Athlet und Polis im archaischen und frühklassischen Griechenland 9783666252372, 3525252374, 9783525252376

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Athlet und Polis im archaischen und frühklassischen Griechenland
 9783666252372, 3525252374, 9783525252376

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V&R

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 138

Vandenhoeck & Ruprecht

Christian Mann

Athlet und Polis im archaischen und frühklassischen Griechenland

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Hans-Joachim Gehrke

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mann, Christian: Athlet und Polis im archaischen und frühklassischen Griechenland / Christian Mann. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Hypomnemata ; Bd. 138) Zugl. : Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1999 ISBN 3-525-25237-4

© 2001, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere ftlr Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Hubert & Co., Göttingen Einbandkonzeption: Markus Eidt, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort 1. Einleitung

9 11

1.1 Der griechische Athletismus in der Forschung: der Einfluß der modernen Olympiabewegung 13 1.2 Der Athletismus in der griechischen Kultur

22

1.2.1 Spezifika des griechischen Sports

22

1.2.2 Athletismus und panhellenisches Bewußtsein

24

1.2.3 Die Wettkämpfe: Olympia und andere periodische Sportfeste

26

1.2.4 Der Sieger und sein Lohn: Siegeskränze und Sachpreise als symbolisches Kapital 28 1.3 Die pòlis und der Athletismus

2. Die griechische Agonistik: spezifische Quellenprobleme

30

40

2.1 Epinikion

40

2.2 Agonistische Siegesmonumente

49

2.3 Die Olympionikenliste

59

3. Athen 3.1 Kylon und Phrynon

63 64

3.2 Der Athletismus in der Solonischen Gesetzgebung: Die Regelung der Prämien für Sieger bei panhellenischen Agonen 68 3.2.1 Die Quellenproblematik

70

3.2.2 Neueinrichtung oder Verringerung der Prämien?

74

3.2.3 Interpretation der Regelung im Kontext der Solonischen Gesetzgebung

77

3.3 Der verschenkte Olympiasieg: Kimon und die Peisistratiden

82

3.4 Megakles und die Bedeutung der hippotrophia

86

3.5 Alkibiades' hippotrophia

102

3.6 Autolykos und das Gymnasion

113

3.7 Zusammenfassung: „Civic athletics" in Athen

118

6

Inhalt

4. Sparta

121

4.1 Gymnische Disziplinen

121

4.1.1 Spartanische Olympioniken in gymnischen Disziplinen

121

4.1.2 Die Entwicklung der Gymnastik in Sparta

124

4.1.2.1 Die klassische und nachklassische Tradition zur spartanischen Agonistik

127

4.1.2.2 Tyrtaios, Elegie 9 G.-P. = 9 D.

132

4.1.2.3

136

Weihgeschenke

4.2 Hippische Disziplinen

139

4.3 Die spartanische Agonistik vor dem Hintergrund der politisch-sozialen Entwicklung 143 4.3.1 Charakteristika der Gesellschaft Spartas in archaischer Zeit

143

4.3.2 Umbrüche in der Zeit des Zweiten Messenischen Krieges

147

4.3.3 Die Einrichtung des Ephorats

150

4.3.4 Soziale und ökonomische Ausdifferenzierung in klassischer Zeit 154 4.4 Zusammenfassung

5. Kroton

163

164

5.1 Statistik der Olympioniken Krotons

164

5.2 Ursachen der athletischen Erfolge Krotons

167

5.2.1 Kultische Beziehungen zwischen Kroton und Olympia?

167

5.2.2 Kroton als Olympiastützpunkt'?

170

5.2.3 Pythagoreismus, Medizin und Athletismus

171

5.3 Hypothesen zu Athletismus und Politik in Kroton

181

5.4 Zusammenfassung

190

6. Ägina

192

6.1 Einleitung

192

6.2 Pindars Oden fur äginetische Athleten

196

6.2.1 Direkter Lobpreis der pòlis

196

6.2.2 Lobpreis des Siegers

199

6.2.3 Die Geschlechter der Sieger

200

6.2.4 Die pòlis und der Sieg

202

6.2.5 Mythenerzählungen: Aiakos und die Aiakiden

204

7

Inhalt

6.3 Bakchylides'Oden für äginetische Athleten

213

6.3.1 Lobpreis der pòlis

213

6.3.2 Die pòlis und der Sieg

214

6.3.3 Lobpreis des Siegers und seines Geschlechts

214

6.3.4 Mythenerzählungen

215

6.4 Sonstige Quellen für den äginetischen Athletismus

217

6.5 Wirtschaft und Gesellschaft in Ägina

220

6.6 Pindars und Bakchylides' Oden und das Selbstverständnis der Ägineten

225

6.7 Athenische Trainer äginetischer Athleten

230

6.8 Sport und Siegesfeste in der Gesellschaft Aginas

234

7. Die Tyrannen Siziliens

236

7.1 Das agonistische Engagement sizilischer Tyrannen

236

7.2 Die Epinikien für Hieron

248

7.2.1 Pindar

248

7.2.1.1 Anlaß, Datierung, Gattungszugehörigkeit, Aufführungskontext

248

7.2.1.2 Direkter Lobpreis Hierons

253

7.2.1.3 Lobpreis der pòlis

258

7.2.1.4 Der Sieg als Leistung für die pòlis

258

7.2.1.5 Thematisierung des persönlichen Schicksals

260

7.2.1.6 Nahbeziehung des Siegers zu den Göttern

260

7.2.1.7 Die Übergänge zu den Mythenerzählungen

261

7.2.1.8 Der Inhalt der Mythenerzählungen

262

7.2.1.9 Weitere Formen der Herosangleichung

267

7.2.2 Bakchylides

268

7.2.2.1 Direkter Lobpreis Hierons

269

7.2.2.2 Lobpreis der pòlis

271

7.2.2.3 Schutz von seiten der Götter

271

7.2.2.4 Mythenerzählungen

271

7.3 Die Epinikien für Theron

274

7.3.1 Direkter Lobpreis Therons

275

7.3.2 Lobpreis der pòlis

277

8

Inhalt

7.3.3 Nahbeziehung des Siegers zu den Göttern

277

7.3.4

Die Übergänge zu den Mythenerzählungen

278

7.3.5

Der Inhalt der Mythenerzählungen

278

7.4 Die Tyrannen in Oden für andere Bürger ihrer pòlis

281

7.5 Agonistik und tyrannische Herrschaft

282

7.6 Epilog: Der Delphische Wagenlenker

289

8. Schlußbetrachtung

292

Appendix: Die Epinikien des Simonides

299

Leben und Werk

299

Das Epinikion fur Astylos

300

Das Epinikion für Krios

303

Das Epinikion für Glaukos

307

Das Epinikion für Anaxilaos

308

Zusammenfassung

310

Literaturverzeichnis

312

Quellen

312

Sekundärliteratur

313

Index

338

Vorwort

Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Frühjahr 1999 vom Gemeinsamen Ausschuß der Philosophischen Fakultäten I-IV der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen wurde. Es bleibt die angenehme Pflicht, all denen meinen Dank abzustatten, die bei der Entstehung mitgewirkt haben: Professor Hans-Joachim Gehrke danke ich für die mir gewährten Freiheiten, für sein Vertrauen, seine stete Diskussionsbereitschaft und seine doktorväterliche Motivationskunst, die mir über manche kritische Phase hinweggeholfen hat. Professor Jochen Martin und Professor Bernhard Zimmermann haben das Zweit- und Drittgutachten übernommen und wichtige Hinweise gegeben. Günter Werner hat den ganzen Text in seinen verschiedenen Abfassungsstadien mehrfach einer minutiösen Lektüre unterzogen und war ein unermüdlicher und unersetzbarer Gesprächspartner in allen Fragen des antiken (und modernen) Sports. Götz Distelrath, Ulrich Gotter, Matthias Haake und Nino Luraghi haben Kapitel der Arbeit kritisch gelesen und wichtige Korrekturen und Ergänzungen beigesteuert. Der Graduiertenforderung des Landes Baden-Württemberg danke ich für das mir gewährte Promotionsstipendium, den Herausgebern der „Hypomnemata" fur die Aufnahme in diese Reihe. Der größte Dank aber gebührt meinen Eltern, die für mich während Studium und Promotion in jeder Hinsicht ein unerschütterlicher Rückhalt waren. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Freiburg, September 2000

1. Einleitung

Als Exainetos aus Akragas bei den Olympischen Spielen des Jahres 412 1 den Stadionlauf gewann, 2 blieb er in seiner Freude über den Sieg nicht allein. Bei der Rückkehr in seine Heimat empfingen seine Mitbürger ihn vor den Toren von Akragas und geleiteten ihn in einer triumphalen Prozession in die Stadt: Exainetos selbst stand auf einem Wagen, er wurde von dreihundert schimmelgezogenen Zweigespannen begleitet, die einzelne Bürger von Akragas für diese Prozession bereitgestellt hatten. Laut Diodor, unserem Gewährsmann für dieses Ereignis, hatte der Festzug noch weitere prachtvolle Elemente, auf die er jedoch nicht ausführlicher eingeht. 3 Der Empfang des Exainetos durch die Akragantiner ist nur ein Beispiel für die vielfältigen, immensen Ehren, die erfolgreichen Athleten von ihren Mitbürgern erwiesen wurden. Der Sieg bei den Olympischen Spielen oder einem anderen großen Agon wurde als eine für die Gemeinschaft der Polisbürger erbrachte Leistung angesehen, denn da der Name der Heimatstadt bei jeder Siegerehrung genannt wurde, wurde neben dem individuellen Ruhm des Sportlers auch das kollektive Prestige seiner Stadt gesteigert. Deshalb konnten heimkehrende Sieger mit einem Geschenk seitens der pòlis rechnen; zum Katalog möglicher Ehrungen zählten außerdem die Abhaltung einer großen Siegesfeier, öffentliche Speisung sowie die Zuweisung von Ehrenplätzen bei öffentlichen Veranstaltungen und Versammlungen. 4 Jedoch waren diese Ehrenbezeugungen nicht unumstritten, denn es gab auch kritische Stimmen gegenüber dem Wert sportlicher Erfolge. Beispielsweise nennt der spätarchaische Lyriker Xenophanes von Kolophon in

1 Alle auf die Antike bezogenen Zeitangaben meinen, sofern nicht anders angegeben, die vorchristliche Zeit. 2 MORETTI 1957, Nr.346; ein Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur, in welches die den Kern der Fragestellung betreffenden Arbeiten aufgenommen sind, findet sich am Ende der Arbeit; dagegen werden Werke, die nur für einen Einzelaspekt relevant sind, in den j e w e i l i g e n Fußnoten vollständig zitiert. 3

Diod. 13, 82, 7.

Eine Zusammenstellung der verschiedenen Ehrungen inklusive der Quellenangaben liefert BUHMAKN 1972, 53ff.

12

Einleitung

einer berühmten Elegie5 verschiedene Ehrungen für siegreiche Athleten, betont aber, daß diese die falschen Adressaten seien, denn ihre und ihrer Pferde Kraft würde der Stadt keinen Nutzen bringen. Vielmehr seien Weise wie er selbst, die der pòlis durch gute Ratschläge zur eunomia verhelfen wollten, solcher Ehrenbezeugungen würdiger. Die Texte von Diodor und von Xenophanes fuhren unmittelbar an die Fragestellung der vorliegenden Arbeit heran. Sportliche6 Wettkämpfe von hohem Organisationsgrad und die große Statusrelevanz sportlicher Leistungsfähigkeit stellen ein charakteristisches Phänomen der griechischen Kultur dar. Den wesentlichen Bezugsrahmen für sportliche Erfolge bildete die pòlis, die ihrerseits - als politische Organisation in Form einer Bürgergemeinschaft - ein spezifisches Produkt der griechischen Kultur ist. Untersucht man beide Phänomene in ihrer Wechselwirkung, ergibt sich eine Kette von Fragen: Wie veränderte sich die Stellung eines Athleten durch einen bedeutenden Sieg? Unter welchen Umständen konnte ein Sportler seine Erfolge dazu nutzen, die eigene Position in der pòlis zu stärken, und welche Strategien wurden dabei angewandt? Vor allem aber: Welche Auswirkungen hatten Veränderungen der politischen Struktur auf das agonistische

5

F

2

GENTILI

-

PRATO

=

F

2

DIELS -

KRANZ;

Literatur:

BOWRA

1938;

MARCOVICH 1 9 7 8 ; M Ü L L E R 1 9 9 5 , 8 8 f f . ; VISA-ONDARÇUHU 1 9 9 9 , 2 2 9 f f . 6

Ein Wort zu der im folgenden verwendeten Begrifflichkeit: In der wissenschaftlichen Literatur zum Thema wird das Wortfeld 'Sport' vielfach vermieden. Dafür gibt es meiner Meinung nach keinen zwingenden Grund, da der Terminus allgemein genug ist, um auf die hier behandelten Phänomene der griechischen Welt angewendet werden zu können. Deswegen werde ich ihn im weiteren häufiger benutzen. Die gebräuchlichsten Begriffe in der Literatur sind 'Gymnastik', 'Athletismus' oder 'Athletik' sowie 'Agonistik' bzw. ihre Pendants in anderen Sprachen. Alle diese Begriffe sind griechischen Ursprungs: Γυμνός bedeutet 'nackt', hängt also mit der griechischen Sitte zusammen, nackt Sport zu treiben; die Wörter άθλος und άγων bezeichnen den Wettkampfpreis bzw. den Wettkampf im weitesten Sinne. Entsprechend werden die Begriffe auch in den folgenden Ausführungen gebraucht. Während ich mich mit dem Begriff 'Gymnastik' sinnigerweise allein auf die gymnischen Disziplinen beziehe, schließe ich in die Bedeutung von 'Sport', 'Athletismus' und 'Agonistik' gymnische und hippische Disziplinen mit ein; unter einem Athleten verstehe ich also auch einen Pferde- oder Gespannbesitzer. Dies nimmt Rücksicht auf die antike Wahrnehmung des Athletismus und das Selbstverständnis der Athleten; in dieser Hinsicht sind die Unterschiede zwischen beiden Disziplingruppen weit geringer, als wir es aus heutiger Sicht erwarten würden. Für genauere Ausführungen zur griechischen Terminologie s. JÜTHNER - BREIN 1965, 9ff.

13

Einleitung

Klima in der betreffenden pòlis? In welchen sozialen Gruppen wurde der Wert sportlicher Erfolge hoch-, in welchen geringgeschätzt? Bevor ich auf dieses Fragenbündel im Schnittpunkt von Athletismus und Polisentwicklung zurückkomme, sollen die beiden Phänomene vorgestellt werden. Dabei soll zum einen auf die bisherige Forschung eingegangen werden, um die Position des eigenen Ansatzes in der wissenschaftlichen Diskussion deutlich zu machen; zum andern soll durch eine Betrachtung der beiden Phänomene vor dem Hintergrund der griechischen Kultur das Feld für die Fragestellung bereitet werden.

1.1 Der griechische Athletismus in der Forschung: der Einfluß der modernen Olympiabewegung Die Beschäftigung mit dem griechischen Athletismus wurde seit dem letzten Jahrhundert wesentlich von zwei Faktoren stimuliert: 1875 begannen die deutschen Olympia-Grabungen, die mit einigen längeren Intervallen bis heute andauern. 7 Von viel weiter reichender Bedeutung für die historische Erforschung des antiken Sports erwies sich aber die Olympische Bewegung der Moderne. Welch große Bedeutung den neuzeitlichen Olympischen Spielen für die Erforschung ihres antiken Vorbilds beizumessen ist, wird allein schon an der Tatsache deutlich, daß alle vier Jahre insbesondere im jeweiligen Gastgeberland der Olympiade wegen des erwachenden Interesses der Öffentlichkeit auch am antiken Sport ein immenser Ausstoß an entsprechender wissenschaftlicher Literatur zu verzeichnen ist.8 Außerdem kann auf eine Vielzahl sportgeschichtlicher Kongresse verwiesen werden, die in Olympiajahren stattzufinden pflegen und deren Publikationen in der Regel

7

Zur Grabungsgeschichte HERRMANN 1980. In der jüngsten Ausgrabungstätigkeit unter der Leitung von Ulrich SINN hat sich der Schwerpunkt auf die römische Zeit verlagert. Daß Olympia auch für diese Epoche aufschlußreiche Funde liefert, zeigt eine Bronzetafel mit einer Vielzahl von Siegerinschriften, die sich vom 1. Jahrhundert v.Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. erstrecken (U. SINN, A W 26, 1995, 155f.; EBERT 1997d; eine ausführliche Besprechung der Inschrift wird im JDAI erscheinen). 8

Beispielsweise

BENGTSON

erschienen anläßlich der Olympischen

1 9 7 1 ; BUHMANN

1 9 7 2 ; HERRMANN

A u s l a n d : HARRIS 1 9 7 2 ; PATRUCCO 1 9 7 2 .

Spiele in

1 9 7 2 ; MALLWITZ

München:

1972; daneben

im

14

Einleitung

vier Jahre später, also im nächsten Olympiajahr, erscheinen.9 Die Einflußnahme der modernen Olympiabewegung beschränkt sich jedoch nicht auf die bloße Funktion als Katalysator der Erforschung des antiken Sports, sondern sie betrifft auch die inhaltliche Ebene. Ohne die Kenntnis dieses Zusammenhangs läßt sich nicht verstehen, warum in der wissenschaftlichen Literatur - und erst recht in der öffentlichen Meinung - lange Zeit Ansichten vorherrschten, die mit den Aussagen der antiken Quellen in keiner Weise zu vereinen sind. Aus diesem Grund kann hier auf eine ausfuhrlichere Darstellung der Entwicklung der modernen Olympischen Spiele nicht verzichtet werden. Im 19. Jahrhundert erreichten im Rahmen des allgemeinen Aufschwungs des Sports athletische Wettkämpfe einen seit der Antike nicht mehr erreichten Grad an Organisation.10 Dabei konkurrierten zwei unterschiedliche Modelle. Während der Amateursport in Form des 'Gentleman-Sport', der Wettkämpfe ohne Preisgeld und nur unter gutsituierten Leuten vorsah Angehörige der Arbeiterklasse waren nicht nur durch ihre mangelnde Möglichkeit, die Mittel für die sportliche Aktivität aufzubringen, sondern sogar formell durch die Statuten ausgeschlossen - , vor allem in England Anhänger fand, galt es in den USA in verschiedenen Sportarten als selbstverständlich, daß jedermann teilnehmen durfte und hohe materielle Belohnungen ausgesetzt wurden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden von beiden Seiten Versuche unternommen, an die griechischen Sportfeste anzuknüpfen,11 jedoch gelangte man dabei nicht über eine einmalige Austragung hinaus. Erst seit 1896

9

RASCHKE 1 9 8 8 a ; COULSON - KYRIELEIS 1 9 9 2 .

10

Im folgenden stütze ich mich in erster Linie auf die Untersuchungen von David

Y O U N G ( Y O U N G 1 9 8 4 , 1 9 8 8 , 1 9 9 6 ) . D a n e b e n s e i e n M A N D E L L 1 9 7 6 , s o w i e W . DECKER -

G. DOLIANITIS - K. LENNARTZ (Hrsg.), 100 Jahre Olympische Spiele. Der neugriechische Ursprung (Katalog zur Ausstellung, Köln 1996), Würzburg 1996, erwähnt. Zur Forschungsgeschichte allgemein WEILER 1981, 2ff. " 1859 und 1870 fanden in Athen Wettkämpfe statt, bei denen hohe Geldpreise ausgesetzt wurden und deren Teilnahme für alle offen war. So gewann bei den Spielen von 1870 ein Metzger den 400-Meter-Lauf, ein Arbeiter den Ringkampf. 1875 dagegen organisierten die Anhänger des Amateursports in Athen ein Sportfest, bei dem einfache Leute nicht nur von der Teilnahme, sondern teilweise sogar vom Zuschauen ausgeschlossen waren.

Einleitung

15

gelang es den Anhängern des 'Gentleman-Sport' auf Initiative des Pierre Baron de Coubertin, eines Franzosen mit einem Faible fur die britische Sporterziehung, Olympische Spiele mit einer festen Organisation in regelmäßigen vierjährigen Abständen abzuhalten. Daß der 'Gentleman-Sport' und das in seinem Sinn organisierte Sportfest sich schließlich durchsetzen konnten, ist vor allem darauf zurückzuführen, daß de Coubertin und seine Gesinnungsgenossen auf ideologischem Gebiet die Initiative ergriffen. Dabei spielten die antiken Olympischen Spiele die Hauptrolle: Auf sie wurden die Ideale der Amateursportbewegung projiziert, und in dieser Ausprägung wurden sie als Vorbild des neuen Sportfestes in Anspruch genommen. 12 Durch diese Usurpation des antiken Sports wurde der Bewegung des Amateursports, einer de facto sehr jungen Idee, eine jahrtausendealte Tradition geschaffen, womit einerseits die Attraktivität der Normen des Amateursports in starkem Maße erhöht, andererseits aber das Bild des antiken Sports in besonderer Weise verzerrt wurde. In mehreren Fällen wurden die angeblichen Ideale des griechischen Athletismus zur Untermauerung aktueller Entscheidungen herangezogen, 13 wobei sich die von Sportfunktionären über die Antike getroffenen Aussagen kaum von dem in der wissenschaftlichen Literatur gezeichneten Entwurf unterschieden. Als Beispiele fur diese Verflechtung und das auf ihr beruhende Bild des antiken Sports seien zwei Zitate angeführt; das eine enthält eine Analyse des griechischen Sports seitens eines Funktionärs, das zweite eine generelle moralische Bewertung des Profisports durch einen Historiker: „The ancient Olympic Games...were strictly amateur...and for many centuries, as long as they continued amateur, they grew in importance and significance...Gradually, however, abuses and excesses developed...Cities tried to demonstrate their superiority...by establishing special training camps..., by recruiting athletes from other communities, and by subsidizing competitors. Special prizes

12

Im Rahmen der allgemeinen Griechenbegeisterung waren deren athletische Wettkämpfe auch schon zuvor idealisiert worden, jedoch noch nicht mit einer bestimmten Beweisabsicht (WEILER 1981, 3f.). 13 Ein drastisches Beispiel liefert der Fall von James Thorpe. Dieser hatte bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm den Fünf- und Zehnkampf gewonnen und galt als der größte Athlet der Welt. 1913 mußte er seine Medaillen abgeben, weil bekannt geworden war, daß er zuvor gegen Bezahlung Baseball gespielt, also gegen die Prinzipien des reinen Amateursports, die von den antiken Griechen begründet worden seien, verstoßen hatte; dazu YOUNG 1988, 55f.

16

Einleitung

and awards and all sorts of inducements were offered and winners were even given pensions for life. What was originally fun, recreation, a diversion, and a pastime became a business...The Games degenerated, lost their purity and high idealism, and were finally abolished."14 „When money comes in at the door, sport flies out of the window, and the Greek athletic scene thereafter [gemeint ist ab dem 4. Jahrhundert, d.Verf.] exhibits the same abuses that are becoming only too familiar to us in our big business world of so-called 'sport'." 15 Ähnliche Aussagen von Sportfunktionären und Historikern ließen sich zu Dutzenden anfuhren. Manche heute noch vielzitierten Handbücher des griechischen Sports - hier seien vor allem die Werke von Norman GARDINER genannt - 1 6 vermitteln das Bild, daß die Ideale der modernen Olympiabewegung in bestimmten Zeiten der antiken Geschichte Realität gewesen seien. Die grundsätzlichen Charakteristika des vermittelten Bildes seien hier kurz aufgeführt: 1. Bis etwa zur Zeit Pindars habe die Teilnehmerschaft bei den großen Spielen aus Aristokraten bestanden, für die es einen Verhaltenskodex von Fair-Play-Regeln gegeben habe. Für sie sei die Freude am Wettkampf edler Athleten von größerer Bedeutung gewesen als der eigene Sieg. Ferner habe die Politik keinen Einfluß auf die Spiele genommen. 2. In dieser frühen Epoche habe es keine spezielle Vorbereitung auf einzelne Disziplinen gegeben, die Steigerung der allgemeinen physischen Kapazität habe Vorrang vor dem gezielten Training einzelner Muskelpartien besessen. 3. Ab dem 5. Jahrhundert sei es zu Verfallserscheinungen gekommen: Eine neue Art von Athleten, ehrgeizige Sportler aus der Unterschicht, hätten den Sieg nicht um der Ehre willen gesucht, sondern des materiellen Gewinns wegen, den sie in Form einer Prämie von ihrer Heimatstadt oder als Sachpreis bei neu eingerichteten Agonen zu erlangen hofften. Dafür 14 A. BRUNDAGE, Why the Olympic Games?, in: USOC. Reports of the United States Olympic Committee: Games of the XIVth Olympiad, N e w York 1948, 23ff. (zitiert nach YOUNG 1984, 86). BRUNDAGE war zu diesem Zeitpunkt Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der USA. 15

HARRIS 1972, 40. HARRIS macht in diesem Buch keinen Hehl daraus, daß seine ganze Sympathie, sowohl in der Antike als auch in der Moderne, dem Amateursport gilt. 16

GARDINER 1910; ders. 1930.

Einleitung

17

seien sie bereit gewesen, unter Anleitung von Trainern und Medizinern harte Trainings- und Ernährungsvorschriften zu befolgen, was übertrainierte und auf einzelne Disziplinen spezialisierte Berufsathleten zur Folge gehabt habe. Diese Athleten seien die Fleischkolosse der schwerathletischen Disziplinen gewesen, die in der antiken Literatur so häufig kritisiert wurden. Außerdem seien nun auf dem Feld des Sports auch politische Konflikte ausgetragen worden, indem athletische Erfolge die Überlegenheit der eigenen pòlis gegenüber anderen Städten beweisen sollten. Obwohl dieses Modell einer als Verfall gedeuteten Professionalisierung keinerlei Rückhalt in den antiken Quellen findet, war es in der öffentlichen Meinung, aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion lange Zeit allgemein akzeptiert. Erst ab den 70er Jahren begann mit den grundlegenden Arbeiten von PLEKET die Entmythisierung des griechischen Sports und die Abkehr von den anachronistischen Idealisierungen des frühen griechischen Athletismus. 17 Inzwischen ist unbestritten, daß die Ideologie des 'Gentleman-Sport' zu keiner Zeit eine Entsprechung im antiken Athletismus findet. Kaum ein Motto hätte einen griechischen Sportler so erstaunen können wie der Leitsatz der modernen Olympiabewegung, die Teilnahme an einem Wettkampf sei wichtiger als der Sieg. 18 Ein antiker Athlet trat zu einem Wettkampf an, um zu gewinnen, und für dieses Ziel schöpfte er alle verfügbaren Möglichkeiten aus. Eine Niederlage wurde als Ehrverlust und Schande gewertet. 19 *

*

*

Die Widerlegung klassizistischer Vorstellungen stellt den wichtigsten Fortschritt in der jüngeren Forschung zum antiken Athletismus dar. Die Absetzung von der Ideologie der modernen Olympischen Bewegung führte jedoch bei einem Teil der Forschung dazu, daß sie den antiken Athletismus geradezu als Antithese zum Amateursportideal des 19. Jahrhunderts kon-

17

PLEKET 1974; ders. 1975, bes. 5 I f f .

Dieses Motto ist an der zentralen 'Kultstätte' der Olympischen Bewegung, einem das Herz de Coubertins beinhaltenden Block in Olympia, angebracht. 19

Z.B. Pind. P. 8, 83ff.

18

Einleitung

struierte. An erster Stelle ist hier David YOUNG ZU nennen, der in einer Reihe von Publikationen20 seine Vorstellung vom antiken Sport erläutert hat. Youngs Monographie mit dem programmatischen Titel „The Olympic Myth of Greek Amateur Athletics" gliedert sich in zwei Teile. Im ersten wird die Entstehung des von der modernen Olympischen Bewegung beeinflußten Bildes der antiken Agonistik detailliert untersucht, im zweiten stellt YOUNG seine eigene These dar, laut der die Olympischen Spiele und die anderen Agone der Antike von Beginn an von professionellen Athleten geprägt und die Hoffnung auf materiellen Gewinn der wichtigste Antrieb für antike Sportler gewesen sei.21 YOUNG hat dabei als Vergleichsbeispiel den modernen professionalisierten Sportbetrieb vor Augen. Auf Youngs Arbeiten wird an verschiedenen Stellen noch zurückzukommen sein. Zu seiner Konzeption sei hier nur erwähnt, daß er ebenso wie die Coubertianer den antiken Athletismus aus einem Blickwinkel moderner Entwicklungen zu erfassen sucht. Quellenkritische Überlegungen, wie z.B. die Frage nach der Authentizität späterer Erzählungen über berühmte Athleten, spielen in seiner Analyse folglich eine zu geringe Rolle. Darüber hinaus ignoriert YOUNG die tatsächlichen Veränderungen im antiken Athletismus und entwickelt somit ein statisches Modell, das - wie sich bei den Fallbeispielen einzelner poleis erweisen wird - die wesentlichen Phänomene nicht erklären kann. *

*

*

Eine dritte Herangehensweise an den antiken Athletismus steht in diametralem Gegensatz zu den Prämissen der beiden vorhergehenden Theorien. Während sowohl die aus der Olympischen Bewegung hervorgegangene Forschung als auch YOUNG prinzipiell von der Vergleichbarkeit des antiken

20 YOUNG 1983a, 1984, 1988; daneben ist noch seine Rezension von K.YLE 1987 (AHR 94, 1989, 106f.) zu nennen. WEEBER 1991 beruht im wesentlichen auf den Untersuchungen Youngs. 21

Mit dieser Einteilung ist allerdings die Genese des Werkes in umgekehrter Reihenfolge wiedergegeben. Wie YOUNG selbst betont, stand seine Beschäftigung mit den Quellen zum griechischen Sport am Anfang. Erst durch den Widerspruch zwischen seiner Interpretation der antiken Texte und der Meinung der Literatur wurde er dazu angeregt, die Forschungsgeschichte zu untersuchen; YOUNG 1984, VII.

Einleitung

19

mit dem modernen Sport ausgehen, verwahren sich einige Forscher vehement gegen solche Parallelisierungen, da die Rahmenbedingungen ganz verschieden seien. 22 Die Motivation für einen heutigen Sportler, bei einem Wettkampf anzutreten, liege im außerreligiösen Bereich, während das Verhalten eines antiken Athleten vom kultischen Kontext der Wettkämpfe geprägt gewesen sei. Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang ein einflußreicher Aufsatz Karl MEULls, der die griechischen Wettkämpfe aufgrund vieler ethnologischer Vergleiche auf Bestattungsrituale zurückführte und sportliche Handlungen antiker oder primitiver Kulturen generell als Kulthandlungen begriff. 23 Im Kapitel über Kroton werde ich mich mit der kultischen Theorie an einem speziellen Beispiel auseinandersetzen (s.u. S.167ff.), hier seien mit einer gewissen Zurückhaltung, die bei dem fur den historischen Zugriff sehr problematischen Thema antiker Religiosität geboten ist, allgemeine Einwände angesprochen. Es ist unbestreitbar, daß jeder antike Agon in einen Kultkontext integriert war. Die Einrichtung der Agone schrieb man einzelnen Heroen zu, vor und nach den Wettkämpfen wurde geopfert, die Siegerstatuen trugen eine Weihinschrift an die Gottheit, in den Epinikien wurden Götter angerufen. Ferner ist

MEULIS

Aussage, daß ritualisierte Leichenspiele den Ausgangspunkt für

die hochorganisierten Agone bildeten, die wir ab dem 6. Jahrhundert fassen können, zuzustimmen. Aber es ist verfehlt, aus dem Ursprung abzuleiten, man könne den Leistungswillen der Athleten, ihr Verhalten in Training und Wettkampf, die Darstellung ihrer Siege gegenüber der Gemeinschaft und die Wahrnehmung

der Siege durch die Gemeinschaft nur aus dem

kultischen Blickwinkel betrachten. Nach Ausweis der Quellen sahen griechische Athleten ihre Leistung nicht als ein Opfer an die Gottheit an, der sportliche Wettstreit selbst war folglich keine Kulthandlung. Das primäre Ziel der Teilnahme an den Wettkämpfen war - und dies wird aus allen erhaltenen Quellen deutlich - die Erringung von Ruhm, 24 und dieses Ver22 Am radikalsten ausgedrückt hat diese Meinung BRELICH 1985, 101: „il confronto con lo sport moderno è precisamente il maggior ostacolo per la comprensione dell'agonistica rituale greca." 23 MEULI 1941. Eine Ausarbeitung von MEULls Ansätzen zu einer allgemeinen Theorie des Sports als „ritual sacrifice of physical energy" liefert SANSONE 1988. 24

Dies hat POLIAKOFF 1987, 149ff., gegen MEULI betont.

20

Einleitung

halten läßt sich analysieren, ohne daß die Einbindung der Wettkämpfe in einen Kult ein unüberwindbares Hindernis für eine Untersuchung darstellte. Denn falls dem Kultkontext überhaupt ein Einfluß auf die mentale Situation eines antiken Athleten zuzuschreiben ist, so ließe sich dieser Einfluß parallel zum Ruhmstreben des Athleten untersuchen, er überlagerte es nicht. *

*

*

Meiner Meinung nach scheitern alle drei hier vorgestellten Forschungsrichtungen, nämlich sowohl die klassizistische und idealisierende Sichtweise der Pioniere des modernen Olympismus als auch die streng an den modernen Realitäten orientierte Theorie Youngs ebenso wie die den Aspekt der kultischen Einbindung betonenden Ansätze. Sie scheitern vor allem daran, daß sie eine einheitliche Natur des griechischen Sports postulieren. Dabei werden sowohl die zeitliche Ausdehnung des griechischen Sports als auch regionale Varietäten außer Acht gelassen. Die Olympischen Spiele waren in ihrer über tausendjährigen Geschichte trotz ihrer im Prinzip konservativen Struktur mannigfaltigen Veränderungen unterworfen, da sich die politischen und sozialen Rahmenumstände modifizierten. Außerdem besaß der Sport in den einzelnen Regionen der griechischen Welt bestimmte Besonderheiten. All dies läßt es nur logisch erscheinen, daß man den antiken Sport nicht mit einem einzigen Konzept erfassen kann; daraus folgt auch, daß man keine allgemeingültigen Regeln über die Zulässigkeit einer Parallelisierung antiken und modernen Sports aufstellen kann. Mag für bestimmte Punkte ein Vergleich mit modernen Idealen und/oder Zuständen dem Verständnis hilfreich sein, zielt er in anderen Fällen am Wesentlichen vorbei. Ein Beispiel für letzteres ist die Debatte, ob es sich bei den griechischen Athleten um 'Profis' oder 'Amateure' gehandelt habe. Diese Unterscheidung ist anachronistisch und existierte in der Antike, zumindest in archaischer und klassischer Zeit, 25 überhaupt nicht, weswegen es auch im Griechi-

25

In hellenistischer Zeit taucht mit den Genossenschaften der Athleten ein Kriterium auf, anhand dessen man beurteilen kann, ob die Athleten den Sport als ihren Beruf ansahen. So kann man von den Mitgliedern der Genossenschaften als professionellen Sportlern sprechen.

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21

sehen keine äquivalenten Begriffe gibt.26 Man fragt besser nach der sozialen Schichtung der Teilnehmer an den großen Wettkämpfen, ein Problem, zu dem im Rahmen der Professionalismusdebatte implizit schon die entscheidenden Fortschritte gemacht worden sind (s.u. S.36ff.). Es ist kein Zufall, daß diejenigen Werke, in denen auf eine Generalthese zum antiken Athletismus verzichtet und stattdessen einzelne Quellengruppen oder Sachfragen in den Vordergrund gestellt werden, am tiefsten in die Materie eindringen konnten. M O R E T T I S Zusammenstellung aller bekannten Olympioniken27 ist nicht nur eine Liste, sondern bietet tiefergehende Einblicke in den Status antiker Olympiasieger; dieses Werk sowie M O R E T T I s Besprechung der wichtigsten agonistischen Inschriften28 haben den Boden für weitere Forschungen bereitet. Die Bearbeitung der Siegesepigramme durch Joachim E B E R T führte zu wesentlichen, auch heute noch gültigen Erkenntnissen über die Selbstdarstellung siegreicher Athleten und trug wesentlich zum Verständnis der Rolle agonistischer Sieger in der Gesellschaft bei.29 Die detaillierte Studie Donald KYLEs über den Athletismus in Athen - bisher die einzige Arbeit dieser Art - erbrachte exemplarische Ergebnisse über die Rolle des Sports in einer einzelnen pòlis,30 Darauf aufbauend ist in jüngster Zeit wieder eine Arbeit erschienen, die weitergefaßten Fragestellungen nachgeht. Mark G O L D E N hat sich sowohl in bezug auf die benutzten Quellen als auch auf den erfaßten Zeitrahmen das ganze Spektrum des griechischen Sports zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Er betrachtet den griechischen Sport in einem „discourse of difference":31 Im Feld des Sports seien Abgrenzungen reproduziert worden, die das Bild der griechischen Gesellschaft prägten, z.B. die Trennungen zwischen Griechen und Barbaren, Männern und Frauen, Männern und Knaben,

26 JÜTHNER - Β REIN 1965, 89ff., geben als Begriff für 'Amateur' ιδιώτης und für 'Profi' αθλητής an; daß diese Terminologie völlig unzutreffend ist, haben RUDOLPH 1974 sowie MÜLLER 1995, 20ff., deutlich gemacht. 27

MORETTI 1957; ergänzt wurde diese Sammlung durch zwei Nachträge (MORETTI 1970. 1987). 28

MORETTI 1953.

29

EBERT 1972.

30

KYLE 1987.

31

GOLDEN 1998, X, und passim.

22

Einleitung

sozialen Gruppen etc. Wichtig ist GOLDENs Untersuchung vor allem dadurch, daß er nicht die Natur des griechischen Sports, sondern seine Funktion in verschiedenen Kontexten zu erfassen sucht.

1.2 Der Athletismus in der griechischen Kultur 1.2.1 Spezifika des griechischen Sports Die große Bedeutung, die sportliche Wettkämpfe bzw. Wettkämpfe überhaupt bei den Griechen innehatten, wurde von diesen selbst als ein spezifisches Merkmal ihrer Kultur gegenüber ihren Nachbarn betrachtet,32 und ein Großteil der modernen Forschung ist dieser Selbsteinschätzung gefolgt. An erster Stelle ist Jacob B U R C K H A R D T zu nennen, der die These vom 'agonalen Geist' der Griechen am wirkungsmächtigsten vertrat. Diesen agonalen Geist sah er zwar auch außerhalb des Sports am Wirken, in den großen panhellenischen Wettkämpfen erblickte er aber dessen höchsten Ausdruck.33 Während in der Forschung lange Zeit der Wettkampfgeist unbestritten als ein Charakteristikum der griechischen Kultur galt, ist es in letzter Zeit in Mode gekommen, in betonter Absetzung von einer hellenozentrischen Sichtweise der Alten Welt dem griechischen Sport seine Sonderstellung im Vergleich mit anderen Völkern abzusprechen. Anhand von Beispielen aus dem afrikanischen und vorderasiatischen Raum wurde gezeigt, daß auch in anderen antiken Kulturen sportliche Leistungen eine große Rolle spielten, beispielsweise bei der Selbstdarstellung von Herrschern oder im Mythenschatz; die griechische Sportbegeisterung sei, so wurde gefolgert, keine Besonderheit gewesen.34 Daß bei diesen vergleichenden Untersuchungen wertvolle Erkenntnisse gewonnen wurden, steht außer Zweifel. Was jedoch die gesellschaftliche

32

Z.B. Hdt. 8, 26.

33

BURCKHARDT 1898ff., Bd.4, 84ff.

34

WEILER 1974; L. BOUTROS, Phoenician sport. Its influence on the origins of the Olympic Games, Amsterdam 1981; EVJEN 1986; W. DECKER, Sport und Spiel im Alten Ägypten, München 1987, 112ff. (dagegen GOLDEN 1998, 28ff.).

Einleitung

23

Relevanz betrifft, d.h. die Bedeutung sportlicher Leistung für die soziale Stellung eines einzelnen, so hält keines der herangezogenen Vergleichsbeispiele einer genaueren Betrachtung stand. Der besondere Stellenwert des Sports in Griechenland wird bei einem Blick auf die Quellen deutlich: das größte uns erhaltene Corpus früher griechischer Lyrik besteht aus Liedern für erfolgreiche Athleten, und die - nach Pausanias' Bericht - beeindruckendste Skulpturensammlung Griechenlands waren die Siegerstatuen in Olympia. Die hier sichtbar werdende herausragende Stellung in der Kunst, die der Sport in keiner anderen Kultur besaß, kennzeichnet sportliche Leistungen als besonders ruhmeswürdige Taten, und sie zeigt seine enorme soziale Bedeutung. Für all dies können in anderen vormodernen Gesellschaften keine Parallelen gefunden werden. Darüber hinaus stellten die griechischen Agone 'echte' Wettkämpfe dar, was keineswegs selbstverständlich ist. Ägyptische Pharaonen mögen sich im Rahmen ihrer Selbstdarstellung herausragender Fähigkeiten im Bogenschießen oder Ringkampf gerühmt haben - zu einem Wettkampf, den sie auch hätten verlieren können, traten sie niemals an. Außerdem kennen wir aus der Ethnologie sehr viele Beispiele sportlichen Kräftemessens, in der nicht die Trennung in Sieger und Verlierer, sondern die Demonstration physischer Kapazität im Vordergrund steht.35 Jeder griechische Athlet setzte sich dagegen dem Risiko aus, den Platz als Unterlegener zu verlassen. Die Radikalität des Wettkampfgedankens kommt noch in einem anderen Aspekt zum Ausdruck. Im heutigen Sport spielen Rekorde, d.h. absolute Leistungen, die prinzipiell auch ohne Gegner erbracht werden können, eine wichtige Rolle. Ganz anders sieht es im antiken Griechenland aus, was nicht

35

Man vergleiche die Ringkämpfe bei den Nuba-Stämmen (POLIAKOFF 1987, 109ff.). Ein weiteres interessantes Beispiel liefert M. Stokes, 'Strong as a Turk': Power, Performance and Representation in Turkish Wrestling, in: MACCLANCY 1996, 21-41: Bei dem von Stokes geschilderten Ringerfest finden zahlreiche Wettkämpfe statt. Der Höhepunkt der Veranstaltung ist ein Kampf zweier bekannter Schwergewichtler, für die wegen der großen Zuschauerzahl eine Niederlage erheblichen Ehrverlust bedeuten würde. Nach anfänglicher gegenseitiger Neutralisierung werden beide durch den Kampfrichter ermahnt. Daraufhin gibt sich einer der Kontrahenten absichtlich eine Blöße und wird von dem Angriff seines Gegners auf die Schulter geworfen. Bevor jedoch der Ringrichter den Sieg feststellen kann, steht er auf, hebt seinen Gegner hoch und trägt ihn durch den Ring. Danach geschieht dasselbe vice versa, d.h. offiziell verläßt einer den Platz als Sieger, in den Augen der Zuschauer endet der Kampf aber mit einem - inszenierten - Unentschieden.

24

Einleitung

auf fehlende technische Voraussetzungen, etwa im Bereich der Zeitmessung, zurückgeführt werden kann. Die Ermittlung von absoluter Leistung im Weitsprung, Speer- und Diskuswurf war ohne weiteres möglich, sie war jedoch nebensächlich und spielte in der Selbstdarstellung der Sieger kaum eine Rolle. 36 Entscheidend war die relative Leistung, d.h. die Fähigkeit, die anwesenden .Gegner zu übertreffen und zu besiegen. 37 Deswegen hielten die Griechen es für erinnerungswürdig, wenn es einem Athleten sehr häufig gelungen war, besser zu sein als seine jeweiligen direkten Konkurrenten, 38 nicht dagegen, wenn er einmal eine außerordentliche absolute Leistung erbracht hatte. Daß sich für die Griechen athletische Leistung über die Leistung der anderen definierte, macht die Wahrnehmung von Sport als Feld der Konkurrenz besonders augenfällig. Eine in starkem Maße kompetitive Ethik ist ein Wesensmerkmal der griechischen Gesellschaft, aber nicht nur dieser. Spezifisch für Griechenland ist die Bedeutung des Sports bei der Austragung der Konkurrenz, was diesen Untersuchungsgegenstand als einen für die Analyse der griechischen Gesellschaft besonders geeigneten Ausgangspunkt erscheinen läßt.

1.2.2 Athletismus und panhellenisches Bewußtsein Die Wahrnehmung des Sports als eines spezifischen Phänomens der eigenen Kultur führte konsequenterweise dazu, daß Nichtgriechen von der Teilnahme an den Olympischen und anderen periodischen Spielen ausgeschlossen waren. Außerdem knüpfte die panhellenische Ideologie, die einen Zusammenschluß aller Griechen zur Abwehr des äußeren Feindes beschwor, explizit an Olympia an: Laut Lysias' „Olympischer Rede" habe Herakles die Festspiele deswegen begründet, um alle Griechen zu einer Schau ihrer eigenen Fähigkeiten an einem Ort zusammenzubringen und die Freundschaft zwischen ihnen zu verstärken. 39 36

sprung

In der antiken Literatur finden sich nur vereinzelte Weitenangaben zum Weitund

Diskuswurf

(DOBLHOFER

-

LAVRENCIC

-

MAURITSCH

DOBLHOFER - LAVRENCIC - MAURITSCH 1 9 9 2 , 7 9 f . ; v g l . EBERT 1 9 6 3 , 3 5 f f . ) . 37

Vgl. dazu Demosth. or. 18, 318f.; Aischin. 3, 189.

38

Vgl. dazu RAMBA 1990.

39

Lys. 33, If.

1991,

126;

Einleitung

25

Es ist jedoch offensichtlich, daß diese Ideologie keine Auswirkungen auf die praktische Politik hatte. Der Athletismus vereinte die Griechen auf kultureller Ebene, nicht auf politischer. Aus den Festversammlungen der großen Spiele ging nie eine einheitliche Front gegen Perser oder andere Barbaren hervor. Und wenn das panhellenische Bezugsfeld mit dem Polisinteresse kollidierte, behielt letzteres die Oberhand, wie sich an vielen Beispielen zeigen läßt. So konnten sich an Kampfrichterentscheidungen diplomatische Konflikte entzünden, 40 und 364 kam es zu dem besonders gravierenden Fall, daß die Altis von Olympia zum Schauplatz einer Schlacht zwischen Eleern und Arkadern geriet, während die Olympischen Spiele abgehalten wurden! 41 Die ekecheiria wurde von der Forschung oft als Olympischer Frieden mißverstanden. Der Gedanke der Völkerverständigung ist ein zentrales Element in der Ideologie der modernen Olympischen Bewegung. Die Idee, durch ein friedliches Sportfest die Streitigkeiten zwischen den Staaten vergessen zu machen, glaubte man der Antike entnommen zu haben, und in der öffentlichen Meinung ist die Vorstellung eines antiken „Olympischen Friedens", einer ganz Griechenland umfassenden Waffenruhe während der Olympischen Spiele, nach wie vor weit verbreitet. 42 Jedoch geht aus den Quellen eindeutig hervor, daß die ekecheiria keinesfalls einen allgemeinen Frieden in ganz Griechenland, sondern einen begrenzten Waffenstillstand darstellte, der auf der Neutralität der Region Elis beruhte und die Sicherung der Reise von Teilnehmern und Festgesandtschaften zum Ziel hatte. 43 Die 40

Paus. 5, 21, 5-7; zu den agonistischen Regeln und der Rolle der Schiedsrichter s.

EBERT 1997C; CROWTHER 41

1998.

Xen. hell. 4, 28ff.

4

Diese Idee wird von Zeit zu Zeit auch heute noch auf weltpolitischer Ebene aktiviert: Im November 1993 und 1997, vor den Olympischen Winterspielen in Lillehammer bzw. Nagano, forderten Resolutionen des UN-Sicherheitsrates die Parteien aktueller Konflikte auf (im ersten Fall handelte es sich um die Auseinandersetzungen in BosnienHerzegowina, im zweiten um die Spannungen zwischen den USA und dem Irak), die antike Tradition des Olympischen Friedens zu bewahren und während der Spiele keine Kriegshandlungen durchzuführen (vgl. „Frankfurter Allgemeine Zeitung", 4. 2. 1998, S.38). LÄMMER 1982/83. Bei der Diskussion um die ekecheiria läßt sich die Bedeutung der Sportgeschichte für die aktuelle Politik an einem Extrembeispiel aufzeigen. Als LÄMMER 1981 seine Thesen vortrug, wurde ihm seitens der Presse sozialistischer Länder vorgeworfen, den Verrat, den die USA und andere westliche Nationen 1980 durch den Boykott der Olympischen Spiele in Moskau begangen hätten, weniger schlimm erschei-

26

Einleitung

ekecheiría bildete kein einigendes Band aller Griechen und konnte, wie gesehen, nicht einmal Waffengänge zwischen griechischen Heeren während der Spiele verhindern.

1.2.3 Die Wettkämpfe: Olympia und andere periodische Sportfeste Über den Beginn der Olympischen Spiele bestand schon in der Antike Uneinigkeit, das gewöhnlich genannte Datum von 776 war nicht unumstritten.44 Demzufolge ist es nicht erstaunlich, daß auch in der modernen Forschung heftig über die ersten Olympischen Spiele diskutiert,45 von einigen sogar die Existenz der Olympischen Spiele vor dem 6. Jahrhundert gänzlich in Zweifel gezogen wurde.46 Da die Debatte über die Glaubwürdigkeit der einzelnen antiken Autoren zu keiner Lösung gefuhrt hat, liegt es nahe, das Augenmerk auf die archäologischen Indizien zu richten. Einer der Ausgräber von Olympia, Alfred MALLWITZ, hat deutlich herausgearbeitet, daß um 700 in der Altis von Olympia mehrere kurzfristig genutzte Brunnen angelegt wurden. Er hat diesen Befund dahingehend interpretiert, daß ab dieser Zeit in Olympia, das als Kultplatz eine weit in die geometrische, vielleicht sogar in die mykenische Zeit zurückreichende Tradition besaß,47 bedeutende Spiele abgehalten wurden, die für kurze Zeiträume einen großen Wasserbedarf mit sich gebracht hätten.48 Somit kann man davon ausgehen, daß um die Wende des 8. zum 7. Jahrhundert die Olympischen Spiele überregionale nen lassen zu wollen, indem er die Existenz der olympischen Ideale in der Antike anzweifle. In den Publikationen der D D R tat sich dabei ein Widerspruch auf zwischen den Angriffen gegen LÄMMER in den Parteiblättern und einem Teil der historischen Forschung, die die Interpretation der ekecheiría als eines allgemeinen Waffenstillstands abgelehnt hatte (ΕΒΕΡΤ 1980, 15ff.). Vgl. dazu auch WEEBER 1991, 138ff. 44

GOLDEN 1 9 9 8 , 6 3 ; C. MORGAN 1 9 9 0 , p a s s i m .

45

S. dazu vor allem ULF-WEILER 1980; LEE 1988; WEILER 1993.

46

PEISER 1990; ders. 1993; dagegen die Rezension von H.-V. HERRMANN, Nikephoros 6, 1 9 9 3 , 2 4 3 - 2 5 4 . 47 A u f die Kontroverse um das angebliche bronzezeitliche Pelopsheiligtum in Olympia soll hier nicht eingegangen werden, da sie nicht im Zusammenhang mit der Fragestellung dieser Arbeit steht; dazu HERRMANN 1972, 53ff.; MALLWITZ 1972, 134ff., sowie der Forschungsüberblick bei PEISER 1993, 7 2 f f ; zur Bedeutung Olympias als

Orakelstätte C . MORGAN 1 9 9 0 ; SINN 1 9 9 1 . 48

MALLWITZ 1 9 8 8 , 9 8 f .

Einleitung

27

Bedeutung gewannen; wie lange es schon davor sportliche Wettkämpfe in kleinerem Maßstab gegeben hatte, muß offen bleiben. 49 In der homerischen Welt kommt dem Athletismus eine große Bedeutung für das Ruhmstreben der einzelnen Helden zu. Dies wird in verschiedenen Passagen der Epen deutlich, vor allem aber im 23. Gesang der Ilias, in dem die berühmtesten griechischen Helden in den verschiedenen Wettkämpfen, die Achilleus als Leichenspiele für Patroklos ausrichtet, wetteifern. 50 Die Olympischen Spiele werden in Ilias und Odyssee jedoch nicht genannt. Ob dies darauf zurückzufuhren ist, daß die Epen vor der überregionalen Profilierung dieses Wettkampfs verfaßt wurden, oder ob diese den Dichtern zwar bekannt waren, aber nicht fur in die epische Welt integrierbar gehalten wurden, ist nicht zu klären. Sicher ist dagegen, daß die Olympischen Spiele das älteste der periodischen überregionalen Sportfeste bildeten und das bedeutendste blieben, auch als im 6. Jahrhundert der Athletismus im Rahmen der Konkurrenzaustragung innerhalb der griechischen Aristokratie einen noch höheren Stellenwert erlangte 51 und in der Folge dieses Prozesses viele weitere Agone gegründet bzw. in großem Maßstab reorganisiert wurden. 52 Von diesen gewannen die Pythischen, Isthmischen und Nemeischen Spiele das größte Renommee; sie bildeten zusammen mit den Olympischen Spielen die períodos, den 'grand slam' der antiken Agonistik. Die Disziplinen waren bei den einzelnen Wettkämpfen im wesentlichen dieselben: 53 Es gab mit Ringen, Boxen und Pankration drei Kampfsportarten, Wettläufe über verschiedene Entfernungen, darunter auch einen Waffenlauf, und schließlich den aus Stadionlauf, Weitsprung, Speer- und Diskuswurf sowie Ringen bestehenden Fünfkampf. Diese bildeten den Kanon der gymnischen Disziplinen. Daneben gab es eine Fülle verschiedener

49

Zur Olympionikenliste s.u. S.59ff.

50

II. 23, 257-897; zum homerischen Sport LASER 1987; WEILER 1981, 78ff.;

DECKER 1 9 9 5 , 2 6 f f . ; VISA-ONDARÇUHU 1 9 9 9 , 17ff. 51 Erwähnt seien hier die ersten Epinikien und Siegerstatuen s o w i e die Entstehung des Gymnasions; dazu habe ich an anderer Stelle bereits ausführlich Stellung bezogen (MANN 1998). 52 53

DECKER 1995, 39ff.

S. dazu die Übersicht bei DECKER 1995, 66ff.; zur Organisation der Panhellenischen Spiele DECKER 1998; WEILER 1998.

28

Einleitung

Pfercie- und Wagenrennen; bei diesen Wettkämpfen galt nicht der Jockey bzw. Wagenlenker als Athlet, sondern der Besitzer der Tiere, und im Falle eines Erfolges errang dieser den Siegespreis.54 Vervollständigt wurde das Programm durch musische Wettkämpfe, doch diese spielen in der vorliegenden Untersuchung keine Rolle. Die gymnischen Disziplinen wurden in verschiedenen Altersklassen abgehalten, bei den Olympischen Spielen in zwei Gruppen (Männer, Knaben), bei den meisten anderen Agonen kam noch eine mittlere Gruppe der 'Bartlosen' hinzu. Die Zuordnung der einzelnen Athleten zu den Altersklassen wurde von den Kampfrichtern des entsprechenden Wettkampfs vorgenommen.55

1.2.4 Der Sieger und sein Lohn: Siegeskränze und Sachpreise als symbolisches Kapital Ein weiteres Problem, das bei der Bewertung vieler Einzelfragen berücksichtigt werden muß, betrifft den materiellen und symbolischen Wert der zu gewinnenden Preise. Bei den bedeutendsten panhellenischen Agonen bestanden die Siegespreise in Kränzen, z.B. in Olympia vom Ölbaum des Herakles, in Delphi vom Lorbeerbaum Apollons. Andere Wettkämpfe setzten dagegen wertvolle Gegenstände für die ersten Plätze aus. Am berühmtesten sind sicherlich die ölgefullten Panathenäischen Preisamphoren, über deren Anzahl wir durch epigraphische Quellen gute Kenntnis besitzen.56 Der materielle Wert dieser Preise war enorm; trotz aller Schwierigkeiten bei der Umrechnung57 ist offensichtlich, daß der Gegenwert des Öls den Jahreslohn eines athenischen Arbeiters weit übertraf. 54

Herodot aus Theben, der Auftraggeber für Pindars Erste Isthmie, stellt eines der

wenigen Beispiele dar, in denen Besitzer und Lenker der Tiere identisch waren (Pind. I. 1, 14f.). 55

GOLDEN 1998, 104ff.

56

IG II2 2311 (4. Jahrhundert) gibt uns die genaue Anzahl der Amphoren an, die die Erstplazierten jeder einzelnen Disziplin erhielten; s. dazu JOHNSTON 1987, s o w i e TRACY 1991, mit weiterer Literatur; zu den Panathenäischen Preisamphoren s. neuerdings die umfassende Behandlung von BENTZ 1999. 57

YOUNG 1984,

unternommen.

115ff., hat eine Umrechnung der einzelnen Preise in Dollar

29

Einleitung

Aber auch bei anderen Agonen gab es Sachpreise zu gewinnen, z.B. Schilde, Dreifüße oder Bronzegefaße. 58 Dies sollte aber nicht dazu führen, eine strikte Trennung zwischen Kranzagonen (agones hieroí kaí stephanítai) auf der einen Seite und Wettkämpfen mit Geldpreisen (agones thematikoi) auf der anderen zu postulieren. Tatsächlich ist es möglich, auf beide Arten von Wettkämpfen dieselbe Untersuchungsmatrix anzulegen: 1. Ein Siegespreis in Form eines Kranzes war ohne materiellen Wert, stellte aber symbolisches Kapital dar. 59 Ein Siegeskranz steigerte den Status dessen, der ihn errungen hatte, was sich an den eingangs angesprochenen Ehren für Athleten ablesen läßt. 2. Die Sachpreise, die es bei den Leichenspielen des Patroklos oder bei den agones thematikoí zu gewinnen gab, besaßen einen hohen ökonomischen Wert, aber dieser war nicht der entscheidende Faktor. Vielmehr bildeten auch sie in erster Linie symbolisches Kapital. Ebenso wie bei einem guten Krieger die erbeuteten Rüstungen getöteter Gegner die individuelle areté sichtbar machten, so wurde auch athletisches Können materialisiert. Hohe Sachpreise bedeuteten, daß der Wettkampf von einer reichen und damit hochrangigen Person ausgerichtet worden war, und steigerten damit das Prestige von Sieger und Ausrichter. 3. Als sich die Olympischen Spiele als überregionaler Agon profilierten, konnten die Veranstalter darauf verzichten, materiell wertvolle Preise auszusetzen. In Olympia fand unbestritten der wichtigste Wettkampf der griechischen Welt mit den besten Athleten als Teilnehmern statt, und ein heimkehrender Sieger mußte nicht gewonnene Wertpreise vorzeigen, um

58

V g l . dazu die Übersicht über die von Pindar genannten kleineren A g o n e und ihre

Preise bei Kl. KRAUSE 1970, 24ff.; zu einer Bronzehydria aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, die durch ihre Inschrift als Siegespreis bei den Protesilaos-Spielen in Phthia gekennzeichnet

ist, s. TZACHOU-ALEXANDRI

1989,

142ff.; grundsätzlich

zu

Kränzen und Sachpreisen: PLEKET 1975, 54ff.; KYLE 1996. B e i d e Autoren halten, o b w o h l sie die Schwierigkeiten der Abgrenzung betonen, prinzipiell am unterschiedlichen Charakter von symbolischen und materiellen Preisen fest. 59 Dabei lege ich die Arbeiten Pierre Bourdieus zugrunde, der seine Kapitaltheorie in verschiedenen Werken publiziert hat; am übersichtlichsten ist sie dargestellt in P. BOURDIEU, Ö k o n o m i s c h e s Kapital - kulturelles Kapital - soziales Kapital, in: M. STEINRÜCKE (Hrsg.), Pierre BOURDIEU: Die verborgenen M e c h a n i s m e n der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1, Hamburg 1997, 4 9 - 7 9 . Zur Übertragung der Kapitaltheorie auf den antiken Sport KURKE 1991; dies. 1993.

30

Einleitung

den Rang des von ihm bestrittenen Wettkampfs zu beweisen. Das gleiche galt auch fur einige weitere berühmte Agone. 4. Kleinere oder später gegründete Wettkämpfe konnten dagegen nicht darauf bauen, daß sie überall bekannt waren. Deswegen mußten die Veranstalter - und die Sieger! - den Rang des Agons mit materiellen Preisen dokumentieren. Der symbolische Wert des Siegespreises war dabei wichtiger als der ökonomische, zumindest in archaischer und frühklassischer Zeit, als die Teilnahme an den Wettkämpfen auf die Aristokratie beschränkt blieb (s.u. S.35f.). Die Siegeskataloge in den Oden Pindars und Bakchylides' lassen keine strikte Trennung zwischen Kranz- und Wertagonen erkennen, der Siegespreis wird im einen wie im andern Fall als áthlon bezeichnet,60 da der Dichter die Perspektive des Athleten wiedergibt und nicht diejenige des Ausrichters. Die einzelnen für meine Fragestellung relevanten Komponenten des griechischen Sports wurden recht ausführlich behandelt, da die hier genannten Forschungsprobleme den gesamten Verlauf dieser Arbeit betreffen. Auf die pòlis soll dagegen in der Einleitung weniger detailliert eingegangen werden, da viele Detailfragen besser im Kontext der einzelnen Kapitel geklärt werden können.

1.3 Die pòlis und der Athletismus Die Entwicklung von Staatlichkeit in Form von Bürgergemeinschaften stellt einen Prozeß von zentraler Bedeutung für die griechische Archaik und die antike Geschichte überhaupt dar. Es soll an dieser Stelle kein umfassender Überblick über Sachverhalt und Forschungslage geliefert werden, da eine ausfuhrliche Diskussion den Rahmen dieser Einleitung bei weitem sprengen würde. Stattdessen sollen einige Forschungsansätze kurz skizziert werden, um daran die Kontaktstellen zwischen den Phänomenen des Athletismus und der Polisentwicklung herauszuarbeiten. Die folgenden Ausführungen müssen sehr allgemein bleiben, da sie fur das gesamte Phänomen der Polisentwicklung Gültigkeit haben sollen. Auf 60

Z.B. Pind. N. 10, 22ff. I. 1, 18ff. I. 8, 61ff.

31

Einleitung

die trotz weitgehender Übereinstimmungen in der Herausbildung staatlicher Ordnung vorhandenen Unterschiede, wie z.B. chronologische Verschiebungen und verschiedene Lösungsversuche für ähnliche Probleme, soll bei der Behandlung einzelner Fallbeispiele von poleis eingegangen werden. In Griechenland war nach dem Zusammenbruch der bronzezeitlichen Palastkultur und der komplexen politischen Organisation der mykenischen Welt die Anzahl und Größe der Siedlungen stark zurückgegangen. Herrschaft und Gemeinschaft auf einer Ebene oberhalb der einzelnen Höfe existierte nur in sehr loser Form, da eine Verklammerung weder durch politische Organe noch durch Familienclans und andere Organisationsstrukturen einer Stammesgesellschaft gegeben war. 61 Die einzigen feststellbaren übergreifenden Gruppierungen bildeten Gefolgschaften um einzelne zu Reichtum gelangte lokale Anführer. 6 2 Erst ab dem 8. Jahrhundert begannen sich wieder politische Gemeinschaften zu formieren. Die Anfänge der Entwicklung sind nur schemenhaft erkennbar; im vor allem epigraphisch besser dokumentierten 7. und 6. Jahrhundert jedenfalls war das Zusammenleben in der pòlis

von einer

extremen Konflikthaltigkeit geprägt, die aus der kompetitiven Ethik der griechischen Aristokratie und dem Druck des Bevölkerungswachstums resultierte. Den zentrifugalen Kräften versuchte man mit immer komplexer werdenden Formen der Selbstorganisation entgegenzusteuern, eine Entwicklung, die sich über lange Zeit erstreckte und in den meisten Regionen der griechischen Welt um die Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert ihren Abschluß fand. In der Forschung sind verschiedene Wege eingeschlagen worden, um sich der frühen griechischen pòlis zu nähern. 63 Von den noch laufenden Vorhaben ist an erster Stelle das „Copenhagen Polis Centre" unter der Leitung von Mogens Herman HANSEN und unter Mitarbeit von zahlreichen

61 Gegen die lange Zeit vorherrschende Annahme, die Organisationseinheiten innerhalb einer pòlis seien auf Personengruppen der Stammesgesellschaft zurückzufuhren,

a r g u m e n t i e r e n BOURRIOT 1 9 7 6 ; ROUSSELL 1 9 7 6 . 62

STEIN-HÖLK.ESKAMP 1989, 46f.

63

Einen aufschlußreichen Überblick über verschiedene Forschungsansätze bieten

MURRAY - PRICE 1 9 9 0 ; a l l g e m e i n e Einführung: WELWEI 1998; mit d e m P r o b l e m der

Wesensbestimmung von

'pòlis' befaßt

sich SAKELLARIOU 1 9 8 9 .

32

Einleitung

Spezialisten aus der ganzen Welt zu nennen. Dieses Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, die Kriterien für die Einstufung einer Siedlung als pòlis zu präzisieren, eine Landkarte der griechischen poleis zu erstellen und zu beleuchten, was die Griechen selbst unter einer pòlis verstanden. Einige Sammelbände mit Einzeluntersuchungen sind bereits erschienen, 64 fur eine Bewertung des Projekts müssen die abschließenden Publikationen abgewartet werden. Die Erkenntnisse der Archäologie haben für die Erforschung des frühen Griechenland in den letzten Jahrzehnten enorm an Gewicht gewonnen. Zur Frage der Polisbildung sind vor allem solche Arbeiten interessant, welche die Topographie der wichtigen Anlagen und Gebäude einer pòlis analysieren und der Frage nachgehen, welche jeweilige Rolle der Agora, den Tempeln und Nekropolen als gemeinschaftsstiftenden Orten zukommt und inwiefern diese Integrationsfunktion der öffentlichen Anlagen und Gebäude an deren architektonischer Gestaltung festgemacht werden kann. 65 Isolierte staatsrechtliche Betrachtungen, die das Funktionieren einer pòlis als juristisches Phänomen behandeln, 66 finden in jüngerer Zeit kaum noch Resonanz. Vielmehr werden Analysen zu den in den frühen Gesetzen auftretenden Institutionen - Räte, Volksversammlungen, Amtsträger - und deren Zusammenspiel mit mentalitätsgeschichtlichen

Problemstellungen

verknüpft. Dabei zeigt sich, daß die frühen Gesetze nicht im Zeichen der Ausbildung von Herrschaft, sondern der Lösung von Konflikten standen. 67 Um Möglichkeiten für die friedliche Beilegung von Konflikten zwischen einzelnen oder Gruppen herzustellen, wurden in Akten der Selbstorganisation Gremien und Ämter mit Schiedsrichterfünktion gebildet; daneben wurde 64 D. WHITEHEAD (Hrsg.), From political architecture to Stephanus Byzantius, Stuttgart 1994; M.H. HANSEN - K. RAAFLAUB (Hrsg.), Studies in the ancient Greek polis, Stuttgart 1995; dies. (Hrsg.), More studies in the ancient Greek polis, Stuttgart 1996; Th.H. NIELSEN (Hrsg.), Yet more studies in the ancient Greek polis, Stuttgart 1997; vgl. auch die Veröffentlichungen in der Reihe „Acts of the Copenhagen Polis Centre", Kopenhagen 1993ff. 65

Dazu SNODGRASS 1980, sowie jüngst T. HÖLSCHER, Öffentliche Räume in frühen griechischen Städten, Heidelberg 1998. 66 67

So vor allem BUSOLT - SWOBODA 1926.

GEHRKE 1993. Vgl. auch K.-J. HÖLKESKAMP, Written law in archaic Greece, PCPhS 38, 1992, 87-117, der in den frühen Gesetzen eher einen Indikator als einen Motor der Polisentwicklung erkennt. Zum Bürgerrecht unter dem Aspekt von Bürgerbewußtsein und politischer Partizipation grundlegend WALTER 1993.

Einleitung

33

die Versammlung des démos als Gerichts- und politische Beschlußinstanz institutionalisiert. Ein weiterer Ansatz - und dieser spielt fur die Fragestellung der vorliegenden Arbeit die entscheidende Rolle - geht von der Struktur der griechischen Aristokratie aus. Die gesellschaftlichen Eliten in der archaischen Zeit waren in extremer Weise von einer kompetitiven Ethik geprägt, wovon die Quellen seit den homerischen Epen ein beredtes Zeugnis ablegen. 68 Ein weiteres Charakteristikum der griechischen Aristokratie besteht darin, daß sie nicht geburtsständisch definiert war. Zur Aristokratie gehörte vielmehr derjenige, der durch Reichtum hervorragte und dies durch einen entsprechenden Lebensstil dokumentierte sowie seine individuellen Qualitäten durch Leistungen unter Beweis stellte. Weder das Wettkampfethos noch die Lebenswelt einer 'leisure class' sind mit den Erfordernissen einer politischen Gemeinschaft, die kooperative Tugenden sowie eine Konzentration auf politische Tätigkeitsfelder verlangt, ohne weiteres vereinbar. Dennoch kann der Prozeß der Polisbildung, in deren Zuge die Eliten einen Teil ihrer Autarkie einbüßten, aufgrund der Machtverteilung nicht an diesen vorbeigelaufen sein. 69 Offenbar erwies sich der Integrationsdruck des Bürgerstaates auf die Dauer als stärker als der aristokratische Individualismus, und es gelang, die Konkurrenzaustragung auf die politischen Organe zu lenken. Dabei kann man auch beobachten, daß die Einhegung des aristokratischen Dominanzstrebens durch den Polisverband im 5. Jahrhundert zumindest in Athen noch einen andauernden Prozeß darstellt, unter diesem Gesichtspunkt also die Polisentwicklung nicht mit dem Ende der Archaik abgeschlossen ist. *

*

*

Im Zusammenhang der Polisentwicklung hatte der Athletismus eine besondere, ambivalente Bedeutung. Auf der einen Seite waren erfolgreiche Athleten für den Zusammenhalt innerhalb der Bürgerschaft forderlich, denn sie konnten zu Identifikationsfiguren für die ganze Bürgerschaft werden und

68 69

Zur Adelsethik allgemein DONLAN 1980; STEIN-HOLKESKAMP 1989.

Dies wurde in den Rezensionen von STEIN-HOLKESKAMP 1989 durch M. STAHL, HZ 254, 1992, 146-148, sowie W. DONLAN, AJPh 113, 1992, 137-140, besonders betont.

34

Einleitung

damit eine stärkere Identifikation der Bürger mit ihrer pòlis bewirken. Der enge Bezug zwischen dem Athleten und seiner pòlis läßt sich am Kanon der Kategorien erkennen, die schon in den frühesten agonistischen Inschriften auf den Basen von Siegerstatuen oder sonstigen Weihgeschenken angegeben waren: Neben dem Namen und dem Patronymikon des Siegers und der Disziplin gehört auch der Name der Heimatpolis zu jeder Inschrift.70 Außerdem wurde die pòlis auch bei der Siegerehrung der Wettkämpfe vom Herold mit ausgerufen. Der Athlet fungierte also auch als Repräsentant seiner pòlis, und die pòlis partizipierte an seinem Ruhm. Die Ehrungen, die zurückkehrenden Siegern gewährt wurden, lassen sich im Rahmen einer von Reziprozität geprägten Ethik als Gegengaben für die athletische Leistung und die damit verbundene kollektive Ruhmsteigerung verstehen. Da sich im Fall von Athleten, die zu den Olympischen Spielen oder anderen Agonen aus ihrer Heimatstadt aufbrachen, die Hoffnungen der Bürger auf dasselbe Ziel richteten und sich damit die einzelnen Interessen bündelten, konnten Athleten und athletische Erfolge zur Stärkung der Solidarität innerhalb der Bürgerschaft beitragen.71 Die Rolle von Athleten als Identifikationsfiguren fur die Polisgemeinschafi wird besonders greifbar an der Tatsache, daß einige Olympioniken in ihrer Heimat den Status eines Heros erlangten. Die allgemeine Verehrung für erfolgreiche Athleten verdichtete sich in diesem Fall zu einem Kult, bei dem die Kultgemeinschaft der Bürgerschaft entsprach. Zwar wurden in den Gründungsgeschichten dieser Heroenkulte stets auch andere außer den rein sportlichen Ereignissen erzählt, aber wenn erfolgreiche Sportler nicht die für einen Poliskult maßgebliche Integrationskraft besessen hätten, wäre es nicht zu einer gehäuften Heroisierung gerade dieser Personengruppe ge-

70

Vgl. die Beschreibung der olympischen Siegerstatuen durch Pausanias (s.u.

S . 5 5 f f . ) s o w i e d a s b e i DITTENBERGER - PURGOLD 1 8 9 6 , MORETTI 1 9 5 3 u n d EBERT 1 9 7 2

zusammengestellte Material. 71 Dieser Mechanismus ist auch in der Moderne gut zu erkennen. Ein jüngeres Beispiel stellt die Solidarisierung zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung Südafrikas während der Rugby-Weltmeisterschaft 1995 dar. Präsident Nelson Mandela sagte dazu: „Wir haben mit dem Rugby-Weltcup und auch dem Sieg unserer Mannschaft sehr viel zum Prozeß der Nationwerdung in Südafrika beigetragen." (zitiert nach: „Badische Zeitung", 27. 6. 1995, S.10; Hervorhebung vom Verf.).

35

Einleitung

kommen. 72 In einem extremen Fall konnten Siege sogar buchstäblich von der Bürgergemeinschaft errungen werden. In den hippischen Disziplinen, bei denen der Besitzer der Tiere als Sieger ausgerufen wurde, konnten Pferde und Gespanne auch unter dem Namen einer pòlis laufen, so daß in diesen Fällen auch die pòlis selbst als Sieger galt. 73 Während die Bedeutung von Athleten als Identifikationsfiguren der Bürgerschaft in der Forschung häufig betont wurde, fand eine andere Komponente des Athletismus, die dem Prozeß der Integration eher entgegenstand, weit geringere Aufmerksamkeit. Der Athletismus war auch und zunächst einmal ein Bereich der aristokratischen Lebenskultur, die sich nicht im Rahmen der Interaktionsstrukturen der Polisgemeinschaft bewegte und damit 'außerpolitisch' genannt werden kann. Auch wenn die ganze Stadt von einem Olympiasieg profitierte, blieb die Teilnahme an einem Agon in erster Linie eine individuelle Angelegenheit. Sportliches Engagement bezog sich nicht auf die eunomia der pòlis, sondern auf philotimia, das Streben des einzelnen Aristokraten nach Ruhm und Ansehen. Nirgendwo manifestierte sich der Individualismus der griechischen Aristokraten mit solcher Kraft wie beim Sport, und Wettkampfsituationen spornen unmittelbar das Konkurrenzdenken an. Kooperation dagegen spielte im griechischen Athletismus keine Rolle, zumal Mannschaftssportarten in Griechenland nur ein Schattendasein führten. 74 Der Prozeß der Polisbildung lief dagegen darauf zu, daß sich der einzelne stärker in den Dienst der Gemeinschaft stellte und die 'privaten' Aktivitäten einschränkte. Um die Stabilität der politischen Ordnung zu gewährleisten, mußte dem Einsatz fur die Gemeinschaft ein höherer Platz auf der Werteskala eingeräumt, überdies auch auf bedingungslose individuelle Profilierung verzichtet werden. In dieser Hinsicht standen sich Polisbildung auf der einen Seite und Agonistik als Element der adligen Lebenskultur auf der 72

Zur

Heroisierung

von

Athleten:

MYLONAS

1943/44;

FONTENROSE

BOHRINGER 1 9 7 9 ; K U R K E 1 9 9 3 , 1 4 9 f f . ; BOEHRINGER 1 9 9 6 ; M . BENTZ - C h r .

1968; MANN,

Zur Heroisierung von Athleten, in: Die Konstruktion von Wirklichkeit durch Bilder im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus (Kolloquium Günzburg 1999), (im Druck). 73 Uns sind drei Olympiasiege dieser Art bekannt: MORETTI 1957, Nr.39 (Eleer aus Dispontion); Nr.207. 233 (Argos). Leider kennen wir nicht die Umstände dieser Siege. Das Beispiel des Lichas (MORETTI 1957, Nr.339) zeigt, daß es auch später nicht unüblich war, Gespanne unter dem Namen einer pòlis antreten zu lassen. 74

D a z u CROWTHER 1 9 9 5 .

36

Einleitung

anderen Seite als Gegensätze gegenüber. Athletische Erfolge konnten sogar fìir den Kampf um die Macht in einer pòlis instrumentalisiert werden. Es sind uns Fälle überliefert, daß Athleten ihr gehobenes Ansehen dazu nutzen wollten, die Herrschaft in der pòlis an sich zu reißen und eine Tyrannis zu errichten. 75 Somit bildeten agonistische Erfolge ein Element des aristokratischen Dominanzstrebens, das durch die Ausbildung politischer und juristischer Entscheidungsstrukturen eingedämmt und kanalisiert werden sollte. Die Zugehörigkeit des Athletismus zur exklusiven Welt der Aristokratie wird vor allem aus der sozialen Herkunft der Athleten selbst deutlich. In einer Reihe von Werken wurde herausgearbeitet, daß die Teilnahme an den Olympischen Spielen in archaischer und frühklassischer Zeit auf die Aristokratie beschränkt blieb, so daß wir auf erfolgreiche Sportler aus niedrigeren sozialen Gruppen erst an der Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert stoßen. 76 Dieses Forschungsergebnis beruht nicht nur auf sachlogischen Überlegungen - fur ärmere Athleten war es kaum möglich, die notwendige Zeit fur ein umfangreiches Training, geschweige denn die Mittel für Reisen zu den großen Agonen aufzubringen - 7 7 , sondern auch auf prosopographischen Untersuchungen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang KYLES

Statistik der athenischen Athleten: 78 Während im 6. und 5. Jahrhun-

dert auch bei den gymnischen Disziplinen ein großer Anteil in

D A VIES'

„Athenian Propertied Families" aufgeführt ist, ist deren Anteil im 4. Jahrhundert sehr gering; die hippischen Disziplinen, bei denen es vor allem auf das eingesetzte Kapital ankam, blieben natürlich immer eine Domäne der begüterten Familien. Die Argumente von

YOUNG,

der für die Existenz von Teilnehmern aus

der Unterschicht schon seit dem 8. Jahrhundert eintritt, können dagegen nicht überzeugen.

YOUNG

fuhrt zur Bekräftigung seiner These Geschichten

über wundersame Taten in der Kindheit berühmter Kampfsportler an: Über Glaukos von Karystos berichtet die Überlieferung, er habe als Kind eine

75

Am berühmtesten ist der Putschversuch des Kylon; s.u. S.64ff.

76

BILINSKI 1961, 73ff.; ders. 1990; PLEKET 1974, 62ff.; EBERT 1980, 73ff.

71

Die erste Urkunde für die Übernahme von Trainings- und Reisekosten durch die

pòlis stammt aus der Zeit um 300 (IK Ephesos, 2005): dazu ROBERT 1967, 28ff. 78

KYLE 1 9 8 7 , 1 0 4 f f .

Einleitung

37

verbogene Pflugschar mit der bloßen Hand wieder in die richtige Form gebracht, 79 und ähnliche Krafttaten werden auch über andere Schwerathleten erzählt.

YOUNG

nimmt diese Geschichten für bare Münze und erblickt

in ihnen einen Hinweis auf eine bäuerliche Herkunft dieser Athleten. 80 Es muß nicht besonders betont werden, daß eine solche Interpretation der Eigenart dieser - sehr viel späteren - Quellen nicht gerecht wird. Gerade das häufige Auftreten der Wundergeschichten aus der Kindheit enthüllt ihren topischen Charakter; die spätere körperliche Leistungskraft wurde in ein früheres Lebensstadium zurückprojiziert. Als Indizien für den Beruf des Vaters lassen sich diese Passagen jedenfalls nicht heranziehen. 81 Auch wenn ich im Verlauf der folgenden Untersuchungen noch verschiedene Male auf die soziale Herkunft der Athleten zu sprechen kommen werde, 82 schien mir doch eine Behandlung dieser Frage im Rahmen der Einleitung unumgänglich, denn auf ihr beruht die Abgrenzung des Untersuchungszeitraums: Im späten 5. Jahrhundert änderte sich nicht nur die soziale Zusammensetzung der Teilnehmer an den großen Agonen, sondern es kam auch in derselben Zeit zu einer 'Demokratisierung' des Gymnasions, d.h. zu einer Öffnung dieser ehemals exklusiven Institution. 83 Mit beiden Entwicklungen verliert der Athletismus einen guten Teil seines aristokratischen Charakters; da aber in der vorliegenden Arbeit gerade seine Rolle im Konfliktfeld zwischen Adelsethik und Integrationsdruck untersucht werden soll, möchte ich mich auf die archaische und frühklassische Epoche beschränken. Der Untersuchungszeitraum ist somit durch die Fragestellung definiert,

79

Paus. 6, 10, 1-3; Philostr. gym. 20; Suda s.v. Γλαύκος.

80

YOUNG 1 9 8 4 , 1 5 5 ; POLIAKOFF 1 9 8 7 , 124.

81 Auch die übrigen Beispiele für „lower-class-athletes" seit dem Beginn der Olympischen Spiele beruhen auf mangelhafter Quellenkritik. Ein Beispiel: Vom ersten überlieferten Olympioniken, Koroibos aus Elis, der, wenn er überhaupt historisch ist, 776 den Stadionlauf gewann, sagt Athenaios, er sei ein μάγειρος gewesen (Athen. 9, 382b). YOUNG schließt daraus, bei diesem habe es sich um einen Koch und damit um einen einfachen Bediensteten gehandelt (YOUNG 1984, 99; ders. 1988, 62). Es ist jedoch schon vorher nachgewiesen worden, daß μάγειρος auch die Bedeutung Opferpriester' haben kann, was auf einen Angehörigen der wohlhabenden Schicht hindeutet (BLLRNSKL 1961,

4 7 ; PLEKET 1 9 7 4 , 6 0 ) . 82

Zu den Athleten aus Kroton, deren soziale Herkunft ebenfalls umstritten ist, s.u.

S. 175ff. 83

Dazu MANN 1998,12f.

38

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nicht durch die Menge an Quellen, denn diese sprudeln vor allem im Bereich der Epigraphik ab dem Hellenismus reichlicher. Welche Verhaltensweisen seitens der pòlis, mit dem Phänomen des Athletismus umzugehen, lassen sich nun beobachten? Und inwieweit war die Selbstdarstellung agonistischer Sieger auf die pòlis

als Bezugsrahmen

ausgerichtet? Zur Behandlung dieser Fragen sollen einzelne poleis über einen längeren Zeitraum hinweg einer Analyse unterzogen werden, um die Wechselwirkungen zwischen der politisch-sozialen Struktur einer pòlis und dem agonistischen Klima in ihr zu erfassen. Dabei ist der Fokus vor allem darauf zu richten, wie die agonistische Leistungsfähigkeit einzelner poleis und das Ansehen von Olympioniken in der Bürgerschaft auf eine Veränderung bestimmter gesellschaftlicher Parameter reagierte. Als Fallbeispiele ausgewählt wurden Athen, Sparta, Kroton, Ägina und die Tyrannenherrschaften Siziliens. Diese Auswahl wurde zum einen vom Ziel getragen, eine möglichst breite Palette von poleis zu untersuchen und verschiedene politische Ordnungen in ihrem Verhältnis zum Athletismus zu betrachten. Daneben spielt aber auch die Quellenlage eine wichtige Rolle, denn für alle ausgewählten Fallbeispiele gibt es spezifische Ansatzpunkte: Daß Athen in die Untersuchung einbezogen werden soll, versteht sich angesichts der verhältnismäßig günstigen Quellenlage zur Geschichte dieser pòlis von selbst. Sparta und Kroton wurden deswegen ausgewählt, weil sich anhand der Olympionikenliste besondere Auffälligkeiten ergeben: In beiden Fällen lassen sich Perioden des Erfolgs ausmachen, wogegen in anderen Zeiten Siege fehlten. Hier wird folglich die Olympionikenliste den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden. Athleten aus Ägina und die Tyrannen Siziliens schließlich bildeten zahlenmäßig die wichtigsten Auftraggeber für die Epinikiendichter Pindar und Bakchylides. Angesichts dieses Materials, das direkten Einblick in die Selbstdarstellung siegreicher Athleten gegenüber der Bürgerschaft ihrer pòlis gewährt, sind spezifische Einblicke in die Bedeutung des Athletismus in den betreffenden politischen Einheiten zu erwarten. Nicht betrachtet werden soll dagegen die Bedeutung eines Agons für die ausrichtende pòlis. Die Bedeutung von Festen für die Identität einer pòlis ist gerade in jüngeren Arbeiten akzentuiert worden, für das archaische und

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39

klassische Griechenland vor allem am Beispiel der Panathenäen.84 Auf die sportlichen Wettkämpfe dieses Festes hat K Y L E sein besonderes Augenmerk gelegt; er sieht in der Einrichtung der Großen Panathenäen einen wesentlichen Schritt in der Entwicklung des Sports zu 'civic athletics'.85 In der vorliegenden Arbeit soll jedoch nicht das reflexive Verhältnis einer einen Wettkampf ausrichtenden pòlis zu diesem Wettkampf stehen, sondern das Verhältnis zwischen Athlet und Heimatpolis.

84

S. dazu NEILS 1992 und dies. 1996, mit zahlreichen Literaturhinweisen in den einzelnen Beiträgen. 85

KYLE 1987, 16. 32, und passim.

2. Die griechische Agonistik: spezifische Quellenprobleme

Für die Erforschung des griechischen Sports im Untersuchungszeitraum sind drei spezifische Quellengattungen von entscheidender Bedeutung: die Epinikien, die agonistischen Siegesmonumente sowie die Olympionikenlisten. Da jede dieser drei Gattungen eigene methodische Probleme aufwirft, sollen sie im folgenden vorgestellt und ihr Quellenwert im Hinblick auf die in der Einleitung formulierten Fragen diskutiert werden.

2.1 Epinikion Im Gegensatz zu anderen chorlyrischen Gattungen86 existiert für das Epinikion keine umfassende Gattungsgeschichte. Jedoch hat die Forschung zu Pindar als berühmtestem Vertreter eine solche Fülle an Publikationen und eine solche Vielzahl an - teilweise sehr heterogenen - Herangehensweisen an die Materie hervorgebracht, daß ein vollständiger Überblick den Rahmen nicht nur dieser, sondern jeder Arbeit sprengen würde. Deswegen werde ich mich auf eine knappe Darstellung von Produktionsbedingungen und historischer Entwicklung der Epinikiendichtung sowie einige Erläuterungen zum methodischen Umgang mit den Texten beschränken. 'Epinikion' 87 ist keine ursprüngliche Gattungsbezeichnung. Die alexandrinischen Philologen faßten unter diesem Begriff alle Dichtungen zusammen, in deren Text ein Sieger eines Agons gepriesen wurde, vollzogen die Einteilung also nach inhaltlichen, nicht nach formalen oder stilistischen Kriterien. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sich innerhalb dieser Siegeslieder - in vorhellenistischer Zeit gewöhnlich als enkómia bezeichnet - weitere Diffe86

Z u m D i t h y r a m b o s : ZIMMERMANN 1 9 9 2 ; z u m P a i a n : KAPPEL 1 9 9 2 ; SCHRÖDER

1999. 87 Zum Epinikion allgemein W. SCHMID - O. STÄHLIN, Geschichte der griechischen Literatur (HdAW VII.I.l), München 1959, 498ff.; ANGELI BERNARDINI 1992;

GIANOTTI 1 9 9 2 ; GOLDEN 1 9 9 8 , 7 6 f f .

Quellenprobleme

41

renzierungen treffen lassen. GELZER unterscheidet sie gemäß dem Anlaß ihrer Entstehung in insgesamt fünf Gruppen: 88 • poetische Briefe, die zwar auf einen Sieg Bezug nehmen, aber nicht aus diesem Anlaß geschrieben wurden und nicht zur Auffuhrung bestimmt waren; • Lieder, die zwar zur Auffuhrung bestimmt waren, aber nicht aus Anlaß eines Sieges gedichtet wurden; • Lieder, die sich auf einen bestimmten Sieg bezogen und bei einem Götter- oder Heroenfest in der Heimat des Siegers aufgeführt wurden; • Lieder, die sich auf einen bestimmten Sieg bezogen und bei einem Fest anläßlich der Rückkehr des Siegers in seiner Heimat aufgeführt wurden; • Lieder, die bei einer Siegesfeier am Wettkampfort selbst aufgeführt wurden. Für die Zuordnung zu einer dieser Gruppen müssen im wesentlichen textimmanente Hinweise herangezogen werden; diese können in manchen Fällen durch Informationen der antiken Kommentatoren ergänzt werden. Jedoch kann bei vielen Epinikien der Aufführungskontext nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die Anwendbarkeit der GELZERschen Unterteilung ist in der Forschung umstritten, doch darauf soll bei der Besprechung der jeweiligen Lieder eingegangen werden. Erste Spuren von chorlyrischen Werken für Wettkampfsieger finden sich bei Archilochos, 89 bei dessen kallinikos es sich jedoch nicht um ein für einen bestimmten Anlaß verfaßtes Lied, sondern um einen allgemein verfügbaren und wiederholbaren Triumphgesang für siegreiche Athleten handelte. 'Echte', individuell verfaßte Siegeslieder sind erst aus dem 6. Jahrhundert überliefert: Einige kleine Fragmente aus der Feder des Ibykos 90 zeigen, daß erfolgreiche Athleten bereits in der Mitte des 6. Jahrhunderts ihre Siege von berühmten Dichtern besingen ließen. Damit verläuft die Entstehung der Epinikien synchron zu dem immensen Aufschwung, den die

88

GELZER 1985, 96f.

89

Pind. O. 9, Iff. mit Scholien (F 207 TARDITI = F 3 2 4 WEST).

90

Ibykos F 2 8 2 B CAMPBELL. Der Papyrus ist stark beschädigt, doch die Schlüsselwörter {podas, athl[...], nik[...]) lassen sich noch erkennen; es muß sich um ein Siegeslied für einen Läufer gehandelt haben.

42

Quellenprobleme

griechische Agonistik in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts nahm. Die Blütezeit der Epinikien begann jedoch am Ende des 6. Jahrhunderts und dauerte bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts; sie ist verknüpft mit den Namen der drei großen Dichterpersönlichkeiten Simonides, Bakchylides und Pindar, die auch in verschiedenen anderen chorlyrischen Gattungen wie Dithyrambos oder Paian dichteten, aber vor allem für ihre Epinikien gerühmt wurden. Einen 'Nachzügler' der Gattung stellt Euripides' Lied für den Olympiasieg des Alkibiades im Jahr 416 dar, und dieses Lied bildet gleichzeitig auch das letzte der bekannten Epinikien. Zwar stößt man auch im Œuvre des Kallimachos auf 'Epinikien', aber diese Lieder sind eher Ausdruck einer intensiven literarischen Beschäftigung mit Simonides, Bakchylides und Pindar, als daß sie in bezug auf eine etwaige chorlyrische Aufführung an ältere Epinikien anknüpfen.91 Obwohl sich die Produktion von Epinikien auf eine relativ kurze Zeit beschränkte, ist diese Gattung im Vergleich zu den meist nur fragmentarischen Überresten griechischer Lyrik sehr gut überliefert, was vor allem auf die nahezu vollständige Erhaltung der Epinikien Pindars zurückzuführen ist. Epinikien waren Auftragswerke, die von den Athleten bei professionellen Dichtern bestellt wurden. Da bei vielen Siegesliedern die Zeitspanne zwischen Wettkampf und Vortrag sehr kurz war, wird man davon ausgehen müssen, daß die Aufträge nicht erst nach dem Wettkampf erteilt wurden. Denn in diesem Fall wären aufgrund der knappen Zeit Werke von einer Komplexität, wie sie einzelne erhaltene Epinikien aufweisen, nicht zu vollenden gewesen. Vielmehr muß man den Ablauf folgendermaßen rekonstruieren - es handelt sich in diesem Falle wirklich um eine Rekonstruktion anhand von Plausibilitäten, weil verläßliche Informationen fehlen: Ein Wettkampfteilnehmer mit Siegchancen knüpfte schon im Vorfeld des Agons Kontakte zu einem professionellen Epinikiendichter, entweder indirekt oder direkt am Wettkampfort, wo die Poeten anwesend waren. Somit konnten schon einige Vorarbeiten in bezug auf Mythenwahl und Verarbeitung oder Ähnliches geleistet werden.92 Trat der erhoffte Erfolg 91

Die Texte der Epinikien des Kallimachos lassen sich aus vereinzelten Fragmenten, die papyrologisch oder literarisch überliefert sind, zum Teil rekonstruieren. Zur Gattungseinordnung FUHRER 1992, 6Iff. und passim. 92 Analoges findet sich auch bei den Siegerstatuen: So brachte Eubotas von Kyrene zum olympischen Wettkampf gleich eine fertige Siegerstatue mit (Paus. 6, 8, 3).

Quellenprobleme

43

tatsächlich ein, mußte das Epinikion in sehr kurzer Zeit ausgearbeitet und, da der Dichter in der Regel auch für die Inszenierung zuständig war, einstudiert werden, vor allem wenn die Aufführung noch am Wettkampfort selbst stattfinden sollte.93 Die Aufführung selbst bestand in einer musikalisch-choreographischen Show, die sich aus den Komponenten Chorgesang, Einzelgesang, Tanz, Lyra- und Flötenmusik zusammenfügte. Die Frage, wie die Kombination dieser Elemente konkret aussah, kann nicht pauschal beantwortet werden, da die Epinikientexte selbst zwar zahlreiche, aber uneinheitliche Hinweise auf die Art des Vortrags geben.94 Eindeutig geht jedoch aus den Texten hervor, daß es nicht bei einem einmaligen Vortrag bleiben sollte, sondern im Gegenteil die Epinikien durch dauerhafte Erinnerung den Ruhm des Auftraggebers in alle Ewigkeit verkünden sollten.95 Über diese sekundäre Verbreitung der Epinikien sind wir in der Regel sehr schlecht unterrichtet. Eine Ausnahme bildet die Siebte Olympische Ode Pindars für Diagoras von Rhodos, deren Text in goldenen Lettern am Athenatempel von Lindos angebracht wurde;96 dies unterstreicht die Bedeutung dieses Epinikions fur die rhodische Bürgerschaft, die die schriftliche Fixierung und Veröffentlichung an einem wichtigen Monument der pòlis zuließ bzw. selbst betrieb. In der Regel wird die Verbreitung der Oden aber in Form von Wiederaufführungen durch Einzelsänger in kleinerem Rahmen, z.B. bei Symposien, erfolgt sein. Keinen Zweifel lassen die häufigen Zitate in der antiken Literatur seit dem 5. Jahrhundert jedoch daran, daß die Epinikientexte in der gesamten griechischen Welt verbreitet waren. Im Zusammenhang mit der Fragestellung der vorliegenden Arbeit werden die Epinikien als Medium der Selbstdarstellung agonistischer Sieger herangezogen. Sprachwissenschaftliche, stilistische und ästhetische Gesichtspunkte fließen nur dann mit ein, wenn sie für die historische Analyse relevant sind. Damit die Betrachtung der Epinikien in einer nach póleis geord-

93

GELZER 1985, passim.

94

Zur Frage des Verhältnisses von Einzel- und Chorgesang bei der Auffuhrung der Epinikien LEFKOWITZ 1991, 191 ff.; GENTILI 1995, 65, j e w e i l s mit weiterer Literatur. 95

Z.B. Pind. O. 9, 2 I f f . P. 2, 67f. Ν . 5, Iff.

96

Gorgon FGrHist 515 F* 18 (= schol. Pind. O. 7, inscr.).

44

Quellenprobleme

neten Untersuchung des griechischen Athletismus methodisch legitim ist, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: 1. Der Auftraggeber muß die Kontrolle über den Textinhalt besitzen. Wäre der Dichter in der Darstellung von Sieger und Heimatpolis, in der Auswahl der Mythenerzählung und den anderen Strukturelementen an keine Rücksichtnahmen auf die Interessen des Auftraggebers gebunden, könnte man die Epinikien nur auf die persönliche Meinung des Dichters hin untersuchen, nicht aber auf die Selbstdarstellung siegreicher Athleten. Dazu muß vor allem betont werden, daß es sich bei den Epinikien - und dies ist in der Forschung vielfach zu wenig beachtet worden - um Auftragswerke für einen speziellen Anlaß handelte, d.h. ein Athlet bezahlte an einen professionellen Dichter Geld, sogar viel Geld, 97 damit dieser seinen Erfolg verherrlichte. Dieser Umstand mindert nicht den künstlerischen Wert der Gedichte, aber man muß sich im klaren sein, daß die Texte nicht zu dem Zweck entstanden, des Dichters persönliche Empfindungen oder Ansichten über politische und gesellschaftliche Probleme zum Ausdruck zu bringen, sondern dazu dienten, einem den Maßgaben bzw. der Erwartungshaltung des Auftraggebers entsprechenden Lobpreis Sprache zu verleihen. Natürlich gab es noch breite Spielräume in der Themenwahl und -ausführung, aber auch Berühmtheiten wie Pindar und Bakchylides hätten es sich nicht leisten können, die Wünsche ihrer Auftraggeber unberücksichtigt zu lassen, sonst wäre ihre Karriere als Epinikiendichter frühzeitig beendet gewesen. 2. Der soziale und politische Hintergrund der jeweiligen polis des Auftraggebers wird im Epinikion verarbeitet. Wäre die Selbstdarstellung des Siegers in diesem Medium austauschbar und auf jeden griechischen Athleten übertragbar, wären den Epinikien allgemeine Ideen und Ideale der griechischen Agonistik zu entnehmen; als Quelle für die Rolle der Agonistik in einzelnen poleis wären sie unbrauchbar. Glücklicherweise ist die Überlieferungslage bei den Epinikien so gut, daß eine Bezugnahme auf die jeweilige Situation bewiesen werden kann. Wir besitzen aus der Fe97 Der Preis für ein Epinikion lag nach einzelnen verstreuten Hinweisen in der antiken Literatur (Isokr. or. 15, 166; schol. Pind. N. 5, la) im Bereich von mehreren Tausend Drachmen; vgl. J.M. BREMER, Poets and their patrons, in: H. HOFMANN - A. HARDER (Hrsg.), Fragmenta dramatica. Beiträge zur Interpretation der griechischen Tragikerfragmente und ihrer Wirkungsgeschichte, Göttingen 1991, 39-60, hier 51 f.

Quellenprobleme

45

der von Pindar und Bakchylides zahlreiche Epinikien fur dieselben Auftraggeber bzw. Auftraggeber derselben pòlis - die Rede ist hierbei von den Oden fiir äginetische Athleten bzw. für sizilische Tyrannen - , und diese sind aufgrund gemeinsamer Merkmale als kohärente Gruppen erkennbar. Die innerhalb der jeweiligen Gruppe einheitliche Darstellung von Sieger und pòlis durch beide Autoren (s. dazu die ausführliche Besprechung in den einzelnen Kapiteln) läßt keinen Zweifel daran, daß hier eine Bezugnahme auf die besondere Polisstruktur vorliegt. Gleichzeitig zeigen die Übereinstimmungen zwischen den Oden beider Autoren für denselben Auftraggeber, daß letzterer für den Inhalt bestimmend war, nicht die Person des Dichters. Die Stichhaltigkeit dieser Überlegungen, die keineswegs allgemein anerkannte Forschungsergebnisse darstellen, kann erst an der konkreten Bearbeitung einzelner Epinikien bewiesen werden. 98 An dieser Stelle soll jedoch auf einige frühere Ansätze zur Ermittlung des 'historischen Inhalts' der Epinikien eingegangen werden, um der in der vorliegenden Arbeit angewandten Methode schärferes Profil zu verleihen. Die Forschung zum Epinikion besteht im wesentlichen aus Arbeiten über Pindar mit gelegentlichen Verweisen auf Bakchylides und - noch seltener Simonides. Eine von Pindar unabhängige Analyse der beiden letzteren Epinikiendichter existiert zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ein Resultat der sehr späten Auffindung der Bakchylidestexte in den Papyri aus Oxyrhynchos sowie der nur sehr fragmentarischen Überlieferung des Simonides. Aus diesem Grund wird auch im Forschungsüberblick Pindar dominierend im Zentrum stehen. Dabei können jedoch nur einige Grundzüge herausgearbeitet werden, die die Fragestellung der vorliegenden Arbeit unmittelbar betreffen. In der älteren deutschen Philologie bestand die historische Interpretation von Pindars Oden im wesentlichen darin, daß man konkrete Ereignisse ausfindig zu machen suchte, die als Bezugspunkte für die pindarischen Allegorien, Metaphern und Mythen angesehen werden konnten. Diese Ereignisse waren in den meisten Fällen der zeitgenössischen Politik entnommen, konnten aber auch biographische Details aus dem Leben des 98

Vgl. dazu auch MANN 2000.

46

Quellenprobleme

Auftraggebers oder sogar Pindars selbst sein, wie die postulierte Feindschaft zwischen Pindar und Bakchylides. Am konsequentesten wurde diese historisch-biographische Methode im Werk des Ulrich von WLLAMOWITZMOELLENDORF aus dem Jahre 1922 durchgeführt." Das Buch ist in seiner Gesamtheit als Biographie des Dichters konzipiert, was angesichts der Tatsache, daß man über Pindars Leben so gut wie gar nichts weiß, absurd wirkt. Viel schwerer wiegt jedoch, daß in vielen Fällen die einzelnen Segmente sowohl aus dem Textzusammenhang als auch aus dem Auffuhrungskontext der gesamten Ode gerissen werden. Infolgedessen hängen viele der Rekonstruktionen in der Luft und werden auch dadurch nicht auf eine festere Grundlage gestellt, daß diese Methode sich auf die antiken Scholiasten berufen kann. Denn prinzipiell standen die Gelehrten der alexandrinischen oder einer anderen Bibliothek vor denselben Problemen wie die modernen Philologen, wenn es darum ging, den historischen Zusammenhang einzelner Textpassagen zu rekonstruieren. Zwar hatten sie Zugriff auf Schriften, die inzwischen längst verloren sind, doch unmittelbar die Epinikien betreffende Zeugnisse standen auch ihnen nicht zur Verfügung zumindest finden sich dafür keine Hinweise. Insofern besteht kein Grund, ihnen Glauben zu schenken, wenn sie hinter vielen der pindarischen Allegorien Angriffe gegen andere Dichter zu erkennen meinen.100 Aus dem Text heraus sind diese Konstruktionen nicht zu belegen, vor dem Hintergrund des Aufführungskontextes wirken Ausfälle gegen die Feinde des Dichters wenig plausibel.

99

Innerhalb der historistischen Linie gab es allerdings ein sehr viel breiteres Spektrum von Ansätzen, als hier dargestellt werden kann; verwiesen sei auf die ausgezeichnete Aufarbeitung der Forschungsgeschichte bei YOUNG 1970, passim. Daß die historistische Methode auch in jüngster Zeit noch Anwendung findet, zeigt PFEIJFFER 1999. In dieser Arbeit manifestieren sich auch die grundlegenden Schwierigkeiten dieses Interpretationsansatzes. So muß PFEIJFFER mit Zirkelschlüssen operieren: Anhand der außenpolitischen Situation Äginas, auf die sich seiner Meinung nach in der Fünften Nemee Anspielungen finden, ermittelt er die Datierung dieser Ode; diese Datierung wiederum dient als Grundlage dafür, einzelne Passagen als konkrete Bezugnahmen auf historische Ereignisse zu interpretieren (PFEIJFFER 1999, 19. 59ff. 8Iff. und passim). 100

So auch LEFKOWITZ 1976, 8ff.

Quellenprobleme

47

In den 60er Jahren polemisierte Elroy BUNDY in seinen „Studia Pindarica" 101 gegen die gesamte Pindarforschung, angefangen bei den antiken Scholiasten bis hin zu seinen eigenen Zeitgenossen. In Absetzung von einer Betrachtung der Epinikien als Flickenteppich von philosophischen, politischen und autobiographischen Reflexionen des Dichters propagierte er eine strukturalistische Herangehensweise, indem er seine Aufmerksamkeit den einzelnen 'Bausteinen' der Epinikien widmete, wie z.B. dem Gebrauch von Mythen, Gnomen, Metaphern, und deren Valenz im Kontext des Gedichtes zu bestimmen versuchte. Seine Forschung zu den Konventionen der Epinikiendichtung mündete in die radikale Formulierung: „...there is no passage in Pindar and Bakkhulides that is not in its primary intent enkomiastic - that is, designed to enhance the glory of a particular patron" 102 . Jeder Vers oder jeder 'Baustein', der nicht unmittelbar dem Lobpreis des Auftraggebers diene, sei entweder als Hintergrundgestaltung oder als Retardierung für den danach folgenden Lobpreis zu verstehen. BUNDY stellte zu Recht klar, daß man einer Pindar-Ode nur dann gerecht werden könne, wenn man ihren Funktionszusammenhang als Preisdichtung genügend berücksichtige. 'Lobpreis' bildete für ihn jedoch eine abstrakte, invariable, von den historischen Rahmenumständen unabhängige Größe. BUNDY behandelte Pindar-Oden, als seien sie in einem historischen Vakuum verfaßt worden. Gegen diese rigorose Enthistorisierung der Epinikien durch BUNDY hat man in der jüngeren Forschung - mit neuen Methoden anstatt der exakten Parallelisierung zwischen Epinikieninhalt und konkreten Ereignissen - wieder versucht, Pindars Dichtung vor ihrem politischen Hintergrund zu begreifen. 103 Als wichtigste Arbeit ist dabei „The Traffic in Praise" von Lesley KURKE ZU nennen. 104 KURKE versucht in Anwendung von soziologischen Konzepten, vor allem Pierre Bourdieus, 105 die Epinikien innnerhalb eines

101

102

103

BUNDY BUNDY

1962. 1962,3.

Zur gesellschaftlichen Relevanz früher griechischer Dichtung allgemein vgl.

vor a l l e m GENTILI

1995.

104

KURKE 1991; vgl. auch dies. 1993.

105

Zu BOURDIEUs Kapitaltheorie s.o. A n m . 5 9 .

48

Quellenprobleme

Systems des Austausche symbolischen Kapitals zu verstehen, und macht diesen Kapitalaustausch in drei Beziehungssystemen fest: erstens im Verhältnis zwischen dem Sieger und seinem oikos, zweitens zwischen dem Sieger und der adligen Gabentauschgesellschaft, und drittens zwischen dem Sieger und seiner pòlis. In ihren Textanalysen fuhrt

KURKE

aus, daß Pindar

weder als Vertreter einer antiquierten Adelsethik aufzufassen sei noch in einer von gesellschaftlichen Entwicklungen unberührten ästhetischen Sphäre dichtete, sondern daß er in seinen Oden die neue Situation reflektierte, in die der einzelne durch die soziopolitischen Veränderungen im Zuge der Polisentstehung gelangt war. KURK.Es methodischer Umgang mit den Pindartexten ist meines Erachtens beispielhaft. Ihre Arbeit weist jedoch die Schwäche auf, daß sie Unterschiede in der Struktur der poleis, aus denen Pindars Auftraggeber stammten, nur unzureichend berücksichtigt, sondern von einem einheitlichen Polismodell ausgeht. Darüber hinaus entnimmt sie ihre Vorstellungen vom Funktionieren einer pòlis den attischen Rednern und Philosophen des 4. Jahrhunderts, ohne sich Gedanken zur - meines Erachtens nicht zulässigen - Übertragbarkeit dieser Zeugnisse auf die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts zu machen. 106 Wenn ich dafür plädiere, die spezifische historische Rahmensituation für die Auffuhrung der jeweiligen Epinikien in die Textanalyse einzubeziehen, so möchte ich mich keinesfalls in die alte historistische Forschungstradition einordnen. Es geht mir nicht darum, in den Texten Reflexe auf konkrete Ereignisse zu finden, vielmehr sollen die jeweiligen Charakteristika der Darstellung von Sieger und pòlis herausgearbeitet und auf das politische System und die Rolle der Agonistik in der betreffenden Stadt bezogen werden. Mit einem solchen differenzierenden Vorgehen werden einige vieldiskutierte Forschungsfragen hinfällig, wie z.B. die Diskussion über KuRKEs These, die Epinikien hätten der Reintegration des Siegers in die

106 Die größten Probleme wirft dabei die Übertragung des Liturgiesystems (Kapitel 7) und des Ausweichens in versteckte Formen des Reichtums (Kapitel 9) auf, zwei Phänomene, die in der von KURXE besprochenen Form im 5. Jahrhundert nicht vorkommen.

Quellenprobleme

49

Bürgerschaft gedient. 107 Wie sich zeigen wird, traf dies für einen Teil der Epinikien zu; manche Auftraggeber, wie z.B. Hieron von Syrakus, besaßen dagegen eine solche Machtstellung, daß sie die Siegeslieder eher für die Darstellung ihrer Herrschaftsideologie als für die Reintegration nutzten.

2.2 Agonistische Siegesmonumente Als zweite wichtige Möglichkeit der Selbstdarstellung bot sich dem Athleten die Aufstellung einer Siegerstatue an. 108 Über diese Gattung sind wir leider viel schlechter unterrichtet als über die Epinikien. Dies liegt nicht daran, daß keine Reste erhalten sind, vielmehr verfügen wir über eine Fülle von Athletenstatuen und jeweils mehrere Dutzend epigraphisch und literarisch überlieferter Siegesinschriften. Doch dabei stellt sich das Problem, daß man nur bei äußerst wenigen Monumenten Bild, Text und Aufstellungskontext kennt. Der Delphische Wagenlenker ist das mit Abstand besterhaltene agonistische Siegesmonument, und selbst in diesem Fall sind nur Teile der Skulpturengruppe und der Inschrift erhalten (s.u. S.289ff.). Als agonistische Weihgeschenke konnten beschriftete diskoi oder kälteres, aber auch Statuetten, Pinakes oder Reliefs dienen. 109 Unter agonistischen Siegesmonumenten verstehe ich dagegen statuarische Weihungen der Sieger anläßlich eines Wettkampferfolgs; dargestellt war in der Regel bei gymnischen Disziplinen der Athlet selbst, bei hippischen Disziplinen das Pferd mit Reiter bzw. das Gespann mit Wagenlenker. Die Statuen waren in der Regel aus Bronze, jedoch wurde in einigen Fällen auch Marmor ver-

107

KURKE 1991, passim. Vgl. dazu die Kritik von Chr. CAREY, JHS 114, 1994,

184. Literatur: DlTTENBERGER - PURGOLD 1896; HYDE 1903; ders. 1923; ECKSTEIN 1969; GROSS 1969; EBERT 1972; SEMMLINGER 1974; SERWINT 1987; HERRMANN 1988; 108

RAUSA 1 9 9 4 ; MADDOLI - NAFISSI - SALADrNO 1 9 9 9 .

Statuetten: THOMAS 1981 (s. auch SINN 1989); Pinakes und Reliefs: REISCH 1890, 39ff.; diskoi: das erste bekannte Exemplar ist der steinerne diskos aus dem 6. Jahrhundert (MORETTI 1953, Nr.6), das späteste ein Bronzeexemplar aus Olympia vom Jahr 241 n.Chr. (DlTTENBERGER - PURGOLD 1896, Nr.240/241; SEMMLINGER 1974, Nr.56); haltères: dafür gibt es im 6. Jahrhundert zahlreiche Beispiele (EBERT 1972, N r . l . 109

9 ; MORETTI 1 9 5 3 , N r . l ; SEMMLINGER 1 9 7 4 , N r . 5 6 ) .

50

Quellenprobleme

wendet;110 Holz dagegen war bei den olympischen Siegerstatuen wohl nur im 6. Jahrhundert in Gebrauch.111 Ebenso wie beim Epinikion gab es zwei mögliche Aufstellungsorte: die Stätte des Agons 112 und die Heimatpolis, wobei die eine Möglichkeit die andere nicht ausschloß.113 Die Aufstellung am Wettkampfort mußte von der betreffenden Kultbehörde genehmigt werden, aber dies war - soweit man weiß - eine reine Formsache.114 Für die Aufstellung in der Heimatpolis war dagegen das Einverständnis der Bürgerschaft notwendig; bevorzugt wurden Orte hohen Prestiges wie Akropoleis, Gymnasien und Agorai.115 Von den Skulpturen selbst haben sich nur wenige Originale erhalten: Neben dem bereits genannten Delphischen Wagenlenker sind aus Olympia ein Marmor-116 und ein Bronzekopf117 sowie zahlreiche Körperfragmente118 zu nennen, außerdem noch zwei vollständig erhaltene Bronzestatuen bekränz-

110 Dies wird in der Forschung bisweilen übersehen (DlTTENBERGER - PURGOLD 1896, S.235; HERRMANN 1988, 199f. Anm.17), doch die Beispiele sind eindeutig: Die Basis der Siegerstatue des Euthymos in Olympia (DlTTENBERGER - PURGOLD 1896, Nr. 144) weist eine Einlassung für eine Marmorplinthe auf (vgl. WEBER 1996, 34 Anm.23). Das gleiche gilt fur die Statue des Alkmeonides im böotischen Ptoion (J. DUCAT, Les kouroi du Ptoion, Paris 1971, 242-251). Zu marmornen Siegerstatuen s. auch Paus. 7, 2 7 , 5 . 8 , 40, 1. 111

Paus. 6, 18, 7.

112

Bei den Wettkampforten werden im antiken Schrifttum neben Olympia auch für Delphi (Paus. 10, 9, 2; lustin. 24, 7, 10) und Korinth (Paus. 2, 1, 7) zahlreiche Siegerstatuen bezeugt. 1,3 Theogenes aus Thasos beispielsweise hatte Statuen in Olympia, Delphi und Thasos (DlTTENBERGER - PURGOLD 1896, Nr.153; Syll.P 36A; POUILLOUX 1954, Nr.9), der Ringer Euthymos in Olympia und seiner Heimatstadt Lokroi (Plin. nat. 7, 152). Daß Athleten, die sowohl in Olympia als auch in Delphi gesiegt hatten, sich häufig an beiden Stätten Denkmäler setzten, geht aus Paus. 10, 9, 2 hervor. 114

Für Olympia: Paus. 5, 21, 1.6, 1, 1; Plin. nat. 34, 16; Lukian. pro imag. 11.

115

Akropolis: Paus. 1, 23, 9 (s. auch IG Ρ 847); Gymnasion: Paus. 7, 27, 5. 10, 36, 9; Agora: Paus. 8, 40, 5; s. dazu auch Lykurg. Leokr. 51. 116

HYDE 1 9 2 1 , 2 9 3 f f . ; HERRMANN 1 9 7 2 , 1 7 2 f .

117

Olympia IV (1890), 1 Of.

118

OlympForsch IX, passim; Olympia IV (1890), 12; eine Liste der Fragmente findet sich auch bei HYDE 1921, 322 (Bronzen) und 324f. (Marmor). Hydes Zuschreibungen allerdings sind äußerst unsicher.

Quellenprobleme

51

ter Jünglinge in Malibu 119 und Izmir, 120 die jedoch, da man den Aufstellungskontext nicht kennt, nicht eindeutig als Siegerstatuen klassifiziert werden können. Das zuletzt genannte Problem betrifft noch in weit stärkerem Ausmaß die zahlreichen römischen Kopien griechischer Athletenstatuen. Diese besitzen für die archäologische Forschung eine große Bedeutung, wenn es um die Entwicklung der griechischen Plastik in klassischer Zeit geht, konnten doch viele der Werke den großen Bildhauern zugeschrieben werden; Benennung und Zuschreibung waren vor allem durch die Hinweise des Plinius möglieh. 121 Die vielen Athletenstatuen liefern ein gutes Bild davon, in welcher Weise Sportler vor, bei und nach einer sportlichen Aktion dargestellt werden konnten: man stößt auf Diskuswerfer bei der Vorbereitung eines Wurfs, 122 Diskuswerfer in der Ausholbewegung, 123 Läufer in Aktion, 124 aber auch sich mit der Strigilis schabende 125 oder ruhig stehende Athleten. 126 Ich gehe an dieser Stelle nicht detailliert auf diese Werke ein, von denen jedes einzelne eine Vielzahl archäologischer Probleme aufgeworfen hat, sondern 119 Aufgefunden 1961 in der Adria auf der Höhe von Fano: J. FREL, The GettyBronze, Malibu M982; J. DÖRIG, Der Bronzeknabe Getty in Malibu, StädelJb 14, 1993, 19-34; A. VlACAVA, L'atleta di Fano, Rom 1994. 120

Aufgefunden 1979 vor der kleinasiatischen Küste auf der Höhe von Kyme: H.T. UÇANKUÇ, Die bronzene Siegerstatue aus dem Meer vor Kyme, Nikephoros 2, 1989, 135-155; HERRMANN 1988, 138f. Anm.7, deutet den Vorschlag einer Identifizierung des Athleten mit Rhodon von Kyme (MORETTI 1957, Nr.801) an. 121

Plinius nennt im 34. Buch seiner naturalis historia zahlreiche Bronzestatuen griechischer Athleten; demgegenüber ist die Zahl der athletischen Marmorstatuen des 36. Buches deutlich geringer. Für die Benennung und Zuschreibung ist das Zeugnis des Plinius deshalb von solch großer Bedeutung, da die häufig kopierten Werke - vorausgesetzt, man nimmt Plinius' Urteil als repräsentativ an - den von Plinius genannten opera nobilia entsprechen müssen. Diese Hypothese wurde besonders deutlich formuliert von A. FURTWÄNGLER, Meisterwerke der griechischen Plastik, Leipzig - Berlin 1893, IX, ein Werk, das in bezug auf die Benennung römischer Kopien und ihrer Meisterzuschreibung Maßstäbe gesetzt hat. 122

Diskobol des Naukydes; eine Liste der Kopien findet sich im Katalog bei

RAUSA 1 9 9 4 , N r . 13. 123

Diskobol des Myron (RAUSA 1994, Nr.4).

124

Läufer im Konservatorenpalast (RAUSA 1994, Nr. 11 ).

125

Apoxyomenos des Lysipp (RAUSA 1994, Nr.22); vgl. auch WEBER 1996.

126

Die Kennzeichnung als Athlet erfolgt durch die Körpergestaltung und den Kranz; ein gutes Beispiel bietet der Ephebe Westmacott (RAUSA 1994, Nr.8).

Quellenprobleme

52

verweise auf den umfangreichen Katalog von Federico RAUSA, der auch die einzelnen Repliken der jeweiligen Werke zusammengetragen hat. 127 Für die Auswertung dieser Skulpturen gemäß der Fragestellung der vorliegenden Arbeit ergibt sich jedoch ein schwerwiegendes Problem: Wie HERRMANN mit größter Klarheit gesagt hat, weiß man bei keiner einzigen der in römischen Kopien überlieferten Athletenstatuen den Namen des Dargestellten. 128

Dies

ist jedoch

nicht

„merkwürdigerweise"

(Zitat

HERRMANN) SO, sondern liegt an der römischen Rezeption, die das Augenmerk auf Künstler und Komposition, nicht auf Kontexte richtete. Dies hat aber zur Folge, daß wir nicht wissen, wo und aus welchem Anlaß die Originale aufgestellt wurden. Athletenstatuen sind nun nicht zwangsläufig mit athletischen Siegesmonumenten gleichzusetzen, da es auch andere Anlässe für deren Aufstellung gibt. Die berühmte Statue des Agias beispielsweise stellt eindeutig einen Athleten dar; sie wurde jedoch nicht wegen eines Pythiensieges in Delphi aufgestellt, sondern im Zusammenhang eines Familienmonuments seines Nachfahren Daochos. 129 Außerdem muß man mit der Möglichkeit rechnen, daß anonyme Athletenstatuen mit Leitbildfunktion in den Gymnasien griechischer Städte standen. 130 Es muß nicht extra betont werden, daß es für die Bestimmung der Aussagekraft einer Statue entscheidend ist, in welchem Zusammenhang sie aufgestellt wurde. Als Siegesmonumente können nur solche Statuen bezeichnet werden, die aus Anlaß eines oder mehrerer sportlicher Erfolge aufgestellt wurden und einen bestimmten, dem Betrachter durch die Inschrift kenntlich gemachten Athleten darstellten. In der archäologischen Forschung ist diese Differenzierung bisher völlig außer acht gelassen worden. So definieren HYDE und RAUSA ihren Untersuchungsgegenstand im Titel ihrer Bücher als „Victor Monuments" bzw. „L'immagine del vincitore", beziehen im Ver-

127

RAUSA 1994, 171 ff.

128

HERRMANN 1988, 131; HYDE 1921, IV: "We must not forget the simple fact that up to the present time not a single Roman copy has been conclusively proved to be that of an Olympic victor statue." (HYDES Kursive) 129

J. POUILLOUX, La région Nord du sanctuaire, FdD II, Paris 1960, 67-78; die neueste Behandlung der Statuengruppe und ein neuer Datierungsvorschlag stammen von W. GEOMINY, Zum Daochos-Weihgeschenk, Klio 80, 1998, 369-402. 130

Diese Rolle wird beispielsweise dem Apoxyomenos Lysipps zugeschrieben;

v g l . HYDE 1 9 2 1 , 2 8 8 , s o w i e WEBER 1 9 9 6 , p a s s i m .

53

Quellenprobleme

lauf ihrer Untersuchungen aber alle Athletenstatuen mit ein, ohne die Frage zu stellen, ob es sich bei diesen tatsächlich um Siegerstatuen im engeren Sinne, d.h. aus Anlaß eines Sieges errichtete Standbilder handelte. Des weiteren sind in der archäologischen Literatur vielfach einzelne Statuen oder Statuenfragmente mit bestimmten, aus Pausanias bekannten Siegesmonumenten identifiziert worden, ohne daß sich dafür zwingende Argumente anboten. 131 Die jüngere Forschung ist davon wieder abgekommen. Die Abgrenzung der Siegerstatuen innerhalb der größeren Gruppe der Athletenstatuen stellt ein entscheidendes Problem bei der Auswertung derjenigen Skulpturen dar, bei denen man sich weder auf eine Inschrift noch auf archäologische Informationen über den Aufstellungskontext stützen kann. Auch Kriterien wie Statuengröße und Kranz erweisen sich bei genauerem Hinsehen als nicht tragfahig: Das angebliche olympische Verbot von überlebensgroßen Siegerstatuen 132 muß nach den neuesten Untersuchungen der Standspuren an den Statuenbasen angezweifelt werden, 133 und ein Kranz kennzeichnet einen Athleten nicht eindeutig als agonistischen Sieger. 134 Dies alles hat zur Folge, daß die Skulpturen zur Erforschung des agonistischen Siegesmonuments nur in beschränktem Maße beitragen. Im Falle der Siegesinschriften auf den Statuenbasen gibt es ebenfalls methodische Probleme. Zuerst zur literarischen Überlieferung: Die antiken Gedichtsammlungen beinhalten eine Reihe von Epigrammen, die den Athletismus zum Thema haben. Dazu gehören Spottgedichte über erfolglose Sportler 135 oder bis zur Unkenntlichkeit zerschlagene Boxer, 136 Dichtungen ι -in

über homoerotische Beziehungen im Gymnasion erfolgreiche Athleten und Rennpferde. 131

138

und Grabgedichte auf

Die meisten Gedichte athletischen

S. dazu die Literaturhinweise im Katalog von RAUSA 1994.

132

Lukian. pro imag. 11.

133

St. LEHMANN, Die Basen der Siegerstatuen von Olympia (im Druck).

134

Vgl. dazu beispielsweise eine rotfigurige Schale in Malibu (D. VON BOTHMER, An archaic red-figured kylix, GMusJ 14, 1986, 5-20), auf der eine Gruppe von bekränzten Athleten im Gymnasion beim Training dargestellt ist. Hier handelt es sich eindeutig nicht um einen Wettkampfkontext, und die Athleten sind anonym. Zum Vorkommen von Kränzen in der Bildkunst s. vor allem BLECH 1982, 109ff. 135

Anth. Gr. 11,80. 82-86. 2 0 8 . 4 3 1 .

136

Anth. Gr. 11,75-79. 81.

137

Anth. Gr. 12, 34. 123.206. 222.

138

Anth. Gr. 7 , 2 1 2 . 390. 692; 13, 14.

54

Quellenprobleme

Inhalts beschäftigen sich jedoch mit Siegesmonumenten und liefern entweder eine Beschreibung des Monuments oder - nicht immer kann man dies exakt unterscheiden - geben den Inhalt der Inschriften von Siegesmonumenten an.139 Zu dieser Sammlung kommen noch die wörtlich von Pausanias und anderen zitierten Epigramme hinzu, die keine Aufnahme in die Anthologien fanden. Der Vorteil dieses Uberlieferungsstranges gegenüber den originalen, aber häufig lädierten Inschriftenblöcken liegt auf der Hand: Es handelt sich um vollständige Texte. Auf der anderen Seite stößt man bei der Auswertung der Gedichte auf eine Fülle von Problemen, deren gravierendstes die Schwierigkeit der zeitlichen Einordnung ist. Zwar werden die meisten Epigramme Dichtern zugeschrieben, deren Lebenszeit wir kennen, doch diese Zuordnungen sind zu unzuverlässig, um darauf eine sichere Chronologie aufzubauen.140 Die stilistischen Analysen können Anhaltspunkte für Datierungen liefern, doch allzu präzise sind auch diese nicht.141 Da man aus den gefundenen Inschriftenbasen weiß, daß manche Siegerepigramme erst in späteren Zeiten angebracht oder umgearbeitet wurden,142 ist die Frage der Datierung der literarisch überlieferten Epigramme wesentlich. Ohne zeitliche Fixierung kann man auch in denjenigen Fällen, in denen die Person des Siegers bekannt ist, nur Plausibilitätsargumente anfuhren, ob es sich um die originale Inschrift handelte oder um eine später hinzugefügte. Und schließlich kann in manchen Fällen nicht ausgeschlossen werden, daß nicht eine reale, sondern nur eine fiktive Inschrift vorliegt. Bei dem authentischen Material, den ausgegrabenen Inschriftenbasen, gibt es keine derartigen Unklarheiten. Sie geben nur tatsächlich eingemeißelte Texte wieder, und was Überarbeitungen betrifft, so lassen sich diese an Rasuren, Übermeißelungen, bei größeren zeitlichen Abständen zum Aufstellungszeitpunkt der Statue auch anhand der Buchstabenformen 139 Anth. Gr. 6, 7. 100. 135. 149. 212. 256. 259. 350; 9, 557. 588; 13, 5. 15f. 18f.; 16, 1-3. 23-25. 51-55. (Die Statuen der kaiserzeitlichen und byzantinischen Wagenlenker wurden in dieser Aufstellung nicht berücksichtigt.)

' 40 Am beliebtesten bei der Zuschreibung ist Simonides aus Keos: Anth. Gr. 13, 19; 16, 2f. 23f.; zu den Einwänden gegen eine Autorschaft des Simonides bei einigen E p i g r a m m e n s. EBERT 1 9 7 2 , a d l o c . 141

Zu der Problematik der Datierungen s. EBERT 1972, 15.

142

EBERT 1 9 7 2 , N r . 6 0 - 6 2 .

Quellenprobleme

55

erkennen. Bei den in situ aufgefunden Basen läßt sich außerdem präzise der originale Aufstellungsort bestimmen. Außerdem können die Basen, wenn die Einlaßlöcher erhalten sind, auch über Größe und Material der Statuen, rudimentär auch über das Bewegungsmotiv Aufschluß geben.143 Erschwerend auf die Auswertung wirkt sich dagegen der oftmals schlechte Erhaltungszustand aus. In der Regel hat man es mit Fragmenten der ursprünglichen Inschriften zu tun, und nur in Ausnahmefällen verfugt man über vollständige Texte. Was die Verteilung auf verschiedene Orte betrifft, so stellen die Siegerinschrifiten von Olympia den größten Anteil, sie sind auch am besten publiziert.144 Außerhalb Olympias ist ebenfalls wesentliches Material gefunden worden, doch liegen keine entsprechenden Sammelpublikationen vor. Eine große Hilfe sind in dieser Situation zwei sorgfältig erstellte, schon mehrfach erwähnte Zusammenstellungen: Luigi MORETTls „Iscrizioni agonistiche greche" beinhalten die wichtigsten Inschriften agonistischen Inhalts, und zwar sowohl Prosa- als auch Versinschriften. Das schon genannte Werk von EBERT dagegen behandelt ausschließlich Epigramme, bezieht aber neben dem epigraphischen Material auch literarisch überlieferte Versinschriften ein. Für Datierungen und Textrekonstruktionen bilden diese beiden Werke die Grundlage für die vorliegende Arbeit. Die beste Quelle für agonistische Siegesmonumente stellt jedoch die Periegese des Pausanias dar. Pausanias berichtet an verschiedenen Stätten von Statuen siegreicher Athleten,145 am wichtigsten ist jedoch seine ausführliche

143

Leider wurde bisher bei vielen Inschriftenpublikationen auf eine ausreichende Dokumentation der Basenoberseiten zu wenig Wert gelegt, so daß eine Beurteilung der Einlaßlöcher in der Regel schwer fällt. Dieses Manko wird durch das im Druck befindliche Werk von LEHMANN (s.o. Anm.133) teilweise beseitigt werden. 144

Die Siegerinschriften der ältesten Olympiagrabungen sind von Dittenberger und Purgold in DITTENBERGER - PURGOLD 1896, Nr. 142-243, publiziert worden. Zu den in den letzten hundert Jahren hinzugekommenen Neufunden s. vor allem SEG XI 1223. 1231; EBERT 1997b; TAEUBER 1998. Zur Zeit ist eine Neuedition der olympischen Siegerinschriften unter der Leitung von P. SLEWERT und H. TAEUBER in Arbeit. 145 Paus. 1, 18, 3 (Athen: Autolykos); 1, 23, 9 (Athen: Epicharinos; Hermolykos); 1, 28, 1 (Athen: Kylon); 2, 1, 7 (Korinth: Isthmiensieger); 2, 11, 8 (Titane: Granianos); 2, 19, 7 (Argos: Ladas); 3, 18, 7 (Amyklai: Ainetos); 3, 22, 5 (Akriai: Nikokles); 7, 27, 5 (Pellene: Promachos); 8, 40, 1 (Phigalia: Arrhachion); 8, 40, 5 (Argos: Kreugas); 10, 9, 2

56

Quellenprobleme

Beschreibung der Altis in Olympia. Zwar genoß Pausanias vor allem in der älteren deutschen Forschung keine gute Presse, und man warf ihm auch vor, in vielen Fällen eine Autopsie nur zu fingieren, während er seine Informationen in Wirklichkeit anderen Autoren verdanke.146 Doch im Falle der olympischen Siegerstatuen sind die Übereinstimmungen zwischen den Angaben des Pausanias und dem ergrabenen epigraphischen Material so schlagend,147 daß an einem ausgiebigen Besuch des Periegeten in Olympia nicht gezweifelt werden kann. Zwar können Pausanias einige Fehler nachgewiesen werden, doch dies ist bei einer Arbeit dieses Umfanges nicht verwunderlich; außerdem waren zu Pausanias' Lebenszeit viele Inschriften bereits mehrere Jahrhunderte alt und dementsprechend verwaschen oder 148

verwittert. Pausanias' Beschreibung der agonistischen Siegesmonumente in Olympia umfaßt insgesamt 18 Kapitel - damit stellen diese die mit Abstand am ausfuhrlichsten beschriebene Denkmälergruppe dar! Diese Schwerpunktsetzung unterstreicht eindrucksvoll sowohl den Stellenwert des Sports in der griechischen Kultur als auch die Bedeutung der Siegesmonumente fur die Selbstdarstellung von Athleten. Pausanias geht nach eigenen Worten nicht auf alle Siegerstatuen ein, sondern nimmt anhand der Leistungen der Sieger und der künstlerischen Qualität der Werke eine Auswahl vor.149 Aber trotz dieser Einschränkung liegt die Gesamtzahl der Siegesmonumente, auf die er bei seinen beiden

(Delphi: Phayllos); 10, 36, 9 (Antikyra: Xenodamos). Hinzu kommen noch die von Pausanias bei seinem Olympiabericht erwähnten Statuen des Cheimon in Argos (6, 9, 3) sowie des Astylos in Kroton ( 6 , 1 3 , 1). 146 HABICHT 1985, 169ff., liefert einen Überblick über die Kritiker und ihre Ansatzpunkte (mit Bibliographie). Er behandelt eingehend den prominentesten Vertreter der Pausaniasgegner, Ulrich von WLLAMOWITZ-MOELLENDORF, und schildert den biographischen(!) Ursprung für dessen Abneigung gegen den Periegeten. 147

V g l . EBERT 1 9 9 7 a .

148

Eine ausführliche Argumentation für die Anwesenheit des Pausanias in Olympia findet sich bei HABICHT 1985,150ff.; MADDOLI - SALADINO 1995, XXf. und passim. Das genaue Datum ist nicht einwandfrei ermittelbar; HERRMANN 1988, 122, plädiert für den Zeitraum zwischen 174 und 176, MADDOLI - SALADINO 1995, XXIIff. nehmen dagegen eine Abfassung der Elisbücher unter Marc Aurel, einen Besuch in Olympia dagegen schon unter Antoninus Pius an. 149

Paus. 6, 1,2.

Quellenprobleme

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Gängen durch die Altis zu sprechen kommt, 150 bei ungefähr 200. 151 Bei der desolaten archäologischen Überlieferung der Siegesmonumente stellt diese Zusammenstellung eine unersetzbare Fundgrube dar. Dies liegt weniger an der Beschreibung der Statuen an sich - Pausanias beläßt es meist bei der Benennung der Figuren und liefert nur in wenigen Fällen Informationen über Bewegungsmotive und Attribute - 1 5 2 als an der Wiedergabe der Inschriften. Daß diese als Grundlage für Pausanias' Wissen über die Person des Siegers dienten und ihm Namen, Patronymikon und Poliszugehörigkeit des Dargestellten angaben, unterliegt keinem Zweifel: Pausanias zitiert einige Inschriften wörtlich 153 und nennt sie in vielen weiteren Fällen explizit als seine Informationsquelle. 154 Liefern die Inschriften nicht die erwarteteten Angaben, vermerkt Pausanias dies ausdrücklich. 155 Aus den Angaben des Pausanias ist zu erfahren, daß die Angabe der Heimatpolis bei den olympischen Siegesmonumenten allgemein üblich war. Weitere Standardinformationen einer Siegerinschrift bestanden in Patronymikon, Disziplin und eventuellen weiteren agonistischen Erfolgen. Ebenfalls in den Inschriften angegeben wurde der Aufsteller des Monuments, sofern er nicht mit dem Sieger identisch war. So wurde die olympische 150

Zur Route des Pausanias bei diesen beiden Gängen s. HYDE 1903, 63ff.; HYDE 1921, 339ff., und vor allem HERRMANN 1988, 132ff. (mit Karte). 151

Die exakte Summe läßt sich nicht ermitteln, da bei einigen der erwähnten Athleten nicht klar ist, ob Pausanias wegen ihrer Statuen oder im Rahmen von historischen Exkursen auf sie zu sprechen kommt. Außerdem ist es nicht immer ganz klar, ob es sich bei den beschriebenen Statuen um athletische Siegesmonumente oder Ehrendenkmäler für elische Bürger etc. handelt. Zu den methodischen Problemen bei der Zählung s. HERRMANN 1988, 134ff., der auch einen Überblick über die unterschiedlichen Zahlenangaben der Literatur bietet. 152

Paus. 6, 1, 7 (Anaxandros); 6, 3, 9f. (Hysmon); 6, 9, 1 (Theognetos); 6, 10, 3 (Glaukos). 153

Paus. 6, 4, 6 (Cheilon); 6, 8, 2 (Damarchos); 6, 9, 9 (Philon); 6, 10, 5 (Damaratos/Theopompos); 6, 10, 7 (Kleosthenes); 6, 13, 10 (Söhne des Pheidolas); 6, 17, 5 (Eperastos). 154 Paus. 6, 1, 4 (Kleogenes); 6, 1, 6 (Kyniska); 6, 1, 7 (Anaxandros); 6, 1, 7 (Polykles); 6, 2, 1 (wegen Textverderbnis unbenannter Stratiote); 6, 2, 6f. (Antipatros); 6, 2, 9 (Faustkämpfer aus Samos); 6, 3, 1 (Chaireas); 6, 3, 2f. (Stomios); 6, 3, 7 (Eupolemos); 6, 5, 1-9 (Poulydamas); 6, 7, 9 (Gnathon); 6, 9, 4f. (Gelon); 6, 12, 8f. (Agesarchos); 6, 13, 2 (Chionis); 6, 13, 5 (Douris); 6, 13, 7 (Agemachos); 6, 15, 8 (Eutelidas); 6, 16, 8 (Deinosthenes). 155

Paus. 6, 2, 9 (Name des Siegers fehlt); 6, 4, 5 (alle Angaben außer dem Künstler fehlen); 6, 17, 4 (Polisname fehlt).

58

Qiiellenprobleme

Siegerstatue eines samischen Faustkämpfers von seinem Paidotriben gestiftet.156 Während dies ein Einzelfall bleibt, gibt es mehrere Beispiele für die Finanzierung von Siegesmonumenten durch öffentliche Kassen, und zwar handelte es sich dabei nicht immer um postume Ehrungen wie beispielsweise bei Chionis aus Sparta oder Oibotas aus Achaia.157 Pausanias nennt aus verschiedenen Epochen sieben weitere Beispiele, in denen agonistische Siegesmonumente vom koinón bzw. der pòlis bezahlt wurden." 8 Nicht den Inschriften entnommen sind dagegen die zahlreichen Legenden und Anekdoten über einzelne Athleten, mit denen Pausanias seine Beschreibung auflockert. Diese Geschichten sind von den Angaben der Inschriften in den meisten Fällen gut zu unterscheiden, da sie mit λέγεται oder ähnlichen Kennwörtern eingeleitet werden.159 Als Informanten kann man in der Regel elische Fremdenführer annehmen; über das Leben der berühmtesten Athleten konnte sich Pausanias aber auch in Bibliotheken kundig machen.160 Die Exkurse unterrichten über viele interessante Phänomene der antiken Agonistik, vor allem über die Erinnerung an herausragende Athleten in späteren Jahrhunderten; für die Interpretation der Siegesmonumente selbst sind sie gegenüber der Wiedergabe der Inschriften von geringerer Bedeutung. Pausanias' Wert für die Erforschung der agonistischen Siegesmonumente liegt nicht nur in der Beschreibung der einzelnen Objekte, sondern auch in der Verdeutlichung der Topographie des Statuenwaldes in der Altis von Olympia. Dank seiner Methode, jeweils die Werke in der Reihenfolge zu beschreiben, in der er sie bei seinen Gängen erblickte, erfahren wir, wie die 156

Paus. 6 , 2 , 9 .

157

Paus. 6, 13, 2 (Chionis); 6, 3, 8 (Oibotas); weitere Beispiele einer postumen Aufstellung: 6, 12, 1 (Hieron); 6, 5, 1-9 (Pulydamas; vgl. dazu TAEUBER 1998); 6, 4, 6f. (Cheilon); 6, 10, 3 (Glaukos); 6, 10, 4 (Damaretos); 6, 16, 6 (Kalliteles); 6, 15, 8 (Eutelidas; s.u. S.138). 158 Paus. 6, 6, 2 (Agenor); 6, 13, 11 (Agathinos; Aristophon); 6, 15, 6 (Epitherses); 6, 17, 2 (Herodotos, Philinos); 6, 17, 4 (Emaution). Daneben können noch einige Basen aus Olympia herangezogen werden: DLTTENBERGER - PURGOLD 1896, Nr. 186 (Epitherses); Nr.224 (Polyxenos). 159

Zu folgenden Athleten verfugt Pausanias eindeutig über andere Quellen als die Siegesinschriften: 6, 2, 2f. (Lichas); 6, 2, 6f. (Antipatros); 6, 3, 7 (Eupolemos); 6, 3, 1 l f . (Dikon); 6, 4, 11 (Ergoteles); 6, 7, 1-7 (Diagoriden); 6, 7, 10 (Dromeus); 6, 9, 3 (Eupolemos); 6, 10, 1-3 (Glaukos); 6, 11, 2-9 (Theogenes); 6, 18, 6 (Sotades). 160

Zu den Quellen des Pausanias MADDOLI - NAFISSI - SALADINO 1999, X X I X f .

Quellenprobleme

59

einzelnen Statuen zueinander standen. Natürlich liefern die Angaben des Pausanias nur ein sehr grobes Muster; da aber der Großteil der originalen Basen nicht in situ gefunden wurde, ist Pausanias auch in diesem Punkt unersetzbar. Der vorliegenden Arbeit kommt überdies der Klassizismus des Pausanias zugute. Sein größtes Interesse gilt den Athleten und Künstlern der spätarchaischen und klassischen Zeit, und folglich beschreibt er mit Vorliebe die Siegesmonumente dieser Epoche, während er hellenistische und kaiserzeitliche Werke mit Stillschweigen übergeht. Daß die Dominanz des 6.-4. Jahrhunderts durch die Auswahl des Pausanias begründet ist und nicht etwa den Reflex einer Entwicklung darstellt, in der die Aufstellung von Siegesmonumenten aus der Mode kam, wird durch die Funde aus Olympia bewiesen. 16 ' In bezug auf die Entstehungszeit der Gattung stimmen Pausanias und die archäologischen Ergebnisse überein. Sowohl die ältesten von Pausanias genannten agonistischen Siegesmonumente als auch die ältesten ausgegrabenen Basen stammen aus dem 6. Jahrhundert. 162 Dieses Datum korrespondiert mit dem Aufschwung der Agonistik und entspricht in etwa der Entstehungszeit des Epinikions, doch im Gegensatz zu diesem kam die Aufstellung von Siegesmonumenten in der antiken Agonistik nie außer Gebrauch.

2.3 Die Olympionikenliste Die Olympionikenliste geht in ihren ältesten Teilen auf die verlorenen Aufzeichnungen des Hippias von Elis zurück, eines Sophisten und Lokalhistorikers, der um 400 eine Liste der bisherigen Sieger erstellte.163 Seine Aufzeichnungen wurden von Aristoteles, Eratosthenes und vielen anderen benutzt und fortgesetzt; überliefert ist eine Olympionikenliste im ersten Buch der Chronik des Eusebios; auf welche Quellen dieser zurückH E R R M A N N 1988, 123f., mit vergleichenden Statistiken zur zeitlichen Einordnung der von Pausanias genannten und der archäologisch gesicherten Siegesmonumente. 161

162

Paus. 6, 18, 7. 8, 40, 1; D L T T E N B E R G E R — P U R G O L D 1896, Nr.142; vgl. außerdem die Statuenbasis des Kleom(b)rotos (s.u. S.72f.). 163

Plut. Num. 1.

60

Quellenprobleme

griff, ist umstritten. 164 In dieser Liste finden sich sämtliche Stadioniken sowie viele weitere Sieger. Daneben sind noch durch Inschriften und Papyri, von denen die Fragmente aus Oxyrhynchos den bedeutendsten Fund darstellen, 165 sowie durch verstreute Angaben in der antiken Literatur Namen, Disziplinen und Heimatpoleis weiterer Olympioniken bekannt. Die Sammlung der Olympioniken durch

MORETTI

aus dem Jahre 1957, vom

selben Autor zweimal mit Korrekturen und Ergänzungen versehen, bildet bis heute die Grundlage für weitere Forschungen. 166 Daß nur ein Bruchteil der Olympiasieger der archaischen Zeit überliefert ist, stellt kein allzu großes Problem dar. Die etlichen hundert Namen von Olympioniken bis ca. 400, von denen wir Kenntnis haben, reichen als Basis für statistische Untersuchungen völlig aus. Auch der Umstand, daß auf dem Überlieferungsweg von Hippias über diverse Zwischenstationen zu Eusebios die eine oder andere Information über Namen oder Herkunftsorte einzelner Sieger durch Abschreibfehler verfälscht wurde, spricht nicht gegen die historische Verwertbarkeit der Liste, da es hier nicht um einzelne Siege, sondern um besondere Auffälligkeiten geht, beispielsweise um eine große Anzahl von Siegern aus einer pòlis in einer bestimmten Epoche. Den kritischen Punkt bildet vielmehr das Problem, ob die Liste des Hippias selbst auf älteren Informationen beruhte oder von diesem erfunden wurde. Seit Plutarch 167 und in der Moderne seit Isaac Newton 168 wurde oft letztere Möglichkeit angenommen und das Argument geäußert, daß Hippias nur sehr vage Angaben über die frühe Zeit gehabt haben könne. Namen und Heimatpoleis der frühen Olympiasieger stellten somit ein Produkt seiner Phantasie, jedoch keine historische Tatsache dar. 169 Gegen diese Zweifel

164

Eus. Chron. I 193ff. (SCHOENE). Gemeinhin geht man davon aus, daß Eusebios die Liste des Sextus Iulius Africanus wiedergebe; dagegen jedoch A.A. MOSSHAMMER, The chronicle of Eusebius and greek chronographic tradition, Lewisburg 1979, 146ff. 165

FGrHist 415 = POxy II 1899, Nr.222. 238. Sie informieren fast vollständig über die Olympioniken der Jahre 480-468; zu inschriftlichen Siegerverzeichnissen EBERT 1 9 9 7 b ; SCHMIDT 1 9 9 9 . 166

MORETTI 1957; ders. 1970; ders. 1987; ältere

Olympionikensammlungen:

FÖRSTER 1 8 9 1 / 9 2 ; KLEE 1 9 1 8 . 167

Plut. Num. 1.

168

Einen Überblick über die Geschichte der Kontroverse liefert PEISER 1990, 42ff.

169

F ü r S p a r t a s. z . B . CLAUSS 1 9 8 3 , 2 4 f .

61

Quellenprobleme

können schwerwiegende Argumente angeführt werden. Erstens decken sich die archäologischen Ergebnisse insofern mit dem Befund der Olympionikenliste, als letztere zu Beginn des 7. Jahrhunderts die ersten außerpeloponnesischen Olympioniken aufführt, während als Sieger des 8. Jahrhunderts Eleer, Spartaner, Messenier und andere Peloponnesier genannt werden. Die in der Anlage von temporären Brunnen, wie sie

M A L L WITZ

festgestellt hat

(s.o. S.26), erkennbare Erweiterung des Einzugsraumes der Spiele findet ihre Entsprechung in der Olympionikenliste, womit ein Indiz für deren Verläßlichkeit gegeben ist. Das zweite ist ein Plausibilitätsargument: Wenn Hippias wirklich keine älteren Aufzeichnungen vorgelegen hätten und seine Liste eine Fälschung gewesen wäre, hätte er sie doch aller Logik nach so konstruiert, daß sie seinen Zeitgenossen glaubwürdig erscheinen mußte. Dem ist aber nicht so, wie sich am Beispiel Spartas verdeutlichen läßt. Zur Zeit des Hippias galten die Spartaner als ausgesprochen schlechte Athleten, wie die für diese Epoche sicher authentische Liste sowie einige Jahrzehnte später Aristoteles 170 expressis verbis bezeugen. Unter dieser Voraussetzung mußte Hippias mit Widerspruch von seinen Zeitgenossen rechnen, denn aus seiner Liste ging hervor, daß Sparta in den ersten Jahrhunderten der Olympischen Spiele die eindeutig erfolgreichste pòlis war. Auch aus dem Beispiel der krotoniatischen Siege läßt sich ein Argument für die grundsätzliche Vertrauenswürdigkeit der Liste finden, denn es existiert eine reiche Parallelüberlieferung zu der krotoniatischen athletischen Dominanz, die die Aussage der Olympionikenliste stützt.171 All dies zeigt die viel größere Wahrscheinlichkeit, daß dem Hippias ältere Aufzeichnungen der olympischen Priesterschaft zur Verfügung standen und er die Siegernamen nicht nach logischen Kriterien ergänzte. Es wäre außerdem auch gar nicht möglich gewesen, Namen von Siegern massiv zu fälschen. Olympioniken genossen in ihrer Heimatstadt schon zu archaischer Zeit großes Ansehen. Vor allem ihre Nachkommen hatten ein Interesse daran, ihren Ruhm nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, da er zur Steigerung ihres eigenen Prestiges dienen konnte. Aber auch die Gemeinschaft selbst erinnerte sich ihrer Spitzenathleten, denen sie immense 170

Aristot. pol. 8, 1338b 25-27. S.u. S . I 6 5 f .

62

Quellenprobleme

Ehren erwies, und deswegen blieben die Namen der Olympiasieger über mehrere Generationen im Gedächtnis der Bürgerschaft. Hätte eine pòlis einen Sieger aus ihren Reihen in Hippias' Liste vermißt, wäre Protest sicher gewesen. Schließlich fehlt das Motiv, das Hippias dazu hätte veranlassen sollen, eine gefälschte Liste zu erstellen. Eine prospartanische Einstellung beispielsweise, die die vielen spartanischen Sieger in seiner Liste nahelegen könnte, läßt sich fìir ihn nicht nachweisen. Natürlich läßt sich daraus nicht ableiten, daß es für Hippias keine anderen Gründe für das Anlegen einer erfundenen Liste hätte geben können, als zukünftige Historiker in die Irre zu fuhren, aber das Fehlen eines sinnvollen Motivs für eine Fälschung bildet eine weiteres Argument für die Echtheit der Liste. Es scheint mir also evident zu sein, daß ein radikaler Agnostizismus in bezug auf die Liste der Olympioniken nicht angebracht ist und Hippias grundsätzlich Vertrauen geschenkt werden kann. Das heißt natürlich nicht, davon auszugehen, daß jede einzelne Angabe über Olympiasieger vertrauenswürdig sei. Doch es geht hier nicht um den einzelnen Sieg. Von Bedeutung für vorliegende Arbeit ist vielmehr, daß gravierende statistische Auffälligkeiten, wie man sie bei Sparta und Kroton findet, auf historischen Fakten beruhen und nicht auf der Phantasie antiker Listenfälscher.

3. Athen

Die athenische Agonistik weist einige Besonderheiten auf, welche die Gestaltung dieses Kapitels beeinflussen. Zum einen liefert die Olympionikenliste keine Hinweise auf ausgeprägte Perioden des Erfolgs und Mißerfolgs athenischer Athleten, sondern die Siegesbilanz blieb über den untersuchten Zeitraum hinweg relativ konstant, und zwar sowohl in den hippischen als auch in den gymnischen Disziplinen. Es gab vom Beginn des 7. Jahrhunderts an athenische Olympioniken, eine besondere Dominanz der Athleten Athens läßt sich jedoch zu keiner Zeit ausmachen. Dies unterscheidet Athen grundlegend von allen anderen der untersuchten poleis. Die Olympionikenliste liefert somit keine markanten Ansatzpunkte für eine Untersuchung der Agonistik in Athen. Doch andererseits sind wir durch die Fülle der literarischen Quellen über die Geschichte dieser Stadt um ein Vielfaches besser informiert als über jede anderen pòlis, und die sportliche Entwicklung macht hiervon keine Ausnahme. Zwar kann man auf keinen Fall von einer flächendeckenden Überlieferung sprechen, aber die Dichte der Schlaglichter ist relativ hoch. Auch in bezug auf die Forschungssituation ist Athen begünstigt. Im Gegensatz zu allen anderen póleis liegt fur die Agonistik Athens mit Donald K Y L E S „Athletics in Ancient Athens", 1987 erschienen, eine monographische Behandlung vor. In seinen Ausführungen über die Entwicklung des Athletismus in Athen liefert K Y L E eine detaillierte Beschreibung von Sport und Sportlern in Athen, wobei sein Augenmerk sowohl den sportlichen Wettkämpfen in Athen als auch der Bedeutung des Athletismus im politischen Leben der pòlis gilt. Sein Werk ist sehr positiv aufgenommen worden,172 und eine erneute allgemeine Darstellung des Athletismus in Athen an dieser Stelle erübrigt sich. Aus diesem Grunde möchte ich selektiv

172

Vgl. die Rezensionen von M. LAVRENCIC, Nikephoros 2, 1989, 275-278; P. WEIß, H Z 248, 1989, 140-142; D.C. YOUNG, A H R 94, 1989, 106f.; H. LECLERCQ, LEC 57, 1989, 186f.; G. RAEPSAET, A C 59, 1990, 490; kritisch dagegen P. OUVA, Eirene 27, 1990, 174-176.

Athen

64

verfahren und im Hinblick auf die in der Einleitung umrissene Konflikthaltigkeit des Verhältnisses zwischen Athlet und Polisgemeinschaft einige Ereignisse unter die Lupe nehmen, bei denen Sport bzw. Sportler in engster Beziehung zu Entwicklungen stehen, die die Frage der Machtverteilung in der pòlis betreffen. Damit glaube ich, das von

KYLE

erarbeitete Modell der

agonistischen Entwicklung Athens in einigen zentralen Punkten präzisieren bzw. korrigieren zu können. Eine generelle Unterscheidung zwischen gymnischen und hippischen Disziplinen scheint mir nicht sinnvoll; der Grund wird auf den folgenden Seiten ersichtlich werden. Da

KYLES

Werk auch einen Katalog der athenischen Athleten archai-

scher und klassischer Zeit beinhaltet, in dem die wesentlichen Quellen sowie die einschlägige Literatur zu den Einzelpersonen zusammengestellt sind, 173 verzichte ich auf eine statistische Übersicht über die athenischen Erfolge.

3.1 Kylon und Phrynon In Olympia ist uns die Teilnahme athenischer Athleten - als ersten Nichtpeloponnesiern - seit dem Beginn des 7. Jahrhunderts bezeugt. Während wir von den ersten Olympioniken aus Athen über ihren Sieg hinaus keine Informationen besitzen, 174 begegnet uns der olympische diaulos-Sieger 640, Kylon,

175

von

im Kampf um die Macht in Athen.

Nach den Aussagen der Quellen 176 hatte Kylon vom Delphischen Orakel den Rat erhalten, am höchsten Zeusfest seine Pläne in die Tat umzusetzen. Kylon interpretierte diesen Spruch falsch, indem er ihn auf das elische, nicht auf das höchste athenische Zeusfest bezog, und besetzte in einer der auf

173 1 95ff. (Appendix B). Dieser Katalog ist alphabetisch angeordnet, eine Liste mit chronologischer Reihenfolge findet sich auf den Seiten 104ff. 174

Es handelt sich um die Sprinter Pantakles (MORETTI 1957, Nr.25-27; KYLE

1987, A53), Eurybates (MORETTI 1957, Nr.36; KYLE 1987, A 2 7 ) und Stomas (MORETTI 1957, Nr.54; KYLE 1987, A60). 175

MORETTI 1957, Nr.56; KYLE 1987, A40.

176

Hdt. 5, 70f.; Thuk. 1, 126; Aristot. Ath. pol. (Epitoma Heraklidis 2); Plut. Sol.

12; Paus. 1, 28, 1; Himer, orat. 39, 9.

Athen

65

seinen Sieg folgenden Olympiaden177 während der Olympischen Spiele die Athener Akropolis. Dort geriet er jedoch bald in eine militärisch aussichtslose Lage, als er von den Athenern unter Führung der Archonten belagert wurde. Obwohl die Belagerer die Zusicherung gegeben hatten, daß Kylon und seine Anhänger am Leben gelassen würden, kam es nach der Übergabe der Akropolis zu einem Massaker. Über Kylons persönliches Schicksal machen die Quellen unterschiedliche Angaben. Nach Thukydides konnte er zusammen mit seinem Bruder fliehen, laut Herodot und Plutarch wurde er am Altar der Athena niedergemacht.178 Neben vielen anderen Ungereimtheiten im Ablauf der Ereignisse ist auch nicht sicher, ob Kylon über eine Art politischen Programms verfügte, mit dessen Hilfe er breitere Bevölkerungsschichten fur sich mobilisieren wollte. Ebenso ist unklar, mit Hilfe welcher sozialen Gruppen er auf Dauer seine

177 Zur Datierung des kyIonischen Putsches: Gegen die These, bei den beschriebenen Vorgängen handele es sich um Ereignisse des 6. Jahrhunderts (G. DE SANCTIS, Athis, Rom 2 1912 (ND Rom 1964), 280ff.; K.J. BELOCH, Griechische Geschichte, Bd.l, Straßburg 2 1893, 302ff.) argumentierte ausführlich F. JACOBY, Atthis. The local chronicles of ancient Athens, Oxford 1949, 366f. Anm.77; er verwies vor allem auf den Umstand, daß in der Angabe bei Aristoteles der Putschversuch Kylons vor die Gesetzgebung Drakons gerückt wird. Der Archontat des Megakles ist nach JACOBY auf 640/39 oder 636/5 anzusetzen. Die nachfolgende Forschung ist JACOBYs Datierung gefolgt, z.B.

GOMME 1 9 4 5 , 4 2 8 f f . ; SEALEY 1 9 7 6 , 9 8 f . ; H . BENGTSON, G r i e c h i s c h e G e s c h i c h t e v o n

den Anfangen bis in die römische Kaiserzeit, München 5 1977 (HdAW HI.4) 117 Anm.3; STAHL 1987, passim; R. DEVELIN, Athenian officials 684-321 B.C., Cambridge 1989, 30; WELWEI 1 9 9 2 , 133. 178

S. dazu L. MOULINIER, La nature et la date du crime des Alcméonides, REA 48,

1946, 182-202.

Auch andere nach wie vor diskutierte Fragen seien hier nur kurz erwähnt: WELWEI 1992, 134f., vermutet, daß durch die Hinzufügung von angeblichen megarischen Hilfstruppen des Kylon in die Erzählung die Handlungsweise der Archonten durch eine außenpolitische Gefährdung Athens motiviert und auf diese Weise die Radikalität ihres Vorgehens erklärt werden sollte. Zum Problem, daß im herodoteischen Bericht nicht die Archonten, sondern die Prytanen der Naukrarien als handelndes Gremium erwähnt sind, s. S.D. LAMBERT, Herodotus, the Cylonian Conspiracy and the ΠΡΥΤΑΝΙΕΣ ΤΩΝ ΝΑΥΚΡΑΡΩΝ, Historia 35, 1986, 105-112, mit Angaben zur älteren Literatur. Die neue Hypothese LAMBERTS, daß alle neun Archonten zum Zeitpunkt der Verschwörung Kylons außerhalb Athens gewesen seien und deswegen vorübergehend die Prytanen der Naukrarien die Initiative übernommen hätten, scheint mir indessen nur sehr geringe Wahrscheinlichkeit zu besitzen, da die zeitweise Abwesenheit des gesamten höchsten Gremiums einen Umsturz geradezu provoziert und die pòlis offensichtlich in große Gefahren gebracht hätte.

66

Athen

Macht hätte konsolidieren wollen.179 Die Angaben der Quellen, auf welche Faktoren Kylon vertraute, als er beschloß, den Umsturz zu wagen, konzentrieren sich auf vier Punkte: • seine Machtstellung als Herr eines reichen und prestigeträchtigen oikos (πάλαι εύγενής τε καί δυνατός); 1 8 0

• die Beziehung zu Theagenes, dem Tyrannen von Megara, dessen Schwiegersohn Kylon war; • die Steigerung des Prestiges durch den Olympiasieg; • den Orakelspruch. Eine genaue Gewichtung der einzelnen Faktoren im Kalkül Kylons ist allzu spekulativ.181 Doch zeigt die Tatsache, daß Kylons Olympiasieg von jedem der antiken Autoren erwähnt wird, daß der zusätzliche Ruhm des agonistischen Erfolges zumindest in den Augen der Griechen des 5. Jahrhunderts ein wichtiger Trumpf war, den Kylon in seine Überlegungen einbezog. Zwar können wir die Bedeutung agonistischer Erfolge zur individuellen Prestigesteigerung im 7. Jahrhundert nicht genau abschätzen, da unsere Quellendichte zu gering ist, doch Plausibilitätsargumente sprechen für die Instrumentalisierung des Olympiasieges: Gerade in einer losen politischen Struktur wie dem Athen dieser Zeit, in der das Denken und Handeln von Adel und démos noch nicht auf die Bekleidung von Ämtern und die Mitwirkung bei den Versammlungen konzentriert war, konnten Olympiasiege dafür sorgen, daß in bezug auf die timé ein Aristokrat die übrigen plötzlich weit übertraf. Vor diesem Hintergrund läßt sich fragen, ob Kylon vielleicht sogar deswegen seinen Putschversuch zur Zeit des elischen Zeusfestes 179 WELWEI 1992, 135. WELWEI führt aus, daß Kylon wahrscheinlich überhaupt keine potentielle Anhängerschaft im Auge hatte, sondern einfach sein Glück versuchte. Damit widerspricht er einer älteren Position, vertreten z.B. durch HÖNLE 1968, 46f., die in Kylon einen gescheiterten Nomotheten mit festen Vorstellungen zur Neuordnung der Gesellschaft zu erkennen glaubt. SEALEY 1976, 99, sieht Kylon dagegen als Vertreter der Aristokraten der eleusinischen Ebene, die Widerstand gegen die starke Anbindung an die Zentrale Athen artikulierten. Als Indiz für diese Erklärung fuhrt er die Heiratsverbindung mit dem Tyrannen der Nachbarstadt Megara an, die geographisch recht nahe bei Eleusis liegt; dies ist jedoch wenig aussagekräftig. 180 181

Thuk. 1, 126,3.

Am höchsten wird der Wert des Olympiasieges von WEEBER 1991, 44, eingeschätzt, der darin die entscheidende Voraussetzung fur den Versuch eines Umsturzes zu erkennen meint. Andere gewichten die übrigen Aspekte stärker; s. dazu die Literaturangaben o. Anm.177.

Athen

67

plante, weil er sich gerade zu diesem Zeitpunkt eine lebendige Erinnerung seines Sieges in der Bevölkerung Athens versprach, und nicht wegen eines mißverstandenen Orakelspruchs. Abschließend sei noch auf die von Pausanias angeführte Statue des Kylon auf der Akropolis182 eingegangen. Diese wird kaum als Siegerstatue zu verstehen sein, denn zum einen wäre sie innerhalb dieser Gattung zu einem solch frühen Zeitpunkt ohne Parallele, zum anderen könnte man nicht erklären, warum die Statue nach dem fehlgeschlagenen Abenteuer nicht entfernt wurde. Die Überlegung des Pausanias, daß die Athener dem Kylon wegen dessen Schönheit ein Bildnis errichtet hätten, besitzt aus denselben Gründen nur geringe Plausibilität. Vielmehr möchte ich der Überlegung Kirchners folgen, der in dem Standbild eine Sühnegabe der pâlis fur den an Kylon und seinen Anhängern begangenen Bruch des Asylrechts erkennt.183 Damit wäre auch ein Argument gewonnen, daß Kylon selbst bei dem Massaker den Tod fand und die bei Thukydides überlieferte Flucht eine spätere Version wiedergibt. Der Charakter als Sühnegeschenk ist auch die einzige Erklärung dafür, daß die Statue Kylons nach der Zerstörung der Akropolis durch die Perser erneuert wurde, denn der 'KyIonische Frevel' und die daraus resultierende Verbannung der Alkmeoniden blieben bis in die Anfangsphase des Peloponnesischen Krieges in der attischen Innen- und Außenpolitik ein wichtiges Thema.184 Darauf soll jedoch an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Was hier an der Gestalt des Kylon interessiert, ist der Umstand, daß gleich der erste athenische Olympionike, über den wir einige biographische Angaben besitzen, seine politischen Ambitionen wohl auch auf den Olympiasieg baute. Mit Phrynon, dem Leiter eines athenischen Kolonistenzuges in die Troas, stoßen wir gegen Ende des 7. Jahrhunderts auf einen weiteren prominenten und politisch engagierten Olympiasieger.185 Nach Auskunft der Quellen war Phrynon bei den 36. Olympischen Spielen, also 636, siegreich gewesen, 182

Paus. 1,28, 1.

183

KIRCHNER 1903, Nr.8943.

184

S. dazu v.a. GOMME 1945, 429f.

185

MORETTI 1957, Nr.58; KYLE 1987, A68. Zu den Hintergründen der athenischen Aktivitäten in der Dardanellenregion s. die Ausführungen von STAHL 1987, 21 Iff.

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über die Disziplin machen die antiken Autoren unterschiedliche Angaben.186 Einigkeit herrscht dagegen über die Umstände seines Todes: Er habe, als die attischen Kolonisten in Sigeion auf den Widerstand eines Heeres aus Mytilene stießen, dem Feind das Angebot gemacht, den Krieg durch einen Zweikampf zu beenden. Pittakos, der Befehlshaber der Lesbier, sei auf diesen Vorschlag eingegangen und habe Phrynon mit Hilfe eines Netzes gefangen und getötet.187 Aufgrund welcher Kriterien Phrynon die Führung der Oikistengruppe zukam, ist unklar. Es muß nicht in erster Linie sein Olympiasieg gewesen sein, der ihn für dieses Amt prädestinierte. Dennoch fällt auf, daß man unter den wenigen prominenten athenischen Politikern des 7. Jahrhunderts zwei erfolgreiche Sportler findet. Meines Erachtens ist dieser Umstand ein deutliches Indiz für die großen Möglichkeiten zur Steigerung des eigenen Prestiges, die agonistische Erfolge den Adligen boten.

3.2 Der Athletismus in der Solonischen Gesetzgebung: Die Regelung der Prämien für Sieger bei panhellenischen Agonen Als Reaktion auf die inneren Spannungen in Athen nach dem Putschversuch Kylons wurde der Versuch unternommen, die Ordnung durch eine umfassende Gesetzgebung auf eine neue Grundlage zu stellen, doch offenbar hatte diese unter dem Namen Drakons bekannte Nomothesie nur geringen Erfolg, denn die Konkurrenzkämpfe innerhalb der Aristokratie sowie soziale Probleme188 führten bald zu einem neuen Versuch, die Stabilität der pòlis wie186 Nach Eus. Chron. I 199f. ( S C H O E N E ) siegte er im Stadionlauf, Diog. Laert. 1, 74 dagegen spricht von Phrynon als Pankratiasten. M O R E T T I 1957, S . 6 6 , bevorzugt die letztere Angabe; S T A H L 1987, 211, hält Phrynon dagegen fur einen Stadioniken. 187

Diod. 9, 12, 1; Strab. 13, 38; Plut. mor. 858a; Diog. Laert. 1, 74; Fest. s.v. Retiario; Suda s.v. Πίττακος. Die Historizität des Zweikampfs wurde verschiedentlich angezweifelt, da Herodot ihn bei seiner Beschreibung der attischen Besiedlung der Troas (Hdt. 5, 94f.) nicht erwähnt. Dagegen D E S A N C T I S 1912 (wie Anm.177), 293ff. Kürzlich wurde von S T A H L 1987, 217, bekräftigt, daß die Angaben über den Zweikampf auf einem authentischen Bericht fußen. Dazu verweist er auch auf die Bedeutung des Zweikampfes zur Lösung von Konflikten in der griechischen Archaik. 188 Die inneren Spannungen in Athen beschreibt Solon in seinen Elegien sehr eindringlich; s. dazu G E H R K E 1993, 62ff.

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69

derherzustellen. Mit dieser Aufgabe betraute man Solon, der als Kompromißkandidat der verschiedenen Parteien ein Bündel von Gesetzen ausarbeitete. Solon war 594/93 Archon, seine Nomothesie fand aber wohl zu einem späteren Zeitpunkt statt, vielleicht erst in den 570er Jahren. 189 Solon bemühte sich bei seinen Reformen darum, die Solidarität innerhalb der Bürgerschaft zu stärken, die Probleme der Kleinbauern zu entschärfen und die Rivalitäten der einzelnen Adelsgruppen zu kanalisieren. Dazu setzte er eine 'Lastenabschüttelung' - die berühmte seisáchtheia - zugunsten in wirtschaftliche Not geratener Bauern durch, 190 führte ein neues System von Zensusklassen ein und erließ Regelungen für viele weitere Bereiche des öffentlichen Lebens. Darunter befinden sich auch Gesetze, die den Athletismus betreffen. Sie stellen die frühesten staatlichen Regelungen im Bereich des Sports dar, von denen wir aus der griechischen Geschichte Kenntnis haben. Bei der Auswertung der Solonischen Gesetzgebung stellt sich jedoch ein schwerwiegendes Quellenproblem. 191 Die drehbaren Achsen - die sogenannten axones oder kyrbeis - , auf denen Solon die Gesetze anbringen ließ, haben sich nicht erhalten, und die Kenntnis ihres Inhalts verdanken wir allein den Angaben späterer Autoren, vor allem der attischen Gerichtsredner. Doch diese sind nicht gerade zuverlässige Quellen, verfolgten sie doch persönliche Interessen und wollten bestimmten Gesetzen, die ihrer Argu189 Eine ausfuhrliche, thematisch gegliederte Bibliographie zu Solon findet sich in P. OLIVA, Solon - Legende und Wirklichkeit, Konstanz 1988 (Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen 20), 86ff.; an neuerer Literatur sei hervorgehoben: MANVILLE 1990, 124ff.; WELWEI 1992, 16Iff.; WALTER 1993, 192ff. Zum Problem der Datierung vgl. die ausfuhrliche, immer noch aktuelle Darstellung bei HLGNETT 1952, 316ff. 190

Die seisáchtheia ist, ausgehend von dem Dictum Solons, er habe die höroi aus der attischen Erde herausgerissen (F 36,6 W), viel diskutiert worden. Einen Überblick über die verschiedenen Ansätze liefert MURRAY 1980, 180ff., dessen eigener Vorschlag, daß es sich um die Beseitigung eines strukturellen sozialen Abhängigkeitsverhältnisses ähnlich dem römischen Klientelsystem gehandelt habe, allerdings sehr problematisch ist. STEIN-HÖLKESKAMP 1989, 24ff. sowie STAHL 1987, 100, betonen dagegen die Unabhängigkeit der archaischen oikoi. Dies halte ich für den besseren Weg, und meiner Meinung nach läßt sich die seisáchtheia immer noch am besten in die soziale Entwicklung Athens einordnen, indem man sie als Beseitigung der Schuldknechtschaft versteht; s. dazu auch WELWEI 1 9 9 2 , 161 f f . 191 Zur Überlieferungsgeschichte der solonischen Gesetze s. RUSCHENBUSCH 1966, 33ff. (vgl. allerdings die einschränkenden Bemerkungen in der Rezension von Α.

KRÄNZLEIN, G n o m o n 4 0 , 1 9 6 8 , 6 9 2 - 6 9 5 , b e s . 6 9 4 ) ; STROUD 1 9 7 9 ; ROBERTSON 1 9 8 6 .

70

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mentation dienlich waren, durch ihre Zuschreibung zu Solon besonderes Gewicht verleihen. Manche der 'Solonischen' Gesetze stammen nachweislich aus dem 5. Jahrhundert, 192 bei vielen weiteren ist die Datierung unsicher. Daß RUSCHENBUSCH und MARTINA, die fast gleichzeitig die Fragmente der áxones auf ihre Authentizität überprüften, häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten, unterstreicht die Problematik der Quellenlage. Deswegen soll bei der Untersuchung der Gesetze agonistischen Inhalts die Frage der Echtheit an erster Stelle stehen.

3.2.1 Die Quellenproblematik Plutarch und Diogenes Laertios sind die beiden Gewährsmänner für die hier untersuchte Bestimmung: 193 „Er setzte fest, daß einem Sieger bei den Isthmischen Spielen 100 Drachmen gegeben würden, einem Olympioniken 500."194 „Er verminderte auch die Ehren für die Athleten, die an den Wettspielen teilnahmen. Und zwar setzte er fur einen Olympioniken einen Betrag von 500 Drachmen fest, für einen Isthmioniken von 100 und entsprechend für die anderen. Denn es setze falsche Maßstäbe, die Ehren auf diese zu häufen anstatt nur auf diejenigen, die im Kriege gefallen seien; auch deren Söhne müßten auf öffentliche Kosten unterhalten und erzogen werden."195

192

RUSCHENBUSCH 1 9 6 6 , 5 3 f .

193

F

143

1898ff., Bd.4,

RUSCHENBUSCH = 102; BOWRA

F 483-484

MARTINA. L i t e r a t u r :

BURCKHARDT

1938, 2 6 4 . BLLINSKI 1961, 3 3 f f . ; HÖNLE 1968, 5 6 f f . ;

BUHMANN 1972, 106; PLEKET 1974, 63; THOMPSON 1978; WEILER 1983; KYLE 1984;

ders. 1987, 2Iff.; YOUNG 1984, 128ff.; WEEBER 1991, 80ff. 194

Plut. Sol. 2 3 , 3 ( = F 143a RUSCHENBUSCH = F 4 8 4 a MARTINA):

τφ δ' "Ισθμια νικήσαντι δραχμάς εκατόν έταξε δίδοσθαι, τφ δ' 'Ολυμπιονίκη πεντακόσιας. 195

Diog. Laert. 1, 55 ( = F 143b RUSCHENBUSCH = F 4 8 4 b MARTINA):

συνέστειλε δέ καί τάς τιμάς των έν άγώσιν αθλητών. 'Ολυμπιονίκη μεν τάξας πεντακόσιας δραχμάς, Ίσθμιονίκη δέ εκατόν, καί α ν ά λόγον έπί των άλλων, άπειρόκαλον γαρ τό έξαίρειν τάς τούτων τιμάς, άλλα μόνων εκείνων των έν πολέμοις τελευτησάντων, ών καί τους υιούς δημοσίςι τρέφεσθαι καί παιδεύεσθαι. In 1, 56 macht Diogenes noch einige weitere Angaben:

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71

In diesem Zusammenhang kann man eine Angabe bei Diodor heranziehen, in der ein Gesetz zwar nicht ausdrücklich genannt wird, aber Solons Einstellung gegenüber dem Athletismus so geschildert wird, daß die Passage gleichsam als Kommentar zu einem Gesetz erscheint. „Solon meinte, daß Boxer und Stadionläufer und die anderen Athleten nichts Nennenswertes zum Wohl der pöleis beitrügen, daß nur diejenigen, die durch Einsicht und Tugend hervorragten, in der Lage seien, ihre Heimatstadt in brenzligen Situationen zu schützen."196 Ein Teil der Forschung stellt die Glaubwürdigkeit der Quellen generell in Frage und plädiert dafür, daß das Gesetz erst späteren Datums oder gänzlich eine Erfindung sei. In der Tat stellen die zitierten Passagen den Historiker vor eine Fülle von Problemen und Widersprüchen, die schrittweise geklärt werden müssen. Einen ersten problematischen Punkt stellt die in den Quellen genannte Summe dar. RUSCHENBUSCH bemerkte, daß Beträge von 500 bzw. 100 Drachmen fur die solonische Zeit viel zu hoch seien. Dies allein reichte ihm aus, dem Gesetz jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen und unter die Falsa einzuordnen. 197 Jedoch war die Forschung zum antiken Athletismus bereits ein Jahr vor dem Erscheinen von Ruschenbuschs Werk durch ein epigraphisches Zeugnis bereichert worden, das die Diskussion um die Prämien auf eine neue Grundlage stellte. Die Rede ist von der 1965 im Gebiet von Sybaris aufgefundenen Inschrift des Kleom[b]rotos, 198 die belegt, daß schon in archaischer Zeit hohe Geldzahlungen seitens der pòlis an Olympioniken

άθληταΐ δέ καί ασκούμενοι πολυδάπανοι, καί νικώντες επιζήμιοι καί στεφανοϋνται κατά της πατρίδος μάλλον ή κατά των ανταγωνιστών ... δπερ συνιδών ό Σόλων μετρίως αύτούς άπεδέξατο. 196

D i o d . 9 , 2 , 5 ( = F 1 4 3 c RUSCHENBUSCH = F 4 8 3 M A R T I N A ) :

Ό τ ι ό Σόλων ήγεΐτο τούς μεν πύκτας καί σταδιεΐς καί τους άλλους άθλητάς μηδέν άξιόλογον συμβάλλεσθαι ταις πόλεσι προς σωτηρίαν, τούς δε φρονήσει καί άρετη διαφέροντας μόνους δύνασθαι τάς πατρίδας έν τοις κινδύνοις διαφυλάττειν. 197

RUSCHENBUSCH

1966,46.

198

Der Fundort ist ein Heiligtum in der Nähe von Francavilla Marittima auf dem Polisterritorium von Sybaris. Die Tafel hat Maße von 12 cm Höhe und 24 cm Länge. Literatur: G. PUGLIESE CARRATELLI, Tabella con iscrizione arcaica, ASMG 6/7, 1965/66, 17-21; ders., La dedica di Kleombrotos e le sigle preposte a nomi in epigrafi italiote, ASMG 6/7, 1965/66, 209-214; S. FERRI, SCO 14, 1965, 319f.; A.D. TRENDALL, A R 13, 1 9 6 7 , 3 9 m i t A b b . l 7 ; MORETTI 1 9 7 0 , 2 9 5 f . ; EBERT 1 9 7 2 , 2 5 1 f f .

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existierten. Ein gewisser Kleomrotos oder Kleombrotos, Sieger bei den Olympischen Spielen, weihte der Athena eine - wie wir aus der Inschrift wissen - lebensgroße Statue und bezahlte sie von dem zehnten Teil des Geschenks, das er von der pòlis zur Honorierung seiner Leistung erhalten hatte. Die Statue ist vollständig verloren, die zugehörige Bronzetafel aber erhalten geblieben.199 Die philologische Diskussion um die Feinheiten der Inschrift kann hier in den Hintergrund treten. Was in dem hier vorgestellten Zusammenhang die Inschrift so interessant macht, ist der Umstand, daß sie die Existenz von Zahlungen an Athleten seitens der pòlis bereits für die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts beweist200 und auch über deren Höhe Auskunft gibt. Sie muß beträchtlich gewesen sein, wenn 10% davon ausreichten, eine lebensgroße Statue zu finanzieren.201 Zieht man außerdem das Zeugnis des Xenophanes heran, der in seiner Aufzählung der Ehren, die dem Olympiasieger seitens der Stadt erwiesen werden, auch ein δώρον ó oi κειμήλιον εϊη erwähnt,202 wird deutlich, daß

199

Der Text lautet δο Κλεόμροτος ό Δεξιλάίο άνέθεκ[ε] Ό λ υ μ π ί α ι νικάσας Κσο(μ) μάκός τε πάχος τε τάθάναι άίέθλον (vac.) εύξάμενος δεκάταν.

EBER! 1972, 25Iff., rekonstruiert den ursprünglichen Text wie folgt: ΔΟ Κλεόμ[β]ροτος | ό Δεξιλάίο | ( Ό λ υ μ π ί α ι I νικάσας άνέθεκ[ε]) | ίίσο(μ) μάκός τε πάχος τε | τάθάναι άίέθλον I εύξάμενος δεκάταν.

„Do. Kleomrotos, der Sohn des Dexilawos, hat nach seinem Sieg in Olympia (dies Standbild) geweiht, (ihm) gleich an Größe und kräftiger Gestalt; hatte er doch der Athana den zehnten (Teil) seines Kampfpreises gelobt." 200 Diese Datierung schlagen aufgrund epigraphischer Kriterien sowohl MORETTI 1970, 295, als auch EBERT 1972, 251, vor. 201

EBERT 1972, 255. Zu den athletischen Siegerstatuen vgl. die ausführlichen Überlegungen u. S.49ff. 202

Xenophan. F 2 GENTILI - PRATO = F 2 DIELS, Vers 9.

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wertvolle Geschenke an Athleten auch in der Archaik nichts Außergewöhnliches sind. Zwar sind sowohl die Kleom[b]rotos-Inschrift als auch die Elegie des Xenophanes jünger als die Solonische Gesetzgebung; sie machen jedoch deutlich, daß die Bestimmung in der archaischen Zeit denkbar ist und von dieser Seite keine Einwände gegen die Echtheit des solonischen Gesetzes gemacht werden können.203 Ein weiterer potentieller Einwand gegen die Echtheit des Gesetzes zielt auf den in der Bestimmung erwähnten Begriff „Drachmen". Über die Einführung der attischen Münzprägung und die von Aristoteles204 dem Solon zugeschriebene Maß-, Münz- und Gewichtsreform ist viel diskutiert worden. Zwar scheinen die Anhänger der These, daß die attische Münzprägung erst in nachsolonischer Zeit einsetzte, die Oberhand zu gewinnen, jedoch ist das Problem von einer endgültigen Klärung noch weit entfernt.205 Fehlende Münzen zur Zeit der Solonischen Reformen sind jedoch kein Argument 203

Daß die pòlis über gewisse Summen verfügt haben muß, geht aus dem Rückkauf der durch Schuldknechtschaft in Sklaverei geratenen Athener hervor. Wie hoch ein Betrag von 500 Drachmen in solonischer Zeit einzuschätzen ist, bleibt allerdings unklar. Z u r U m r e c h n u n g in m o d e r n e W ä h r u n g WEILER 1 9 8 3 , 5 7 6 f . , u n d s e h r a u s g i e b i g YOUNG

1984, 129ff. 204

Aristot. Ath. pol. 10.

5

Es gibt in der frühen attischen Münzprägung zwei verschiedene Münztypen, die sogenannten Wappenmünzen und die 'Eulen', wobei letztere gemeinhin später datiert werden. Nach den immer noch grundlegenden Untersuchungen von KRAAY 1976, 56-63, begann Athen erst unter Peisistratos mit der Prägung eigener Münzen. KRAAY fuhrt folgende Argumente an: Erstens sei es sehr unwahrscheinlich, daß schon um 600 die ersten Silberprägungen in Athen auftauchten, da der Beginn der ionischen Elektronprägung seiner Meinung nach am Ende des 7. Jahrhunderts anzusetzen ist. Zweitens passe der Beginn der Münzprägung gut zum wirtschaftlichen Aufschwung Athens unter den Peisistratiden, den er aufgrund archäologischer Indizien postuliert. Die Wappenmünzen, der älteste attische Münztyp, hätten dazu gedient, die umfangreichen Bauvorhaben zu bezahlen. Indem Peisistratos den prägenden Adligen gestattet habe, ihr Wappen auf die Münzen zu setzen, habe er sie fester in seine Ordnung einbinden wollen. In der Nachfolge von KRAAY tritt die Mehrheit der Forschung für die Spätdatierung der ersten Münzen ein, z.B. Th. FISCHER, Zu Solons Maß-, Gewichts- und Münzreform, Chiron 3, 1973, 1-14; J.H. KROLL, From Wappenmünzen to Gorgoneia to Owls, ANSMusN 26, 1981, 1-32, hier 2; M.R. ALFOLDI, Riflessioni sulla riforma monetaria cossidetta soloniana, BNum 8, 1987, 9-17 (mit ausführlicher Besprechung der älteren Literat u r ) ; MURRAY 1 9 8 0 , 2 2 4 ; WELWEI 1 9 9 2 , 199.

Dagegen plädiert H.A. CAHN, Zur frühattischen Münzprägung, MH 3, 1946, 133-143, aufgrund ikonographischer und stilistischer Vergleiche mit anderen Kunstgattungen für die Datierung der ersten attischen Prägungen um 600, also vorsolonisch; ähnlich D. KAGAN, The date of the earliest Greek coins, AJA 86, 1982, 343-360.

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gegen die Echtheit des hier vorgestellten Gesetzes. Es ist sehr wahrscheinlich, daß 'Drachme' in dieser Zeit nicht eine Münze bezeichnete, sondern eine Gewichtsangabe war. Dieses Gewicht in Silber stellte eine allgemeine Wertangabe dar. Wertangaben in Drachmen tauchen auch in anderen solonischen Gesetzen auf, deren Authentizität von RUSCHENBUSCH nicht bezweifelt wird.206 Daß Diogenes Laertios sowie Plutarch die Isthmischen Spiele erwähnen, deren Einrichtung nach der traditionellen Chronologie erst später erfolgte die Angaben schwanken zwischen 581 und 570 - , sollte ebenfalls kein Grund sein, an der Glaubwürdigkeit ihrer Angaben zu zweifeln, selbst wenn man von einer Frühdatierung der Nomothesie Solons (s.o. S.69f.) ausgeht. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts wurden viele Agone reorganisiert, die schon seit längerer Zeit, jedoch in eher lockerer Organisation, abgehalten worden waren. Der Zeitpunkt der Neuordnung wurde so zu einem neuen 'Beginn' der Spiele. Es ist durchaus plausibel, daß die solonische Bestimmung die geographisch relativ nahe gelegenen - Spiele in Korinth mit einbezog, bevor diese reorganisiert wurden und panhellenische Bedeutung gewan-

3.2.2 Neueinrichtung oder Verringerung der Prämien? Seit dem letzten Jahrhundert haben sich in der Forschung vielfältige Positionen zum Verständnis dieser solonischen Bestimmung herausgebildet. Das grundlegende Problem, dessen Lösung einer weitergehenden Interpretation vorausgehen muß, stellt die Frage dar, ob es bereits vor Solon eine Prämie an siegreiche Athleten gab, die dieser begrenzte, oder ob Solon diese Prämien erst einführte. Im letzteren Fall wäre Solon als ein Förderer des Athletismus zu verstehen, und eben dies ist die Position, die die Mehrheit der Forschung dem athenischen Nomotheten zuschreibt. Nach Meinung Krau-

206 207

Z.B. die Gesetze gegen Luxus, s.u. S.79f. mit Anm.222.

Schon BELOCH 1893 (wie Anm.177), 275f., nimmt an, daß die Umwandlung der Isthmien von örtlichen zu panhellenischen Spielen durch die Kypseliden erfolgt sei. Unterstützung findet die These, daß es bereits zu solonischer Zeit gymnische Agone in Korinth gab, auch durch die Angabe in Solin. 7, 14.

75

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ses wollte Solon durch die finanziellen Anreize die agonistische Betätigung, deren Bedeutung für das Prestige der pòlis Solon als einer der ersten erkannt habe, beleben.208 Ohne Auseinandersetzung mit den Quellen, die Solon ja genau die entgegengesetzte Haltung gegenüber dem Athletismus zusprechen, wurde diese These von vielen anderen übernommen.209 Viel weniger verbreitet dagegen ist die Gegenmeinung derer, die dafür plädieren, daß die solonische Bestimmung eine Einschränkung darstellte, obwohl auch diese These ebenfalls schon sehr früh, 1872, erstmals vertreten wurde.210 In jüngerer Zeit wurde von W E I L E R ein neuer Versuch unternommen, die Vorstellung von Solon als eines Sportenthusiasten zu revidieren;211 seine Überlegungen bilden die Basis für die folgenden Ausführungen. Von den Vertretern der Meinung, daß man erst ab Solon von staatlichen Prämien an erfolgreiche Athleten sprechen kann, sind folgende Argumente angeführt worden: • Die bei Diogenes Laertios und Diodor beschriebene kritische Einstellung Solons gegenüber athletischen Ehrungen sei ein Anachronismus und der Topik der Gegner des professionellen Sports entnommen.212 In diesem Zusammenhang wird auf den lukianischen Dialog „Anacharsis" verwiesen, in dem Solon keineswegs als Kritiker, sondern als vehementer Verteidiger des griechischen Sports gegen den Spott des Skythen dargestellt wird. Meiner Meinung nach scheint jedoch das Solonbild des Lukian gerade in die andere Richtung zu deuten, da es beweist, daß Solon von den Kritikern des Sports der hellenistischen und römischen Zeit nicht als Vorbild herangezogen wurde. Hätte Solon als Gegner der sportlichen Agonistik gegolten, hätte Lukian sicher nicht ihn als Gesprächspartner 208

J.H.KRAUSE 1841,249.

209

W i e KRAUSE n e h m e n a u c h BURCKHARDT 1 8 9 8 f f . , B d . 4 , 102; W . ALY, s.v. S o -

Ion ( 1 ) , R E III A 1, 1 9 2 7 , 9 6 5 ; BOWRA 1 9 3 8 , 2 6 4 ; JÜTHNER - BREIN 1 9 6 5 , 8 0 f . ; HÖNLE 1 9 6 8 , 5 6 f f . ; PLEKET 1 9 7 4 , 6 2 ; BREIN 1 9 7 8 , 8 6 . 9 8 ; KYLE 1 9 8 4 a , p a s s i m ; ders. 1 9 8 7 , 2 2 ;

WEEBER 1991, 80ff., an, daß durch die Solonische Reform die Prämien wurden.

eingeführt

210

R. SCHÖLL, Die Speisung im Prytaneion von Athen, Hermes 6, 1872, 14-52, hier 26. Ihm folgt BUHMANN 1972, 106. Er nimmt außer dem offiziellen Geschenk seitens der Stadt noch weitere finanzielle Zuwendungen durch begeisterte Bürger an, für die wir allerdings überhaupt keine Belege haben. 2,1

WEILER 1 9 8 3 .

212

So schon R. HEINZE, Anacharsis, Philologus 50, 1891, 458-468, hier 461 f.

76

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des Anacharsis eingeführt, da dies beim Leser Irritationen hervorgerufen hätte; stattdessen hätte er einen der anderen Weisen auftreten lassen. Diogenes Laertios und Diodor griffen also nicht auf einen Topikfiindus zurück, was für die Authentizität ihrer Angaben spricht. Außerdem ist durch die Gedichte des Tyrtaios und des Xenophanes hinlänglich belegt, daß Kritik an übergroßen Ehren für Olympiasieger auch in vorhellenistischer Zeit keine Rarität darstellt.213 • Auch der von HÖNLE angeführte Einwand, daß vor der Gesetzgebung Solons keine Polisorgane existiert hätten, die eine derartige Prämie hätten bewilligen können,214 kann einer Überprüfung nicht standhalten. Schließlich hatte sich schon bei der Niederschlagung der kylonischen Verschwörung gezeigt, daß es handlungsfähige Institutionen gab. Unklar ist allerdings, woher die pòlis in vorsolonischer Zeit die Summe zur Auszahlung der Olympioniken hätte nehmen sollen. In Anbetracht unserer geringen Kenntnis dieser Zeit ist jedoch auch dies kein ausreichendes Argument, um daraus grundsätzliche Zweifel gegen eine bereits existierende Prämie abzuleiten, denn die Tempelbauten der Archaik zeigen, daß es eine kordinierte Finanzierung innerhalb derpóleis gegeben haben muß. • Weiterhin wurde eingewandt, daß die Quellen unglaubwürdig seien, da sie sich untereinander widersprächen. Während bei Diogenes Laertios die Ehren für die im Krieg Gefallenen und deren Nachkommen im Vordergrund stehen, sind es bei Diodor die durch ihre Einsicht und Tugend Herausragenden, die durch Solon der Ehren für würdiger befunden werden. Der Unterschied besteht jedoch nur in der Interpretation seitens der beiden Autoren. Beiden war meiner Meinung nach das Faktum bekannt, daß Solon ein Gesetz zur Einschränkung der Ehren für Olympioniken erlassen hatte; sie faßten lediglich den Sinn dieser Bestimmung, der in den áxones sicher nicht aufgezeichnet war, unterschiedlich auf. Welche Rolle spielt nun Plutarch, der nach RUSCHENBUSCH eine recht gute Quelle zur Solonischen Gesetzgebung darstellt, da ihm bei der Abfassung

213

In der Idee, kritische Stimmen gegenüber dem Athletismus grundsätzlich der nachklassischen Zeit zuzuordnen, schwingt noch die alte Vorstellung vom 'guten' griechischen Amateursport bis zur Zeit Pindars und der späteren Dekadenz mit; s.o. S.17f. 214

HÖNLE 1 9 6 8 , 5 7 .

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77

seiner Solonbiographie neben anderen Schriften auch eine kommentierte Ausgabe der áxones vorlag?215 Aus seinem Text geht nicht klar hervor, ob er an eine Neueinrichtung oder an eine Verminderung dachte, da das Verb έταξε beides bezeichnen kann. Jedoch scheint der Kontext auch hier die Lesart als Einschränkung plausibler zu machen, da in dem Abschnitt katalogartig verschiedene solonische Bestimmungen aufgeführt werden, die man unter dem Stichwort 'finanzielle Sparmaßnahmen' subsumieren kann. Somit besitzen die Aussagen der antiken Autoren zum Solonischen Olympionikengesetz meiner Meinung nach eine recht hohe Glaubwürdigkeit. Quellenkritische Einwände sind nicht stichhaltig, und auch die höhere Plausibilität spricht, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll, für eine Beschränkung der Prämie durch das Solonische Gesetz.

3.2.3 Interpretation der Regelung im Kontext der Solonischen Gesetzgebung Auf die gängige Interpretation in der Forschung, daß Solon die athletische Agonistik habe fördern wollen, ist schon hingewiesen worden. Die Ansätze zum Verständnis der hier behandelten solonischen Bestimmung lassen sich jedoch noch weiter ausdifferenzieren. Erstens ist die Zielgruppe des Gesetzes umstritten. Nach Y O U N G 2 1 6 sollten mit der in Aussicht gestellten Belohnung und dem damit verbundenen sozialen Aufstieg sportliche Talente der Unterschicht unterstützt werden, damit sie sich ganz dem sportlichen Training widmen konnten. Die hohe Prämie benutzt er als Indiz für seine Generalthese zum griechischen Athletismus, daß es schon in der Archaik professionelle Sportler gab, und vergleicht sie mit den Gehältern moderner Spitzenathleten. Von W E E B E R wurde Youngs Idee noch weiter ausgebaut. Er bot auch für das Problem, daß die Prämie erst nach dem Sieg ausbezahlt wurde, für die Finanzierung des Trainings und der Reisekosten also zu spät kam,217 eine Antwort an: Die bei Solon überlieferte Prämie sei nur ein Teil eines staatlichen Sportför215

RUSCHENBUSCH 1 9 6 6 , 4 6 f .

216

YOUNG 1984, 13Off.

217

D a r a u f h a b e n HÖNLE 1968, 57, und PLEKET 1974, 62, h i n g e w i e s e n .

78

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derprogrammes gewesen, das außerdem auch Trainingszuschüsse fur talentierte, aber arme Athleten umfaßt habe. Außerdem hätten auch private Sponsoren ihren Beitrag zu den Kosten für das Training sowie die Reisen zu den Agonen gezahlt.218 Diese Theorie beruht auf einer Übertragung moderner Modelle auf den griechischen Sport, die - wie in der Einleitung dargestellt wurde - nicht zulässig ist. Für eine staatliche Sportforderung haben wir in vorhellenistischer Zeit kein einziges Beispiel, nichtadlige Teilnehmer an den großen Agonen sind uns vor dem 4. Jahrhundert ebenfalls nicht belegt. Demnach setzt auch das Solonische Gesetz Aristokraten als potentielle Empfanger der Prämie voraus. Diese verfugten von Haus aus über einen großen Besitz, und deshalb wurde aus verschiedenen Blickwinkeln die Frage behandelt, wieso die Prämie des Solonischen Gesetzes für die Aristokraten interessant gewesen sei. Betrachtet man nicht allein den materiellen Wert,219 sondern bezieht die symbolische Bedeutung der Prämie in die Überlegungen ein, wird die Antwort einfach: Die Zahlung der 500 (bzw. 100) Drachmen stellte ein offizielles Ehrengeschenk - ein géras - dar, mit dem die Polisgemeinschaft die Verdienste des einzelnen Athleten würdigte. Dies ist eine große Ehre und für jeden Griechen erstrebenswert, gleichgültig, ob der materielle Wert des Geschenkes prozentual zum eigenen Besitzstand groß war oder gering. Was aber war der eigentliche Sinn des Gesetzes? Obwohl H Ö N L E , K Y L E und andere davon ausgehen, daß es sich bei dem Solonischen Gesetz um eine Neueinrichtung handelte, behalten ihre Schlußfolgerungen auch bei gegenteiliger Annahme ihren Wert. H Ö N L E hob den Aspekt hervor, daß

2,8 219

WEEBER 1 9 9 1 , 8 1 .

BlLlNSKI 1961, 34, nimmt das solonische Gesetz als Indiz fur den neuen, timokratischen Charakter des Adels im 6. Jahrhundert. Aus diesem Gesetz eine solche Aussage herauszufiltern, scheint mir überzogen zu sein; außerdem stellt gerade das 6. Jahrhundert eine Epoche dar, in der der herkömmlichen, auf Macht und Reichtum gegründeten Auffassung von Adel ein 'ethischer' Aristokratiebegriff gegenübergestellt wird; man vergleiche die Elegien des Theognis, z.B. Theogn. 145ff. N a c h HÖNLE 1968, 58, bestand der Wert der Prämie darin, daß sie in den neuen staatlich geprägten Münzen ausbezahlt wurde, was im Gegensatz zum Landbesitz und zu den älteren, nach HÖNLE von den Eupatriden in Eigenregie geprägten Münzen die Möglichkeit eröffnete, mit dem Fernhandel zu beginnen. Eine solche Interpretation setzt eine Frühdatierung der attischen Münzprägung voraus - in der neueren Forschung die Mindermeinung. Zum anderen ist eine Verbindung zwischen Münzprägung und Fernhandel nicht zwingend; s.u. S.221f. s o w i e die dort angegebene Literatur.

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durch das Geschenk seitens der pòlis und der damit verbundenen offiziellen Anerkennung der Leistung des Athleten dieser wieder in die Gemeinschaft eingebunden werden sollte. Es läge hier somit eine Antwort auf den Fall des Kylon vor, fur den man annehmen kann, daß er beim Versuch, sich zum Tyrannen aufzuschwingen, sein durch einen Olympiasieg erworbenes Prestige gleichsam gegen die pòlis ausnutzen wollte. Durch das Geldgeschenk sollte versucht werden, eine solche Gefahr zu bannen und die „Olympioniken für die Staatsidee zu gewinnen".220 Von KYLE wurden die Ideen HÖNLEs noch weiter zugespitzt. Er sieht in der Regelung einen wesentlichen Schritt vom privaten Sport zu „civic athletics". Der Sieg des einzelnen solle zur Sache der ganzen pòlis gemacht werden.221 Keinen Widerspruch, sondern eher eine Erweiterung dieser Gedanken stellen die Überlegungen THOMPSONS dar, der das Prämiengesetz in den Zusammenhang der Solonischen Luxusgesetzgebung stellt:222 Solons Betreiben war darauf gerichtet, die Adligen und die Austragung ihrer Konkurrenz fester in das Leben der pòlis einzubinden. Sie sollten nicht durch privaten Aufwand miteinander wetteifern, sondern durch Einsatz fur die Gemeinschaft. Donald K Y L E hat unter diesem Aspekt ja auch das Prämiengesetz betrachtet, allerdings unter der Voraussetzung, daß es sich hier um eine Neueinrichtung handelte. Unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich wenn man von einer Begrenzung ausgeht, gewinnt das Olympionikengesetz eine noch höhere Plausibilität. Der Gedankengang ist folgender: Vor Solon bekam ein Olympiasieger oder ein Sieger bei einem der anderen großen Agone ein Ehrengeschenk seitens der pòlis, dessen Höhe vermutlich von Fall zu Fall festgesetzt wurde. Ausschlaggebender Faktor bei der Zuteilung dieses Geschenks war dabei der Einfluß des Siegers. Solon kanalisierte 220

HÖNLE 1 9 6 8 , 5 8 ; ä h n l i c h a u c h PLEKET 1 9 7 4 , 6 2 f . , u n d EBERT 1 9 7 2 , lOf.

221

KYLE 1 9 8 7 , 2 2 .

222 THOMPSON 1978, 25ff. Andere Gesetze gegen übertriebenen adligen Luxus spiegeln die Fragmente F 71-73 RUSCHENBUSCH = F 444a. 446. 465. 468. 470. 500. 501

MARTINA w i d e r .

THOMPSONS zusätzliche Überlegung, die Teilnahme an den großen Wettkämpfen hätte den Zweck gehabt, das durch die sozialen und politischen Spannungen aufgestaute Aggressionspotential gleichsam durch ein Ventil abzuleiten, scheint mir wenig plausibel zu sein. Ein Grundzug der Solonischen Gesetzgebung ist es ja gerade, die Handlungen und das Wertesystem der Aristokraten auf die pòlis hinzulenken. Die gesamte Energie der Bürger sollte zum Wohl der pòlis genutzt, nicht nach außen abgeleitet werden.

80

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dieses Verfahren und brachte es in eine feste Form. Zum einen beinhaltete sein Gesetz eine Beschränkung der Prämien, um den Wert der agonistischen Erfolge herabzusetzen. Die Teilnahme an den Olympischen Spielen und anderen Agonen - in erster Linie eine 'außerpolitische' Aktivität - sollte ebenso wie großer Luxus nach Solons Willen an Bedeutung verlieren. An die Stelle der traditionellen Felder aristokratischer Konkurrenz sollte ein verstärktes Engagement für die Belange der pòlis treten. Hier läßt sich eine Parallele zu Tyrtaios erkennen: In Sparta wurde ebenfalls in einer Phase, in der die Solidarität in der Gemeinschaft stieg, der Wert agonistischer Erfolge in Zweifel gezogen, allerdings in viel radikalerer Form als in Athen. Der zweite wichtige Aspekt neben der Beschränkung ist die Institutionalisierung der Prämien. Nach Solons Gesetz stand jedem athenischen Olympioniken die gleiche Summe zu, es war genau festgelegt, mit welcher Summe agonistische Erfolge attischer Bürger honoriert werden sollten. Es wurde nicht mehr von Fall zu Fall entschieden, sondern die Dankbarkeit der pòlis mit der Leistung des Athleten in ein exaktes Verhältnis gebracht. Damit sollte untermauert werden, daß der einzelne als Repräsentant der pòlis den Kranz errungen habe. Indem Solon die Höhe fur alle verbindlich festlegte, regelte er das Verhältnis zwischen pòlis und Olympiasieger neu. Außerdem zielte das Gesetz auf eine Vereinnahmung des Siegers durch die Gemeinschaft ab. Indem die Dankbarkeit der pòlis gegenüber dem erfolgreichen Athleten institutionalisiert wurde, wurde gleichzeitig auch deutlich gemacht, daß nicht nur das Individuum, sondern die gesamte Gemeinschaft am Ruhm des Sieges Anteil habe. Der agonistische Erfolg sollte nicht gegen die Gemeinschaft eingesetzt werden können. Jeder Sieger und damit jeder Sieg sollte auch auf die pòlis bezogen werden, und dadurch sollte die Solidarität innerhalb Athens gesteigert werden. Darüber hinaus wurde die Abgrenzung zu anderen Städten verschärft. Durch das Prämiengesetz wurde der Sieger auch gegenüber anderen pöleis deutlich als Repräsentant der Stadt Athen dargestellt. *

*

*

Die Solonische Gesetzgebung enthält noch weitere Bestimmungen zum Athletismus. Sie betreffen die Ordnung der Gymnasien:

81

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1. Wer ein Gewand, ein Ölfläschchen oder einen anderen Gegenstand aus den Athener Gymnasien stehle, solle mit dem Tode bestraft werden. 223 2. Sklaven wurde verboten, sich nach Athletenart einzuölen - ξηραλοιφείν und homoerotische Beziehungen zu Knaben zu pflegen. 224 3. Die Gymnasien sollten nicht vor Sonnenaufgang oder nach Sonnenuntergang geöffnet sein. 225 Auf diese Gesetze werde ich nicht näher eingehen, da sie meiner Meinung nach - und auch nach der communis opinio der Forschung ~ 226 nicht von Solon selbst erlassen wurden, sondern in späterer Zeit zu seinem Gesetzescorpus hinzugefügt wurden. Für diese Spätdatierung sprechen zwei Argumente: Zum einen stammen die genannten Angaben fast ausschließlich aus Prozeßreden, in denen viele Gesetze fälschlich dem Solon zugeschrieben wurden, und besitzen deswegen keine allzu große Verläßlichkeit. Zweitens entwickelte sich die Institution des Gymnasions erst im Verlauf des 6. Jahrhunderts, und selbst wenn es schon in solonischer Zeit erste Vorformen gegeben haben sollte, von denen wir aufgrund der Quellenlage nichts wissen, so unterlagen diese Institutionen sicherlich nicht einem solch hohen Grad von öffentlicher Verwaltung, wie sie die aufgeführten Fragmente voraussetzen.

223

Demosth. or.

24,114 (= F 114 RUSCHENBUSCH

=

F 378

MARTINA).

224

Schol. Plat. Phaidr. 2 3 l e (= F 74a RUSCHENBUSCH = F 4 7 2 MARTINA); Plut. Sol. 1, 6 (= F 74b RUSCHENBUSCH = F 464a MARTINA). mor,152d (= F 74c RUSCHENBUSCH = F 4 6 4 b MARTINA), mor. 751b (= F 74d RUSCHENBUSCH = F464c MARTINA); Aischin. 1, 138 (= F 74*e RUSCHENBUSCH). In diesem Gesetz tauchen die beiden Charakteristika des Gymnasions als Ort des Athletismus und der Knabenliebe im Zusammenhang auf. 225

Aischin. 1, 9. Auch dieses Gesetz wird gemeinhin als Maßnahme zum Schutz der Knaben vor homosexuellen Übergriffen gewertet. Zum Zusammenhang zwischen Gymnasion und Knabenliebe s. auch Aristoph. Nub. 974. 983 s o w i e die älteste Erwähnung des Verbs γυμνάζεται bei Theogn. 1335f. Zu den Zeiten der Öffnung des Gymnasions vgl. Thuk. 7, 29. 226 DELORME 1960, 61 f.; PLEKET 1974, 61f.; WEILER 1983, 579; KYLE 1984, lOlf. Dagegen plädiert BILINSKI 1961, 62, für die Zugehörigkeit der Gesetze zu den áxones.

82

Athen

3.3 Der verschenkte Olympiasieg: Kimon und die Peisistratiden227 Die Solonische Gesetzgebung brachte für Athen keine dauerhafte Stabilisierung der inneren Verhältnisse, und sie konnten auch eine Tyrannis nicht verhindern. Bald nach dem Abtreten des Nomotheten brachen die Machtkämpfe unter den konkurrierenden Adligen wieder aus. Bei den Auseinandersetzungen konnte sich schließlich Peisistratos durchsetzen, der - mit mehreren Unterbrechungen - von 561/60 bis zu seinem Tod 528/27 in Athen als Tyrann herrschte. Einige Athener waren vor Peisistratos aus Athen geflohen. Zu ihnen gehörte Kimon228 aus dem Geschlecht der Philaiden, der 536, 532 und 528229 dreimal mit denselben Stuten das olympische téthrhippon gewann.230 Herodot erzählt im Vorfeld der Schlacht von Marathon in einem Exkurs über die Familie des Miltiades folgende Geschichte:231 Bei seinem ersten Sieg ließ Kimon sich selbst gemeinsam mit seinem Halbbruder, dem älteren Miltiades, als Sieger ausrufen. Als er vier Jahre später erneut triumphierte, sorgte er jedoch dafür, daß der Herold den Namen des Peisistratos ausrief. Damit überließ er seinen Sieg dem athenischen Tyrannen, der sich dankbar zeigte, sich mit Kimon versöhnte und ihm die Rückkehr nach Athen gestattete. Weitere vier Jahre später waren Kimons Stuten erneut die schnellsten, und diesmal behielt er den Olympiasieg für sich. Daraufhin wurde er von den Söhnen und Nachfolgern des Peisistratos - dieser war inzwischen verstorben - liquidiert.

227

Literatur: H.T. WADE-GERY, Miltiades, in: ders., Essays in Greek history, Oxford 1958, 155-170 (Erstpublikation: JHS 71, 1951, 212-221); BERVE 1967, B d . l , 54; HÖNLE 1 9 6 8 , 6 I f f . ; STAHL 1 9 8 7 , 1 1 6 f f . ; STEIN-HOLKESKAMP 1 9 8 9 , 1 2 1 . 228

DAVIES 1971, 8429 VII. Außer den Olympiasiegen ist von Kimon nichts be-

kannt. 229 Dies ist die Chronologie von Fr. SCHACHERMEYER, s.v. Philaidai, RE X I X 2, 1938, 2116f., die allgemein akzeptiert ist. 230

MORETTI 1 9 5 7 , N r . 120. 1 2 4 . 1 2 7 ; KYLE 1 9 8 7 , A 3 4 .

231

Hdt. 6, 103; die Geschichte findet sich (mit einer Verwechslung Kimons mit

Megakles) auch bei schol. Aristoph. Nub. 64.

Athen

83

Diese Geschichte ist in verschiedener Hinsicht aufschlußreich. Von STAHL

ist sie dazu herangezogen worden, die Spielräume der einzelnen

Aristokraten während der Tyrannis zu beleuchten. Offenbar hatte Kimon auch im Exil Zugriff auf seine materiellen Ressourcen, die ihm die Teilnahme an den kostspieligen hippischen Disziplinen ermöglichten. Dasselbe läßt sich auch bei dem aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls geflohenen oder verbannten Alkmeonides beobachten. 232 Offenbar nutzten Exilierte, für die der Ruhmerwerb durch militärische Kommanden ausschied, die Möglichkeit, ihre Bekanntheit durch hippische Erfolge zu steigern. Die Möglichkeit, sich am aristokratischen Ruhmstreben zu beteiligen, war also nicht angetastet, und daran änderte sich auch nach seiner Rückkehr nach Athen nichts. Der Tyrann verbot den Adligen seiner Stadt nicht, hippotrophia zu betreiben. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist die Abtretung des Olympiasieges an Peisistratos deswegen von großer Bedeutung, weil sich daran exemplarisch die Bedeutung eines agonistischen Erfolgs als eines Kapitals, das vom Athleten für bestimmte Ziele in die Waagschale geworfen werden konnte, studieren läßt. Die Situation Kimons in der Verbannung war zwar unter materiellem Aspekt nicht bedroht, aber daß ein Leben fern der Heimatstadt sowohl aus psychologischer Sicht als auch in bezug auf die soziale Anerkennung in der panhellenischen Adelswelt nicht der Idealzustand war, liegt auf der Hand. Deswegen strebte er wie die meisten verbannten oder geflohenen Griechen die Rückkehr an, und bei seinem zweiten Olympiasieg sah er die Chance gekommen, dieses Ziel zu erreichen. Als der Herold bei der olympischen Siegerehrung nicht Kimons, sondern Peisistratos' Namen ausrief, muß dies von der versammelten Festgemeinde sowie allen Griechen, die davon erfuhren, als Sensation aufgenommen worden sein. Erstens war das Verschenken eines Olympiasieges ganz und gar außergewöhnlich, und zum andern wußte man, daß Kimon wegen des Tyrannen seine Heimatstadt verlassen hatte und diesen folglich als seinen größten Feind ansehen mußte. Doch anstatt auf Rache zu sinnen, machte er ihm einen Olympiasieg in der prestigereichsten Disziplin und damit einen der größten Ruhmestitel, die sich für einen Griechen überhaupt denken ließen, zum Geschenk! Für

232

KYLE 1987, A 6 .

84

Athen

Peisistratos war dieses Geschenk besonders wertvoll, da er im Gegensatz zu vielen anderen Tyrannen selber keine Renn- oder Gespannpferde trainieren ließ, zumindest finden sich in den Quellen keine Hinweise auf solche Aktivitäten.233 Der Tyrann von Athen konnte also nicht damit rechnen, aus eigener Kraft einen Siegeskranz zu erringen. Ob Kimon die Abtretung des Sieges vorher mit Peisistratos abgesprochen hatte, mit einer eigenen Botschaft an Peisistratos verband oder seinerseits auf eine Nachricht von Seiten des Tyrannen wartete, geht aus Herodots Bericht nicht hervor. Dies ist aber auch nicht entscheidend, denn daß Kimon bei der Aussöhnung die Initiative innehatte, steht außer Zweifel; durch den Heroldsausruf stellte er seine Bereitschaft zu einer Verständigung hinreichend unter Beweis. Kimon hatte damit gerechnet, daß Peisistratos ihm als Gegenleistung für ein solches Geschenk die Rückkehr nach Athen gewähren würde, und dieses Kalkül ging auf. Einerseits war im Rahmen der griechischen Reziprozitätsethik der Druck auf Peisistratos groß, dem Kimon seine Gabe zu vergelten, und zweitens stellte Kimon auch keine Gefahr für die Stabilität seiner Macht dar, hatte dieser doch durch die Abtretung des Sieges seine zu erwartende Loyalität deutlich gemacht. Wahrscheinlich verbanden die beiden die Rückkehr mit der Abmachung, daß Kimon nicht gegen die Herrschaft des Tyrannen opponieren werde, Peisistratos im Gegenzug Leib und Leben sowie Besitz Kimons nicht antasten wolle. Von einer stärkeren Bindung der Olympioniken an die Gemeinschaft der Polisbürger, wie Solon sie angestrebt hatte, ist hier nichts zu spüren. Vielmehr stellte für Kimon der Olympiasieg einen Trumpf dar, den er ausspielen konnte, um mit dem Machthaber in Athen zu einer Verständigung zu gelangen und damit seine persönliche Situation zu verbessern. Der Olympiasieg bildete den Gegenstand eines 'Deals' unter Aristokraten; eine Inbesitznahme des Ruhmes durch die gesamte Bürgerschaft ist nicht zu erkennen. Die Risiken eines Olympiasieges bekam Kimon vier Jahre später zu spüren. Hippias und Hipparchos empfanden den Umstand, daß Kimon seinem Vater einen Olympiasieg geschenkt hatte, ihnen dagegen eine solche Gabe vorenthielt, möglicherweise als Hinweis darauf, daß er ihnen nicht dieselbe Loyalität entgegenbringen würde wie ihrem Vater. Darüber hinaus 233 Auch für seine Söhne Hippias und Hipparchos gibt e s keine sicheren Indizien für ein pferdesportliches Engagement (KYLE 1987, P95. 96).

85

Athen

fürchteten sie vielleicht den Ruhm des mehrfachen Olympioniken. 234 In Kimons Verständnis dagegen hätte ihn die erneute Abgabe eines Sieges „in einen Zustand der Servilität gedrückt", 235 was seinem aristokratischen Selbstverständnis widersprechen mußte. Er ging wohl davon aus, dem Geschlecht der Peisistratiden durch einen geschenkten Olympiasieg eine ausreichende Gabe entgegengebracht zu haben. Die Peisistratiden

sorgten zwar für die Ermordung Kimons,

die

Repräsentation seiner hippischen Erfolge wurde jedoch nicht beschnitten. Sein Sohn Miltiades 236 richtete den siegreichen Stuten ein Begräbnis aus und ließ sie in der Nähe des Familiengrabs im Kerameikos bestatten. 237 Da dieses

Pferdegrab

von

verschiedenen

Autoren

erwähnt

wird,

ist

anzunehmen, daß es prächtig geschmückt war. Auch Bronzestatuen der Pferde in Athen werden erwähnt, 238 die entweder noch von Kimon selbst oder ebenfalls von Miltiades aufgestellt wurden. Die Reformen des Kleisthenes und die weiteren Veränderungen im politischen System Athens im 5. Jahrhundert hatten keine Auswirkungen auf die Intensität des agonistischen Engagements seitens der Athener Bürger. Die Zahl der Olympiasiege blieb recht konstant, 239 und auch die Aufstellung agonistischer Weihgeschenke auf der Akropolis wurde nicht beeinträchtigt. 240 Richtet man jedoch den Blick unter diese Oberfläche der Kontinuität,

234

KYLE 1 9 8 7 , 1 5 8 .

235

STAHL 1 9 8 7 , 1 2 0 .

236

MORETTI 1957, S.72, glaubt an eine Verwechslung mit Kimon selbst, aber dies ist nicht logisch. Da Kimon nach dem Bericht Herodots bald nach dem dritten Sieg ermordet wurde, blieb den Stuten zu wenig Zeit, um zu sterben und noch von diesem bestattet zu werden. 237

Hdt. 6, 103; Plut. Cat. mai. 5, 4; Ail. nat. 12, 40.

238

Ail. var. 9, 32.

239

Vgl. dazu die Statistik von KYLE 1987, 104ff.; nach Kyles Liste kennen wir aus dem 5. Jahrhundert zahlreichere athenische Athleten als aus dem 6. Jahrhundert, aber dabei muß auch die deutlich bessere Überlieferungslage berücksichtigt werden. Signifikante chronologische Unterschiede in bezug auf die Intensität des athletischen Engagements, w i e sie in Sparta und Kroton beobachtet werden können, lassen sich in Athen nicht erkennen. 240 Zwei Monumente des Kallias: RAUBITSCHEK. 1949, Nr.21; IG F 893 (RAUBITSCHEK. 1949, Nr. 164); Monument des Epicharinos: IG I3 847 (= RAUBITSCHEK

86

Athen

zeigt sich, daß die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen auch die Agonistik beeinflußte; einige gut dokumentierte Beispiele geben über die Beziehung zwischen Sieger und pòlis im Athen des 5. Jahrhunderts Aufschluß.

3.4 Megakles und die Bedeutung der im 5. Jahrhundert

hippotrophia

Die Verwandtschaftsgruppe241 der Alkmeoniden stellte in archaischer und klassischer Zeit nicht nur eine Reihe von herausragenden Politikern Athens, sondern war auch auf dem Gebiet der Agonistik sehr erfolgreich. Alkmeon errang 592 den ersten athenischen Olympiasieg im Viergespann;242 ein gewisser Alkmeonides errang in der Mitte des 6. Jahrhunderts ebenfalls hippische Erfolge, teilweise wohl zusammen mit einem uns namentlich nicht bekannten Familienangehörigen.243 Der Großneffe244 des Alkmeonides, Megakles, siegte 486 bei den Pythischen Spielen im téthrhippon, sein Sohn gleichen Namens blieb 436 bei den Olympischen Spielen siegreich, und zwar ebenfalls mit dem Viergespann.245 Es bestand also eine Familientradition, viel Geld für die hippotrophia aufzuwenden,246 und dies ist angesichts des Prestiges und der wirtschaftlichen Möglichkeiten der Alkmeoniden nicht verwunderlich.

1949, Nr.120; vgl. Paus.l, 23, 9); zum Monument des Phayllos aus Kroton in Athen s.u. S.169. 241

Es ist in der Forschung nach w i e vor umstritten, welche Struktur die unter dem N a m e n Alkmeoniden zusammengefaßte Gruppe hatte. DICKIE 1979 plädiert in der N a c h f o l g e von H.T. WADE-GERY, Eupatrids, Archons, and Areopagus, CQ 25, 1931, 111. 72-89, hier 82f., dafür, daß es sich um eine oikia, nicht um ein génos gehandelt habe; gegen ein Verständnis der Alkmeoniden als génos auch BOURRIOT 1976, 378f. 242

MORETTI 1957, Nr.81; KYLE 1987, A5.

243

IG Ρ 597 = MORETTI 1953, Nr.4; IG I3 1469 = MORETTI 1953, Nr.5.

244

Zum Stammbaum der Alkmeoniden s. DAVIES 1971, 368ff. mit Taf. 1.

245

MORETTI 1957, N r . 3 2 0 ; KYLE 1987, A 4 4 .

246

Aristoph. Hyp. Nub. 12-16.

Athen

87

Unter agonistischem Gesichtspunkt ist uns der Pythiensieger Megakles am besten bekannt, denn Pindars Siebte Pythie ist ihm gewidmet. Aus seiner politischen Laufbahn sind vor allem Mißerfolge bekannt: Megakles ist zweimal ostrakisiert worden, das erste Mal wenige Monate vor dem von Pindar besungenen delphischen Wagensieg 486, 247 das zweite Mal 471. 248 Die Verbannungen des Megakles durch das Scherbengericht sind uns nicht nur aus der literarischen Überlieferung, sondern auch durch mehrere tausend Ostraka mit seinem Namen 249 bekannt, die bei den Grabungen vor allem im Kerameikos zutage gefördert wurden.250 Manche von diesen können über die Motive Aufschluß geben, die das Volk von Athen zur Verbannung des Megakles veranlaßt haben könnten: Ehebruch,251 Besitzgier,252 luxuriöser Lebenswandel seiner Mutter,253 der alte Fluch der Alk247 Lys. 14, 39; Aristot. Ath. pol. 22 (mit Jahresangabe). Die κυρία εκκλησία, d.h. die Versammlung zur Abstimmung, ob ein Ostrakismos durchgeführt werden sollte, fand in der Sechsten Prytanie (Aristot. Ath. pol. 43, 5), der Ostrakismos selbst erst in der Achten Prytanie, also im Frühjahr, statt (Philochoros FGrHist 328 F 30). Die Pythischen Spiele fanden im Monat Boukatios statt, der dem Metageitnion des attischen Kalenders entspricht und somit in den August/September fallt. Was das Jahr betrifft, so kommt von den widersprüchlichen Angaben der Scholien nur die 25. Pythiade in Betracht, was nicht, wie von Boeckh aufgrund der falschen Pythienzählung des Pausanias angenommen, auf das Jahr der Marathonschlacht fuhrt, sondern auf 486; s. dazu WILAMOWITZ 1893, 324f., dessen Datierungsansatz seitdem allgemeinen Forschungskonsens darstellt. 248

So die Datierung von Stefan BRENNE (mündliche Auskunft).

249

Nach der Zählung von F. WILLEMSEN - St. BRENNE, Verzeichnis der Kerameikos-Ostraka, MDAI (A) 106, 1991, 147-156, sind insgesamt 4431 gegen Megakles gerichtete Ostraka gefunden worden, die neben dem Namen und Patronymikon bzw. Demotikon bzw. Genotikon teilweise noch weitere interessante Mitteilungen enthalten: s. BRENNE 1994 sowie die folgenden Anmerkungen. 250

F. WILLEMSEN, Die Ausgrabungen im Kerameikos 1966, ADelt 23, 1968, Chron.24-32. 251

Μεγακλες | Ιιιπποκράτος ] μοϊχος: BRENNE 1994, 13 mit figs.1-2.

252

[Μεγα]κλεες | Ιιιπποκράτος | Άλοπεκεθεν | δρυμό 11ινεκα: BRENNE 1994, 15 mit figs.8-9. 253 Μεγακλες | Ιιιπποκράτος | καί Κοισύρας: BRENNE 1994, 15f. mit flg. 10. Die zahlreichen Quellen zu Koisyra, vor allem den Aristophanesscholien entnommen, liefern ein sehr verwirrendes Bild, da die Angaben über die verwandtschaftliche Einordnung differieren. In der Forschung ist umstritten, ob es eine oder mehrere Koisyra(i) gab und in welcher Generation sie in die Alkmeoniden einheiratete(n); s. B.M. LAVELLE, Koisyra and Megakles, the son of Hippokrates, GRBS 30, 1989, 503-513; R.D. CROMEY, On Deinomache, Historia 33, 1984, 385-401; DAVIES 1971, 380f.; T.L. SHEAR, Koisyra: three women of Athens, Phoenix 17, 1963, 99-112.

88

Athen

meoniden wegen des kylonischen Frevels, 254 sein Haarschnitt 255 oder seine intensive Betreibung des Pferdesports. 256 Die Interpretation dieses verwirrenden Befundes wurde dadurch erschwert, daß in der Forschung lange Zeit umstritten gewesen ist, ob der zweite Ostrakismos gegen Megakles, nachdem 4 8 0 alle Verbannten zurückberufen worden waren, 257 überhaupt historisch ist, und falls man diese Frage bejaht, ob sich die Kerameikosscherben auf das frühere oder spätere Ereignis beziehen. 258 Die Gesamtpublikation der Kerameikos-Ostraka durch Stefan

BRENNE

ist noch nicht erschienen,

nach seinen mündlichen Bemerkungen, auf die ich mich im folgenden mehrfach stützen werde, kann aus dem Material entnommen werden, daß die Scherben dem zweiten Ostrakismos zuzurechnen sind. 4 8 6 dagegen waren es vielleicht auch die Anschuldigungen gegen die Alkmeoniden wegen Perserfreundlichkeit, j a sogar wegen Verrats im Zusammenhang mit

254

Μεγακλες

| Ιηπποκράτο(

)

| άλειτερός

bzw.

Μεγακλες

| Ιηπποκράτ(

) ]

Κ υ λ ό ν ε < ι > ο ς : BRENNE 1 9 9 4 , 16f. mit f i g s . 1 4 - 1 7 ; BRENNES Übersetzung von K y l o n e i o s als „descendant o f K y l o n " ist sicher nicht korrekt; die Bedeutung ist hier vielmehr „der Kylonfrevler". 255

Μεγακλες | Ιηπποκράτος | νέα κόμε bzw. : Μεγακλες | Ιιιπποκράτος | νέας κόμες:

BRENNE 1 9 9 2 , 1 7 0 f f . mit A b b . 5 - 6 . 256

Μεγακλες | Ιηπποκράτος | Ιιιππότροφος: BRENNE 1 9 9 4 , 16 mit figs. 1 1 - 1 3 ; nach

ebd., A n m . 3 2 gibt es noch mehr Ostraka, die M e g a k l e s mit Pferden in Verbindung bringen; zu diesen paßt auch die Zeichnung eines Kavalleristen a u f einem gegen M e gakles gerichteten Ostrakon: BRENNE 1 9 9 2 , 162f. mit A b b . l und T a f . 3 9 , 1 . 257

Aristot. Ath. pol. 2 2 , 8; vgl. auch das sog. T h e m i s t o k l e s - D e k r e t aus Troizen

( S E G 18, 1 5 3 ; s. dazu M . H . JAMESON, A decree o f T h e m i s t o k l e s from Troizen, Hesperia 29,

1960,

1 9 8 - 2 2 3 ) , das allerdings kein authentisches Zeugnis des 5.

Jahrhunderts

darstellt (Chr. HABICHT, F a l s c h e Urkunden zur G e s c h i c h t e Athens im Zeitalter der Perserkriege, H e r m e s 89, 1 9 6 1 , 1-35). 258

D i e z w e i f a c h e Ostrakisierung des M e g a k l e s erwähnt L y s . 14, 3 9 . N a c h d e m die

ersten B e a r b e i t e r die Scherben fast einhellig dem ersten Ostrakismos zugewiesen hatten ( s o z . B . THOMSEN 1 9 7 2 , 9 5 ) , neigte sich die W a a g s c h a l e seit den kurzen Stellungnahmen von D . M . LEWIS, T h e K e r a m e i k o s Ostraka, Z P E 14, 1 9 7 4 , 1-4, und P. BLCKNELL, W a s M e g a k l e s Hippokratous Alopekethen ostracised t w i c e ? , A C 4 4 , 1 9 7 5 , 1 7 2 - 1 7 5 , zugunsten der Spätdatierung: vgl. j ü n g s t F. WILLEMSEN, Ostraka einer Meisterschale, M D A I (A)

106,

1991,

1 3 7 - 1 4 4 ; D . M . LEWIS, M e g a k l e s and Eretria, Z P E 9 6 ,

1993,

51Í;

BRENNE 1 9 9 4 , 2 2 ; für das ältere Datum plädiert dagegen G . M . E . WILLIAMS, T h e K e r a m e i k o s Ostraka, Z P E 3 1 , 1 9 7 8 , 1 0 3 - 1 1 3 . D a die K o n t r o v e r s e durch die Publikation der Scherben a u f eine neue Grundlage gestellt werden wird, verzichte ich an dieser Stelle a u f eine ausführliche Diskussion der einzelnen Positionen.

Athen

89

der Schlacht bei Marathon, 259 der Verdacht des Strebens nach der Tyrannis, 260 Widerstand gegen die themistokleische Flottenbaupolitik oder, am wahrscheinlichsten, eine bunte Kombination aus allen Faktoren, die ihn beim Volk von Athen unbeliebt gemacht hatte. U m zu einer fundierten Bewertung von Megakles' Ostrakisierung zu gelangen, ist es notwendig, kurz auf die Geschichte des Scherbengerichts einzugehen. Die Institution des Ostrakismos war, angeregt auch durch die archäologischen Funde, in den letzten Jahrzehnten Gegenstand einer intensiven Forschung. 261 Dabei hat die Frage der Einrichtung des Scherbengerichts - in den Quellen wird Kleisthenes als Begründer des Ostrakismos genannt, 262 der erste bekannte Fall einer Verbannung durch Ostrakismos fand dagegen erst im Jahre 487 statt - durch eine neuentdeckte Quelle 2 6 3 eine mögliche Lösung gefunden. Aus einer Notiz in einer spätbyzantinischen Sammelhandschrift geht hervor, daß Kleisthenes den Ostrakismos als Entscheid der neugeschaffenen boulé einführte, wobei 200 der 500 Bouleu-

259 Hdt. 6, 115. 121; der Vorwurf des Medismos bildete möglicherweise die Ursache für einen anderen Ostrakismos in den 80er Jahren, da einige Ostraka gegen Kallias die Beischrift ho Mêdos bzw. ek Médeon tragen, eines sogar eine Zeichnung des Kallias in persischer Tracht mit Bogen aufweist; s. dazu BRENNE 1992, 173 ff. mit Abb.7 und Taf.39.4-5. Gegen diesen Zusammenhang LEWIS 1974 (wie Anm.258). Zur Rolle der Alkmeoniden zwischen Marathon und der Verbannung des Megakles s. auch G.M.E. WILLIAMS, The image of the Alkmeonidai between 490 B.C. and 487/6 B.C., Historia 29, 1980, 106-110. 260 Aristot. Ath. pol. 22, 5f. Jedoch sollte man die Charakterisierung der ersten Ostrakisierten als tyrännon philoi nicht zu konkret interpretieren, da dieser Vorwurf in den 480er Jahren sehr pauschal gebraucht wurde; vgl. H.-J. GEHRJKE, Zwischen Freundschaft und Programm. Politische Parteiungen im Athen des 5. Jahrhunderts v.Chr., HZ 239, 1984, 529-564, hier 547 mit Anm.46. 261 Einen kurzen Überblick über die wesentlichen Probleme und die wichtige Literatur bietet BLEICKEN 1994, 45Iff. 606. Das Standardwerk zum Ostrakismos bildet immer noch THOMSEN 1972, das allerdings vor den neuesten Ostrakafunden verfaßt wurde und deswegen in einigen Teilen veraltet ist. Zu weiterer Literatur s. Anm.258. 262 Aristot. Ath. pol. 22, 1; Philochoros FGrHist 328 F 30; Ail. var. 13, 24; Diod. 11, 55, 1; Harpokration FGrHist 324 F 6. Eine ausführliche Besprechung der Quellen bietet THOMSEN 1972, 12ff. 263

Vatic.Graec. 1144 f. 222 Nr.213 STERNBACH, zuerst bearbeitet von J.J. - A.E. RAUBITSCHEK, A Late Byzantine account of ostracism, AJPh 93, 1972, 87-91. Zur Auswertung s. G.Α. LEHMANN, Der Ostrakismos-Entscheid in Athen: von Kleisthenes zur Ära des Themistokles, ZPE 41, 1981, 85-99. Zur Skepsis gegenüber dieser Quelle stellvertretend BLEICKEN 1994, 452f. KEANEY

90

Athen

tenstimmen fur eine Verbannung notwendig waren. Erst später sei der Ostrakismos an die Volksversammlung übertragen worden. Außerdem gibt die Notiz an, daß die Zahl von 6000 Stimmen nicht auf die Gesamtzahl der Abstimmenden, sondern auf die für eine Verbannung notwendige Anzahl der Stimmen gegen eine Person zu beziehen ist. Gegen die Position, daß man im Ostrakismos ein neues Medium der Auseinandersetzungen innerhalb der athenischen Führungsschicht erkennen müsse, 264 macht

BRENNE

geltend, daß die neue Institution eine Waffe des

attischen démos darstellte und sich gegen einzelne Aristokraten richtete, die sich in den Augen des Volkes nicht adäquat verhalten hätten. 265 An solchen möglichen Verhaltensfehlern gab es ein breites Spektrum. Der Aristokrat, der von dieser Machtdemonstration des démos verbannt wurde, stand vor einer befremdlichen und bislang einzigartigen Situation. Er war für zehn Jahre vom attischen Boden verbannt und damit politisch kaltgestellt, ohne daß gegen ihn ein Schuldspruch oder auch nur eine formelle Anklage ergangen war. Andererseits unterlag er keiner Beeinträchtigung an Hab und Gut oder an seinem Rechtsstatus. Als Megakles 486 zum ersten Mal ostrakisiert wurde, stellte dies erst die zweite Anwendung des neuen Instruments dar, nachdem es im Jahr zuvor mit Hipparchos das erste O p f e r ' gegeben hatte. Man kann folglich von einer gewissen Unsicherheit gegenüber der Situation ausgehen, und es ist nicht auszuschließen, daß Megakles sich Hoffnungen auf eine frühzeitige Rückberufung machte, die 480 ja wirklich erfolgte. Aus dieser Warte ist damit zu rechnen, daß er mit der Auffuhrung eines Siegesliedes auf dieses Ziel hinzuwirken versuchte. Anhand einer genauen Untersuchung des Textes soll gezeigt werden, wie sich die spezifische Situation des ostrakisierten Auftraggebers im Epinikion widerspiegelt. „Der schönste Eingang des Lieds ist die große Stadt Athen, dem weitmächtigen Geschlecht der Alkmaioniden den Grundstein zu legen für den Gesang auf ihre Pferde. Denn welche Vaterstadt, welches Haus, darin wohnend,

264

So vor allem MARTIN 1974, 24ff., sowie STETN-HÖLKESKAMP 1989, 193ff. mit

ausfuhrlicher Forschungsdiskussion. 265

3/4 5/6

Mündliche Auskunft.

Athen

91

könntest du nennen vorscheinender, Hellas zur Kunde? In allen Städten nämlich geht die Rede um von Erechtheus' Bürgern, die dein Haus, Apollon, im strahlenden Pytho staunenswert errichteten. Es drängen mich aber fünf Siege am Isthmos, der eine ausgezeichnete bei der Olympiade des Zeus und die zwei in Kirrha,

10 11/12 13/14 15

Megakles, von dir und deinen Ahnen. Über den neuen Erfolg freue ich mich gewiß; doch das bekümmert mich, daß Neid die Antwort ist auf die schönen Werke. Sie sagen freilich, daß derart dem Manne beständig blühendes Glück dies und das bringe." 266

20

D a ß die A u f f u h r u n g der Siebten Pythie 2 6 7 noch am Festspielort, also in Delphi selbst, stattfand, unterliegt kaum e i n e m Z w e i f e l . Erstens entspricht die Ode in ihrer Struktur genau den Anforderungen, die GELZER für diese Kategorie v o n Epinikien herausgearbeitet hat, 2 6 8 z u m andern fehlen die 266

Κάλλιστον αί μεγαλοπόλιες Άθαναι προοίμιον Άλκμανιδάν εύρυσθενει γενεςι κρηπίδ' άοιδάν 'ίπποισι βαλέσθαι.

3/4

έπεί τίνα πάτραν, τίνα οίκον ναίων όνυμάξεαι έπιφανέστερον

5/6

Ελλάδι πυθέσθαι; πάσαισι γαρ πολίεσι λόγος ομιλεί Έρεχθέος άστών, "Απολλον, οΐ τεόν δόμον Πυθώνι δίςχ. θαητόν ετευξαν.

10 11/12

άγοντι δέ με πέντε μεν 'Ισθμοί νίκαι, μία δ' έκπρεπής

13/14

Διός 'Ολυμπιάς, δύο δ' άπό Κίρρας,

15

ώ Μεγάκλεες, ύμαί τε καί προγόνων. véçi δ' εύπραγίς* χαίρω τι. το δ' άχνυμαι, φθόνον άμειβόμενον τά καλά έργα. φαντί γε μάν ούτω κ' άνδρί παρμονίμαν θάλλοισαν εύδαιμονίαν τά καί τα φέρεσθαι. 267

Literaturübersicht zu dieser Ode bei GENTILI et al. 1995, 203; s. auch PARDINI

1990. 268

20

GELZER 1985; s.o. S.40f.

92

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Alternativen: Es gab keine Rückkehr und keine Siegesfeier in der Heimatpolis, weil Megakles verbannt war, und an welchem Ort außer Delphi hätte die Aufführung sonst stattfinden sollen? Deswegen ist mit einem panhellenischen Publikum als primärem Rezipientenkreis der Ode zu rechnen. Jedoch scheint mir unzweifelhaft zu sein, daß auch mit einem Bekanntwerden der Ode in Athen gerechnet wurde. Erstens war der Sieg eines der prominentesten Athener, der kurz zuvor mit einem neuartigen politischen Instrument in die Verbannung geschickt worden war, beim zweitbedeutendsten Wettkampf der griechischen Welt ein Politikum, und die Verherrlichung dieses Sieges mußte in Athen Interesse hervorrufen. Zweitens deuten der Tenor und die Struktur der Ode selbst darauf hin, daß mit einer Kenntnisnahme durch den athenischen démos gerechnet wurde. Die Ode hat nur einen begrenzten Umfang - ein Merkmal aller für die Aufführung am Festspielort gedichteter Epinikien - und enthält nur eine einzige Triade. Zurückzufuhren ist die Kürze auf das Fehlen einer Mythenerzählung, beziehungsweise die Kürze der Ode bedingt einen Verzicht auf eine Mythenerzählung; eine vollständige Siegesadresse liegt dagegen vor. Pindar nennt den Namen des Siegers (Megakles in der direkten Anrede: 17), die pòlis des Siegers (Athen: 1), die Disziplin des Siegers (Wagenrennen: 3), während das Patronymikon im vorliegenden Fall durch die Nennung der Alkmeoniden ersetzt ist (2). Lediglich der Agon wird nicht genannt, d.h. es wird nicht ausgedrückt, welcher der angeführten Siege (13/14-18) den Anlaß der Ode bildete; dies ist jedoch bei einer Auffuhrung am Festspielort nicht verwunderlich, waren doch die Zuhörer selbst noch am entsprechenden Ort anwesend. Gleich am Beginn der Ode steht ein massiver Lobpreis der pòlis Athen, der durch das Adjektiv μεγαλοπόλιες269 sowie den Superlativ κάλλιστον.,.προοίμιον ausgedrückt wird. Das Städtelob ist allerdings nicht isoliert, sondern wird gleich in diesen ersten Versen mit der Macht der Alkmeoniden in Verbindung gesetzt: Athen sei das schönste Vorspiel, die

269

Vgl. P. 2,1.

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Alkmeoniden zu besingen.270 Diese erste Koppelung von Familie und pòlis wird im nächsten Vers noch deutlicher: In einer rhetorischen Frage streicht Pindar mit einer auch sprachlich ganz eindeutig gezeichneten Parallele (τίνα πάτραν, τ ί ν α οίκον; Abhängigkeit vom selben Superlativ επιφανέστερος) Athen als berühmteste Stadt und die Alkmeoniden als berühmteste Familie Griechenlands heraus.271 Damit erscheinen Stadt und oikos gleichsam als kongeniale Partner, die in ihrer jeweiligen Kategorie der Konkurrenz in gleichem Maße überlegen sind. Der Bezug zwischen den beiden Kategorien ist insofern hergestellt, als durch die Verwendung der Vokabel pátra (= Heimatstadt) die Herkunft der Alkmeoniden aus Athen besonders unterstrichen wird. In der Antistrophe findet die Koppelung von pòlis und oikos ihre Fortsetzung, gewinnt jedoch dadurch eine neue Dimension, daß es jetzt nicht mehr um Parallelität geht, sondern um die Beziehung der beiden Kategorien zueinander. Dabei greift Pindar auf ein Jahrzehnte zurückliegendes, aber in der athenischen Erinnerung gut verwurzeltes historisches Ereignis zurück. Während der Tyrannis des Peisistratos übernahmen die Alkmeoniden den Wiederaufbau des Apollontempels in Delphi. Dabei gestalteten sie den Neubau weit prächtiger als eigentlich vorgesehen, indem sie für die Fassade parischen Marmor anstatt Porosgestein verwenden ließen; die immensen Mehrkosten finanzierten sie aus eigener Tasche.272 Daß die Erwähnung des alkmeonidischen Engagements in Delphi sich ausgezeichnet in eine Pythi270

Daß die Alkmeoniden an dieser Stelle génea, im Vers darauf oikos genannt werden, ist kein Widerspruch; dies hat DICKIE 1979, 205, betont; s. auch GENTILI et al. 1995,554. 271 Das Partizip ναίων, mit dem auch die antiken Kommentatoren Schwierigkeiten hatten, läßt sich meiner Meinung kaum als Anspielung auf die Ostrakisierung des Megakles verstehen; dazu GENTILI et al. 1995, 555f. 272

Hdt. 5, 62f.; anders Aristot. Ath. pol. 19, 4. K.H. KLNZL, Philochoros FGrHist 328 Fl 15 and Ephoros. Observations on Schol. Pind. Pyth.7,9B, Hermes 102, 1974, 179190, rekonstruierte aus den Angaben der Pindar- und Demosthenesscholien noch eine dritte Erzählung, die in Ephoros ihren Ursprung findet. Zu den Widersprüchen zwischen der herodoteischen Version und den späteren Autoren STAHL 1988, 120ff., der mit guten Argumenten für die Richtigkeit der Erzählung Herodots eintritt. Die Alkmeoniden nutzten demnach ihre Kontakte zu Delphi nicht zu einer Anleihe, um einen Machtkampf mit den Peisistratiden finanzieren zu können, sondern folgten mit ihrem Engagement in Delphi den traditionellen Mustern aristokratischen Handelns und Ruhmstrebens. Zu den Giebelskulpturen des alkmeonidischen Apollontempels in Delphi s. Knell 1990, 43 ff.

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sehe Ode fügt, steht außer Frage - Apollon wird schließlich auch direkt angesprochen - , in der Art und Weise, wie Pindar diese Episode sprachlich ausgestaltet, kommt jedoch noch eine andere Aussage zum Vorschein. Subjekt von Haupt- und Relativsatz sind jeweils die „Bürger des Erechtheus", d.h. die Bürger Athens. Dieser sprachlichen Parallele steht jedoch eine inhaltliche Varietät gegenüber, denn während alle Athener vom Ruhm des Tempelbaus profitierten, waren es nur die Alkmeoniden, die das Geld dazu gaben. Ich glaube nicht, daß man diese Differenz dahingehend verstehen kann, daß Pindar an dieser Stelle allein den Ruhm der Stadt Athen preist, während der Lobpreis der Alkmeoniden einige Verse später in der Aufzählung der agonistischen Erfolge erfolgt. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß den Rezipienten der Ode, und zwar sowohl der in Delphi versammelten Panegyris als auch den Athenern als 'Sekundärpublikum', bewußt war, daß es die Alkmeoniden - und zwar als Privatleute - , nicht die athenische Staatskasse gewesen war, die den Tempelneubau finanziert hatten.273 Dafür sprechen auch Gerichtsreden des 4. Jahrhunderts, die eine Erinnerung an die Tätigkeit der Alkmeoniden in Delphi bezeugen - interessanterweise im Zusammenhang mit dem Sturz der Tyrannis in Athen.274 Es besteht also eine bewußt gestaltete Spannung zwischen Sprache und Inhalt. Löst man diese auf, lautet der Satz wie folgt (9-11/12): „In allen Städten nämlich geht die Rede um / von Erechtheus' Bürgern [in ihrer Gesamtheit], weil Erechtheus' Bürger [einige von ihnen, nämlich die Alkmeoniden] dein Haus, Apollon, / im strahlenden Pytho staunenswert errichteten." Damit wird die Aussage der Passage deutlich: Die Alkmeoniden als Athener Bürger verbreiteten durch ihre Tat den Ruhm ihrer Stadt über die Erde.275 Durch die sprachliche Ausgestaltung wird jedoch die strikte Kausalität zwischen der Leistung der einzelnen und dem Ruhm des Kollektivs gedämpft. In der folgenden Aufzählung der agonistischen Erfolge tritt die pòlis in den Hintergrund. Zwar ist auch hier der Sieg des einzelnen mit dem Ruhm der Stadt verknüpft - schließlich bot der Pythiensieg des Megakles den Anlaß für das reichlich mit Polislob gespickte Epinikion - , explizit 273

WILAMOWITZ 1 8 9 3 , 3 2 7 .

274

Demosth. or. 21, 144; Isokr. or. 15, 232.

275

WILAMOWITZ 1 8 9 3 , 3 2 7 .

95

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angesprochen ist das Motiv in diesem Absatz aber nicht. Auffallend ist bei der Aufzählung wie in der ganzen Ode das Zurücktreten des Auftraggebers gegenüber den Alkmeoniden in ihrer Gesamtheit. Zwar wird Megakles hier erstmals namentlich genannt (17), im darauffolgenden Vers wird aber wieder deutlich, daß sein Sieg nur einer unter vielen Erfolgen seiner Familie ist. Damit spielt Pindar auf die lange Siegesserie der Alkmeoniden bei panhellenischen Wettkämpfen an; daß er den neuen Erfolg als Fortsetzung einer Familientradition darstellt, entspricht durchaus der Wahrheit (s.o. S.86). Nach einem kurzen Hinweis auf den jüngsten Sieg erfolgt ein harter Bruch, der auch in der sprachlichen Gestaltung deutlich wird: die Gegenüberstellung von zwei Verba in der ersten Person, eines der Freude (χαίρω), eines der Betrübnis (άχνυμαι), noch verstärkt durch die Alliteration der chiastisch angeordneten Wörter τι und τό, macht deutlich, daß die letzten Zeilen zum Vorangegangenen einen scharfen Kontrast bilden. Zweimal bringt Pindar in Gnomen zum Ausdruck, daß Erfolg unentrinnbar mit Neid verbunden ist. Herrlichen Taten folgt Neid auf dem Fuße, und beständige eudaimonia bringe „dies und das", d.h. Gutes und Schlechtes, 276 mit sich. 277 Im Unterschied zu anderen Stellen bei Pindar 278 dient hier der Neid nicht einfach als Gradmesser des Erfolgs, sondern ist ein echtes Problem, kenntlich gemacht durch die Betrübnis des Dichters. Die Forschungsliteratur hat dieses Problem einhellig mit der Ostrakisierung des Megakles identifiziert und die vorliegende Passage als Anspielung auf dieses Ereignis verstanden, 279 und in der Tat liegt der Zusammenhang auch aufgrund des geringen zeitlichen Abstands sehr nahe. Pindar hütet sich davor, die Ostrakisierung direkt anzusprechen. Grund dafür ist nicht, daß er diese politische Schlappe seines Auftraggebers verschweigen wollte, denn in diesem Fall hätte er das gesamte Neidmotiv auch

276

GENTILI e t a l . 1 9 9 5 , 5 6 2 .

277

Aristarch (schol. Pind. P. 7, 18a) verstand diese Passage als tröstende Worte für den Tod von Megakles' Vater Hippokrates, für den Pindar ein Klagelied verfaßte (M. C A N N A T A F E R A , Threnorum Fragmenta, Rom 1990, 33f.; F 62). Jedoch bleibt der Sinn des Textes bei dieser Interpretation unverständlich; vgl. G E N T I L I et al. 1995, 560. 278

P. 11, 54; Ν. 4, 39.

279

WILAMOWITZ

1964, 108;

GENTILI

1893,

326;

et al.1995, 560f.

FARNELL

1961,

191;

BURTON

1962,

34;

BOWRA

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weglassen können. Vielmehr bleibt er deswegen auf allgemeiner, gnomischer Ebene, da eine direkte Thematisierung des Ostrakismos notwendigerweise in eine direkte Anklage der Athener gemündet hätte, denn wie hätte ansonsten eine Rechtfertigung für Megakles aussehen sollen? Pindar bleibt dagegen bei Andeutungen: Indem er vorher die Leistungen der Alkmeoniden für den Ruhm ihrer pòlis betont hat, macht er unterschwellig deutlich, daß im Sinne der Reziprozität ein anderes Verhalten zu erwarten gewesen wäre als die Verbannung, und übt damit Kritik am Verhalten der Athener. Diese Kritik wird aber abgeschwächt, indem Pindar erstens Neid als Reaktion auf herrliche Taten zu einer allgemeinen menschlichen Handlungsweise stilisiert und somit zu einem gewissen Grade entschuldigt, zweitens die Anspielung so unspezifisch läßt, daß der Rezipient der Ode die Anspielung bemerken konnte, ohne andererseits den Schluß der Ode zwingend auf die Ostrakisierung beziehen zu müssen. Drittens werden die Athener insgesamt mit einem ausgiebigen Lobpreis bedacht, um sie zu besänftigen und Megakles gegenüber gewogener zu stimmen.

Über 70 Jahre später nahm Megakles' Enkel Alkibiades in der Volksversammlung auf seinen Olympiasieg Bezug: Er, Alkibiades, sei seiner fuhrenden politischen Stellung würdig, denn er habe seiner Vaterstadt Nutzen gebracht, indem er in einer Zeit, als ganz Griechenland Athen für eine ausgeblutete Stadt hielt, beim olympischen Wagenrennen einen unvergleichlichen Sieg errungen habe. Damit und mit anderen aufwendigen Aktionen habe er zwar bei den Bürgern Neid hervorgerufen, außerhalb Athens dagegen entdecke man darin eher eine Demonstration der Macht.280 Anhand des Vergleichs mit der Alkibiadesrede läßt sich die Besonderheit von Pindars Vorgehen in der Megaklesode schärfer herausarbeiten: Zwar sind die Bausteine der Argumentation dieselben - Leistungen des einzelnen nützen der pòlis, daraus leitet sich eine Erwartung von Gegenleistungen ab, an deren Stelle jedoch Neid tritt - , doch während Alkibiades die Gegenleistungen seitens der pòlis ohne Umschweife einfordert, geht die Siebte Pythie zurückhaltend vor. Sowohl die Kausalverknüpfung zwischen den Taten der Alkmeoniden in Delphi und dem Ruhm Athens als auch der Vorwurf des

280

Thuk. 6, 16, 1-3; ausführlich dazu u. S.102ff.

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Neides gegenüber den Athenern werden eher angedeutet als expliziert. Pindar beläßt es - wie gesehen - bei einer mehrfachen Verknüpfung zwischen den Alkmeoniden und der Stadt sowie bei gnomischen Aussagen zum Neid der Menschen. Dabei wird die im heutigen Sinne 'politische' Ebene vollkommen ausgeblendet. Pindar erwähnt beim Lobpreis der Alkmeoniden nicht ihre Rolle bei der Vertreibung der Tyrannen oder die Reformen des Kleisthenes, sondern konzentriert sich auf ihre Bauprojekte und sportlichen Erfolge. Ebenso wird völlig offen gelassen, ob sich der Neid auf die breite Masse des Volkes bezieht oder auf einige andere Adlige, die dann beim Volk gegen Megakles agitiert hätten. Diese Vorsicht hatte gute Gründe, befand sich Megakles im Spätsommer 486 doch nicht gerade in der richtigen Situation für ein forderndes Auftreten - schließlich hatte sich die Mehrheit des attischen démos nur wenige Monate zuvor gegen ihn ausgesprochen, und einige der Ostraka weisen darauf hin, daß die ausgiebige Betreibung des Pferdesports dabei eine Rolle spielte (s.o. S.88). Vor diesem Hintergrund wird Pindars Vorgehensweise noch besser verständlich. Als Reaktion auf die z.T. ablehnende Haltung der Athener gegenüber dem hippischen Engagement streicht er in der Ode heraus, daß die Leistungen des einzelnen fur den Ruhm der gesamten pòlis Relevanz besitzen, daß es also nicht um ein Privatvergnügen der Alkmeoniden ging, sondern um eine Tätigkeit zum Nutzen der Stadt. Da mit einer Kenntnisnahme der Ode durch die Athener gerechnet wurde, handelt es sich hierbei um einen Versuch der Einflußnahme auf die öffentliche Meinung. Ob damit auf eine frühere Rückberufiing des Megakles hingearbeitet werden sollte, ist unklar; daß es um den Versuch einer Imageverbesserung des Megakles und der Alkmeoniden allgemein ging, unterliegt hingegen keinem Zweifel. Betrachtet man die Ode aus einer allgemeineren Perspektive, so stellt sie den Versuch einer Vereinigung von Adels- und Poliswerten dar. Das Volk von Athen besaß im Ostrakismos ein Mittel, diejenigen Aristokraten, die sich nicht auf die Spielregeln der Bürgergemeinschaft einlassen wollten, sondern

weiterhin

einen

demonstrativ

verschwenderischen

Lebensstil

pflegten - und in diesen Bereich gehört die hippotrophia - , zu disziplinieren. In Pindars Epinikion für Megakles wird dessen Verbannung nicht direkt gebrandmarkt, sondern es wird versucht, den Graben zwischen indi-

98

Athen

vidueller Macht- und Prachtentfaltung auf der einen und kollektivem Ruhm auf der anderen Seite zu überbrücken. Dieses Bemühen um einen verstärkten Polisbezug der Selbstdarstellung, ohne die traditionelle Adelsethik aufzugeben, läßt sich auch in anderen Bereichen der Repräsentationskunst dieser Zeit fassen, wie bei der Malerei in der Stoa Poikile sowie den EionEpigrammen des jüngeren Kimon. 281 Offenbar war es in der Zeit nach den Neuerungen von 487 ein wesentliches Thema, wie weit die individuelle Leistung - auf das Engagement der Aristokratie war die pòlis nach wie vor angewiesen - hervorgehoben werden konnte, ohne das zuträgliche Maß finden Ruhm einer Einzelperson zu überschreiten. Die von Pindar hier angebotene Lösung, den ruhmvollen Aristokraten und seine ruhmvolle Stadt als kongeniale Partner zu vereinigen, wurde jedoch im Athen des 5. Jahrhunderts nicht wirksam. Die Aristokraten hätten den Polisbezug ihrer philotimia in stärkerem Maße betonen müssen, als Pindar es in der Siebten Pythie ausdrückte, um vor dem athenischen Volk bestehen zu können. Wenn man resümierend den Umgang des Megakles mit seinem hippischen Erfolg bewertet, lassen sich Parallelen zum älteren Kimon ziehen. Kimon und Megakles befanden sich beide in der Verbannung, als sie ihre Erfolge errangen, ersterer aufgrund seiner Feindschaft mit dem Tyrannen, letzterer wegen einer Entscheidung des démos. Beide ließen die Mächte in Athen, denen ihre Verbannung zuzuschreiben war, an ihrem Sieg partizipieren: Kimon tat dies in radikaler Form, indem er Peisistratos seinen Sieg schenkte. Megakles ließ sich zwar selber als Sieger ausrufen, aber im Epinikion, dessen Kenntnisnahme seitens der Athener er sicher sein konnte, betonte er, daß sein persönlicher Triumph gleichzeitig als ein Erfolg der pòlis Athen betrachtet werden müsse. Doch er hatte mit seiner Propaganda geringen Erfolg. Einige Jahre nach seiner Rückberufung, die nicht seinen hippischen Erfolgen, sondern der durch den Xerxeszug bedingten Versöhnungsstimmung zuzuschreiben ist, wurde er aufs neue ostrakisiert. An dieser Stelle sollen noch einmal die Scherben mit der Aufschrift Μεγακλες | Ιηπποκράτος | Ιηππότροφος herange281

D.L. PAGE, Further Greek epigrams, Cambridge 1981, 255-259. Aischin. 3, 183 weist ausdrücklich darauf hin, daß die Ehrung der Generäle durch drei Hermen an die Bedingung geknüpft war, daß diese nicht namentlich erwähnt würden.

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99

zogen werden. Wenn die hippotrophia auf den Scherben genannt wird, muß sie ein Grund für die Unbeliebtheit des Megakles zumindest bei einigen Athenern gewesen sein. Zwar kann man über die Frage, was die Athener an der hippotrophia störte, nur spekulieren, entscheidend ist jedoch, daß wir auf den Ostraka erstmals einen Beweis vor uns haben, daß es sich bei der Diskussion über Sinn und Unsinn agonistischen Engagements - Xenophanes' Zweite Elegie gegen die Ehrungen für Olympiasieger entstand nur kurze Zeit früher - nicht nur um einen intellektuellen Diskurs innerhalb der griechischen Aristokratie handelte, sondern um eine Frage von politischer Relevanz. Es wurde im beginnenden 5. Jahrhundert noch nicht als selbstverständlich betrachtet, daß der Wettkampfsieg eines einzelnen automatisch der Stadt Vorteile bringt und der Sieger dementsprechend zu ehren ist, sondern es bestand noch ein Spannungsverhältnis zwischen dem Sieger und seiner pòlis. Vielleicht hatte Megakles auch in den 470er Jahren bei anderen Agonen Siege errungen und sich danach entsprechend selbstherrlich aufgeführt; vielleicht waren es aber auch die agonistischen Erfolge an sich, die für seine Unbeliebtheit bei Teilen des démos sorgten. Für letzteres spricht, daß andere Athleten ebenfalls vom Ostrakismos bedroht waren: gegen Leagros 282 richten sich 500 der Kerameikos-Ostraka, der Pankratiast Kallias, Athens einziger Periodonike vor dem Hellenismus, wurde in den 440er Jahren durch den Ostrakismos in die Verbannung geschickt. 283 Daraus kann man selbstverständlich nicht ableiten, daß agonistische Erfolge im Athen dieser Zeit generell negatives Kapital dargestellt hätten, doch sie konnten es sein. Dies zeigt, wie sehr sich die Bedingungen für aristokratisches Handeln nach den Reformen des Kleisthenes geändert hatten. Zwar charakterisierte auch im 5. Jahrhundert der Kampf zwischen einzelnen Adligen das politische Geschehen in Athen, aber die entscheidende Bezugsgröße dieses Kampfes war der démos. Megakles' Gegner - wer vor seiner zweiten Ostrakisierung gegen ihn agitiert hatte, läßt sich nicht rekonstruieren, aber daß Megakles als führender Alkmeonide zahlreiche Feinde in Athen hatte, steht außer Zweifel - konnten sich zunutze machen,

282 283

KYLE 1987, P100.

Ps.-And. 4, 32; zu den Ostraka gegen diesen Rallias s. BRENNE 1994, 18; L. PICCIRILLI, L'ostracismo di Callia, figlio di Didimia, Klio 78, 1996, 325-328. Zu den Siegen des Rallias MORETTI 1957, Nr.228; KYLE 1987, A29.

100

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daß die hippotrophia als traditionelle Form der Adelskultur vom démos als ein Engagement aufgefaßt werden konnte, das allein privaten Interessen diene, nicht aber das Wohl der pòlis fördere. So waren die hippischen Erfolge des Megakles sicherlich nicht die einzige Ursache für seine Unbeliebtheit beim démos, aber sie trugen dazu bei. Die Alkmeoniden betrieben auch in der folgenden Generation Pferdesport. Megakles' gleichnamiger Sohn, der 436 einen Olympiasieg mit dem Viergespann errang (s.o. S.86), taucht als Inbegriff einer hypertrophen hippotrophia in Aristophanes' „Wolken" auf. Diese Komödie, aufgeführt bei den Dionysien des Jahres 423, 284 liefert einen aufschlußreichen Einblick in die Wahrnehmung des Pferdesports durch den athenischen démos. In diesem Zusammenhang interessiert weniger die auf der Bühne dargestellte Handlung, die Unterweisung von Strepsiades und Pheidippides in der Schule des Sokrates und die sich daraus ergebenden Verwicklungen, sondern die Ausgangssituation, die den alten Bauern dazu treibt, die Unterstützung des Weisheitslehrers zu suchen. Die Problemlage wird in den ersten Versen der Komödie dargestellt: Strepsiades, ein attischer Bauer, hat eine Schwester des Megakles geheiratet. Der gemeinsame Sohn hat sich unter dem Einfluß seines Onkels zu einem leidenschaftlichen Anhänger des Pferdesports entwickelt und gibt große Geldmittel für Pferde und Rennwagen aus, 285 was zwar dem Lebensstil der Familie seiner Mutter, nicht aber dem Geldbeutel seines Vaters angemessen ist. Dadurch gerät dieser immer tiefer in Schulden, so daß schließlich ein Prozeß mit den Gläubigern unvermeidlich scheint, den Strepiades ohne eine rhetorische Unterweisung durch Sokrates für aussichtslos hält.

284 Die überlieferte Version ist nicht die originale, sondern eine Umarbeitung, die Aristophanes wegen der Erfolglosigkeit dieser Komödie vornahm (schol. Aristoph. Nub. hypoth. V). Es ist jedoch anzunehmen, daß diese Veränderungen in erster Linie das Rededuell der beiden lógoi betraf, nicht die Ausgangssituation des Stückes. Deshalb kann man davon ausgehen, daß die Passagen über die Pferdenarrheit der Aristokratie der aufgeführten Fassung entstammen. Zur Textgeschichte K.J. DOVER, Aristophanes: The Clouds, Oxford 1968, LXXXff. 285 Ob Pheidippides auch selber die Wagen lenkte, geht aus dem Text nicht hervor. Darauf liegt aber auch nicht die Aufmerksamkeit des Autors, für den nicht die körperliche Betätigung des Pheidippides, sondern der finanzielle Aufwand wichtig war.

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Für die Rolle der hippotrophia

101

im Athen des Peloponnesischen Krieges

und insbesondere für die Verbindung mit den Alkmeoniden ergeben sich aus dieser Komödie einige Anhaltspunkte. Zwar können wir aus den Stücken des Aristophanes nur schwer auf seine eigene Meinung schließen, und auch die Reaktion des Publikums ist uns unbekannt; jedoch erhalten wir durch die Komödie Einblick in Wahrnehmungsmuster und in Spannungen innerhalb der athenischen Bürgerschaft. •

Hippotrophia war ein Adelsmonopol. Die familiäre Situation des Strepsiades bezieht ihre Komik gerade daraus, daß im oikos des Bauern ein Lebensstil gepflegt wird, der seinen finanziellen Möglichkeiten nicht angemessen ist. Offenbar nahm Aristophanes an, daß von allen adligen Betätigungen der Pferdesport am typischsten sei und jedem Zuschauer unmittelbar einleuchte, daß diese Beschäftigung einem normalen attischen Bürger nicht zukomme. Schon bei der Namensgebung für den Sohn kommt es zwischen Strepsiades und seiner Frau zu Konflikten: Sie verlangt, daß der Name unbedingt „hipp-" enthalten müsse, um auf seine adlige Abkunft mütterlicherseits hinzuweisen (63ff.). Dies zeigt die Rolle der Pferdezucht und des Pferdesports als sozialem Distinktionsmerkmal.



Die Alkmeoniden verkörperten in den Augen des démos die hippotrophia wie keine zweite Adelsfamilie Athens. Dem Publikum des Aristophanes leuchtete unmittelbar ein, daß der Einfluß des Megakles den jungen Pheidippides zwangsläufig zu einem Anhänger des Pferdesports machen mußte. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich eine Kontinuitätslinie von den Ostraka gegen den älteren Megakles bis hin zum Spott in der Komödie ziehen. In beiden Fällen stellt sich das hippische Engagement als eine umstrittene Aktivität dar.



Die hippotrophia ist ein Ansatzpunkt, um adlige Verhaltensweisen lächerlich zu machen. In der Nachtszene zu Beginn des Stückes ist Pheidippides eine komische Figur, weil seine Gedanken ausschließlich um seine Pferde kreisen. Er träumt von ihnen, er schwört beim „Pferdegott Poseidon" (83)286, und die Klagen seines Vaters stoßen bei ihm auf taube Ohren. Offenbar konnte der Dichter damit rechnen, daß die Karikatur eines adligen Pferdenarren bei seinem Publikum Anklang fand.287

286 Poseidon wird als Schwurgott im Zusammenhang mit Wagenrennen bereits beim Konflikt zwischen Menelaos und Antilochos herangezogen: Horn. II. 23, 584.

287

KYLE 1987, 131 f.

102

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Die grundsätzliche Einstellung des attischen démos gegenüber der adligen hippotrophia hatte sich also in dem halben Jahrhundert zwischen der zweiten Ostrakisierung des Megakles und den „Wolken" nicht grundlegend geändert. Engagement im Pferdesport stand unter nicht grundsätzlich negativer, aber kritischer Betrachtung durch die Athener. Gerade vor diesem Hintergrund könnte man eine sehr vorsichtige Selbstdarstellung erfolgreicher Pferde- und Gespannbesitzer erwarten, doch Alkibiades beschritt einen diametral entgegengesetzten Weg.

3.5 Alkibiades' hippotrophia Im Sommer 415 beriet die athenische Volksversammlung über die geplante Expedition nach Sizilien. Thukydides berichtet ausführlich über das Rededuell zwischen Nikias und Alkibiades, dem wichtigsten Gegner und dem wichtigsten Befürworter dieses Unternehmens. 288 In den Reden der beiden Antagonisten spielt die hippotrophia des Alkibiades eine zentrale Rolle: (Nikias spricht:) „Und wenn einer, gern ins Feldherrnamt gewählt, euch zur Ausfahrt rät, nur auf sich selber bedacht, zumal wenn er noch zu jung ist dafür, um sich bestaunen zu lassen für die Rosse, die er hält, und wegen des großen Aufwandes auch einen Gewinn zu ziehen aus seinem Amt - auch diesem seid nicht willfahrig, daß mit der Gefahr der Stadt der einzelne glänze, sondern denkt, daß solche Männer sich am Staatsgut vergreifen, das eigne vertun, und daß die Sache zu folgenschwer ist, als daß ein Jüngerer sie beschließen oder hitzig betreiben sollte."289 (Alkibiades spricht:) „Nicht nur gebührt mir mein Amt, Athener, mehr als andern (notgedrungen muß ich damit beginnen, da mich Nikias so gescholten hat), ich glaube auch dessen würdig zu sein. Worob nämlich mein Name in aller Munde ist, 288

Zum Rededuell und seiner Darstellung bei Thukydides: GOMME - ANDREWES - DOVER 1970, 229ff.; KOHL 1977; GRIBBLE 1999, 61ff. 191ff.; allgemein zu Alkibiad e s : HATZFELD 1 9 5 1 ; BLOEDOW 1 9 7 3 ; d e r s . 1 9 9 0 ; d e r s . 1 9 9 1 ; ELLIS 1 9 8 9 ; ROMILLY

1995. 289

Thuk. 6, 12,2: εί τέ τις άρχειν άσμενος αίρεθείς παραινεί ύμιν έκπλειν, το εαυτού μόνον σκοπών, άλλως τε καί νεώτερος ών έτι ές το άρχειν, όπως θαυμασθη μεν άπό της ίπποτροφίας, δια δε πολυτέλειαν καί ώφεληθη τι έκ της αρχής, μηδέ τούτφ έμπαράσχητε τφ της πόλεως κινδόνφ ίδίςι έλλαμπρύνεσθαι, νομίσατε δέ τούς τοιούτους τα μέν δημόσια άδικεϊν, τα δέ ίδια άναλοϋν, καί τό πράγμα μέγα είναι καί μη οίον νεωτέρψ βουλεύσασθαί τε καί οξέως μεταχειρίσαι.

103

Athen

das trägt meinen Vorfahren und mir Ruhm ein, und der Vaterstadt sogar auch Nutzen. Denn die Hellenen hielten Athen, über all seine Macht hinaus, für noch größer wegen meines glanzvollen Auftretens als Festbote in Olympia, nachdem sie eine armgekämpfte Stadt erwartet hatten, weil ich sieben Wagen ins Rennen schickte, so viele wie kein einfacher Bürger je zuvor, und Sieger wurde und Zweiter und Vierter und auch sonst alles dem Sieg entsprechend hergerichtet hatte. Nach herkömmlicher Ansicht gilt solches als Ehre, aus dem Geleisteten wird aber auch noch Macht dahinter vermutet. Und was ich wiederum in der Stadt mit Auffuhrungen oder sonst an Pracht entfalte, weckt bei den Städtern gewiß Neid - das ist in der Natur - , die Fremden sehen auch darin Stärke. So ist diese Torheit nicht überflüssig, wenn einer auf eigene Kosten nicht bloß sich selbst, sondern auch der Stadt Vorteil schafft." 290

Nikias und Alkibiades bewerten die hippotrophia des letzteren unterschiedlich. Während Nikias sie als Verschwendung auffaßt und die Bürger davor warnt, jemandem das Wohl des Staates anzuvertrauen, der schon mit seinem eigenen Vermögen leichtfertig umgeht, sieht Alkibiades darin eine fur die pòlis nützliche Aktivität. Die demonstrative Zurschaustellung seines Reichtums habe in ganz Griechenland Eindruck gemacht und sei als Zeichen der Macht Athens aufgefaßt worden. Durch diese Leistung für die Stadt habe er 291

einen Anspruch auf das Feldherrnamt im bevorstehenden Krieg. Bevor ich auf diese beiden Positionen zurückkomme, sollen die Umstände von Alkibiades' Olympiasieg dargestellt werden: Bei den 91. Olympischen Spielen im Jahre 416 hatte Alkibiades den größten agonistischen Erfolg der gesamten Antike gefeiert, indem er beim wichtigsten Agon und in der prächtigsten und prestigeträchtigsten Disziplin, dem Rennen der Viergespanne, nicht nur den Siegeskranz errang, sondern 290 T h u k . 6 , 16, 1-3: Kai προσήκει μοι μ ά λ λ ο ν έτερων, ώ Ά θ ε ν α ΐ ο ι , άρχειν (ανάγκη γαρ έντεΟθεν άρξασθαι, επειδή μου Νικίας καθήψατο), καί άξιος ά μ α νομίζω είναι, ών γαρ πέρι έπιβόητός είμι, τοις μεν προγόνοις μου καί έμοί δόξαν φέρει ταύτα, τη δε πατρίδι καί ώφελίαν. οί γαρ Έ λ λ η ν ε ς καί ύπέρ δύναμιν μείζω ήμών την πόλιν ένόμισαν τφ έμφ διαπρεπεί τής Ό λ υ μ πίαζε θεωρίας, πρότερον έλπίζοντες αύτήν καταπεπολεμήσθαι, διότι ά ρ μ α τ α μεν έπτά καθήκα, ό σ α ούδείς πω ιδιώτης πρότερον, ένίκησα δε καί δεύτερος καί τέταρτος έγενόμην και τ ά λ λ α άξίως τής νίκης π α ρ ε σ κ α υ α σ ά μ η ν . νόμφ μεν γαρ τιμή τα τοιαύτα, έκ δέ του δρωμένου καί δύναμις ά μ α ύπονοειται. καί ό σ α α ύ έν τη πόλει χορηγίαις ή ά λ λ φ τφ λαμπρύνομαι, τοις μεν άστοίς φθονείται φύσει, προς δέ τους ξένους καί αύτη ισχύς φαίνεται. καί ούκ ά χ ρ η σ τ ο ς ήδ' ή άνοια, ός ά ν τοίς ιδίοις τέλεσι μη εαυτόν μόνον, ά λ λ α καί τήν πόλιν ώφελη. 291

Zur impliziten Verknüpfung zwischen militärischem und agonistischem Erfolg

s. GRIBBLE 1 9 9 9 , 6 2 .

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darüber hinaus auch den zweiten und vierten Platz belegte. 292 Dieser überwältigende Erfolg wurde durch den Umstand begünstigt, daß die in dieser Zeit dominierenden Spartaner von der Teilnahme an den Olympischen Spielen ausgeschlossen waren (s.u. S.159f.). Alkibiades hatte seine Chance erkannt und eine hippotrophia betrieben, die alles Bekannte übertraf. 293 Er hatte weder riesige Kosten noch intrigante Methoden 294 gescheut, um sich in den Besitz der besten Gespanne zu bringen, und hatte schließlich sieben Wagen ins Rennen geschickt, um sich die größtmöglichen Chancen auf den Sieg zu sichern. Die Feier des Sieges entsprach der Größe des errungenen Erfolgs. Alkibiades, der in Olympia persönlich anwesend war, lud die gesamte Panegyris zu einem Mahl ein;295 damit richtete er eine Siegesfeier aus, die in der Geschichte der antiken Olympischen Spielen fast einmalig ist.296 Ausrichten mußte er sie allerdings nicht allein, denn mehrere Städte überboten sich mit Geschenken an den triumphalen Sieger: die Ephesier überbrachten ihm ein Prachtzelt, die Bewohner von Chios versorgten ihn mit Futter für seine Pferde und mit zahlreichen Opfertieren, und die Lesbier trugen zum Fest unter anderem Wein bei. 297 Ähnlichen Aufwand wie für diese Siegesfeier betrieb Alkibiades auch für die dauerhafte Zurschaustellung seines Sieges in Wort und Bild. Er beauftragte namhafte Maler und Bildhauer mit Darstellungen seiner Erfolge in

292

MORETTI 1957, Nr.345; KYLE 1987, A 4 . D i e genauen Plazierungen sind nicht

ganz klar: ein Teil der Quellen schreibt Alkibiades' Gespannen den ersten, zweiten und vierten Rang zu (Thuk. 6, 16, 2; Athen. 1, 3e; Plut. Alk. 11; Demosth. or. 1 , 1 ) , während Euripides' Epinikion v o m ersten, zweiten und dritten Platz berichtet (so auch Isokr. or. 16, 34). 293

Plut. Alk. 11, 1.

294

Alkibiades hatte im Auftrag eines Mitbürgers den Argivern ein Gespann abgekauft, dieses dann aber unter seinem eigenen N a m e n in Olympia starten lassen. D i e 16. Rede des Isokrates, eine Verteidigungsrede für Alkibiades' gleichnamigen Sohn, handelt von diesem Fall. S. außerdem Ps.-And. 4, 26; Diod. 13, 74, 3f.; Plut. Alk. 12, 2f. 295

Isokr. or. 16, 34; Athen. l , 3 e .

296

Für Anaxilaos aus Rhegion ist eine solche Feier überliefert (s.u. S.238f.). Auch

daran sieht man, daß sich Alkibiades' Ausgaben auf dem Niveau der Tyrannen bewegten. 297

Plut. Alk. 12, 1; Ps.-And. 4. Wie SCHMITT-PANTEL 1992, 198, anmerkt, erin-

nern solche Leistungen an die Tributzahlungen für persische Großkönige.

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105

Olympia und den anderen panhellenischen Wettkampfstätten; 298 ein Gemälde, das ihn im Schöße der Nemea(s) zeigt, wurde in der Pinakothek der Athener Propyläen aufgestellt. 299 Außerdem bestellte er auch ein Epinikion bei dem Tragödiendichter Euripides. Dessen Verfasserschaft unterliegt kaum einem Zweifel, 300 obwohl die antiken Quellen kein eindeutiges Bild vermitteln. Plutarchs Alkibiadesvita und Athenaios 301 geben Euripides als Autor an, doch im „Demosthenes" 302 spricht Plutarch die Möglichkeit an, daß vielleicht ein anderer Dichter das fragliche Werk verfaßte. Aber auch in dieser Passage läßt Plutarch erkennen, daß die geläufige Meinung seiner Zeit in Euripides den Schöpfer des Epinikions für Alkibiades sah, und vereinzelte Zweifel an dieser Zuschreibung scheinen erklärbar zu sein: Zum einen werden einige durch eine 'Zusammenarbeit' zwischen Euripides und Alkibiades irritiert gewesen sein, da man im Schaffen des Tragikers schon bald nach 416 eher eine distanzierte Einstellung zu Alkibiades und seiner rücksichtslosen Politik zu erkennen glaubte. 303 Darüber hinaus fand der Text des Siegesliedes, das sowohl im Werk des Euripides als auch in dieser Zeit völlig allein steht, nur schwer Eingang in ein Volumen, so daß auch anhand der Überlieferungslage Unsicherheiten aufkommen konnten. Jedoch gibt es keinen ernsthaften Grund, am Zeugnis der Alkibiadesvita sowie Athenaios' zu zweifeln, zumal auch der Stil der erhaltenen Verse als euripideisch erkennbar ist.304 Als letzte Vorbemerkung vor der Analyse des Textes muß noch die Gattungszugehörigkeit geklärt werden. Die Bezeichnungen für das fragliche

298 Aufgrund der vielen panathenäischen Preisamphoren in der Verkaufsliste des Besitzes der Hermokupidenfrevler (IG I3 422, 21. 41-60; W.K. PRITCHETT, The Attic Stelai. Part I, Hesperia 22, 1953, 225-299, Nr.II), Schloß D.A. AMYX, The Attic Stelai. Part III, Hesperia 27, 1958, 163-254, hier 178ff., daß Alkibiades auch bei den Panathenäischen Spielen des Jahres 4 1 8 siegte. 299 S. dazu die ausführliche Untersuchung von W. SCHNEIDER 1999. Zu den anderen, in verstreuten Hinweisen aus der antiken Literatur bekannten Werken vgl. ebd. die Quellen- und Literaturangaben. 300

In dieser Frage folge ich der Argumentation von BOWRA 1960, 68f.

301

Plut. Alk. 1 1 , 2 ; Athen. l , 3 e .

302

Plut. Dem. 1, 1.

303

Vgl. dazu BOWRA 1960, passim.

304 BOWRA 1960, 76f., fuhrt stilistische Vergleichsbeispiele aus den Tragödien des Euripides an.

106

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Werk sind in der antiken Literatur nicht einheitlich, jedoch deuten die B e n e n n u n g e n als ásma,305

enkómion306

und epiníkion307

darauf hin, daß es

sich um ein reguläres, in Auftrag gegebenes und aufgeführtes Siegeslied handelte. Der Ort der Aufführung allerdings kann nicht geklärt werden. BOWRA plädiert für Athen, 308 was angesichts der Tatsache, daß Alkibiades gegenüber der athenischen Bürgerschaft gerade seinen Olympiasieg als ein großes Verdienst für die Stadt anführt, plausibel erscheint. Betrachtet man andererseits den großen Aufwand, mit dem Alkibiades in Olympia selbst seinen Sieg feierte, erscheint auch der Festspielort selbst als Aufführungsort denkbar. 309 Die wenigen überlieferten Verse geben keinen Hinweis, der dieses Problem eindeutig lösen könnte, und es ist für das Verständnis der Ode auch nicht entscheidend, ob das Primärpublikum aus einer panhellenischen Festversammlung oder der athenischen Bürgerschaft bestand. Alkibiades war eine berüchtigte Reizfigur, und zwar sowohl in seiner Heimatstadt Athen als auch in der gesamten griechischen Welt, und die allgemeine Bekanntheit des Epinikions darf - unabhängig vom Aufführungsort ebenso vorausgesetzt werden wie seine intensive Diskussion in Athen. Die überlieferten Verse lauten wie folgt: „Dich bewundere ich, Sohn des Kleinias. Der Sieg ist etwas Schönes, das Schönste aber, was kein anderer Grieche erreichte, hast du erlangt, im Wagenrennen als Erster dahinzueilen und als Zweiter und als Dritter und ohne Mühe einherzuschreiten und, bekränzt mit dem Ölzweig des Zeus, dem Herold Stoff für die Ausrufung zu liefern."310

305

Plut. Alk. 11,3.

306

Plut. Dem. 1, 1.

307

Athen. l , 3 e .

308

309 3,0

BOWRA 1 9 6 0 , 6 8 . ANGELI BERNARDINI

1992,973f.

Plut. Alk. 11, 2 (= F 1/755 PAGE; ich folge dem Text von BOWRA 1960, 74.): σε δ' άγαμαι, ώ Κλεινίου παΐ. καλόν ά νίκα. [τό] κάλλιστον δ' δ μηδείς άλλος Έλλάνων [έλαχες], άρματι πρώτα δραμεϊν και δεύτερα καί τρίτα βήναί τ' άπονητί Διός στεφθέντ' έλαίζϊ κάρυκι βοάν παραδοϋναι.

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107

Setzt man die Epinikien Pindars und Bakchylides' voraus, entdeckt man viele Ähnlichkeiten der zitierten Verse, sowohl das Metrum - es handelt sich um Daktyloepitriten - als auch den Inhalt betreffend. Die Nennung des Patronymikons des Siegers ist in den Siegesliedem Usus, und auch zur Formulierung ώ Κλεινίου παΐ finden sich exakte Parallelen.311 Ebenso ist der Ausdruck der persönlichen Wertschätzung des Dichters für die Taten des Auftraggebers sattsam bekannt, so daß auch die Stellungnahme in der ersten Person nicht überrascht. Den Gattungsgesetzen des Epinikions folgen auch die weiteren Verse. Der zweite Vers mit der Steigerung, daß ein Olympiasieg an sich schon etwas Begehrenswertes, der agonistische Triumph des Alkibiades aber das allergrößte Glück darstelle, ähnelt in ihrer stilistischen Struktur den Priameln Pindars, von denen der Eingang der Ersten Olympie sicher das berühmteste Beipiel ist. Außerdem ist aber auch die Herbeiziehung aller Griechen als Vergleichspunkt für den Sieger charakteristisch; daß der Sieger etwas nie Dagewesenes erreicht habe, schreiben auch andere Epinikiendichter.312 Danach folgt die direkte Verkündung des Sieges unter Nennung der Disziplin und des Agons - letzteres in Form eines Bezugs auf den Olivenkranz und auf Zeus als den Kultherrn der Olympischen Spiele. Dabei geht Euripides auf die Plazierung von Alkibiades' Gespannen ein. Allerdings erreichten sie gemäß dem vorliegenden Text nicht den ersten, zweiten und vierten Rang, sondern sogar alle drei ersten Plätze. Wie diese Abweichung von allen anderen Quellen313 zu erklären ist, bleibt unklar. Von einer Textverderbnis bis hin zu einer bewußten Fälschung zum Zwecke einer noch stärkeren enkomiastischen Wirkung sind verschiedene Möglichkeiten offen. Während der Bezug auf die Ausrufung durch den Herold wieder den bekannten Mustern folgt, bleibt als einziger deutlicher Unterschied vor allem zur pindarischen Siegerdarstellung die Bezeichnung des Sieges als άπονητί (= „mühelos"). Der Kontrast zur Betonung des pönos als Voraussetzung für strahlende Leistung - ein zentrales Motiv pindarischer Epini-

311

Pind. O. 6, 80; Ο. 11, 1 If.; P. 2, 18; Ν. 1, 29.

312

Pind. Ο. 1, 104f.; P. 1, 49; Bakchyl. 3, 63-66. 8, 22-25.

313

Thuk. 6, 16, 2; Isokr. or. 16, 34; Plut. Alk. 11,1; Athen. 1, 3e.

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kien - ist offensichtlich. Der Hintergrund für dieses euripideische Spezifikum wird später erörtert werden. Neben diesen Versen gibt es noch ein weiteres 'Fragment' von Euripides' Epinikion.314 BOWRA macht folgenden Vorschlag für die Rekonstruktion des Textes: „Damit ein Mensch glücklich ist, ist es vor allem nötig, daß seine Stadt berühmt ist." 315

Aus diesen Resten kann man ersehen, daß das Glück des einzelnen und der Ruhm der pòlis im Epinikion des Euripides miteinander verknüpft werden. Die Herkunft eines Menschen aus einer glorreichen Stadt wird als notwendige Bedingung für individuelles Glück dargestellt. Leider fehlt die textuelle Umgebung dieses Verses, so daß die genaue Darstellung des Verhältnisses zwischen dem einzelnen und seiner Stadt unklar bleibt. Bis auf die Betonung der Mühelosigkeit von Alkibiades' Erfolg stößt man bei der Betrachtung des Textes von Euripides auf keine nennenswerte Unterschiede zu Pindar und Bakchylides. In Anbetracht des geringen Umfangs des erhaltenen Textes können auch keine Aussagen gemacht werden, in welcher Weise der Dichter das Verhältnis zwischen dem Auftraggeber und dessen pòlis darstellt. Leider haben wir keine Reste der Mythenerzählung - falls das Epinikion überhaupt eine enthielt - , deren Ausgestaltung gerade im Vergleich mit den Tragödien des Euripides höchst aufschlußreich sein könnte. Der Grund, weswegen das Siegeslied für Alkibiades für die untersuchte Fragestellung von höchstem Interesse ist, liegt auch nicht so sehr darin, wie es geschrieben wurde, sondern daß es überhaupt in Auftrag gegeben wurde. Nach der allseits in der Forschung akzeptierten Chronologie verfaßte Pindar seine letzte Ode, die Achte Pythie für Aristomenes aus Ägina, im Jahr 446, und damit endet die Epoche der Epinikien. Wir haben aus den folgenden Jahrzehnten keinen einzigen Hinweis darauf, daß dieses Genre überhaupt 314

Plut. Dem. 1, 1.

315

BOWRA 1960, Iii. (nach Plut. Dem. 1, 1): χρήν εύδαίμονι πρώτον ύπάρξαι τάν πόλιν εύδόκιμον.

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noch existierte, und aller Wahrscheinlichkeit nach war diese Art der Selbstdarstellung eines Siegers tatsächlich außer Gebrauch gekommen (s.o. S.41). Vor diesem Hintergrund ist die Brisanz des vorliegenden Werkes deutlich. Indem Alkibiades aus Anlaß seines Triumphes ein Epinikion in Auftrag gab, griff er auf eine veraltete Dichtungsform zurück. Archaismen waren in der attischen Literatur zur Zeit des Peloponnesischen Krieges sehr häufig, 316 aber im Falle des Alkibiades hatte der Archaismus eine spezifische politische Bedeutung. Die mit der Wahl der Gattung verbundene Programmatik gewinnt ein schärferes Profil, wenn man sich vor Augen fuhrt, wie in der Zeit des Peloponnesischen Krieges die Gattung 'Epinikion' wahrgenommen wurde. Von der Dichtung Pindars übten vor allem die Werke an den Tyrannen Hieron eine nachhaltige Wirkung aus. Dies liegt zum einen durch die Macht und Berühmtheit des Auftraggebers nahe, zum anderen läßt sich durch die Quellen zeigen, daß gerade im Athen der Zeit des Peloponnesischen KrieÌ17 ges diese Werke en vogue waren. So zitiert Aristophanes in den „Vögeln" ein Hyporchema, das von Pindar anläßlich der Neugründung Aitnas durch Hieron verfaßt worden war, natürlich leicht abgewandelt, aber der Bezug bleibt eindeutig erkennbar. 318 Daß von den Epinikien Pindars im 4. Jahrhundert vor allem diejenigen an sizilische Tyrannen rezipiert wurden, wird aus den Schriften Piatons ersichtlich. An vier Stellen bezieht sich Piaton nachweislich auf pindarische Siegeslieder, dreimal sind die Oden für Hieron und Theron gemeint. 319 Ein Interesse an Syrakus ist in der Zeit, als die geplante Sizilienexpedition das wichtigste Thema attischer Politik bildete, gut zu erklären, und daß sich auch in den Jahrzehnten vor Piatons Schriften die Rezeption nicht auf das betreffende Hyporchema beschränkte, sondern auch die Epinikien fur

316

Β. ZIMMERMANN, Gattungsmischung, Manierismus, Archaismus. Tendenzen des griechischen Dramas und Dithyrambos am Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr., Lexis 3, 1989,25-36. 317 In diesem Punkt folge ich N . LURAGHI, La tirannide siceliota nell'Archaiologia di Tucidide, QS 42, 1995, 35-63, hier 59ff. 318 319

Aristoph. Av. 926f. 94 Iff. (= F 105a,B SN ELL - MAEHLER).

Es handelt sich um die Erste Olympie (Euthyd. 304b-c), die Dritte Pythie (rep. III 408b) und die Zweite Olympie (Prot. 324b). Die vierte Stelle bezieht sich auf die Erste Isthmie (Phaidr. 227b). S. dazu IRIGOIN 1952, 18.

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Hieron einschloß, liegt nahe. Daraus ergibt sich aber, daß für die Athener dieser Zeit der Auftrag zu einem Epinikion nicht nur ein archaisierendes, sondern geradezu tyrannengleiches Verhalten darstellte.320 Von einem Willen zur Reintegration des Alkibiades nach seinem Olympiasieg, wie von GRIBBLE postuliert,321 ist nichts zu bemerken. Zwar konnte ein Epinikion diese Funktion besitzen, wie bei Megakles, im Fall des Alkibiades dagegen erinnerte allein die Wahl der altertümlichen Gattung an die Selbstdarstellung von Tyrannen. Die Siegesfeier in Olympia war ebenfalls nicht dazu angetan, den Sieger als loyalen Anhänger der athenischen Demokratie zu stilisieren. Wie die Bundesgenossen ihre Beiträge an die pòlis Athen entrichteten, so wurde das Fest des Alkibiades von ionischen Städten mitfinanziert. Das Gemälde in den Propyläen war charakterisiert „durch die unverhohlene Zurschaustellung des Naheverhältnisses, in das hier ein Sterblicher zum göttlichen Wesen tritt."322 Plutarch berichtet, daß die bildliche Selbstdarstellung des Alkibiades als agonistischer Sieger Anstoß erregte,323 und fur Siegesfeier und Epinikion läßt sich Gleiches vermuten. Dies entspricht dem sonstigen Auftreten des Alkibiades, der offenbar keine Scheu davor hatte, in den Verdacht zu geraten, er strebe nach der Alleinherrschaft. Er scheute keine Risiken und erregte deswegen in vielen Dingen Anstoß. Alkibiades nahm dies in Kauf, weil er eine andere Strategie verfolgte als die anderen Adligen. Er strebte nach einer exzessiven Darstellung seines Reichtums, seines Glücks und seiner Energie und spekulierte darauf, daß solcher Glanz ihn in der Gunst des Volkes so weit steigen lassen würde, daß er seine politischen Absichten würde durchsetzen können. Die Darstellung des Sieges als mühelos paßt in dieses Konzept. Alkibiades wollte sein beständiges Glück betonen, das ihn in die Lage versetzte, mit Leichtigkeit etwas zu erreichen, wofür sich alle anderen Griechen lange

320

LURAGHI 1995 (wie Anm.317), 62, hat die Überlegung angestellt, daß, wenn der Poet in Aristophanes' „Vögeln" tatsächlich eine Karikatur des Euripides darstelle, was in der Forschung kontrovers diskutiert wird (Literaturangaben ebd., Anm.64), dem Paar Euripides-Alkibiades das Duo Pindar-Hieron entspreche. 321

GRIBBLE 1 9 9 9 , 6 6 f f .

322

W . SCHNEIDER 1 9 9 9 , 2 2 .

323

Plut. Alk. 16.

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vergeblich abmühten. 324 Deswegen wurde das Epinikienmotiv ,JPönoi sind eine nötige Vorraussetzung für Erfolge" umgewandelt in „Die persönliche eudaimonia bewirkt, daß glänzende Erfolge ohne Mühen errungen werden können". Damit unterstrich er nachdrücklich sein Charisma. Der Pferdesport war zwar nicht das einzige Feld, auf dem Alkibiades durch gewaltige Ausgaben auf sich aufmerksam machte, 325 aber das spektakulärste. 326 Infolgedessen konzentrierte sich auch die Diskussion über die Person des Alkibiades darauf. Nikias selbst hob hervor, daß die hippotrophia

des

Alkibiades beim Volk Staunen hervorrief, und Thukydides betont sie besonders: „Denn hoch angesehen in der Stadt, frönte er großen Leidenschaften über sein Vermögen mit den Pferden, die er hielt, und sonstigem Aufwand. Und gerade das wurde einer der Hauptgründe für den Untergang Athens. Denn da die Menge erschrak vor dem Übermaß seiner persönlichen, gänzlich überbürgerlichen Lebensführung wie auch vor dem geistigen Schwung, womit er jedes einzelne vorkommende Geschäft betrieb, so wurden sie, als wolle er Tyrann werden, seine Feinde, und während er in seinem Amt iur den Krieg die besten Anordnungen traf, stießen sich die einzelnen Bürger an seinem Gehaben, gaben die Vollmachten anderen und rissen gar bald damit die Stadt zu Boden."327 Der entscheidende Begriff in dieser Stelle ist paranomia. In den Augen der Athener sprengte Alkibiades' Lebensstil offenbar das den Gesetzen entspre-

324

Ebenso wird die besondere Leichtigkeit des Sieges herausgestellt bei Isokr. or.

16, 34. 325

Thuk. 6, 15,3 nennt die hippotrophia unter anderen dapänai.

326

In der Forschung wird die Bedeutung des Olympiasieges in der Karriere des Alkibiades und in seiner Wirkung auf die Zeitgenossen teilweise deutlich unterschätzt; Beispiele dafür sind HATZFELD 1951; BLOEDOW 1973; ROMILLY 1995, welche in ausfuhrlichen Untersuchungen zu Alkibiades seine Olympiasiege nur am Rande behandeln. 327 Thuk. 6, 15, 3f.: ών γαρ έν άξιώματι ύπό των άστών, ταις έπιθυμίαις μείζοσιν ή κατά την ύπάρχουσαν ούσίαν έρχητο ές τε τας ίπποτροφίας καί τάς άλλας δαπάνας· όπερ καί καθείλεν ύστερον την των Αθηναίων πόλιν ούχ ήκιστα. φοβηθέντες γαρ αύτοϋ οί πολλοί το μέγεθος της τε κατά τό έαυτου σώμα παρανομίας ές την δίαιταν καί της διανοίας ών καθ' εν εκαστον έν οτφ γίγνοιτο επρασσεν, ώς τυραννίδος έπιθυμοϋντι πολέμιοι καθέστασαν, καί δημοσίςχ κράτιστα διαθέντι τα του πολέμου ΐδίςχ έκαστοι τοις έπιτηδεύμασιν αύτοϋ άχθεσθέντες, καί άλλοις έπιτρέψαντες, ού δια μακρού έσφηλαν τήν πόλιν.

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chende Maß, seine Ausgaben wurde als tyrannengleich empfunden. 328 Alkibiades selbst gab sich wenig Mühe, diesen Eindruck zu widerlegen. Er selbst bemerkte in der oben zitierten Passage, er habe mehr Gespanne ins olympische Wagenrennen geschickt als jemals ein idiotes zuvor. Hier ist idiotes am ehesten als Gegenbegriff zu Monarch und Tyrann zu verstehen,329 doch damit betont Alkibiades die Parallelen zwischen seiner eigenen hippotrophia und derjenigen von Herrschern. An deren Selbstdarstellung knüpft Alkibiades auch durch das Ausmaß der Feier und durch die Auffuhrung eines Epinikions an. Der aufwendige Lebensstil des Alkibiades führte jedoch nicht zwangsläufig und sofort zu einer Ablehnung seiner Person durch den démos. Vielmehr produzierte er eine Art Haßliebe der Athener gegen sich.330 Dabei gelang es ihm zeitweise, die hippotrophia samt den anderen kostspieligen Aktivitäten als Trumpf im Kampf um eine Machtstellung einzusetzen.331 Sein Anspruch auf eine führende Rolle in der pòlis Athen drückte er nicht in einem formulierten politischen Programm aus, sondern durch seinen Lebensstil. Sein persönliches Charisma, seine überragende Tatkraft und sein organisatorisches Talent sorgten dafür, daß das Volk von Athen im Sommer 415 seinen Ausgaben fur die hippotrophia nicht ablehnend, sondern bewundernd gegenüberstand. Was bei Megakles eine Ursache seiner Ostrakisierung war, wurde bei Alkibiades aufgrund seiner Persönlichkeit ein Grund fur seinen Erfolg. Nikias versuchte den attischen démos zu überzeugen, daß das Betreiben des Pferdesports Verschwendung sei - eine Argumentation, die gegen die Alkmeoniden wirksam eingesetzt worden war. Doch die Athener, mitgerissen vom Charisma des Alkibiades, folgten dessen Position, daß sein glanzvolles Auftreten der Stadt Vorteile bringe. Dabei ordnete 328

Die im Corpus des Andokides erhaltene Rede „Gegen Alkibiades" gibt diesen Vorwürfen gegen Alkibiades in größter Zuspitzung Ausdruck. Vgl. dazu die Ausführung e n v o n SEAGER 1 9 6 7 . 329

Vgl. auch Hdt. 1,59, 1.

330

Den besten Beleg dafür, wenn auch aus der Endphase des Peloponnesischen Krieges, stellt Aristoph. Ram. 1425, dar. 331 Daß Alkibiades die Siege im Wagenrennen allein als Mittel zum Zweck anstrebte, um sich eine günstigere Ausgangsposition für Reden vor der Volksversammlung zu schaffen (so DECKER 1995, 114), scheint mir eine überzogene Folgerung aus Isokr. or. 16, 32ff. zu sein. Alkibiades strebte nach Ruhm und Ansehen, und bei diesem Ziel war ein glanzvoller Olympiasieg Selbstzweck, nicht in erster Linie politisches Kalkül.

113

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Alkibiades keineswegs seinen persönlichen Ruhm den Interessen der pòlis unter, sondern trat im Gegenteil sehr selbstbewußt auf. Wie

SEAGER

festge-

stellt hat, kommt Alkibiades in seiner Rede nahe an die Aussage heran, daß seine persönliche dynamis größer sei als die Ressourcen der Stadt Athen. 332 Weder das Ausmaß noch der Umgang mit der hippotrophia sind typisch für das Athen des Peloponnesischen Krieges, vielmehr widersprechen sie radikal der feindlichen Einstellung des athenischen démos gegenüber einer exzessiven aristokratischen Selbstdarstellung. Doch Alkibiades setzte sich prägnant vom Verhalten der übrigen Aristokraten seiner Zeit ab, die sich sorgsam vor einem allzu provokanten Auftreten hüteten. Er legte vielmehr ein Auftreten an den Tag, das eher dem eines archaischen Tyrannen als dem eines attischen Bürgers entsprach. Dabei ging er ein hohes Risiko ein; dank seiner schillernden Erscheinung konnte er eine machtvolle Position in Athen erringen, doch dauerhaft festigen konnte er seine Stellung nie. Da ihn der démos aber nur als Held oder als Feind betrachten konnte und eine Eingliederung in den Polisverband nicht in Frage kam, glich Alkibiades' Verhalten einem Vabanquespiel, das er letztlich verlor.

3.6 Autolykos und das Gymnasion In den beiden letzten Abschnitten konnte verfolgt werden, daß im demokratischen Athen hippische Erfolge je nach politischer Situation und persönlichem Auftreten für den Sieger unterschiedliche Folgen haben konnten. Die Brisanz sportlicher Erfolge können wir jedoch auch bei den gymnischen Disziplinen erkennen, obwohl auf diesem Gebiet weniger Quellen zur Verfugung stehen. Zunächst sollte noch einmal erwähnt werden, daß mit dem Pankratiasten Kallias, dem Sohn des Didymios, der erste athenische Periodonike ostraki-

332

SEAGER 1967, 8; s. auch KYLE 1987, 163ff. Bei Isokr. or. 16, 33 wird Alkibiades darüber hinaus eine arrogante Aussage in bezug auf andere Disziplinen zugeschrieben. Er habe nicht an den gymnischen Wettkämpfen teilnehmen wollen, weil dort auch Angehörige der Unterschicht, Leute aus kleinen Städten und Athleten mit geringer Bildung angetreten seien, und habe sich deswegen auf das Wagenrennen konzentriert. Die Authentizität dieser Aussage kann nicht geklärt werden, sie fugt sich jedoch gut in das Alkibiadesbild des Thukydides ein.

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sieri wurde.333 Anders als im Fall des Megakles haben wir in diesem Fall jedoch kein Zeugnis dafür, daß das agonistische Engagement als Argument gegen Kallias verwendet wurde; da außerdem weder die Siege noch der Ostrakismos noch die Weihungen des Kallias auf der Akropolis (s.o. Anm.240) exakt datiert werden können, sind weitere Überlegungen zum Zusammenhang zwischen athletischer und politischer Karriere allzu spekulativ. Unter den athenischen Sportlern des ausgehenden 5. Jahrhunderts war der Pankratiast Autolykos334 der berühmteste. Aus den Angaben verschiedener Autoren gewinnt man mosaikartig ein Bild dieser Person: Autolykos, Sohn des Lykon,335 gewann bei den Großen Panathenäen des Jahres 422 das Pankration der Knaben.336 Im Prytaneion wurde seine Statue aufgestellt,337 er selbst wurde Gegenstand des Spottes in einer Komödie des Eupolis338 sowie in einem Satyrspiel des Euripides.339 Sein Leben endete kurz nach dem Peloponnesischen Krieg: Um dem Befehlshaber der spartanischen Garnison in Athen einen Gefallen zu tun, brachten die 30 Tyrannen Autolykos um, wahrscheinlich in Verbindung mit einem Rechtsstreit zwischen Autolykos und einem Spartaner.340 Autolykos war kein Spitzenathlet; zwar waren die Großen Panathenäen ein wichtiger Agon, standen aber den vier großen panhellenischen Spielen in bezug auf das Prestige deutlich nach. Daher ist es erklärungsbedürftig, daß Autolykos eine Statue, noch dazu an solch prominenter Stelle, zugesprochen wurde. Aus dem „Gastmahl" Xenophons wird ersichtlich, daß die athletischen Fähigkeiten des Pankratiasten an sich zweitrangig waren. Bei

333

KYLE 1 9 8 7 , A 2 9 ; s. a u c h O. S . 9 9 .

334

KYLE 1 9 8 7 , A 1 2 .

335

Wahrscheinlich ist dies der spätere Ankläger des Sokrates (KIRCHNER 1903, Nr.9271), auch wenn er von Xenophon in vertrauter Runde mit dem Philosophen dargestellt wird. 336 Athen. 5, 187f; Xen. symp. 1, 2; zu den chronologischen Problemen D.F. SUTTON, The Greek Satyr Play, Meisenheim 1980, 59f. 337

Paus. 1 , 1 8 , 3 .

338

F 39-41 Edmonds (= Athen. 5, 216d).

339

F 282 NAUCK (= Athen. 10, 413c-f).

340

Diod. 14, 5, 7; Plut. Lys. 15, 8; Paus. 9, 32, 8.

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dem Symposion, das Autolykos' Liebhaber Kallias für den frischgebackenen Pankrationsieger ausrichtet, ergreift der Knabe kaum das Wort, sondern bleibt passiv. Wenn die anderen über ihn sprechen, rühmen sie weniger seine Schlagkraft als seine Schönheit. Thematisiert wird ebenfalls seine homoerotische Beziehung zum Gastgeber des Symposions. Autolykos ist ein erfolgreicher Athlet; er ist der Inbegriff der Knabenschönheit, und er steht in einer gesellschaftlich akzeptierten homoerotischen Beziehung. Damit befindet sich Autolykos im Brennpunkt dreier charakteristischer Linien, die die (Selbst-)Darstellung der Gymnasienbesucher kennzeichnen. Die Palästraszenen der attischen Keramik zeigen uns stilisierte Körper und Köpfe, gleichzeitig aber auch die Brutalität der schwerathletischen Disziplinen und das technische Können der Sportler. Daneben spielen auch erastés-erómenos-Szenen

in Gymnasien. 341 Die Palästraszenen

auf Vasen hatten am Ende des 6. und Beginn des 5. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, in der Literatur hingegen nimmt die Institution des Gymnasions in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts einen bevorzugten Platz ein. In diesem Zusammenhang interessieren vor allem Textstellen des 'Alten Oligarchen', ,¿íthenaíon

des unbekannten

Verfassers der

pseudoxenophontischen

politela".

Dieser beschreibt zwei verschiedene Verhaltensweisen des démos gegenüber dem Gymnasion: Auf der einen Seite ging der démos gegen die im Gymnasion Sporttreibenden vor, weil die Masse selbst nach der Meinung des Alten Oligarchen zu derlei Betätigung nicht in der Lage war; 342 welche Mittel dabei vom démos angewendet wurden, kann nicht geklärt werden. 343 Auf der anderen Seite berichtet Pseudo-Xenophon auch, daß das Volk für sich Gymnasien errichtete, die Aristokraten sich dagegen in private Sportstätten zurückzogen. 344 Beide Aussagen lassen sich vereinen, wenn man in Betracht zieht, daß das Gymnasion im Athen des Peloponnesischen Krieges als charakteristische Institution des Adels galt und zur Zeit der radikalen

341 Zu den Vasendarstellungen BRUCKNER 1954; s. auch MANN 1998, 14, mit weiterer Literatur. 342

Ps.-Xen. Ath. pol. 1, 13.

343

Katalyein bezeichnet hier jedenfalls kein gesetzliches Verbot (KYLE 1987, 134 Anm.51, mit weiterer Literatur). 344

Ps.-Xen. Ath. pol. 2, 10.

116

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Demokratie heftigen Angriffen ausgesetzt war. Die Maßnahmen des démos konnten sowohl destruktiv sein als auch darin bestehen, der elitären Einrichtung ihre Exklusivität zu nehmen und sie fur alle Bürger zugänglich zu machen. Die Rolle als 'Ikone' des Gymnasions, die Autolykos von Xenophon zugeschrieben wurde, ist meiner Meinung nach nicht bloße literarische Fiktion, sondern eine Widerspiegelung der Realität. Er stammte aus einer zwar wohlhabenden,345 aber nicht allzu bedeutenden Familie, und mit dem mageren sportlichen Erfolg allein läßt sich auch nicht erklären, warum ihm eine Statue aufgestellt und er in Komödie und Satyrspiel thematisiert wurde. Deswegen liegt die Vermutung nahe, daß Autolykos zur Symbolfigur einer konservativen Gruppe geworden war, die wie der 'Alte Oligarch' das Gymnasion in seiner überkommenen Form und ohne eine Öffnung für den démos erhalten wollte oder zumindest die Erinnerung an diese Institution wachhielt.346 Von Eupolis' Komödie über Autolykos besitzen wir leider keine Fragmente;347 dafür ist uns von Euripides' Satyrspiel über den Pankratiasten eine längere Passage erhalten, die keineswegs die einzige,348 aber die ausfuhrlichste und durch die Person des Autolykos am besten zu verortende sportkritische Passage im attischen Drama darstellt. Euripides verfaßte zwei Satyrspiele mit dem Titel „Autolykos", von denen eines den listenreichen mythischen Träger dieses Namens und seinen Wettstreit mit Sisyphos zum Inhalt hatte.349 Das andere war vielleicht auch mythologischen Inhalts Autolykos unterrichtete den Herakles im Ringen -, 3 5 0 doch hier war sicher345

KYLE 1987, 198, gegen DAVIES 1971, der Autolykos nicht aufführt.

346

Vgl. auch die Idealisierung des Gymnasions, das die Marathonkämpfer körperlich und sittlich erzogen habe, durch den Dlkaios Lògos bei Aristoph. Nub. 1002ff. 347 Stattdessen nennt Athenaios den Choregen Demostratos. Dieser ist vielleicht mit dem Demagogen gleichen N a m e n s zu identifizieren, der sich als Befürworter der Sizilienexpedition hervortat (KIRCHNER 1903, Nr.3611). 348

Vgl. z.B. Achaios F 4 NAUCK (= Athen. 10, 414d); ausführliche Stellenangaben für das Vorkommen von Sport im attischen Drama finden sich bei LARMOUR 1998, jedoch ohne Analyse im politischen Kontext. 349 SUTTON 1980 ( w i e Anm.336), 59f.; V. MASCIADRI, Autolykos und der Silen. Eine übersehene Szene des Euripides bei Tzetzes, M H 44, 1987, 1-7; MÜLLER 1995, 104ff.; PECHSTEIN 1998, 39ff. 350

Apollod. 2, 4, 9.

Athen

117

lieh ein Bezug zum aktuellen Autolykos gegeben. Dies geht aus dem Inhalt des Fragmentes eindeutig hervor, denn es enthält einen vernichtenden Angriff auf den Athletismus: Die Sportler seien das schlimmste Übel Griechenlands; sie dienten nur ihrem Magen, könnten keinen Mangel ertragen, würden weder zum Kriegsdienst noch zu sonst etwas taugen; die Ehrungen fur sie sollten besser weise Männer bekommen. 351 Einen Teil dieser Ideen entnahm Euripides einer Elegie des Xenophanes (s.o. S.llf.), wie schon Athenaios bemerkt, andere Züge weisen auf die Sportkritik der hellenistischen Philosophie voraus (s.u. S.275f.). Es ist nicht möglich, aus dem Fragment eine grundsätzliche Aversion des Euripides gegen Athleten und Athletismus abzuleiten, wie dies verschiedentlich getan wurde. 352 Wir wissen nicht, welche Figur die entsprechenden Verse auf der Bühne sprach, und deswegen ist es methodisch sehr problematisch, die Meinung des Autors mit der Aussage der Passage gleichzusetzen. Was Euripides persönlich über den Sport dachte, ist jedoch nicht zentral; im Zusammenhang mit dem vorher Gesagten ist wesentlich, daß es wie bei den hippischen auch bei den gymnischen Disziplinen unterschiedliche Positionen über den Wert agonistischer Erfolge gab. Dabei geriet auch die gymnischen Übungen dienende Trainingsstätte des Gymnasions in die Kritik. Auch wenn sich die Konfliktlinien nicht genau rekonstruieren lassen, geben die Quellen Anhaltspunkte dafür, daß diese Institution beim démos unbeliebt war, da sie in seinen Augen als elitär galt. In Autolykos personalisiert sich der Streit um das Gymnasion: Von seinen Freunden wurde er dazu herangezogen, als vollkommenes Produkt des Gymnasions die Leistungsfähigkeit dieser Institution unter Beweis zu stellen; auf der anderen Seite wurde er gerade als Repräsentant einer umstrittenen Institution zur Zielscheibe des Spotts im Theater.

351 Diese Polemik wurde in der Antike häufig zitiert: Athen. 10, 413c; Diog. Laert. 1, 56; Plut. mor. 58If. 803b (dazu MÜLLER 1995, 99ff.). 352

Z.B. NESTLE 1901, 217; BIL[NSKI 1959, 72.

118

Athen

3.7 Zusammenfassung: „Civic athletics" in Athen Donald KYLE definierte als eines der zentralen Untersuchungsziele seines Buches, die Entwicklung von aristokratisch geprägtem Sport zu „civic athletics" zu beleuchten.353 Als entscheidenden Wendepunkt betrachtet er die Neuorganisation der Großen Panathenäen durch Peisistratos; seit dieser Zeit waren gymnische und hippische Wettkämpfe ein wesentlicher Bestandteil des größten und wichtigsten Festes der pòlis Athen. Der Athletismus bekam einen zentralen Platz im Kult, und damit stieg auch seine Bedeutung fur das Selbstverständnis der Athener.354 Richtet man den Blick dagegen auf die berühmtesten Athleten und untersucht daran die Wertigkeit der Agonistik in der pòlis Athen, gewinnt man ein anderes Bild: Von einer Integration des Athletismus in die politische Ordnung Athens kann vom 7. bis zum ausgehenden 5. Jahrhundert nicht die Rede sein. Vielmehr zeigt sich der Charakter Athens als einer pòlis, in der die aristokratische Konkurrenz fast ungebremst ausgetragen wurde, auch im Bereich des Sports. Die Athleten instrumentalisierten ihre Siege, um ihre eigene Position in der pòlis zu stärken: Kylon vertraute auf seinen olympischen Ruhm, als er eine Tyrannis zu errichten versuchte; Kimon 'bezahlte' mit einem Sieg seine Rückkehr nach Athen und arrangierte sich mit Peisistratos; Alkibiades setzte seinen Olympiasieg im Kampf um ein wichtiges militärisches Kommando ein. Durch die Reformen des Kleisthenes änderte sich nichts daran, daß die Politik in Athen im wesentlichen durch den Kampf der führenden Adligen um Ehre und Macht geprägt war, aber die Bedingungen fur die Konkurrenzaustragung änderten sich. In zunehmendem Maße mußte auf den démos Rücksicht genommen werden, und es ging vor allem darum, die Widersacher durch eigenen starken Einfluß auf den démos auszuschalten. In diesem Zusammenhang entwickelten sich athletische Erfolge zu einem Risikofaktor, denn sie konnten sowohl Bewunderung als auch Ablehnung hervorru353 KYLE 1987, 2. 169ff., und passim; zur Problematik des Begriffs „civic athletics" BOEGEHOLD 1996, 103 f. 354 KYLE 1987, 16ff.; außer den Großen Panathenäen behandelt KYLE dabei auch ausführlich die kleineren athenischen Agone.

Athen

119

fen. Megakles mußte dies als erster erfahren, indem seine

hippotrophia

zumindest bei einem T e i l der Athener auf Kritik stieß. Alkibiades konnte zwar in der Debatte um den Sizilienfeldzug seinen Olympiasieg als Trumpf ausspielen, jedoch wurde auch bei ihm hippisches Engagement ambivalent betrachtet. Vielleicht kann man vor diesem Hintergrund die auffällige Zurücknahme führender Athener, w i e des jüngeren K i m o n und Perikles, auf dem Gebiet der hippotrophia

erklären; diese konzentrierten sich eher auf

Bauprojekte, darunter auch die Verschönerung v o n Sportstätten, weil sie sich dadurch einen risikoloseren Prestigegewinn versprachen. 355 D i e beschriebenen Phänomene der Agonistik in Athen lassen sich vor allem an den hippischen Disziplinen ablesen. Dies ist darauf zurückzuführen, daß sich die E r f o l g e im Wagenrennen auf die reichsten und damit auch politisch prominentesten Athener konzentrierten, nicht jedoch auf eine grundsätzlich verschiedene Wertigkeit hippischer und gymnischer Disziplinen. W i e die Beispiele Kylons und Autolykos' zeigen, konnten auch gymnische E r f o l g e den Ausgangspunkt für eine Polarisierung in der Bevölkerung Athens bilden. Dabei war es unbestritten, daß athenische Siege bei den großen Spielen auch dem Ruhm der pòlis zugute kamen, doch dieser Aspekt wurde von der Konkurrenzsituation

überlagert.

Daran

änderten

auch

die

öffentlichen

Ehrungen nichts: weder Solons Versuch, den Siegen mittels einer reduzierten, aber garantierten Prämie seitens der pòlis verleihen, noch die sitesis Sieger der períodos

eine integrative Kraft zu

im Prytaneion, die uns im 5. Jahrhundert für

bekannt ist,356 konnten die Instrumentalisierung der

Erfolge für die persönlichen Interessen der Athleten verhindern. Erst ab dem 4. Jahrhundert sind in Athen die desintegrativen Wirkungen athletischer E r f o l g e eingedämmt. Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf die Veränderung in der Zusammensetzung der Athleten, die sich aus KYLEs chronologischer Tabelle ersehen läßt: D i e Anzahl der athenischen Athleten, die sich in D A VIES „Athenian Propertied Families" finden lassen, nimmt deutlich ab. 357 In einem Fall aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts kam der démos von Athen für die Kosten einer Siegerstatue auf, als ein atheni-

355

K Y L E 1987, 162f.

356

IG I3 131 (ca.440-432); dazu SCHÖLL 1872 (wie Anm.210); K.YLE 1987, 145ff.

357

KYLE 1987, 104ff.

120

Athen

scher Pankratiast in Olympia siegte.358 Offenbar war der Athlet selbst nicht in der Lage, ein Siegesmonument zu finanzieren; darüber hinaus wird aber deutlich, daß die Partizipation der pòlis am individuellen Erfolg als selbstverständlich betrachtet wurde und es für den Sieger keinerlei Integrationsprobleme gab. In der Tagespolitik werden Erfolge bei den panhellenischen Spielen nicht mehr aggressiv eingesetzt. Dies bedeutet freilich nicht, daß die athenischen Sieger auf eine Selbstdarstellung als Athleten verzichteten - das delphische Anathem fur die Wagenrennsiege des Kallias aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts ist ein Beispiel - 3 5 9 , jedoch ist auch bei den hippischen Disziplinen, die eine Domäne der Reichen blieben, eine Harmonisierung des Verhältnisses zwischen Sieger und pòlis zu beobachten. In einer Gerichtsrede des Lysias erscheint ein agonistischer Erfolg gleichsam als eine Liturgieleistung für die pòlis, und zwar in einer sentenzenhaft komprimierten Form: „...er siegte am Isthmos und in Nemea, so daß die Stadt vom Herold ausgerufen und er selbst bekränzt wurde."360 Daß dieser Einklang von individuellen und kollektiven Interessen im 4. Jahrhundert unbestritten blieb, hängt neben der Veränderung im Bereich des Athletismus sicher auch mit der innenpolitisch beruhigten Lage Athens zusammen.

358

Es handelt sich um Aristophon, Sohn des Lysinos (MORETTI 1957, Nr.484), dessen Siegerstatue von Pausanias genannt wird (6,13,11). Ein Fragment aus Olympia läßt sich mit einer gewissen Plausibilität dem Siegesmonument des Aristophon zuweisen (DLTTENBERGER - PURGOLD 1896, Nr. 169); vgl. außerdem die Weihinschrift des Aristophon an Asklepios (IG II2 4397). Zur Datierung des Aristophon s. KIRCHNER 1903, N r . 2 1 1 1 ; MADDOLI - NAFISSI - SALADINO 1 9 9 9 , 2 7 2 . 359

J. Bousquet, BCH 116, 1992, 585-596.

360

Lys. 19, 63: ένίκησεν 'Ισθμοί καί Νεμέςχ, ώστε την πόλιν κηρυχθήναι καί αύτόν στεφανοθήναι. (vgl. KYLE 1 9 8 7 , Α 7 8 ) .

4. Sparta

Bei der Betrachtung der Olympionikenliste stößt man auf zwei auffällige und erklärungsbedürftige spartanische Erfolgsserien. Da der erste Höhepunkt der spartanischen Agonistik die gymnischen Disziplinen, der zweite dagegen die hippischen Disziplinen betrifft und außerdem beide um etwa 200 Jahre auseinanderliegen, ist es sinnvoll, die beiden Phänomene und deren Hintergründe zunächst gesondert zu behandeln.

4.1 Gymnische Disziplinen

4.1.1 Spartanische Olympioniken in gymnischen Disziplinen Eine differenzierte statistische Analyse der spartanischen Olympiasiege soll dazu dienen, die Auffälligkeiten in der Erfolgsbilanz Lakoniens deutlich herauszuarbeiten und einzelne Phasen festzustellen: Der erste uns bekannte spartanische Olympionike ist Akanthos, der in der 15. Olympiade (720) den neu eingeführten dólichos36i gewann. In den darauffolgenden anderthalb Jahrhunderten läßt sich aus den Siegerlisten eine erdrückende Vormachtstellung der spartanischen Athleten herauslesen. Im Zeitraum von 720 bis 580 sind uns insgesamt 71 Olympiasiege in den gymnischen Disziplinen überliefert;362 in 43 363 Fällen ging der Ölkranz nach Sparta. Nach Disziplinen aufgeschlüsselt ergibt sich folgendes Bild:364 361

Zum dólichos und der dabei zu bewältigenden Strecke BENGTSON 1983, 38f.;

WEILER 1981, 152f. 362

MORETTI 1957, Nr.16-91 außer Nr.33.39.52.53.81, die Siege in hippischen Agonen bezeichnen. 363

Zum Sieg des Eurybatos - hier als spartanischer Sieger mitgezählt - und dem Streit um seine Herkunft vgl. MORETTI 1957, S.62, mit Angabe weiterer Literatur. 364 Vgl. neben MORETTI auch die Angaben bei THOMPSON 1985, 59ff., sowie die Listen bei CROWTHER 1990a, 202; HODKINSON 1999, 162. M. MEIER 1998, 3Iff., nimmt eine Einteilung in zwei Phasen vor und konstatiert einen Anstieg von 18 spartanischen Siegen in der Zeit von 720-650 auf 26 Siege zwischen 650 und 580. Aus den von MEIER

122

Sparta

Disziplin

Anzahl der Siege

MORETTI 1 9 5 7 , NR.

stàdioη

21

18.24.30.32.34.40.42.44.46.50.55. 57.59.62.65.67.72.76.78.80.91

díaulos

3

43.45.47

dólichos

1

17

Ringen

11

22.66.68.70.73.75.82-86

Pentathlon

4

21.35.37.41

Ringen (Knaben)

2

61.64

Pentathlon (Knaben)

1

63

Gesamt

43

Aus der hohen Zahl der Stadionsiege sollte man meiner Meinung nach nicht den Schluß ziehen, daß diese Disziplin eine Spezialität der Spartaner gewesen sei.365 Vielmehr ist dieser Befund auf die ungleichmäßige Überlieferung zu den einzelnen Agonen zurückzuführen, die zu jeder Olympiade den Namen des Stadionsiegers nennt, weit weniger häufig hingegen die Olympioniken anderer Disziplinen. So ergibt sich, wenn man für die einzelnen Sportarten die spartanischen Erfolge im Verhältnis zu den insgesamt bekannten Siegen betrachtet, keine besondere Bevorzugung des Stadionlaufs. Zu den Siegen im Ringen ist zu bemerken, daß sie fast alle von nur zwei Athleten, Hipposthenes und Hetoimokles, errungen wurden. Die Häufung der Siege bei einzelnen Schwerathleten rührt daher, daß die Vertreter der entsprechenden Disziplinen vielfach jahrzehntelange Karrieren hatten, 6 Läufer dagegen ihre Form offenbar nicht über solche Zeiträume halten konnten. Die einzige echte Auffälligkeit ist demnach das Fehlen von spartanischen Erfolgen im Boxen und im Pankration in dieser Zeit.367 Eine antike Traditi-

herangezogenen Zahlen den Schluß zu ziehen, nach 650 hätten sich die Spartaner in stärkerem Maße agonistisch engagiert als davor, ist jedoch nicht angebracht. Schließlich sind aus der späteren Phase generell mehr Olympioniken bekannt, so daß sich nur ein in Anbetracht der vielen unbekannten Olympioniken nicht signifikanter - Anstieg der spartanischen Quote von 56% für die erste Phase auf 67% für die zweite Phase ergibt. 365

SoHÖNLE 1968, 32.

366

Vgl. z.B. Milon von Kroton (s.u. S.164) und Theogenes von Thasos (Paus. 6, 6,

5f.). 367 Erst in der römischen Zeit haben wir Informationen über spartanische Boxer und Pankratiasten; dazu CROWTHER 1990a.

123

Sparta

on, die sich allerdings erst in der römischen Kaiserzeit fassen läßt, führte dies auf ein Verbot zurück: Lykurg habe den Spartanern für diese Disziplinen

die Teilnahme

an öffentlichen Agonen

untersagt -

nicht

den

Kampfsport an sich! - , da sie durch Aufgabe oder Kampfunfähigkeit eines der Kontrahenten entschieden würden; die Aufgabe eines spartanischen Athleten hätte die Gefahr mit sich gebracht, daß ein Schatten der Feigheit auf die gesamte pòlis Sparta falle. 368 Dies klingt zwar sehr konstruiert, aber auf der anderen Seite fallt es schwer, fur die auffällige Sieglosigkeit Spartas in diesen beiden Disziplinen eine bessere Erklärung zu finden als eine von der pòlis verordnete Nichtteilnahme. Die Erfolgsserie spartanischer Athleten hielt bis zum Sieg des Epitelidas im Stadionlauf 580 an, danach ist die Zeit der athletischen Dominanz vorbei. Im Verlauf des 6. Jahrhunderts, vor allem in der Zeit um 550, stoßen wir zwar noch auf mehrere spartanische Olympioniken, 369 und auch unter den auf den Papyri überlieferten Siegern der Jahre 480-468 sowie unter den Olympioniken der folgenden Jahrzehnte befinden sich Spartaner. 370 Von einer Vormachtstellung Spartas auf athletischem Gebiet kann jedoch nicht mehr die Rede sein; vor allem gegen Kroton war man ins Hintertreffen geraten. Noch drastischer zeigt sich der Rückgang der sportlichen Erfolge, wenn man bedenkt, daß insgesamt unsere Kenntnis der Olympioniken in dieser späteren Zeit besser ist als in den frühen Olympiaden. In Zahlen ausgedrückt, ging für die gymnischen Disziplinen der Anteil der spartanischen Olympioniken von 60% für die Jahre 720-580 auf unter 5% für den Zeitraum 580-400 zurück. Diesen Zahlen wird oft die Aussagekraft genommen, indem die Siege in gymnischen und hippischen Disziplinen vermischt werden. 371 Da die Spartaner gerade in der Zeit fehlender athletischer Erfolge - also ab der Mitte 368 Sen. benef. 5, 3, 1; Plut. Lyk. 19 ,9; mor. 189e. 228d; Philostr. gym. 9. 58; s. dazu JÜTHNER 1909, 203; CROWTHER 1990a; HODKINSON 1999, 157ff. 369

MORETTI 1957, Nr. 108 (stádion). 149 (Ringen). 160 (Pentathlon). 1024 (Ringen).

Die Historizität des Olympiasieges von Chilons Sohn - der Weise selbst soll aus Freude darüber gestorben sein (Plin. nat. 7, 32; Diog. Laert. 1, 73; Tert. de anima 52, 3) ist umstritten: MORETTI 1957, S. 183 nimmt eine Verwechslung seitens der antiken Autoren an; dagegen HÖNLE 1968, 130 Anm.3; CROWTHER 1990a. MORETTI 1957, Nr.211 {dólichos). 2 1 6 {stádion der Knaben). 237 304 (Waffenlauf). 342 (Disziplin unbekannt, vielleicht auch hippisch). 370

371

Z . B . NAFISSI 1 9 9 1 , 165 A n m . 5 2 .

(dólichos).

124

Sparta

des 6., vor allem aber im 5. Jahrhundert - viele Ölkränze im Wagenrennen gewannen, bleibt die Gesamtzahl der Siege relativ konstant. Gerade für Sparta scheint mir aber eine Trennung unbedingt notwendig, da für die Erfolge im Wagenrennen völlig andere Voraussetzungen maßgeblich waren als für die gymnischen Disziplinen. Nach der Analyse der statistischen Werte besteht Erklärungsbedarf in zweierlei Hinsicht: • Wie kann man die athletische Vormachtstellung der Spartaner bis in die 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts begründen? • Wieso gingen die Erfolge danach rapide zurück?

4.1.2 Die Entwicklung der Gymnastik in Sparta An dieser Stelle soll ein kurzer Überblick über die Forschung zum Sport in Sparta gegeben werden. Er steht deswegen nicht am Anfang des Kapitels, sondern erst nach der Vorstellung der spartanischen Erfolge, da das Hauptproblem der wissenschaftlichen Diskussion in der Erklärung der spartanischen Sieges- bzw. späteren Mißerfolgsserie besteht und die Olympionikenliste zugrundegelegt wird. Zwar hat die Rolle der Agonistik in Sparta bisher keine monographische Behandlung erfahren, wie sie Donald

KYLE

für

Athen vorgelegt hat, sie wurde jedoch als ein für die archaische Geschichte 372

Spartas zentrales Gebiet unter verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Für den Umstand, daß die Spartaner bis ins 6. Jahrhundert mehr als die Hälfte der olympischen Siegeskränze errangen, wurden in der Regel zwei Gründe angeführt. Zum einen wurde auf die politische Führungsrolle Spartas in der Peloponnes, d.h. dem engsten Einzugsgebiet der Olympischen Spiele, hingewiesen, zum anderen die frühe Einführung einer staatlich gelenkten Erziehung, die auch für das athletische Training der Jugend wichtig gewesen sei, herangezogen. Diese beiden Faktoren werden in der Literatur unterschiedlich gewichtet, ohne daß sich eine generelle Forschungsentwicklung festmachen ließe. Komplexer ist das Spektrum der Meinungen zur zweiten Leitfrage, der Erklärung des Verschwindens sparta-

372

WIESNER - ZIEHEN 1 9 3 7 / 3 9 , 4 4 f . ; JÜTHNER - BREIN 1 9 6 5 , 7 8 f f ; HÖNLE 1 9 6 8 ,

29ff.; NAFISSI 1991, 162ff.; WEEBER 1991, 32ff. 78ff.; HODKINSON 1999.

Sparta

125

nischer Athleten aus der Olympionikenliste: Vor allem in der deutschen Forschung der 20er und 30er Jahre postulierte man einen Boykott der Olympischen Spiele von seiten Spartas. So kann man beispielsweise in PAULY-WISSOWAS

Realenzyklopädie lesen:

„Dagegen die Spartaner des 6. und 5. Jhdts. pflegten, was niemand bestreiten wird, die Gymnastik wie kein anderer griechischer Staat, und wenn sie Wert darauf gelegt hätten, in O. zu siegen, so wäre es wohl verständlich, daß sie dann und wann einmal unterlagen, nicht aber, daß sie nur ganz ausnahmsweise siegten."373

Aus der Annahme einer körperlichen Überlegenheit der Spartaner wurde der Schluß gezogen, daß die pòlis im 6. Jahrhundert ihre Teilnahme an den großen Agonen einstellte, weil der dortige Trend zum Professionalismus ihren Vorstellungen von edlem Wettkampf widersprochen habe. Den forschungsgeschichtlichen Hintergrund dieser These bildet die große Bewunderung für den spartanischen Militarismus, die vor allem in der deutschsprachigen Forschung der 20er und 30er Jahre zu dem Glauben an die angebliche moralische und körperliche Überlegenheit der lakedaimonischen Soldaten, aber auch Sportler gefuhrt hatte. 374 Diese 'Boykotthese' ist aus den Quellen leicht zu widerlegen: Es gab ja weiterhin spartanische Olympioniken, die gegen die Annahme einer generellen Nichtteilnahme sprechen, nur nahm eben ihre Zahl deutlich ab. Außerdem findet sich in den literarischen Quellen kein einziger Hinweis auf einen dauerhaften Rückzug von den großen Agonen, weder von Sparta noch von irgendeiner anderen pòlis.375 Der umgekehrte Fall, daß die ausrichtende Gemeinde Städte oder Regionen von der Teilnahme an den Agonen ausschloß, ist uns überliefert, 376 beruht aber auf ganz anderen Voraussetzungen.

373

WIESNER - ZIEHEN 1 9 3 7 / 3 9 , 4 5 . Ä h n l i c h a u c h V . EHRENBERG, N e u g r ü n d e r d e s

Staates, München 1925, 10. 48f. 374

Zur Entstehung des modernen Spartamythos s. K. CHRIST, Spartaforschung und Spartabild, in: ders. 1986, 1-72, hier48ff. 375

Beim Konflikt um Kallippos (Paus. 5, 21, 5-7) handelt es sich um einen vorübergehenden Boykott der Olympischen Spiele wegen diplomatischer Verwicklungen. 376

Z.B. Thuk. 5, 49f.; Paus. 6, 16, 2.

126

Sparta

Trotzdem blieb die 'Boykotthese' lange Zeit die communis opinio,377 bis mit der Dissertation von Augusta HÖNLE andere Aspekte ins Blickfeld rückten. Sie setzte ebenfalls bei der Veränderung der griechischen Agonistik im 6. Jahrhundert an; während jedoch ZIEHEN und andere, getreu der Forschungsrichtung der Coubertinianer, diese sehr negativ betrachteten und als Trend zur Korruption auffaßten, hob sie hervor, daß durch die Teilnahme einer größeren Anzahl von poleis, vor allem aber durch neue Trainingsmethoden und die Einfuhrung diätetischer Regeln das sportliche Leistungsniveau stark anstieg, wobei die Athleten aus Süditalien, vor allem Kroton, die fuhrende Rolle übernahmen.378 Die Spartaner nahmen zwar weiterhin teil, waren jedoch den Athleten neuen Typs nicht mehr gewachsen und blieben deswegen meist erfolglos. In Anlehnung an HÖNLE vertrat jüngst HODKINSON die Position, daß der Rückgang der spartanischen Erfolge auf externe Faktoren zurückzuführen sei.379 NAFISSI dagegen betonte, daß die verbesserten Trainingsmethoden anderer poleis allein nicht ausreichen, den Einbruch in der spartanischen Erfolgsbilanz zu erklären, sondern daß man das geistige Klima im archaischen Sparta in die Überlegungen miteinbeziehen müsse.380 Darauf wird unten (S.147ff.) noch zurückzukommen sein. Bei der Behandlung des hier vorgestellten Problems gibt es die grundsätzliche Schwierigkeit der mangelnden Quellen: einer sehr reichhaltigen Tradition über die Ordnung Spartas seit dem 4. Jahrhundert stehen nur einige spärliche Schriftzeugnisse aus archaischer Zeit gegenüber, repräsentiert durch die Lyrik des Tyrtaios und des Alkman. Im folgenden soll zuerst untersucht werden, welche Rolle dem Sport in dem in der Klassik entwikkelten Spartabild zugewiesen wird, um in einem zweiten Schritt zu prüfen, inwieweit sich Spuren der spezifisch spartanischen Einstellung zum Wettkampf schon in den authentischen archaischen Quellen nachweisen lassen. Dabei soll sowohl die Lyrik des Tyrtaios als auch die archäologische und

377

S. beispielsweise noch GLASS 1967, 51, außerdem die Rezension zu HÖNLE

1 9 6 B v o n S.I. OOST, C P h 6 6 , 1 9 7 1 , 1 3 5 f . 378

S.u. S.I71 ff.

379

HODKINSON 1 9 9 9 , 1 6 4 f .

380

Nach NAFISSI 1991, 167, sei „poco soddisfacente una spiegazione oggi assai diffusa, secondo la quale gli Spartani non si sarebbero adeguati alla specializzazione atletica".

Sparta

127

schriftliche Überlieferung zu den agonistischen Weihgeschenken herangezogen werden. 4.1.2.1 Die klassische und nachklassische Tradition zur spartanischen Agonistik Stark umstritten in der Forschung ist die Authentizität des Spartabildes, das uns seit dem 4. Jahrhundert in der griechischen Literatur begegnet. Piaton, vor allem aber Xenophon, Aristoteles und Plutarch geben in längeren Passagen eine Beschreibung des spartanischen Staats- und Gesellschaftsaufbaus, dessen Einrichtung dem legendären Gesetzgeber Lykurg zugeschrieben wird. Dieser soll auch der Erfinder der agogé gewesen sein, der staatlichen Erziehung, die ab dem siebten Lebensjahr den Tagesablauf der spartanischen Kinder bestimmte.381 Kennzeichen der agogé ist ihre Strenge und ihre strikte Ausrichtung auf militärische Bedürfnisse. Körperliche Übungen spielen eine große Rolle, jedoch - und hierin sind sich die antiken Autoren einig - nicht als Selbstzweck, sondern als Training für den Kampf als Hoplit. Die für andere poleis so wichtige Institution des Gymnasions, der athletischen Trainingsstätte schlechthin, läßt sich in Sparta nicht vor der augusteischen Zeit nachweisen.382 Xenophon erwähnt bei seiner sehr ausfuhrlichen Beschreibung der spartanischen Erziehung Übungen wie Speerwurf, Wettlauf oder Ringen, die in Athens Gymnasien im Tagesablauf der

381 Plut. Lyk. 16ff.; die Erziehung der spartanischen Mädchen soll hier nicht behandelt werden; s. dazu SCANLON 1988. 382 Den einzige Quellenbeleg dafür, daß schon vorher ein Gebäude zum sportlichen Training in Sparta existiert habe, stellt der Bericht bei Plut. Kim. 16, 5 über die wundersame Rettung spartanischer Kinder beim großen Erdbeben 464 v.Chr. dar.

DELORME 1960, 7 2 f f . , u n d GLASS 1967, 53, h a b e n d i e G l a u b w ü r d i g k e i t d e r p l u t a r c h i -

schen Angabe angezweifelt und darauf hingewiesen, daß der ganze Passus von Fehlern durchsetzt ist. So verwendet Plutarch zur Einteilung der Spartaner Begriffe wie ephéboi und neaniskoi, Altersgruppen, die es in Sparta nicht gab. Sie fuhren außerdem an, daß Paus. 3, 14, 6ff. bei seiner Beschreibung des spartanischen drömos keinen Hinweis auf eine architektonisch als Gymnasion zu bezeichnende Einheit in voraugusteischer Zeit liefert. Man kann noch ergänzen, daß Liv.34,27,4 den Begriff drömos mit campus übersetzt, was ebenfalls für einen nur lose umgrenzten Bezirk ohne größere Bebauung spricht. Die Gegenargumente von K. SCHNEIDER 1908, 15, der dafür eintritt, daß es in Sparta ebenfalls den Bautyp des Gymnasions in klassischer Zeit gegeben habe, können nicht überzeugen: Zwar ist bei Eur. Hei. 203ff. Andr. 595ff.; Plat. Tht. 162b jeweils von einem Gymnasion die Rede, jedoch nicht in einem konkreten, sondern in übertragenem Sinne.

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Jugend großen Raum einnehmen, nur am Rande.383 Viel größere Bedeutung besaßen Abhärtungsübungen und rauhe Kampfspiele.384 Er erwähnt auch ein Ballspiel für Mannschaften, im individualistisch geprägten griechischen Sport eine Ausnahme.385 Während Xenophon die körperliche Erziehung in Sparta als vorbildhaft beschreibt, geißeln Piaton und Aristoteles die Einseitigkeit der agogé. Platon386 gesteht zwar zu, daß die Lakedaimonier auf diese Weise ihre Jugend zu guten Soldaten heranbildeten, durch die Überbetonung des Militärischen würden sie aber eher wild als tapfer. Deswegen seien sie auch nur in der Lage, gegen äußere Feinde zu kämpfen, während sie innere Unruhen, für deren Bewältigung man alle Tugenden brauche, nicht bekämpfen könnten. In diesem Zusammenhang übt er auch Kritik an Tyrtaios' einseitigem Preis der Tapferkeit in der Feldschlacht und stellt ihm Theognis entgegen, der in der stasis eine stärkere Gefahr für die pòlis als eine Bedrohung von außen erkannte. Aristoteles geht noch einen Schritt weiter und spricht der spartanischen Erziehung sogar ihre militärische Zweckmäßigkeit ab: „Gegenwärtig stehen nun aber diejenigen Staaten im Ruf, am meisten sich um die Jugendlichen zu kümmern, die darauf bedacht sind, eine athletische Haltung zu erzeugen, wobei sie der Gestalt und dem Wachstum der Leiber schaden; die Lakonier dagegen haben diesen Fehler zwar nicht begangen, dafür aber wiederum ihre Kinder durch übermäßige Anstrengungen tierisch gemacht, als ob dies der geeignete Weg zur Tapferkeit wäre... Dazu kommt aber, daß die Lakonier selbst, wie wir wissen, nur, solange sie allein mit den Anstrengungen vertraut waren, den anderen überlegen waren, während sie jetzt sowohl in den gymnastischen wie in den kriegerischen Kämpfen hinter den übrigen zurückstehen. Denn ihre Überlegenheit kam nicht daher, daß sie die Jugend auf diese Weise übten, sondern daß sie sie gegen solche, die überhaupt keine Übungen vornahmen, übten. Also muß dem Edlen und nicht dem Tierischen die erste Rolle zukommen, denn nicht ein Wolf oder sonst ein wildes Tier vermag einen schönen Kampf zu kämpfen, sondern vielmehr ein tüchtiger Mann, und wer den Kindern in dieser Richtung die Zügel läßt und in allem, was sonst nottut, ihre Ausbildung verabsäumt, macht sie in der Tat zu gemein-handwerksmäßigen Charakteren, indem er sie nur in einer

383

Xen. Lak. pol. 5, 8. 9, 4.

384

Paus. 6, 14, 10; Plut. Lyk., passim.

385

Xen. Lak. pol. 9, 5; zum Ballspiel s. KENNELL 1995, 131 und passim;

CROWTHER 1995, 127ff. 386

Plat. leg. 629a - 630d. 666e.

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einzigen Verrichtung brauchbar fur das Staatsleben macht und sodann selbst zu dieser, wie unsere Ausführung beweist, schlechter brauchbar als andere. Man darf also die Spartaner nicht nach ihren früheren Taten beurteilen, sondern nur nach ihren jetzigen, denn jetzt haben sie Nebenbuhler in der Ausbildung, früher aber hatten sie keine."387 Aristoteles' Aussagen seien kurz zusammengefaßt: 1. In Sparta wurde die Erziehung zuerst organisiert; deswegen waren die Spartaner den übrigen Griechen sowohl in gymnischer als auch in militärischer Hinsicht überlegen. 2. Im Lauf der Zeit fingen auch die anderen poleis an, sich aktiv um die körperliche Ausbildung der Jugend zu kümmern; die meisten stellten dabei das sportliche Training in den Vordergrund. 3. Die spartanische Erziehung blieb über Jahrhunderte hin unverändert, doch ihre Fehlerhaftigkeit zeigte sich darin, daß die spartanische Jugend wegen der Neuentwicklungen in anderen Städten militärisch und sportlich ins Hintertreffen geriet. 4. Zwar nennt Aristoteles athletische und kriegerische Erziehung in einem Atemzug, wenn er sagt, daß die Spartaner auf beide Bereiche nicht gut vorbereitet würden. Die Gründe dafür sind jedoch ganz verschieden: Sportlich fielen die Spartaner gegenüber den anderen Griechen ab, weil ihre athletische Ausbildung weniger intensiv war, militärisch dagegen waren sie unbrauchbar, weil ihre Kinder durch die Einseitigkeit der Erziehung zu bänausoi wurden und deswegen zu gar nichts mehr taugten. Interessanterweise stellt sich Aristoteles dieselbe Frage, die sich auch für den modernen Betrachter der Olympionikenliste ergibt: Warum ließen die spartanischen Erfolge in den sportlichen Wettkämpfen nach? Es ist anzu-

387

Aristot. pol. 8, 1338b 9-38: Νύν μεν oòv a i μάλιστα δοκούσαι των πόλεων έπιμελεϊσθαι των παίδων αί μεν άθλητικήν έξιν έμποιοϋσι, λωβώμεναι τά τε είδη καί την αύξησιν των σωμάτων, οί δέ Λάκωνες ταύτην μεν ούχ ήμαρτον την άμαρτίαν, θηριώδεις δ' απεργάζονται τοίς πόνοις, ώς του το προς άνδρείαν μάλιστα συμφέρον... έτι δ' αύτούς τούς Λάκωνας ΐσμεν, έως μεν αύτοί προσήδρευον ταϊς φιλοπονίαις, ύπερέχοντας των άλλων, νυν δέ κάν τοις γυμνικοίς άγώσι κάν τοις πολεμικοις λειπομένους ετέρων· ού γάρ τφ τούς νέους γυμνάζειν τον τρόπον τούτον διέφερον, ά λ λ α τω μόνους μη προς άσκούντας άσκεϊν. ώστε τό καλόν ά λ λ ' ού το θηριώδες δει πρωταγωνιστεϊν- ούδέ γάρ λύκος ούδ' ( ουδέν ) τών άλλων θηρίων άγωνίσαιτο ά ν ούθένα καλόν κίνδυνον, άλλα μάλλον άνήρ αγαθός, οί δέ λίαν εις ταύτα ά ν έ ν τες τούς παίδας, καί τών άναγκαίων άπαιδαγωγήτους ποιήσαντες, βαναύσους κατεργάζονται κατά γε τό άληθές, προς εν τε μόνον έργον της πολιτικής χρησίμους ποιήσαντες, καί προς τούτο χείρον, ώς φησιν ό λόγος, έτερων, δεί δέ ούκ έκ τών προτέρων έργων κ ρ ί νειν, ά λ λ ' έκ τών νύν· άνταγωνιστάς γάρ της παιδείας νύν έχουσι, πρότερον δ' ούκ ε'ιχον.

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nehmen, daß auch er durch die Olympionikenliste auf dieses Problem stieß. Aristoteles' Antwort nimmt HÖNLEs voraus, indem er die Ursache in der Weiterentwicklung anderer poleis sieht, während Sparta an althergebrachten Traditionen festhielt. Nun zu einer weiteren Quellengruppe: Unter den apophthégmata Lakónika, einer von Plutarch vorgenommenen Sammlung von spartanischen Aussprüchen - in ihnen findet sich das antike Spartabild gleichsam in höchster Konzentration - , befinden sich zahlreiche Sentenzen, die die spartanische Einstellung zur Agonistik widerspiegeln. Sie lassen sämtlich eine kritische Distanz zu den griechischen Wettkämpfen erkennen: So werden die mangelnde Ehrfurcht vor dem Alter und andere Vergehen der 'Fans' bei den Olympischen Spielen gebrandmarkt388 und die Gerechtigkeitsliebe der Hellanodiken, der Kampfrichter bei den Olympischen Spielen, in Frage gestellt.389 Auf eine generelle Verachtung für agonistische Ehren deutet der Ausruf der Mutter eines Gefallenen hin, es sei besser, so zu sterben als in Olympia zu siegen und weiterzuleben.390 Zwei der Aussprüche seien hier zitiert: „Sie [die Spartaner, d.Verf.] stellten für die, die sich im Ringen übten, keine Trainer an, damit die philotimia nicht auf téchne, sondern auf areté gerichtet sei. Aus diesem Grund antwortete Lysandros, als er gefragt wurde, wie Charon ihn besiegt habe: 'Durch seine polymechania',"391 „Als jemand zu einem Spartaner, der in Olympia einen Ringkampf verloren hatte, sagte: 'Dein Gegner, Spartaner, war besser als du!', antwortete er: 'Das nun nicht, sondern umwerfender (kabbalikóteros).'"392 Zu diesen Aussprüchen kann man das Siegesepigramm eines der wenigen spartanischen Sieger der hellenistischen Zeit hinzufugen: 388

Plut. mor. 235c.

389

Plut. mor. 190d.

390

Plut. mor. 242b.

391

Plut. mor. 233e: Τοις παλαίουσι παιδοτρίβας ούκ έφίστανον, 'ίνα μή τέχνης άλλ' αρετής ή φιλοτιμία γένηται. διό καί Λύσανδρος ερωτώμενος, όπως ό Χάρων ένίκησεν αύτόν, ,,τφ πολυμηχανίςι" είπε. 392

Plut. mor. 236e: Λάκωνί τι vi ήττωμένφ έν Όλυμπίςχ πάλην είπε τις ,,ό ανταγωνιστής, ώ Λάκων, έγένετό σου κρείσσων"· ,,ού μεν ούν" έφη „άλλα καββαλικώτερος."

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„Nicht von Messeniens Gefild noch von Argos kam ich zum Ringen, Sparta, männerberühmt, Sparta ist Heimat fiir mich. Jene schauen auf Kniffe; ich aber, ich siege, so wie es einem spartanischen Kind immer gebührte: durch Kraft (bia)."393 In allen drei Quellen wird eine Antithese zwischen den Bedeutungsfeldern téchne und areté aufgebaut. In die erste Kategorie fallen Begriffe wie polymechanía,

kabbalikóteros

und technáentes. Sie alle bezeichnen die Art

des Ringens, in der man den Gegner mit vielgeübten und geschickt angesetzten Griffen auf die Knie zu werfen versucht. Aus den späteren Trainingshandbüchern wissen wir, daß die Schulung dieser Kunstgriffe zu den wichtigsten Aufgaben der Trainer gehörte. 394 Besonderes Interesse verdient der Begriff kabbalikóteros,

hier wörtlich mit 'umwerfender' übersetzt: Daß

das Verb katabällein auch unter die Rubrik téchne eingeordnet werden muß, wird aus dem Umstand deutlich, daß einer der größten téchne-Experten

der

griechischen Geschichte, der Sophist Protagoras, sein wichtigstes Buch mit dem Titel Katabállontes

überschrieben hat. Die Griffe beim Ringkampf

dienen dabei als Metapher fiir die Kunst, seinen Diskussionsgegner durch Redegewandtheit 'niederzuringen' . 39î Diesen Tricks wird die ehrliche spartanische Art des Ringkampfs gegenübergestellt. Sie ist von areté geprägt: es soll nicht derjenige gewinnen, der die Griffe besser geübt hat, sondern der wirklich Bessere - kreitton

-,

derjenige, der mehr bia besitzt. In den beiden oberen Quellen, in denen wir dem seltenen Phänomen begegnen, daß Griechen sich über ihre eigenen

393

Anth.Gr. 16, 1: Ούτ' άπό Μεσσάνας οΰτ' Άργόθεν ειμί παλαιστάςΣπάρτα μοι Σπάρτα κυδιάνειρα πατρίς, κείνοι τεχνάεντες· έγώ γε μεν, ώς έπέοικε τοίς Λακεδαιμονίων παισί, βίςχ κρατέω.

394

JÜTHNER 1912, 2044f.

395 Sext. adv. math. 7, 60. Ein weiteres Werk des Protagoras ist nach Diog. Laert. 9, 55 mit περί πάλης betitelt worden. In der Sekundärliteratur wird diese Schrift wörtlich als Abhandlung über den Ringkampf verstanden (JÜTHNER - BRErN 1965, 32). Mir scheint es jedoch plausibler zu sein, daß auch in dieser Schrift die Ringersprache auf allgemeinere Sachverhalte wie Rededuelle angewandt wird. Wie geläufig es war, die athletische Terminologie als Metapher anzuwenden, zeigt die Beschreibung des politischen Kampfes zwischen Thukydides Melesiou und Perikles in Bildern aus der Ringersprache bei Plut. Per. 11,1.

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Niederlagen äußern, 396 wird folgerichtig besonders betont, daß die Gegner nur mehr Tricks anwandten, nicht aber die eigentlich besseren Männer waren. Wenn man nun die Äußerungen von Xenophon, Piaton und Aristoteles sowie andere Aussprüche aus den apophthégmata hinzunimmt, trifft man auf eine weitere Antithese, die sich in diesen Rahmen einordnen läßt. In Sparta wurde der Kriegsdienst besonders gepflegt, und zwar der Kampf in offener Feldschlacht. Sportliche Siege dagegen, für die nach Meinung der Spartaner sowieso nur Trickreichtum erforderlich war, wurden verachtet. Der Kriegsdienst fiel unter die Rubrik areté, die sportliche Agonistik dagegen unter téchne. 4.1.2.2 Tyrtaios, Elegie 9 G.-P. = 9 D. Tyrtaios' erhaltenes Werk stellt einen Glücksfall für die Erforschung des archaischen Sparta dar. Seine Gedichte sind authentische Quellen des 7. Jahrhunderts für die Diskussion innerhalb der Spartiatenschicht, wie man sich in der Krisensituation des Zweiten Messenischen Krieges verhalten solle. In einer aufschlußreichen Elegie geht Tyrtaios der Frage der wahren areté nach: „Niemals würd' ich erwähnen den Mann, noch seiner gedenken, Ob er mit hurtigem Fuß oder im Ringen gewinnt, Ob er auch selbst des Kyklopen Kraft und Größe besäße Oder den Boreas gar weit überholte im Lauf; Wär' er dem Tithon selbst an Anmut und Wuchs überlegen Reicher an Gütern als einst Midas, als Kinyras war, Fürstlicher strahlend als Pelops strahlte, des Tantalos Erbe, Und des schmeichelnden Worts kundiger selbst als Adrast; All das gälte mir nichts, bewährt er sich nicht im Gefechte. Kann doch ein Mann nur dann sich wacker zeigen im Krieg, Wenn sein Auge vermag, den blutigen Mord zu ertragen, Und sein Mut es ersehnt, nahe zu stehen am Feind. Das ist Tugend und Ruhm, das ist bei den Menschen der schönste, Ist der köstlichste Preis, den sich ein Jüngling erringt. Allen gemeinsam ist dieser Stolz, der Stadt und dem Volke, Wenn unwankend ein Mann vorn in der Schlachtreihe steht, Ausharrt, jeden Gedanken an schimpfliches Fliehen vergessend, Einsetzt mit duldendem Mut, was ihm das Leben verhieß, 396

Zum Umgang mit Niederlagen BUHMANN 1972, 16ff.

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Und mit befeuerndem Wort zur Seite sich stellt d e m Gefährten. Kann d o c h ein Mann nur so wacker sich zeigen im Krieg, Rasch dann treibt er zur Flucht die Reihen der feindlichen Männer, U n d mit gewaltigem Arm hemmt er die W o g e der Schlacht.

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