erwähnt Sidonius Apollinaris in seinem 458 verfaßten Panegyricus, der spätere Kaiser Majorian habe als junger Mann in einer winterlichen Kampagne die Stadt Tours vor ihren Feinden gerettet.1020 Merobaudes führt in seinem Preisgedicht aus dem Jahre 446 im Rahmen seiner Erfolgsbilanz des Aëtius auch die Befriedung der Aremorika auf.1021 Daß es nach diesem Datum dennoch weitere U nruhen gegeben hat, lehrt eine N otiz der Gallischen Chronik von 452 aus dem Jahre 448 n. Chr., die die Flucht des Bagaudenführers Eudoxius zu den H unnen vermeldet: Eudoxius arte medicus, pravi, sed exercitati ingenii, in Bacauda id temporis mota delatus ad Chunos confugit.1022 Alle genannten Ereignisse und Überlieferungssplitter weisen in die zweite Hälfte der 440er Jahre; möglicherweise handelte es sich gar nicht um einen einzigen Bagaudenaufstand, sondern um mehrere. Schon die Ansiedlung von Alanen in Nordgallien einige Jahre zuvor1023 deutet darauf hin, daß die Aremorika ein generelles Sicherheitsproblem hatte, das vielleicht nie recht abge­ ebbt war.1024 Während des Attilakrieges 451 allerdings kämpften die Aremori­ kaner quasi wie Föderaten auf der Seite des Aëtius gegen die H unnen.1025 1017 Constantius vita Germ. 28. 1018 Ebd. 40. 1019 Siehe hierzu schon die abgewogene Einschätzung von Levison, Germanus, 142 f. Zuletzt hat sich Scharf, Germanus mit dem Thema auseinandergesetzt. 1020 Sidon, carm. 5,209-211 (der Angeredete ist Aëtius): [■..] (seil. Maiorianus) Ligerim bipenni / excisum per frusta bibit. Cum bella timentes / defendit Turonos, aberas. [...]. 1021 Merob. poet. 8-15: Lustrat Aremoricos iam mitior incola saltus, / perdidit et mo­ res tellus adsuetaque saevo / cHmine quaesitas silvis celare rapinas / discit inexpertis Cererem committere campis / Caesareoque diu manus obluctata labori / sustinet acceptas nostro sub consule leges / et quamvis Geticis sulcum confundat aratris / barbara vicinae refugit consortia gentis. 1022 Chron. Gall. 452, 133 (s. a. 448). 1023 Chron. Gall. 452, 127 (s. a. 442). Ausführliches dazu unten S. 198ff. 1024 So auch Dockès, Révoltes bagaudes, 230ff., der eine Fortdauer der Spannungen bis zum Vorabend der Hunneninvasion von 451 vermutet. Noch bei der Belagerung der Stadt Orléans durch Attila spielte die Bagaudenproblematik möglicherweise eine gewisse Rolle; dazu Czüth, Rolle des Volkes, 6 ff. Siehe auch Can. 4 (Munier, Concilia Galliae, 137f.) der 453 abgehaltenen Synode von Angers; dazu Griffe, Gaule chrétienne, 39 mit Anm. 21. 1025 lord. Get. 191.

2.

Die restitutio Galliarum

193

Neben Nordgallien ist uns ein weiterer Raum bekannt, in dem während der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts des öfteren innere U nruhe und offener Aufstand herrschten. Es handelt sich um die Provinz Hispania Tarraconensis, die einzige Landschaft auf der Iberischen Halbinsel, die bis zum Ende des westlichen Kaisertums zumindest nominell in römischer H and verblieb.1026 U n ­ sere einzige Quelle für die betreffenden Ereignisse ist die C hronik des galicischen Bischofs Hydatius. Er berichtet für die Jahre 441 bis 443 von den Feld­ zügen der römischen Heermeister Asturius und Merobaudes, die sich gegen auch namentlich so bezeichnete - Bagauden richteten.1027 Offensichtlich han­ delte es sich dabei um einen regelrechten Kleinkrieg, denn die Einnahme einer der Fluchtburgen der Aufständischen, Aracelli (wohl Huarte-Araquil im heuti­ gen Navarra), wird stolz vermeldet.1028 Von dauerhaftem Erfolg gekrönt waren die M ilitäraktionen wohl nicht, denn auch in späteren Jahren scheinen die ein­ heimischen Rebellen wieder aktiv geworden zu sein. Hydatius bleibt hier aller­ dings oft unpräzise. So ist bei dem offenbar groß angelegten Feldzug des H eer­ meisters Vitus von 446 nicht klar zu erkennen, gegen wen er sich eigentlich prim är richtete. Das verheerende Vorgehen des magister utriusque militiae führte schließlich zum Eingreifen des Swebenkönigs Rechila, der den Römern eine schwere Niederlage beibrachte.1029 Ende der 440er Jahre scheinen A uf­ ständische in der Tarraconensis gemeinsame Sache mit den Sweben gemacht zu haben; deren ebenso ehrgeiziger wie militärisch rühriger König Rechiar be­ nutzte ihre Hilfe im Jahre 449, um die Gegend von Zaragoza zu plündern und die Stadt Lérida zu erobern.1030 Hydatius nennt in diesem Zusammenhang 1026 Erst Kaiser Iulius Nepos hat im Jahre 475 im Rahmen einer umfassenden Frie­ densregelung mit dem Westgotenkönig Eurich Spanien abgetreten; dazu Henning, Peri­ clitans res publica, 306 ff. 1027 Zu den Bagaudenkriegen in Spanien siehe den Überblick bei Thompson, Suevic Kingdom, 182 ff. 1028 Hyd. chron. 125 (s. a. 441): Asturius dux utriusque militiae ad Hispanias missus Terraconensium caedit multitudinem Bacaudamm; Hyd. chron. 128 (s. a. 443): Asturio magistro utriusque militiae gener ipsius successor ipsi mittitur Merobaudis, natu nobilis et eloquentiae merito vel maxime in poematis studio veteribus conparandus: testimonio etiam provehitur statuarum. Brevi tempore potestatis suae Aracellitanorum frangit inso­ lentiam Bacaudarum. Mox nonnullorum invidia perurguente ad urbem Romam sacra praeceptione revocatur. 1029 Hyd. chron. 134 (s. a. 446): Vitus magister utriusque militiae factus ad Hispanias missus non exiguae manus fultus auxilio, cum Carthaginienses vexaret et Baeticos, succe­ dentibus cum rege suo illic Suevis, superatis etiam in congressione, qui ei ad depraedan­ dum in adiutorium venerant, Gothis, territus miserabili timore diffugit. Suevi exim illas provincias magna depraedatione subvertunt. 1030 Hyd. chron. 142 (s. a. 449): Rechiarius mense Iulio ad Theodorem socerum pro­ fectus Caesaraugustanam regionem cum Basilio in reditu depraedatur. Inrupta per do­ lum Ilerdensi urbe acta est non parva captivitas.

194

V. Die Reichspolitik des Aëtius

einen gewissen Basilius, den er schon an anderer Stelle als Bagaudenführer an­ läßlich eines Anschlags in Tarazona, einer Stadt in der Mancha, eingeführt hatte.1031 Letztmals werden die Bagauden im Jahre 454 erwähnt. Damals führte Frederich, der Bruder des Westgotenkönigs Theoderich II. einen erfolgreichen Feldzug gegen sie, allerdings im Aufträge Ravennas: Per Fredericum Theuderid regis fratrem Bacaudae Terraconenses caeduntur ex auctoritate Romana·1032 Soweit unsere Angaben für innere U nruhen während der Wirkungszeit des Aëtius, die mit der Bagaudenthematik im weiteren Sinne verbunden werden können. Wie bereits angesprochen, gehören wohl auch die N ori rebellantes hierher, denn bei ihnen handelt es sich ebenfalls um einheimische Aufständi­ sche, die sich der Regierung in Ravenna zu entziehen versuchten. Wir hätten es somit mit einem Phänomen zu tun, das in allen Regionen des Weströmischen Reiches, im Alpenraum, im N orden Galliens und auf der Iberischen Halbinsel anzutreffen ist. Es ist deshalb kein Wunder, daß die Forschung gerade auch der jüngeren Zeit sich seiner angenommen hat, um den Beitrag zu ermessen, den die Bagaudenbewegung im fünften Jahrhundert zur Entwicklung - respektive dem Untergang - des westlichen Kaisertums und seiner Machtgrundlagen ge­ leistet hat. Es gibt freilich eine Reihe von Umständen, die dem soeben formulierten Erkenntnisziel im Wege stehen. Das liegt nicht zum mindesten an den Bacau­ dae selbst. Zwar verfügen wir nur über eine begrenzte Zahl von Quellen, die innere U nruhen ausdrücklich mit ihnen in Verbindung bringen, doch ist nicht immer, wo von Aufständen gegen Funktionäre der Reichszentrale die Rede ist, davon auszugehen, hier seien wieder die Bagauden am Werk gewesen. Allzuoft wird jede Regung sozialer Unterschichten - es mag sich dabei um Desertionen, Landflucht oder traditionelles Brigantentum handeln - vor­ schnell auf sie bezogen.1033 Ein weiterer Aspekt ist die breite zeitliche Streu­ ung unserer Quellen zu den Bagauden. Erstmals erfahren wir von ihnen En­ de des dritten Jahrhunderts, als Kaiser Maximian gegen sie vorging.1034 Existiert nun eine Kontinuität zwischen diesen Bagauden der Zeit um 285 und den Aufständischen des fünften Jahrhunderts? Ja, ist selbst für die Zeit des Aëtius davon auszugehen, daß in so unterschiedlichen Räumen wie Nordgallien, N orikum und Nordostspanien Bedingungen entstanden, die eine 1031 Hyd. chron. 141 (s. a. 449): Basilius ob testimonium egregii ausus sui congregatis Bacaudis in ecclesia Tyriassone foederatos occidit. Ubi et Leo eiusdem ecclesiae episcopus ab isdem, qui cum Basilio aderant, in eo loco obiit vulneratus. 1032 Hyd. chron. 158 (s. a. 454). 1033 Dies ist etwa in den Beiträgen von Thompson, Bauernaufstände u. Dockès, Ré­ voltes bagaudes, der Fall. 1034 Hierzu Thompson, Bauernaufstände, 37f.; Borza, Bacaudae, 3 ff.; Van Dam, Lea­ dership and Community, 28ff. u. Drinkwater, Peasants and Bagaudae.

2.

Die restitutio Galliarum

m

einheitliche soziale Bewegung, als die man die Bagauden lange betrachtet hat, hervorzubringen vermochten?1035 O der ist Bacaudae im fünften Jahrhundert nur ein Schimpfwort der Besitzenden, um die Galliarum servitia zu diskredi­ tieren?1036 In der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte haben sich drei Richtungen zur Erklärung unseres Problems herauskristallisiert. E.A . Thom p­ son1037 vertrat in den fünfziger Jahren die Ansicht, schon seit der hohen Kai­ serzeit habe es bagaudenartige Aufstände gegeben. Die zunehmend drücken­ deren sozialen und ökonomischen Bedingungen hätten immer mehr Menschen dazu veranlaßt, ihr Heil in Flucht, Räuberei und bewaffnetem Aufstand zu suchen. Es führe eine direkte Linie von den Banden des Maternus und Bulla Felix im zweiten Jahrhundert bis hin zu Tibatto zur Zeit des Aëtius. Letzt­ endlich habe es sich bei den Bagauden um ein Verfallssymptom gehandelt; zur Ausbildung eines echten Klassenbewußtseins und zur konstruktiven Entwick­ lung sozialrevolutionärer Ziele sei es hingegen nicht gekommen. Mitte der achtziger Jahre stellte R. van Dam eine alternative Deutung des Bagaudenphänomens vor.1038 Auch er sah eine Kontinuität zwischen der Bagaudenbewegung des dritten und der des fünften Jahrhunderts gegeben, doch interpretierte er sie nicht in erster Linie von den Unterschichten, sondern von deren lokalen Anführern her. Die wiederholte, dauernde Abwesenheit des Kai­ sers habe die gallischen und spanischen Eliten dazu veranlaßt, zur Selbsthilfe zu schreiten. D urch A usnutzung der traditionell starken, noch aus vorröm i­ schen Zeiten herrührenden Hierarchien in ihren Ländern1039 hätten sie ihre Position gestärkt und gegen den zentralen Autoritätsanspruch des Kaisers ins Feld geführt. Folge sei geradezu eine partielle Rebarbarisierung von Teilen des Reiches gewesen,1040 wie sich an einigen Stellen bei Salvian1041 und in der zeit­ genössischen Komödie «Querolus» zeige.1042 Zuletzt hat J. F. Drinkwater sowohl Thom pson als auch van Dam gegenüber Kritik geübt und eigene Vorstellungen bezüglich der Bagaudenproblematik

1035 Die Heterogenität des Bagaudenbegriffs schon in der Spätantike betont Rubin, Mass movements. Von daher sei eine Entscheidung darüber, was sich hinter den so etikettierten Gruppen jeweils verberge, oft sehr schwierig. 1036 So Drinkwater, Peasants and Bagaudae, 370f. 1037 Thompson, Bauernaufstände. 1038 Van Dam, Leadership and Community. 1039 Zu den Verhältnissen in Gallien diesbezüglich ausführlich E. M. Wightman, AJAH 3, 1978, bes. 111 ff. 1040 Van Dam, Leadership and Community, 36 ff.; ähnlich schon Borza, Bacaudae, 23 ff. 1041 Salv. gub. 5,21-26. 1042 Querol. 30.

196

V. Die Reichspolitik des Aëtius

vorgelegt.1043 E r unterscheidet sich von beiden zunächst dadurch, daß er eine Kontinuität zwischen den Bagauden des dritten und denen des fünften Jahr­ hunderts radikal ablehnt1044 und diverse, oft beanspruchte Quellen wie Rutilius Namatianus, den «Querolus» und selbst Salvian als für die Themenstellung problematisch ausscheidet.1045 Zwar sieht auch Drinkwater im Schicksal der lokalen Ordnungssysteme Galliens eine wichtige Voraussetzung für die Entste­ hung der dortigen Bagaudenbewegung im fünften Jahrhundert.1046 Ausschlag­ gebend für die weitere Entwicklung sei aber gerade nicht deren Stärkung etwa durch Anknüpfung an vorrömische Strukturen - gewesen, sondern viel­ mehr deren Zerfall.1047 Durch die Folgen der Invasion von 406/07 und die allgemein zunehmenden finanziellen und ökonomischen Belastungen, die die Aristokraten an ihre Pächter weiterzugeben versucht hätten, sei ein Repres­ sionsdruck entstanden, der sich auf zweifache Weise Bahn gebrochen habe: durch Flucht zu den Barbaren und durch den Schritt zum bewaffneten Auf­ stand. Es sei zur Ausbildung herrschaftsfreier Räume gekommen, die wieder­ um Profiteure von verschiedenen Seiten anzogen.1048 Drinkwaters Ausführungen sind in vielen Punkten stichhaltig; sie tragen der besonderen Rolle Rechnung, die lokale Klientelverhältnisse im spätantiken Gal­ lien hatten und halten dennoch fest am Charakter der Bagaudenbewegung als einem Phänomen vor allem der Unterschichten. In der Tat ist in unseren Q uel­ len von den Aufständischen als servi die Rede. Dies könnte man als Diskredi­ tierungsversuch der siegreichen Feinde der Bagauden betrachten, aber dennoch bliebe die Frage, wo denn die zahlreichen Adeligen sind, die nach van Dam den Widerstand gegen die Funktionäre der zentralen Reichsbürokratie über­ haupt erst möglich machten und lenkten. Für den uns interessierenden Zeit­ raum kennen wir nur zwei Bagaudenführer, Tibatto in Nordgallien und Basilius

1043 Drinkwater, Peasants and Bagaudae u. ders., Patronage; nochmals zusammenfas­ send ders., Bacaudae. 1044 So etwa dezidiert Drinkwater, Bacaudae, 208. 1045 Ebd., 209f. Ähnlich skeptisch Lütkenhaus, Constantius III., 188ff. - Sämtliche Quellen zur Bagaudenproblematik sind gesammelt bei B.Czüth, Die Quellen der Ge­ schichte der Bagauden, 1965 u. Sanchez Leon, Bagaudas, 121 ff. 1046 Drinkwater, Patronage, 189 ff. 1047 Ebd., 199ff. u. Drinkwater, Bacaudae, 21 Iff. 1048 Drinkwater nennt drei Möglichkeiten für die Bildung bagaudischer Gemeinschaf­ ten im Gallien des 5.Jhs. (ders., Bacaudae, 215f.): (1) Flüchtige Adelige setzen sich im herrschaftsfreien Raum unter Integrierung heimischer Gruppen fest. (2) Flüchtlinge set­ zen sich in den herrschaftsfreien Raum nach Norden ab und begeben sich unter den Schutz dort verbliebener Adeliger. (3) Flüchtlinge setzen sich in der quasi-barbarischen Peripherie fest und verbinden ihre Interessen mit den frühmittelalterlichen Unabhängig­ keitsbestrebungen der Aremorika.

2.

Die restitutio Galliarum

197

in der Tarraconensis, doch lassen die Quellen keinerlei Rückschlüsse auf deren sozialen H intergrund zu. Es ist davon auszugehen, daß die sogenannte Bagaudenbewegung selbst des fünften Jahrhunderts wesentlich vielschichtiger gewesen ist, als es unsere dürf­ tigen Quellen und die daraus resultierende Forschungsliteratur vermuten las­ sen. Die Bezeichnung Bacauda spiegelt hier eine Vergleichbarkeit von Phäno­ menen in verschiedenen Reichsteilen vor, die es wahrscheinlich gar nicht gegeben hat.1049 Aufschlußreich ist allerdings, daß die Reaktionen Ravennas und damit des Aëtius auf die Aufstände in Nordgallien, Spanien und im Alpenraum durchgehend demselben M uster folgen. Überall ist eine starke Ent­ schlossenheit zur Bekämpfung der Abtrünnigen erkennbar: Die N o n rebel­ lantes werden 430/31 in einem Atemzug mit den ins Reich eingedrungenen Juthungen genannt. Der Aufstand des Tibatto wird im Jahre 437 erst vollstän­ dig niedergekämpft, bevor Litorius der bereits stark angeschlagenen Besatzung von N arbonne zu Hilfe eilen darf. Auch in Spanien schließlich ist die Wichtig­ keit des Kampfes gegen aufständische Reichsangehörige allerorten erkennbar. Hydatius scheint dem Kampf des Asturius und des Merobaudes gegen die Bagauden eine gewisse Priorität gegenüber der Auseinandersetzung mit den Sweben nicht streitig zu machen. N och die letzte große Aktion des Reiches in Spanien, die unter der Ägide des Aëtius durchgeführt wurde, richtete sich nicht gegen die einstigen Invasoren von 406/07, sondern gegen die Aufständischen der Tarraconensis. Die angeführten Beispiele machen einmal mehr deutlich, wie sich die Katego­ rien «innen» und «außen», «römisch» und «barbarisch» im Weströmischen Reich zu dieser Zeit bereits verschoben haben. «Römische» Interessen vertre­ ten hieß eben nicht, barbarische Eindringlinge um jeden Preis über die Rhein­ oder Donaugrenze wieder zu vertreiben. Vielmehr konnte es des öfteren nicht nur im Einzelfall - bedeuten, «römische» Bürger mit Hilfe reichsfremder Föderaten, die nicht einmal das conubium besaßen, unter die Botmäßigkeit des Kaisers zurückzuzwingen. Die Umwälzungen zu Beginn des Jahrhunderts hat­ ten die zentralen, von Ravenna kontrollierten Institutionen in den Provinzen geschwächt und teilweise zum Erliegen gebracht. Restitutio Galliarum, das hieß nicht nur, die Kontakte zu den Barbarenvölkern in und um das Reich wiederaufzunehmen und ihr Verhältnis zu Ravenna vorteilhaft zu gestalten, es bedeutete, den gesamten Organismus der Prätorianerpräfektur neu auf das Reich auszurichten, den gallorömischen Senatsadel (durch die Wiederbelebung 1049 Oft werden Kennzeichen der Bagaudenbewegung lediglich anhand der Vorgänge in Nordgallien gesammelt und diskutiert. Dies mag mit der Quellenlage Zusammenhän­ gen, wirft aber dennoch die Frage auf, ob alle solchermaßen gewonnenen Ergebnisse nahtlos auf Spanien und Norikum übertragen werden können.

198

V. Die Reichspolitik des Aëtius

des concilium V II provinciarum), aber auch die in den Jahren des Chaos herr­ schaftsfrei gewordenen ländlichen Räume. Mit den faktischen H erren dieser Gebiete - M ännern wie Tibatto und Basilius - konnte man nicht foedera schließen wie mit germanischen Heerkönigen; sie mußten niedergekämpft wer­ den.1050 Wie eine solche Politik auf die Betroffenen wirkte, kann man gut an der Erzählung der «Vita Germani» erkennen:1051 D er heiligmäßige Bischof mußte schon alles riskieren, um die aufständische Aremorika vor dem soforti­ gen Gegenschlag des Aëtius und seiner Alanen wenigstens vorübergehend zu schützen. Die Entscheidungen des «letzten Römers» hatten zumindest für diese Reichsbewohner das geradezu paradoxe Ergebnis zur Folge, daß sie als «Rö­ mer» am wenigsten von ihnen profitierten.1052 Die Machtausdehnung der ra­ vennatischen Zentralinstitutionen im Amtsbereich des praefectus praetorio per Gallias nach 425 konnte deshalb nur so lange Erfolge verbuchen, wie hinter ihr die entsprechende militärische Kraft stand sowie die politische Entschlossen­ heit, am Konzept «römisches Gallien» unbedingt festzuhalten.10531054Als diese Be­ dingungen nach 461 nicht mehr gegeben waren, brachen die kaiserlichen Posi­ tionen innerhalb weniger Jahre zusammen.

2.5 Die Alanen und Burgunden im Inneren Galliens

Die Ergebnisse des vorigen Abschnitts erleichtern die Einordnung einiger Er­ eignisse aus den 440er Jahren, die von der Ansiedlung verschiedener barbari­ scher G ruppen in Gallien durch Aëtius berichten. Werfen wir auch hier zu­ nächst einen Blick auf die Quellen. In allen drei Fällen ist der anonyme A utor der Gallischen C hronik von 452 unser Gewährsmann. Zum Jahre 440 ver­ meldet er zunächst die Ansiedlung von Alanen unter ihrem Führer Sambida in der Umgegend der südgallischen Stadt Valence: Deserta Valentinae urbis rura Alants, quibus Sambida praeerat, partienda traduntur.1054 Zwei Jahre später er­

1050 Auch Drinkwater, Patronage, 200f. sieht einen engen Zusammenhang zwischen den Bagaudenaufständen und den Restaurierungsmaßnahmen der zu Beginn des 5. Jhs. vorübergehend ausgefallenen Zentralmacht in Ravenna. Ebenso Harries, Sidonius Apol­ linaris, 71 f. 1051 Constantius vita Germ. 28. 1052 Richtig ist in diesem Zusammenhang die Einschätzung von Oost, Galla Placidia Augusta, 240: «Quite obviously the policy of Aëtius cannot be called pro-German or anti-German; his aim was to promote the interests of Rome (or his own welfare) by whatever means or lack of means at his disposal.» 1053 Elton, Defence, 175f. sowie Drinkwater, Bacaudae, 216f., der Aëtius’ Politik grif­ fig charakterisiert als «a policy not of , or even «policing», but of considered .» (ebd., 217). 1054 Chron. Gall. 452, 124 (s. a. 440).

2. Die restitutio Galliarum

199

fahren wir von der Stationierung von Angehörigen desselben Volkes in N o rd ­ gallien. H ier allerdings verläuft die Einpassung in die lokalen Besitzstrukturen offensichtlich nicht spannungslos: Alani, quibus terrae Galliae ulterioris cum incolis dividendae a patricio Aetio traditae fuerant, resistentes armis subigunt et expulsis dominis terrae possessionem v i adipiscuntur.1055 Aus der «Vita Germani» kennen wir den Namen des Befehlshabers auch dieser Alanengruppe. Es han­ delt sich um den rex Goar.1051056 U nter dessen mutmaßlichem Nachfolger Sangibanus beteiligten sich die Alanen im Jahre 451 an den Kämpfen gegen Attila vor Orléans und auf den Katalaunischen Feldern.1057 Schließlich findet sich zum Jahre 443 die Eintragung, daß auch die 436/37 besiegten Burgunden im Inneren Galliens angesiedelt wurden: Sapaudia Burgundionum reliquiis datur cum indi­ genis dividenda . 1058 Die erwähnte Landschaft, deren Kern heute weitgehend übereinstimmend am untersten Genferseegebiet und an dessen N ordufer bis Lausanne vermutet w ird,1059 wurde zum Ausgangspunkt eines neuen Reiches, das sich allerdings erst nach dem Untergang des Aëtius und seines Kaisers Valentinian III. zu entfalten vermochte.1060 N och 451 erfüllten die Burgunden treu ihre Föderatenpflicht auf dem Schlachtfeld von Mauriacum. Die Gallische Chronik von 452 zeichnet sich gerade in chronologischen Fra­ gen vielfach durch einen gewissen Mangel an Präzision aus, ein Umstand, der die Forschung immer wieder zu Diskussionen über ihren generellen Quellen­ wert verleitet hat.1061 R. Scharf hat nachzuweisen versucht, daß sämtliche Ein­ tragungen der Herrschaftsjahre XVIIII bis XXII des senior Augustus Theodosius II. einer Fehlerquelle unterliegen und fünf Jahre vorgezogen werden müssen. Als Folge dessen fiele die Ansiedlung der Alanen in Gallia ulterior in das Jahr

1055 Chron. Gail. 452, 127 (s. a. 442). 1056 Constantius vita Germ. 28. 1057 lord. Get. 194f. u. 197. 1058 Chron. Gall. 452, 128 (s. a. 443). 1059 Anton, Burgunden, 241 mit weiterführenden Literaturhinweisen. Bisweilen wird auch eine Ausdehnung der Sapaudia bis nach Yverdon am Neuenburger See erwogen, so etwa von Marti, Minderheit, 29. Zur Ausdehnung des burgundischen Siedlungsgebie­ tes Martin, Spätröm.-frühmittelalterliche Besiedlung, 428 f. (wenige Spuren, v. a. zwi­ schen Genf und Yverdon, im Rhönetal und in anderen, westlich anschließenden Tälern) u. Marti, Minderheit, 29 ff. 1060 Zur Geschichte des Burgundenreiches nach 443 u. a. Perrin, Burgondes, 285ff.; Boehm, Geschichte Burgunds, 55ff. u. Anton, Burgunden, 24Iff. Zum Spezialproblem der Ansiedlungsmodalitäten, die in bezug auf die Burgunden angewandt wurden, siehe die oben auf S. 166 Anm. 877 genannte Literatur. 1061 Casey/Jones, Gallic Chronicle, deren Aufsatz den Widerspruch von R.W. Burgess, Britannia 21, 1990, 185-195 hervorgerufen hat. Hierzu Scharf, Gallische Chronik von 452, 39 mit Anm. 103; dort die Nennung weiterer Beiträge zu der Forschungskon­ troverse.

200

V. Die Reichspolitik des Aëtius

437, unmittelbar nach Ende des Tibatto-Aufstandes. Auch die Ansiedlung der Burgunden in der Sapaudia würde durch die Umdatierung auf 438 in die Nähe der Katastrophe des Gundicharius rücken.1062 D er inhaltliche Bezug ist auf den ersten Blick verführerisch, dennoch kann auch die traditionelle Datierung Ar­ gumente für sich verbuchen: So gab es die Bagaudenproblematik in N o rd ­ gallien nicht nur bis 437, sondern latent während des gesamten Zeitraumes bis 451 n. Chr. Eine Ansiedlung der Alanen mag also auch 442 ihre G ründe ge­ habt haben - zumal der Text nicht einmal direkt auf Tibatto und seinen Auf­ stand Bezug nimmt. Ähnliches gilt im Fall der Burgunden: Man kann sich schon fragen, ob eine Umsiedlung der Reste dieser gens vom Rhein in den Alpenraum 438 unter so viel günstigeren Bedingungen stattfinden konnte als 443. Immerhin strebte in diesem Jahr der Krieg der Römer mit den Westgoten seinem H öhepunkt zu, und Aëtius war persönlich in diese Geschehnisse in­ volviert.1063 Warum also nicht all diese siedlungs- und sicherheitspolitischen Aktivitäten in die Zeit nach dem Friedensschluß 439 verlegen? Die Tatsache, daß Aëtius nach diesem Datum Gallien verließ und den Schwerpunkt seiner Tätigkeit nach Italien verlegte, steht dem nicht entgegen.1064 Doch ganz gleich, wie man die inhaltlichen Gesichtspunkte für oder gegen die neue Datierung Scharfs gewichtet: Die Entscheidung über ihre Richtigkeit kann letztendlich nur die weitere textkritische Forschung fällen. Betrachten w ir die Informationen der Gallischen C hronik von 452 im einzel­ nen. Zunächst zu den Alanen: Bei ihnen handelt es sich um ein Volk mit irani­ schem H intergrund, das seit dem Vorstoß der H unnen nach O st- und M ittel­ europa zum Ende des vierten Jahrhunderts häufig in Erscheinung tritt.1065 Offensichtlich bildeten die Alanen kein einheitliches gentiles Heerkönigtum aus; statt dessen organisierten sie sich in verschiedenen Gruppen, die allein oder zusammen mit Goten oder H unnen agierten. Auch für das Reich haben sie seit den 370er Jahren begehrten Kriegsdienst geleistet, so unter Gratian, Theodosius dem Großen und Stilicho. Seit dieser Zeit gab es alanische Militär­ kolonien in Oberitalien.1066 Auch nach der Invasion von 406/07, an deren Ge-

1062 Scharf, Gallische Chronik von 452. 1063 Hyd. chron. 112 (s. a. 438). 1064 Chron. Gail. 452, 123 (s. a. 439): Pacatis motibus Galliarum Aetius ad Italiam regreditur. Schon im Sommer 440 befand sich der patricius wieder in Gallien, wo er mit dem dortigen Prätorianerpräfekten Albinus zusammenstieß; siehe Prosp. chron. 1341 (s. a. 440). Auch später hat er immer wieder persönlich in die Angelegenheiten dieses Reichsteils eingegriffen. 1065 Zur Geschichte der Alanen in Westeuropa siehe die ausführliche Darstellung von Bachrach, History of the Alans. 1066 Ebd., 33 ff.

2. Die restitutio G alitarum

201

lingen sie wesentlichen Anteil hatten, unterstellten sich die Alanen keiner ein­ heitlichen Führung.1067 Wahrend einer ihrer Anführer namens Goar auf die römische Seite übertrat1068 und später den U surpator Iovinus unterstützte,1069 blieb ein großer Teil des Volkes im Lager der Invasoren und zog im H erbst 409 mit den Wandalen nach Spanien weiter. Überhaupt sind die Verhältnisse und Konstellationen dieser Jahre alles andere als klar. Auch bei den Kämpfen zwischen dem Westgotenkönig Athaulf und der Reichsregierung 412/15 in Südgallien waren alanische G ruppen beteiligt. Erneut kam es zu Ü bertritten auf die Seite der Römer und ihres Heermeisters Constantius.1070 Möglicher­ weise wurden diese Alanen zwischen Toulouse und N arbonne zum Schutze der wichtigen Küstenstraße von Spanien nach Gallien und als Puffer gegen die Westgoten angesiedelt.1071 Die kurz vorgestellte Entwicklung des römisch-alanischen Verhältnisses seit Ende des vierten Jahrhunderts zeigt, daß die Maßnahmen des Aëtius, die die Gallische Chronik von 452 erwähnt, keineswegs neuartig sind, sondern in einer Kontinuität mindestens bis zu Constantius und Stilicho stehen. Dabei läßt es sich keineswegs ausschließen, daß außer der Ansiedlung alanischer Gruppen um Valence und in Nordgallien noch andere derartige Projekte initiiert worden sind. Ü ber ganz Gallien verstreut hat man archäologische Befunde aufgespürt, die einer «mode danubienne» zuzuordnen sind und von ihrem maßgeblichen Bearbeiter M. Kazanski unter anderem mit den Alanen in Verbindung gebracht werden.1072 Freilich muß berücksichtigt werden, daß bereits seit dem vierten Jahrhundert in Nordgallien und anderswo sarmatische Krieger als Gentilen und Laeten angesiedelt worden sind. Eine genaue Ausdifferenzierung der ein­ zelnen G ruppen mit iranischem bzw. donauländischem Hintergrund läßt sich

1067 Ebd., 51 ff. 1068 Ren pr|g Greg. Tur. Franc. 2,9. 1069 Olymp, frg. 18 (Blockley). 1070 Paul. Pell. euch. 343-398. 1071 So Bachrach, Alans in Gaul, 477ff.; ders., Another Look, 354ff. u. ders., History of the Alans, 28 ff. 1072 Kazanski, Diffusion; Marin, Attila; M. Kazanski, in: Vallet/Kazanski, Armée ro­ maine, 175-186; M .Kazanski/P.Périn, Dossiers Arch. 223, 1997, 24-31 u. M.Kazanski, in: Fischer, Germanen, 293-316. Die «mode danubienne» des 5. Jhs. ist allerdings nicht auf Völker iranischer Herkunft (Alanen, Sarmaten) beschränkt; sie läßt sich ebenso mit Hunnen und Goten in Verbindung bringen. Schließlich kann man auch Nachahmungs­ effekte bei Angehörigen anderer Völker beobachten, etwa im fränkischen Bereich (s. die obigen Literaturangaben) und in den Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres; hierzu M. Kazanski, in: J. Chapman/P. Dolukhanov (Hrsgg.), Cultural Transformations and In­ teractions in Eastern Europe, 1993, 211-235. - Zu den archäologisch verifizierbaren Kennzeichen der «mode danubienne» Kazanski, Diffusion, 59f.

202

V. Die Reichspolitik des Aëtius

aber heute nicht mehr sicher bewerkstelligen.1073 Wir haben es hier mit einem ähnlichen Phänomen zu tun, wie w ir es schon in den nördlichen G renzprovin­ zen des Reiches beobachten konnten: Die Bruchstücke der Überlieferung be­ züglich der Ansiedlung und Stationierung von reichsfremden Soldaten stellen nur einen Ausschnitt der tatsächlichen Barbarisierung des römischen H eerw e­ sens im Gallien des fünften Jahrhunderts dar.1074 Im Falle der Alanen in Gallia ulterior fällt es nicht schwer, den unmittelba­ ren G rund für ihre Stationierung ausgerechnet in dieser Gegend zu erken­ nen.1075 N icht nur, daß in der Mitteilung der Gallischen C hronik von 452 aus­ drücklich von U nruhen und der Austreibung der ursprünglichen domini die Rede ist; auch später ist das innerhalb der Aremorika gelegene Territorium der Alanen immer wieder M ittelpunkt von Aufstandsbewegungen gewesen, wie die «Vita Germani»1076 und die «Vita Aniani»1077 zeigen. Es spricht also viel dafür, mit F. M. Clover die Alanen des Goar und Sangibanus als «watchdogs»1078 für die nach Unabhängigkeit strebende Aremorika und die latenten sozialen Span­ nungen in der Region anzusehen.1079 Schwieriger ist es, für die Ansiedlung der Sambida-Alanen um Valence und die der Burgunden in der Sapaudia ein Motiv zu finden. Auch hier wurde angenommen, die Beaufsichtigung von Bagauden bzw. sozialen Unruhegebie­ ten habe eine Rolle gespielt, doch gibt es hierfür in den Quellen keinerlei H in­ weis.1080 Als weitere Möglichkeit wurde erwogen, daß durch die Stationierung in bzw. am Rande der Alpen wichtige Verkehrswege gesichert werden soll1073 Bachrach, History of the Alans, 36ff. Zu den nordgallischen Laeten und Gentilen in der Spätantike siehe jetzt zusammenfassend H. Castritius/H. W. Böhme, RGA 17, 2001, 580-588 mit weiterführenden Literaturangaben. 1074 Den Trend zur Barbarisierung des römischen Heeres in der Spätantike hat Elton, Warfare, 128ff. generell bestritten. Vgl. jedoch die überzeugenden Ausführungen von Liebeschuetz, Generals; dems., Barbarians and Bishops, 7ff. u. dems., End of the Ro­ man army. M.Cesa, in: Vallet/Kazanski, Armée romaine, 21-29, hat die Folgen, die die weströmische Rekrutierungspraxis für die Führbarkeit von Heeren hatte, aufgezeigt. 1075 Bachrach, History of the Alans, 63 ff., der u. a. darauf hinweist, daß durch die Sta­ tionierung der Alanen im Orléanais eine Spaltung des Bagaudengebietes erreicht wurde. 1076 Constantius vita Germ. 28 u. 40. 1077 Vita Anian. 3 (MGH SS rer. Merov. 3, 109f.). Bezüglich der Zusammenhänge siehe im Kapitel «Aëtius und die Hunnen» S. 138f. mit Anm. 740. 1078 Clover, Flavius Merobaudes, 47 Anm. 56. 1079 Daß die Aremorika in der ersten Hälfte des 5. Jhs. eine so sensible Region dar­ stellte, könnte mit der Einwanderung britischer Bevölkerungsteile Zusammenhängen, die zu dieser Zeit möglicherweise schon im Gange war. Hierzu N. K. Chadwick, Early Brit­ tany, 1969, 162 ff. Sie betont den Bezug zwischen den Entwicklungen in Britannien und an der französischen Gegenküste zwischen den Mündungen von Seine und Loire, ebd., 142 ff. i°8° Thompson, Settlement, 34 ff.

2. Die restitutio Galliarum

203

ten.1081 In der Tat liegt die Sapaudia strategisch günstig zum Großen St. Bern­ hard, und in ähnlicher Weise befindet sich Valence an der M ündung der Isère in die Rhone und damit am Beginn einer wichtigen Route, die über den M ont Cenis nach Italien führt. Freilich: Auch strategische Erwägungen werden von unseren Quellen nicht angeführt, um die Ansiedlung der Alanen und Burgunden im Alpengebiet zu motivieren. Sicherlich auszuschließen ist nach dem gegenwärtigen Wissensstand, daß die Burgunden in ihren neuen Wohnsitzen die Aufgabe hatten, alamannischen Vor­ stößen ins Reich, sei es nun an der Burgundischen Pforte oder auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, vorzubeugen.1082 Dies würde zwar der traditionellen Feindschaft zwischen beiden Völkern entsprechen; andererseits gibt es für Aus­ dehnungsversuche der Alamannen auf Reichsgebiet - wie oben bereits ausge­ führt - vor 454/55 nicht den geringsten Anhaltspunkt in den literarischen und archäologischen Quellen. B.S. Bachrach hat in einem Aufsatz zu unserer Thematik mit Recht davor gewarnt, die Ansiedlung von Barbaren auf Reichsterritorium nur eindimen­ sional erklären zu wollen.1083 Diesem Einspruch ist ohne weiteres Folge zu leisten: Eine Stationierung reichsfremder Gruppen in unterschiedlichen Regio­ nen der gallischen Prätorianerpräfektur konnte viele Gründe haben, nicht zu­ letzt den, daß die einzelnen Kontingente einander kontrollierten und in ihrem Drohpotential ausglichen. Sie stellten überdies ein an den unterschiedlichsten Stellen des Reiches abrufbares Reservoir an Soldaten dar, ein Umstand, der nach dem Untergang der hunnischen Auxilien im Kampf mit den Westgoten 439 in seiner Bedeutung gewiß nicht zu unterschätzen ist.1084

2.6 Die Westgoten in Aquitanien Die Westgoten unter ihrem König Theoderich I. sind auf seiten der barbari­ schen Föderaten Ravennas sicherlich die mächtigste gens gewesen, die sich im Bereich der gallischen Prätorianerpräfektur festgesetzt hatte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß wir über das Verhältnis, das sie zu Aëtius pflegten, die Kriege, die sie mit ihm führten und die Verträge, die sie mit ihm schlossen, besonders gut informiert sind. «Besonders gut» ist in diesem Zusammenhang 1081 Strategische Erwägungen u. a. bei Thompson, Settlement, 29 u. 34 ff.; Perrin, Burgondes, 288f.; Bachrach, History of the Alans, 68ff. sowie Demougeot, Formation de l’Europe, 493 ff. u. 497ff. 1082 Zweifel schon bei Thompson, Settlement, 32 f. u. 36 f. sowie Beck, Volks- und Sprachgrenzen, 443. 1083 Bachrach, Another Look, 356ff. 1084 So auch die Meinung von Beck, Volks- und Sprachgrenzen, 442f. u. Bachrach, Another Look, 357f.

204

V. Die Reichspolitik des Aëtius

allerdings wieder relativ aufzufassen, denn auch für den nun folgenden A b­ schnitt stehen uns im wesentlichen dürre N otizen aus diversen Chroniken und schwer zu interpretierende Bruchstücke aus spätantiken Panegyrici zur Ver­ fügung. D arüber hinaus verfügen wir über mehr oder weniger nebenbei über­ lieferte Informationen aus der religiösen Erbauungsliteratur (Heiligenviten) und anderen Genres. Immerhin reichen die Quellen aus, um ein grobes Bild von der Entwicklung der westgotisch-römischen Beziehungen zwischen 425 und 454 zu zeichnen.1085 Die Belagerung von Arles im Jahre 4251086 scheint mit dem Zerfall der zivi­ len und militärischen Verwaltungsstrukturen in Gallien im Gefolge der Johan­ nes-Usurpation zusammenzuhängen. Die näheren Umstände gehen aus unserer Überlieferung freilich nicht hervor.1087 Es ist nicht einmal klar, ob der König Theoderich I. selbst an dieser westgotischen Aktion beteiligt war. Daß dies nicht notwendig der Fall sein mußte, zeigt eine Episode fünf Jahre später. D a­ mals gelang es Aëtius, den Vorstoß einer Gotenschar abzuwehren und deren A nführer Anaolsus gefangenzunehmen. D er von Hydatius als optimas bezeichnete Anführer hatte ganz offensichtlich auf eigene Faust im Vorfeld von Arles operiert.1088 H andelt es sich bei den bisher berichteten Ereignissen eher um zweitrangige Störungen des 418 geschlossenen foedus, so gilt dies nicht mehr für die in die 430er Jahre fallenden Kampfhandlungen. 436 n. Chr. stießen die Westgoten auf die Küstenstadt N arbonne vor, leiteten deren Belagerung ein und hielten diese selbst über den W inter aufrecht.1089 D er Anlaß dieser A ktion liegt wiederum im unklaren. Allerdings ist es auffallend, daß sie ausgerechnet in eine Zeit fällt, als die Römer damit beschäftigt waren, in Gallia ulterior den TibattoAufstand niederzuwerfen und am O berrhein das Burgundenreich des Gundicharius zu zerschlagen. Die kriegerischen Aktionen der folgenden drei Jahre gingen über das übliche Maß sommerlicher Plünderungszüge und militärischer 1085 Mit den westgotisch-römischen Beziehungen zur Zeit des Aëtius beschäftigen sich u. a. Sirago, Galla Placidia, 270ff. u. 343ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 239ff.; Rouche, L’Aquitaine, 27ff.; Demougeot, Formation de l’Europe, 477ff.; Zecchini, Aezio, 213ff.; Heather, Emergence; Burns, Barbarians, 274ff.; Heather, Goths, 181 ff. sowie Mathisen/Sivan, Forging a New Identity. 1086 Prosp. chron. 1290 (s. a. 425): Arelas nobile oppidum Galliarum a Gothis multa vi oppugnatum est, donec inminente Aedo non inpuniti abscederent·, Chron. Gall. 452, 102 (s. a. 427): Arelas a Gothis per Aedum liberatur. 1087 Zecchini, Aezio, 136 mit Anm. 38 erwägt einen Zusammenhang mit dem Bürger­ krieg des Jahres 425 in Italien. lose p jy j chron. 92 (s. a. 430): Per Aedum comitem haud procul de Arelate quaedam Gothorum manus exdnguitur Anaolso optimate eorum capto. Dazu Thompson, Visi­ goths, 53; Burns, Barbarians, 274 u. Jiménez Garnica, Settlement, 98. 1089 Prosp. chron. 1324 (s. a. 436) u. Hyd. chron. 107 (s. a. 436).

2. Die restitutio Galliarum

20$

M achtdemonstrationen bei weitem hinaus und bekamen phasenweise den Charakter eines Entscheidungskampfes zwischen dem Weströmischen Reich und Theoderich I. Im Jahre 437 gelang es dem magister equitum per Gallias Litorius, dem zweiten Mann in der gallischen Militärhierarchie nach Aëtius, den Belagerungsring um N arbonne zu sprengen.1090 D er Krieg war nun kei­ neswegs beendet oder wurde auf das gewohnte Szenario mehr oder weniger erwähnenswerter Scharmützel zurückgeführt. Vielmehr wurde wahrscheinlich noch im W inter 437/38 - nach der Lösung der wesentlichen militärischen Probleme in Nordgallien - unter der persönlichen Führung des Aëtius eine umfassende Offensive in die Wege geleitet, die bald durchschlagende Erfolge zeitigte und die Westgoten ernsthaft in Bedrängnis brachte.1091 Spätestens jetzt war auch König Theoderich I., dessen Teilnahme bei der Belagerung von N arbonne nicht ausdrücklich von unseren Quellen bezeugt ist, in die Ge­ schehnisse involviert.1092 Im Jahre 439 rückte Litorius vor die westgotische H auptstadt Toulouse; alles deutete darauf hin, daß er dem Schwiegersohn des gefürchteten Alarich dasselbe Schicksal zu bereiten gedachte wie zuvor Aëtius dem Burgundenkönig Gundicharius. Doch das Kriegsglück entschied anders: Litorius wurde besiegt, gefangengenommen und getötet.1093 Damit war die römische Offensive gebrochen; schon bald fanden sich die erschöpften Kriegs­ gegner dazu bereit, einen Frieden auf der Basis des foedus von 418 zu schlie­ ßen.1094 Auf römischer Seite wurde die Niederlage des Litorius als gravierend empfunden; heidnische Praktiken in seinem H eer und persönliche Unzuläng­ lichkeiten des Feldherrn mußten dazu herhalten, das Unvorhergesehene zu

1090 Prosp. chron. 1324 (s. a. 436); Hyd. chron. 110 (s. a. 437) u. Sidon, carm. 7,475480. Hydatius führt den Erfolg vor Narbonne auf Aëtius zurück. Sidonius betont in übertriebenem Ausmaß die Rolle des Avitus. 1091 Prosp. chron. 1326 (s. a. 437): Bellum adversum Gothos Chunis auxiliantihus ge­ ritur, Hyd. chron. 112 (s. a. 438): Gothorum caesa VIII millia (!) sub Aetio duce; Prosp. chron. 1333 (s. a. 438): Adversum Gothos in Gallia quaedam prospere gesta. Dazu Scharf, Gallische Chronik von 452, 45 ff. 1092 Wahrscheinlich ist die Schlacht am Mons Coluhrarius auf die Kriegsphase von 437/38 zu datieren; siehe Merob. pros. frg. 2B, 11-24. Dazu Zecchini, Aezio, 218 mit Anm. 29. Vorsichtig hingegen Clover, Flavius Merobaudes, 41. 1093 Hyd. chron. 116 (s. a. 439); Prosp. chron. 1335 (s. a. 439); Cassiod. chron. 1232 (s. a 439) u. lord. Get. 176f. 1094 Hyd. chron. 117 (s. a. 439); Prosp. chron. 1338 (s. a. 439); Sidon, carm. 7,295312 sowie lord. Get. 177 u. 186. - Auch nach der römischen Niederlage vor Toulouse müssen die Kämpfe vorerst fortgeführt worden sein. Vielleicht gehört in diesen Zusam­ menhang die Passage Merob. poet. 153-194; dazu Clover, Flavius Merobaudes, 58f. Zur Rolle des damaligen praefectus praetorio per Gallias Avitus beim Friedensschluß von 439 siehe di San Lazzaro, Nota su Avito; Loyen, Recherches, 47ff.; W.N. Bayless, AncW 1, 1978, 141-143 u. Harries, Sidonius Apollinaris, 68 f.

206

V. Die Reichspolitik des Aëtius

erklären.1095 Dennoch kann man den Ausgang des Krieges nicht als Nieder­ lage der Römer oder des Aëtius deuten.1096 Theoderich I. hatte nicht mehr retten können als den Status quo.1097 Die militärischen Operationen seit 437 hatten gezeigt, daß er den weströmischen Armeen in keiner Weise gewachsen war, wenn diese ihr volles Potential ausspielten.1098 Als Folge dessen erfahren wir die ganzen 440er Jahre hindurch nichts mehr von weiteren Angriffen der Westgoten. Auch die beinahe schon traditionellen Vorstöße auf die Küsten­ städte Galliens unterblieben. D er gotische rex und seine optimates hatten ihre Lektion gelernt. Der Frieden von 439 ist ein wichtiger Markstein für die Entwicklung der römisch-westgotischen Beziehungen. Er ist dies deshalb, weil er so verlustreich erkämpft worden war und weil er die Spielräume der Vertragspartner in den kommenden eineinhalb Jahrzehnten festlegte. Erst die rasante Entwicklung nach 454/55 hat neue Bedingungen geschaffen, aufgrund derer ein Reich wie dasjenige Eurichs bis 475 entstehen konnte. Als wie bedeutend Theoderich I. und Aëtius das Abkommen ansahen, zeigt der Umstand, daß sie ihr neues poli­ tisches Verhältnis durch ein Heiratsbündnis zu befestigen suchten. Aus der Ehe zwischen dem patricius und einer nicht namentlich bekannten westgotischen Prinzessin ging später ein Sohn, Gaudentius, hervor, der in den 450er Jahren ein ernsthafter Kandidat für die Nachfolge Valentinians III. werden sollte.1099

1095 Hyd. chron. 116 (s. a. 439) u. Prosp. chron. 1335 (s. a. 439), die beide Litorius die persönliche Schuld an der Niederlage geben. Salv. gub. 7,39-44 u. Vita Orient. 3 (Acta sanctorum, Mai. I [1680], 61) kritisieren die mangelnde Kirchentreue des Litorius bzw. seiner Kämpfer. - In der modernen Geschichtsforschung haben sich u. a. Sirago, Galla Placidia, 344f. u. Zecchini, Aezio, 220f. (er sieht in Litorius’ Vorstoß auf Toulouse eine gegen die Intentionen des Aëtius gerichtete Aktion) der antiken Kritik angeschlossen. 1096 Prosp. chron. 1335 (s. a. 439) u. lord. Get. 177 betonen beide den unentschiede­ nen Ausgang des Kampfes. Dazu di San Lazzaro, Nota su Avito, 954. In CIL VI 41389, 7-9 - ob Italiae securitatem, / quam procul, domitis gentib(us) peremptisque / [BJurgundionib(us) et Gotis oppressis, vincendo praestit[it] - wird der Frieden von 439 als Erfolg verbucht. 1097 Dies betont Heather, Emergence, 85 u. ders., Goths, 186f. Die strukturelle Un­ terlegenheit Theoderichs I. gegenüber Aëtius hebt auch Thompson, Visigoths, 52 ff. her­ vor. 1098 Dieser Aspekt wird von Elton, Defence, 167 ff. zurecht - wenn auch vielleicht etwas apodiktisch - hervorgehoben. 1099 Hierzu Loyen, L’oeuvre, 171 ff. u. Zecchini, Aezio, 222 mit Anm. 39; dort weite­ re Literatur bezüglich dieses früher keineswegs unumstrittenen Sachverhalts. Die hier vertretene Ansicht von einer dritten Ehe des Aëtius mit einer gotischen Prinzessin stützt sich auf die Charakterisierung des 440/41 geborenen Gaudentius durch Sidon, carm. 5,203 f. (nato quae regna parabo / exclusa sceptris Getids) und auf die seiner Mut­ ter durch Merob. carm. 4,15-18 (adsit cum socio parente coniunx, / coniunx non levibus canenda musis, / heroum suboles, propago regum).

2.

Die restitutio Galliarum

207

Richten wir unseren Blick auf das Innenleben des Reiches von Toulouse: Theoderich hatte sein gentiles Königtum unter Bedingungen angetreten, die nicht in jeder Hinsicht optimal waren. Zwar war er Erbe des Abkommens, das sein Vorgänger Wallia mit dem damaligen patncius und späteren Kaiser C on­ stantius III. 418 geschlossen hatte. Die Bedingungen allerdings, die dieses foe­ dus enthielt, erfüllten allenfalls die Minimalforderungen, die Alarich und Athaulf einst an Kaiser H onorius gerichtet hatten: Zwar wurden die Westgoten auf Reichsterritorium angesiedelt, doch lagen ihre künftigen Wohnsitze an der dem Mittelmeer abgewandten Seite Südwestgalliens. Zwar wurde der Vertrag mit Wallia als dem rex seines Volkes abgeschlossen, doch weder er selbst noch Theoderich I. bekamen ein imperiales Amt verliehen, das ihre Autorität in der gens zusätzlich gesteigert und ihnen die Möglichkeit verliehen hätte, mit Hilfe der ravennatischen Bezüge ihre Klientel Zug um Zug zu vergrößern.1100 Diese Grundsatzentscheidungen von 418, die im übrigen 439 nicht revidiert wurden, beließen die westgotischen reges in einem Zustand struktureller Schwäche ge­ genüber den Großen ihres Volkes, den optimates. Sie waren deshalb permanent aufgefordert, auf der H ut zu sein und sich ihrer legitimen Stellung als gentiler Heerkönig als würdig zu erweisen; anderenfalls drohte eine Rebellion.1101 Theoderich I. hat durch seine über dreißigjährige Regierung von 418 bis 451 das westgotische Königtum zweifellos gestärkt. Seine Interessen bezüglich der Stabilität und Berechenbarkeit des regnum und die Wünsche seiner optimates näherten sich zwangsläufig an, je mehr die letzteren zu wohlhabenden G rund­ besitzern w urden.1102 U nd trotzdem: «Für die germanischen Gefolgsleute war der Herrscher noch lange ein Heerkönig, dessen militärische Unternehmungen ein Leben in dauernder agonaler U nruhe bedingten, dem man auch durch zu­ nehmende Seßhaftigkeit und Übernahme spätantiker Formen der Zivilisation nicht entraten wollte.»1103 Die strukturelle Aggressivität des Westgotenreiches im fünften Jahrhundert hängt eng mit dieser Mentalität zusammen. Auf wie tönernen Füßen die Ausbildung einer dynastischen Herrschaft durch Theode­ rich I. und seine Söhne ruhte, zeigt eine scheinbar beiläufige Episode aus dem Krieg gegen Aëtius 436/39. Völlig unvermittelt berichtet Prosper von Aqui­ tanien von einem Mann namens Vitericus, der während der Kämpfe in jener 1100 Die Ergänzung des gentilen Mandats durch die Verleihung eines römischen Mili­ täramts als wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Königsherrschaft betont Wolf­ ram, Gotisches Königtum, 5 ff. Den Zusammenhang sehen auch Liebeschuetz, Barba­ rians and Bishops, 40 u. Burns, Barbarians, 276 f. 1,01 Die strukturelle Schwäche des westgotischen Königtums betonen Heather, Emer­ gence, 87ff.; ders., Goths, 198ff. u. Diaz, Visigothic Political Institutions, 330f. 1102 So schon Thompson, Visigoths, 52 sowie Diaz, Visigothic Political Institutions, 330 ff. u. Jiménez Garnica, Settlement, 100 ff. 1103 G. Scheibeireiter, in: Vallet/Kazanski, Noblesse romaine, 35.

208

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Zeit die römische Sache vertreten habe: Per idem tempus Vitericus rei publicae nostrae fidelis et multis documentis bellicis clarus habebatur,;1104 Dieser nun ist höchstwahrscheinlich niemand anders als der Sohn des Amalers Beremud, der im Jahre 418 für die Nachfolge König Wallias kandidiert hatte.1105 H at Aëtius seinem Kontrahenten Theoderich I. einen K onkurrenten um den Thron auf den Hals gehetzt, um dessen nach den Niederlagen von 437/38 geschwächte Position unter den gotischen optimates zusätzlich zu destabilisieren?1106 D er Kampf um Südgallien wurde 439 mit harten Bandagen auf beiden Seiten ge­ führt. Im selben Jahr tauchte im westgotischen Machtbereich Sebastianus auf, der ehemalige oberste Heermeister des Weströmischen Reiches und - für eine kurze Zeit - innenpolitische Hauptgegner des Aëtius. Auch er mag auf eine Funktion im Entscheidungskampf des Jahres 439 gehofft haben. Allerdings zer­ schlugen sich seine Pläne rasch; über Barcelona mußte er Zuflucht zum Wan­ dalenkönig Geiserich nehmen.1107 D er Frieden von 439 muß angesichts des Gesagten eine Stärkung der Posi­ tion Theoderichs I. bedeutet haben. Schließlich war er es, der als rex über seine gens von den Römern bestätigt wurde, und er war es auch, der als Schwieger­ vater von nun an in besonders hervorgehobener Weise mit dem wichtigsten Mann am Hofe nächst dem Kaiser, Aëtius, verbunden war. Dies mußte seine A utorität innerhalb des gentilen Verbandes - und auch sicherlich gegenüber den regionalen gallorömischen Eliten - außerordentlich stärken und renitente optimates entmutigen, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß Theoderich I. auch jetzt noch nicht das Ziel Alarichs erreicht hatte, ein militärisches H o f amt neben seinem regnum auszuüben. Umgekehrt hatte auch Aëtius mit der darge­ stellten Regelung gewonnen: N u r der rex der Westgoten in persona, nicht aber die Rechtsposition der gens insgesamt, war gestärkt worden. Die Westgoten als politische Einheit im Sinne des foedus von 418 blieben ausdrücklich erhalten; sie vermochten jedoch ihr Territorium nicht aus der strategischen Peripherie Galliens heraus- und ans Mittelmeer vorzuschieben.1108 Beides bedeutete für Ravenna einen objektiven Gewinn an militärischer Sicherheit und politischer Berechenbarkeit. N icht auszudenken war es hingegen, wenn, nach einem etwai­ gen Zerfall des westgotischen Königtums, verschiedene, von optimates geführte 1,04 Prosp. chron. 1337 (s. a. 439). 1105 lord. Get. 173-175. Sämtliche einschlägigen Zeugnisse bei PLRE II Beremud u. Vetericus. Dazu H. Castritius, MIÖG 92, 1984, 9f. 1106 So Scharf, Sebastianus, 151 f. u. Wolfram, Goten, 182. 1,07 Hyd. chron. 129 (s. a. 444), 132 (s. a. 445) u. 144 (s. a. 450). Dazu Scharf, Seba­ stianus, 151 ff. 1108 Im Gegensatz zu der Ansicht von Stein, Bas-Empire, 324 mit 578 Anm. 40 u. Rouche, L’Aquitaine, 3 lf. dürfte es 439 keine territorialen Veränderungen zugunsten der Westgoten gegeben haben; siehe Heather, Emergence, 85.

2. Die restitutio Galliarum

209

G ruppen sich über Gallien ergießen würden - jede einzelne von ihnen viel­ leicht so stark wie die Alanen Goars oder die Burgunden des Gundicharius. D er Frieden von 439 war für Aëtius und die römische Politik ein Erfolg. Er konnte beruhigt nach vollbrachtem Werk nach Italien ziehen, um sich den dor­ tigen Problemen zuzuw enden.1109 In den 440er Jahren haben wir - wie bereits bemerkt - keine Hinweise auf direkte Konfrontationen zwischen dem Reich von Toulouse und Aëtius. Als in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts Gallia ulterior wieder unruhig wurde, so daß der patricius persönlich eingreifen mußte, versuchten die Westgoten keinen N utzen daraus zu ziehen wie zehn Jahre zuvor. Allerdings erfahren wir von einem Engagement Theoderichs I. auf dem spanischen Kriegsschauplatz. Unse­ re Informationen darüber sind gewohnt dürftig und zusammenhangslos, da wir einmal mehr auf die wenigen N otizen des Hydatius angewiesen sind.1110 Spa­ nien hatte, seit Athaulf das Land im Jahre 415 erstmals betreten hatte, immer wieder im Blickpunkt westgotischer Heerkönige gelegen. Auch nachdem sie 418 nördlich der Pyrenäen angesiedelt worden waren, blieben sie hier aktiv, und zwar teilweise unter römischer Ägide, teilweise - und dies immer öfter aus eigenem Ermessen. Theoderich I. selbst hatte 422 erstmals in Spanien ge­ kämpft, freilich nicht zur Zufriedenheit seiner römischen Bündner, die das Scheitern der damaligen Expedition gegen die Wandalen der Treulosigkeit ihrer gotischen Auxilien zur Last legten.1111 Anfang der 430er Jahre erfahren wir von diplomatischen Kontakten, mit Hilfe derer der Westgotenkönig Einfluß auf die Sweben in Galicia zu gewinnen versuchte.1112 Die näheren Umstände bleiben allerdings im dunkeln. Für die 440er Jahre liegen uns widersprüchliche Informationen vor. Einerseits erfahren wir, daß bei dem fatalen Feldzug, den der Heermeister Vitus im Jahre 446 in der Baetica und in der Carthaginiensis führte, auch Goten eine Rolle spielten, doch welche - ob sie nun seine Ver­ bündeten waren oder nur Profiteure der Situation - , bleibt völlig offen.1113 Ende der 440er Jahre berichtet Hydatius von einem Heiratsbündnis zwischen dem Swebenkönig Rechiar und Theoderich I. und von einem Besuch des ersteren in Toulouse.1114 Der größere politische Zusammenhang, in den dieses Er­ eignis eingefügt werden muß, bleibt wieder schemenhaft. Jedenfalls hat das Bündnis die Söhne des Westgotenkönigs nicht davon abgehalten, nach 451

1109 Chron. Gail. 452, 123 (s. a. 439). 1110 Die besondere Problematik Spaniens im 5. Jh. wird unten auf S. 224ff. ausführ­ licher erörtert. 1111 Hyd. chron. 77 (s. a. 421). 1112 Hyd. chron. 97 (s. a. 431). 1113 Hyd. chron. 134 (s. a. 446). 1114 Hyd. chron. 140 (s. a. 449) u. 142 (s. a. 449).

210

V. Die Reichspolitik des Aëtius

auch mit den Römern zu paktieren und schließlich sogar im Jahre 456 das Reich ihres Schwagers Rechiar zu zerschlagen. Es ist aufgrund der genannten Quellen nicht einfach, den Fortgang des Ver­ hältnisses zwischen Theoderich I. und Aëtius nach 439 zu charakterisieren. Clover hat in diesem Zusammenhang den Begriff «ambiguous hostility» ein­ geführt.1115 Daran ist soviel richtig, daß sich beide Vertragspartner mit den Ergebnissen des vorausgegangenen Krieges keineswegs zufriedengaben, son­ dern weiterhin den jeweils anderen in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken versuchten. Aëtius tat dies, indem er mit den traditionellen Feinden der West­ goten, den Wandalen, im Jahre 442 einen Vertrag schloß, der ein H eiratsbünd­ nis beinhaltete.1116 Dadurch war die Exklusivität der Regelung von 439 aufge­ hoben. Umgekehrt kann man im diplomatischen Operieren Theoderichs I. in Spanien ebenfalls das Bemühen sehen, politisch aktiv zu bleiben und dem rö ­ mischen Kontrahenten nicht die alleinige Initiative zu überlassen.1117 Als im Jahre 451 Attila vor den Toren von Orléans anlangte, da zögerten die West­ goten nicht etwa deshalb so lange, ins Geschehen einzugreifen, weil sie die hunnische Gefahr nicht erkannt hatten, sondern weil sie genau wußten, daß ein Sieg unter dem Banner des Aëtius ihren seit 418 mühsam errungenen Spiel­ raum einzuschränken drohte.1118 D er plötzliche Abzug nach der siegreichen Schlacht auf den Katalaunischen Feldern erscheint im Lichte dieser Ü ber­ legung genauso folgerichtig1119 wie die in anachronistischer Weise aggressive und deshalb zum Scheitern verurteilte Politik von Theoderichs I. Nachfolger Thorismund. Dieser versuchte sich seine Sporen als gentiler Heerkönig zu ver­ dienen, indem er gegen die Alanen um Orléans kämpfte, die man schon wäh­ rend der Attilakrise der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt hatte.1120 Er zog auch wie früher vor die gallische H auptstadt Arles, um die Römer einzu­ schüchtern und zu Zugeständnissen zu bewegen,1121 doch war das Ergebnis I, 15 Clover, Geiseric and Attila, 113. II, 6 Hierzu unten S. 239f. 1.17 Wirth, Foederierte Staaten, 243 glaubt sogar bei den Westgoten nach 439 eine Rückbildung zu einem Eigenstaatlichkeitsdenken beobachten zu können, die durch die Kriegserfahrung mit Aëtius provoziert worden sei. - Die politische Eigenständigkeit Theoderichs I. nach 439 betont auch Burns, Barbarians, 275. 1.18 Daraus ergibt sich der besondere, situationsbezogene Charakter des Vertrages, der 451 im Angesicht der hunnischen Bedrohung geschlossen wurde; hierzu Schulz, Völkerrecht, 89ff. Die Zusammenhänge sind im Kapitel «Aëtius und die Hunnen», S. 137ff. dargestellt. 1119 Hierzu im Kapitel «Aëtius und die Hunnen» S. 142ff. 1120 Addit. Prosp. Havn. chron. s. a. 453; Greg. Tur. Franc. 2,7 u. lord. Get. 227. 1121 Mathisen/Sivan, Forging a New Identity, 16 Anm. 42 haben derartige Aktionen in Anlehnung an Wolfram, Goten, 180 als «a sort of initiation process of the renewal of the Romano-Gothic foedus» bezeichnet.

2.

Die restitutio Galliarum

211

ernüchternd: N ach einem Bankett beim Prätorianerpräfekten Tonantius Ferreolus mußte Thorism und unverrichteter Dinge wieder abziehen.1122 N icht viel später wurde er erm ordet.1123 Seine Brüder Theoderich II. und Frederich, die 453 auf ihn folgten, akzeptierten die immer noch vorhandene strukturelle Überlegenheit des Reiches und kehrten zur Politik der vorsichtigen Koopera­ tion mit Ravenna zurück.1124 Schon 454 n. Chr. halfen sie Aëtius, mit dem Bagaudenproblem in Spanien fertigzuwerden.1125 Dies war die Situation, als der patricius und sein Kaiser 454/55 ermordet wurden und dadurch eine ganz neue Ausgangslage für den Fortgang der Politik, nicht nur in Gallien, geschaf­ fen war.1126

2.7 Die Bischöfe von Arles N icht nur durch die An- und Umsiedlung barbarischer Völker wurde das poli­ tische Terrain Galliens seit 425 neu gestaltet. Auch im Bereich der kirchlichen Administration verfügen wir durch die Gunst der Quellenlage über einen ge­ wissen Einblick in eine Reihe von Vorfällen, deren Bedeutung für die weitere Entwicklung dieses Reichsteils außer Frage steht. Seit der Sitz der transalpinen Prätorianerpräfektur von Trier nach Arles ver­ legt worden war,1127 hatte das Gewicht dieses Bischofssitzes stark zugenom­ men; schon bald verfügte die provençalische Stadt in der Auseinandersetzung mit Konkurrenten wie Vienne, N arbonne und Marseille um Metropolitanrechte in der näheren und weiteren Umgebung und sogar um einen Primat für ganz Gallien über eine gute Ausgangsposition.1128 Durch den faktischen Verlust der nördlichen und westlichen Landesteile an die Barbaren im Gefolge der Wirren seit 406/07 geriet Arles noch mehr in den Blickpunkt macht- und kirchenpoli­ tischer Interessen. Sowohl der U surpator Konstantin (III.) als auch sein Rivale und Bezwinger, der patricius Constantius richteten auf die H auptstadt der galli­ schen Zivilverwaltung ein besonderes Augenmerk, ein Sachverhalt, der sich

1122 Sidon, epist. 7,12,3 u. Chron. Gail. 511, 621. 1123 Zeugnisse bei PLRE II Thorismodus. Die Formulierungen bei Prosp. chron. 1371 (s. a. 453) u. Hyd. chron. 156 deuten darauf hin, daß die Rompolitik Thorismunds für seine Ermordung zumindest mitverantwortlich war. 1124 Zur Rompolitik Thorismunds und Theoderichs II. siehe Thompson, Visigoths, 54 ff. 1125 Hyd. chron. 158 (s. a. 454). 1126 Zum Schicksal des Westgotenreiches nach 454/55 u. a. Heather, Goths, 187 ff. u. Mathisen/Sivan, Forging a New Identity, 17 ff. 1127 Hierzu oben S. 160 Anm. 846. 1128 Hierzu Langgärtner, Gallienpolitik, 18 ff.; Gassmann, Episkopat in Gallien, 229 ff. u. Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 22 ff.

212

V. Die Reichspolitik des Aëtius

nicht zuletzt in der wechselnden Besetzung des dortigen Bischofsstuhls widerspiegelt.1129 Von 412 bis 426 amtierte in Arles Bischof Patroclus, ein amicus et fam ilia­ ris1130 des Heermeisters und späteren Kaisers Constantius III. Die Ereignisse während seines Episkopats sind richtungsweisend für die folgende Entwick­ lung in der Provence und ganz Gallien; sie zeigen allerdings auch bereits die Probleme auf, die ein aktives, durch staatliche Stellen unterstütztes Streben nach M etropolitanrechten aufwerfen m ußte.1131 Während seiner Amtszeit ver­ mochte Patroclus seinen Einfluß auf zahlreiche Bistümer in der Narbonensis I, der Narbonensis II (einschließlich der Alpes maritimae) und der Viennensis auszudehnen. Papst Zosimus bestätigte 417 durch die Verleihung weitreichender Privilegien seine Ambitionen und zeichnete den Bischof durch die Verleihung des ganz Gallien umfassenden Formatenrechts unter seinen M itbrüdern aus.1132 Dennoch war den Bemühungen des Arier Oberhirten, die sich im Einklang mit den parallel durchgeführten Zentralisierungsbestrebungen des Constantius be­ fanden, kein durchschlagender Erfolg beschieden. Zahlreiche mächtige Bischöfe wie z. B. Proculus von Marseille verweigerten sich seinem Machtanspruch, der allzu offensichtlich damit einherging, alte Rechnungen aus der Zeit des Bürger­ krieges mit Konstantin (III.) zu begleichen.1133 Schon nach Constantius’ Tod im Jahre 421 begannen Rom und Ravenna den arlesfreundlichen Kurs - vor­

1129 Konstantin (III.) hatte während seiner Herrschaft einen gewissen Heros, einen Schüler des hl. Martin, als Bischof von Arles eingesetzt. Nach dem Scheitern des Usur­ pators mußte dieser dem Kandidaten des Heermeisters Constantius, Patroclus, weichen; siehe Prosp. chron. 1247 (s. a. 412). Dazu Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 28ff. 1130 Prosp. chron. 1247 (s. a. 412). 1131 Zu Patroclus von Arles siehe Lippold, Patroclus; Mathisen, Ecclesiastical factio­ nalism, 48 ff. u. zuletzt Lütkenhaus, Constantius III., 121 ff. Seine Tätigkeit erstreckte sich sogar auf die spanischen Provinzen. 1132 Zos. epist. 1 vom 22. März 417 (= Coll. Arei. 1 [MGH Ep. 3, 5f.]). Dazu Lang­ gärtner, Gallienpolitik, 26ff.; Griffe, Gaule chrétienne, 146ff.; Gassmann, Episkopat in Gallien, 236ff. u. Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 49ff. Ob für den Erlaß des Privi­ legs Patroclus’ persönlicher Einfluß die Hauptverantwortung trug oder nicht vielmehr der des Constantius - so Lippold, Patroclus, 503 f. - ist für unsere Zusammenhänge nicht entscheidend. - Das Formatenrecht besagte, daß die Bischöfe ganz Galliens nur dann das Land verlassen durften, wenn ihnen zuvor der Arier Metropolit in Gestalt der litterae fo r m a ta e die Erlaubnis dazu gegeben hatte. 1133 Allgemeines Unbehagen geht schon aus Äußerungen wie Prosp. chron. 1247 (s. a. 412) [(...) e aq u e res (die Ernennung des Patroclus zum Bischof von Arles) in ter epi­ scopos regionis illius m a g n a ru m d iscord iaru m m ate ria fu it.] u. Chron. Gall. 452, 74 (s. a. 411/16) [P atroclus A relaten sis episcopus in fam i m ercatu sacerd otia v e n d itare au su s.] her­ vor. - Zum Widerstand des Proculus von Marseille gegen die Arier Bestrebungen Lip­ pold, Patroclus, 506 u. Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 52 ff. Er hatte u. a. die ihm 398 verliehene Metropolitangewalt über die Narbonensis II an Patroclus abtreten sollen.

2.

Die restitutio Galliarum

213

erst noch behutsam - zurückzufahren,1134 doch mit der aufsehenerregenden Erm ordung des Patroclus im Jahre 426 lag das vollkommene Scheitern von dessen Politik offen zutage.1135 Den Arier Bischofsstuhl übernahmen nun M ön­ che aus dem Umfeld des Inselklosters von Lérins vor der Côte d ’A zur.1136 Viele Vertreter des provençalischen Coenobitentums waren Adelige aus den nördlichen Landesteilen Galliens, die die W irren der vergangenen Jahrzehnte entwurzelt und in den Süden verschlagen hatten. Ein beträchtlicher Teil von ihnen hatte mit Sympathie die Usurpationen der Jahre 407/15 begleitet.1137 Die Berufung des Helladius, H onoratus und Hilarius nach Arles kann deshalb als K orrektur des Kurses von Constantius III. begriffen werden, als ein Schritt hin zu einer weiteren Versöhnung mit noch abseits stehenden Vertretern des senatorischen Milieus in den Provinzen jenseits der Alpen. Es gibt Gründe zu der Annahme, daß Aëtius selbst, der zu dieser Zeit gerade seine Tätigkeit in Gal­ lien aufgenommen hatte, am Zustandekommen dieser Grundsatzentscheidung beteiligt gewesen ist.1138 Auch unter den neuen Inhabern des Arier Bischofsstuhls waren die Ambitio­ nen bezüglich einer Ausweitung der M etropolitanrechte und der Erlangung eines gesamtgallischen Primats keineswegs endgültig ad acta gelegt. Ende der 430er Jahre, als sich die Lage in Gallien nach jahrelangen Kämpfen fürs erste beruhigt hatte, schickte sich Hilarius an, die aktive Politik seines Amtsvorgän­ gers Patroclus wiederaufzunehmen. M. Heinzeimann hat die zeitlich im nach­ hinein oft nicht mehr fixierbaren Maßnahmen des Arier Bischofs festgehalten. Sie reichten von der Vergabe freiwerdender Bistümer an ihm genehme Kandi­ daten bis hin zu Bistumsneugründungen.1139 Hilarius entfaltete auch eine um ­

1134 Papst Bonifatius I. korrigierte im Jahre 422 die Privilegien des Patroclus dahin­ gehend, daß er dem Bischof von Arles lediglich noch in der südlichen Viennensis metropolitane Rechte zugestand; siehe Bonif. I. epist. 12 vom 9. Feb. 422 (Migne 20, 772774). Dazu Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 69 ff. 1135 Prosp. chron. 1292 (s. a. 426). Für den Mord wurde der damalige patricius Felix verantwortlich gemacht. 1136 Zum Milieu des Lériner Inselmönchtums ausführlich Mathisen, Ecclesiastical fac­ tionalism, 76 ff. u. Kasper, Theologie und Askese. 1137 Zum besonderen Charakter des gallischen Episkopats u. a. Gassmann, Episkopat in Gallien, 50ff.; W.Eck, Chiron 8, 1978, 561-585; Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 5ff.; M.A.Wes, in: Drinkwater/Elton, Fifth-century Gaul, 252-263; Baumgart, Bischofs­ herrschaft sowie B.Beaujard, in: Lepelley, Fin de la cité, 127-145. - Heinzeimann, Affair, 244 hat Lérins in Anlehnung an F. Prinz als «refugee-camp» des nordgallischen Adels bezeichnet. 1138 Hierzu ausführlich Appendix II auf S. 324ff. 1139 Heinzeimann, Affair, 246 ff. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Bistumsneugründungen nur im Einvernehmen mit der Staatsmacht vorgenommen wer­ den durften; siehe ebd. 249.

214

V. Die Reichspolitik des Aëtius

fangreiche Synodaltätigkeit, die dazu dienen sollte, seinen metropolitanen Spiel­ raum systematisch auszudehnen. Wie den Teilnehmerlisten der Synoden von Riez 439, Orange 441 und Vaison 442 zu entnehmen ist, rekrutierten sich die Synodalen zwar im wesentlichen aus dem südgallischen Raum, insbesondere der Viennensis, doch auch darüber hinaus fand die ordnende Tätigkeit des Hilarius zunehmend Aufmerksamkeit und Zuspruch.1140 Persönliche Beziehun­ gen zu verschiedenen Bischöfen seiner mittelgallischen Heimat, so etwa zu Eucherius von Lyon und Germanus von Auxerre, mögen dabei unterstützend gewirkt haben.1141 Dennoch blieben Widerstände, auch in der Provence, be­ stehen. Die Bischöfe von Marseille und Aix jedenfalls nahmen an keiner der erwähnten Synoden teil und entzogen sich damit dem Anspruch ihres Arier Kollegen.1142 Man kann schon in diesem Zusammenhang mit Recht die Frage stellen, wel­ che Motivation dem Handeln des Hilarius zugrunde lag. Die unmittelbaren Zeitgenossen waren aufgrund der schließlich in der Chelidonius-Affäre kulmi­ nierenden Entwicklung in ihrem Urteil zweifellos befangen. Das Verdikt Leos des Großen von 445, Hilarius habe seinen Machtbereich unberechtigt aus­ gedehnt,1143 verliert allein schon deswegen an Gewicht, weil derselbe Papst in den Jahren vorher offensichtlich keinen Anlaß verspürt hatte, den Arier Bestre­ bungen Einhalt zu gebieten. Das Zeugnis der «Vita Romani abbatis» verdient hingegen schon mehr Aufmerksamkeit, denn obwohl sie dem Hilarius grund­ sätzlich gewogen ist, kommt sie doch nicht umhin, ihn als indebitam sibi per Gallias vindicans monarchiam zu bezeichnen.1144 Freilich ist sie erst über sieb­ 1140 Zur Politik des Hilarius nach 430 Langgärtner, Gallienpolitik, 61 ff. Er vermutet ebd., 66 noch eine weitere, örtlich nicht zu fixierende Synode im Jahre 443. Zur Synodaltätigkeit des Hilarius ferner Ch.J. von Hefele/H. Leclercq, Histoire des conciles d’après les documents originaux, Bd. 2/1, 1908, 423 ff.; Griffe, Gaule chrétienne, 154ff.; Gassmann, Episkopat in Gallien, 244 ff.; Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 101 ff. u. Heinzelmann, Affair, 246 ff. Letzterer nimmt ebd., 247 ebenfalls eine weitere Synode 443/44, allerdings in Arles, an. 1141 Auch Eucherius war Mönch in Lérins gewesen; dazu Mathisen, Ecclesiastical Aristocracy, 246. Zum positiven Verhältnis zu Germanus siehe Vita Hil. Arel. 21 u. Constantius vita Germ. 23. 1142 Griffe, Gaule chrétienne, 158 betont im Gegensatz zu Langgärtner die Schwierig­ keiten des Hilarius, sein Ziel, mit den Synoden «un organe régulier de gouvernement» zu schaffen, in die Praxis umzusetzen. Auf der Synode von Orange 441 ließ er eigens Can. 28 (29) [Munier, Concilia Galliae, 85f.] verabschieden, um die abwesenden Bischö­ fe zur Ordnung zu rufen. Zur Opposition gegen Hilarius’ Kurs auch Mathisen, Eccle­ siastical factionalism, 117 ff. 1143 Leo M. epist. 10 vom 8. Juli 445 (Migne 54, 628-636), wo dieser Vorwurf das beherrschende Thema darstellt. 1144 y jtae patr lurens. 18f. (Martine). Allerdings kannte auch der Biograph des Roma­ nus das Schreiben Leos des Großen von 445 an die Bischöfe der Viennensis.

2. Die restitutio Galliarum

m

zig Jahre nach seinem Tode entstanden, w odurch ihr Quellenwert wieder redu­ ziert w ird.1145 Die moderne Forschung ist trotz dieser eher Vorsicht gebietenden Informa­ tionslage recht einmütig dafür eingetreten, daß es das Ziel des Hilarius gewesen sei, «eine starke Primatialgewalt über ganz Gallien zu errichten.»1146 Auch zu­ rückhaltende Beobachter wie E. Griffe vertraten diesen Standpunkt. Die Folge­ rungen, die er für den Papst und die Gesamtkirche zog, mußten dementspre­ chend schwerwiegend ausfallen: «Pour la première fois, sans doute, Rome crut à un danger «gallican».»1147 Derartige Schlüsse bezüglich der Ambitionen (und der Gefährlichkeit) des Arier Bischofs können durch die überlieferten Fakten jedoch nicht gestützt werden, denn diese belegen lediglich ein - durch das Privileg von 417 legitimiertes - Interesse an den kirchlichen Verhältnissen in der Provence, über sie hinausgehend jedoch nur, wenn persönliche Beziehun­ gen - etwa die Freundschaft mit Eucherius von Lyon oder Germanus von Auxerre - es erforderten oder möglich machten. Mit R.W. Mathisen läßt sich also festhalten: «There is no direct evidence that Hilarius wished to intrude his authority beyond this area.»1148 Jede darüber hinausgehende Annahme ist eine unzulässige Schlußfolgerung aus der Chelidonius-Affäre. Als diese 444/45 Gallien erschütterte, hatte Hilarius von Arles schon mehr als ein Jahrzehnt sein Bistum geleitet; spätestens seit 439 hatte er metropolitane Funktionen über seine engere Region hinaus wahrgenommen und zunehmend gegenüber möglichen K onkurrenten in der Provence an Boden gewonnen. Hilarius soll - wie sein Vorgänger Patroclus - durchaus tem­ peramentvoll gewesen sein, und er schreckte auch vor drastischen M aßnah­ men nicht zurück, wenn er es für nötig hielt.1149 Dennoch scheint ihm dies nicht überall geschadet zu haben, denn auch nach 445 fanden sich Amts­ brüder in Südgallien, die in Rom für ihn eintraten, und nach seinem Tod im Jahre 449 gelang es seinem Nachfolger Ravennius, mit Hilfe mehrerer Kol­ legen neue, wenn auch geringere Privilegien für Arles zurückzugewinnen.1150 1145 Mathisen, Hilarius, 162 Anm. 6 datiert die «Vita Romani abbatis» in Anlehnung an F. Martine auf die Zeit um 520 n. Chr. 1146 Langgärtner, Gallienpolitik, 63. 1147 Griffe, Gaule chrétienne, 204. 1148 Mathisen, Hilarius, 163. 1149 Leo der Große beispielsweise beschwerte sich in einem Brief an die gallischen Bischöfe, Hilarius habe sich während der Verhandlungen in Rom 445 bestimmter Worte bedient, quae nullus laicorum dicere, nullus sacerdotum posset audire·, siehe Leo Μ. epist. 10,3 vom 8. Juli 445 (Migne 54, 630). Auch der dem Hilarius durchaus verbun­ dene Stadtpräfekt Auxiliaris hat in einem Brief dessen scharfe Ausdrucksweise kritisiert; siehe Vita Hil. Arel. 22. Dazu Langgärtner, Gallienpolitik, 78f. 1150 Zur Entwicklung nach 445 Langgärtner, Gallienpolitik, 79ff. u. Mathisen, Eccle­ siastical factionalism, 173 ff.

216

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Wie konnte es also 444/45 zur Katastrophe der Kirchenpolitik des Hilarius kommen? Rekonstruieren wir zunächst die Fakten:1151 Im Jahre 444 wurde Hilarius, als er mit seinem Freund und Amtsbruder Germanus von Auxerre in der Stadt Besançon weilte, überraschend mit einem Streitfall innerhalb der dortigen Ge­ meinde konfrontiert. Eine Delegation von Laien höheren und niedrigeren Stan­ des1152 führte Klage gegen die Weihe des Ortsbischofs Chelidonius, da er ent­ gegen dem kanonischen Recht1153 eine Witwe geheiratet habe. Ein weiterer Vorwurf bestand darin, Chelidonius habe während seiner Dienstzeit als welt­ licher Beamter die Todesstrafe angewandt. Hilarius berief rasch eine Synode ein, zu der auch auswärtige Kleriker beigezogen w urden.1154 N ach - wie sein Biograph nicht versäumt zu betonen - eindringlichen U ntersuchungen1155 w ur­ de Chelidonius schließlich seines Amtes enthoben; über eine Nachfolge auf dem Bischofsstuhl von Besançon verlautet nichts. D er abgesetzte Chelidonius nahm das Urteil der Synode keineswegs hin; vielmehr wandte er sich direkt an Leo den Großen in Rom. H ier stieß sein Fall immerhin auf soviel Interesse, daß der Papst für seine Untersuchung nicht nur Kleriker, sondern auch vornehme Laien hinzuzog, um durch die Gewähr­ leistung von Öffentlichkeit die Bedeutung des Verfahrens herauszustellen.1156 Als Hilarius, der dem Chelidonius noch im W inter 444/45 unverzüglich nach­ gereist war, in Rom eintraf, mußte er erkennen, daß seine Karten schlecht stan­ den. Die Vorwürfe gegen den abgesetzten Bischof hatten sich als nicht stich­ haltig erwiesen; Hilarius wurde vielmehr seinerseits nun mit heftiger Kritik an seiner eigenen Amtsführung konfrontiert. D er Fall des Bischofs Proiectus, der im Laufe des Verfahrens zur Sprache kam, brachte das Faß schließlich zum Überlaufen: Hilarius hatte den Betreffenden, als er durch eine schwere Krank­ heit niedergeworfen war, kurzerhand durch einen Kandidaten seiner Wahl er­ setzt. D er unverhofft genesene Proiectus forderte nun seine Wiedereinsetzung und führte berechtigte Beschwerde gegen seinen voreiligen Amtsbruder.1157 1151 Zu den Quellen der Chelidonius-Affäre ausführlich und übersichtlich Langgärt­ ner, Gallienpolitik, 67 Anm. 13 u. Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 141 ff. 1152 vita j-fjj Arel. 21, wo - allerdings im Genitiv - von nobiles und m ediocres die Rede ist. 1153 Ebd.: q u o d ap osto licae sedis au c to ritas et can o n u m p ro h ib e n t statu ta. Der Hin­ weis auf die Übereinstimmung mit dem Heiligen Stuhl ist natürlich ein Seitenhieb auf die spätere - gerade entgegengesetzte - Position Leos des Großen. 1154 Vita Hil. Arel. 21: C o n v en iu n t ex aliis locis p ro b a tissim i sacerdotes. 1155 Ebd.: R es o m n i ration e p ru d e n tia q u e discutitur; accu satio testim oniis confirm atur. 1156 Ebd. 22, wo von tan to ru m v iro ru m [...] iu d icia die Rede ist. Siehe weiterhin ebd.: p o ten tib u s non cessit (scii. H ilariu s). 1157 Der Fall des Proiectus ist nur aus Leo M. epist. 10,4 vom 8. Juli 445 (Migne 54, 631-633) bekannt. Langgärtner, Gallienpolitik, 73 f. glaubt, daß er seinen Bischofssitz in

2.

Die restitutio Galliarum

217

Als Hilarius erkannte, daß er in Rom nichts mehr ausrichten konnte, verließ er, ohne ein Ende des Verfahrens abzuwarten, die Stadt und kehrte nach Gal­ lien zurück. Papst Leo aber schickte sich an, ein Exempel zu statuieren.1158 Die Stellung des M etropoliten von Arles wurde faktisch auf die eines Diözesanbischofs reduziert. Jede Machtausdehnung des Hilarius sollte in Zukunft von vornherein unterbunden werden. Selbst Synoden, die sich über das Gebiet einer Provinz hinaus ausdehnten, sollten fortan nicht mehr von ihm, sondern vom dienstältesten gallischen Bischof Leontius geleitet werden. Indem er seine Beschlüsse durch ein Gesetz Kaiser Valentinians III.1159 untermauern ließ, machte Leo deutlich, daß er deren Umgehung nicht hinzunehmen bereit war. Erst nach dem Tode des Hilarius 449 lockerte er seine Position ein wenig. Die Beurteilung der geschilderten Ereignisse fiel in der Forschung stets ver­ schieden aus. Mehrere Gelehrte sind dafür eingetreten, im Vorgehen des Hila­ rius in Besançon dessen Bestreben nach einem Primat über Gallien wieder­ zuerkennen.1160 Die Absetzung des Chelidonius sei nur Baustein einer Politik gewesen, die auf eine - nicht nur kirchliche - Abgrenzung Galliens von Raven­ na gezielt habe. Bestimmte Verhaltensmuster des gallorömischen Senatsadels hätten dabei aufgrund der vornehmen H erkunft des Hilarius ebenso eine Rolle gespielt wie die U nterstützung militärischer oder ziviler Amtsträger. Ein solches planmäßiges Vorgehen des Arier Bischofs kann zumindest durch den W ortlaut der «Vita Hilarii» nicht belegt werden. Vielmehr spricht der Text eindeutig von der Spontaneität, mit der Hilarius und Germanus auf die Vorgefundene Kon­ fliktlage in Besançon reagierten. Unmittelbar nachdem die Nachricht von der Ankunft der bekannten Bischöfe die Runde gemacht habe, seien die Menschen mit ihrem Streitfall auf sie zugekommen: Ubi eins (seil. Hilarii) adventus inno­ tuit, flam m ata ad utrosque nobilium et mediocrium studia convolarunt, astruen­ tes [ . . . / 1161 Dann allerdings hätten sie die Angelegenheit beherzt angepackt. den Alpes maritimae hatte. Möglicherweise habe sich die Absetzung des Proiectus wäh­ rend der Reise des Hilarius im Winter 444/45 nach Rom zugetragen. Diese These klingt plausibel, ist aber letzthin nicht beweisbar. Zu möglichen Verwandtschaftsbeziehungen des Proiectus im gallischen Senatsadel Mathisen, Hilarius, 160 Anm. 4 u. ders., Ecclesia­ stical Aristocracy, 59 f. 1158 Siehe seinen ausführlichen Brief Leo M. epist. 10 vom 8. Juli 445 (Migne 54, 628-636). 1159 Novell. Valent. 17 (08.07.445). 1160 Langgärtner, Gallienpolitik, 67ff.; Heinzeimann, Bischofsherrschaft, 78ff.; Zecchini, Politica religiosa, 267ff. u. Heinzeimann, Affair, 239 ff. Mathisen, Ecclesiastical factio­ nalism, 116 spricht zwar nicht von einem gesamtgallischen Primat als letztem Ziel des Hilarius. Er glaubt aber, daß der Bischof von Arles zusammen mit seinen ebenfalls aus Lérins hervorgegangenen Mitbrüdern in Süd- und Mittelgallien eine ««isolationist» poli­ cy» gegenüber dem Papst in Rom verfolgt habe. 1161 Vita Hil. Arel. 21.

218

V. Die Reichspolitik des Aëtius

D er G rund für die Anwesenheit des Hilarius und Germanus in der Gegend von Besançon bleibt allerdings schleierhaft. Die «Vita Hilarii» spricht in unbe­ stimmten, weil panegyrischen Formulierungen davon, daß beide zum Wohle der civitates Gallicani eine gewisse Aufsicht über den Klerus ausgeübt hätten: (seil. Hilarius) [...], sanctum Germanum saepe expetendo, cum quo sacerdotum ministrorumque vitam, nec non profectus excessusque tractabat.,162 Wie man sich diese Tätigkeit und ihre «politische» Bedeutung konkret vorzustellen hat, kann an der «Vita Romani abbatis» gezeigt werden. Als deren Titelheld vom Ruhm des Hilarius hörte {audita namque memoratorum fam a), begab er sich unverzüglich zu ihm, ließ sich zum Presbyter weihen und kehrte, durch das Charisma des heiligmäßigen Bischofs ausgezeichnet, honorifice in sein Kloster zurück.11621163 Trotz der in den Formulierungen geäußerten Verehrung gegenüber dem Arier Bischof zögerte der Biograph des Romanus nicht, demselben im Falle des Chelidonius unrechtmäßiges H andeln vorzuw erfen.1164 Die überregio­ nal respektierte Autorität eines Hilarius und Germanus, wie sie auch in der «Vita Hilarii» zum Ausdruck kommt, bedeutete eben nicht, daß man ihren kirchenrechtlichen Entscheidungen jederzeit folgen mußte. Schon bei der Betrachtung der Maßnahmen des Hilarius vor 444 konnte ge­ zeigt werden, daß sich sein kirchenpolitisches Interesse vorwiegend auf das Gebiet der einstigen Provinz Gallia Narbonensis erstreckte. D arüber hinausge­ hende Ambitionen, etwa hinsichtlich eines gesamtgallischen Primates, können nicht schlüssig belegt werden. Auch die Affäre um Chelidonius kann dies­ bezüglich nicht als Beweismaterial herangezogen werden. Was waren aber dann die G ründe für Hilarius’ Verwicklungen mit Rom? Mathisen hat in detaillierten Studien das aristokratische Milieu beschrieben, vor dessen H intergrund sich Bischofserhebungen und Bischofspolitik in Gal­ lien vollzogen.1165 Die Wirksamkeit entsprechender politischer Verhaltenswei­ sen läßt sich für Hilarius ebenso wie für die Mehrzahl seiner Kollegen nachweisen. Dennoch ist die Anwendung der Erkenntnisse Mathisens auf die Chelidonius-Affäre aufgrund mangelnder Quelleninformationen nur begrenzt möglich. So glaubt er etwa, daß der Bischof von Besançon vor seinem geist-

1162 Ebd. (allerdings als rhetorische Frage formuliert). Die Aufsicht über di e profectus excessusque der Kleriker erinnert an das Privileg zur Erstellung der litterae formatae, das der Arier Bischof seit 417 für alle seine gallischen Mitbrüder besaß; es war theore­ tisch nie erloschen. 1163 Vitae patr. Iurens. 18 (Martine). 1164 Ebd., 18f. Ph. Badot, RBPh 54, 1976, 402ff. sieht hier allerdings einen Interpola­ tor vom Ende des 6. bzw. Anfang des 7. Jhs. am Werk. Die ursprüngliche Tendenz der «Vita Romani abbatis» sei hilariusfreundlich gewesen. 1165 Siehe die prosopographischen Studien in Mathisen, Ecclesiastical Aristocracy und die Synthese dess., Ecclesiastical factionalism.

2. Die restitutio Galliarum

219

lichen Amt als Reichsbeamter in derselben Region - etwa als praeses der Maxi­ ma Sequanorum - gewirkt habe.1166 In der Tat läßt der Vorwurf, Chelidonius habe Todesurteile vollstrecken lassen, diesen Schluß zu. Ganz ungewiß ist hin­ gegen, ob hinter der ganzen Problematik, die augenscheinlich während des Prozesses in Rom nur eine untergeordnete Rolle spielte, wirklich politische Konflikte von einer solchen Größenordnung standen, wie sie etwa Scharf u n ­ terstellt. Er macht aus Chelidonius einen vicarius V II provinciarum im Dienste des praefectus praetorio per Gallias Albinus um 440 n. Chr. Als solcher habe er eine gegen den erklärten Albinusfeind Aëtius gerichtete Politik mitgetragen und sei deshalb - einige Jahre später und nun als Bischof - in dessen Schuß­ linie geraten. Das Argument, das diese These stützen soll, ist, daß gegen beide Beamte der Vorwurf ungerechtfertigter Todesurteile vorgebracht worden sei sicherlich eine eher dürftige Basis.1167 Mathisen und - ihm folgend - Heinzeimann haben die Chelidonius-Affäre auf einer Ebene unterhalb der Reichspolitik eines Albinus und Aëtius angesie­ delt. In den meist regional zu nennenden Auseinandersetzungen um die Be­ setzung gallischer Bischofsstühle habe es sich um Auseinandersetzungen zwi­ schen «powerful aristocratic factions»1168 gehandelt, die das alte Machtspiel des Senatsadels nun als Kleriker fortgeführt hätten. Eine Stützung auf zivile und militärische Reichsbeamte sei immerhin auch in diesem Zusammenhang eine wichtige Voraussetzung gewesen, so daß die Mitteilung der «Vita Romani ab­ batis», Hilarius habe 444 patrido praefectorioque fultus favore gehandelt,1169 von einiger Bedeutung ist, wurde doch hierdurch die Hebung des Konflikt­ falles auf eine überregionale Ebene möglich. Es ist in der Tat auffallend, daß sich sowohl Papst Leo der Große als auch Valentinian III. in ihren Reaktionen auf die Verhältnisse in Gallien in erster Linie gegen den abnominabilis tumultus wandten, der dadurch verursacht worden sei, daß die Bischöfe bewaffnete Kräfte (manus armatae) bei ihren Auseinandersetzungen untereinander einge­ setzt hätten.1170 Von Hilarius ist ausdrücklich bezeugt, daß er eine militärische

1166 Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 150. In diesem Zusammenhang sei an Ger­ manus von Auxerre und Gregorius Attalus von Langres erinnert, die entsprechende Lebensläufe aufwiesen. Zu ersterem siehe die auf S. 246 Anm. 1309 genannte Literatur; zu letzterem Mathisen, Hilarius, 164 Anm. 16. 1167 Scharf, Germanus, 15. Selbst die Identifizierung des in Vita Hil. Arel. 13 erwähn­ ten praefectus praetorio per Gallias ist erschlossen, wenn auch plausibel (ebd., 13). 1168 Mathisen, Hilarius, 166. Ähnlich Heinzeimann, Affair, 243 ff., der das verstärkte Kirchenengagement der gallischen Senatsaristokratie darauf zurückführt, daß ihr die Karrierechancen in der Reichsverwaltung zunehmend verbaut waren. 1169 Vitae patr. Iurens. 18 (Martine). 1170 Novell. Valent. 17 (08.07.445), 9-17.

220

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Eskorte (militaris manus) mit sich führte.1171 Die Tatsache, daß das Gesetz des Kaisers an den patricius Aëtius, nicht - wie eigentlich zu erwarten - an den praefectus praetorio per Gallias gerichtet wurde, erhält vor diesem H intergrund eine stichhaltige Begründung. Aëtius als der führende Heermeister des Westens war der geeignete Funktionsträger, um sicherzustellen, daß in künftigen K on­ fliktfällen den Bischöfen keine militärischen Machtmittel mehr an die H and gegeben w urden.1172 Die Verpflichtung der zivilen und kirchlichen Stellen auf die Entscheidung des Kaisers, die Herausstellung der Autorität des Papstes auch in und für Gallien und die Degradierung des M etropolitensitzes von Arles waren weitere Elemente einer Politik, die sicherstellen sollte, daß inner­ gallische Rivalitäten nicht mehr eine solch überregionale Q ualität erlangten, wie es in der Chelidonius-Affäre der Fall gewesen war. Es stellt sich zuletzt die Frage, welche Rolle Aëtius persönlich in den behan­ delten Auseinandersetzungen spielte. Daß er in irgendeiner Weise involviert war, läßt sich aufgrund der Quellen nicht bestreiten. Für eine genaue Klärung seiner Intentionen hingegen sind diese wiederum zu dürftig. U nterstützte er die Belange des Hilarius, etwa um durch Stärkung auch der kirchlichen U n ­ abhängigkeit Galliens seine Hausmacht zu befestigen?1173 O der wirkte er bei seinem Sturz mit an der Seite jener Kräfte in Rom und Ravenna, «che sul piano politico si battevano per salvare Punita dello stato e che conservavano il tradizionale patriottismo»?1174 Die zuletzt erwähnte Position kann, nach allen dargelegten Erkenntnissen, nicht mehr aufrechterhalten werden. D er Übergang des Arier Bischofsstuhls an die Lériner Mönche nach 426 erfolgte höchstwahrscheinlich bereits unter M it­ wirkung des Aëtius. Zumindest für Hilarius’ Wahl im Januar 430 läßt sich die Zustimmung und direkte Einflußnahme des damals schon mächtigen H eer­ meisters erschließen.1175 Auch die Maßnahmen des neuen Bischofs in den 430er und frühen 440er Jahren - die Wahrnehmung und Ausdehnung seiner metropolitanen Befugnisse bis hin zur N eugründung von Bistümern - lassen sich nur vor dem H intergrund einer U nterstützung oder mindestens Duldung durch Aëtius verstehen. Gerade in diesen Jahren war der nunmehrige patricius

1,71 Leo M. epist. 10,6 vom 8. Juli 445 (Migne 54, 633f.), wo Hilarius der gezielte Einsatz von Truppen zur Last gelegt wird. 1172 Heinzeimann, Affair, 242. Er versteht die militaris manus des Hilarius als «de­ tachment from the regular army.» 1173 Langgärtner, Gallienpolitik, 74 ff.; Heinzeimann, Bischofsherrschaft, 82 ff.; Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 155 f.; Scharf, Germanus, 13 ff. u. Heinzeimann, Affair, 242. 1174 Zecchini, Politica religiosa, 273. Siehe auch ebd., 267ff. und erneut ders., Aezio, 233 f. 1175 Hierzu ausführlich Appendix II auf S. 324 ff.

2. Die restitutio Galliarum

221

ständig in Gallien präsent. Die Intensivierung der kirchenpolitischen Organisa­ tion nach 439 paßt gut zu der militärischen Beruhigung der Lage in dieser Zeit. Aëtius glaubte sie so stabilisiert, daß er Gallien verließ, um sich den Problemen in Italien zuzuw enden.1176 Es ist von entscheidendem Gewicht, daß die Absetzung des Chelidonius im Jahre 444 eben nicht mit der kirchlichen Organisation Galliens nach 439 zu­ sammenhing. Weder die Quellen für den Vorgang an sich, noch die D oku­ mente für den sich anschließenden Prozeß in Rom lassen eine derartige Annah­ me zu. Es ist ja bezeichnenderweise nirgends von einem durch Hilarius ausgewählten Nachfolger des Chelidonius die Rede.1177 Die Affäre von Besan­ çon entwickelte sich spontan aufgrund örtlicher Streitigkeiten; sie erlangte aller­ dings eine nicht gewünschte Eigendynamik durch das Verhalten der Beteiligten. Vor allem das selbstgerechte Vorgehen des Hilarius scheint Anstoß erregt zu haben. In Rom versuchte er sich bewußt als frommer Asket gegenüber dem Papst und seiner vornehmen Umgebung zu profilieren,1178 doch als der Wider­ stand gegen seine Maßnahmen nicht abnahm, erging er sich in wüsten Be­ schimpfungen und zog sich beleidigt aus dem Verfahren zurück. Spätestens durch die erst nachträglich bekanntgewordene Geschichte um die Absetzung des Bischofs Proiectus muß den Beteiligten klar geworden sein, daß man die Chelidonius-Affäre nicht mehr als Einzelfall verbuchen und diskret bereinigen konnte. Deshalb der lange Brief des Papstes an die Bischöfe in der Viennensis, deshalb auch seine nun über den konkreten Anlaß hinaus zusammengerafften Anschuldigungen gegen Hilarius. Daß Leo der Große außerdem die günstige Gelegenheit nutzte, seine Autorität in Gallien zu befestigen und mit U nterstüt­ zung eines kaiserlichen Gesetzes gar auszudehnen, spricht für sein politisches Geschick. Mit Recht aber ist schon seit langem darauf hingewiesen worden, daß damit kein welthistorischer Schritt im Verhältnis von Staat und Kirche getan worden ist.1179 1176 Chron. Gail. 452, 123 (s. a. 439). 1177 Schon Mathisen, Hilarius, 168 mit Anm. 37 hat auf diesen Sachverhalt hinge­ wiesen. L. Duchesne, Fastes épiscopaux de l’ancienne Gaule, Bd. 2, 21910, 198 hat in den Bischofsfasten von Besançon einen in portun us pseu doep iscop u s receptus se d tu rp iter eiectus gefunden. Möglicherweise läßt sich diese Nachricht auf die Nachfolge des Chelido­ nius beziehen. 1178 Vita Hil. Arel. 21 f.: [ . . . ] a d tan tam v o lu n tariu s v e n e ra t p au p e rtate m , u t p e d ib u s iter ag g red ien s et conficere non tim eret, in trepid u s u rb em R o m a m sine equo, sine sa g m a ­ rio [v e l sago ], om n i d ifficu ltate su p erata festin u s in travit. A po stoloru m m a rty ru m q u e occursu p erac to b eato L e o n i p a p a e ilico se p rae se n tat, cum rev eren tia im pen d en s o b ­ seq u iu m , et cum h u m ilitate deposcens, u t ecclesiarum statu m m ore solito o rd in aret [ . . . ] .

1179 W. Enßlin, ZRG 57, 1937, 374ff. Zum Primatsverständnis Leos des Großen - auch in bezug auf Novell. Valent. 17 - siehe den kurzen Forschungsüberblick bei Martin, Spätantike, 134f. u. 220.

222

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Die vorgebrachte Deutung der Chelidonius-Affäre hat auch Folgen für die Bestimmung der Rolle des Aëtius in ihr. Für die Forschung war es lange ein Problem gewesen, zu erklären, warum der patricius seinem vermeintlichen Schützling Hilarius nicht zu Hilfe eilte. Mehrere Möglichkeiten boten sich an: Erstens, Aëtius hatte die Seiten gewechselt und unterstützte nunm ehr Papst Leo;1180 zweitens, er erlitt durch Leo (und Valentinian III.) eine Niederlage und wurde gezwungen, dem Reskript des Kaisers zu folgen.1181 D er G rund für diese Niederlage sei eine Schwächephase in der politischen Machtausübung des Aëtius nach dem verlustreichen Westgotenkrieg gewesen.1182183 N ach allem Ge­ sagten ist man nun nicht mehr in das enge Korsett zwischen diesen Alternati­ ven gezwängt. In den Jahren um 445 war die zivile und militärische Position des Aëtius keineswegs geschwächt. Gerade in Gallien sehen w ir ihn in diesem Zeitraum wieder aktiv werden. Die Quellen sprechen von siegreichen Kämpfen gegen die expandierenden Franken und von einer erneuten Befriedung der Aremorika. Selbst Britannien geriet möglicherweise ein letztes Mal in das Blickfeld des patricius} m H ätte Aëtius gewollt, so wäre es ihm sicher möglich gewesen, wirksamer - und somit auch in den Quellen sichtbarer - in die ChelidoniusAffäre einzugreifen. Die Tatsache, daß er es nicht getan hat, deutet darauf hin, daß er dies aber nicht wollte. Zwei G ründe bieten sich hierfür an. Zum einen war seine Stellung in Italien und Gallien eben nicht gefährdet. E r brauchte Hilarius und den gallischen Epi­ skopat nicht mehr so notwendig wie in den 420er und 430er Jahren zum Auf­ bau und zur Stabilisierung seiner Hausmacht. Zum anderen hatte sich Hilarius, der ohne Zweifel seit 430 ein wichtiger politischer Partner des Aëtius gewesen sein muß, durch sein Verhalten im Verlauf der Chelidonius-Affäre völlig dis­ kreditiert. Auch Aëtius konnte nicht daran interessiert sein, daß in Gallien ein M etropolit sein Unwesen trieb, der seine Position im Machtgefüge des Reiches und der Kirche permanent überschätzte. Mit dem reduzierten Prestige von H i­ larius’ Nachfolger Ravennius hingegen ließ sich sicher auch für den patricius, nicht nur für den Papst in Rom, besser arbeiten. Das Konsulat, das Aëtius im Jahre 446 zum dritten Mal verliehen bekam, war Ausdruck seiner unange­ fochtenen Machtstellung, die er soeben durch seine Feldzüge in Gallien militä­ 1180 So Zecchini, Politica religiosa, 267ff. u. ders., Aezio, 234. Seiner These entspre­ chend weist Zecchini das Zeugnis der «Vita Romani abbatis» für eine Unterstützung des Hilarius durch Aëtius als «piü tarda e incerta» zurück. 1181 So Mathisen, Ecclesiastical factionalism, 166; Scharf, Germanus, 15f. u. Heinzelmann, Affair, 242. 1182 Heinzeimann, Affair, 250, etwa glaubt, daß Aëtius 444/45 zu sehr in Italien be­ schäftigt gewesen sei, um sich der Chelidonius-Affäre anzunehmen. Auch habe er im Italienpräfekten Albinus und im Gallienpräfekten Marcellus mächtige Feinde gehabt. 1183 Dazu unten S. 247 f.

2. Die restitutio Galliarum

223

risch neu legitimiert hatte. Die Chelidonius-Affäre war demgegenüber nur eine Fußnote. Sie hatte die Autorität des magister utriusque militiae nicht beein­ trächtigt.1184

2.8 Zusammenfassung Halten wir an dieser Stelle kurz inne für eine Zwischenbilanz. Wir haben im Verlauf der vorigen Abschnitte gesehen, wie sich in der ersten Hälfte des fünf­ ten Jahrhunderts das Verhältnis zwischen den zentralen Behörden des West­ römischen Reiches und den verschiedenen gentes Galliens einschließlich der D onauprovinzen gestaltete. Da Aëtius in diesem Zeitraum die beherrschende Figur zumindest im militärischen Sektor des Reiches gewesen ist, ist es legitim, die Maßnahmen Ravennas mit seinem politischen Willen zu identifizieren, auch da, wo er nicht namentlich als Verantwortlicher für bestimmte Ereignisse von unseren Quellen genannt wird. D er Umgang mit den verschiedenen Barbarenvölkern auf Reichsboden stellt sich ganz verschieden dar. W ir beobachten zum Beispiel die organische Weiter­ entwicklung des römisch-fränkischen Verhältnisses in Nordgallien und im Rheinland, wie es im vierten Jahrhundert durch Julian und Valentinian I. ge­ staltet worden war. In anderen Fällen hingegen riskierte Aëtius - aus Gründen, die nicht immer deutlich sind - eine Eskalation. Kleine Barbarengruppen, wie die Alanen Goars und Sambidas und die Burgunden des Gundicharius, wurden nach dem G utdünken des patridus in bestimmten Gegenden der gallischen Prä­ torianerpräfektur angesiedelt, wo sie Aufgaben wahrzunehmen hatten, über die wir letztlich nur spekulieren können. Von besonderer Bedeutung schließlich ist das Verhältnis zu den Westgoten gewesen: Die ganze Palette bilateraler Mög­ lichkeiten steht uns hier vor Augen, von der erbitterten Kriegssituation vor Toulouse 439 bis hin zum einträchtigen Vorgehen gegen den gemeinsamen Feind Attila auf den Katalaunischen Feldern 451 n. Chr. Auffallend und - im H inblick auf den sogenannten «Untergang» des West­ römischen Reiches - bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, daß von einer Vertreibung der vielen barbarischen Völker aus Gallien in unseren Quellen nicht die Rede ist, und daß sich eine solche Intention aus ihnen auch in keiner Weise ableiten läßt. Franken und Goten, Alanen und Burgunden, sie alle lebten mit offizieller Genehmigung im Reich, oft in Gegenden, die durchaus fruchtbar oder strategisch bedeutend waren. Offensichtlich sahen Aëtius und die anderen Verantwortlichen in Ravenna keinen G rund darin, ihnen dies zu verweigern, da

1184 Heinzeimann, Affair, 242 hat demgegenüber angenommen, das dritte Konsulat 446 sei eine Kompensation für Aëtius’ Stillhalten im Vorjahr gewesen.

V. Die Reichspolitik des Aëtius

224

sie sich N utzen davon versprachen.1185 Die ökonomische und personelle Basis des Weströmischen Reiches wurde gegen die Jahrhundertm itte hin zusehends prekärer, während das Reservoir an H ilfstruppen jenseits von Rhein und D o ­ nau durch die steigende Dominanz Attilas im Barbaricum seit Ende der 430er Jahre immer mehr dem Zugriff der römischen Werbeoffiziere entzogen wurde. Was lag da näher, als sich in Gallien ein Rekrutierungsreservoir im kleinen ein­ zurichten? Das harte Vorgehen des Aëtius gegen die Bagauden und andere Aufstandsbewegungen im Reich zeigt deutlich, wie der patricius bemüht war, ein weiteres Abbröckeln der Ressourcen des Reiches mit aller Entschiedenheit zu unterbinden; an zusätzliche Rekrutierungen unter der Reichsbevölkerung war in einer solch angespannten Situation nicht zu denken. Die Barbarenvölker Galliens stellten demgegenüber eine willkommene Entlastung dar. Als Attila im W inter 450/51 beschloß, Aëtius anzugreifen, wußte er sogleich, wo die Macht­ basis seines Gegners lag. Die ungehinderte Verfügung über das Wirtschafts­ und Soldatenpotential Galliens war die Grundbedingung für dessen militärische und politische Handlungsfähigkeit nach 435 n. Chr.

3. A ëtius’ Sorge für die anderen Regionen des Reiches Nachdem die wichtige Stellung Galliens in der Politik des Aëtius nachgewiesen und im Hinblick auf die verschiedenen dort lebenden Völker exemplifiziert werden konnte, gilt es nun, einen Blick in die anderen Regionen des Reiches zu werfen und zu untersuchen, ob das in den vorausgegangenen Kapiteln be­ schriebene Engagement des patricius eine Vernachlässigung dieser Räume be­ dingt hat oder nicht. Es handelt sich dabei mit Spanien und Britannien um zwei Diözesen der Prätorianerpräfektur Gallien. H inzu kommt Nordafrika, das mit Italien und Illyrikum eine eigene Verwaltungseinheit in der Spätantike bildete, unter anderem, weil es für die Lebensmittelversorgung insbesondere der Stadt Rom eine wichtige Rolle spielte.

3.1 Spanien

Die Diözese Hispaniae ist seit 407 wie der gesamte Westen des Reiches in den Strudel der Ereignisse hineingerissen worden, die auf die Invasion der Barbaren und die U surpation Konstantins (III.) folgten.1186 Die Erhebung des spanischen

1185 G. Lizerand, Aetius, 114, liegt deshalb nicht falsch, wenn er Aëtius - wenn auch etwas plakativ - als «un chef de Barbares» bezeichnet. 1186 Zu den Ereignissen in Spanien nach 407 u. a. Hamann, Sueben; Stroheker, Spa­ nien, 595 ff.; Thompson, Hydatius, 152 ff.; Tranoy, Galice romaine, 435 ff.; Orlandis,

3. Aetm s’ Sorge fü r die anderen Regionen des Reiches

225

Gegenkaisers Maximus durch den General Gerontius komplettierte nicht nur die politische Verwirrung dieser Jahre; sie stellte auch einen weiteren Schritt zur Zersplitterung und Desorientierung der römischen Kräfte dar, so daß die plündernden Wandalen und ihre Bündner im H erbst 409 nur auf wenig Wider­ stand trafen, als sie sich anschickten, die Pyrenäen zu überschreiten. In den folgenden Jahren vermochten sie fast ungehindert auf der Iberischen Halbinsel zu agieren; ein Abkommen mit Gerontius blieb nur Episode.1187 Im Jahre 411 bekam das Chaos ein wenig Struktur, als die Barbaren Spanien in Sektoren aufteilten und diese unter sich verlosten. Das Ergebnis sah vor, daß die Alanen in Zukunft in der Carthaginiensis und in Lusitania ihr Unwesen treiben durf­ ten, die silingischen Wandalen in der Baetica. Die Provinz Galicia wurde zwi­ schen den Sweben im N orden und den hasdingischen Wandalen im Süden auf­ geteilt.1188 Kaiser H onorius und sein Heermeister Constantius haben die Regelung von 411 augenscheinlich nie bestätigt.1189 Sie blieben auch keineswegs untätig, son­ dern unternahmen, seit sie wieder dazu in der Lage waren, beträchtliche A n­ strengungen, um die Zustände in Spanien zu verbessern und die Reichsgewalt Schritt für Schritt wieder zur Geltung zu bringen.1190 Die Einzelheiten dieser Politik interessieren hier nur am Rande.1191 Wichtig ist hingegen das Ergebnis der Bemühungen, wie es sich um das Jahr 430 n. Chr. - zu dem Zeitpunkt, da Aëtius in der Lage war, auch in diesem Raum einzugreifen - darstellt. Damals waren von den Invasoren des Jahres 409 nur noch die Sweben auf der Iberi­ schen Halbinsel verblieben. Die Alanen und Silingen waren in den schweren Kämpfen, die der Westgotenkönig Wallia ihnen im Dienste der Römer auf­ zwang, bis 418 geschlagen worden. Ihre Reste vereinigten sich mit den Hasdingen zum neuen Großstamm der Wandalen. U nter ihrem König Gunderich ope­ rierten diese in den folgenden Jahren vor allem im Süden Spaniens, eroberten unter anderem Cartagena und Sevilla und wagten im Mai 429 schließlich den

Reino visigodo, 22 ff.; Garcia Moreno, Espana visigoda, 40 ff.; Lütkenhaus, Constantius 111., 38ff. u. Drinkwater, Usurpers, bes. 279f. u. 283ff. 1187 Ren. Frig. Greg. Tur. Franc. 2,9 u. Olymp, frg. 17,1 (Blockley). Dazu Stroheker, Spanien, 596 mit Anm. 35; Drinkwater, Usurpers, 283 ff. u. Lütkenhaus, Constantius 111., 45. nee Oros. hist. 7,40,9 u. Hyd. chron. 49 (s. a. 411). 1189 Stroheker, Spanien, 596 mit Anm. 35; Thompson, Hydatius, 154ff.; Ausbüttel, Verträge, 3 ff. u. Lütkenhaus, Constantius III., 92 Anm. 24. Anders Hamann, Sueben, 83 ff., die den Abschluß eines foedus in Erwägung zieht. 1190 Stroheker, Spanien, 596ff., der allerdings dennoch von einem «System von Aus­ hilfen» (596) spricht. 1191 Zum Verlauf im einzelnen Scharf, Spätröm. Truppen in Spanien sowie Lütken­ haus, Constantius III., 85ff. u. 170ff. mit den Quellen und neuester Literatur.

226

V. Die Reichspolitik des Aëtius

Sprung über die Meerenge von Gibraltar nach N ordafrika.1192 Die Erfolge der römischen Generäle auf der Iberischen Halbinsel waren zur selben Zeit eher durchwachsen, obwohl man beträchtliche Mittel in die dortigen Auseinander­ setzungen investierte und das spanische Kommando phasenweise sogar durch den Einsatz eines eigenen comes Hispaniarum aufwertete. D er Abzug der Wan­ dalen aus der Baetica befreite die römische Administration zwar von einem ge­ fährlichen Gegner; es blieben ihr aber die Sweben erhalten, die auch in den folgenden Jahren vom galicischen Bergland aus ihr Unwesen trieben.1193 Für die Spanienpolitik des Aëtius in den fünfundzwanzig Jahren seiner nahe­ zu ungebrochenen Dominanz in Ravenna steht uns als Quelle praktisch nur die C hronik des Hydatius zur Verfügung.1194 Dies ist, wie w ir schon feststel­ len konnten, ein Problem, denn der Bischof der heute portugiesischen Stadt Chaves sammelte zwar viele Informationen, deren er in dem entlegenen Win­ kel seiner galicischen Heimat habhaft werden konnte, doch reihte er sie weit­ gehend zusammenhangslos aneinander, so daß uns die Kausalitäten der Ereig­ nisse in Spanien während der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts allzuoft verborgen bleiben müssen.1195 Bisweilen werden wir mit Ereignissen konfron­ tiert, die beim besten Willen nicht in den Gang der Geschichte passen wollen, so etwa, wenn wir zum Jahr 445 erfahren, eine wandalische Kaperflotte habe den am Atlantik gelegenen Küstenort Turonium geplündert,1196 oder wenn 438 vom Feldzug eines gewissen Andevotus die Rede ist, von dem gänzlich unklar ist, ob er in irgendjemandes Diensten oder auf eigene Faust unterwegs war.1197 Ein wichtiger G rund, warum uns die Vorgänge in Spanien zu dieser Zeit so undurchsichtig und orientierungslos erscheinen, dürfte die «merkwürdig ar­

1192 Dazu S. 234ff. 1193 Hyd. chron. 91 (s. a. 430), 96 (s. a. 431) u. 100 (s. a. 433). 1194 Einen vollständigen Überblick über die bezüglich der Sweben zur Verfügung stehenden Quellen bietet J.E. Lopez Pereira, in: Koller/Laitenberger, Suevos, 21-35; ein Forschungsüberblick zum Thema findet sich bei A.Ferreiro, in: Koller/Laitenberger, Suevos, 38 ff. 1195 Zum Wert der Chronik des Hydatius als historische Quelle Hamann, Sueben, 79ff. u. Thompson, Hydatius, 137ff. 1196 Hyd. chron. 131 (s. a. 445). Die genaue Lage des Ortes ist unklar. Clover, Geiseric the statesman, 103 ff. identifiziert ihn mit Turoque; Tranoy, Hydace, 83 sucht ihn in der Region um Kap Tourinan. 1197 Hyd. chron. 114 (s. a. 438): Hermericus rex morbo oppressus Rechilam filium suum substituit in regnum: qui Andevotum cum sua, quam habebat, manu ad Singillionem Baeticae fluvium aperto marte prostravit magnis eius auri et argenti opibus occupa­ tis. Zecchini, Aezio, 191 f. mit Anm. 23 hält ihn für einen comes Hispaniarum, ebenso Thompson, Suevic Kingdom, 173. Die PLRE II Andevotus denkt an einen Heerführer derjenigen Wandalen, die nach 429 in Spanien geblieben waren.

3. Aëtius’ Sorge fü r die anderen Regionen des Reiches

227

chaisch anmutende Politik» der spanischen Sweben sein, wie es St. Hamann ausgedrückt hat.1198 In der Tat ist die Herrschaft dieses Volkes hinsichtlich ihrer inneren Struktur nicht mit der etwa der Franken oder Westgoten in Gallien zu vergleichen.1199 Allem Anschein nach handelt es sich bei den Swe­ ben um eine Wandergruppe, die sich erst im Verlaufe der Invasion von 406/07, vielleicht sogar erst in Spanien zu einer gens konstituiert hat.1200 Dieser U m ­ stand allein erklärt freilich noch nicht die weitere Entwicklung. Als zusätz­ licher Faktor kam die geringe Volkszahl hinzu, sowie die Tatsache, daß die Sweben bei der Aufteilung Spaniens im Jahre 411 mit den entlegenen, wenig romanisierten und mit Reichtümern nur bedingt gesegneten Gebieten N o rd ­ galiciens abgefunden w urden.1201 Es gelang ihnen deshalb nicht, ihren Verband in den folgenden Jahrzehnten durch die Begegnung mit spätantiker Staatlich­ keit umzuformen. Das regnum Suevorum war und blieb eine rein innergerma­ nische Herrschaftsinstitution.1202 Selbst nach seiner Konsolidierung finden sich in seinem Kernbereich noch römische Verwaltungsstrukturen, die neben den Einrichtungen der Barbaren fortvegetierten.1203 Die Aktivität der swebischen Könige und optimates äußerte sich anscheinend nur in Feldzügen und Plünde­ rungen; eine konstruktive Gestaltung des Verhältnisses zum Reich ist über weite Strecken nicht erkennbar. Daß uns dies so erscheint, mag auch seine Ursache in der Quellenlage haben; andererseits war den Barbaren der geregelte Zugang zu den Gütern des Reichs durch ihre Randlage und durch mangelnde Kontakte zu Ravenna erschwert oder sogar unmöglich, so daß sie ihre «Ab­ gaben» selbst eintreiben mußten, und dies geschah nun einmal durch Plünde­ rungszüge.1204 Betrachten wir nun, wie sich die swebisch-römischen Beziehungen seit etwa 430 entwickelt haben und welche Rolle Aëtius dabei spielte.1205 Erstmals sehen wir den späteren patricius in den Jahren 431/32 mit der spanischen Problematik

1198 Hamann, Sueben, 97. 1199 Ebd., 97, wo sie eine «gewisse Ausnahmestellung des Suebenreichs unter den germanischen Staatsbildungen auf römischem Boden» konstatiert. 1200 Ebd., 62 ff. 1201 Ebd., 97f. 1202 Ebd., 121. 1203 Ebd., 120f. Ähnlich auch Thompson, Suevic Kingdom, 169f. 1204 Hamann, Sueben, 97f. Etwas apodiktisch das Urteil von Thompson, Suevic King­ dom, 164: «They were marauders, nothing eise.» Er glaubt überdies, daß die Sweben die Abgaben der einheimischen Bevölkerung unter Ausnutzung römischer Strukturen er­ preßten; siehe ebd. 169f. 1205 Zur Spanienpolitik unter Kaiser Valentinian III. u. a. Hamann, Sueben, 98ff.; Stroheker, Spanien, 598ff.; Tranoy, Galice romaine, 439ff.; Zecchini, Aezio, 185ff.; Orlandis, Reino visigodo, 33 ff. u. Garcia Moreno, Espaiia visigoda, 54 ff.

228

V

Die Reichspolitik des Aëtius

befaßt, im Zusammenhang mit der von Hydatius angeführten Gesandtschaft aus Galicia.1206 Aëtius hat sich damals nicht zu einem persönlichen Eingreifen entschlossen, wohl deshalb, weil er zuerst durch die Kämpfe gegen die Fran­ ken, dann durch den Bürgerkrieg gegen Galla Placidia in Italien zu stark in Anspruch genommen war. Immerhin hat er durch die Sendung des comes Censorius - zumindest für uns erkennbar - erstmals seit 422 ein direktes Eingreifen der ravennatischen Reichszentrale auf der Iberischen Halbinsel her­ beigeführt.1207 Die A nkunft von Aëtius’ Emissär fällt in die Zeit, als der Swe­ benkönig Hermerich nach dem Abzug der Wandalen ein Jahr zuvor das von diesen hinterlassene Vakuum gefahrlos auszufüllen gedachte. Trotz vielfältiger diplomatischer Aktivitäten gelang es Censorius und den Bischöfen von Galicia in den folgenden Jahren nicht, den von den Sweben ausgelösten, unregel­ mäßigen Rhythmus von depraedationes und paces dauerhaft zum Stillstand zu bringen. Ein erstes Abkommen von 432/33 scheiterte offenkundig in den Wir­ ren des italischen Bürgerkrieges zwischen Galla Placidia und Aëtius.1208 Ein zweiter Friedensschluß 437/381209 wurde durch die Abdankung Hermerichs kurz darauf zunichte gemacht; dessen Sohn Rechila mußte sich und seinen Ge­ folgsleuten die Eignung zum rex Suevorum offensichtlich erst beweisen und leitete in den folgenden Jahren Offensiven ein, die über das Gebiet von Galicia bei weitem hinausgriffen.1210 Auch feste Plätze gerieten nun ins Visier der äußerst mobilen Plünderungsheere: Mérida, Mértola und Sevilla fielen in Rechilas H and.1211 O b dies bedeutet, daß die Swebenherrschaft dieser Tage tatsäch­ lich außer in Galicia auch in den Provinzen Baetica und Carthaginiensis effek­

1206 Hyd. chron. 96 (s. a. 431): Rursum Suevi initam cum Callaecis pacem libata sibi occasione conturbant. Ob quorum depraedationem Hydatius episcopus ad Aetium du­ cem, qui expeditionem agebat in Gallis, suscipit legationem. 1207 Hyd. chron. 98 (s. a. 432): Superatis per Aetium in certamine Francis et in pace susceptis Censorius comes legatus mittitur ad Suevos supradicto secum Hydatio redeunte. 1208 Hyd. chron. 100 (s. a. 433): Regresso Censorio ad palatium Hermericus pacem cum Gallaecis, quos praedabatur assidue, sub interventu episcopali datis sibi reformat obsidibus; Hyd. chron. 101 (s. a. 433): Sympbosius episcopus per eum (scii. Hermericum) ad comitatum legatus missus rebus in cassum frustratur arreptis. 1209 Hyd. chron. 111 (s. a. 437): Rursus Censorius et Fretimundus legati mittuntur ad Suevos; Hyd. chron. 113 (s. a. 438): Suevi cum parte plebis Callaeciae, cui adversaban­ tur, pacis iura confirmant. 1210 Zu den Feldzügen Rechilas Hamann, Sueben, 103 ff. u. Zecchini, Aezio, 191 ff. 1211 Hyd. chron. 119 (s. a. 439): Rechila rex Suevorum Ementam ingreditur, Hyd. chron. 121 (s. a. 440): Censorius comes, qui legatus missus fuerat ad Suevos, rediens Martyli obsessus a Rechila in pace se tradidit; Hyd. chron. 123 (s. a. 441): Rex Rechila Hispali obtenta Baeticam et Carthaginiensem provincias in suam redigit potestatem.

3. Aëtius’ Sorge fü r die anderen Regionen des Reiches

229

tiv ausgeübt wurde, bleibe dahingestellt.1212 In jedem Fall reichte der Radius von Rechilas Kriegern sehr weit. N u r die Tarraconensis blieb von ihnen ver­ schont. Seltsamerweise wird uns von römischen Reaktionen auf die expansive Politik Rechilas seit 438 nichts berichtet. Man könnte dies mit den Beanspruchungen durch den Westgotenkrieg von 436/39 erklären, doch auch danach ändert sich das Bild nicht. Als im Jahre 441 der Heermeister Asturius in Spanien auftaucht es ist das Jahr, als den Barbaren Sevilla in die Hände fällt - wendet er sich kei­ neswegs gegen den Swebenkönig, sondern gegen die Bagauden in der Tarraco­ nensis.1213 Ebenso handelt sein Nachfolger Merobaudes im Jahre 443.1214 Lediglich der Heermeister Vitus könnte sich im Jahre 446 gegen die Sweben gewandt haben, doch geht dies aus dem Wortlaut bei Hydatius nicht mit der erforderlichen Klarheit hervor.1215 Alles in allem bleibt der Eindruck römischer Untätigkeit bzw. römischen Desinteresses an den Sweben - nicht an den Bagauden und an Spanien als solchem.1216 Spiegelt uns die relative Dichte an Informationen, mit denen uns Hydatius bezüglich der Sweben versieht, eine Be­ deutung von deren Plünderungszügen vor, die diesen in der Realität oder zum in­ dest in der Auffassung der Verantwortlichen in Ravenna gar nicht zukam? Rechila starb im August 448. Sein Nachfolger Rechiar war Katholik, doch wenn sich daran irgendwelche Hoffnungen auf Entspannung und Annäherung geknüpft haben sollten, so wurden sie bitter enttäuscht. Im Gegenteil: Rechiars Aggressionen gingen in Qualität und Q uantität über die seiner Vorgänger noch

1212 Hyd. chron. 123 (s. a. 441). Ablehnend etwa Tranoy, Hydace, 78 u. Thompson, Suevic Kingdom, 162. - Die in der vorigen Fußnote angegebenen Stellen würden aller­ dings darauf hindeuten, daß auch die Provinz Lusitania zu diesem Zeitpunkt in der Hand der Sweben war. 1213 Hyd. chron. 125 (s. a. 441): Asturius dux utriusque militiae ad Hispanias missus Terraconensium caedit multitudinem Bacaudarum. 1214 Hyd. chron. 128 (s. a. 443): Asturio magistro utriusque militiae gener ipsius succes­ sor ipsi mittitur Merobaudis, natu nobilis et eloquentiae merito vel maxime in poematis studio veteribus conparandus: testimonio etiam provehitur statuarum. Brevi tempore po­ testatis suae Aracellitanorum frangit insolentiam Bacaudarum. Mox nonnullorum invidia perurguente ad urbem Romam sacra praeceptione revocatur. 1215 Hyd. chron. 134 (s. a. 446): Vitus magister utriusque militiae factus ad Hispanias missus non exiguae manus fultus auxilio, cum Carthaginienses vexaret et Baeticos, succe­ dentibus cum rege suo illic Suevis, superatis etiam in congressione, qui ei ad depraedan­ dum in adiutonum venerant, Gothis, territus miserabili timore diffugit. Suevi exim illas provincias magna depraedatione subvertunt. 1216 Zecchini, Aezio, 191 ff., sieht Spanien als O rt eines Stellvertreterkrieges zwischen dem strategisch offensiv eingestellten Kaiser Valentinian III. und seinem zurückhalten­ den patricius. Entsprechend ordnet er die Expeditionen des Andevotus, Asturius, Mero­ baudes und Vitus ein.

230

V. Die Reichspolitik des Aëtius

hinaus.1217 Die Erm ordung des comes Censorius in Sevilla war ein erstes, schlechtes Zeichen.1218 Sodann nahm er engen Kontakt zum Westgotenkönig Theoderich I. auf, schloß mit diesem ein Heiratsbündnis und besuchte ihn so­ gar im Verlaufe des Jahres 449 in seinem Reich.1219 D er Swebenkönig knüpfte damit an Beziehungen an, die schon vor 420 und um 430 zwischen beiden Völkern bestanden und stets als Gegengewicht zur latenten Bedrohung durch die Römer gedient hatten.1220 Bei seinen Feldzügen konzentrierte er sich zu­ nehmend auf den N orden der Iberischen Halbinsel und wagte es sogar, in die bisher verschonte Tarraconensis vorzudringen, wobei er zu allem Übel nicht einmal davor zurückschreckte, mit einheimischen Aufständischen zu paktie­ ren.1221 Wie Ravenna auf diese Provokationen reagierte, berichtet uns H ydatius nicht; eine Militäraktion wurde, so scheint es, jedenfalls nicht gegen Rechiar eingeleitet. Erst zum Jahre 452 erfahren w ir von einem Friedensschluß, den zwei Emissäre, Mansuetus und Fronto im N am en des Kaisers mit den Sweben schlossen.1222 Diese pax, die nach der Erm ordung des Aëtius erneuert w ur­ de,1223 kam unmittelbar nach dem Abzug Attilas aus Italien zustande, so daß sich aus diesem Zusammenhang vielleicht doch eine D eutung der Entwicklung seit der Thronbesteigung Rechiars ableiten läßt. Augenscheinlich hatte man in Ravenna, angesichts der zunehmenden Spannungen mit den H unnen in der zweiten Hälfte der 440er Jahre, der Lösung dieses drängenden Problems ein­ deutige Priorität zugebilligt. Die Tatsache, daß Rechiar nach der Niederlage Attilas zum Frieden bereit war, spricht für dessen realistische Einsicht in seine machtpolitischen Möglichkeiten. Erst nach der Erm ordung Valentinians III. im Jahre 455 nahm er seine Plünderungszüge wieder auf.1224 Offensichtlich schätzte er in der Folge das Verhalten seiner westgotischen Bündner völlig

12,7 Zur Politik Rechiars Hamann, Sueben, 107ff. u. Zecchini, Aezio, 195ff. 1218 pjyd chron. 139 (s. a. 448): Per Agiulfum Hispali Censorius iugulatur. 1219 j-fyj chron. 140 (s. a. 449) u. Hyd. chron. 142 (s. a. 449), beide unter Anm. 1221. 1220 Siehe oben S. 209f. Schon vor 420 hatte Wallia ein Heiratsbündnis mit dem Swe­ benkönig geschlossen, aus dem der spätere patricius Rikimer hervorging; dazu Gillett, Birth of Ricimer. 1221 Hyd. chron. 137 (s. a. 448): (seil. Rechiarius) [...] obtento tarnen regno sine mora ulteriores regiones invadit ad praedanr, Hyd. chron. 140 (s. a. 449): Rechiarius accepta in coniugium Theodori regis filia auspicatus initium regni Vasconias depraedatur mense Fe­ bruario·, Hyd. chron. 142 (s. a. 449): Rechiarius mense Iulio ad Theodorem socerum profectus Caesaraugustanam regionem cum Basilio in reditu depraedatur. Inrupta per dolum Ilerdensi urbe acta est non parva captivitas. 1222 Hyd. chron. 155 (s. a. 453): Ad Suevos Mansuetus comes Hispaniarum et Fronto similiter comes legati pro pace mittuntur et optinent condiciones iniunctas. 1223 Hyd. chron. 161 (s. a. 454): His gestis legatos Valentinianus mittit ad gentes, ex quibus ad Suevos venit Iustinianus. 1224 Hyd. chron. 168 (s. a. 456) u. 170 (s. a. 456) sowie lord. Get. 229f.

3. Aëtius’ Sorge fü r die anderen Regionen des Reiches

231

falsch ein. Diese hatten seit der Thronbesteigung Theoderichs II. einen rom ­ freundlichen Kurs eingelegt,1225 sich bereits 454 für Aëtius auf dem spanischen Kriegsschauplatz engagiert1226 und zögerten nun nicht, nachdem sich Rechiar uneinsichtig gezeigt hatte,1227 in dessen Reich einzumarschieren. Am Fluß ô rb ig o bei Astorga wurde der Swebenkönig im Jahre 456 geschlagen und auf der Flucht getötet.1228 Versucht man ein Resümee zu ziehen über die Spanienpolitik Ravennas zwi­ schen etwa 430 und 455 und über die Rolle, die Aëtius bei ihrer Gestaltung spielte, so kommt man nicht umhin, eine gewisse Vernachlässigung dieses Schauplatzes zu konstatieren.1229 Dies bedeutet nicht, daß der patricius über­ haupt kein Augenmerk auf diese Region gerichtet hätte. Seine Prioritäten lagen aber meist nicht hier, sondern in Gallien oder an der Donau. Man muß Aëtius dabei zugute halten, daß die Interessen, die Ravenna in den letztgenannten Räumen verfolgte, für die Zukunft des Gesamtreichs von weitaus größerer Be­ deutung waren als die in Spanien. Die Plünderungszüge der Swebenkönige mochten bisweilen - insbesondere in den 440er Jahren - mehr als ein bloßes Ärgernis sein. Dennoch waren die Sweben aufgrund der Struktur ihrer H err­ schaft offenkundig nie in der Lage, ein stabiles, auch territorial fest definiertes Reich wie etwa das der Westgoten aufzurichten und die römische Präsenz in Spanien ernsthaft zu gefährden. Die Situation nach dem Italienzug Attilas 452 zeigt, daß Aëtius mit relativ geringen Mitteln dazu in der Lage war, den aggres­ siven Rechiar im Zaum zu halten, wenn er es nur wollte. D er Einsatz seiner westgotischen Bundesgenossen 454 weist hierbei schon auf die Krisensituation der Jahre 455/56 voraus, auch wenn er sich im konkreten Fall gegen die Bagauden richtete. Einem ernsthaften Vorstoß des Reiches waren Rechiar und seine Vorgänger zu keiner Zeit gewachsen. N u r ihre Randlage in der Provinz Ga­ licia bewahrte die Swebenkönige vor dem Schicksal eines Gundicharius. In der Forschung gehen die Meinungen darüber auseinander, ob die Sweben mit dem Reich jemals ein foedus geschlossen haben oder nicht.1230 Als Zeit­

1225 Hamann, Sueben, 112 ff. 1226 Hyd. chron. 158 (s. a. 454): P e r Fred ericu m T h eu derici regis fr a tr e m B a c a u d a e Terraconenses caed u n tu r ex au cto ritate R o m an a .

1227 Hyd. chron. 172 (s. a. 456) u. lord. Get. 231. 1228 Zur Datierung Stroheker, Spanien, 602 Anm. 60. - Zum Untergang von Rechiars Reich u. a. Thompson, Suevic Kingdom, bes. 166 ff.; Tranoy, Galice romaine, 444 ff.; Orlandis, Reino visigodo, 41 ff.; Garcia Moreno, Espafia visigoda, 60 ff. u. Henning, Periclitans res publica, 223 mit Anm. 11. 1229 Anders Zecchini, Aezio, 198 f., der eine angemessene Beschäftigung des Aëtius mit dem spanischen Kriegsschauplatz zu beobachten glaubt. 1230 Entschieden gegen die Annahme eines fo e d u s mit den Sweben etwa Thompson, Hydatius, 160: «They (seil, the Sueves) were never the federates of Rome, never recei-

232

V. Die Reichspolitik des Aëtius

punkte kämen die Jahre 432/33, 437/38 und 452 bzw. 454 in Betracht. Der W ortlaut bei H ydatius läßt Spielraum für Interpretationen, andererseits weisen die Informationen, die er uns gibt, auf intensivierte diplomatische Kontakte seit den 430er Jahren hin, die nicht nur die örtlichen Bischöfe1231 und von Aëtius ausgesandte Emissäre wie Censorius mit einbezogen, sondern auch den kaiser­ lichen H of in Ravenna selbst. Warum sollte am Ende solcher Verhandlungen etwas anderes gestanden haben als ein irgendwie geartetes foedus? Indirekt spricht für eine solche Weiterentwicklung des bilateralen Verhältnisses auch die augenscheinliche Stabilisierung des swebischen Königtums in den 430er und 440er Jahren. N och 429 hatte ein gewisser Heremigarius auf eigene Faust einen - allerdings erfolglosen - Feldzug gegen die Wandalen Geiserichs unterneh­ men können.1232 Später hören w ir von derartigen Aktionen swebischer optima­ tes nichts mehr. Man kann hier also denselben Prozeß beobachten wie bei an­ deren germanischen gentes: D urch die Schaffung von immer intensiveren Kontakten mit dem Reich erfuhr das swebische Königtum eine Aufwertung, die dann wiederum mittelfristig in einer Stabilisierung des ganzen gentilen Ver­ bandes zu Buche schlagen konnte. N u r das falsche Kalkül Rechiars hat diese Entwicklung, deren Initiierung man Aëtius persönlich zuschreiben kann, abge­ schnitten.

3.2 N ordafrika

Anders als im Falle Spaniens verfügen w ir für die afrikanischen Provinzen des Weströmischen Reiches über viele, vor allem aber verschiedenartige Quellen, die uns von den dortigen Ereignissen in der ersten Hälfte des fünften Jahr­ hunderts berichten. Während wir zum Beispiel auf der Iberischen Halbinsel für den fraglichen Zeitraum neben dem groben Verlauf der (Kriegs-)Geschichte nur das H andeln weniger Aristokraten oder Bischöfe verfolgen können,1233 sind wir in Nordafrika diesbezüglich besser informiert, eine Tatsache, die wir nicht zuletzt der regen literarischen Produktion des Kirchenvaters Augustinus verdanken.

ved Roman subsidies, and certainly never fought in the interests of the emperors, far away in Rome or Ravenna.» Ebenso Violante Branco, St. Martin of Braga, 72ff. Für den Abschluß eines foedus mit den Sweben bereits 432 tritt Zecchini, Aezio, 189 ein; Gillett, Birth of Ricimer, 382ff. vermutet Gleiches sogar schon für das Jahr 418. 1231 Eine besondere Tätigkeit priszillianistischer Bischöfe für die Sweben läßt sich in diesem Zusammenhang nicht nachweisen; siehe C. Cardelle de Hartmann, in: Koller/ Laitenberger, Suevos, 81-104. 1232 Hyd. chron. 90 (s. a. 429). 1233 Hierzu Thompson, Suevic Kingdom, 178ff.

3. Aëtius’ Sorge für die anderen Regionen des Reiches

233

Nordafrika war zwar von den Folgen der Invasion von 406/07 verschont worden; dennoch befand sich das Land Ende der 420er Jahre in einer prekären Situation. Langfristige Fehlentwicklungen waren hierfür ebenso verantwortlich wie aktuelle Probleme.1234 So befand sich seit dem Beginn des vierten Jahrhun­ derts das afrikanische Christentum durch das donatistische Schisma in einer Dauerkrise, die von Zeit zu Zeit - besonders durch politische Aufstände und soziale Bewegungen wie die der Circumcellionen1235 - neu angefacht wurde. Gerade in der Zeit unmittelbar vor der Wandaleninvasion von 429 hatte der Staat sein Vorgehen gegen die Donatisten mit Hilfe des orthodoxen Klerus und unter ausdrücklicher Zustimmung des Augustinus - verschärft.1236 Eine Lösung des Problems war dennoch nicht in Sicht. Zu den innerkirchlichen Streitereien kam hinzu, daß die Sicherheitslage der afrikanischen Provinzen trotz der Tatsache, daß sie von den Germanen bisher verschont worden waren, keineswegs zufriedenstellend war. Man hatte nämlich seine eigenen Barbaren vor der Haustür: Seit diokletianischer Zeit setzte an den Grenzen des Reiches eine Entwicklung ein, die den Bereich der römisch geprägten Kulturzone immer mehr zugunsten berberischer Kleinreiche ein­ schränkte.1237 Dieser Prozeß hat die ganze Spätantike fortgedauert; auch durch die wandalische Herrschaft seit 429 und die byzantinische seit 534 konnte er allenfalls gebremst, nicht aber gestoppt werden. Wir kennen eine ganze Reihe von lokalen berberischen Herrschern, die sich das zunehmende Erlahmen der römischen H errschaftsstrukturen zunutze machten und - ganz wie ihre ger­ manischen Kontrahenten in Gallien und Spanien - deren Restbestände ver­ einnahmten. D er afrikanische imperator Masties aus dem Aurès-Gebirge ist hierfür ein treffliches Beispiel.1238 Während sich auf diese Weise an den Grenzen der Kulturzone das eigent­ liche «Ende» der afrikanischen Spätantike unaufhaltsam, aber wenig beachtet, vollzog, fügten die Verantwortlichen in Ravenna und Karthago den religiösen

1234 Zur Lage der afrikanischen Provinzen am Vorabend der wandalischen Invasion siehe u. a. Diesner, Untergang, 79ff.; dens., Vandalenreich, 3Iff.; Clover, Geiseric the statesman, 15ff. u. Morgenstern, Briefpartner, 135ff. 1235 Zu den Circumcellionen u. a. H.-J. Diesner, WZHalle XI/10, 1962, 1329-1338; E. L. Grasmück, Coercitio, 1964; E. Tengström, Donatisten und Katholiken, 1964, bes. 24ff.; CI. Lepelley, AntAfr 15, 1980, 261-271; Morgenstern, Briefpartner, 137ff. u. Ru­ bin, Mass movements, 156 ff. 1236 Diesner, Untergang, 27ff. 1237 Courtois, Vandales, 65ff. sowie Diesner, Untergang, 56ff. u. 156ff. Vgl. allerdings die Einschränkungen von P.Salama, in: R. Chevallier (Hrsg.), Mélanges d’archéologie et d’histoire offerts à André Piganiol, 1966, 1292-1311. 1238 Die Inschrift bei J. Carcopino, REA 46, 1944, 94 f. Dazu aus jüngerer Zeit RA. Février, AntAfr 24, 1988, 133-147 u. P.Morizot, AntAfr 25, 1989, 263-284.

234

V. Die Reichspolitik des Aëtius

und sozialen Spannungen dieser Diözese noch politischen H ader hinzu. Schon im vierten Jahrhundert hatten zahlreiche Aufstände das Potential, über das ein comes Africae im Ernstfall verfügen konnte, eindrucksvoll unter Beweis ge­ stellt.1239 U nter H onorius und Valentinian III. kam es nun zu weiteren militäri­ schen Auseinandersetzungen, die für die Kaiser in Ravenna jedesmal existenz­ bedrohend waren, denn die Lebensmittellieferungen aus diesem Teil des Reiches waren unverzichtbar für Italien, insbesondere für die Versorgung der Stadt Rom. So stellte sich also die allgemeine Lage dar, als im Jahre 427/28 der Bürger­ krieg zwischen dem gerade installierten Regime Valentinians III. in Ravenna und dem comes Africae Bonifatius ausbrach. Keine unmittelbare, aber eine mit­ telbare Folge dieser Auseinandersetzung stellte die Invasion Geiserichs in N ordafrika 429 dar. Da die Ereignisse bis zum ersten foedus der Römer mit den Wandalen 435 bereits in anderem Zusammenhang ausführlich behandelt worden sind, können wir uns hier auf die Rekapitulierung der notwendigsten Fakten beschränken.1240 Geiserich hatte im Mai 429 die Meerenge von Gibraltar überschritten, zu einem Zeitpunkt, als Bonifatius von der Regierung schon wieder begnadigt und in sein Amt eingesetzt w orden war. Dennoch war die römische Militär­ verwaltung durch die zurückliegenden Auseinandersetzungen offenbar so para­ lysiert, daß sie den Vormarsch der angeblich 80.000 Menschen nach O sten nicht aufhalten konnte. Im Frühjahr 430 hatten die Invasoren das heutige Tu­ nesien erreicht. H ier entwickelten sich in den folgenden Jahren wechselvolle Kämpfe, in deren Verlauf es Bonifatius weder allein noch mit Hilfe eines oströmischen Heeres unter dem General Aspar gelang, die Wandalen wieder zu vertreiben. D er italische Bürgerkrieg von 432/33 tat ein übriges, um die Lage der Wandalen zu stabilisieren, obwohl diese keineswegs in bester Ver­ fassung waren. Erst als Galla Placidia in Italien geschlagen war, und damit Aëtius endlich fest im Sattel saß, konnte man daran gehen, den Krieg in N o rd ­ afrika zu beenden. Aspar wurde mit dem Konsulat für 434 geehrt und sodann mit seinem H eer nach Hause entlassen. Am 11. Februar 435 schließlich wurde von dem kaiserlichen Emissär Trigetius ein foedus mit Geiserich abgeschlossen; es war das erste mit den Wandalen, seit sie um die Jahreswende 406/07 den Rhein überschritten hatten.

1239 Man denke etwa an die Aufstände des Domitius Alexander 308/10, des Firmus 372/74 und des Gildo 397/98. Aus dem 5. Jh. wäre noch die Revolte des Heraclianus 413 zu nennen. 1240 Siehe hierzu im Kapitel «Aëtius’ politischer Weg im Machtgefüge des Weströmi­ schen Reiches» S. 50ff. mit den entsprechenden Quellen- und Literaturverweisen.

3. Aëtius’ Sorge fü r die anderen Regionen des Reiches

233

Der Inhalt des Vertrages, der 435 in H ippo Regius (Bône) geschlossen w ur­ de, ist in der Forschung um stritten.1241 Sicher ist, daß den Wandalen bestimmte Territorien in Nordafrika ad habitandum überlassen w urden.1242 Es handelte sich hierbei um die Provinzen Mauretania Sitifensis und Num idia sowie um Teile der Africa Proconsularis.1243 Die Tatsache, daß die landwirtschaftlich wertvollsten Gebiete im Medjerda-Tal in römischer H and verblieben, zeigt, daß auch Geiserich nach den langen Kriegsjahren zu Zugeständnissen genötigt war.1244 Offensichtlich hat er die Regelung mit Trigetius nie anders betrachtet als eine Etappe auf dem Weg nach Karthago.1245 Schon in den Jahren nach 435 erfahren wir von Plünderungszügen zur See1246 und katholikenfeindlichen Aktionen im Herrschaftsbereich der Wandalen,1247 Zeichen immerhin für die weiterhin angespannte Lage jenseits des Mittelmeeres. Am 19. O ktober 439 erfolgte dann der Paukenschlag, als sich Geiserich - für die Zeitgenossen völlig überraschend - der Stadt Karthago bemächtigte und eine große Offensive ge­ gen das Reich in Gang setzte.1248 Die Eroberung der M etropole Nordafrikas war ein epochales Ereignis. E rst­ mals war ein barbarischer Heerkönig im Besitz einer antiken Weltstadt, wohl der größten des Westreichs nach den Kaiserresidenzen Rom und Mailand. Im Gegensatz zu anderen reges, wie zum Beispiel Theoderich I. in Toulouse, ope­ rierte Geiserich nun nicht mehr in peripheren, von der strategischen Wichtig­ keit her zweitrangigen Räumen; er saß vielmehr im H erzen des Reiches, von wo aus er sämliche Kommunikationslinien auf dem Mittelmeer, einschließlich derer zwischen Ravenna und Konstantinopel, beliebig stören konnte. Damit 1241 Zum Trigetiusvertrag und seiner Interpretation Schmidt, Wandalen, 64 ff.; Gau­ tier, Genséric, 184 f.; Courtois, Vandales, 169 ff.; Stein, Bas-Empire, 322; Sirago, Galla Placidia, 292f.; Diesner, Untergang, 49f. u. 181 f.; ders., Vandalenreich, 53ff.; Clover, Geiseric the statesman, 53 ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 241 f. mit Anm. 121; Demougeot, Formation de l’Europe, 510; Zecchini, Aezio, 168 ff.; Ausbüttel, Verträge, llf . u. Schulz, Völkerrecht, 93 f. 1242 Prosp. chron. 1321 (s. a. 435): Fax facta cum Vandalis data eis ad habitandum Africae portione [per Trigetium in loco Hippone III idus Fehr.J; Cassiod. chron. 1225 (s. a. 435): His conss. pax facta cum Vandalis data eis ad habitandum Africae portione. 1243 Hierzu Courtois, Vandales, 169f. mit Diskussion der schwierigen Quellenlage. 1244 Diesner, Untergang, 49 u. Clover, Geiseric the statesman, 58 ff. 1245 Clover, Geiseric the statesman, 64. 1246 Prosp. chron. 1330 (s. a. 437) u. Prosp. chron. 1332 (s. a. 438). Dazu Giunta, Genserico, 45f. u. Clover, Geiseric the statesman, 60ff. 1247 Prosp. chron. 1327 (s. a. 437) u. 1329 (s. a. 437). 1248 Hyd. chron. 115 (s. a. 439); Prosp. chron. 1339 (s. a. 439); Marcell. chron. s. a. 439; Chron. Gail. 452, 129 (s. a. 444); Chron. Gail. 511, 598; Cassiod. chron. 1233 (s. a. 439) u. Chron. Pasch, s. a. 439 (Dindorf). Dazu Giunta, Genserico, 46ff.; Sirago, Galla Placidia, 293ff.; Clover, Geiseric the statesman, 65ff.; Diesner, Vandalenreich, 56ff.; Oost, Galla Placidia Augusta, 258 ff. u. Zecchini, Aezio, 171 ff.

236

V. Die Reichspolitik des Aëtius

waren die Wandalen zu einem Sicherheitsproblem für den gesamten orbis Ro­ manus geworden, nicht mehr nur für Valentinian III. Es stellt sich die Frage, warum Geiserich im H erbst 439 zu seiner über­ raschenden Offensive ansetzte. Zunächst ist auffallend, daß der Beginn seiner Aggression in etwa mit dem Friedensschluß zwischen Aëtius und Theoderich I. in Gallien zusammenfällt.1249 N un wird durch unsere Quellen ein direkter Z u­ sammenhang beider Ereignisse nicht explizit hergestellt.1250 Andererseits gibt es viele Hinweise darauf, daß er existiert. Wir wissen von Jordanes, daß zu einem bestimmten, von ihm nicht präzisierten Zeitpunkt ein Heiratsbündnis zwischen Geiserich und dem Westgotenkönig vereinbart worden war. Später allerdings platzte das Abkommen, weil die Tochter Theoderichs I. einer Verschwörung verdächtigt wurde. Man löste die Beziehung zu dem wandalischen Thronfolger Hunerich, verstümmelte sie grausam und schickte sie zu ihrem Vater nach Hause zurück.1251 Diese Episode kann nicht nach dem Jahre 442 stattgefunden haben, da zu diesem Zeitpunkt die Verlobung Hunerichs mit der Kaisertochter Eudocia auf den Weg gebracht wurde, der Sohn Geiserichs also schon wieder frei gewesen sein muß. Am besten paßt sie in die 430er Jahre, als die traditionell eigentlich nicht einander freundlich gesinnten Westgoten und Wandalen gemein­ same - und dies heißt antirömische - Interessen teilten. Auch die Kaperfahrten der Wandalen nach 435 bekommen in diesem Zusammenhang einen Sinn. D er Friedensschluß Theoderichs I. mit Aëtius wurde von Geiserich offenbar als Bruch des westgotisch-wandalischen Bündnisses aufgefaßt. D er Interessenaus­ gleich der beiden Vertragspartner ließ für ihn selbst in der Zukunft nichts Gutes erwarten, und überhaupt: Die Auszeichnung durch ein Heiratsbündnis mit dem «starken Mann» des Westreichs zeigte, daß Ravenna von nun an wieder auf die gotische Karte setzte, eine Hervorhebung des balthischen Königshauses, die für alle anderen Heerkönige, vor allem aber für diejenigen, die wie Geiserich noch nicht saturiert waren, nicht hinnehmbar war. Die Offensive von 439 gegen Karthago diente also nicht zuletzt dazu, mit Theoderich I. gleichzuziehen und dieselbe Beachtung durch das Reich zu erlangen wie er.1252

1249 Siehe etwa Hyd. chron. 115 (s. a. 439) [Eroberung von Karthago] u. 117 (s. a. 439) [Frieden mit den Westgoten] bzw. Prosp. chron. 1338 (s. a. 439) [Frieden mit den Westgoten] u. 1339 (s. a. 439) [Eroberung von Karthago]. 125° w j e jn deren Beziehungen zur urhs aetema nicht so stark waren wie die der altadeli­

1476 Weber, Albinus, 480f. u. 485f. Die größere Bedeutung der Familienreputation gegenüber der fachlichen Eignung betont Chastagnol, Le sénateur Volusien, 246 im Falle der frühen Karriere des Senators Volusianus (gest. 437): «Cette ascension rapide, plus qu’à ses mérites, est due sans conteste à la faveur impériale et à l’éclat de sa fa­ mille.» 1477 Dazu allgemein Barnish, Transformation and Survival, 130ff. 1478 Sowohl die Decier als auch die Anicier - aber auch verschiedene andere Ge­ schlechter - hatten (Verwandtschafts-)Beziehungen jenseits der Alpen; dazu ebd., bes. 134. Inwieweit solche Familienbande in der politischen Praxis von Bedeutung waren, ist allerdings umstritten; siehe hierzu R. W. Mathisen, in: Drinkwater/Elton, Fifth-century Gaul, 236ff. und bes. seine Schlußfolgerung, 237: «These conclusions would seem to contradict some recent suggestions about the ties between Gaul and Italy in the fifth century. The idea that there was a strong Gallic family element in the Italian aristocracy which was both cultivated and maintained probably can be put to rest [...].» - Zu den afrikanischen Beziehungen der Decier Weber, Albinus, 493 ff. 1479 Dazu die detaillierten Studien von Schäfer, Weström. Senat, 149 ff., die allerdings den Stand der Gotenzeit wiedergeben. Zur Histria et Venetia Cracco Ruggini, Anicii, 75 ff. (unter Bezug auf die Anicier). Allgemein zu den Senatoren in Oberitalien [Cracco] Ruggini, Economia e società; zum Hinterland Roms Barnish, Pigs, Plebeians and Po­ tentes. 1480 Barnish, Transformation and Survival, 133.

4. Der römische Senat im fünften Jahrhundert n. Chr.

283

gen Geschlechter, vor allem hier zu finden sind.1481 Die Konzentration senatorischen Grundbesitzes um die Residenzen läßt sich aber auch dadurch erklären, daß deren Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten gewährleistet sein mußte. Gerade in bezug auf die Fleischversorgung Roms können w ir aufgrund der relativ guten Quellenlage die damit zusammenhängenden Erfordernisse und Probleme gut verfolgen.1482 Ü ber die Verwaltung der italischen Provinzen oder ziviler Hofämter wie der Prätorianerpräfektur für Italien war es Senatoren möglich, quasi amtlich ihre eigenen Interessen zu verfolgen. F. M. Ausbüttel hat diesbezüglich Beispiele ge­ sammelt, so etwa den Fall der Familie Cassiodors, die - seit Generationen in Lucania et Bruttium heimisch - mehrfach den Posten des corrector dieser Pro­ vinz innehatte. D urch Dienst in der Reichsbürokratie war es um so besser mög­ lich, die Pflichten eines Patrons gegenüber der Heimatregion zu erfüllen.1483 Das gemeinsame Interesse der Aristokratengeschlechter konnte dabei anschei­ nend so weit gehen, daß man sich gegenseitig vor übermäßig empfundenen Be­ lastungen schützte, wenn man durch ein A m t dazu in der Lage war.1484 Doch auch ohne die Verwaltung öffentlicher Ämter war die Berücksichtigung der senatorischen Anliegen gewährleistet. G.A . Cecconi hat mit Recht darauf hinge­ wiesen, daß die vom Adel ausgeübten vielfältigen «forme patronali» im Italien des fünften Jahrhunderts eine vitale G röße darstellten, mit denen eine Balance herzustellen eine ständige Aufgabe der Zentralmacht war.1485 Während er den Zugriff der Aristokratie vor allem auf die Städte und ihr Umland untersuchte, hat Barnish für den Bereich des kirchlichen Lebens gezeigt, wie mächtige Sena­ toren durch die Einflußnahme auf Bistumsbesetzungen ihre informelle Macht­ position wirksam zu stärken vermochten: «In provincial, if not in papal, elec­ tions, we may see the senators as serving and using their clients among the lesser

1481 Dazu Schäfer, Weström. Senat, 170ff. u. 291 ff., der den Hauptgegensatz inner­ halb des Adels zur Zeit der Gotenherrschaft zwischen alten Geschlechtern und homines novi angesiedelt sieht. 1482 Dazu u. a. A. Chastagnol, RH 210, 1953, 13-22; P. Herz, Studien zur römischen Wirtschaftsgesetzgebung, 1988, 277ff. u. Barnish, Pigs, Plebeians and Potentes. Allge­ meines zur Lebensmittelversorgung Roms in der Spätantike bei Tones, Later Roman Empire, 695 ff. 1483 Ausbüttel, Verwaltung, 122ff., bes. 124 mit Anm. 35. Cassiodor etwa hat sich noch als Prätorianerpräfekt für eine steuerliche Entlastung zugunsten von Lucania et Bruttium eingesetzt; dazu Cassiod. var. 11,39,5 (Fridh). Zu den Spielräumen der Statt­ halter im Italien des 5.Jhs. siehe auch zusammenfassend G.A.Cecconi, AntTard 6, 1998, 170ff. 1484 Boëthius rühmt sich dessen; siehe Boeth. cons. 1,4,13. Dazu Schäfer, Weström. Senat, 146. 1485 Cecconi, Governo imperiale, 107ff., zusammenfassend ebd., 171 ff. Zum Begriff «forme patronali» und seiner Definition durch Cecconi ebd., 134.

284

VI. Aëtius und die italische Senatsaristokratie

aristocrats in a way which paralleled their secular patronage.»1486 Das 498 be­ ginnende Laurentianische Schisma ist hierfür ein instruktives Beispiel.1487 Die schweren territorialen Verluste, die das Weströmische Reich in den er­ sten Jahrzehnten des fünften Jahrhunderts erlitten hatte, zwangen die senatorischen Familien, sich stärker auf ihren Besitz in Italien zu konzentrieren. Dies führte dort streckenweise zu einer Intensivierung der Landnutzung, w enn­ gleich diese - etwa durch die Kaperfahrten der Wandalen - stets Gefährdun­ gen ausgesetzt war.1488 Selbstverständlich waren die Aristokraten bemüht, das ihnen Verbliebene vor dem Zugriff des Staates zu schützen, um ihre eigenen, aus der Pflege der Reputation erwachsenden Aufgaben erfüllen zu können. Die Jahrzehnte bis zum Ende des westlichen Kaisertums sind deshalb von verschie­ denartigen Auseinandersetzungen um die Abschaffung von Privilegien, den Er­ laß ordentlicher und außerordentlicher Steuern und Abgaben, die Gestellung von Rekruten usw. bestimmt. Freilich hatte sich der Staat schon unter Kaiser H onorius durch eine fahrlässige Gesetzgebung in eine äußert schlechte Positi­ on gerade gegenüber den kräftigsten Steuerzahlern gebracht. Galla Placidia hatte diesen Kurs nach ihrer Rückkehr nach Italien 425 nicht revidiert, und es war völlig offen, wie die militärischen Herausforderungen durch die Barbaren allein schon finanziell gemeistert werden sollten.1489 Es war dies eine der vor­ dringlichsten Fragen, mit der Aëtius 439 bei seiner Rückkehr aus Gallien kon­ frontiert war. Zu ihrer Lösung brauchte er den Senat. N ach allem, was wir bisher festgehalten haben, ist schon jetzt deutlich, wie groß die H ürden für eine Verständigung waren.

4.4 Zusammenfassung Der römische Senat - besser: die römische Senatsaristokratie - war um 440 eine durchaus ernstzunehmende politische Größe. Gewiß, die Grundvorausset-

1486 Barnish, Transformation and Survival, 139. 1487 Die Rolle des senatorischen Adels im Laurentianischen Schisma ist vielfach unter­ sucht worden. Ich nenne nur Ch. Pietri, MEFRA 78, 1966, 123-139; Schäfer, Weström. Senat, 212ff. u. E.Wirbelauer, Zwei Päpste in Rom, 1993, 5Iff. 1488 Barnish, Pigs, Plebeians and Potentes, der die Perspektiven adeliger Grund­ besitzer des 5.Jhs. anhand einer Villa bei S. Giovanni di Ruoti in Lukanien beleuchtet, weist auf diesen zweifachen Befund hin: Intensivierung der Landwirtschaft in Italien (ebd., 168), gleichzeitig Rückzug ins italische Landesinnere aufgrund neuer Bedrohun­ gen von Seeseite her (ebd., 164 u. 168). Die zunehmende Bedeutung Italiens nach dem Verlust Nordafrikas betont auch Ausbüttel, Verwaltung, 119. 1489 Zur Steuergesetzgebung des Honorius von 412 und den Versuchen, sie zugunsten des Staates zu korrigieren siehe unten S. 289 ff.; dazu ausführlich Gera/Giglio, Tassazione dei senatori, 53 ff. u. Giglio, Tardo impero, 117 ff.

4. Der römische Senat im fünften Jahrhundert n. Chr.

285

Zungen seiner Existenz, Kaiser und Reich, waren in einem derartigen Wandel begriffen, daß mittelbare Auswirkungen auf den Charakter des Gremiums un­ umgänglich waren. Dennoch funktionierten die alten Mechanismen des struk­ turellen Machterhalts noch; die Ressourcen, die das Wechselspiel von Reputa­ tion, Tradition und politischer oder informeller Macht in Gang hielten, waren noch nicht aufgebraucht. Voraussetzung für die Pflege des eigenen, überkom ­ menen Lebensstils war aber, daß man dem Staat, der gegen eine immer größere Zahl von Herausforderungen zu kämpfen hatte, die begrenzten Mittel streitig machen m ußte.1490 Es ist ein wesentlicher G rund für die Schwäche des Westreichs gewesen, daß es dem Kaiser und seinem H of nicht gelungen ist, die «élites dirigenti»1491 in Italien dauerhaft an sich und seine Interessen zu binden. Statt dessen nahm er es hin, daß weite Teile des Landes außerhalb der großen Residenzen durch die Patronatsnetze der Aristokraten faktisch seiner direkten Kontrolle entzogen wurden. Zwar erklärten sich manche Senatoren gerade aus den bedeutenderen Familien dazu bereit, prestigeträchtige Zivilämter in Rom und Ravenna zu übernehmen, und der Kaiser versuchte auch, diese viri illustres bei der Stange zu halten, indem er sie beispielsweise durch das ius sententiam dicendi inner­ halb des Senates heraushob und ihnen so zusätzliche Reputation verschaffte.1492 Dennoch scheint es zu einer kontinuierlichen Einbindung des Senats in die Zwecke des Staates nicht gekommen zu sein. Die Ausdifferenzierung der röm i­ schen Führungsschicht in verschiedene Interessengruppen (barbarische Militär­ aristokratie, nicht dauerhaft im Reichsdienst stehende viri illustres, regional ge­ bundene potentes) setzte sich fort. Eine Überbrückung der sich vertiefenden Gegensätze im Sinne einer dem Reich konsequent dienenden Politik war im­ mer schwieriger möglich und führte nur zu punktuellen Erfolgen ohne durch­ schlagende W irkung.1493

149° £)je Belastung der Senatoren durch Lebensmittelspenden und Spiele war in der Tat gewaltig. Barnish, Transformation and Survival, 141 spricht in diesem Zusammen­ hang von «