Architektur. Vergessen: Jüdische Architekten in Graz 9783205791003, 9783205784722

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Architektur. Vergessen: Jüdische Architekten in Graz
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Antje Senarclens de Grancy | Heidrun Zettelbauer (Hg.)

ARCHITEKTUR. VERGESSEN JÜDISCHE ARCHITEKTEN IN GRAZ

B öh l au Ve r l ag Wi e n · Köl n · We i m a r

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische ­Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78472-2 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­ arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck: Generaldruckerei Szeged

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DIE HERAUSGEBERINNEN DANKEN Vera und Ernst Bauer Claudia Beiser Eva Feenstra Heimo Hofgartner Eva Klepp-Afritsch Heinz Kranzelbinder Gerhard Moderitz Ernst Muhr Elke Murlasits Elke Hary Josef Macsek Harald Seewann Käthe Sonnleitner Birgit Tauschek Hansjörg Weidenhoffer Hedwig Wingler Claus Zerkowitz Besonderer Dank an Eva Mohringer-Milowiz, die die Bauten in ihrem Zustand 2009 fotografiert hat. Das Projekt wurde im Rahmen des Instituts für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz, durchgeführt. AG  : Antje Senarclens de Grancy HZ  : Heidrun Zettelbauer

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INHALTSVERZEICHNIS

13  | Einleitung Antje Senarclens de Grancy | Heidrun Zettelbauer

I. BLICK ACHSEN 27  | Einblenden/Ausblenden. Architekturgeschichtsschreibung als Selektionsprozess Antje Senarclens de Grancy 37  | Ein Leben erzählen – Biografie, Geschichte, Erinnerung Heidrun Zettelbauer 49  | Die Wiederentdeckung der Orte Heidemarie Uhl 55  | „Wieder/Entdeckungen“ der jüdischen Geschichte? Gerald Lamprecht 62  | Jüdisches Graz – Grazer Juden? Eine Spurensuche in der Zweiten Republik Dieter A. Binder 69  | Lebens- und Arbeitsbedingungen jüdischer Architekten in Österreich Iris Meder 76  | Vom Arbeitsamt, das der Straße weicht. Anmerkungen zur Bildlichkeit, Geschichtlichkeit und Politik zweier moderner Raumtypen Gabu Heindl 83  | Zwischenraum Afritschgarten. Grenzen – Nutzungen – Nachbarschaften Judith Laister  

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II. KRISTALLISATIONSPUNKTE ARBEITSAMT GRAZ Überschreiben und überlagern   97  | Arbeitsamt Graz Antje Senarclens de Grancy 109  | Sozialbürokratie statt Klassenkampf: Das Arbeitsamt als „Ort der Moderne“ Werner Suppanz 113  | Arbeitsamt Graz: Überschreiben und Überlagern Heidrun Zettelbauer 114  | Neukodieren Aneignungen – NationalSozialismus Ursula Mindler 116  | Intentionalität und Nicht-Intentionalität „Lisl-Transport“  : Flucht und Vertreibung 1938/39 Gerald Lamprecht 118  | Leerstellen Überschreiben durch Stadtplanung Antje Senarclens de Grancy

MARGARETENBAD Divergente Stränge des Erinnerns/Vergessens 123  | Margaretenbad Antje Senarclens de Grancy 133  | Margaretenbad: Divergente Stränge des Erinnerns/Vergessens Heidrun Zettelbauer 134  | Nähe und Ausgrenzung Antisemitismus in der Nachbarschaft – das Südmark-Studentenheim im Tschock’schen Schlössl Heidrun Zettelbauer 8  | 

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136  | Un/Sichtbar Gemachtes Inmitten der Gesellschaft  : Die „Arisierung“ des Margaretenbades Gerald Lamprecht 138  | Erinnerung als Identitätsstiftung Das Margaretenbad – ein Wunschpool Jördis Tornquist JÜDISCHE ZEREMONIENHALLE Erinnern/Vergessen als Selbstvergewisserung 143  | Jüdische Zeremonienhalle Antje Senarclens de Grancy 153  | Jüdische Zeremonienhalle: Erinnern/Vergessen als Selbstvergewisserung Heidrun Zettelbauer 154  | Vergessene Kontexte der Zerstörung Täterbilder  ? Ursula Mindler 156  | Integration des Verschwundenen Architektur als Medium von Erinnerung Antje Senarclens de Grancy 158  | Verdrängung und Überschreibung Öffentliche Position/ierung/en Heidemarie Uhl KINDERHEIM LEND Materielle und immaterielle Spuren 163  | Kinderheim Lend Antje Senarclens de Grancy 176  | Der Verein „Freie Schule – Kinderfreunde“ Heidrun Zettelbauer 179  | Kinderheim Lend: Materielle und immaterielle Spuren Heidrun Zettelbauer  

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180  | Ausdruck und Abdruck Der Utopie einen Raum geben Ausschnitt aus einem Text von Richard Schacherl 182  | In die Erinnerung Eingeschriebenes Materieller Ort und soziale Skulptur Heidrun Zettelbauer 184  | Übriggebliebenes Rückstände  : Architektur als materielle Spur Antje Senarclens de Grancy

STADTRANDSIEDLUNG AMSELGASSE Referenzpunkte des Erinnerns/Vergessens 189  | Stadtrandsiedlung Amselgasse Julia Poelt 197  | Eugen Székelys Häuser in der Amselgasse Antje Senarclens de Grancy 202  | Entproletarisierung in der Stadtrandsiedlung – eine gegen/moderne Strategie Werner Suppanz 205  | Stadtrandsiedlung Amselgasse: Referenzpunkte des Erinnerns und Vergessens Heidrun Zettelbauer 206  | Fragmente und Erzählungen An Bilder geknüpfte Erinnerungen Heidrun Zettelbauer 208  | Transformationen Verlust des baukulturellen Gedächtnisses Elisabeth Lechner 210  | Neuinterpretation „Pimp my Home“  : Transformation eines Doppelhauses Martin Krammer

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III. BIOGRAFISCHE SKIZZEN 215  | Biografien im sozialen Raum. Jüdisches Leben, Antisemitismus, urbane Bezugsräume, soziale Netzwerke und 1938 als Bruchlinie Heidrun Zettelbauer 233  | Alexander Zerkowitz (1860–1927) Antje Senarclens de Grancy 247  | Bruno Zerkowitz (1889–1942) Antje Senarclens de Grancy 253  | Eugen Székely (1894–1962) Antje Senarclens de Grancy 273  | Franz Schacherl (1895–1943) Günter Eisenhut

295  | Autorinnen und Autoren 299  | Abbildungsnachweis



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Abbruch des 1928 errichteten Margaretenbades in der Grillparzerstraße, Graz, Mitte der 1980er-Jahre

Das Foto – eine Momentaufnahme im Prozess des Verschwindens – legt materielle, zeitliche und gesellschaftlich-kulturelle Schichten frei und steht symbolisch für das Anliegen des Buches. Es dokumentiert Brüche und Kontinuitäten und suggeriert gleichzeitig eine Art zeitlichen Zwischenraum: Die vorhandenen Spuren sind noch Zeugnis des Vergangenen, aber auch schon Beleg für die bereits begonnene Umformung und ein Ausblick auf eine dem veränderten Zeitgeist entsprechende Neugestaltung. Das Bild wirft Fragen auf nach der ursprünglichen, bestehenden wie der zukünftigen Architektur, nach der hinter der Oberfläche liegenden Geschichte des Ortes, nach den angelagerten vergessenen und erinnerten Erzählungen und nach ihren AkteurInnen.

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Antje Senarclens de Grancy | Heidrun Zettelbauer

EINLEITUNG Dem Medium Architektur scheint das Vergessen grundlegend eingeschrieben  : Durch zeitlich geschichtete Überbauung, Ab- und Umnutzung, Renovierung, gewaltsame Zerstörung, Abriss oder Verfall von Bauwerken sind ursprüngliche architektonische Konzepte, symbolische Bedeutungen und materielle Bestandteile quasi genuin einem Prozess der Transformation, des Verblassens, Verschwindens und Vergessens unterworfen. Für gewöhnlich kennt auch – außerhalb eines wissenschaftlich-künstlerischen Interesses – kaum jemand Namen, Lebensumstände und Motivation des Architekten oder der Architektin eines Gebäudes im öffentlichen Raum. In diesem Buch stehen fünf in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Graz errichtete Bauten im Zentrum, denen gemeinsam ist, dass sie physisch und visuell ganz oder nahezu abhandengekommen sind  : das erste Grazer Arbeitsamt, ein nach funktionalen Gesichtspunkten entworfener moderner Flachdachbau  ; das Margaretenbad, ein innerstädtisches Freibad der 1920er-Jahre  ; die Zeremonienhalle am Israelitischen Friedhof, öffentlich sichtbarer Ausdruck jüdischen Lebens in Graz  ; das Kinderheim Lend, ein „proletarisches Kulturhaus“  ; und die genossenschaftlich errichtete Stadtrandsiedlung Amselgasse. Die Gründe ihres Verschwindens sind jeweils ganz unterschiedlich  : Ist es bei einem Bau die Wiederaufbaueuphorie der Nachkriegszeit oder die Modernisierungswelle in den Hochkonjunkturzeiten der 1980er-Jahre, ist es bei einem anderen die Zerstörungswut der Nationalsozialisten in der Pogromnacht des November 1938. Andere wiederum wurden im Zuge der alltäglichen Benutzung oder des Komfort- und Individualitätsbedürfnisses der BewohnerInnen so stark transformiert, dass der ursprüngliche Charakter kaum mehr erkenntlich ist. Den Architekten und Baumeistern dieser Gebäude – Alexander Zerkowitz und seinem Sohn Bruno, Eugen Székely und Franz Schacherl1 – ist gemeinsam, dass sie, ebenfalls aus verschiedenartigen Gründen, lange aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden sind, wenngleich sie in der Architektur- und Stadtgeschichtsschreibung in den letzten Jahren an bestimmten Stellen wieder auftauchen. Ihre Lebensverläufe und Haltungen, soweit diese aus dem, was überliefert ist, rekonstruierbar sind, erweisen sich als höchst unterschiedlich, die Auflistung der Geburtsorte (Wien, Banjaluka, Budapest) und der Sterbeorte (Graz, Jasenovac, Haifa, Luanda/Angola) steckt dabei das Spektrum der individuellen und kollektiven Kontexte ab. Die – teils selbst gewählte, teils fremdbestimmte – jüdische Identität dieser vier Personen und die damit zusammenhängende NS-Verfolgungsgeschichte ist eine – wenn auch zentrale – Dimension ihres Vergessens ebenso wie des Erinnerns und Wiederentdeckens.  

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„Graf Zeppelin“ über dem Margaretenbad, 30. August 1931

Das vorliegende Buch hat nicht zum Ziel, einen „jüdischen Anteil“ an der Architekturgeschichte im Sinne eines „jüdischen Heritage“ und damit in einem „kompensatorischen“ Sinn wiederzuentdecken und zu erinnern. Es sucht vielmehr etwas anderes, nämlich, das Vergessen selbst zu thematisieren. Am Beispiel von Architektur und den Biografien von Architekten soll die Frage nach der Vielschichtigkeit und den Mechanismen des Tradierens von Erzählungen und Geschichte/n aufgeworfen werden  : Warum verblassen bestimmte kulturelle Erzählstränge, werden ausgeblendet, überlagert, während andere im kollektiven oder individuellen Gedächtnis präsent bleiben  ? Welchen gesellschaftlichen Parametern folgt das Vergessen, ebenso wie das Erinnern und (Wieder-)Erzählen  ? Hinter dieser Fragestellung steht die Überzeugung, dass Vergessen (ebenso wie Erinnern) immer Ausdruck der jeweils gegenwärtigen Orientierung und des Selbstverständnisses einer Gesellschaft ist. Bei dieser Befragung, die nur in einer interdisziplinären und disziplinär reflexiven Zugangsweise unternommen werden kann, werden vielfältige Dimensionen des Vergessens – und Erinnerns – ausgelotet  : zufällig oder intentional Vergessenes, unbewusst oder bewusst Ausgegrenztes, Nicht-Erzähltes, Nicht-mehr-Rekonstruierbares, Sichtbares und Unsichtbares, nur mehr als Spur oder Abdruck Vorhandenes, gewollt oder ungewollt Zerstörtes, Abfall oder Ausgeschiedenes. Vergessen/Erinnern wird thematisiert als Absenz/Präsenz, als Überschreibung und Überlagerung, unter dem Aspekt von Bruchlinien, fehlenden Kontinuitäten und Leerstellen. Die AutorInnen unternehmen dabei die Erkundungen aus ihrer jeweiligen Perspektive  : der Kunstgeschichte, Zeitgeschichte, Österreichischen Geschichte, Architektur, Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie.

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Ansatzpunkte: Architektur, Vergessen/Erinnern, Jüdische Identitäten Architektur Im Vergleich mit anderen künstlerischen und kulturellen Äußerungen bietet sich Architektur als Experimentierfeld für die hier skizzierte Fragestellung besonders an, und zwar aus zwei Gründen  : Zum einen ist Architektur im sozialen Raum durch ihren immanenten Öffentlichkeitscharakter sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrem Fortbestand den kollektiven Identitäten, Leitbildern und Selbstdarstellungsstrategien unterworfen. Dabei spielt die Konkurrenz um Deutungsmacht2 und damit der Wandel von gesellschaftlichen Prioritäten und Wertvorstellungen eine besondere Rolle.3 Zum anderen ist Architektur aber auch durch ihre Exponiertheit – in Bezug auf die physischen Bedingungen (Materialbeschaffenheit, Klimaeinflüsse oder auch Naturkatastrophen) – einer materiellen und letztlich auch symbolischen Erosion ausgesetzt, die immer wieder individuelle und kollektive Entscheidungen und Neupositionierungen in Hinblick auf den Umgang mit der physischen Substanz provoziert. In jüngeren architekturgeschichtlichen Untersuchungen wird zunehmend berücksichtigt, dass Architektur nicht mit Schlüsselübergabe oder Eröffnungsfeier ein für alle Mal abgeschlossen ist. Neben der traditionellen Fokussierung auf die Geschichten der architektonischen Konzeption und die „Pionier-“ und „Heldengeschichten“ einzelner Protagonisten rücken verstärkt die Transformationen und der gesellschaftliche Umgang mit Bauwerken ins Blickfeld. Aus der Perspektive der Nutzungsgeschichte wird danach gefragt, was aus den Intentionen der ArchitektInnen in der Realität geworden ist, und wie komplex und vielschichtig die Beziehungen zwischen architektonischer Form und dem Verhalten und der Wahrnehmung der NutzerInnen sind.4 In Bezug auf Nachnutzung und Ästhetisierung funktionslos gewordener Bauwerke ist zunehmend die Materialität von Architektur von Interesse.5 Schließlich zeigen jüngere Forschungen auch, wie vielfältig die Wirkungsgeschichte von Architektur im Hinblick auf die Prozesse der Kanonbildung und der Aufnahme in (nationale) Kunstgeschichten ist.6 Architekturgeschichte wird in diesem Buch als interdisziplinäre Aufgabe begriffen. Vor dem Hintergrund aktueller kulturwissenschaftlicher Zugänge zu Architektur und Gedächtnis sowie zur Biografieforschung wird eine doppelte Perspektive eingenommen  : Einerseits wird in den Fokus gerückt, wie Architektur durch die Verhandlungen im sozialen Raum, die kulturellen Kontexte der Konzeption und Realisierung wie auch jene des späteren Umgangs mit den Bauten (Zerstörung, Überschreibung etc.) bedingt ist. Andererseits wird der Versuch unternommen, die Architektenbiografien in jenen sozialen Räumen zu verorten, aus denen heraus die erhaltene/verschwundene Architektur entstanden ist, konkret also die Lebensverläufe der vier Personen zu historisieren und kontextualisieren sowie gesellschaftlich-kulturelle Muster der Ein- und Ausgrenzung und Prozesse des Erinnerns oder Ausblendens zu rekonstruieren.



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Vergessen/Erinnern: Eine Leerstelle im Stadtbild. Standort der im November 1938 zerstörten Synagoge, aufgenommen kurz vor Beginn des Neubaus (fertiggestellt 2000)

Vergessen/Erinnern „Der komplementäre oder antithetische Aspekt der Wechselbeziehungen [von Erinnern und Vergessen, d. Hg.] ergibt sich schon daraus, dass gelegentlich beide den Status von zwei Polen des Gedächtnisses einnehmen  : als der wissentlichen Erinnerung oder dem Erinnerungsgebot nichts Gleichwertiges auf der Seite des Vergessens gegenübersteht. Denn es gibt weder einen Vergessensbefehl noch Strategien des Vergessens, die so wirksam wären wie die Strategien des Erinnerns […]. Auch sind wir uns dessen immer bewusst, wenn wir etwas erinnern, während wir das Vergessen manchmal selbst vergessen.“7

Die fünf Bauten, auf die das vorliegende Buch fokussiert, werden als „Kristallisationspunkte“ verschiedenster Dimensionen des physischen Verschwindens und der kulturellen Überlagerung verstanden. In jedem Abschnitt widmen sich – vor dem Hintergrund der jeweiligen Entstehungs-, Nutzungs- und Zerstörungsgeschichte des Baus und der diese begleitenden gesellschaftlichen Diskurse und Leitbilder – drei Kurztexte einigen der spezifisch am Bauwerk auszumachenden Schichten des Vergessens/Erinnerns. Ausgangspunkt ist dabei jeweils ein Bild (Foto, Entwurfsplan, Zeitungsausschnitt), das einen dieser Momente festhält. Diese kurzen, in der Konzeptionsphase „Splittertexte“ genannten Aufsätze erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, im Gegenteil  : Gerade die mitunter subjektiv und assoziativ wirkende Auswahl der aufgegriffenen Themen soll darauf hinweisen, dass die Selektion von Geschichten, die erzählt werden, und jenen, die ausgeblendet bleiben, auch im wissenschaftlichen Forschungsprozess häufig ein subjektives Vorgehen impliziert und im besten Fall die jeweiligen Auswahlkriterien für relevante Fragestellungen benennt. In jedem Forschungsprozess – und so auch in diesem – ließe sich die jeweils getroffene Themenauswahl durch viele andere Aspekte ergänzen und stellt 16  | 

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somit immer einen offenen Prozess dar. Die Kurztexte sind teils wissenschaftlich, teils essayistisch angelegt. Sie eröffnen erstaunliche, manchmal unerwartete Blickwinkel, Motive des Ausschlusses ebenso wie zufällige biografische Kreuzungen sowie ein Kaleidoskop an kollektiven wie individuellen Erinnerungen, die sich an die jeweiligen Orte und Bauten knüpfen. Dabei wird ein Geflecht von Bedeutungen, Schichten und Fragmenten freigelegt, die sich mitunter auch gegen die hier vorgenommene Zusammenschau sperren und kaum miteinander vereinbar scheinen. Viele der insgesamt fünfzehn Kurztexte nehmen Bezug auf die lokale Geschichte des Nationalsozialismus sowie seine Vor- und Nachgeschichte. Dies nicht zuletzt deshalb, weil durch den seit den 1980er-Jahren einsetzenden signifikanten Wandel der österreichischen Erinnerungskultur vor allem die Shoah ins Zentrum des Interesses am gesellschaftlichen Umgang mit dem Erinnern/Vergessen gerückt wurde. Damit gewannen auch konkrete materielle Orte und Spuren als Zeugnisse regionaler Topografien nationalsozialistischer Verbrechen für die Frage von Schuld und Mitverantwortung der auf die Tätergesellschaft folgenden Generationen an Bedeutung.8 Im vorliegenden Buch wird daran angeknüpft. Das zugrunde liegende Konzept geht allerdings noch einen Schritt weiter und wirft ganz grundsätzlich die Frage nach der Vielschichtigkeit des Gedächtnisses materieller Orte und Spuren auf. In der Gedächtnisforschung hat diese Frage lange Zeit nur eine marginale Rolle gespielt, erst mit dem neuen Interesse an Gedenkstätten als „authentischen Orten“, die gewissermaßen die Funktion von ZeitzeugInnen übernehmen können, ist auch dieser Aspekt ins Blickfeld gerückt. Im Gegensatz dazu befasst sich die kulturwissenschaftlich orientierte Museologie bereits seit Längerem und sehr produktiv grundlegend mit der Materialität von Dingen, (Ausstellungs-)Objekten, Orten (historic sites) und den an sie geknüpften symbolischen Bedeutungen.9 Folgt man diesen Ansätzen, so sind materielle Dinge und Orte allein durch ihre Präsenz immer schon „Zeugnis“ und „Beleg“ für etwas, deuten sie doch als „authentischer Überrest“ oder „Fragment“ auf ursprüngliche Verwendungs- und Bedeutungszusammenhänge. Dennoch ist – und dies scheint uns auch für das Vorhaben dieses Buches zentral – die konkrete Aussagekraft von Materialität immer beschränkt  : Material, Technik, Konstruktion, Formen lassen sich beschreiben – aber eben auch nicht mehr. „Im Übrigen sind sie [die materiellen Objekte, erg. d. Hg.] stumm“10 und „sprechen“ erst, wenn sie mit Erkenntnissen aus anderen Quellenkategorien verknüpft werden. Folglich gilt es an dieser Stelle festzuhalten, dass auch die hier in Fragmenten rekonstruierten Bedeutungen von Bauten und Orten nie eindeutig sind, sondern immer als vielschichtig und mehrdimensional aufgefasst werden müssen. Architektur spricht weder „für sich selbst“, noch erzählt sie „von sich aus“ Geschichte. 11 Vielmehr ist es immer der je spezifische Blick, der bestimmte Bedeutungsschichten freilegt – und dabei zugleich andere ausblendet.



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„Jüdischkeit“ durch Fremdzuschreibung: Ausschnitt aus dem Aufruf „Deutsche! Kauft bei deutsch-christlichen Geschäftsleuten!“, in: Grazer Nachrichten der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung), 23. März 1929

Jüdische Identitäten Sind im vorliegenden Band zunächst also die erhaltenen/verschwundenen materiellen Spuren der Bauten Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der ihnen eingeschriebenen kulturellen Bedeutungen, so wird diese Perspektive durch einen weiteren Aspekt ergänzt  : durch die Rekonstruktion biografisch-lebensgeschichtlicher Zusammenhänge der vier ausgewählten Architekten und Baumeister. Für eine kulturwissenschaftlich-historische Biografieforschung stellt sich vor allem die Frage nach der Rückbindung von Zeugnissen eines individuellen Lebens an soziokulturelle Kontexte und gesellschaftliche Bedingungen.12 Als relevant erweisen sich narrative Strukturen (auto-)biografischer Erinnerungen, gesellschaftliche, politisch-kulturelle und soziale Diskurse, in die das Handeln und die Selbstdefinition von Menschen eingebettet sind. Es geht sowohl um selbst gewählte als auch um fremdbestimmte Positionen und Positionierungen von Menschen in der Gesellschaft.13 Das Erzählen von Biografien lässt schließlich auch Rückschlüsse auf das Erzählen und Darstellen von Geschichte überhaupt zu  : Geschichte kann immer nur als Spur und Fragment beleuchtet werden, es lassen sich nur ausgewählte Kontexte eines Ganzen erschließen, dieses Ganze entzieht sich jedoch beständig jeder Vollständigkeit. Als ein – wenn auch zentraler – Aspekt wird in diesem Buch die jüdische Herkunft bzw. Identität der vier ausgewählten Personen thematisiert – eine Identität, die sich einerseits als selbst bestimmte und gewählte jüdische Identität manifestieren konnte (wie bei Alexander Zerkowitz und Eugen Székely), die sich andererseits aber auch als erzwungene, fremdbestimmte, „von außen“ auferlegte „Jüdischkeit“ durch die NSVerfolgungsgeschichte ergab (etwa im Fall von Bruno Zerkowitz und Franz Schacherl). Sich mit Biografien zu befassen, die vor allem auch durch die Erfahrung antisemitischer Ausgrenzungsmuster und durch das gemeinsame Band der NS-Verfolgungsgeschichte zusammengehalten werden, erfolgt hier demnach gerade nicht mit dem Ziel, einen „jüdischen Beitrag“ zur Grazer Architektur- und Stadtgeschichte herauszuarbeiten oder diese zu „ergänzen“ oder zu „vervollständigen“. Im Gegenteil  : Vielmehr geht es darum, über den Weg biografischer Arbeit Beziehungen in sozialen Räumen herauszuarbeiten, Kontexte zu beleuchten, in denen ein Leben verlaufen konnte, und auf 18  | 

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diese Weise die individuellen Lebensgeschichten zu historisieren, das heißt, sie in ihrer historischen Positioniertheit und Situiertheit zu begreifen. Es geht nicht darum, von abgeschlossenen, jüdischen Identitäten auszugehen, sondern gerade darum, jüdische/ nicht-jüdische Geschichte als (historisches) Beziehungsgeflecht zu begreifen.14 In diesem Sinn macht ein genauer Blick auf die historischen, sozialen und kulturellen Kontexte gerade die Verschiedenheit der vier Lebensentwürfe deutlich.

Blickachsen Im Rahmen von aktuellen kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Architekturgeschichte, Biografieforschung sowie Raum- und Gedächtnisforschung werden die fünf Bauten (im Abschnitt „II. Kristallisationspunkte“) und die Lebensentwürfe der vier Architekten und Baumeister (im Abschnitt „III. Biografische Skizzen“) untersucht. Diesen beiden Blöcken ist ein erster Teil („I. Blickachsen“) vorangestellt, in dem politisch-kulturell, historiografisch und kunsthistorisch relevante Zusammenhänge aufgezeigt werden. Den theoretisch-methodischen und kontextbezogenen Beiträgen gemeinsam ist eine grundlegend selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem Prozess des Forschens und des Generierens von kunst- und kulturwissenschaftlichen sowie gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Die ersten drei Beiträge widmen sich den konzeptuellen Ausgangspunkten und damit den Begriffen Architektur, Biografie und Gedächtnis. Antje Senarclens de Grancy stellt die Frage nach den Prozessen architekturhistorischer Rezeption und Kanonbildung im Hinblick auf Motive, Auswahlkriterien und Rahmenbedingungen. Sie zeigt auf, dass das Einbeziehen, ebenso wie das Ausgrenzen bestimmter Objekte oder Personen nicht nur von subjektiven Entscheidungen, sondern auch von kollektiven Leitbildern und gesellschaftlichen Prioritäten abhängig ist. Der – bereits von den ZeitgenossInnen begonnene – Rezeptionsprozess lässt sich demnach als Abfolge multifaktorieller Selektionsentscheidungen beschreiben. Ausgehend von einer Kritik an linear-teleologischen Konzepten der Biografieforschung geht Heidrun Zettelbauer in ihrem Beitrag der Frage nach, wie unter einer kulturwissenschaftlichen Perspektive eine Annäherung an das Schreiben von Biografien möglich ist. Sie lenkt die Aufmerksamkeit dabei vor allem auf Lücken, Leerstellen und Diskontinuitäten in Lebensverläufen. Im Bewusstsein des Nicht-Rekonstruierbaren eines Lebensverlaufs erfolgt eine Annäherung vielmehr über den Umweg der Rekonstruktion von sozialen Räumen, kulturellen Milieus und historischen Kontexten, in denen sich ein Leben ereignet. Heide­marie Uhl wiederum widmet sich in ihrer Perspektive auf das vorliegende Thema den Begriffen Gedächtnis und Materialität als verbindenden Elementen von Architektur- und Zeitgeschichte. Indem sie die Auseinandersetzung mit Materialität als signifikante Leerstelle des Gedächtnisbegriffs aufgreift, geht sie dem Wandel im öffentlichen Gedächtnis von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart nach.  

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„Little poeple like big plates”, Collage des Architekten Franz Schacherl, entstanden im Exil in Angola, um 1942

Drei weitere Beiträge rücken wiederum jüdische Identitäten ins Zentrum – einerseits vor dem Hintergrund der Wieder-/Entdeckung jüdischer Geschichte, andererseits im Rahmen konkreter gesellschaftspolitischer Kontexte jüdischen Lebens in Graz und jüdischer Architekten in Österreich. Gerald Lamprecht zeichnet in seinem Beitrag die Darstellung der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Graz aus Sicht der Historiografie im 19. und 20. Jahrhundert nach – zum einen im Sinne eines Strebens nach Emanzipation und Autonomie im innerjüdischen Diskurs, zum anderen im Rahmen deutschnationaler und nationalsozialistischer Argumentationsstrategien. Er lenkt den Blick damit auf die AkteurInnen jüdischer Geschichtsschreibung vor dem Hintergrund der Frage von Identitätsstiftung und auf die jeweils zeitspezifischen Rahmenbedingungen der Wieder-Entdeckung jüdischer Geschichte. Für Dieter-Anton Binder ist – analog zu den vorangegangenen Beiträgen – das Wendejahrzehnt 1980er-Jahre Ausgangspunkt für eine Rückschau auf die expliziten und impliziten Mechanismen der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung von Graz nach 1945. Er arbeitet heraus, inwieweit gerade auch von öffentlicher Seite die Versöhnungspolitik in erster Linie den ehemaligen Tätern, nicht den Opfern der NS-Verbrechen galt. Iris Meder zeichnet die 20  | 

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Franz Schacherl, Collage, um 1942



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Lebens- und Arbeitsbedingungen jüdischer Architekten in Österreich seit Ende des 19. Jahrhunderts nach, im Besonderen am Beispiel der (für dieses Thema zahlenmäßig im Vergleich mit Graz ungleich relevanteren) Wiener Situation. Aufgezeigt werden die aufgrund des Antisemitismus eingeschränkten Wahlmöglichkeiten in der Ausbildung sowie Netzwerkbildungen hinsichtlich Arbeitskollegen und Auftraggebern bis hin zu Verfolgung, Vertreibung und Ermordung. Die beiden abschließenden Beiträge thematisieren exemplarisch die Frage von Geschichte und Gedächtnis eines materiellen Ortes im Hinblick auf vergangene und gegenwärtige Aushandlungsstrategien der Nutzung. Gabu Heindl vergleicht zwei für die Moderne repräsentative Raumtypen miteinander, bei denen jeweils Bewegungsabläufe gesteuert werden und die für bestimmte gesellschaftliche Paradigmen stehen – Arbeitsamt und Autostraße. Judith Laister untersucht schließlich – von der Frage nach den Gründen für eine dauerhafte, physische Besetzung des städtischen Raumes ausgehend – den Afritschgarten  : einerseits als Identifikations- und Erinnerungsort, andererseits als soziotopografischen Bestandteil der Stadt. Mit der Annahme, dass die erinnerungskulturelle Wirkmacht der dort vor 80 Jahren geschaffenen Architektur, neben ökonomischen und politischen Verhandlungen, zur Kontinuität des Ortes beiträgt, leitet sie zum Abschnitt der „Kristallisationspunkte“ über. Die Herausgeberinnen und AutorInnen dieses Buches wollen nicht definitive, in sich abgeschlossene Antworten in Bezug auf das Vergessen als kulturelle Praxis geben. Vielmehr suchen sie, Fragen zu eröffnen, neue Aspekte und Zugangsweisen aufzuzeigen und Schlaglichter auf komplexe Vorgänge und verborgene Schichten im Spannungsfeld von Architektur, Öffentlichkeit und individuellen Lebensverläufen zu setzen.

Anmerkungen   1 Während Alexander und Bruno Zerkowitz sowie Eugen Székely in Graz ihre Bau- bzw. Architekturbüros führten, hat Franz Schacherl, der in Graz aufgewachsen ist, hauptsächlich in Wien gearbeitet und nur punktuell in Graz und anderen Städten in der Steiermark Aufträge übernommen.   2 Ákos Moravánszky hat dafür den Begriff der competing visions verwendet. Ákos Moravánszky, Competing Visions. Aesthetic Invention and Social Imagination in Central European architecture 1867–1918, Cambridge/Mass.–London 1998.   3 Vgl. Garry Stevens, The favored Circle. The Social Foundations of Architectural Distinction, Cambridge/Mass.–London 1998.   4 Vgl. Architecture meets life, GAM 03, Graz 2006.   5 Vgl. z. B. Susanne Hauser, Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale, Frankfurt a. M.–New York 2001.   6 Vgl. den Beitrag „Einblenden/Ausblenden. Architekturgeschichtsschreibung als Selektionsprozess“ von Antje Senarclens de Grancy in diesem Band.   7 Gary Smith/Emrich M. Hinderk (Hg.), Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, 20.    8 Vgl. den Beitrag „Die Wiederentdeckung der Orte“ von Heidemarie Uhl in diesem Band.   9 Vgl. Gottfried Fliedl, Der Gegenstand der Museologie (unveröffentlichtes Manuskript im Besitz von H.Z.), 1. –Sabine Offe, Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin–Wien 2000, 43. 10 Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch, Zum Schauen gegeben. Ausstellen von Frauen- und Geschlechtergeschichte in Museen, in: http:// www.musieum.at/029/pdf/zum_schauen_geben.pdf, 29. 1. 2010, 6.

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11 Rosemarie Beier, Zur Kontextualisierung des Alltags. Ansätze und Erfahrungen im Deutschen Historischen Museum, in: Alltagskultur passé? Positionen und Perspektiven volkskundlicher Museumsarbeit, Tübingen 1993, 177. Zit. n. ebenda, 7. 12 Vgl. Andreas Gestrich/Peter Knoch/Helga Merkel (Hg.), Biographie sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 1538), Göttingen 1988. 13 Vgl. Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Erika M. Hoering (Hg.), Biographische Sozialisation, mit Beiträgen von Peter Alheit et. al. (= Der Mensch als soziales Wesen 17), Stuttgart 2000, 51–60. 14 Vgl. den Beitrag „Ein Leben erzählen – Biografie, Geschichte, Erinnerung“ von Heidrun Zettelbauer in diesem Band.



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Kreuzung Bahnhofgürtel/Ghegagasse, Graz. In der Verlängerung des Wohnhauses in der Mitte, auf der heutigen Fahrbahn, befand sich bis zur Verlegung des Gürtels Mitte der 1950er-Jahre das Arbeitsamt Graz.

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Antje Senarclens de Grancy

EINBLENDEN / AUSBLENDEN.

Warum wird ein bisher „unbekannter Architekt“ oder ein „vergessenes Werk“ zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Reservoir der Architekturgeschichte hervorgeholt und in einem Text oder einer Ausstellung ins Blickfeld und in das öffentliche Bewusstsein gerückt, vielleicht sogar in die Narration einer nationalen Architekturgeschichte aufgenommen  ? Und warum bleiben andere im Reservoir zurück und werden vergessen, ausgeblendet oder ignoriert  ? Folgt man bei der Frage nach den Motiven, Auswahlkriterien und Bedingungen architekturhistorischer Rezeption – und Nicht-Rezeption – Bourdieus Theorie des kulturellen Feldes1, so kann davon ausgegangen werden, dass das Werk einer Architektin oder eines Architekten nicht sich selbst autonom durchsetzt, sondern als Folge individueller und kollektiver Einzelaktionen und in Konkurrenz zu anderen durchgesetzt wird. Die architekturhistorische Rezeption ist also aus dieser Sicht nicht (nur) Ergebnis einer ästhetisch unabhängigen Kraft, mit der sich a priori „wertvolle“ Werke quasi eigenständig behaupten, sondern geht vielmehr auf die Anstrengungen von EinzelakteurInnen und Institutionen zurück, die aus unterschiedlichen Motiven diesen Werken Wert zuschreiben.2 Wie der Architektursoziologe Garry Stevens3 in Anlehnung an Bourdieus Feldtheorie herausgearbeitet hat, verdanken erfolgreiche, das heißt anerkannte ArchitektInnen den Erfolg weniger ihrer individuellen Kreativität und Ingeniosität, als vielmehr dem Gewinn an symbolischem Kapital im kulturellen Feld der Architektur, welches sich in einem komplexen Gefüge über Diskurse, Auseinandersetzungen und Reglementierungen konstituiert. Die Konstruktion des jeweils gültigen Wertmaßstabes wird durch öffentlich formulierte Leitbilder, kollektive Identitäten sowie gesellschaftliche und politische Selbstdarstellungsstrategien bestimmt. Ob und nach welchen Kriterien ein Bauwerk, eine Architektin oder ein Architekt als bedeutend erachtet, in einem Text besprochen oder in eine Architekturanthologie, ein Nachschlagewerk oder ein Denkmälerinventar aufgenommen wird, hängt also davon ab, wie die Auseinandersetzungen zwischen den AkteurInnen des Feldes (Einzelpersonen wie KunsthistorikerInnen, ArchitekturkritikerInnen, politische EntscheidungsträgerInnen und deren BeraterInnen, aber auch Institutionen wie Universitäten, Forschungsförderungseinrichtungen, Verlage, Institutionen des Denkmalschutzes, Bildarchive, Internetseiten und -plattformen) ausgehen.4



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Architekturgeschichtsschreibung als Selektionsprozess

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Kanonbildung Dass der Akt des Hervorholens aus dem Reservoir der Architekturgeschichte von Hierarchisierung und Grenzziehung bestimmt ist, wird besonders deutlich, wenn die Rezeption eines bestimmten Werks, einer Architektin oder einer Entwurfsidee sich zu einem hegemonialen Diskurs, zu einem Kanon im Sinne eines Wertmaßstabes entwickelt, dessen Gültigkeit von einer bestimmten Gruppe anerkannt wird. Kanon bedeutet immer eine Vorauswahl als „Ergebnis von vielfältigen Selektionsentscheidungen und damit verbundenen Wertungsakten unterschiedlicher Art […], verbalen und nonverbalen.“5 Der Hervorhebung der „zentralen“ Bauten, der „wichtigsten“ ­ArchitektInnen, der „bedeutsamsten“ Strömungen steht zwangsläufig die Abwertung, Ausgrenzung, Ausblendung und Marginalisierung, das Nicht-Erzählen und Übersehen anderer gegenüber. „Die Integration in den Kanon ergibt sich“, so Barbara Lange, „tatsächlich nicht aus dem Werk, sondern aus dem Wertsystem, das hinter der Kanonbildung steht.“6 Die ausgewählten und in den Kanon aufgenommenen Bauten repräsentieren also jeweils kollektive Wertvorstellungen, wie etwa Paul Betts besonders anschaulich am Beispiel der als kulturelle Strategie des Kalten Krieges erfolgten Kanonisierung des Bauhauses in Westdeutschland und den USA nach 1945 gezeigt hat.7 Innerhalb der Disziplin Kunstgeschichte wird die Kanonfrage vor allem seit den 1980er-Jahren diskutiert, zunächst im Hinblick auf die „Unterlassungssünden“ 8 ­(Nanette Salomon) des kunsthistorischen Kanons in Bezug auf Künstlerinnen und Architektinnen, aber auch auf soziale Minderheiten und Randgruppen und in Opposition zu den traditionellen Auswahlkriterien  : der Erfindung (Originalität, Innovation, Genieleistung) und des Einflusses (Rezeption, Übernahme des Modells durch andere). Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, dass sich das Problem der Kanonbildung mit seinen Ein- und Ausgrenzungsmechanismen neu gestellt hat, „seitdem sich drei Einsichten durchzusetzen begannen  : (1) die in den lebenswichtigen Zusammenhang von kultureller Überlieferung und kollektiver Identität, (2) die in die Vielheit, Verschiedenheit und gegenseitige Ausschließlichkeit kultureller Identitäten und (3) die in die Entwertung weiblicher Kulturpotentiale durch männliche Dominanz sowie in die Zerstörung indigener Traditionen durch koloniale Herrschaft.“9 Wurde also zunächst die Frage nach dem Kanon als hegemoniales Konzept – auch in der Kunstgeschichte – vorwiegend von jenen gestellt, die „entdeckt haben, dass sie aus ihm ausgeschlossen sind“10, so ist diese in den letzten Jahren im Zentrum der Disziplin und ihrer etablierten Wissenschaftsinstitutionen angekommen.11 Im Folgenden soll nun versucht werden, am Beispiel des Architekten Eugen Székely – 1894 in Budapest geboren, in Graz aufgewachsen, in Berlin bei Hans Poelzig ausgebildet und 1935 nach Haifa emigriert – die Hintergründe von dessen nicht (bzw. erst spät) erfolgter Aufnahme in den Kanon der (österreichischen) Architektur der Zwi28  | 

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schenkriegszeit freizulegen und einige Momente des Aus- und Einblendens als Praxis der Kunst- und Architekturgeschichtsschreibung festzumachen.

Zunächst stellt sich die Frage, ob die materielle Nicht-Existenz von Eugen Székelys Grazer Bauten ein Grund für die jahrzehntelange Ausblendung aus der Architekturgeschichtsschreibung sein könnte. Aufgrund veränderter gesellschaftlicher und ästhetischer Paradigmen wurden diese seit den 1950er-Jahren abgerissen oder so stark transformiert, dass ihr ursprünglicher Charakter heute nicht mehr erkennbar ist. Sie wurden nahezu ausnahmslos aus dem öffentlichen Stadtbild getilgt, darunter auch das Arbeitsamt als das von Entwurfsaufwand und Bauvolumen her hervorragendste, pres­ tigeträchtigste und damit „kanontauglichste“ Werk. Allerdings bedeutet physisches Verschwinden keineswegs, dass die Historiografie das Interesse an einem Bau verliert. Ein Beispiel der Kanonisierung eines real nicht mehr existierenden Gebäudes in der österreichischen Architekturgeschichte der Moderne ist der 1953 auf dem Wiener Messegelände errichtete und Ende der 1980er-Jahre abgerissene Ausstellungspavillon Felten & Guilleaume von Oswald Haerdtl, laut Adolph Stiller eine „Ikone der Nachkriegsmoderne“12, die 1995 „anläßlich einer Ausstellung mit einer Auswahl von 100 Bauten aus Österreich sozusagen [in] eine ‚Hitliste der Architektur‘ des 20. Jahrhunderts“ aufgenommen wurde und spätestens seit diesem Zeitpunkt zum unumgänglichen Kern der herausragenden österreichischen Bauten gehört.13 Wichtiger als die materielle Existenz scheint hingegen für den Rezeptionsprozess die mediale Verfügbarkeit eines Bauwerks zu sein. Welche Bedeutung Fotografien und deren oftmalige, stereotype und selektive Reproduktion für die Aufnahme in einen Kanon haben, wurde am Beispiel der für westliche ArchitekturhistorikerInnen jahrzehntelang kaum zugänglichen Villa Tugendhat in Brünn (1930), aber auch des kurz nach Errichtung wieder abgerissenen Deutschen Weltausstellungspavillons in Barcelona (1929) gezeigt.14 Ob und welche zeitgenössischen Fotos von einem Bau erhalten sind und im Rahmen von Recherchen auch aufgefunden werden, ist oft Ergebnis von Zufällen, besonders wenn – wie im Fall der Grazer Architektur der Zwischenkriegszeit – Bilddokumente nicht systematisch von den Bild- und Architekturarchiven gesammelt werden. Abgesehen von einigen grobkörnigen Reproduktionen in einer Zeitschrift aus dem Jahr 1933 ist von Eugen Székelys Arbeitsamt nur ein einziges Foto, das den Bau mit den Mitteln der professionellen Architekturfotografie als „Bau der Moderne“ präsentiert, in einem öffentlichen Archiv vorhanden, und das auch erst seit Mitte der 1990er-Jahre. 2001 wurde das Bild erstmals veröffentlicht,15 womit ein Terminus post quem für die Möglichkeit zur architekturhistorischen Rezeption in einem größeren – nationalen und internationalen – Rahmen gegeben ist.16



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Rezeption des Verschwundenen

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Zeitgenössische Ausgrenzungen Der architekturhistorische Selektionsprozess ist jedoch nicht erst Ergebnis nachträglicher Beurteilung, sondern setzt bereits mit der zeitgenössischen Rezeption ein  : Mit Ausstellungskatalogen, Festschriften und Kunstkritiken in Tageszeitungen und Fachzeitschriften wird ein bedeutender Teil jener Textquellen generiert, auf die ­ArchitekturhistorikerInnen später zurückgreifen (können). Die von den Zeitgenossen getroffene Vorauswahl etabliert eine „Hierarchie von Insidern und Outsidern“17 und konditioniert bereits die spätere Wahrnehmung. Der Beginn der Ausgrenzung von Eugen Székely aus dem zeitgenössischen Kanon, die nicht mit ästhetischen Qualitäten, sondern mit hegemonialen politischen und weltanschaulichen Motiven zusammenhängt, lässt sich relativ exakt im Jahr 1933 bzw. kurz davor festhalten. Ende der 1920er-Jahre ist Székely noch ein anerkannter österreichischer Architekt, der für sein künstlerisches Schaffen offizielle Auszeichnungen wie den Staatspreis für Architektur und die Goldene Staatsmedaille erhält. 1928 wird er nicht nur zum Vizepräsident der Sezession Graz gewählt, sondern beteiligt sich auch neben fünf weiteren Architekten an der Ausstattung des Musterhauses des Steiermärkischen Werkbundes. 1932 widmet die Zeitschrift „Österreichische Kunst“ dem Neubau des Grazer Arbeitsamtes einen mehrseitigen Beitrag, die lokale Tagespresse lobt – abgesehen von Hetzschriften im nationalsozialistischen Dunstkreis – seine Arbeiten. Dann 1933 eine radikale Veränderung  : Der Steiermärkische Werkbund präsentiert mit seiner Festschrift zum 10-jährigen Bestehen, der einzigen zeitgenössischen Anthologie der steirischen Architektur, bildenden Kunst und Kunstgewerbeproduktion der Zwischenkriegszeit, ein repräsentatives Abbild des dominanten Architekturdiskurses. Während politisch konservative und später großteils NS-affine Architekten 18 mit ihren Bauten prominent und mehrfach vertreten sind, wird Székelys Werk auf zwei Objekte reduziert, die in der Hierarchie der Kunstgattungen weit unter der Architektur rangieren  : eine Kaminverkleidung19 und eine Tischlampe. Sein Beitrag zur Grazer Architektur (Arbeitsamt Graz, Stadtrandsiedlung Amselgasse, Sanatorium Eggenberg, Margaretenbad etc.) wird somit aus dem der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten Bildreservoir gelöscht.20 Der hier in der für die Architektur um 1930 wichtigsten Grazer Kunstvereinigung erfolgte Ausschluss vollzieht sich wesentlich subtiler als durch die Einführung eines „Arierparagrafen“, wenn auch kaum weniger erfolgreich. 1935 zieht Székely die Konsequenz, als er „in Anbetracht der politischen Verhältnisse [beschließt], das Land jetzt schon zu verlassen“.21 Zur zeitgenössischen Rezeption zählen auch noch die Texte nationalistisch-völkischer und NS-konformer Kunsthistoriker, in denen das Werk systemkritischer und/ oder bereits vertriebener Architekten nur mehr quasi als Negativabdruck auftaucht  : in Form der im Sinne eines Negativkanons22 gebrandmarkten „Kistenhäuser“ und „Wohnmaschinen“ des Neuen Bauens, die als „Versündigung gegen den bodenstän30  | 

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digen Geist“23 bezeichnet werden. Zumindest in der städtischen Alltagspraxis werden die von zwei PoelzigSchülern geplanten, kubisch-modernen Bauten der Grazer Stadtwerke (Steinbüchel-Rheinwall) und des Arbeitsamtes (Székely) hingegen als Bedeutungsträger für Modernität und Fortschritt für die nationalsozialistische Propagandamaschinerie instrumentalisiert. Als Teil der lokalen Kulturgeschichte bleiben sie hingegen aus dem öffentlichen Bewusstsein bis in die 1970er und 1980erJahre ausgeblendet. Eugen Székely, Tischlampe, um 1930

Denkmälerinventare, Künstlerlexika und Handbücher sowie die „Best of “-Zusammenstellungen nationaler Kunstgeschichten spiegeln verdichtet den bestehenden Kanon wider und können gleichzeitig durch Aufnahme oder Ausschluss das Spektrum erweitern oder einschränken. Zumindest im Fall von Denkmälerlisten und -inventaren, aber auch von spezialisierten Architekturführern ist das physische Nicht-Vorhandensein eines Bauwerks ein Nachteil, der dessen Chancen für eine breitere Rezeption verringert. Das Interesse des Denkmalschutzes richtet sich naheliegenderweise in erster Linie auf real noch existierende Bauten, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse ist. So finden sich auch keine Spuren von Székelys Tätigkeit in den publizierten Inventaren des Österreichischen Bundesdenkmalamtes  : im Kunstdenkmäler-Handbuch „Dehio“25 ebenso wenig wie in der Österreichischen Kunsttopografie. Dass heute Bauten der Zwischenkriegszeit – zumindest in Fachkreisen – als erhaltenswert erachtet werden, geht in Österreich zu einem großen Teil auf Friedrich Achleitners seit Anfang der 1980er-Jahre in mehreren Bänden erschienene „Österreichische Architektur des 20. Jahrhunderts“26 zurück. Diese Handbücher sind nicht nur die erste und bislang konsequenteste Zusammenstellung von Bauten auch jenseits der Metropole Wien,27 sondern zeichnen sich auch durch die Öffnung des damals bereits etablierten Kanons der „modernen Architektur“ und ihrer „Pioniere“ und „Heroen“ aus, indem sie ein breiteres Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten und auch widersprechende Ansätze und Zwischentöne berücksichtigen. Eine Nobilitierung durch „den“ Achleitner erfahren Székelys Bauten hingegen auch nur beschränkt, da auch dieses Nachschlagewerk (1983) sich im Sinne eines Architekturführers auf noch Existierendes beschränkt. Die damals noch fragmentarisch erhaltenen Freibadanlagen PerneggKirchdorf und Graz werden jedoch durch den Hinweis auf die „an Josef Frank erinnernde Intelligenz und Kultiviertheit“28 mit symbolischem Kapital ausgestattet.  

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Ein- und Ausblenden durch „Hitlisten der Architektur“24

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Eine andere Dynamik, die weniger mit dem materiellen Zustand der Bauwerke als mit politisch-gesellschaftlichen Leitbildern zu tun hat, spiegelt die Auswahl in biografischen Lexika wider. Während in den klassischen deutschsprachigen Künstler-Lexika „Thieme-Becker“29 (1938) und „Vollmer“30 (1958) Eugen Székely jeweils Einträge, die sich noch auf dessen persönliche internationale Vernetzung im zeitgenössischen Kunst- und Architekturbetrieb zurückführen lassen, gewidmet sind, scheint der Architekt in dem zum Grazer Kulturhauptstadtjahr 2003 von Walter Brunner im Auftrag des Kulturamtes der Stadt Graz herausgegebenen „Stadtlexikon“ nicht auf (Architekten, deren Nähe zur NS-Ideologie bekannt ist, erhalten hingegen Einträge 31). Offensichtlich waren zu diesem Zeitpunkt die noch vor der Emigration einsetzende Ausblendung ebenso wie die Hervorhebung der ideologisch dem Nationalsozialismus nahestehenden Architekten nach wie vor wirksam, trotz der zwischenzeitlich erfolgten Würdigung Székelys in einer Großausstellung des steirischen Landesmuseums Joanneum.32

Wiederentdeckung der österreichischen Moderne Eine breitere Rezeption von Eugen Székelys Werk erscheint überhaupt erst ab jenem Zeitpunkt möglich, als die Architektur der Zwischenkriegszeit – nach ihrer Schmähung in der NS-Zeit und dem Desinteresse in der unmittelbaren Nachkriegsepoche – in den international gültigen Kanon der Kunstgeschichte aufgenommen wird. 33 In Österreich sind es ab den späten 1960er-Jahren zunächst die Architekten selbst, welche die Architekturgeschichte der Moderne – von „Wien um 1900“ bis zur Zwischenkriegszeit – schreiben. Das Aufspüren der verschütteten Spuren der eigenen Disziplin diente der Bewältigung aktueller Probleme und hatte eine identitätsstiftende Funktion  : Während die junge Architektengeneration in Wien zur Überwindung der „Krise der österreichischen Architektur“ nach der Zeit des Wiederaufbaus versucht, unterbrochene Traditionslinien wieder aufzunehmen und dabei nicht nur Otto Wagner und Adolf Loos, sondern auch vertriebene Architekten wie Josef Frank für sich entdeckt, ist die Antriebsfeder in Graz mit seinem ehemaligen Leitbild als nationalsozialistische Hochburg eher die Suche nach einer Alternative, einem Gegenbild zu der gerade hinter sich gelassenen Zeit und dem immer noch dominanten Diskurs um Volkstum und Bodenständigkeit. Zu den Akteuren dieser Spurensuche gehören in Graz vor allem zwei Architekten  : Eugen Gross (Mitglied der Werkgruppe Graz) entdeckt 1969 das Stadtwerke-Gebäude neu, und Dietrich Ecker (Mitglied des Team A) forscht im Rahmen seiner Dissertation ab Ende der 1970er-Jahre zu Herbert Eichholzer. In dieser 1985 abgeschlossenen Arbeit werden in einem Anhang zu Eichholzers Zeitgenossen erstmals – quasi als Nebenprodukt – auch Eugen Székelys Bauten tabellarisch aufgelistet. Die Publikation dieser rudimentären Liste kann als Zeitpunkt für den Beginn der Kanonkorrektur durch die Nachkriegsforschung bezeichnet werden. 32  | 

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Im Kontext der internationalen Neubewertung der Kultur der Zwischenkriegszeit in den 1980er-Jahren und den ersten Blockbuster-Ausstellungen rückt nun auch die Grazer Architektur der 1920er und 30er-Jahre ins Blickfeld lokaler Kunstinstitutionen. Die von Gertrude Celedin geleitete Ausstellung „Kunst der Zwischenkriegszeit in Graz“ im Stadtmuseum (1988) zeigt erstmals prominent die künstlerischen Qualitäten dieser Epoche und die Rezeption der internationalen Avantgarden auf. Eugen Székely wird von Dietrich Ecker im Architekturteil mit einigen Zeilen und der Charakterisierung als „konsequenter Vertreter der Moderne“34 gewürdigt. Bis heute gibt es allerdings keine wissenschaftliche oder kulturvermittelnde Institution in Graz, die sich konsequent mit der lokalen und regionalen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt.

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Debatten um die Rolle der ÖsterreicherInnen in der Zeit des Nationalsozialismus und einer veränderten Gedenkkultur lässt sich ab Ende der 1980er-Jahre auch eine Veränderung in der Rezeption der in Ständestaat und NS-Zeit verfolgten und vertriebenen Architekten feststellen. Ab nun wird das Moment der Ausgrenzung, Vertreibung und Emigration zum Ausgangspunkt für ein neues Interesse an den künstlerisch-ästhetischen Positionen und den zeithistorischen Implikationen in deren Leben und Werk. Darüber hinaus wird die Exilforschung auch international als neue Ergänzung der Architekturgeschichtsschreibung betrachtet.35 In der Folge entstehen Ausstellungen an verschiedenen Institutionen und Publikationen, die sich als Versuche, ein bestehendes Defizit zu korrigieren, und damit als Eingriffe in hegemoniale Erzählstränge verstehen und immer erst das Ergebnis sowohl des persönlichen Engagements von Einzelpersönlichkeiten als auch der finanziellen Unterstützung durch öffentliche oder private Subventionsgeber sind. Dazu gehören die Ausstellungen zu Franz Singer und Friedl Dicker36 (1988/89), Margarete Schütte-Lihotzky37 (1993) und Herbert Eichholzer38 (1998) sowie die Großausstellungen „Visionäre und Vertriebene. Österreichische Spuren in der modernen amerikanischen Architektur“ 39 (1995) und „Moderne in dunkler Zeit – Widerstand, Verfolgung und Exil bildender Künstlerinnen und Künstler in der Steiermark 1933–1948“40 (2001), in deren Katalog Eugen Székely in Österreich erstmals seit dessen Vertreibung ein Aufsatz gewidmet ist. Durch die Etablierung des Jüdischen Museums Wien im Jahr 1990 entsteht ein neuer Rahmen für die Präsentation vergessener „jüdischer Architekten“ – Oskar Marmorek (1997), Carl König (1999), Ernst Epstein (2002), Oskar Strnad (2007), Josef Frank (2007/08) –, wobei deren „Jüdischsein“ zur Bedingung für die Projektrealisierung wird. Dieser Tendenz zur Fokussierung auf die Opfer der diktatorischen Systeme steht quasi als Negativfolie die Tatsache gegenüber, dass es abgesehen von Einzelstudien in Österreich immer noch keine konsequente und vor allem von öffentlichen Subventionsgebern unterstützte  

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Gegenerzählungen: Erinnerungskultur seit Ende der 1980er-Jahre

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Erforschung der „Täterarchitektur“ bzw. der Rolle der österreichischen Architekten in Ständestaat, Nationalsozialismus und unmittelbarer Nachkriegszeit gibt.41 Die ersten ausführlicheren Texte über Eugen Székely stammen jedoch nicht von österreichischen KunsthistorikerInnen, sondern von der israelischen Architektin Myra Warhaftig (1986 und 1996). Das Auswahlkriterium für die Aufnahme in ihr Buch „Sie legten den Grundstein“ war die Tatsache, dass Székely als deutschsprachiger Architekt nach Palästina emigriert ist und dort im Untersuchungszeitraum vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung des israelischen Staates (1918–1948) gearbeitet hat. Durch Warhaftigs Beiträge wurde – zumindest in Ansätzen – jener Teil von Székelys Werk erschlossen, der bis dahin in Österreich völlig unbekannt war  : jene Bauten, die nach der Emigration im Auftrag der Industriellenfamilie Moller entstanden sind. Auslöser für die umfangreichen Recherchen der in Haifa aufgewachsenen Autorin war der persönliche Befund, dass es bezeichnenderweise Bauten derselben Architekten in Berlin (aus den 1920er-Jahren) und Haifa (aus den 1930er-Jahren) gab, deren Entwerfer von der deutschen Fachliteratur nach 1945 völlig ignoriert wurden.42 Gegenerzählungen dieser Art entstehen aus der Sicht der OpponentInnen eines bestimmten Kanonkonzeptes. Da sie also „von einem herrschenden Kanon provoziert werden, darf man sie als zur Struktur gehörig betrachten“43, wie Renate von Heydebrand im Anschluss an das Symposium „Kanon Macht Kultur“ zusammengefasst hat. Da Gegenerzählungen über vor und während der NS-Zeit ausgegrenzte ArchitektInnen nicht primär von der „Normalität“ im zeitgenössischen Kulturbetrieb und der entwerferischen Qualität ausgehen, sondern auf die Kontextualisierung in der Geschichte von Widerstand und Vertreibung abzielen, bergen sie aber auch die Gefahr der Reduktion der ProtagonistInnen auf ihre Rolle als Vertriebene und Opfer. Der Architekt und Widerstandskämpfer Herbert Eichholzer findet beispielsweise in der Begleitpublikation zur „a_schau. Architektur in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert“ des Architekturzentrums Wien nicht anhand seiner Bauten und der in Österreich außergewöhnlichen Le Corbusier-Rezeption Erwähnung, sondern scheint lediglich in der Liste „Verfolgung und Vertreibung österreichischer ArchitektInnen“44 auf. Abschließend bleibt also die Frage offen, ob die als Korrektur hegemonialer Erzählungen verstandene Verortung der Architekten im neuen Kanon der „widerständigen/ vertriebenen/jüdischen Architekten“ bereits den Keim einer neuen oder die Perpetuierung der alten Ausgrenzung beinhaltet.

Anmerkungen 1 Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 61997, 75–124. – Ders., Über einige Eigenschaften von Feldern, in: Ders., Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 1993, 107–114. 2 Vgl. Thomas Anz, Einführung, in: Renate von Heydebrand (Hg.), Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart–Weimar 1998, 3–8, hier 7. 3 Vgl. Garry Stevens, The favored Circle. The Social Foundations of Architectural Distinction, Cambridge/Mass.–London 1998.

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  4 In Bezug auf die frühe Geschichtsschreibung der Moderne spricht Vittorio Magnago Lampugnani etwa von einer „Historiographie der Ausschließung“, die „immer wiederkehrende Topoi […] durch ihre Wiederholung zu festen Mythen kristallisierten“. Vittorio Magnago Lampugnani, Die Geschichte der Geschichte der „Modernen Bewegung“ in der Architektur 1925–1941: eine kritische Übersicht, in: Ders./ Romana Schneider (Hg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit, Stuttgart 1994, 273–295, hier 273.   5 Anz 1998 (wie Anm. 2), 5.   6 Barbara Lange, Offener Kanon? Erfahrungen aus der Praxis, in: Anke Köth/Kai Krauskopf/Andreas Schwarting (Hg.), Building America. Eine große Erzählung, Dresden 2008, 239–253, hier 240.   7 Paul Betts, Die Bauhaus-Legende. Amerikanisch-Deutsches Joint-Venture des Kalten Krieges, in: Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, 270–290.   8 Nanette Salomon, Der kunsthistorische Kanon – Unterlassungssünden, in: kritische berichte 21 (1993), H. 4, 27–37.   9 Aleida Assmann, Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Heydebrand 1998 (wie Anm. 2), 47–59, hier 48. 10 Ebenda. 11 2009 hat der Deutsche Kunsthistorikerverband den Kanon zum Generalthema seiner Jubiläumstagung erklärt. An der Universität Marburg läuft das vierteilige Forschungsprojekt „Kanonisierung. Wandlungen kunsthistorischer Wertung in ihrer Mediengeschichte und Begriffsbildung“. Vgl. auch die Symposien: „Kanonisierung, Regelverstoß und Pluralität in der Kunst des 19. Jahrhunderts“, Kunsthistorisches Institut der Universität Köln, 2005. – „Kanon: Werke, Prozesse, Diskurse“, Nachwuchskolloquium am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern, 2005. – „Kanonisierung“, Teil IV der Symposiumsreihe „Building America. Eine große Erzählung“, TU Dresden, 2007. 12 Adolph Stiller, Eine Ikone der Nachkriegsmoderne, in: Ders., Oswald Haerdtl. Architekt und Designer. 1899–1959, Salzburg 2000, 141–149, 148. 13 Annette Becker/Dietmar Steiner/Wilfried Wang (Hg.), Architektur im 20. Jahrhundert. Österreich, München–New York 1995. Ottokar Uhl hat bereits 1966 den Bau neben dem Strandbad Gänsehäufel zu den einzigen dem damaligen Maßstab entsprechenden Wiener Bauten seit 1945 gezählt. Ottokar Uhl, Moderne Architektur in Wien. Von Otto Wagner bis heute, Wien 1966, 89. 14 Vgl. zum Beispiel Anne Schmedding, Moderne ohne dritte Dimension, in: Archplus 32 (2002), Nr. 161, 36–44. –Christine Neuhoff, The Villa Tugendhat by Mies van der Rohe – Canon and Autobiography, in: Zum Interpretieren von Architektur. Wolkenkuckucksheim, 13. Jg., H. 1, Mai 2009 (http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/Wolke/wolke_neu/inhalt/de/heft/2008-1.php). 15 Antje Senarclens de Grancy, Eugen Székely, in: Günter Eisenhut/Peter Weibel (Hg.), Moderne in dunkler Zeit – Widerstand, Verfolgung und Exil bildender Künstlerinnen und Künstler in der Steiermark 1933–1948, Ausst.kat., Graz 2001, 454–463. 16 Weitere Archivfotos sind Zufallsaufnahmen, die auch andere Aspekte des Gebäudes bzw. dessen Zerstörung zeigen. Sie wurden erst im Rahmen des aktuellen Buchprojektes als „rezeptionswürdig“ erachtet, da sie über die Entstehungsgeschichte und architektonische Qualität hinaus auch andere Erzählstränge und Kontexte des Baus dokumentieren. 17 Salomon 1993 (wie Anm. 8). 18 Rudolf Hofer, Fritz Haas, Bruno Fiedler, Rudolf Giendl u. a. 19 Die Plastiken stammten von dem Keramiker Hans Adametz. 20 Dass der Ausschluss der flach gedeckten Bauten hingegen nicht aus ästhetischen Gründen vollzogen wurde, zeigt die Tatsache, dass durchaus einige Bauten mit Flachdächern präsentiert werden. 21 Myra Warhaftig, Sie legten den Grundstein. Leben und Wirken deutschsprachiger jüdischer Architekten in Palästina 1918–1948, Berlin 1996, 300. 22 Vgl. Renate von Heydebrand, Kanon Macht Kultur – Versuch einer Zusammenfassung, in: Heydebrand 1998 (wie Anm. 2), 612–625, hier 616. 23 Hans Riehl, Die bildende Kunst in der Steiermark von etwa 1790 bis zur Gegenwart, in: Bildende Kunst in Österreich, o. O. 1943, 86–123, 94. 24 Stiller 2000 (wie Anm. 12), 148. 25 Zumindest in Ansätzen berücksichtigt diese Publikationsreihe seit den 1970er-Jahren auch die Architektur des 20. Jahrhunderts mit. 26 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Salzburg–Wien 1980 ff. 27 Nachfolgepublikationen machen diese Öffnung des Kanons wieder rückgängig, indem sie nicht die lokalen und regionalen Felder mit ihren jeweils spezifischen Dynamiken und Prioritäten mitberücksichtigen: Becker/Steiner/Wang 1995 (wie Anm. 13). – Architektur in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert, hg. v. Architekturzentrum Wien, Basel–Boston–Berlin 2006. 28 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Kärnten, Steiermark, Burgenland, Salzburg–Wien 1983, 286. 29 Ulrich Thieme/Felix Becker (Hg.), Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 32, Leipzig 1938, 373. 30 Hans Vollmer, Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts, Bd. 4, Leipzig 1958, 402. 31 Etwa Fritz Haas, der Pläne für die NS-Gauhauptstadt Graz entworfen hat, und Rudolf Hofer, der 1939 das Anschlussdenkmal in Ober-

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schützen geplant hat. Der Architekt und Widerstandskämpfer Herbert Eichholzer wurde im Stadtlexikon hingegen als zum Kanon gehörig betrachtet und erhielt einen Eintrag. Günter Eisenhut/Peter Weibel (Hg.), Moderne in dunkler Zeit – Widerstand, Verfolgung und Exil bildender Künstlerinnen und Künstler in der Steiermark 1933–1948, Ausst.kat., Graz 2001. Ein bedeutender Faktor der Wiederentdeckung bestimmter Kunstepochen ist der zeitliche Abstand, wie sich aktuell an der vor etwa einem Jahrzehnt in Gang gekommenen Wiederentdeckung der „Nachkriegsmoderne“ der 1950er bis 1970er-Jahre nachvollziehen lässt. Dietrich Ecker, Die moderne Architektur der Zwanziger- und Dreißigerjahre in Graz, in: Indianer. Kunst der Zwischenkriegszeit in Graz, Ausst. kat., Grazer Stadtmuseum, Graz 1988, o. S. Bernd Nicolai, Moderne und Exil. Deutschsprachige Architekten in der Türkei 1925–1955, Berlin u. a. 1998. – Bernd Nicolai/Charlotte Benton (Hg.), Architektur und Exil: Kulturtransfer und architektonische Emigration 1930 bis 1950, Trier 2003. Franz Singer – Friedl Dicker, hg. v. Hochschule für angewandte Kunst in Wien, Ausst.kat., Wien 1988. Peter Noever (Hg.), Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Wien–Köln–Weimar 1993. Heimo Halbrainer (Hg.), Herbert Eichholzer 1903–1943. Architektur und Widerstand, Graz 1998. Matthias Boeckl (Hg.), Visionäre und Vertriebene. Österreichische Spuren in der modernen amerikanischen Architektur, Ausst.kat., Wien 1995. Eisenhut/Weibel 2001, (wie Anm. 32). Die Ansätze der 1994 von Jan Tabor kuratierten Ausstellung „Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922–1956“ wurden (zu den Ausnahmen gehört die Ausstellung „,Kulturhauptstadt des Führers‘. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich“ in Linz 2008/09) nicht konsequent weitergeführt. Zwei Symposien, die beide aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den heutigen Umgang mit dem materiellen Erbe des Nationalsozialismus fokussiert haben, bilden einen möglichen Ausgangspunkt für künftige Forschungsprojekte: „Erbe verweigert. Österreich und NS-Architektur“ (Wien 2006) und „Disturbing Remains. Der Umgang mit den materiellen Überresten des Nationalsozialismus“ (Mauthausen/Linz 2009). Myra Warhaftig, Vorwort, in: Dies., Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933 – Das Lexikon, Berlin 2005, 11. Aus dieser Liste fällt Eugen Székely heraus, da er kein Architekt aus dem Deutschen Reich, sondern „nur“ deutschsprachig war. Heydebrand 1998 (wie Anm. 22), 616. Architektur in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert, hg. v. Architekturzentrum Wien, Basel–Boston–Berlin 2006, 122. Ebenso erhält Eugen Székely einen Eintrag als „deutschsprachiger Exilarchitekt“ auf einer Internetseite des Instituts für Kunstgeschichte der Technischen Universität Karlsruhe: http://www.ikg.uni-karlsruhe.de/projekte/exilarchitekten.

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Heidrun Zettelbauer

EIN LEBEN ERZÄHLEN

„Wenn ich daran denke, über mein Leben zu schreiben, hat das mit Ordnen zu tun, mit Formgebung, auch wenn ich mir der Schwierigkeiten und Einschränkungen eines solchen Unternehmens völlig bewusst bin. Als Geschichtswissenschaftlerin, die über das Leben anderer forscht, beginnt man mit der Suche nach Dokumenten, den förmlichen Zeugen des persönlichen Lebens. Dokumente sind vorhanden und bescheinigen ihre eigene Existenz. Doch alles Übrige ist eine Auswahl, es ist der Fleckerlteppich des Lebens, den eine Person hinterlassen hat, etwas, das zufällig oder absichtlich vor dem täglichen Verfall gerettet wurde. Es sind die Briefe, die man nicht verbrannt hat, die Ideen, die nicht verworfen wurden, die Fotos, die man nicht verschenkt hat oder in einem feuchten Keller vermodern ließ. Die Historikerin beginnt mit diesen Dingen, und die Versuchung ist groß, sie für das Leben selbst zu halten, ihnen Bedeutung zuzuschreiben, nur weil sie nicht verloren gegangen sind.“1

BLICKACHSEN

Biografie, Geschichte, Erinnerung

In ihrer 2009 unter dem Titel Feuerkraut erschienenen politischen Autobiografie thematisiert die Historikerin Gerda Lerner zentrale Aspekte biografischer Arbeit  : das Aufspüren von Spuren eines Lebens, das Sichten zufällig oder absichtlich erhaltener Dinge, das Ordnen und Strukturieren und schließlich die Aneinanderreihung der biografischen Fragmente in ein Ganzes, eine kohärente und lineare Erzählung. Die in Wien geborene Gerda Lerner wuchs in den 1920er-Jahren in einer bürgerlichen jüdisch assimilierten Familie auf. Schon früh entwickelte sie ein kritisches politisches Bewusstsein und engagierte sich im kommunistischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten. 1939 gelang ihr die Flucht vor den Nazis in die USA, wo sie später als Geschichtsprofessorin und eine der Begründerinnen der Frauen- und Geschlechtergeschichte Karriere machen sollte. Gerda Lerners Lebenslauf überschneidet sich in vielen Punkten mit den Lebensverläufen von Alexander und Bruno Zerkowitz, Eugen Székely und Franz Schacherl und ihrer Familien  : eine Kindheit in Zentraleuropa mit vielschichtigen Beziehungen in die verschiedensten Teile der Habsburgermonarchie, ein jüdisch-bürgerliches Herkunftsmilieu, ein kulturell assimiliertes Elternhaus, in dem Wert auf eine gute Ausbildung der Kinder gelegt wurde. Zugleich unterscheidet sich ihre Biografie von den hier betrachteten Lebensverläufen aber auch in vielen zentralen Aspekten  : zwar teilte Lerner etwa mit Franz Schacherl eine gemeinsame intellektuelle und politisch linke Einstellung, jedoch begeisterte sie sich nicht – wie offenbar Eugen Székely – für zionistische Ideen. Sie gehörte – im  

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Vergleich zu Alexander Zerkowitz – einer deutlich jüngeren Generation an und war zudem als Historikerin beruflich in einem gänzlich anderen Feld tätig als die genannten Baumeister und Architekten. Was Gerda Lerners Biografie mit den Lebensverläufen von Alexander Zerkowitz, seines Sohnes Bruno, Eugen Székely und Franz Schacherl und ihrer Familien letztlich jedoch verschränkt, sind einerseits die Konfrontation mit antisemitischen Ausgrenzungsmustern im Österreich der Zwischenkriegszeit sowie andererseits ein einschneidender biografischer und familiärer Bruch 1938  : die Verfolgungsgeschichte durch die Nationalsozialisten, die im März 1938 mit dem ‚Anschluss‘ Österreichs und der Machtergreifung der Nazis in die Wege geleitet wurde. Zwei Eckpunkte, die auch die hier betrachteten Lebensläufe miteinander verbinden. In ihren zitierten Überlegungen zur biografischen Arbeit nimmt Gerda Lerner eine doppelte Perspektive ein – zum einen jene, die eigene Biografie zu Papier zu bringen, zum anderen jene, als Historikerin einen Blick auf den Prozesscharakter biografischer Arbeit zu lenken. Lerner verweist dabei auf eine Gefahr des Schreibens von Biografien – die Illusion, die erzählte Geschichte für das beschriebene Leben selbst zu halten. Sie lenkt den Blick damit auf grundlegende Fragen des Erzählens von Biografien, Erinnerungen und Geschichte. Wie kann man sich überhaupt der Aufgabe, ein Leben zu erzählen, annähern  ? Was passiert im Prozess biografischer Rekonstruktion, wenn zufällig erhaltene Spuren und Fragmente plötzlich als Symbol für ein ganzes Leben stehen  ? Welche Position hat die Erzählerin inne, die die einzelnen Dokumente auswählt, ihnen Bedeutung verleiht und sie als lineare, kohärente Geschichte anordnet  ? Welche historischen Kontexte gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich biografisch einer Person annähert  ? Und welche individuellen biografischen Erfahrungen geben Aufschluss über historische Ereignisse und ihre spezifischen Dimensionen  ?

Fragmentierte Lebensgeschichten – Spuren und Re/Konstruktionen Über eine Lebensgeschichte zu sprechen, setzt mindestens voraus, „dass das Leben eine Geschichte ist und dass […] ein Leben unauflöslich das Gesamt der Ereignisse einer individuellen Existenz ist, aufgefasst als Geschichte und als die Erzählung ­dieser Geschichte. Genau dies sagt die Alltagsvorstellung aus […], die das Leben als Weg, Straße, Karriere mit ihren Kreuzungen […], ihren Gefährdungen, zumal ihren Hinterhalten […], beschreibt, oder als ein Weitergehen, […] einen Weg, den man macht, und der gemacht werden muss, eine Strecke, ein Wettrennen, Kursus, Passage, vorgezeichneter Parcours, eine lineare Bewegung, mit einer Richtung […], bestehend aus einem Anfang (‚einem Eintritt ins Leben‘), Abschnitten und einem Ende im doppelten Sinn, nämlich im Sinn von Ziel […] und im Sinne von Ende der Geschichte“2, schreibt Pierre Bourdieu in Die biografische Illusion. Die Biografin, der Erzähler organisiert das erzählte Leben als eine Geschichte, die sowohl eine chronologische als auch 38  | 

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eine logische Ordnung abbildet und von der Sinnhaftigkeit, einer retrospektiven und prospektiven Logik ausgeht, meist Konsistenz und Konstanz betont und Beziehungen, Folgewirkungen, Ursachen zumeist als Etappen einer ‚notwendigen‘ Entwicklung ausmacht. Diese konstruierte Logik und Ordnung – so Pierre Bourdieu – ist jedoch eine rhetorische Illusion. Tatsächlich lässt sich die ‚Wirklichkeit eines Lebens‘ nur als „diskontinuierlich“ fassen, „geformt aus nebeneinandergesetzten Elementen ohne Grund, deren jedes einzigartig ist, umso schwieriger zu fassen, als sie immer unerwartet auftauchen, unpassend, zufallsbedingt.“3 Für Bourdieu bringt gewissermaßen erst das Schreiben einer Biografie ein Leben als ‚Ganzes‘ hervor und schafft auf ­diese Weise Kohärenz und Kontinuität, dort wo sich Lebenswirklichkeiten tatsächlich häufig widersprüchlich und fragmentiert gestalten. Folgt man Pierre Bourdieu in seiner Argumentation, so kann das Ziel historisch-kulturwissenschaftlich orientierter biografischer Arbeit nicht länger eine möglichst vollständige Rekonstruktion eines Lebensverlaufs sein oder die Beschreibung einer teleologischen Entwicklung eines Menschen, sondern im Gegenteil gerade die Berücksichtigung der Fragmentiertheit und Inkonsistenz, der Brüche und Diskontinuitäten eines Lebens. Ins Blickfeld geraten Leerstellen und Lücken einer Lebensgeschichte, die sich (aus verschiedenen Gründen) eben nicht mehr rekonstruieren lassen  : sei es, weil Erinnerungen gewaltsam aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeschlossen wurden, weil Spuren bewusst zerstört oder vernichtet wurden, oder sei es, weil materielle und immaterielle Spuren ohne dahinter liegenden Zweck in Verlust geraten oder ganz zufällig verschwunden sind. Die Suche nach materiellen und immateriellen Lebensspuren und der Versuch der Rekonstruktion einer Lebensgeschichte kann damit immer nur eine Annäherung sein, muss immer skizzenhaft, schlaglichtartig, fragmentarisch und punktuell bleiben. Unter einer solchen Perspektive rücken wiederum narrative Strukturen, gesellschaftliche, politisch-kulturelle und soziale Diskurse in den Blick, in die das Handeln und die Selbstdefinitionen von Menschen eingebettet sind. Kulturwissenschaftliche Biografieforschung lenkt den Blick damit sowohl auf selbst gewählte als auch auf fremdbestimmte Positionen und Positionierungen von Menschen in gesellschaftlichkulturellen Feldern.4

Spuren des Kollektiven im Individuellen – kulturelle ­Milieus, soziale Räume, historische Bezüge Privates ist durchdrungen von gesellschaftlichen und politischen Strukturen, daher ist die Analyse konkreter Lebensverhältnisse und Erfahrungen, die Menschen im Alltag und im Lauf ihres Lebens machen, geradezu prädestiniert dafür, diese Strukturen sichtbar zu machen.5 Die individuelle Biografie einer Person verweist demnach immer auch auf ihr Gegenstück, auf gesellschaftlich-kulturelle Zusammenhänge, auf  

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Franziska, Josef und Vera Motschnik, eine der Siedlerfamilien der Stadtrandsiedlung Amselgasse, August 1933

kollektive Identitäten und soziale Beziehungen im Rahmen der sie umgebenden kulturellen Räume. Auf diese Weise ist die Frage nach individueller Identität, nach einem subjektiven Lebensentwurf immer auch mit der Suche nach kollektiven Identitätsmustern und gesellschaftlich-kulturellen Referenzsystemen verschränkt. Nur wenn ein individueller Lebensverlauf an breitere kulturelle Prozesse rückgebunden wird, können Vorstellungen gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Mitgliedschaft sowie soziale Schließungsprozesse ausgemacht werden.6 Zwar verbieten Biografien mit Peter Alheit pauschale Generalisierungen über gesellschaftliche Verhältnisse, denn biografische Settings könnten niemals auf statistische Repräsentativität abzielen, allerdings lassen sich im Betrachten von individuellen Lebensverläufen und -entwürfen historisch identifizierbare kulturelle ‚Milieus‘ abbilden und miteinander vergleichen. Eine solche Abbildung ‚biografischer Erfahrungslandschaften‘ ist zwar immer vielschichtig, aber dennoch lassen sich Hintergrundorientierungen identifizieren, die über Einzelschicksale hinausweisen – Alheit spricht in dem Zusammenhang mit Norbert Elias von sogenannten ‚Mentalitätskonfigurationen‘.7 Zugleich ermöglicht die Betrachtung eines individuellen Lebensverlaufes die Anbindung an historische Kontexte und eine Analyse der Frage, wie geschichtliche Ereignisse auf Subjekte wirken und wie diese im Laufe eines Lebens ver- und bearbeitet 40  | 

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werden. In diesem Sinn geht es bei einem biografischen Blick auf die Geschichte immer auch um das Aufzeigen der komplexen Verbindungen von (geschichtlichen) ‚Ereignissen‘ und ‚Erfahrungen‘ in einem Leben, darum, durch eine präzise Analyse von historischen Entstehungsbedingungen soziale Handlungen versteh- und erklärbar zu machen. In den Blick genommen wird auch in historischer Perspektive das Zusammenspiel von Diskursen, sozialen Handlungspraktiken und individuellem Handeln – kurz lebensgeschichtliche Prozesse der Internalisierung der sozialen Welt im Individuum. Gerda Lerners Auseinandersetzung mit Biografien verweist darauf, dass es nicht zuletzt als das Verdienst der historischen Frauen- und Geschlechterforschung gewertet werden kann, neue theoretisch-methodische Zugangsweisen zur Biografieforschung zu einem aktuellen Forschungsgegenstand gemacht zu haben. In der Frauenforschung hatte biografische Arbeit lange Zeit als Instrument gedient, um im Sinne einer contribution history, die Perspektive von bislang ausgeblendeten Frauen in die jeweiligen Disziplinen einzuschreiben und den Kanon um ‚übergangene‘ Künstlerinnen, Wissenschafterinnen oder Politikerinnen zu ergänzen. Zwar wirkte die Einbeziehung nicht-kanonisierter Viten und Werke auch auf produktive Weise dezentrierend und ermöglichte Erkenntnisse jenseits linear gedachter ‚Fortschrittsgeschichten‘, allerdings trugen die auf diese Weise neu eingeschriebenen Figuren jedoch vielfach die Attribute eines patriarchal geprägten Bildes vom Leben des großen Einzelnen in sich und machten die so betrachteten AkteurInnen auf die gleiche Weise zu HeldInnen oder MärtyrerInnen.8 Neuere biografische Forschungsansätze in den Gender Studies haben jedoch den Fokus ihrer Analysen deutlich verschoben. Stärker als bisher wird Biografieforschung als Medium der Sichtbarmachung der Strukturen gesellschaftlicher Verhältnisse und nicht mehr nur des Lebens und der Perspektive von Frauen betrachtet. Vielmehr geht es um vergleichende Analysen, um die Wechselwirkungen von individuellen Lebensverläufen zwischen historischer Situiertheit in bestimmten sozialen Feldern und grundlegenden gesellschaftlichen Positionierungen, um Elemente der Anpassung, des Widerstands, um Netzwerke, um biografische Brüche, Diskontinuitäten und Konfliktlinien, um gesellschaftlichkulturelle Leit- und Rollenbilder, um Umwege und Besonderheiten eines Lebens. Eine solcherart reformulierte Biografieforschung beleuchtet immer auch das komplizierte und komplexe Wechselspiel von Konstruktion und Repräsentation, die Differenz von ‚gelebtem‘ und ‚gemachtem‘ (also retrospektiv erzähltem, beschriebenem) Leben. Auf diese Weise bieten Lebensgeschichten die Chance, Individuelles, Singuläres und Privates sowohl als Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, als auch als einen „Ort, an dem diese gelebt werden, lebendig sind und lebendig gemacht werden.“9 Unter dem Stichwort Reifikation wurde in den Gender Studies intensiv diskutiert, inwieweit gerade die Frage nach ‚weiblicher‘ und ‚männlicher‘ Erfahrung und dementsprechend nach geschlechtsspezifischen Lebensentwürfen und -verläufen nicht

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gerade erst die Voraussetzung dafür schafft, dass derart eindeutige, dualistische Differenzen gesellschaftlich hergestellt werden. Gerade die selbstkritische Analyse zeigt, dass die empirische Geschlechterforschung in vielen Studien den Gegenstand ihrer Untersuchungen, nämlich eine dualistisch konzipierte Kategorie Geschlecht selbst produziert, zumindest verstärkt oder überfokussiert hat.10 Überträgt man diese Kritik auf Versuche der Rekonstruktion biografischer Spuren der hier fokussierten Baumeister und Architekten, so heißt dies, besonderes Augenmerk auf Prozesse einer vorschnellen Homogenisierung und Pauschalisierung von individuellen Lebensentwürfen zu legen. Gerade die starke Tradition antisemitischer Ausgrenzungsmuster, die bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurückreichen, sowie die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung, Beraubung und Vernichtung von jüdischen GrazerInnen hat lange Zeit Prozesse der Homogenisierung jüdischer Geschichte und der Lebensverläufe jüdischer GrazerInnen begünstigt. Eine Beschäftigung mit biografischen Spuren, die gerade auf Kontextualisierung und Historisierung von Lebensbedingungen und -entwürfen abzielt, verweigert sich einer solchen Homogenisierung und kann im Gegenteil zu einer adäquaten Differenzierung jüdischer Lebenswelten in verschieden Zeiten führen. So hat etwa auch Bettina Dausien darauf hingewiesen, dass sich biografisches Material in der Analyse zumeist gegen einfache Typisierung sperrt und eine Differenzierung homogenisierender und zumeist dualistischer Differenzkonzepte (wie etwa ‚männlich‘/‚weiblich‘ oder ‚Juden‘/‚Nicht-Juden‘) geradezu erzwingt.11 Die hier skizzierten Ansätze ermöglichen eine Parallelisierung von Biografieforschung in der Geschlechterforschung mit jener in der jüdischen Geschichte. Sich mit den Biografien der ausgewählten vier Grazer Architekten und Baumeister zu befassen, deren Leben unter anderem durch die Erfahrung antisemitischer Ausgrenzungsmuster und durch das gemeinsame Band der NS-Verfolgungsgeschichte zusammengehalten werden, setzt sich demnach gerade nicht zum Ziel, einen „jüdischen Beitrag“ zur Grazer Architekturgeschichte herauszuarbeiten oder diese zu „ergänzen“ oder zu „vervollständigen“. Vielmehr geht es darum, über den Weg biografischer Arbeit Beziehungen in sozialen Räumen herauszuarbeiten, Kontexte zu beleuchten, in denen das Leben der betrachteten Personen verlief, und auf diese Weise die jeweils individuellen Lebensgeschichten zu historisieren, das heißt, sie in ihrer historischen Positioniertheit und Situiertheit zu begreifen. Es geht nicht länger darum, von abgeschlossenen, jüdischen Identitäten (individuell und kollektiv) auszugehen, sondern gerade darum, jüdische/nicht-jüdische Geschichte als (historisches) Beziehungsgeflecht zu begreifen.

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Zunächst gilt es also, sich mit jenen sozialen Räumen zu befassen, die ein Leben rahmen, mit den historischen und kulturellen Kontexten, sozialen Oberflächen, Positionen und Positionierungen, Platzierungen und Deplatzierungen im Raum, mit kulturellen, politischen und ökonomischen Koordinaten, Machtverhältnissen und Achsen sozialer Ungleichheit, in die ein Leben immer eingebettet ist. Denn wer würde – so Pierre Bourdieu – „je davon träumen, sich eine Reise vorzustellen, ohne eine Idee von dem Land zu haben, in dem sie sich ereignet  ?“12 Eine solche Rückbindung an die sozialen Räume lenkt den Blick auf Aspekte der Grazer Stadtgeschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit und damit auf einen Raum und eine Epoche, in denen sich für eine bestimmte Zeit das Leben der hier fokussierten Personen ereignete. Ins Blickfeld rücken sowohl Prozesse der Integration der jüdischen BürgerInnen – sichtbar nicht zuletzt an Prozessen der Institutionalisierung – seit den späten 1860er-Jahren13 sowie eine deutliche Ausdifferenzierung jüdischen Lebens nach dem Ersten Weltkrieg.14 Zugleich verweist die Kontextualisierung und Historisierung der Lebensverläufe auf eine starke Kontinuität antisemitischer Rhetoriken und anti-jüdischer Ausgrenzungsmuster und -praktiken seit den 1880er-Jahren auf, welche in hohem Maß die kulturellen Leitbilder und die konkrete Grazer Stadtpolitik bis zum Ersten Weltkrieg bestimmten15 und in der Zwischenkriegszeit häufig in offener Bedrohung von, Terroraktionen gegen und schließlich mit 1938 in der Verfolgung, Vertreibung, Beraubung und häufig auch Ermordung jüdischer GrazerInnen mündeten.16 Schließlich macht gerade eine verschränkte Analyse der Ausdifferenzierungen jüdischen Lebens im Graz der Zwischenkriegszeit einerseits und der Kontinuitätslinien antisemitischer Ausgrenzungsprozesse andererseits zugleich deutlich, dass es gerade im Rahmen biografischer Rekonstruktionen darum gehen muss, jüdische/nicht-jüdische Geschichte als Beziehungsgeschichte zu begreifen.17 Eine Betrachtung der historischen Kontexte rückt zugleich politischsoziale Bewegungen – etwa die entstehende Arbeiterbewegung, die sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg ausdifferenzierte und mit Konzepten der Lebensreform verband,18 sowie urbane Bezugsräume, die sich als zentrale Koordinaten für soziale Netzwerke erwiesen – ins Blickfeld. In den Biografien der vier Baumeister bzw. Architekten verkreuzen sich also soziale Räume und historische Ereignisse. Dass ihre Lebensverläufe damit wie skizziert gewissermaßen eine Schnittstelle kollektiver wie individueller Erfahrung widerspiegeln, wird als Vorspann19 zu den Biografien der vier Architekten im Anhang exemplarisch anhand der genannten vier Aspekte näher besprochen werden, welche das Leben von Alexander und Bruno Zerkowitz, Eugen Székely und Franz Schacherl in je bestimmter Weise strukturierten. Sich den Baumeistern und Architekten biografisch anzunähern, bedeutet demnach auch danach zu fragen, wie sich ihre Lebensverläufe zu den genannten politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten und his 

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Biografien im sozialen Raum – Historisierung und ­Kontextualisierung

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torischen Rahmenbedingungen verhielten, wie sie sich selbst positionierten, welche Erfahrungen sie individuell mit strukturellen Rahmenbedingungen machten. Das bedeutet sowohl Fragen nach Gleichheiten und Ähnlichkeiten aufzuwerfen, als auch Differenzen und Gegenläufigkeiten in ihren Lebensverläufen ins Blickfeld zu rücken.

Kulturelles Erinnern/Vergessen und das Erzählen von Geschichte/n „Schreibt man über das eigene Leben einfach um das Durcheinander zu entwirren, um Einzelheiten wahrzunehmen bis ein Muster erkennbar wird – oder um Bedeutung zu finden  ? Eine Bedeutung, die über das Ereignis des eigenen Lebens hinausgeht, die sich anderen Menschen erschließt, sodass man nicht nur feststellt, dies und jenes ist mir passiert, sondern, dies ist die Bedeutung dessen, was mir widerfahren ist  ? Ein fragwürdiges Unternehmen, zweifellos, denn es ist etwas, das mit dem eigenen Leben zu Ende geht, unvermeidlich subjektiv und durch die eigenen Vorurteile beeinflusst. Man hört nicht auf, die Vergangenheit im Licht gegenwärtiger Einsichten umzugestalten, und daher ist das, was man niederschreibt, keine Sammlung von Tatsachen, sondern eine Geschichte. Ein erklärender Mythos im schlimmsten Fall, eine unterhaltsame Erzählung im besten. Es muss kein unehrenhaftes Unterfangen sein  ; man kann bei der Suche nach der Wahrheit bleiben ohne die Illusion, sie auch finden zu können. […] Ich würde gerne die Geschichten erzählen und dabei das Muster erkennen, das aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht.“20

In ihrer Auseinandersetzung mit dem Prozess des Schreibens von Lebensgeschichten nimmt Gerda Lerner verschiedene Fäden auf  : die Muster und Bedeutungen eines Lebensverlaufs, die über das Individuelle hinausgehen  ; den Versuch einer biografischen Annäherung an historische Ereignisse ohne der Illusion zu verfallen, das Ergebnis seien ‚Tatsachen‘  ; und schließlich die Anbindung der erzählten Geschichte/n an die Gegenwart, das heißt die unauflösliche Verschränkung eines Blicks auf die Vergangenheit unter einer gegenwärtigen Perspektive. Das gesellschaftspolitische Klima in Österreich nach 1945, der kollektive Wunsch nach einem Vergessen, Verdrängen und Ausblenden der eigenen Involviertheit in die Geschichte der Ausgrenzung, Vertreibung und Verfolgung der jüdischen GrazerInnen entfaltet Wirkung bis in die Gegenwart und bildet den Hintergrund dafür, dass viele Aspekte der jüdischen Geschichte von Graz lange Zeit vergessen blieben und nach wie vor zentrale Forschungsdesiderate bestehen. Das restriktive kulturelle Klima bildete zugleich den Hintergrund für die schwierige Situation von Juden/ Jüdinnen in Österreich wie in Graz nach dem Krieg wieder Fuß zu fassen. Erst im Zuge der gesellschaftspolitischen Veränderungen in den 1980er-Jahren rückten bislang verborgene historische Aspekte ins Blickfeld. Dies lenkt die Aufmerksamkeit ganz generell auf die Prozesse des Erinnerns, Ausblendens und Erzählens von Geschichte. 44  | 

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Gesellschaften konstruieren und formen ihre Ge­schichte/n unter jeweils wechselnden Bezugsrahmen immer wieder neu.21 Sie beziehen sich selektiv auf ganz bestimmte Aspekte ihrer ‚eigenen Geschichte‘, wobei das Erinnern immer mit dem Vergessen anderer Gesichtspunkte einhergeht, die als nicht relevant erachtet, unbewusst vergessen oder ganz explizit verdrängt werden. Erinnern und Vergessen spiegeln (gewissermaßen als zwei Seiten ein und derselben Medaille) dabei immer gesellschaftliche Machtverhältnisse wider, sie dokumentieren kulturelle Hegemonien. Was als herausragender Bestandteil des ‚kulturellen Erbes‘ einer Stadt betrachtet wird, was als erinnernswürdig befunden wird, was ins öffentliche Gedächtnis im Bereich Kunst, Kultur, Politik und Geschichte eingeschrieben ist, was vergessen bleibt oder ausgeblendet wird, bildet historische und aktuelle Prozesse gesellschaftlicher Einbindung/Zugehörigkeit sowie Ausgrenzung/Ausschluss ab. Im Rahmen ihrer Erinnerungskultur wird eine Gesellschaft selbst sichtbar. Was sie erinnert (und vergisst), ist immer ein Spiegel ihrer selbst und hat zugleich sinnstiftende Funktion.22 Die hier erinnerten Biografien lenken den Blick auf soziale Räume, historische und aktuelle Kontexte, das Projekt als Ganzes geht allerdings noch einen Schritt weiter. Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit dem Leben der vier Architekten bzw. Baumeister sind die heute noch sichtbaren und häufig auch nicht mehr sichtbaren Spuren, die fragmenthaft von ihren individuellen Lebensverläufen zeugen, aber auch auf Spuren des Kollektiven verweisen. Alle diese Spuren erzählen vieles, aber sie sprechen nicht für sich  ! Die ausgewählten Bauwerke, die als Kristallisationspunkte dienen (können), verweisen auf die vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Geschichten, die in ihnen eingeschrieben sind. Sie verweisen darauf, was erinnert und erzählt, was vergessen und ausgeblendet ist, was verloren ging und nicht mehr rekonstruiert werden kann. Das Leben der vier hier fokussierten Architekten kann in kulturelle historische wie zeitgenössische Diskurse einbettet werden, zugleich macht gerade eine Auseinandersetzung mit den fragmentierten Spuren ihres Lebens auch die Bruchstückhaftigkeit und die Leerstellen in der Überlieferung sichtbar. Es verhält sich mit den Spuren und biografischen Skizzen wie mit dem Erzählen von Geschichte, die immer nur in Bruchstücken und Fragmenten beleuchtet werden kann und die sich nur in ausgewählten Kontexten eines Ganzen erschließen lässt. Das Ganze der Geschichte entzieht sich jedoch jeder Vollständigkeit.23 Oder in den Worten Gerda Lerners  : „Es gibt noch einen anderen Grund [eine Lebensgeschichte zu erzählen, erg. HZ]  : unsere Verbindung mit den Toten und unsere Verantwortung ihnen gegenüber. Während wir leben und älter werden, blieben die Toten für immer jung. Niemand hat sie älter gekannt als sie zum Zeitpunkt ihres Todes waren, und wir, die wir altern, scheinen uns dadurch immer weiter zu entfernen. Doch ihre Unsterblichkeit ist in uns – solange es Menschen gibt, die sich an die Toten erinnern, so lange leben die Toten fort. Das ist ein hoffnungsvoller Gedanke  

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[…,] [d]enn die Toten leben nicht unverändert weiter  ; sie bleiben lebendig und verändern sich, weil sich das Gedächtnis der Lebenden, in dem sie fortleben, auch verändert. Die Lebenden entscheiden, woran sie sich erinnern, und sie suchen sich das aus, was für sie in der Beziehung mit den Toten von Bedeutung war. Wenn sich die Lebenden verändern, verändert sich ihre Erinnerung an die Toten mit […]. Es ist ähnlich dem Prozess der Neuinterpretation historischer Ereignisse aus Sicht der heute Lebenden.“24

Anmerkungen 1 Gerda Lerner, Feuerkraut. Eine politische Autobiographie, Wien 2009, 11. 2 Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Erika M. Hoerning (Hg.), Biographische Sozialisation (= Der Mensch als soziales und personales Wesen 17), Stuttgart 2000, 51–60. 3 Alain Robbe-Grillet, Le miroir qui revient, Paris 1984, 208, zit. n. Bourdieu 2000 (wie Anm. 2), 53. 4 Vgl. Bourdieu 2000 (wie Anm. 2), 51–60. 5 Vgl. Bettina Dausien, Repräsentation und Konstruktion. Lebensgeschichte und Biographie in der empirischen Geschlechterforschung, in: Sabine Brombach/Bettina Wahrig (Hg.), LebensBilder. Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies, Bielefeld 2006, 179–211, hier 181. 6 Vgl. Bettina Dausien/Helma Lutz/Gabriele Rosenthal/Bettina Völter, Einleitung, in: Bettina Völter/Bettina Dausien/Helma Lutz/Gabriele Rosenthal (Hg.), Biographieforschung im Diskurs, Wiesbaden 2005, 7–20, hier 14–15. 7 Vgl. Peter Alheit, Biographie und Mentalität: Spuren des Kollektiven im Individuellen, in: Völter et. al. 2005 (wie Anm. 6), 21–45, hier 21–22.   8 Sabine Brombach/Bettina Wahrig, LebensBilder: Vorüberlegungen zu einer notwendigen interdisziplinären Debatte. In: Brombach/Wahrig 2006 (wie Anm. 5), 7–19, hier 9–11.   9 Vgl. Dausien 2006 (wie Anm. 5),181. 10 Vgl. ebenda, 85. Vgl. Regine Gildemeister/Angelika Wetterer, Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in: Gudrun Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg im Breisgau 1992, 201–254. 11 Dausien 2006 (wie Anm. 5), 187, Fußnote 10. 12 Bourdieu 2000 (wie Anm. 2), 59. 13 Gerald Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 8), Innsbruck–Wien–Bozen 2007. 14 Vgl. Gudrun Reitter, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, in: Dieter A. Binder/Gudrun Reitter/Herbert Rütgen, Judentum in einer antisemitischen Umwelt. Am Beispiel der Stadt Graz 1918 – 1938, Graz 1988, 85–124. – Vgl. auch: Heimo Halbrainer, „Keine ausschließliche Turn- und Sportbewegung“. Jüdischer Sport in der Steiermark am Beispiel des Jüdischen Turnvereins ‚Makkabi‘ und der ‚Hakoah‘. In: Gerald Lamprecht (Hg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 5), Innsbruck–Wien–Bozen 2004, 171–190. Oder: Robert Breitler, B’nai B’rith in Graz. Zur Sozialgeschichte des Grazer jüdischen Bürgertums in der Zwischenkriegszeit, in: Lamprecht 2004 (wie Anm. 14), 191–208. 15 Heidemarie Uhl, „Bollwerk deutscher Kultur“. Kulturelle Repräsentationen nationaler Politik in Graz um 1900, in: Dies. (Hg.), Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900, Wien 1999, 39–82. 16 Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, UnSichtbar. NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Steiermark, Graz 2008, 26–31, 17 Vgl. etwa Kirsten Heinsohn/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der Deutschen Juden 28), Göttingen 2006. 18 Vgl. Robert Hinteregger/Karl Müller/Eduard Staudinger (Hg.), Auf dem Weg in die Freiheit. Anstöße zu einer steirischen Zeitgeschichte, Graz 1984. – Vgl. auch Robert Hinteregger/Karin Schmidlechner/Eduard Staudinger, Für Freiheit, Arbeit und Recht. Die Steirische Arbeiterbewegung zwischen Revolution und Faschismus (1918–1938), Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Wanderausstellung 1984, Graz 1984. – Karin Maria Schmidlechner, Die steirischen Arbeiter im 19. Jahrhundert, mit einem Vorwort von Helmut Konrad, Wien 1983. 19 Siehe unten den Beitrag von Heidrun Zettelbauer, Biographien im sozialen Raum. Jüdisches Leben, Antisemitismus, urbane Räume, soziale Netzwerke und 1938 als Bruchlinie. 20 Lerner 2009 (wie Anm. 1), 11–12.

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21 Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985, 390. – Vgl. Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, 15. 22 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Weimar 2005, 7–8. 23 Vgl. Christoph Conrad/Martina Kessel, Geschichte ohne Zentrum, in: Dies. (Hg.), Geschichte in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Situation, Stuttgart 1994, 9–38. 24 Lerner 2009 (wie Anm. 1), 12.



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Kellerfenster des ehemaligen Kinderheims Lend im Afritschgarten. Nur an solchen materiellen Überresten ist erkennbar, dass das Gebäude aus der Zeit um 1930 stammt.

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Heidemarie Uhl

Am Beginn eines neuen wissenschaftlichen Interesses an Gedächtnis steht der Begriff der Orte – Pierre Noras Konzept der „Lieux de mémoire“1 richtet sich jedoch nicht auf konkrete historic sites, vielmehr geht es darum, einen Begriff zu entwickeln, der ein ganzes Kaleidoskop von Phänomenen zu bündeln vermag, deren einziger gemeinsamer Nenner ihre „Wirkungskraft als Symbole“ und ihr „Gewicht für die Herausbildung der politischen Identität“ einer Nation ist.2 „Gedächtnisort“ bezeichnet eine abstrakte Kategorie, die jene Repräsentationen erfassen soll, in denen sich das Gedächtnis ­einer Nation „in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat“ – die Bandbreite reicht von Notre Dame von Paris bis zu populären Lexika, Geschichtsbüchern für Kinder und Sportereignissen wie der Tour de France.3 Dementsprechend richtet sich das analytische Interesse in den Gedächtnisorten vor allem auf die Art und Weise, wie Gedächtnis und Identität konstruiert, ausverhandelt und durchgesetzt werden. Im Vordergrund steht die Frage, welche Bedeutung diesen „Orten“ zugeschrieben wird bzw. welche Gruppen im Kampf um die Deutungsmacht reüssieren und so das Gedächtnis eines Kollektivs prägen. Die konkreten Ereignisse, die sich mit einem Ort verbinden, und die Materialität der Orte selbst waren aus dieser Perspektive kaum von Bedeutung. Dem neuen Paradigma Gedächtnis lag vielmehr die bereits von Maurice Halbwachs formulierte These zugrunde, dass von der Vergangenheit nur bleibt, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“.4 Gerade im Hinblick auf die „verdrängte“ NS-Vergangenheit richtete sich die Frage zunehmend nicht allein darauf, wie Gesellschaften ihre Vergangenheit konstruieren, sondern vor allem darauf, welche Aspekte sie dabei ausblenden. Betrachtet man das Gedächtnis als gesellschaftliches Handlungsfeld, in dem transnationale, nationale und lokale Ebenen verschränkt sind, so gehen von der (Wieder-)Entdeckung konkreter historic sites und materieller Überreste ganz entscheidende Impulse aus. Das neue Interesse an den historischen Orten der NS-Verbrechen, an materiellen Zeugnissen und Überresten, oft unter der Oberfläche verborgen, ist ein transnationales Phänomen einer neuen Erinnerungskultur, die sich in den 1980er-Jahren formiert. Allerdings haben entsprechende Initiativen nur selten jene heißen Debatten hervorgerufen wie Denkmalprojekte und der Streit um die Neuformulierung der nationalen Geschichtspolitik. Der Kampf um die Erinnerung tobte um die Flaggschiffe und symbolischen Zeichensetzungen des offiziellen Gedenkens, vor allem um die HolocaustDenkmäler in den Hauptstädten und Metropolen der ehemaligen „Tätergesellschaft“.  

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DIE WIEDERENTDECKUNG DER ORTE

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Im Windschatten dieser Kontroversen haben konkrete Orte der NS-Verbrechen ein neues Gewicht bekommen. Zumeist waren es Grassroot-Aktivitäten, die diese Orte entdeckten und neue Formen der Gestaltung und Vermittlung erprobten. Eine der ersten Initiativen von überregionaler Relevanz ging von der Wiederentdeckung der baulichen Überreste von Schaltstellen des SS- und Polizeiapparates im ehemaligen Berliner Regierungsviertel aus, das Gelände wurde 1987 durch die Ausstellung „Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem ‚Prinz-Albrecht-Gelände‘“ zugänglich gemacht. Erst im Jahr 1992 wurde in Berlin das Haus der WannseeKonferenz in jener Villa am Großen Wannsee eröffnet, in der die Konferenz 50 Jahre zuvor stattgefunden hatte – von 1952 bis 1988 war das Gebäude als Schullandheim genutzt worden. Auch in Österreich waren es zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich für die Sichtbarmachung von bislang kaum beachteten Orten von NS-Verbrechen und die Einrichtung von Museen und Gedenkstätten einsetzten, etwa in Ebensee und Hartheim. In Graz gab die Entdeckung von historisch belasteten Orten und materiellen Überresten erste Impulse für die Zeichensetzungen einer neuen Erinnerungskultur. Dass in der Militärschießstätte Feliferhof während der NS-Zeit Hinrichtungen stattgefunden hatten, wurde für den damaligen Major Manfred Oswald zum Ausgangspunkt seines Engagements für die Errichtung einer Gedenktafel im Jahr 1980, ein Projekt, das gegen den massiven Widerstand militärischer Kreise durchgesetzt wurde.5 Im Jahr 1983 legte der Künstler Fedo Ertl in der Alberstraße Ziegelsteine der abgerissenen Synagoge frei, die in der NS-Zeit zur Errichtung einer Garagenmauer verwendet worden waren.6 Das Bedürfnis, jene Orte sichtbar zu machen, die an Schuld und Mitverantwortung erinnerten und nach 1945 dem Vergessen anheimgefallen waren, soll hier exemplarisch am Beispiel jenes Areals, auf dem sich bis 1938 die Grazer Synagoge befunden hatte, dargelegt werden. Am 9. November 1988, zum 50. Jahrestag der „Reichskristallnacht“, gedachte die Stadt Graz erstmals der Zerstörung der Synagoge und der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Als Auftakt zu den Gedenkfeierlichkeiten legten Mitglieder von Grazer Jugend- und Studentenorganisationen die Grundmauern der 1938 zerstörten Synagoge frei, ein Schweigemarsch führte vom Grazer Hauptplatz zum Areal des neu benannten Synagogenplatzes (heute  : David-Herzog-Platz), wo ein von der Stadtgemeinde in Auftrag gegebenes Mahnmal enthüllt wurde.7 Den Schlusspunkt der Feierlichkeiten bildete die Verlesung der „Erklärung der Stadt Graz“ durch Bürgermeister Alfred Stingl. Die von allen Parteien getragene Erklärung verlieh erstmals dem Bekenntnis zur Mitverantwortung an der „schuld- und leidbestimmten Vergangenheit unserer Stadt“ Ausdruck – nie dürfe vergessen werden, „was Grazer Bürger […] ihren jüdischen Mitbürgern zufügten“.8 Dass dies am konkreten Ort des historischen Geschehens, der durch die Initiativen des „Gedenkjahres“ 1938/88 nun zu einem zentralen Gedenkort der Stadt Graz geworden war, geschah, wurde besonders betont. Die Erklärung begann mit den Worten  : „Am Ort, an dem vor genau 50 Jahren die Synagoge der Israelitischen 50  | 

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Kultusgemeinde Graz von Angehörigen der SA und der SS geplündert und niedergebrannt wurde, und im Gedenken an die Nacht, in der sich – für alle deutlich – die Schrecken des Holocaust ankündigten“, gebe die Stadt Graz diese Erklärung ab.9 Die Sensibilität für das, was an diesem Ort geschehen war, und für die Bedeutung der Zerstörung der Synagoge als Fanal für die Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung machte sich allerdings erst in den 1980erJahren bemerkbar. Jahrzehntelang war dieser „heilige Ort“10 eine namenlose Grünfläche neben dem Haus Grieskai Nr. 58, dem erhalten gebliebenen Amtshaus der Kultusgemeinde, gewesen. In welchem Ausmaß die Ereignisse des November 1938 dem Vergessen anheimgefallen waren, lässt sich daraus schließen, dass die Stadt Graz in den 1970er-Jahren im Zuge des Baus der Augartenbrücke mit dem Ansuchen um Überlassung dieses Areals für eine geplante Verkehrslösung an die Israelitische Kultusgemeinde herangetreten war, was diese jedoch ablehnte.11 Als die Grazer Juden am 9. November 1963 anlässlich der 25-jährigen Wiederkehr des Novemberpogroms an ihrem Amtsgebäude eine Gedenktafel mit der Inschrift „Zum ewigen Gedenken an unsere 1938 bis 1945 ermordeten Brüder und Schwestern und zur Erinnerung an das auf diesem Platze am 10. November 1938 zerstörte Gotteshaus“ enthüllten, war die Stadt Graz nicht vertreten – die Erinnerung an die Opfer des Holocaust war eine Angelegenheit der kleinen jüdischen Gemeinde.12 Ebenso geringe Aufmerksamkeit wurde im Jahr 1968 der Eröffnung des neuen Betsaals im Amtsgebäude zuteil. In der kurzen Pressenotiz wurde auch nicht erwähnt, dass die Einrichtung eines Betsaals, „der etwa 50 Personen Platz bietet“13, einen historischen Hintergrund hat – die Zerstörung der 1892 errichteten Synagoge und die Vertreibung und Ermordung der rund 1700 Grazer Jüdinnen und Juden, die 1938 in Graz lebten.14 Das Interesse an historic sites und an materiellen Überresten richtet sich nicht ausschließlich, aber doch mit der stärksten sozialen Energie auf die Wiederentdeckung der verdrängten, vergessenen Orte der NS-Verbrechen. Die Sensibilität für das, was „vor Ort“ geschehen ist, zählt zum Habitus der „generation of memory“15, die sich in den 1980er-Jahren herausbildet – Pierre Nora spricht von einer Geschichtsbewegung, „so allgemein, so tiefgreifend, so mächtig“, dass die Gegenwart als „Epoche des Gedenkens“16 bezeichnet werden könne. In den 1980er-Jahren beginnen einerseits die europäischen Nachkriegsmythen von der Unschuld des eigenen Volkes an den NS-Verbrechen an Wirkungsmacht zu verlieren, andererseits rückt der Holocaust zunehmend in das Zentrum der Erinnerungskultur. Erst in diesem Jahrzehnt wird die historische Dimension des Holocaust, der Shoah wahrgenommen – die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas ist nun nicht mehr ein Unterkapitel des Zweiten Weltkrieges, der „Zivilisationsbruch Auschwitz“ (Dan Diner) wird vielmehr als singuläres Menschheitsverbrechen anerkannt. Der Holocaust fand allerdings nicht allein hinter den Stacheldrahtzäunen der NSVernichtungs- und Konzentrationslager statt – erst die Verfolgungsmaßnahmen vor Ort  

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ermöglichten die Durchführung des Massenmords. Es sind gerade die lokalen Gedenkinitiativen, die zur Bewusstseinsbildung über das Ausmaß der Involvierung der regionalen und lokalen Instanzen in die nationalsozialistische Herrschaftspraxis beitragen. Die Frage nach dem Schicksal der lokalen jüdischen Bevölkerung (und anderer verfolgter Gruppen) ließ nun auch die lokale und regionale Topografie der Verfolgung sichtbar werden. Die konkreten Orte wurden so zu Zeugnissen für die Mitverantwortung der eigenen Gesellschaft  : Die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, die organisierte Enteignung ihres Vermögens, die Vertreibung und der Transport in die Vernichtungslager wurden nicht nur von fremden Machthabern und einem brutalen Okkupationsregime betrieben – so die Erklärung in der österreichischen „Opferthese“, aber auch in den Darstellungen anderer europäischer Nachkriegsmythen17 –, sondern in den Strukturen der eigenen Gesellschaft realisiert. Gerade darauf beruht die verstörende Dimension der Orte  : Das Gedenken an die lokalen Opfer verbindet sich mit der Entdeckung der lokalen Verstrickung in den Holocaust – der „Zivilisationsbruch Auschwitz“ wäre ohne individuelle und kollektive Beteiligung oder zumindest Duldung breiter Bevölkerungsschichten nicht möglich gewesen. Gerade in den lokalen face to face-communities haben aber nicht nur die Opfer Namen und Adressen, sondern auch die Täter. Nicht selten sind es die eigenen Großeltern oder jene von Nachbarn und Bekannten. Mit dieser Erkenntnis haben sich auch die Vorstellungen über die mit den Verbrechen des Nationalsozialismus kontaminierten Orte ausgeweitet. Sie beziehen sich zunehmend nicht allein auf die „Topographie des Terrors“, sondern auch auf den bürokratischen, strukturellen und nicht zuletzt auch individuellen Anteil an der NS-Herrschaft – Magistratsabteilungen, die für die Registrierung der jüdischen Bevölkerung zuständig waren, Museen, die sich an „arisierten“ Kunstwerken bereicherten, Justizbehörden, die unmenschliche Urteile fällten, Krankenhäuser, an denen Zwangsabtreibungen an „OstarbeiterInnen“ durchgeführt wurden, kommunale und private Bauprojekte, die von Zwangsarbeit profitierten.18 Das Wissen um eine mögliche Kontamination von Orten und Objekten zieht sich bis in den privaten Erfahrungsbereich. Wurde das Haus, in dem man wohnt, von Zwangsarbeitern gebaut, war die Wohnung ehemals in jüdischem Besitz, wurde das Klavier rechtmäßig erworben oder handelt es sich um „arisiertes“ Eigentum  ? Was ist mit den jüdischen MieterInnen in diesem Haus, in dieser Straße geschehen  ? Das verstörende Potenzial, das sich mit diesen Fragen verbindet, wurde zum Ausgangspunkt neuer Formen des Gedenkens, die vielfach auf privaten Initiativen basieren. Die „Stolpersteine“ und „Steine der Erinnerung“ in den Wohnstraßen deutscher und österreichischer Städte19 zeigen das offenkundige Bedürfnis, auf die irritierende Involvierung der unmittelbaren Lebenswelt in die Geschichte des Holocaust mit Zeichen der Erinnerung zu reagieren. 52  | 

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Das Sichtbarmachen der materiellen Spuren bezieht sich zwar vorrangig auf die Wiederentdeckung der nach 1945 vergessenen Orte des NS-Terrors, zunehmend aber auch auf andere traumatische Ereignisse. So war der Architekt David Chipperfield beim Wiederaufbau des Neuen Museums in Berlin dem Konzept gefolgt, „die Zerstörungen des Krieges nicht zu vertuschen, sondern zu zeigen, was Originalsubstanz ist und was hinzugefügt“.20 Unweit der Museumsinsel wurden hingegen die Spuren der DDR-Geschichte getilgt, der Palast der Republik vollständig abgerissen. Maurice Halbwachs’ konstruktivistisches Credo, dass von der Vergangenheit nur bleibt, was aus dem Gedächtnishorizont der Gegenwart rekonstruierbar ist, trifft auch auf die materiellen Überreste zu  : Im Palimpsest an Überschreibungen und Zeitschichten sucht jede Gesellschaft das, was ihren gegenwärtigen Erinnerungsbedürfnissen entspricht.

       

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Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de Mémoire, Paris 1984–1992 (²1997). Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, 7. Ebenda. So der Schlusssatz der 1925 publizierten Schrift „Les cadres sociaux de la mémoire“. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985, 390. Vgl. Tony Judt, Die Vergangenheit ist ein anderes Land: Politische Mythen im Nachkriegseuropa, in: Transit 6 (1993), 87–120. Vgl. Heidemarie Uhl, Gedächtnisraum Graz. Zeitgeschichtliche Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum von 1945 bis zur Gegenwart, in: Sabine Hödl/Eleonore Lappin (Hg.), Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Berlin–Wien 2000, 211–232, 224f. Vgl. Gesamtprogramm des Gedenkens an die Reichspogromnacht (Reichskristallnacht) 1938, o. A., o. D. [1988], Typoskript, Kulturamt der Stadt Graz, Bestand Synagogendenkmal. Nie wieder! Erklärung der Stadt Graz, in: Kleine Zeitung, 10. 11. 1988. Ebenda. So die Bezeichnung in der Erklärung der Stadt Graz. Ebenda. Vgl. Dieter A. Binder, Jüdische Steiermark – Steirisches Judentum, in: Alfred Ableitinger/Dieter A. Binder (Hg.): Steiermark. Die Überwindung der Peripherie (= Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945. Schriftenreihe der Dr. Wilfried Haslauer-Bibliothek Salzburg), Wien–Köln–Weimar 2002, 527–550. Kultusgemeinde enthüllte Gedenktafel, in: Kleine Zeitung, 10. 11. 1963. Jüdischer Betsaal eröffnet, in: Kleine Zeitung, 25. 6. 1968. Vgl. Gerald Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt. Entstehung und Entwicklung der modernen jüdischen Gemeinde von Graz bis zum Ersten Weltkrieg, phil. Diss., Graz 2005, 72, weiters: Ders., Fremd in der eigenen Stadt. Die Entstehung der modernen jüdischen Gemeinde von Graz (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 8), Innsbruck–Wien–München 2007. Vgl. Jay Winter, The Generation of Memory: Reflections on the Memory Boom in Contemporary Historical Studies, in: Bulletin of the German Historical Institute 27 (2000), 69–92. Pierre Nora, Gedächtniskonjunktur, in: Transit. Europäische Revue 22 (2002), 18–31, 23. Vgl. die Beiträge zu den einzelnen Nationen in Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004. Vgl. exemplarisch Winfried Nerdinger, Ort und Erinnerung – Nationalsozialismus in München, München–Salzburg 2005. – Dagmar Höss/ Monika Sommer/Heidemarie Uhl (Hg.), IN SITU. Zeitgeschichte findet Stadt: Nationalsozialismus in Linz/Relocating Contemporary History: National Socialism in Linz, Weitra 2009. Joanna White, Exploring Engagements with Memory: The Path of Remembrance in Vienna, in: Irit Dekel (Hg.), New Perspectives in Memory Studies: Rethinking Movement, Representation and Materiality (special edition of the Conference and lecture series of the European Forum at the Hebrew University, Jerusalem), in Vorbereitung. Geschichte hinterlässt Spuren. Interview David Chipperfield, in: Die Welt – Sonderausgabe: Neues Museum Berlin, Herbst 2009, III. http:// www.welt.de/multimedia/archive/00925/Museum_925984a.pdf (download 18. 1. 2010).



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Anmerkungen

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Tor zum Israelitischen Friedhof in Graz Wetzelsdorf, letztes Relikt der Gestaltung der alten, 1938 zerstörten Zeremonienhalle

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Gerald Lamprecht

/ ENTDECKUNGEN“ DER ­J ÜDISCHEN GESCHICHTE?

Im Zuge des steirischen herbstes von 1983 widmete sich der Grazer Künstler Fedo Ertl in einem Kunstprojekt mit dem Titel „Mahnzeichen 1938/83“1 erstmals im öffentlichen Raum der Verfolgungs- und Vertreibungsgeschichte der Jüdinnen und Juden von Graz. Ertls Installation bestand darin, dass er an einer Mauer der Landesgaragen Ecke Alberstraße/Maiffredygasse einen Streifen Verputz entfernte und die darunter liegenden Ziegel für die BetrachterInnen sichtbar machte. Hintergrund der Aktion war, dass nach der Zerstörung der Grazer Synagoge in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 und der anschließenden Sprengung der Ruine die Ziegel zum Bau eben dieser Garagen verwendet wurden.2 Ertl setzte damit zum einen ein Zeichen gegen das Vergessen der Gräuel und zum anderen einen Prozess der Erinnerung und geschichtspolitischen Auseinandersetzung in Gang, der schließlich im Jahr 2000 in der Wiedererrichtung und Einweihung der Synagoge von Graz mündete. Seine Kunstinstallation kann somit auch als der Beginn der „Wiederentdeckung“ der jüdischen Geschichte von Graz und der Steiermark nach 1945 gesehen werden. Denn mit Ausnahme von einzelnen Gedenkzeichen an die Opfer der Shoah auf jüdischen Friedhöfen sowie der im Jahr 1963 auf Betreiben der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) errichteten Gedenktafel an die Reichspogromnacht am Amtsgebäude der jüdischen Gemeinde gab es Anfang der 1980er-Jahre keinerlei öffentliche Zeichensetzungen für die jüdische Bevölkerung von Graz und deren Schicksal während der NS-Zeit.3 Ebenso herrschte ein frappanter Mangel an historischen Abhandlungen über die jüdische Geschichte der Steiermark. So gab es neben einer von der IKG herausgegebenen Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Israelitischen Kultusgemeinde aus dem Jahr 19694 und zwei Einzelbeiträgen in der Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark5 lediglich eine aus wissenschaftlicher Perspektive fragwürdige erweiterte Hausarbeit.6 Ergänzt wurde dieses Bild der historischen Auseinandersetzung durch zwei weitere Arbeiten, die jedoch nicht in der Steiermark erschienen sind  : Zum einen handelt es sich dabei um zwei, die Steiermark betreffende, Beiträge im 1971 in Tel Aviv publizierten Gedenkbuch von Hugo Gold „Geschichte der Juden in Österreich“7 und zum anderen um einen Text des letzten Vizepräsidenten der IKG vor 1938, Karl Schwarz, im Sammelband von Josef Fränkl „The Jews of Austria“ 8, der ebenfalls den Charakter einer Gedenkschrift trägt. 1983 war demnach nicht nur die jüdische Geschichte, sondern allgemein jüdisches Leben in Graz und der Steiermark  

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in keiner Weise Bestandteil öffentlicher Auseinandersetzungen, geschweige denn Bestandteil eines öffentlichen historischen Bewusstseins. Es bedurfte offenbar einer künstlerischen Intervention, um eine öffentlichkeitswirksame gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und damit verbunden der lokalen, regionalen jüdischen Geschichte in Gang zu setzen. Die Arbeit Ertls und ihr gesellschaftspolitischer Hintergrund sind jedoch nicht isoliert zu betrachten. Vielmehr sind sie eingebettet in den Transformationsprozess des österreichischen historischen Bewusstseins, der ab den 1980er-Jahren Haltungen, die die Nachkriegszeit in Österreich geprägt hatten, erschüttern sollte. Dieser Prozess fokussierte vorrangig auf die Erosion der sogenannten „Opferthese“, die die Leitlinien für den Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit dem historischen Erbe des Nationalsozialismus vorgab. Im Zentrum der Debatte standen zum einen die Frage nach der Beteiligung der Österreicherinnen und Österreicher an den Verbrechen des Nationalsozialismus und zum anderen der zögerliche, letztlich lange Zeit beschämende Umgang mit den Opfern. Die Fokussierung auf die Opfer führte schließlich zu einer „Wiederentdeckung“ der jüdischen Geschichte, die ihren ersten Höhepunkt rund um das „Ge-/Bedenkjahr 1938/88“ hatte. Diese „Wiederentdeckung“ wurde in unterschiedlichen Bereichen sichtbar. Seit der Mitte der 1980er-Jahre kam es etwa zu einer Vielzahl an Denkmalsetzungen für die jüdischen Opfer  : Mahnmal am Synagogenplatz in Graz 1988, Denkmal für den Israelitischen Friedhof in Leoben 1988, Gedenktafel für die vertriebenen jüdischen Schülerinnen und Schüler im Oeverseegymnasium Graz 1993, Gedenktafel für die Opfer des Todesmarsches auf dem Friedhof in Pischelsdorf 1997, Denkmal für Opfer des Todesmarsches auf dem Präbichl 2004, Gedenktafel für den ehemaligen Betraum der jüdischen Bevölkerung von Leoben 2004, Gedenktafel für die Opfer des Todesmarsches in Gleisdorf 2008.9 Neben Denkmalsetzungen für die Opfer als Kollektiv wurden Gedenktafeln für einzelne Jüdinnen und Juden (Nobelpreisträger Otto Loewi und Landesrabbiner David Herzog) angebracht. 1991 wurde auf dem jüdischen Friedhof in Graz die neu errichtete Zeremonienhalle und im Jahr 2000 die auf dem ehemaligen Synagogenplatz neu errichtete Synagoge der IKG übergeben. Gleichzeitig setzte ab den 1980er-Jahren auch eine vermehrte Auseinandersetzung mit steirisch-jüdischer Geschichte in den Geschichtswissenschaften ein. Dies drückte sich nicht nur in einer steigenden Anzahl an Publikationen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde von Graz sowie zum steirischen Antisemitismus aus,10 sondern fand seinen Niederschlag auch in einer langsam einsetzenden Institutionalisierung der jüdischen Studien in der Universitäts- und Museumslandschaft. Am Beginn der Institutionalisierung in Graz stand dabei die Gründung des David-Herzog-Fonds (DHF) an der Karl-Franzens-Universität Graz im Jahr 1988.11 Dieser Stipendienfonds wurde in Erinnerung an die Vertreibung der jüdischen Wissenschaftler von der Universität Graz ins Leben gerufen und setzte sich die Förderung der Forschungen zur jüdischen Kultur 56  | 

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Die 1980er-Jahre markierten auch außerhalb von Graz und der Steiermark eine in Hinblick auf die jüdische Geschichte bedeutende geschichtspolitische Zäsur, wurden in diesen und unmittelbar danach doch auch das Institut für die Geschichte der österreichischen Juden in St. Pölten (1988  ; seit 2008 Institut für die jüdische Geschichte Österreichs), das Jüdische Museum der Stadt Wien (1990/92) sowie das Jüdische Museum Hohenems (1991) ins Leben gerufen.12 All diese Aktivitäten stehen vor allem mit dem Prozess der sogenannten „Vergangenheitsbewältigung“ der nichtjüdischen „Täter“- und „Mitläufer“-Gesellschaft in Verbindung. Der vergangenheitspolitische Konnex verweist zudem auch darauf, dass es sich nicht nur um eine neue „Mode“ der Geschichtsschreibung handelte, sondern in erster Linie um ein konkretes Politikum, wie dies Monika Richarz etwa auch für die BRD und die DDR konstatierte. Richarz  :

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und Geschichte wie auch das interkulturelle Lernen durch studentische Mobilität zwischen Österreich und Israel zum Ziel. Im Jahr 2004 wurde der DHF schließlich auf alle steirischen Universitäten erweitert. Neben dem DHF wurde ab dem Jahr 1999 auch an der Errichtung einer eigenständigen Forschungseinrichtung im Bereich der jüdischen Studien gearbeitet. Diese Bestrebungen wurden 2000 durch die Gründung des David-Herzog-Centrums für Jüdische Studien, das sich 2001 in „Centrum für Jüdische Studien“ umbenannte, in die Tat umgesetzt. Zunächst noch als mit der Universität assoziierter Verein organisiert, wird das Centrum für Jüdische Studien seit 2006 als überfakultärer Leistungsbereich im Organigramm der Universität Graz geführt.

„Gleichzeitig aber ist klar, daß es sich hier [bei der Vielzahl an Publikationen zur jüdischen Geschichte, Anm. GL] um mehr – oder um weniger – als Geschichtsschreibung handelt, nämlich um ein Politikum. Die Autoren sind politisch motiviert, und ihre Werke haben politische Funktion. Viele der 1988 erschienenen Bücher wurden finanziert von den Kommunen und mit einem Vorwort des Bürgermeisters versehen. Nach der kompletten Pensionierung der Altnazis war die Zeit gekommen, in der auch Stadtverwaltungen die Nützlichkeit solcher Forschungen erkannten – wenn nicht als politische Trauerarbeit, dann als Alibi.“13

Auf die politische Dimension der jüdischen Geschichtsschreibung verweist auch Michael Brenner, wenn er darauf aufmerksam macht, dass sie sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert immer eine konkrete politische Funktion erfüllte – sei es als unterstützendes Argument im Zuge der Emanzipationsdebatten, als Stärkung der Bestrebungen einer jüdischen Autonomie durch die Verweise auf die historischen jüdischen Gemeinden als Grundformen jüdischen Daseins oder als Stütze der zionistischen Ideen durch die Untermauerung des historischen Anspruches auf Palästina als jüdisches Land. In allen Fällen erhielten Historiker als „Propheten des Vergangenen“ eine Schlüsselstellung im historischen Legitimationsprozess.14



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Abseits der politischen Dimension, die der jüdischen Geschichtsschreibung also nicht erst seit den 1980er-Jahren zukam, rückt in diesem Zusammenhang vordringlich die Frage nach den Akteuren sowie der identitätspolitischen Relevanz jüdischer Geschichtsschreibung ins Zentrum der Betrachtungen. Denn in der Regel wurde im deutschsprachigen Raum jüdische Geschichte bis 1933 resp. 1938 in nichtstaatlichen Einrichtungen von Juden für Jüdinnen und Juden betrieben.15 So auch in der Steiermark, wo die ersten Arbeiten, die nicht mit antisemitischen Vorzeichen belastet waren, durchwegs von jüdischen Historikern verfasst wurden, die zunächst von Wien aus die Emanzipation vorantreiben (Emanuel Baumgarten) oder später zur identitären Verankerung der jüdischen Bevölkerung vor Ort beitragen wollten (Alfred Rosenberg, David Herzog). So schrieb beispielsweise Rabbiner Dr. David Herzog, der sicherlich die ausführlichsten und fundiertesten Arbeiten zur steirisch-jüdischen Geschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit publizierte, im Vorwort der ersten Ausgabe des „Grazer Israelitischen Gemeindeboten“ 1908  : „Auch sollen in demselben alle auf die für die Geschichte der Juden in den Alpenländern in alter und neuer Zeit bezugnehmenden Dokumente, wie archivalische Studien, Grabsteininschriften, mündliche oder in wissenschaftlich anerkannt guten Quellenschriften enthaltenen Mitteilungen, vornehmlich Inedita, einen Platz finden. Diese Materialien sollen dann später von dem mitunterfertigten Schriftleiter in einer zu bearbeitenden ‚Geschichte der Juden in den Alpenländern, von der ältesten Zeit bis auf unsere Tage‘ als Quellenbelege Verwertung finden.“16 David Herzog, der sein Hauptwerk nie publizieren konnte, da das Manuskript im Zuge der Plünderung seiner Wohnung in der Reichspogromnacht 1938 zerstört wurde, schloss dieser Willensbekundung von 1908 auch noch einen Aufruf an. Darin forderte er alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde auf, sich durch Beibringung von Unterlagen und Dokumenten an der Generierung ihrer Geschichte zu beteiligen. Ziel war somit die Erstellung der jüdischen Geschichte der Steiermark von der jüdischen Gemeinde für die jüdische Gemeinde, die zugleich auch ihre historische regionale Verankerung belegen würde.17 Diesen Integrationsbemühungen traten jedoch zu allen Zeiten auch antisemitisch motivierte Historiker entgegen, die „ihre“ Geschichtsdeutungen zunächst gegen die Emanzipation (Josef Wartinger) und in weiterer Folge gegen die Integration von Juden und Jüdinnen in die sich nationalisierende Gesellschaft wandten. Im Zentrum der Deutungskonflikte standen dabei bis 1938 vor allem die divergierenden Darstellungen und Interpretationen der Ursachen und Wirkungen der Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus der Steiermark durch Kaiser Maximilian I. 1496.18 Ihren Höhepunkt erfuhr die ausgrenzende und antisemitisch unterlegte Beschäftigung mit jüdischer Geschichte schließlich während der Zeit des Nationalsozialismus. Konnten bis dahin jüdische Historiker mit nichtjüdischen noch in einen Diskurs eintreten, so war dies ab 1933 resp. 1938 aufgrund ihrer Vertreibung nicht mehr möglich, und die Nationalsozialisten gingen dazu über, die jüdische Geschichte unter den 58  | 

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Vorzeichen konkreter ideologischer Leitlinien „neu“ zu schreiben. An die Stelle der Erforschung jüdischer Geschichte trat die Erforschung der sogenannten „Judenfrage“ – zunächst im Deutschen Reich – in eigens dafür gegründeten Institutionen wie dem „Institut zum Studium der Judenfrage“ in Berlin (1935, ab 1939 „Antisemitische Aktion“), der Münchner Forschungsabteilung „Judenfrage“ des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“ (1936) und der 1939 gegründeten und 1941 eingerichteten Außenstelle der Hohen Schule der NSDAP, dem „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ in Frankfurt am Main.19 Ziel der NS-Forschung zur „Judenfrage“ war es, den antisemitischen NS-Ideen folgend, die Unterschiede zwischen der jüdischen Minderheit und der nichtjüdischen Mehrheit (in der NS-Diktion  : „Wirtsvolk“) hervorzuheben, die vermeintliche „Rassenmischung“ als schädlich darzustellen und schließlich die jüdische Emanzipation als Fehler der Geschichte zu entlarven. Die Geschichtswissenschaft sollte dabei die Legitimationshilfe für die in der Alltagswelt längst betriebene Politik der Beraubung, Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sein. 20 Dieser Aufgabe kamen viele Historiker in Deutschland und Österreich bereitwillig nach, wie dies beispielweise anhand des „Vereins der Deutschen Historiker in Graz“ sichtbar wird. So schrieb Karl Hafner, ehemaliger Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs und 1938 kommissarischer Leiter, später Obmann, des Vereins Deutscher Historiker in Graz, in einem Brief an ein weiteres Vorstandmitglied  : „Wir werden selbstverständlich im Rahmen einer übergeordneten staatlichen Stelle, wahrscheinlich wohl der Reichskulturkammer, unsere künftige Tätigkeit zu entfalten haben. Es ist auch ebenso klar, dass gegenüber der bisherigen Traditionspflege und gegenüber der Tatsache, dass wir während der Systemzeit eine akademische Widerstandszelle gegen das System gewesen sind, nunmehr neue Aufgaben an uns herantreten. In dem alten, wie ich zu meiner Freude sehe, noch sehr festen Schlauch wird eben neuer Wein gegossen werden und der D. Hist. V. [Deutsche Historische Verein. Anm. GL] nunmehr erst recht ein wissenschaftlicher Verein sein, dessen fachliche Aufgabe in der Pflege der allgemeinen deutschen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung liegen wird, im Gegensatz zum Historischen Verein für Steiermark, der ja nur landeskundliche und landesgeschichtliche Fragen behandelt und dem wir auch keine Konkurrenz machen wollen.“21

Worin diese Pflege der „Allgemeinen deutschen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung“ bestehen sollte, zeigte sich in den folgenden Jahren, als Hafner in Reaktion auf einen Bericht des „Völkischen Beobachter“ vom August 1939 hin, in welchem die Gründung des „Instituts zur Erforschung der Judenfrage“ thematisiert wurde, die Idee aufbrachte, unter den nationalsozialistischen Vorzeichen „die wissenschaftliche Bearbeitung der Judenfrage im Gau Steiermark, soweit es sich um die Geschichte des Judentums in diesem Land handelt, nach Weisung des neugegründeten Instituts zu übernehmen“.22 Ab 1939 begann nun der Verein Deutscher Historiker in Graz in Übereinstimmung mit dem bereits erwähnten Institut in Frankfurt am Main mit der Umset 

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zung seines Vorhabens, wobei der erste Schritt in der Erstellung eines „Judenkatasters für die Steiermark“ bestehen sollte.23 Dieser Kataster, der letztlich über 10 000 Karteikarten umfasste, sollte auf Basis der zur Verfügung stehend Quellen – wie beispielsweise den beschlagnahmten Matrikeln der IKG – die vollständige biografische Erfassung aller jemals in der Steiermark anwesenden Jüdinnen und Juden bewerkstelligen. Er sollte damit Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein, die in ihrer Zielformulierung letztlich zur narrativen Kennzeichnung, Isolation und Separation der Jüdinnen und Juden in der steirischen Landesgeschichte beitragen sollten. Ein Prozess, der in der Praxis bereits durch die Beraubung und beinahe vollständige Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus der Steiermark mit Ende des Jahres 1939 im Abschluss begriffen war.

„Wieder“-Entdeckung? Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Begriff der „Wiederentdeckung“ der jüdischen Geschichte für die Zeit ab den 1980er-Jahren zunächst durchaus zutreffend erscheint – aufgrund der völligen Negation und Verdrängung dieser Frage in den Nachkriegsjahrzehnten sowie aufgrund der durch die Vertreibung bedingten beinahe vollständigen Absenz von Jüdinnen und Juden. Nimmt man jedoch einen längeren Zeitraum in den Blick, so führt er in die Irre. Denn seit der Wiederansiedlung von Jüdinnen und Juden in der Steiermark mit Ende des 18. Jahrhunderts wurde konstant an der jüdisch-steirischen Geschichte geschrieben. Einzig die Akteure, wie auch die jeweiligen Intentionen ihres Tuns wandelten sich. Gemeinsam war dem Schaffen der Historikerinnen und Historiker über all die Jahrzehnte, dass ihr jeweiliges Tun immer auch geschichts- und gesellschaftspolitisch motiviert war. Die Differenzen bewegten sich dabei zwischen den Polen eines völligen Ausschlusses aus sowie der Argumentation einer legitimen Teilhabe der Jüdinnen und Juden an der Gesellschaft. Wird nun trotz der Tatsache der kontinuierlichen Beschäftigung mit jüdischer Geschichte von einer „Wiederentdeckung“ seit den 1980er-Jahren gesprochen, so zielt dies auf eine weitere Dimension ab  : Im Zuge des geschichtspolitischen Transformationsprozesses seit den 1980er-Jahren wurde eine neue, junge HistorikerInnengeneration aktiv, die ihre Anknüpfungspunkte nicht mehr bei deutschnationalen, dem Historismus und nicht selten dem Antisemitismus verpflichteten Historikern suchte, sondern vielmehr an die Traditionen einer jüdischen Geschichtsschreibung, die jüdische Geschichte in der allgemeinen Geschichte zu verankern trachtet, anzuknüpfen suchte. Gerade angesichts der häufig nicht offenkundigen „Fallen der Historie“, die sich aufgrund einer Vielzahl von alternativen, häufig dem Ausschluss verpflichtende Traditionslinien ergeben, erscheint eine stete Reflexion und Hinterfragung des eigenen Tuns geradezu zwingend nötig.

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  1 Vgl. http://offsite.kulturserver-graz.at/werke/911/?foto=1, 12. 8. 2009.   2 Vgl. Fedo Ertl, 1938/83, in: forum stadtpark/steirischer herbst 1983 (Hg.), Die Schöpfer Gottes, Ausst.kat., Graz 2003.   3 Vgl. Heidemarie Uhl, Gedächtnisraum Graz. Zeitgeschichtliche Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum von 1945 bis zur Gegenwart, in: Sabine Hödl/Eleonore Lappin (Hg.), Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Berlin 2000, 211–232.   4 Kurt Weiß, Zum hundertsten Geburtstag der Israelitischen Kultusgemeinde zu Graz, Graz 1969.   5 Friedrich Wilhelm Kosch, Zur Geschichte der Grazer Juden 1848–1914, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark LIX (1968), 33–43. – Otto Rendi, Zur Geschichte der Juden in Graz und in der Steiermark, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark LXII (1971), 157–177.   6 Gerhard Wolfgang Salzer-Eibenstein, Die Geschichte der Grazer Juden. Von ihren Anfängen bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Erweiterte historische Hausarbeit, Graz 1970.   7 Die beiden Beiträge befassen sich mit Graz und Leoben und stammen von Gerhard (Gerd) W. Salzer-Eibenstein und Wolfgang Haid. Siehe Hugo Gold, Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch, Tel Aviv 1971.   8 Karl Moshe Schwarz, The Jews of Styria, in: Josef Fränkel (Hg.), The Jews of Austria. Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, 391–394.   9 Vgl. Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, Un-/sichtbar. NS-Herrschaft. Verfolgung und Widerstand in der Steiermark, Graz 2008, 285. 10 Zu nennen sind die Arbeiten, die an der Universität Graz im Umfeld des Institutes für Geschichte, Abteilung Zeitgeschichte (Prof. Helmut Konrad) sowie im Wirkungsbereich der Österreichischen Geschichte/Kirchengeschichte (Prof. Dieter A. Binder) entstanden sind. 11 Vgl. David-Herzog-Fonds an der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 1998. 12 Bereits 1968 wurde ausgehend von den Vertretern des Instituts für Judaistik in Wien das Österreichische Jüdische Museum in Eisenstadt gegründet, das somit neben der Judaistik eine Ausnahme darstellt. 13 Monika Richarz, Luftaufnahme – oder die Schwierigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1991), 8, 28. 14 Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, 13. 15 Vgl. Michael Brenner, Jüdische Studien im internationalen Kontext, in: Michael Brenner/Stefan Rohrbacher (Hg.), Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000, 42–43. 16 Grazer Israelitischer Gemeindebote 1, 1. 4. 1908, 1–2, 1. 17 Vgl. Gerald Lamprecht, Geschichtsschreibung als konstitutives Element jüdischer Identität, in: Klaus Hödl (Hg.), Historisches Bewusstsein im jüdischen Kontext. Strategien – Aspekte – Diskurse (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 6), Innsbruck–Wien–München–Bozen 2004, 136–142. 18 Ebenda, 138–139. 19 Vgl. Dirk Rupnow, Die „Judenforschung“ im „Dritten Reich“. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Habil.-Schrift Wien 2008, 56–100. 20 Vgl. Brenner 2006 (wie Anm. 14), 200. 21 Hafner an Lorenzi, 28. 7. 1938. Steier­märkisches Landesarchiv (StLA), Archiv des Vereins Deutscher Historiker, K. 5, H. 1147. Hervorhebung im Original. 22 Hafner an Mörth, 15. 8. 1939. StLA, Archiv des Vereins Deutscher Historiker, K. 6, H. 1264. 23 Vgl. Manfred Maslo, Ein „Judenkataster“ der Steiermark, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 49 (1999), 261–266.



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Anmerkungen

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Dieter A. Binder

JÜDISCHES GRAZ – GRAZER JUDEN? Eine Spurensuche in der Zweiten Republik

Für Naomi Heller s. A.

Geht man von der offiziösen steirischen Zeitgeschichtsschreibung aus und berücksichtigt ausschließlich den von Stefan Karner im Herbst 2000 vorgelegten Band „Die Steiermark im 20. Jahrhundert“,1 kann man die Fragestellung „Jüdisches Graz – Grazer Juden  ?“ bereits ad acta legen, denn in diesem Buch findet sich kein wie immer gearteter Hinweis auf die genuine Geschichte der jüdischen Bürger dieser Stadt und des Bundeslandes nach 1945.2 Zweifellos lag der bisherige Forschungsschwerpunkt auf der Geschichte der Grazer jüdischen Gemeinde zwischen 1850 und 1940,3 konzentrierte sich auch auf die Zeit von 1938 bis 19454 bzw. auf die Zeit der britischen Besatzung 1945 bis 1955.5 Eine Gesamtschau wagte Gudrun Reitter 1988 in ihrem Beitrag zur Gedenkschrift der Israelitischen Kultusgemeinde,6 während Thomas Albrich wertvollste Hinweise über die jüdischen Displaced Persons nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft lieferte.7 Einen sys­ tematischen neuen Zugang zur Zeit bis 1940 sucht in unterschiedlichen Projekten und Ansätzen Gerald Lamprecht in Fortführung seiner Monografie, während Eduard Staudinger die „Arisierung“ in der Steiermark als Forschungsschwerpunkt definiert hat. Die Erfassung der bis 1940 nach Wien vertriebenen jüdischen Grazer ist Bestandteil des Projektes „Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer“ am Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstandes in Wien.8 Für die Zeit von 1945 bis 1948/49 muss angenommen werden, dass der Kontakt zwischen den jüdischen Heimkehrern und den jüdischen Displaced Persons primär auf der Ebene einer organisatorischen Hilfeleistung – etwa bei der Unterbringung von Studenten aus dem Kreis der Displaced Persons in Graz oder bei der Verteilung von Hilfsgütern und bei der Organisation des religiösen Lebens – bestand und kaum über diesen Rahmen hinausging. Diese Haltung spiegelt auch die Unsicherheit über die eigene Situation, da die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Zweifel über die eigenen Existenzmöglichkeiten mit sich brachten. Seitens der politischen Parteien bestand überdies der Grundkonsens, das Problem der Displaced Persons, insbesondere der jüdischen Displaced Persons, durch rasche Abschiebung zu lösen. Durch das Überhöhen der jüdischen Displaced Persons zur Inkarnation des Problems der Displaced Persons glaubte man in der Bevölkerung gleichsam das Recht 62  | 

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„unheilvollen Entwicklung. Eine Masse von aus den Ostgebieten der Monarchie zugewanderten Juden hat unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg das ohnehin schon ungesunde Wirtschaftsleben Wiens maßgebend beeinflusst. In Handelsgebräuchen aufgewachsen, die denen der Wiener Kaufleute fremd waren, sind sie allzu unbekümmert vorgegangen […]. Der Fehler war, dass weder von österreichischer noch von jüdischer Seite Maßnahmen ergriffen wurden, um hier ein gesundes Gleichgewicht herzustellen und den früher keineswegs schlechten Ruf des österreichischen Judentums zu retten.“

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auf das Verharren in antisemitischen Klischees zu besitzen, was von Politikern aller Parteien unterschwellig genutzt wurde. Besonders penetrant drückte diese Stimmung der Gründer des Verbandes der Unabhängigen (VDU), Herbert Kraus, aus  : „Nach den verschiedenen Schätzungen der einzelnen Kultusgemeinden ist damit zu rechnen, dass kaum 5 bis 10 % der heute in der Emigration lebenden österreichischen Juden nach Österreich zurückkehren wollen. Die Heimkehrwilligen sind fast ausschließlich Leute, die mit Österreich tief verwurzelt und sich dem Stil und den Lebensgewohnheiten unseres Volkes weitgehend angepasst hatten. Dasselbe gilt von den getauften Juden, den Mischlingen und den mit Ariern Verheirateten, von denen ein geringer Prozentsatz auswandern will.“9 Und auf der Suche nach den Wurzeln des österreichischen Antisemitismus stößt Kraus dann auf den „jüdischen Anteil“ dieser

In dieser Atmosphäre kam es zu ersten antisemitischen Ausschreitungen, in Graz wurde das Verwaltungsgebäude der Israelitischen Kultusgemeinde, in dem ein provisorischer Betsaal errichtet worden war, mit antisemitischen Parolen beschmiert.10 Die Bundesregierung ließ durch Leopold Figl 1946 wissen, dass man die Rückkehr der Emigranten begrüßen würde, wenn diese als „Österreicher“ und nicht als „Juden“ kämen. Einer Rückkehr standen aber nicht nur die schleppenden Wiedergutmachungsverhandlungen im Wege, die von der Regierung zu führen waren und de facto vorerst nicht in Angriff genommen wurden, sondern auch die Rückgabekonditionen des „arisierten“ Gutes. Mit der Schließung der Lager und der Abwanderung der letzten jüdischen Displaced Persons erinnerte an das jüdische Österreich in der Provinz in den 1950er-Jahren letztlich nur noch das private, zumeist nicht „öffentliche“ Wissen um die „arisierten“ Geschäfte, Wohnungen und Liegenschaften. Im Waldviertel hießen gediegene Möbel, die die Bewohner gegen wenig Geld bei Versteigerungen in Wien erworben hatten, noch in den 1960er-Jahren „Judenmöbel“.11 Für das Ballungszentrum Graz gilt, dass wegen der Kleinheit der meisten jüdischen Betriebe, die in der Regel 1938/39 stillgelegt worden waren, die Heimkehrer keinen Zugriff mehr auf ihren ehemaligen Betrieb hatten. Ähnliches gilt für Mietobjekte und Mietwohnungen, die, soweit sie nicht kriegsbedingt zerstört waren, nicht unbedingt von „Ariseuren“ genutzt wurden. Ein Rückstellungsgesetz für Miet- und Bestandsrechte kam nie zustande.12 Ebenso versuchten die „Arisieure“, sich nunmehr in der „Opferrolle“ sehend, durch Kooperationen ihren ergaunerten Besitzstand zu halten.  

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Mit dem „Verband der Rückstellungsbetroffenen“ schufen sie sich eine von der Politik sanktionierte österreichweite „Panzerknacker AG“.13 Aber dies ist eine andere Geschichte, denn die „Arisierung“ sagt viel über die Täter aus, jedenfalls mehr als über die Opfer.14 Einer aus den Reihen der „Arisieure“, er arbeitete bis zum März 1938 als Verkäufer im Geschäft einer jüdischen Grazer Familie, wurde schließlich sogar Präsident der Handelskammer für Steiermark. Das Jahr 1945 hat keine Stunde Null  : Die Steiermark kehrte gleichsam in einen antisemitischen Bewusstseinszustand „vor Auschwitz“ zurück. Die jüdischen Steirer, die die Vernichtungsmaschinerie der Nazis überlebt hatten und daran gingen, die „dritte“ Grazer Gemeinde aufzubauen, mussten erneut den lavierten Antisemitismus ihrer Heimat, der sich in unterschiedlichster Form manifestierte, erdulden. Ein Hort aggressiven Agierens blieben vorerst die Hochschulen, an denen sich das Repertoire des Kalten Krieges mit antisemitischen Tönen mischte. So gesehen wäre es von Interesse, den Bundesländeranteil unter der Anhängerschaft Borodajkewyczs zu erheben.15 Die offizielle Steiermark schwieg sich aus, die „Versöhnungspolitik“ galt den Tätern, nicht den Opfern. Die lautstarke Wehleidigkeit der Täter angesichts der Entnazifizierung beherrschte die Öffentlichkeit bis in die 60er-Jahre, die fassungslose Trauer der wenigen Überlebenden wurde unter diesem Panzer begraben. Dieses charakteristische Beziehungsgeflecht des Schweigens zu erforschen, in seiner politisch lagerübergreifenden Funktion zu verdeutlichen, wäre ein wichtiger Beitrag zur Landesgeschichtsschreibung. Solange das Erinnern an mutige Menschen und an die Opfer des NS-Regimes im „Privaten“ verbleibt, wird die spezifische Geschichte des Landes weiterhin als unabdingbares Schicksal ohne persönliche Verantwortung dargestellt werden. Einen markanten Ansatz zur Durchbrechung dieses Schweigens liefert Elisabeth Welzig in ihrer Dokumentation über das Leben jüdischer Steirer nach 1945.16 Der Umgang der Politik und Behörden mit der Kultusgemeinde und deren Vertretern scheint über lange Zeit auf minimale Kontakte beschränkt gewesen zu sein. Zunächst bestimmt von den Fragen des Augenblicks, der Opferfürsorge und den Rückstellungsverfahren, schließlich beschränkt auf punktuelle Probleme, etwa bei der Betreuung der ungarischen Flüchtlinge 1956 in Graz. Verdienten Funktionären der Kultusgemeinde wurden zunächst nur Auszeichnungen der Republik Österreich und keine Landesauszeichnungen verliehen.17 Im Erinnern an die Opfer des Holocaust war die Kultusgemeinde zunächst auf sich allein gestellt. Sie brachte die Gedenktafel am Verwaltungsgebäude an, der ein Gedenkstein für die auf dem jüdischen Friedhof in Trautmannsdorf beigesetzten Opfer (1954) und ein Obelisk für die im Massengrab beigesetzten Opfer auf dem Grazer Israelitischen Friedhof (1969) folgten. Eine bemerkenswerte Wende im Umgang der öffentlichen Stellen mit der kleinen Kultusgemeinde lässt sich erst ab den 1980er-Jahren nachweisen. Zunächst trat die Stadt an die Kultusgemeinde mit dem Vorschlag heran, den kleinen Park, der an der Stelle 64  | 

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der zerstörten Synagoge angelegt worden war, im Zuge einer Neugestaltung des Grazer Verkehrswesens in eine Verkehrsfläche umwidmen zu lassen. Die entschiedene Ablehnung hat möglicherweise zu einer Bewusstseinsbildung beigetragen, die nicht nur die Stadt Graz, sondern auch die Landesregierung betraf. Kurt D. Brühl erreichte vorerst die Unterstützung der Landesregierung bei der Pflege der Massengräber, während die Kosten der Renovierung des Grazer Israelitischen Friedhofs von der Stadt übernommen wurde (1981). Fedo Ertl legte 1983 in der Alberstraße in Graz ein schmales Band jener Ziegel frei, die von der Synagoge stammten und die zum Bau von Garagen der Landesregierung 1939 genutzt worden waren. Die seit der Auseinandersetzung um die Person Kurt Waldheims intensivierte öffentliche Diskussion über Österreichs Vergangenheit wirkte sich direkt auf die Vorbereitungen des Bedenkjahres 1988 aus. Im Juli 1987 stattete Alfred Stingl als erster Bürgermeister der Stadt Graz seit dem Ende der Naziherrschaft der Grazer Kultusgemeinde, deren Amtsgebäude wenige Tage davor mit neonazistischen Sprüchen beschmiert worden war, einen offiziellen Besuch ab. Seitens der ÖVP folgte ihm der Grazer Kulturstadtrat Helmut Strobl. Im engen Zusammenwirken dieser beiden Repräsentanten der Stadt mit der Landesregierung unter Josef Krainer jun. konnten jene Mittel aufgebracht werden, die zum Neubau der Zeremonienhalle auf dem Grazer Friedhof (1991), zur Freilegung der Grundmauern der im November 1938 niedergebrannten Synagoge, zur Errichtung des Gedenksteines auf diesem Gelände 1988 und zum Neubau der Synagoge (Grundsteinlegung 1998, Einweihung 2000) führten. Dem hochverdienten Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Kurt D. Brühl wurde schließlich in Anerkennung seiner Leistungen 2001 die höchste Landesauszeichnung, der Ehrenring des Landes Steiermark, verliehen. Bei der erstmaligen Verleihung des Menschenrechtspreises der Stadt Graz ehrte die Stadt Brühl 2007 für sein Lebenswerk als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Graz.18 Das Jahr 1988 kulminierte in verschiedenen Aktivitäten, die, teilweise getragen von Privatinitiativen wie den christlich-jüdischen Bibelwochen, die jüdische Geschichte des Landes zum Anlass nahmen. Das Besinnen auf die Ereignisse des Pogroms 1938 führte zu einer stark besuchten Gedenkfeier, deren Teilnehmer aus den unterschiedlichsten politischen Lagern und gesellschaftlichen Gruppen kamen. Noch 1978 gestaltete die Stadt Graz anlässlich ihres 850-Jahr-Jubiläums eine Festschrift, in der sie jeglichen Hinweis auf die jüdische Geschichte dieser Stand vermied. Zehn Jahre später erschien das Historische Jahrbuch der Stadt Graz im Gedenken an die Ereignisse des Jahres 1938 und der Herausgeber, Helfried Valentinitsch, legte größten Wert auf eine Darstellung auch der spezifisch jüdischen Geschichte dieses Jahres. Gleichzeitig finanzierte die Stadt einen Sammelband, der sich mit dem verschwiegenen Kapitel der Grazer Stadtgeschichte intensiv auseinandersetzte.19 Die Universität installierte, ausgehend von den Initiativen zweier Medizinstudenten (Christoph Pertl und Thomas Pieber) und Professor Walter Höflechners, unter der Federführung Christian Brünners als Rektor den David Herzog-Fonds in Erinnerung an den 1938 vertriebenen Landesrabbiner, um den Austausch von StudentInnen und WissenschaftlerInnen zwischen Israel und Österreich

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zu fördern, der nunmehr von allen steirischen Universitäten in Kooperation mit der Kultusgemeinde getragen wird. Im Zentrum des 1988 sichtbar gemachten Grundrisses der zerstörten Synagoge wurde ein schlichtes Denkmal errichtet. Damit entstand im öffentlichen Raum – durch die 1977 neu geschaffene Augartenbrücke über die Mur liegt der Platz nicht mehr in einer beschaulichen Häuserzeile, sondern grenzt an eine exponierte Straßenkreuzung – ein markantes Zitat der Zerstörung und der Shoah. Das Grazer Architektenehepaar Ingrid und Jörg Mayr, befasst mit dem Denkmal von 1988 und dem Bau der Zeremonienhalle 1991, entwickelte ein Modell einer Synagoge, die der kultischen Funktion ebenso entspricht, wie sie auch Gemeindezentrum und Begegnungsort im Sinne der angestrebten Dialogebenen werden kann.20 Am 60. Jahrestag der Zerstörung erfolgte die Grundsteinlegung, 1999 die Gleichenfeier und im November 2000 die Einweihung der neuen Synagoge. Nicht nur die Wahl des Zeitpunktes zeigt die historische Dimension des Unterfangens an, sondern auch die bewussten Zitate des zerstörten Bauwerkes im Neubau verweisen auf die Geschichte. Die Grundmauern der alten Synagoge tragen den neuen Bau, deren Kuppelarchitektur auf Betreiben Brühls in zeitgemäßer Form wiederholt wird.21 Rivka und Ben-Zion Dorfmau haben in ihrem Band „Synagogues without Jews“ der neuen Synagoge der Grazer jüdischen Gemeinde ein schönes erstes, wenn auch pessimistisches literarisches Denkmal gesetzt.22 Die schrittweise Rückkehr der Synagoge in das öffentliche Bewusstsein ist ein Vorgang, der die jüdische Gemeinde von Graz und das nichtjüdische Umfeld einbezog und so vielleicht jene Basis schaffen kann, die verdrängte jüdische Geschichte dieses Raumes sichtbar zu machen.

Anmerkungen 1 Stefan Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert, Graz–Wien–Köln 2000. 2 Die Problematik einer derartigen Vorgangsweise hat Karl Fitzthum maliziös kommentiert angesprochen. Karl Fitzthum, Wie man den Goldesel reitet. Stefan Karner, Kärntner Historiker und Intimus von Kanzler Schüssel, lässt steirische Geschichte schreiben – und „vergisst“ Juden nach 1945, in: KLIPP, Februar 2001, 15–18. 3 Vgl. Gudrun Reitter, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde 1908–1938, in: Dieter A. Binder/Gudrun Reitter/Herbert Rütgen, Judentum in einer antisemitischen Umwelt. Am Beispiel der Stadt Graz 1918–1938, Graz 1988, 9–172. Hier auch die ältere Literatur. Grundlegend: Gerald Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2007 (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 8). – Weiters Gerald Lamprecht (Hg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung, Auslöschung, Annäherung, Innsbruck 2004 (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 5). 4 Vgl. Eduard Staudinger, Die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 in Graz, in: Kurt Schmid/Robert Streibel (Hg.), Der Pogrom 1938. Judenverfolgung in Österreich und Deutschland, Wien 1990, 42–50. 5 Vgl. Dieter A. Binder, Spurensuche zur steirisch-jüdischen Geschichte 1945–1955, in: Siegfried Beer (Hg.), Die britische „Steiermark“ 1945–1955, Graz 1995,435–446. 6 Vgl. Gudrun Reitter, Die Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde von 1914 bis zur Gegenwart, in: Geschichte der Juden in SüdostÖsterreich, Graz 1988, 151–178. 7 Vgl. Thomas Albrich, Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945–1948 (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 1), Innsbruck 1987. 8 Siehe http://www.doew.at/projekte/holocaust/namentl.html. 9 Herbert Kraus, Das künftige Judenproblem Österreichs („Nur wenige mit unserem Lande Verwurzelte wollen bleiben bzw. zurückkehren“,

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„Die innere Situation des österreichischen Judentums“), in: Berichte und Informationen 2 (1949), 601f, 615f. Zur Selbstdarstellung siehe Herbert Kraus, Untragbare Objektivität. Politische Erinnerungen 1917 bis 1987, Wien 1988. Vgl. Albrich 1987 (wie Anm. 7), 187. Freundliche Mitteilung von Univ. Prof. Dr. Ernst Bruckmüller, Wien, an den Verfasser. Vgl. Brigitte Bailer, Wiedergutmachung. Kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993,154. Der „Verband der Rückstellungsbetroffenen“, das sind die „Arisieure“, konnte auch durch das Wettrennen der Parteien um die Stimmen der Ehemaligen einen entsprechenden innenpolitischen Aktionsrahmen erreichen. Vgl. Bailer 1993 (wie Anm. 12), 57. Vgl. Eduard G. Staudinger, Arisierung sagt viel über die Täter aus. Mehr als über die Opfer/Aryanization says a lot about the perpetrators – more than it does about the victims, in: Wolfgang Sotill, Es gibt nur einen Gott und eine Menschheit, Graz–Wien–Köln 2001, 148–153. Der Fall Borodajkewycz und der Fall Peter Klaudy an der Technischen Hochschule Graz 1966 machen deutlich, wie lange unter den Hochschullehrern unterschiedliche Formen des Rassismus üblich waren. Zum Werdegang Taras Ritter von Borodajkewycz vom deutschnationalen Katholiken zum Nationalsozialisten siehe Gerhard Hartmann, Im Gestern bewährt. Im Heute bereit, Graz–Wien–Köln 1988. – Zu Rektor Klaudy siehe Hans-Peter Weingand, Die Technische Hochschule Graz im Dritten Reich. Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus an einer Institution, Graz 1988, 97. Günther Kümel, der 1965 in Wien während einer Anti-Borodajkewycz Demonstration Ernst Kirchweger erschlug, studierte in Graz. – Vgl. Wolfgang Gombocz, Das Leben nach der Bombe, in: FORVM Juli–Dezember 1994. Vgl. Elisabeth Welzig, Die Zeit nach 1945/After 1945, in: Sotill 2001 (wie Anm. 14), Graz–Wien–Köln 2001, 174–196. So erhielt Ernst Knöpfelmacher 1961 für sein soziales Engagement das Goldene Ehrenzeichen für die Republik Österreich, mit dem auch Dr. Fritz Strassmann, langjähriger Präsident der Kultusgemeinde, ausgezeichnet wurde. Vgl. http://steiermark.orf.at/stories/239106/. Binder/Reitter/Rütgen 1988 (wie Anm. 3). Vgl. Elvira Regenspurger, Die Wiedererrichtung der Grazer Synagoge unter Berücksichtigung der politischen und medialen Öffentlichkeit, Maschr. Gewi. Dipl.arb., Graz 2003. Vgl. Dieter A. Binder, Eine Synagoge für Graz./A synagogue for Graz, in: Juden in Österreich. Jewish Austria, St. Pölten 2001, 16f. VaI. Rivka und Ben-Zion Dorfmau, Synagogues without Jews and the communities that built and used them, Philadelphia 2000/5761, 127–133.

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Baustelle des Magazins in der Keesgasse für Simon Rendi, geplant und ausgeführt von Stadtbaumeister ­Alexander Zerkowitz, 1912/13

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Iris Meder

Das Bauunternehmergewerbe und der Architektenberuf hatten im jüdischen Bewusstsein keine nennenswerte Tradition. In der Diaspora war kaum eine feste Verwurzelung in einem als Heimat empfundenen Landstrich möglich. Dennoch gab es in Österreich schon in der Epoche des Historismus einige erfolgreiche jüdische Architekten, etwa Wilhelm Stiassny, Maximilian Katscher und Max Fleischer, die auch mehrere Synagogen entwarfen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Architekturstudium für mitteleuropäische Juden jedoch ein wichtiges Thema. Der Zustrom jüdischer Studenten an die Architekturfakultäten stieg in dieser Zeit stark an.1 Gut beschäftigte jüdische Architekten und Baumeister vor dem Ersten Weltkrieg waren in Graz Alexander Zerkowitz und in Wien unter anderen Oskar Marmorek, Arthur Baron, Rudolf Erdös, Ernst Epstein, Ignaz Reiser, Spielmann & Teller, Gotthilf & Neumann, Julius Goldschläger, Richard Modern und Arnold Karplus. Die Meisterklasse Otto Wagners an der Wiener Kunstakademie galt als tendenziell antisemitisch und wurde daher von jüdischen Studenten gemieden. Wagners einziger jüdischer Meisterschüler in den Jahrzehnten seiner Lehrtätigkeit war Ernst Lichtblau, ein weiterer jüdischer Wagner-Schüler Emanuel Neubrunn. Eine Alternative war an der Akademie die Klasse des 1898 von Prag nach Wien berufenen Friedrich Ohmann, an der das Klima für jüdische Studenten wohl angenehmer war als in der Wagner-Klasse. Bei Ohmann studierten unter anderen Oskar Strnad, Oskar Wlach, Hugo Gorge, Arthur Gruenberger, Otto Rudolf Hellwig und Ernst Wiesner. Der Rektor der Wiener Technischen Hochschule (TH) war Ohmanns früherer Lehrer Carl König. 1866 wurde der 1841 geborene König Assistent Heinrich von Ferstels am Wiener Polytechnikum, der späteren Technischen Hochschule, 1884 ordentlicher Professor für Baukunst der Renaissance. Seine architektonische Praxis war einem nüchternen Neobarock verpflichtet. König war selbst jüdischer Herkunft. Er trat – vielleicht im Zusammenhang mit seiner Professur, da Juden der Weg in den Staatsdienst weitgehend verwehrt blieb – bereits in den 1870er-Jahren aus der jüdischen Gemeinde aus und blieb konfessionslos. Die Ausbildung an der konservativen TH mit ihrer hauptsächlichen Vermittlung solider technischer Grundlagen ohne Avantgarde-Ansprüche war bei der assimilierten jüdischen Studentenschaft äußerst beliebt. Zwischen 20 und 30 % der TH-Studenten waren jüdischen Glaubens  ; im Studienjahr 1909/10 standen 2079 Katho 

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LEBENS- UND ARBEITSBEDINGUNGEN JÜDISCHER ARCHITEKTEN IN ÖSTERREICH

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liken 794 jüdische Studenten gegenüber. König war seinen jüdischen Studenten, obwohl er keinen näheren Kontakt zu ihnen pflegte und „in stiller Zurückgezogenheit fast nur seiner Kunst“2 lebte, eine „Leitfigur, schien doch in seiner Person der Traum einer absoluten Emanzipation und Assimilation Wirklichkeit geworden zu sein“.3 Max Eisler beschrieb König als „Mann der Tradition […], der Können und Bildung kulturvoll vereinte“.4 Die Secessionisten schätzten ihn ebenso wie Adolf Loos. König soll allerdings seinen Studenten den Besuch der Bauschule von Adolf Loos per Aushang in der TH verboten haben, wie Felix Augenfeld berichtet5 – ein Verbot, an das sich viele seiner Schüler nicht hielten. Neben Josef Frank, Oskar Strnad und Oskar Wlach studierten bei König so unterschiedliche Architekten wie Maximilian Katscher, Arnold Karplus, Friedrich Schön, Oskar Marmorek, Felix Angelo Pollak, Erich Ziffer, Paul Engelmann, Paul Fischel, Arthur Gruenberger, Fritz Reichl, Walter Sobotka, Felix Augenfeld, Friedrich Kiesler, Rudolf Michael Schindler und Richard Neutra. Während zahlreiche Wagner-Schüler wie Leopold Bauer, Karl Ehn, Schmid/Aichinger, Rudolf Perco und Hubert Gessner viel beschäftigte Architekten des „Roten Wien“ wurden, führte Königs konservativer Ansatz, von dem für junge Architekten kaum Anregungen ausgehen konnten, bei seinen Studenten in Kombination mit der Ablehnung der Wagner-Schule und des Gesamtkunstwerkskonzepts der Wiener Werkstätte zur Entwicklung einer eigenen „Wiener Schule“. Die Begründer Oskar Strnad, Josef Frank und Oskar Wlach waren bald von einem Kreis gleichgesinnter Studienkollegen und Nachfolger umgeben, die wie sie aus dem liberalen, assimilierten jüdischen Bürgertum stammten. Ein Großteil war entweder, wie Hugo Gorge, Fritz Groß, Rudolf Lorenz, Ernst Löbl und Egon Riss, selbst in den Kronländern geboren oder entstammte, wie Felix Augenfeld, Otto Bauer, Paul Fischel, Ernst Freud, Leopold Kleiner, Ernst Lichtblau, Albert Linschütz, Fritz Rosenbaum, Ernst Schwadron, Willy Wiesner, Egon Wiltschek, Lotte Zentner und Martin Ziegler, in der ersten Generation zugewanderten Familien. Auch die ebenfalls größtenteils jüdischen Studenten und Mitarbeiter von Adolf Loos waren ein wichtiger Teil der Wiener Schule. In Wien ausgebildet, waren Loos-Schüler wie Felix Augenfeld, Paul Engelmann, Jacques Groag, Karl Jaray, Heinrich Kulka und Ernst Wiesner auch in Böhmen und Mähren tätig.6 Ihre wichtigsten Propagandisten fand die Wiener Schule in den jüdischen Publizisten Max Eisler, Else Hofmann und Max Ermers. Im jüdischen Umfeld war es besonders wichtig, Zusammenhalt und private wie berufliche Solidarität in einem festen Netz von Familienbeziehungen und Freundschaften zu finden. Die Bauherren der Architekten waren oft deren Freunde oder Verwandte. Manche traten im Exil wieder als Bauherren derselben Planer in Erscheinung. Einige Architekten erhielten einen Großteil ihrer Aufträge aus ihrem Verwandtenkreis, neben Josef Frank7 etwa Paul Fischel, der nach seinem TH-Studium in Wien ein erfolgreiches Büro gemeinsam mit dem nichtjüdischen Heinz Siller führte.8 70  | 

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Die Basis eines stabilen, geistig offenen familiären Hintergrunds im bürgerlichen Milieu des assimilierten Judentums trug sicher zur undogmatischen Grundhaltung der Vertreter der Wiener Schule bei. Josef Frank ist auch ein Beispiel für die Bedeutung von – auch beruflich fruchtbaren – engen Geschwisterbeziehungen. Frank profitierte (wie wohl auch umgekehrt) vom Umfeld seines als Physiker tätigen Bruders Philipp, der zum „Wiener Kreis“ um Moritz Schlick, Otto Neurath, Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein gehörte. Ein eigenes multidisziplinäres Netzwerk bestand um die Loos- und Strnad-Schüler Josef und Artur Berger, deren Schwestern Hilde und Fritzi in Wien einen Modesalon hatten. Mit Hildes Mann, dem Dichter und Kunstgewerbler Fritz Lampl, betrieben die Brüder die Möbel-, Glas- und Keramikwerkstätte „Bimini“, Josef Bergers Frau Margarete Hamerschlag und ihre Schwester Cornelia waren ebenfalls kunstgewerblich tätig. Ernst Freud, jüngster Sohn Sigmund Freuds, war durch seine Familie in die interdisziplinäre Gedankenwelt zwischen Psychologie und Architektur eingebunden, in die auch sein Schulfreund Felix Augenfeld integriert war. Augenfeld entwarf Sigmund Freuds Schreibtischsessel und arbeitete auch für Anna Freud, was zu mehreren Folgeaufträgen aus Psychoanalytikerkreisen führte.9 Als Stammgast des Café Herrenhof mit Josef Frank, Leopold Ponzen, Leopold Kleiner, Erich Boltenstern, Soma Morgenstern, Johannes Urzidil und Ernst Polak befreundet, war Augenfeld nach seinem Studium an der TH und der Bauschule von Adolf Loos auch Bühnenbild-Assistent von Oskar Strnad.10 Ähnliches gilt für Paul Engelmann und seine ebenfalls künstlerisch tätigen Geschwister Anna und Peter. Er gehörte einerseits zur Wiener Clique von Adolf Loos, Karl Kraus und Ludwig Wittgenstein, andererseits zum Olmützer Intellektuellenkreis um Jacques und Heinrich Groag, Ludwig Wittgenstein und Max Zweig, der Architektur, Bildende Kunst, Literatur, Darstellende Kunst, Dramaturgie, Komposition und Philosophie vereinte. Auch für Jacques Groag war das familiäre Umfeld von großer Bedeutung. Sein Bruder Emanuel war Maler, sein Vetter Heinrich Jurist, Amateurschauspieler und -regisseur.11 Viele Architekten verheirateten sich im architektonischen, kunstgewerblichen bzw. künstlerischen Umfeld und arbeiteten zum Teil auch mit ihren Ehepartnern zusammen – neben Jacques Groag, Josef Berger und Felix Augenfeld u. a. Oskar Wlach, Viktor Lurje, Otto Breuer, Gerhard Karplus, Heinrich Kulka und Willy Wiesner. Neben den zahlreichen an der Kunstgewerbeschule ausgebildeten Kunstgewerblerinnen waren auch Gartenplaner wichtige Mitarbeiter der Architekten. Während die führenden Gartenarchitekten, Albert Esch, Willi Vietsch, Oskar Wladar und Emmerich Ormos in Wien bzw. Theodor Thalhammer und Hans Grubbauer in Graz, nicht jüdisch waren, spielte die Profession bei Vertreterinnen des Wiener jüdischen Großbürgertums durchaus eine gewisse Rolle. Mit Yella Hertzka, Grete Salzer und Paula Fürth betrieben drei jüdische Gartenarchitektinnen, von denen die beiden Letzteren zusätzlich sowohl Planungsbüros wie auch Gärtnereien hatten, in Wien private Gartenbauschulen. Einen großen Gärtnereibetrieb hatte auch die Hertzka-Absolventin Helene Wolf, ebenso wie Hanny Strauß, Bauherrin und mehrfache Gartenplanerin für Josef Frank. Auch Ernst Plischkes spätere Frau Anna Lang arbeitete als Gartenarchitektin.12

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Nach dem Tod Carl Königs 1915 war der große Prozentsatz jüdischer Studenten an der Wiener TH rückläufig. Guido Kaminka berichtet über sein Studium in den 1920erJahren, die ‚Technik‘ sei zu jener Zeit „eine Hochburg des Ariertums“13 gewesen. Dennoch entschieden sich viele jüdische Studenten wie Heinrich Kulka, Otto Bauer14, Otto Breuer, Otto Hoffmann, Gerhard Karplus, Fritz Mellion, Egon Riss, Kurt Spielmann, Ernst Frommer, Egon Wiltschek und Helene Roth sowie Bauingenieure wie Anton Tedesko für die TH. Die Rolle als Zentrum eines eigenständigen Kreises von modernen Architekten wie vor dem Ersten Weltkrieg spielte die TH allerdings nicht mehr. Die dem Späthistorismus verpflichteten Lehrer Franz von Krauß, Leopold Simony, Emil Artmann, Max Ferstel und Karl Mayreder repräsentierten alles andere als die Avantgarde ihrer Zeit. Neben dem auf Kirchenbau spezialisierten Karl Holey, der ab 1925 eine TH-Professur hatte, stand allenfalls der wie Holey bei König und Ohmann ausgebildete Siegfried Theiß, der ab 1918 an der TH lehrte, mit seinem Büropartner Hans Jaksch für solide zeitgenössische Architektur. In der Ersten Republik war in Wien die Hochschul-Alternative weniger Akademie und TH als vielmehr Akademie und Kunstgewerbeschule. Die Architektenausbildung fand an der Kunstgewerbeschule seit 1900 bzw. 1909 in den Klassen von Josef Hoffmann und Oskar Strnad statt. Dazu wünschten sich viele eine dritte Klasse unter Josef Frank, der ab 1919 Baukonstruktion lehrte. Frank beendete seine Lehrtätigkeit jedoch schon 1925. Eine konfessionelle Bevorzugung in den Klassen des jüdischen Strnad und des nichtjüdischen Hoffmann lässt sich nicht ausmachen. Der Einfluss der Kunstgewerbeschule und ihrer Modernekonzeption ließ auch die Akademie nicht unberührt, zumal viele Absolventen der Kunstgewerbeschule in den Meisterklassen von Peter Behrens und Clemens Holzmeister an der Akademie Aufbaustudien absolvierten, die sie zum Führen des Zivilarchitektentitels berechtigten. Bei Behrens studierten in seiner von 1921 bis 1936 dauernden Wiener Zeit unter anderen Viktor Grünbaum (Victor Gruen) und Paul László. Ab 1924 leitete Clemens Holzmeister die zweite Architekturklasse der Akademie, deren Rektor er 1931 wurde. Bei ihm studierten unter anderen Rudolf Baumfeld, Fritz Reichl, Eugen Schüssler und Zoltán Müller. 1932 wurde Holzmeister von Frank zur Teilnahme an der Wiener Werkbundsiedlung eingeladen, geriet aber wenig später in klare Gegnerschaft zu diesem, als er Vorsitzender des gegen Franks ‚Allerwelts-Internationalismus‘ gerichteten „arischen“ Neuen Werkbunds (mit den Vizepräsidenten Hoffmann und Behrens) wurde. Holzmeister behinderte die modernen Tendenzen in Österreich während des Ständestaats trotz seiner einflussreichen Position als Staatssekretär für Kultur und Präsident der Zentralvereinigung der Architekten nicht. Unter anderem ermöglichte er die Vergabe des Österreichischen Staatspreises an Ernst Plischke und Oswald Haerdtl. Andererseits solidarisierte er sich mit den reaktionären Tendenzen des Neuen Werkbunds, was ihm die lebenslange Feindschaft von Frank und Plischke einbrachte. Der Neue Werkbund war „arisch“, aber nicht im nationalsozialistischen Sinne radikal antisemitisch. An seinen Ausstellungen nahmen auch jüdische Architekten teil. An 72  | 

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Über religiöse Dinge reflektierender, in der Kultusgemeinde engagierter Jude war, soweit man Rückschlüsse ziehen kann, wohl Leopold Ponzen, vor allem aber der Publizist Max Eisler, der sich auch mit Fragen modernen Synagogenbaus befasste. Der mehrfach publizierte Wohnraum in Hugo Gorges Haus ist der einzige, der (in Form einer Menorah) Hinweise auf den Glauben seiner Bewohner gibt. Viele mitteleuropäische jüdische Familien waren in der Ersten Republik völlig assimiliert und feierten, auch wenn sie nicht konvertiert waren, Feste wie Weihnachten. Einem patriotisch-konservativen Milieu ähnlich dem der Grazer Familie Zerkowitz entstammte zum Beispiel der 1890 geborene Fritz Reichl, Vizepräsident der Zentralvereinigung der Architekten und Mitglied des Österreichischen Jagdklubs. Mehrere Architekten traten, vielleicht aus beruflichen Gründen, aber sicher nicht entgegen religiöser Überzeugungen, nach 1900 aus der jüdischen Gemeinde aus oder konvertierten zum Katholizismus oder Protestantismus wie Siegfried C. Drach, Hans Schlesinger, Zoltán Müller, Rudolf Trostler, Paul Fischel und Richard Bauer. Gelegentlich wurden außerdem, wie etwa bei Hans (Samuel) Schlesinger, jüdische Vor- oder Nachnamen zugunsten solcher geändert, die nicht auf die konfessionelle Herkunft schließen ließen. Antisemitismus gehörte in Wien zur bürgerlichen Tradition und fand um 1900 beispielsweise in Bürgermeister Karl Lueger einen prominenten und noch heute öffentlich geehrten Verfechter. Juden wurde ihre jüdische Herkunft bewusst gemacht, indem sie ihnen durch ständige unterschwellige oder offensichtliche Benachteiligungen, etwa was das Erlangen öffentlicher Positionen betraf, vor Augen geführt wurde.16 Gerade in der Architektur resultierte daraus, wie gezeigt wurde, vielfach die Wahl der Hochschule und, daraus folgend, des persönlichen Wirkungskreises. Bei den zahlreichen Wiener Büros mit zwei Partnern gab es mit Fischel/Siller, Judtmann/Riss, Schüssler/Müller, Schuster/Schacherl und Baumfeld/Schlesinger fünf jüdisch-nichtjüdische Büros. Hatte 1925 noch ganz selbstverständlich ein stilisierter neunarmiger Chanukka-Leuchter den Eingang des von Josef Frank gestalteten „Café Viennois“ der Kaffeerösterei Julius Meinl auf der Pariser ‚Expo‘ geziert, so verlor der Antisemitismus in den 1930er-Jahren zunehmend alle Hemmungen, offen aufzutreten. Antisemitische Benachteiligungen konnten das ganze Leben prägen, etwa beim 1892 geborenen Leopold Ponzen. Mit Erich Boltenstern gewann Ponzen 1933 den Wettbewerb zum Restaurant am Wiener  

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Tagespolitik war man kaum interessiert, stand aber klar im Einklang mit der Politik des Austrofaschismus. Mehrere jüdische Architekten integrierten sich problemlos in den Ständestaat, einzelne beteiligten sich 1935 sogar am Wettbewerb eines „Denkmals der Arbeit“, das das Republikgründungsdenkmal am Ring ersetzen sollte. Andere, wie Josef Frank, Franz Schacherl oder Helene Roth, waren sozialdemokratisch exponiert, manche emigrierten nach den Februarkämpfen von 1934  : Frank zog mit seiner schwedischen Frau nach Stockholm, Helene Roth, die ihr TH-Studium als erste Österreicherin mit einem Ingenieurtitel abgeschlossen hatte, nach Palästina, ebenso Otto Hoffmann15 und Josef Berger sowie die Zionisten Guido Kaminka und Paul Engelmann.

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Kahlenberg, wurde aber von der offen antisemitisch agierenden Kahlenberg AG in der Realisierungsphase konsequent aus dem Projekt gedrängt.17 In den 1930er-Jahren war Ponzen Baugutachter der Israelitischen Kultusgemeinde. Er floh 1938 nach Shanghai, wo er 1946 vor seiner geplanten Rückkehr nach Österreich starb. In Graz mit seinem Hang zum Konservatismus und „Deutschtum“ war die Zahl jüdischer TH-Studenten im Vergleich zur Wiener TH verschwindend, wie die Zahlen der Jahre 1937/38 zeigen  : „Setzt man die absolute Anzahl der Studierenden mit ‚israelitischem Religionsbekenntnis‘ in Relation zur Differenz der HörerInnenzahlen zwischen 1937/38 und 1938/39, dann erhält man für die Universität und die TH Wien den Wert 38 […] und für die Technik in Graz gemeinsam mit der MHS [Montanistische Hochschule, Anm. d. Hg.] Leoben den Wert neun. Die Ausschließung jüdischer Studenten würde somit für die genannten Wiener Hochschulen ca. 40 % des HörerInnenrückgangs erklären, an den steirischen Hochschulen jedoch nur ca. 10 %  ! Schon vor dem ‚Anschluß‘, im WS 1937/38, hatte es […] an der Technik in Graz nur sechs jüdische HörerInnen gegeben, was auch Rückschlüsse auf das Klima an den Grazer Hochschulen zuläßt. […] Von ca. 14.000 Studierenden wurden 2 % als ‚Mischlinge‘ qualifiziert, von diesen 279 erfaßten Personen studierten sechs in Innsbruck und fünf in Graz.“18 Opfer des Nationalsozialismus wurden der 1897 in Mattersburg im Burgenland geborene TH-, Bauhaus- und Loos-Student Otto Breuer und seine Frau, die Berliner StrnadSchülerin Grete Neuwalder. Breuer erhängte sich 1938 gemeinsam mit seinem Bruder Josef. Grete Neuwalder-Breuer, die 1935–1938 mit der Kunstgewerblerin Felice Rix in Japan lebte, wurde 1942 in einem Konzentrationslager ermordet. Der Loos-Schüler Erich Ziffer, 1883 in Nordmähren geboren, arbeitete vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Architekten des Neue-Welt-Tempels Arthur Gruenberger zusammen, der wie Richard Neutra, Rudolf Michael Schindler und Friedrich Kiesler schon in den 1920er-Jahren nach Kalifornien zog. Ziffer wurde 1942 nach Theresienstadt und weiter nach Treblinka deportiert, wo sich seine Spur verliert. In Auschwitz ermordet wurde der in Olmütz geborene, hauptsächlich in Nordböhmen tätige TH-Absolvent Kurt Spielmann. Die meisten Architekten konnten jedoch fliehen. Nach Palästina zog neben Eugen Székely auch der Strnad-Schüler Rudolf H. Trostler (nicht identisch mit dem konvertierten Hoffmann-Schüler Rudolf Trostler), der 1942 Chefingenieur der britischen Armee wurde und später ein großes Büro in Jerusalem führte. Franz Schacherl landete in Angola, Hans Glas in Kalkutta, Viktor Lurje und Leopold Ponzen in Shanghai. In Auckland wurde Adolf Loos’ Bürochef Heinrich Kulka Chefarchitekt eines großen Planungsbüros. Während Artur Berger in Moskau Filme ausstattete, zogen Josef Berger und seine Frau von Palästina weiter nach London, wo er Städteplaner beim London County Council war. In Großbritannien arbeiteten auch Jacques Groag, Egon Riss, Lotte Zentner und Fritz Groß. Fritz Reichl wurde von Clemens Holzmeister 1939 als Büroleiter in die Türkei geholt. 1946 gründete er ein eigenes Büro in Los Angeles. Dort waren auch Liane Zimbler und, in deren Büro, Ada Gomperz tätig, außerdem Viktor Grünbaum, 74  | 

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jetzt Victor Gruen, dessen Büropartner Rudolf Baumfeld wurde. Nach New York verschlug es Oskar Wlach, Emanuel Neubrunn, Leopold Kleiner und Ernst Schwadron. Auch Arnold Karplus’ Sohn Gerhard, den der „Anschluss“ während seiner Brotarbeit als Skilehrer in der Schweiz überrascht hatte, führte in New York ein erfolgreiches Büro. Während sein ehemaliger Büropartner Karl Hofmann sich wie Paul Fischel und Ernst Fuchs (Ernest Leslie Fooks) in Australien durchschlug, landete auch Felix Augenfeld in New York, wo er sich einen festen, hauptsächlich aus Emigranten bestehenden Auftraggeberkreis aufbauen konnte. Augenfeld betrat nie mehr Wiener Boden.

  1 Siehe dazu auch: Jan Sapák, Brno’s Jewish Architects, in: Brněnští židovští architekti – Brno’s Jewish Architects 1919–1939, Brno 2000, 14.   2 K. M. [wohl Karl Mayreder], Zu Carl Königs siebzigstem Geburtstag, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins (1912), 241.   3 Ursula Prokop, Wien – Aufbruch zur Metropole: Geschäfts- und Wohnhäuser der Innenstadt 1910–1914, Wien 1994, 65. – Vgl. auch: Markus Kristan, Carl König 1841–1915. Ein neubarocker Großstadtarchitekt in Wien, Ausst.kat. Wien 1999.   4 Max Eisler, Oskar Strnad, Wien 1936, 8.   5 Siehe Felix Augenfeld, Erinnerungen an Adolf Loos, in: Bauwelt (1981), 1907.   6 Zu den hier erwähnten Architekten siehe auch: Iris Meder, Die Wiener Schule im Einfamilienhausbau 1910–1938, elib.uni-stuttgart.de/ opus/volltexte/2005/2094/, und www.architektenlexikon.at.   7 Siehe Iris Meder (Hg.), Josef Frank – eine Moderne der Unordnung, Salzburg 2008.   8 Fischel emigrierte mit seiner Frau Maria Lacerta Kammerer 1939 nach Melbourne, wo er seinen Namen in Finton änderte und als Fotograf arbeitete. Siehe auch: Iris Meder, „Sachen, wie sie eben geworden sind“ – Der Architekt Paul Fischel, in: David 21 (2009), Nr. 4.   9 Augenfelds Onkel Alois Augenfeld ist der Architekturgeschichte durch seine historistischen „Verbesserungsvorschläge“ für das Looshaus bekannt. Zu Augenfeld siehe auch: Ruth Hanisch, Felix Augenfeld, Diplomarbeit Wien 1995. 10 Siehe Iris Meder/Evi Fuks (Hg.), Oskar Strnad 1879–1935, Salzburg 2007. 11 Die Tschechoslowakei erlebte nach dem Ersten Weltkrieg einen wirtschaftlichen Aufschwung. Deutschsprachige jüdische Architekten hatten in Mähren recht gute Möglichkeiten. Wie Zdeněk Lukeš (Die Architektur in Böhmen, in: Lücken in der Geschichte 1890–1938: polemischer Geist Mitteleuropa. Deutsche, Juden, Tschechen, Prag–Eisenstadt–Regensburg 1994, 112–115) ausführt, hatten deutschsprachige und/oder jüdische Architekten in Böhmen schlechtere Voraussetzungen und verbargen daher oft ihre Herkunft. – Vgl. auch: Stephan Templ, Streiflichter auf die Baukultur in Brünn und Querverbindungen nach Wien, in: Adolph Stiller (Hg.), Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe Brünn 1930 (= Architektur im Ringturm 5), Salzburg 1999, 77–83. 12 Siehe dazu: Iris Meder/Ulrike Krippner, Six Jewish Garden Designers in Vienna, in: Acta Horticulturae. ISHS 2nd Int. Conference on Landscape and Urban Horticulture (2010). – Iris Meder/Ulrike Krippner, „Ein herrliches Selbstbewusstsein“ – Wiener jüdische Gartenarchitektinnen im frühen 20. Jahrhundert, in: Die Gartenkunst (2010), H. 2, 247–264. 13 Zit. n. Myra Warhaftig, Sie legten den Grundstein, Tübingen–Berlin 1996, 348. Guido (Gideon) Kaminka, als Sohn eines ukrainischen Rabbiners 1904 in Wien geboren, wurde an der TH promoviert und war dann kurz bei Josef Frank beschäftigt. Er veröffentlichte die Autobiografien „… ins Land, das ich dir zeigen werde“ (Zürich 1977) und „Schwieriges Israel“ (Zürich 1980). Nach Palästina zogen 1934 auch mehrere zionistische Absolventinnen von Yella Hertzkas Höherer Gartenbauschule für Frauen. 14 Siehe Iris Meder, „Ihr Platz ist in der Welt“. Fragmente zu Leben und Werk des Architekten Otto Bauer, in: David 20 (2008), Nr. 2, 62–67. 15 Der 1898 in Wien geborene TH-Absolvent, mit seinen von Adolf Loos beeinflussten eleganten Interieurs ein beliebter Innenarchitekt, war ab 1936 Chefarchitekt für Palästina und seit 1948 selbstständiger Architekt in Jerusalem. 16 Beispielhaft sei hier Max Eisler erwähnt, der an der Universität nie eine ordentliche Professur erhielt. Wie Sitzungsprotokolle in seiner Personalakte belegen, wurde von der Professorenschaft dezidiert nicht gewünscht, „dass er sich hereinwächst“. 17 Siehe Iris Meder, Von Wien nach Shanghai: Der Architekt Leopold Ponzen, in: David 20 (2008), Nr. 4, 68–72. – Dies., Semmering und Akropolis – Die Bebauung des Kahlenbergs, in: Judith Eiblmayr/Iris Meder (Hg.), Moderat modern. Erich Boltenstern und die Baukultur nach 1945, Salzburg 2005, 53–63. 18 Hans-Peter Weigand, Die Technische Hochschule Graz im Dritten Reich. Zur Entwicklung zwischen 1938 und 1945, in: Josef W. Wohinz (Hg.), Die Technik in Graz, Graz–Wien–Köln 2002, 91–110, 96f.  

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Anmerkungen

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VOM ARBEITSAMT, DAS DER STRASSE WEICHT

Anmerkungen zur Bildlichkeit, Geschichtlichkeit und Politik zweier moderner Raumtypen Raumbilder „Im Gegensatz zu repräsentativen Industrie-, Verkehrs- und Verwaltungsbauten oder Warenhäusern, die den Aufschwung der Wirtschaft verkünden, verkörpert das Arbeitsamt die Schattenseite der modernen Industriegesellschaft“, so Britt Schlehahn über „Das Arbeitsamt“ in dem Sammelband „Orte der Moderne“1. Das Arbeitsamt, ikonischer Gebäudetyp der Moderne, „verkörpert“, umfasst also räumlich, was seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfasst werden wollte  : die Menge der Arbeitslosen, oder, anders genannt  : die industrielle Reservearmee. Im Schatten der modernen Industriegesellschaft stehend, wird diese bis heute dokumentiert, gezählt, organisiert, in speziellen Räumlichkeiten routinemäßig auf ihre Vermittelbarkeit geprüft. Um diesen Ort, diesen Raumtypus, geht es im Folgenden  ; angeregt durch den Abriss des 1931/32 errichteten Grazer Arbeitsamts im Zuge des Umbaus der Stadt Graz zu einer massenverkehrstauglichen Stadt, für den der Ausbau des Bahnhofgürtels Mitte der 1950erJahre beispielhaft ist. Damit ist auch schon der zweite Raumtypus benannt, der hier angesprochen werden soll  : die Auto-Straße – ebenfalls ein exemplarischer Raum der Moderne. „Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewusstseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewusstsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar,“2 schreibt Siegfried Kracauer 1930 über das, was im Warteraum eines Arbeitsamts sichtbar wird in dem Text „Über Arbeitsnachweise“ aus dem Buch mit dem für unseren Kontext bezeichnenden Titel „Straßen in Berlin und anderswo“.

Das Grazer Arbeitsamt, von dem hier die Rede ist – aufgrund fehlender Dokumentation kaum mehr in Erinnerung – wurde von Architekt Eugen Székely geplant, der 1933 mit diesem Gebäude als „ein planvoll schaffende[r], alle modernen Bau- und Organisationsmethoden voll beherrschende[r] Fachmann“3 international auf sich aufmerksam machte. 76  | 

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Umschichtungen: Pragmatik städtebaulicher Modernisierung

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Das Arbeitsamt wurde im Zweiten Weltkrieg beim 18. dokumentierten Luftangriff auf Graz am 18. Dezember 1944 „mittelschwer“ beschädigt4 und im Jahre 1956 im Zuge der „Bahnhofregulierung Ghegagasse“ abgerissen, um dem neuen mehrspurigen Bahnhofgürtel Platz zu machen.5 Mein Text stellt sich die Frage nach dem Kontext des Gebäudes, seiner Errichtung, seiner Funktion, sowie nach der Zeit, in der es bestand. „Und weil unsere Zeit aus politischen und damit wirtschaftlichen, aus technischen und sozialen Ursachen von Grund aus die Lebenspraxis verändert hat, ist es vor allem die Baukunst, die diesen neuen Voraussetzungen gerecht werden muß.“6 Baukunst würde auch von nun an „die einheitliche Befriedigung der Raum- und Zeitbedürfnisse des Menschen mittels einer großen künstlerischen Organisierung der Welt“ sein, so Eugen Székely, der mit solchen Aussagen in den 1930er-Jahren vielleicht in Graz beinahe allein dasteht, jedoch nicht im internationalen Planungsumfeld. Nicht nur das Bekenntnis zum modernen Stil des Internationalen Neuen Bauens, sondern auch die gleiche Bau-Aufgabe vereint Székely hier etwa mit Bauhausgründer Walter Gropius, der 1927–1929 das bis heute berühmte Arbeitsamt Dessau erbaute, oder auch mit Ernst A. Plischke, Architekt des nicht minder bekannten Liesinger Arbeitsamts in Wien aus dem Jahr 1930.

Während die oben genannten renommierten Beispiele heute noch stehen, ist das Grazer Arbeitsamt von Eugen Székely verschwunden und beinahe vergessen. Dort, wo heute 50 000 Fahrzeuge pro Tag den Bahnhofgürtel passieren7, wurden in den 1930erJahren „[i]n einer Stunde […] ohne Schwierigkeiten 700 bis 1000 männliche und 350 bis 800 weibliche Personen erfaßt“.8 „Jede Gesellschaftsschicht hat den ihr zugeordneten Raum“, schreibt Siegfried Kracauer 1930 über „Arbeitsnachweise“. Kracauers Schreiben über Massenkultur beginnt einige Jahre zuvor mit Essays über das Warten und die Langeweile als Existenzweisen (in) der Moderne und endet Jahrzehnte später in seinem Vergleich von Geschichtserfahrung, die das Verlorene und Vergessene erfasst, mit dem Aufenthalt in einem Vor- oder Warteraum. Schon das Arbeitsamt erscheint ihm als ein „Warte-Amt“.9

Vergleichbar mit Gropius und Plischkes Arbeitsamt, war Székelys Grundriss ebenfalls optimiert auf Bewegungsflüsse der Arbeitslosen, um Staus ebenso wie Unruheherde zu vermeiden. So befanden sich die Meldestellen im Erdgeschoss, um rasch die erste Kontaktaufnahme zu organisieren und die Arbeitsuchenden im Haus zu verteilen  : die Arbeiter in die Arbeitsvermittlung im ersten Stock, die Angestellten in den zweiten Stock (mit einer klischeehaften räumlichen Erweiterung durch einen Lesesaal mit Fachzeitschriften). Im dritten Stock, dort, wohin der Weg am längsten ist, die Berufs­  

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beratungszimmer. Rationales Bauen im Sinne effizienter Abläufe und einer zweckmäßigen Funktionalität, die Wartende von „Abgefertigten“ gezielt trennt. Dieses Arbeitsamt, von einem der wenigen Grazer Vertreter des Neuen Bauens, das nach kurzer Zeit bereits einer Gürtelstraße zum Opfer fällt, steht gleich in mehrerlei Sinn im Zeichen von Rationalisierung. Als „arbeitendes Amt“ war es selbst organisiert wie eine Fließband-Fabrik, nach tayloristischen Prinzipien10  ; und trotzdem  : so fordistisch linear und rational die Organisation des Grazer Arbeitsamtes intern auch war, musste es doch dem größeren Anliegen und Maßstab einer urbanen Rationalität weichen  : dem Ausbau des Bahnhofgürtels. Wenn mit dem Maßstab hier ein Unterschied ins Spiel kommt, der für die neue Rationalität der Fortbewegung auf der Straße steht, so gibt es doch zwischen Arbeitsamt und Straße Korrespondenzen, die bis zu einer annähernden Ununterscheidbarkeit reichen  : Unzuordenbar, wenn aus dem Kontext des Texts gerissen, scheint folgende Beschreibung über die funktionalistischen Planungsziele beider Räume zugleich zu sprechen  : „[…] überall dort, wo Massenverkehr bedingt ist, so daß ein vollkommener Fließverkehr gesichert ist  ; damit ist aber auch die Zwangsläufigkeit des Verkehrs gegeben […]“11. Als hieroglyphenhaftes Zeitbild lässt sich die Rationalität modernen Städtebaus lesen, durch Tabula rasa Platz für die Vision der neuen Stadt zu machen. Wenn das Arbeitsamt der Straße weichen muss, so geht es nun um noch wichtigere Passagen, um Verkehrsadern, die ebenfalls Arbeitende verteilen, jedoch in ihren PKWs, und es geht so wie im Arbeitsamt darum, Staus und Unruheherde zu vermeiden. Und zusätzlich zum Unterschied und zur ausgeprägten Analogie zwischen den beiden urbanen Rationalisierungsräumen können wir auch eine Art Verflechtung oder Überkreuzung feststellen – insofern nämlich, als der eine die Zeit verräumlicht und der andere den Raum verzeitlicht. Im Arbeitsamt gilt es, die Zeit des Wartens räumlich zu gliedern, sie in Segmente einzuteilen  : Dadurch sollte gewährleistet werden, dass sich die Arbeitslosen im Warten nicht begegnen und (in jedem Sinn) zusammentun. Auf der Straße gilt es, den Raum der Bewegung zeitlich zu organisieren  : im Sinn der Geschwindigkeit, des reibungslosen Verkehrsflusses, der Mobilität.

Geplant und flexibel: Massen-Erfahrungsorte der „biopolitischen“ Moderne „[D]ass die Menschen in diesen Räumen so nackt und bloß dastehen wie die Wände, ein Objekt der Hygiene“ und dass „[k]eine Aura gnädig das Körperliche ein[hüllt]“, und dass durch die Raum- und Diskursformen der Reglementierung „die elementaren Lebensereignisse resolut angepackt werden“ – dieser Zugriff von Macht auf Körper springt Kracauer an den im Arbeitsamt Wartenden ins Auge.12

Das Arbeitsamt fügt sich in die Reihe moderner Disziplinarbauten bei Foucault ein. Als „konkrete Form“ des versicherten Lebens, der demoskopischen Planung, und als 78  | 

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disziplinierende Vereinzelungsumgebung beschreibt es Simon Roloff im Kontext von biopolitischem Regieren, das auf die zu optimierenden „Lebensprozesse“ von „Bevölkerungen“ zugreift. Historisch gesehen entwickelt sich das Arbeitsamt aus den Arbeitshäusern des 19. Jahrhunderts, als man Arbeitslosigkeit noch als selbstverschuldet verstand und die schuldigen Subjekte zu verbessern versuchte (oder auch in Arbeitshäusern versteckte). Ende des 19. Jahrhunderts begann man, „die Arbeitslosigkeit als eine Art Kollateralschaden der Mobilisierung der Arbeiter zu begreifen, dessen Folgen unabänderlich sind“, und so setzt um 1900 eine neue Regierungstechnik ein  : „Architekturen zur Lenkung und Kontrolle einer Bewegung von Menschen, die für ihren Lebensunterhalt nicht aufkommen können.“13 Ab der Errichtung der ersten Arbeitsämter (1927), die die Reservearmee der ArbeiterInnen als wertvolles Kapital verstanden und die Zusammenlegung der Verwaltung freier Arbeitskräfte und freier Stellen organisierten, hatten die Arbeitsämter bis 1994 ein Vermittlungsmonopol. Bekanntlich gibt es dieses Vermittlungsmonopol heute nicht mehr. Private Vermittler, und Leiharbeiter-Firmen finanzieren sich über Vermittlungsgebühren  ; was sie vermitteln, ist nicht zuletzt ihr Image als kreative, dynamische Unternehmen im Konkurrenzkampf der Arbeitskraft-Anbieter-Agenturen, die heutzutage „Staff Power“, „star4work“ oder „Jobbörse“ heißen. Mit der Krise der Moderne verschwinden auch die „Orte der Moderne“. Das Arbeitsamt wird durch die Jobbörse im Internet abgelöst, wobei es auch hier wieder um einen „Transitraum“ geht, zumal einen, der in den Anfängen seiner Massenwirksamkeit, Mitte der 1990er-Jahre, unter dem heute schon fast vergessenen Beinamen „Daten-Highway“ geläufig war. Noch transitorischer und damit auch noch bezeichnender für postfordistisch prekäre Arbeitsvermittlung ist etwa die Raumhieroglyphe der Manga Kissa  : Das sind Internet-Cafés in Tokyo und anderen japanischen Großstädten, die zur temporären Wohnstätte und Internet-ArbeitssuchSurf-Station einer neuen, zwangsflexibilisierten „working poor“-Klasse in Japan geworden sind.14 Anstelle des disziplinarischen Raums sind heute straßenartige Transitzonen die Orte der Stellensuche und der Jagd nach dem knappen Gut Lohnarbeit  : Die Mobilität, die den Werktätigen in den neuen Arbeitsämtern abverlangt wird, bedeutet oft, dass sie einer Arbeit nachgehen, indem sie einem Arbeitsplatz nachreisen.15

Vergessen / In Nebenstraßen Generell wurden Arbeitsämter bald schon eher in Nebenstraßen als auf Hauptstraßen gebaut  ; dies aus mindestens zweierlei Gründen  : Zum einen sollte diese Problemzone der Lohnarbeitsökonomie im Stadtbild und im öffentlichen Bewusstsein nicht allzu sehr präsent sein. Zum anderen wurde in den Standortdebatten beim Bau von Arbeitsämtern oft die Sorge geäußert, dass „die Arbeitslosen einen Rückstau im städtischen Verkehr erzeugen und am Amt vorbeigehende Passanten durch ihre bloße An 

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wesenheit belästigen.“16 (Das Arbeitsamt aus den 1950er-Jahren, das anstelle jenem von Székely, aber nicht an derselben Stelle, in der Babenbergerstraße nahe dem Grazer Hauptbahnhof errichtet wurde, hat sich ebenfalls in eine Seitenstraße zurückgezogen.) Das Arbeitsamt als Raumtypus ist wie eine „Passage, durch die der Arbeitslose wieder ins erwerbstätige Dasein gelangen soll. Leider ist die Passage heute stark verstopft.“ Das schreibt Kracauer 1930 in seiner Dechiffrierung des Arbeitsamts.17 Im selben Jahr liest er einen anderen modernen Raumtypus, der in Nebenzonen und ins Vergessen absinkt, im Zeichen einer Biopolitik der Verdinglichung, im Zeichen des Abschieds und drohender politischer Gewalt. Über eine schäbig gewordene Ladenpassage und die in ihr endlos auf Abnehmer wartenden Dinge des Konsums schreibt Kracauer  : „Alle Gegenstände sind mit Stummheit geschlagen. Scheu drängen sie sich hinter der leeren Architektur zusammen, die sich einstweilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus [sic  !] oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist  ?“18

Das Nicht-Sehen und Vergessen, dem der moderne Raumtyp des Arbeitsamts generell preisgegeben wird, betrifft Székelys Grazer Arbeitsamt in einer noch einmal spezifischen Weise. Der Weg des Vergessens von Spuren jüdischen Lebens und einer zeitgenössisch als „jüdisch-links“ definierten architektonischen Moderne scheint in zweierlei Sinn vom Arbeitsamt zur Autobahn zu führen  : zum einen im Sinn einer Mobilisierung durch den Nationalsozialismus, die man schematisch fassen könnte als „Entlassung der Arbeitslosen in die Arbeitswelt der Reichsautobahn“19  ; zum anderen mutet es ein wenig wie ein Fall von reibungslosem, allzu „rationalisiertem“ Entsorgungstransfer an, wenn der Bau eines jüdischen Architekten nach dem Zweiten Weltkrieg, zehn Jahre nach einem „mittelschweren“ Bombenschaden, als irreparabel dasteht – und ab dann eben nicht mehr dasteht, weil das Arbeitsamt einer Autostraße weichen muss.

Anmerkungen 1 Britt Schlehahn, Das Arbeitsamt, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.–New York 2005, 91–98, hier 91. 2 Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise [1930], in: Ders., Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 1987, 52. Diese und die folgenden kursiv gesetzten, auf Siegfried Kracauer bezogenen Passagen verstehen sich als parallel laufender „Text im Text“. 3 A. H., Der Neubau des Grazer Arbeitsamtes (Eine Arbeit des Zivilarchitekten Ing. Eugen Székely), in: Österreichische Kunst 4 (1933), H. 4, 11–15, hier 15. 4 „Das Arbeitsamt in der Ghegagasse 35–37 erlitt durch zwei Bomben mittelschweren Schaden.“ Walter Brunner, Bomben auf Graz, Graz 1989, 228. 5 Der Bahnhofgürtel wurde Mitte der 1950er-Jahre um einige Meter verlegt und im Zuge dessen verbreitert. 6 Eugen Székely, zit. n. Antje Senarclens de Grancy, Keine Würfelwelt. Architekturpositionen einer „bodenständigen“ Moderne, Graz 2007, 111 und 115. 7 http://www.styria-mobile.at/home/forum/index.php?topic=14.msg2859#msg2859, Zugriff: 6. 11. 2009.8 A. H. 1933 (wie Anm. 3), 11. 9 Kracauer [1930] (wie Anm. 2), 52.

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10 Generell zum Arbeitsamt als Ort der Moderne und des rationalistischen Grundrisses vgl. Schlehahn 2005 (wie Anm. 1) über das Dessauer Arbeitsamt von Walter Gropius, oder auch: Christiane Mattiesson, Die Rationalisierung des Menschen. Architektur und Kultur der deutschen Arbeitsämter 1890–1945, Berlin 2008. 11 A. H. 1933 (wie Anm. 3), 11–15. 12 Kracauer [1930] (wie Anm. 1), 58. 13 Simon Roloff, Vereinzelungsumgebungen. Räume des Lebensunterhalts um 1900, in: Thomas Brandstetter, Günther Friesinger/Karin Harrasser (Hg.), Ambiente. Das Leben und seine Räume, Wien 2009, 111.14 Zu Manga Kissa vgl. Gabu Heindl, Das Leben in Zellen – Von Räumen zum Vergessen, Kapseln und sheep boxes, in: dérive 34 (2009), 28–32. 15 Gabu Heindl, Der Arbeit Nachgehen, in: Dies. (Hg.), Arbeit Zeit Raum. Bilder und Bauten der Arbeit im Postfordismus, Wien 2008, 138–163. 16 Schlehahn 2005 (wie Anm. 1), 94. 17 Kracauer [1930] (wie Anm. 2), 52. 18 Siegfried Kracauer, Abschied von der Lindenpassage, 1930, in: Ders., Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 1987, 29. Dank für KracauerMithilfe an Drehli Robnik. 19 Schlehahn 2005 (wie Anm. 1), 97.



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Abenteuerspielplatz des Vereins Fratz Graz im Afritschgarten

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Judith Laister

ZWISCHENRAUM AFRITSCHGARTEN Grenzen – Nutzungen – Nachbarschaften

Einleitung: Es war einmal ein Lattenzaun …

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Wenn von Zwischenräumen und Architektur die Rede ist, wird gerne Christian Morgenstern zitiert. In seinem rätselhaften Gedicht „Der Lattenzaun“ aus den populären Galgenliedern (1905) spielt er wortwitzig mit dem Gedanken, ein großes Haus aus dem Zwischenraum eines Lattenzauns zu bauen  : Der Lattenzaun Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da – und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus. Der Zaun indessen stand ganz dumm, mit Latten ohne was herum, Ein Anblick gräßlich und gemein. Drum zog ihn der Senat auch ein. Der Architekt jedoch entfloh nach Afri- od- Ameriko. Christian Morgenstern

Morgensterns Gedicht soll hier nicht weiter analysiert werden. Nur soviel  : Interpretationen gibt es viele. Sie reichen von einer frühen Kritik am modernen Architekten, der keinen Platz für undefinierte Zwischenräume und Durchblicke mehr lässt, bis hin zur Vision einer zaun- bzw. grenzenlosen Welt. Wie dem auch sei, gesichert ist lediglich, dass Morgenstern in seinen Galgenliedern dem menschlichen Spieltrieb huldigt, indem er seinen heiteren Versen ein entsprechendes Nietzsche-Zitat voranstellt  : „Im ächten Manne ist ein Kind versteckt  : das will spielen.“



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Aufgrund zahlreicher assoziativer Referenzen zum bearbeiteten Themenfeld der Grenzen, Nutzungen und Nachbarschaften des Grazer Afritschgartens sollen Morgensterns viel zitierte Zeilen einmal mehr1 als heuristisches Leitbild herhalten. Auch hier, auf einem Stück Spielplatz samt architektonischem Bauteil im Bezirk Lend, findet sich ein Lattenzaun mit Zwischenraum hindurchzuschaun. Auch hier geht es bei näherer Betrachtung um schrumpfende Spielflächen und Freiräume, um Geschichte und Erinnerung, um die Definitionsmacht der gebauten Welt, um Geschmack und politische Entscheidungen – und obendrein um einen Architekten, der tatsächlich nach Afrika fliehen musste. Der Afritschgarten, eine seit den 1910er-Jahren von den „Kinderfreunden“ und seit den 1990er-Jahren auch vom Verein „Fratz Graz“2 genützte Grünanlage, erweist sich als überraschend großer, beinah naturwild wirkender Spielraum zwischen dicht aneinandergereihten Wohn-, Verkehrs- und Gewerbekomplexen. Mit der Flächenwidmung „Spiel und Sport“ ist das Areal zwar klar definierter Teil des funktionalisierten Stadtraums, doch heben sich die Aktionsmöglichkeiten hinter dem hohen, teilweise mit Stacheldraht begrenzten Zaun klar von seiner gebauten Umwelt ab. Der ca. 7000 m2 große Grund beherbergt einen 1995 von „Fratz Graz“ angelegten Abenteuerspielplatz mit Tierecke, Biotop, BMX-Bahn, Festplatz und Brunnen samt Matschgrube. Alte Linden- und Kastanienbäume, nur teilweise gemähte Rasenflächen sowie wuchernde Bambussträucher und Brennnesseln bieten im Vergleich zu konventionellen Spielplätzen ein Mehr an „Natur“, „Abenteuer“ und „Freiraum“. Den östlichen Rand des Areals begrenzt ein langgestreckter, mit Tier- und Pflanzenmotiven bemalter, auf den ersten Blick architektonisch unscheinbarer Flachbau. Das gelbe, eingeschossige Haus (Gabelsbergerstraße 22), dessen rückspringender Eingangsbereich von quadratischen Säulen gesäumt ist, beherbergt Kindergarten und Kinderkrippe der „Kinderfreunde“ sowie Büro- und Aufenthaltsräume des Vereins „Fratz Graz“. Erst auf den zweiten Blick lässt sich hinter der bunten Fassade der architekturhistorische Wert des Gebäudes erahnen  : Einige Türen im Innenbereich, rückseitige Fensterluken und andere teils verborgene Details erweisen sich als typische Bauelemente der Zwischenkriegszeit, die die rigorosen Renovierungs- und Verzierungsarbeiten der letzten Jahrzehnte überdauert haben. Im Kern birgt das Gebäude – wenngleich beinahe bis zur Unkenntlichkeit transformiert – ein Werk des vor allem in Wien wirkenden Architekten Franz Schacherl (1895–1943). Es wurde 1930 als „Kinderheim Graz-Lend des Vereins Freie Schule – Kinderfreunde Graz“ errichtet und legt inhaltlich wie formal Zeugnis von einer wesentlichen Phase österreichischer Architekturgeschichte ab. Trotz zahlreicher baulicher und organisatorischer Veränderungen sind Haus und Grünfläche bis heute ihrer ursprünglichen Funktion und Institution verbunden geblieben. Angesichts der stadträumlichen Transformationen des umliegenden Gebiets stellt der vorliegende Text die Frage nach den Ursachen dieser relativen Kontinuität 84  | 

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im stadträumlichen Wandel  : Warum kann in der Grazer Gabelsbergerstraße 22 seit knapp 80 Jahren, gut verborgen hinter einem hohen Lattenzaun, in und um ein im Kern architekturhistorisch bemerkenswertes Haus gespielt werden  ? Eine Antwort wird im Folgenden entlang zweier Argumentationsstränge verfolgt. Zuerst gilt es Geschichte und Gegenwart des Areals als Identifikationsort der „Kinderfreunde“ zu untersuchen, um danach die Positionierung des „Afritschgartens“ im soziotopografischen Raum der Stadt Graz näher zu bestimmen. Die dauerhafte, physische Besetzung städtischen Raums, ist – so wird sich zeigen – nicht nur Produkt permanenter ökonomischer und politischer Verhandlungen, sondern immer auch Ausdruck erinnerungskultureller Wirkmacht.

Grünanlage, Gebäude und der Name „Afritschgarten“ gehen zurück auf den ehemaligen Tischlergehilfen, späteren Zeitungsredakteur und Grazer Stadtrat (ab 1918) für Wohlfahrtswesen und Jugendfürsorge Anton Afritsch (1873–1924). Geboren als Sohn einer Fabriksarbeiterin in Klagenfurt, der in armen Verhältnissen ohne Vater aufwuchs, schloss sich Afritsch nach seiner Übersiedelung nach Graz der Sozialdemokratischen Partei an und wurde Redakteur der Zeitung „Arbeiterwille“. Am 26. Februar 1908 gründete er gemeinsam mit etwa 50 anderen Eltern in Graz den „Arbeiterverein Kinderfreunde“, dessen Vereinsstatut in § 2 festhält  : „Der Verein ist ein nichtpolitischer und stellt sich zur Aufgabe, das geistige und leibliche Wohl der Kinder zu fördern.“ Ziel des Fürsorgevereins war es, durch gemeinschaftliche Freizeitaktivitäten im Grünen das Elend von Arbeiterkindern zu bekämpfen, wobei zu Beginn Parteiinteressen eine untergeordnete Rolle spielten. Dem Humanisten Afritsch ging es um das Wohlergehen von Kindern, die Entfaltung geistiger Freiheit sowie um die Linderung der Folgen rasanter Urbanisierung, die auch in Graz immer stärker öffentlich sichtbar wurden  :

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Erinnerungsraum: Kinderheim Graz-Lend/Afritschgarten

„In Graz wachsen mehrere Tausend Kinder heran, ohne das Notwendigste für ihren Lebensweg mitzubekommen. Sie sind Kinder der Straße, auf der Straße groß geworden und die Straße ist ihr Heim geblieben. Ihre Eltern sind schon froh, wenn sie die primitivsten leiblichen Bedürfnisse der Kinder befriedigen können. Mehr ist meistens nicht möglich. Die Zukunft dieser Kinder ist mehr als düster. Die Straße verlassen sie nur dann, wenn sie in Spelunken gehen. Im jugendlichen Alter unterliegen sie der kleinsten Versuchung, Arreststrafen werden zu Kerkerstrafen.“3

Erster Schauplatz für die Spiele und Aktionen des „Arbeitervereins Kinderfreunde“ war eine alte Werkzeughütte im Grazer Volksgarten (Bezirk Lend), in dessen Nähe Afritsch mit seiner Familie wohnte. Einige Jahre später konnte das Städtische Jugendheim im Volksgarten bezogen werden, wo eine Kinderbücherei gegründet und zahlreiche Veran 

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staltungen abgehalten wurden. Nachdem sich die Afritsch-Stammgruppe in Graz rasch vergrößern konnte und Ortsgruppen in ganz Österreich gegründet wurden, erfolgte 1917 die Fusion zum „Reichsverein Kinderfreunde“, der sich als Vorfeldorganisation der Sozialdemokratischen Partei verstand. Nach dem Ersten Weltkrieg nahmen Aufgabenfelder und Mitgliederzahlen sukzessive zu, wobei Fragen einer demokratischen und sozial gerechten Schule sowie einer freien Erziehung einen übergeordneten Stellenwert einnahmen. Als Folge dieser Entwicklungen wurden 1923 die Kinderfreunde und der Schulverein „Freie Schule“ zu der gemeinsamen Organisation „Freie Schule – Kinderfreunde“ vereinigt. Mit zunehmender Schärfe der ideologischen Auseinandersetzungen in Österreich Mitte der 1920er-Jahre nahm auch die öffentliche Präsenz der Aktivitäten verschiedener Parteiorganisationen zu. Ende der 1920er-Jahre zählten die Kinderfreunde einen Höchststand von etwa 100.000 Mitgliedern. Auf einem im Besitz der Stadt befindlichen Areal errichtete der aus einer jüdischen sozialdemokratischen Familie stammende Architekt Franz Schacherl (1895–1943) das „Kinderheim Graz-Lend des Vereines Freie Schule – Kinderfreunde Graz“.4 Errichtet nach den Prinzipien der Sachlichkeit und Klarheit, gleichzeitig den ikonischen Anforderungen eines Baus für die Pioniertätigkeit der Kinderfreunde in Graz entsprechend, gestaltete er das Gebäude als Hybrid zwischen moderner Sachlichkeit und klassizierenden Motiven. Einem rückspringenden Portikus mit vier Stützen folgte ein zentraler Versammlungssaal, in dem Podium und Publikum eine Einheit bildeten. Bekrönt wurde das Gebäude an der Schauseite von einem repräsentativen Giebel mit der Inschrift „Kinderheim Graz-Lend des Vereines Freie Schule – Kinderfreunde Graz“. Schon kurze Zeit später, im Jahr 1934, mussten im Zuge der austrofaschistischen Diktatur die Kinderfreunde ihre Tätigkeit einstellen. Der Arbeiterverein wurde verboten und sein gesamtes Vermögen inklusive aller Einrichtungen beschlagnahmt, so auch das von Schacherl errichtete „Kinderheim Graz-Lend“. Nach der NS-Zeit erfolgte im Juni 1945 die Wiederaufnahme der Aktivitäten, wobei die ideologische Orientierung der Zeit vor 1934 klar an Bedeutung verlor. Nach einer Phase der Aufbauarbeit widmet sich der Verein seit den 1960er-Jahren dem Ausbau von Kindergärten bzw. -krippen und hat sich von einer politisch-pädagogischen Institution zu einem anerkannten Anbieter im Dienstleistungssektor Kinderbetreuung entwickelt. Anlässlich der 75-Jahr-Feier zur Gründung der Kinderfreunde in Graz im Jahr 1983 kam es zur dringend notwendigen Renovierung des ehemaligen „Kinderheim GrazLend“. Im Zuge einer pragmatischen, den aktuellen Raumbedürfnissen folgenden Erneuerung erfolgte der Rückbau fast aller markanten architekturhistorischen Charakteristika des Gebäudes. Heute zeugt allein der rudimentäre Säulenportikus von der symbolischen Bedeutung des Gebäudes im Kontext der Entstehung und Entwicklung der Kinderfreunde in Graz. Das großzügige Grünareal, auf dem der Bau steht, ist nach wie vor im Besitz der Stadt Graz und im aktuellen Flächenwidmungsplan für „Spiel und Sport“ vorgesehen. Nach wie vor sind die Kinderfreunde Pächter des Grundes sowie Besitzer des Hauses, das als „Luftkeusche“ auf fremdem Grund (Eigentum der 86  | 

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Stadt Graz) unter Verwendung von Eigenmitteln errichtet wurde. Die Kinderfreunde Afritschgarten unterhalten hier eine Krabbelstube und einen Kindergarten. Der Verein Fratz Graz, der unter anderem den Abenteuerspielplatz betreibt und dessen Büro- und Betreuungsräume im Nordflügel des ehemaligen „Kinderheim Lend“ untergebracht sind, ist Mieter der Kinderfreunde. Die Nutzung von Haus und Garten durch die beiden eigenständigen Institutionen erfolgt gemeinschaftlich. Beide definieren sich als parteipolitisch unabhängig, wenngleich durch die Geschichte des Hauses und des Areals ein zumindest traditionsbedingtes Naheverhältnis zur sozialdemokratischen Idee der Betreuung von „Arbeiterkindern“ bzw. heute ganz allgemein von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen festzumachen ist. Es ist kein Zufall, sondern folgt der Logik einer Wechselbeziehung zwischen sozialem und physischem Raum, dass der „Afritschgarten“ am rechten Murufer positioniert ist.

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Abenteuerspielplatz des Vereins Fratz Graz im Afritschgarten

Soziotopografie: Graz-Lend, Gabelsbergerstraße 22 Wie städtischer Raum verteilt und besetzt wird, ist Produkt politischer, ökonomischer und sozialer Machtverhältnisse. Die materielle Substanz einer Stadt, zum Beispiel Wohnbauten, Verkehrsareale, Grünräume oder Gewerbezonen, gliedert den Raum in physischer Hinsicht und ermöglicht bzw. limitiert bestimmte Nutzungen durch die sozialen Akteure. In diesem angeeigneten physischen Raum spiegelt sich nach Pierre Bourdieu der soziale Raum wider. „Der auf physischer Ebene realisierte (oder objekti 

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vierte) soziale Raum manifestiert sich als die im physischen Raum erfolgte Verteilung unterschiedlicher Arten gleichermaßen von Gütern und Dienstleistungen wie physischer lokalisierter individueller Akteure und Gruppen (im Sinne von an einem ständigen Ort gebundenen Körpern bzw. Körperschaften) mit jeweils unterschiedlichen Chancen der Aneignung dieser Güter und Dienstleistungen.“5 Die physische Konstitution eines Stadtteils lässt sich nach dieser Sichtweise nur unter Berücksichtigung der sozialräumlichen Beziehungen und Verteilungskämpfe adäquat analysieren. Im Fall des „Afritschgartens“ leiten sich die aktuellen soziotopografischen Verhältnisse einerseits aus Positionierung und Geschichte des Grazer Bezirks Lend im städtischen Gefüge ab, andererseits von den gewachsenen Nachbarschaften mit einer hohen Dichte an sozialen Wohnbauten, „Eisenbahner-Wohnungen“ und einem großen Gewerbeareal. Nicht zufällig findet sich der erste feste Sitz des „Arbeitervereins Kinderfreunde“ in diesem Gebiet, der „alten Murvorstadt“ westlich der Innenstadt. Das rechte Murufer ist historisch gewachsen als Ort des Gewerbes, der zentralen Verkehrswege, von Gaststätten und Beherbergungsbetrieben. Trotz zunehmender Transformationsprozesse gilt es bis heute als „Arbeiterviertel“ und „andere“ Seite der Stadt. Charakteristische Merkmale sind – im Vergleich zum repräsentativen, bürgerlichen linken Murufer – günstigere Boden- und Mietpreise, niedrigere Haushaltseinkommen sowie ein höherer Anteil an Zuwanderern und bildungsfernen Bevölkerungsgruppen. Großflächige Gebiete sind nach wie vor gewerblich gewidmet und erst in den letzten Jahren wird der Bezirk Lend, vor allem in seinen innenstadtnahen Zonen, sowohl als touristische Attraktion als auch als atmosphärischer Wohn- und Aktionsraum entdeckt. Dieser allmähliche stadträumliche Wandel, von ökonomischer wie politischer Seite als „Aufwertung“ des Bezirks forciert, manifestiert sich bereits deutlich sichtbar im physischen Erscheinungsbild. Historische Vorstadthäuser und Gewerbebauten werden sukzessive durch Neubauten ersetzt, lockere Bautypologien verdichtet, Leerstände schrumpfen zusehends und Infrastrukturen werden modernisiert. Dennoch finden sich im Bezirk Lend noch vergleichsweise viele Zwischenräume, die sich einer Funktionalisierung und Ästhetisierung nach der Logik möglichst effizienter Bodenverwertung entziehen. So konnten sich Orte, wie etwa der „Afritschgarten“ samt „Kinderheim Lend“ und Abenteuerspielplatz, als relativ frei bespielbare Areale zwischen klar definierten Wohn-, Verkehrs- und Gewerbeflächen erhalten. Dass diese Kontinuität verteidigt werden musste, zeugt davon, dass die Produktion von Raum das Ergebnis permanenter gruppenspezifischer Verhandlungen ist. Für die Vereine „Fratz Graz“ und „Kinderfreunde“ war und ist das Ringen um „kreative Freiräume zum Spielen und Toben“ wesentlicher Teil ihres Agierens. Schon die Gründung des „Arbeitervereins Kinderfreunde“ im Jahr 1908 ist eine klar raumverteidigende Reaktion auf die Effekte moderner Urbanisierung und Industrialisierung, die sich – so die damalige Ansicht – nachteilig auf die Aktionsräume vor allem von Arbeiterkindern auswirke. Auch heute kritisiert der Verein „Fratz Graz“ bei seinem Kampf um Raum den modernen Städtebau, der seiner Ansicht nach mit einem Verlust von Frei88  | 

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Dass der Kampf um Raum in den vergangenen Jahren zugenommen hat, zeigt sich an den zahlreichen Begehrlichkeiten an dem Gelände von verschiedener Seite. Der Erfolg von „Kinderfreunden“ und „Fratz Graz“ ist umso bemerkenswerter, als in unmittelbarer Nachbarschaft ein ökonomisch mächtiger, international renommierter Player im Ringen um Raumbesetzung angesiedelt ist  : der bekannte Grazer Betrieb AVL. Gegründet wurde das Unternehmen im Jahr 1946 vom Grazer Maschinenbauer und Universitätsprofessor Hans List (1896–1996). Nach Umbenennung des Betriebes in AVL (Anstalt für Verbrennungskraftmaschinen Prof. Dr. Hans List) im Jahr 1951 erfolgte 1952 mit Mitteln des Marschallplans die Errichtung des zentralen Versuchsgeländes in der Kleiststraße, wo noch heute der Sitz der Konzernleitung sowie das Herzstück der Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten beheimatet sind. Der Betrieb expandierte rasch und gilt heute als weltweit angesehenes Forschungsunternehmen. Gemeinsam mit seinem Sohn Helmut führte Hans List die AVL List GmbH an die Spitze der größten Unternehmen für Entwicklung, Bau und Vertrieb von Antriebssystemen bzw. Motorenentwicklung sowie Mess- und Prüftechnik mit insgesamt rund 4500 Mitarbeitern (davon 2000 in Graz) und Tochterfirmen in Europa, Amerika, Australien und Asien. Die beachtliche Erfolgsgeschichte des Betriebes manifestiert sich deutlich im physischen Raum der Stadt Graz. Die Expansion der AVL führte sukzessive zu stadträumlichen Veränderungen, die nicht nur architektonische Transformationen innerhalb des Firmengeländes betreffen, sondern auch dessen Ausdehnung auf vormals öffentliche Verkehrs- oder Grünflächen. So wurden etwa – um die jüngste Zeit zu beleuchten – nicht nur ein Teil des öffentlichen Straßenzugs „Am Damm“ in das sicherheitstechnisch streng abgeriegelte Areal eingegliedert, sondern auch Teile des im Besitz der Stadt Graz befindlichen „Afritschgartens“ 2001 an das Unternehmen verkauft.

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räumen einhergehe  : „Durch städtebauliche Maßnahmen verschwinden aber immer mehr natürliche Spielräume, Bäume zum Klettern, Bäche zum Spielen und Verstecke zum Improvisieren. Der Abenteuerspielplatz kann Kindern den Spielraum wiedergeben, damit sie die Möglichkeit haben, Erfahrungen zu machen, die ihnen sonst überall verschlossen bleiben. […] Der Abenteuerspielplatz Afritschgarten kann Kindern den Spielraum, der durch Erwachsene immer stärker eingeengt wird, wiedergeben.“6 Was auf den ersten Blick naturwüchsig und wild wirkt, ist somit weniger vormodernes Relikt als vielmehr eine signifikante Reaktion auf modernen Städtebau. Durch die Simulation von „Natur“ und „Abenteuer“ sollen die als verloren postulierten „Freiräume“ kompensiert werden.

Fazit Es lässt sich nur multifaktoriell erklären, warum die immer wieder im Raum stehenden Pläne, den Afritschgarten zu minimieren bzw. ökonomisch effizienter zu nutzen, nur  

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ansatzweise realisiert wurden. Neben funktionellen Erklärungen spielen nicht zuletzt die Soziotopografie sowie der Erinnerungswert des Geländes eine Rolle  : Als Gründungsort des „Arbeitervereins Kinderfreunde“ im „Arbeiterbezirk“ Lend hat der Afritschgarten bis heute identitätsstiftende Wirkung und historischen Wert – vor allem wenn es darum geht, Raum zu verteidigen, wie Ernst Muhr, Geschäftsführer des Vereins Fratz Graz, betont  : „Das kann man immer wieder ganz gut als Argument verwenden. Wenn man dann sagt  : Also entschuldige bitte, ihr könnt da keinen Billa herbauen, da sind die Kinderfreunde entstanden. […] Jetzt nehm ich einfach mal her  : Wo ist die Republik Österreich ausgerufen worden. Aber würde ich das wegtun  ? Da würden wir Österreicher alle sagen  : Aber das geht doch bitte nicht. Das kann man schon ganz gut verwenden und ich find das auch ok. Das ist auch legitim. Das hat historische Wurzeln. Und in dem Sinne auch einfach positive historische Wurzeln. Es gibt ja viele Plätze, die mit faschistoiden Geschichten bedeckt sind. Ich denk mir, das ist einfach eine gute Geschichte.“

Dass sich der tatsächliche Gründungsort nicht direkt im Afritschgarten, sondern im nahe gelegenen Volksgarten befindet, tut der Wirkung des Arguments keinen Abbruch. Vielmehr zeugt es von der wechselseitigen Beziehung zwischen Architektur und Erinnern bzw. Vergessen. Erst durch die Errichtung des Gebäudes von Franz Schacherl im Jahr 1930 wurde eine sichtbare Markierung hinterlassen, die den Ort überhaupt erst zum (wenngleich nicht exakten) „Erinnerungsort“ prädestinierte. Ohne dieses architektonische Zeichen – wie transformiert es in seiner äußeren Erscheinungsform heute auch sein mag – wäre der Afritschgarten längst dem Vergessen übergeben und seine Bestimmung als spielerisch anzueignender Zwischenraum im klar definierten Funktionsgefüge seiner Umgebung aufgegangen. Zwar stehen gegenwärtig keine großen Veränderungspläne an, die Verhandlungen um physische – und somit auch um soziale und symbolische – Besetzung des Grundstücks haben in den vergangenen Jahren jedoch deutlich zugenommen. Teilweise ist eine ökonomisch effizientere Nutzung im Zuge der stadträumlichen Expansion der AVL bereits geschehen  ; teilweise ist das „Gallische Dorf “, wie Ernst Muhr den Afritschgarten metaphorisch überhöht bezeichnet, vor Plänen wie etwa dem Bau eines Supermarktes verschont geblieben. Es bleibt zu beobachten, wie lange der Afritschgarten – versteckt hinter einem hohen Lattenzaun, von den einen als ungepflegte ­„Gstättn“ verunglimpft, von den anderen als grüner Zwischenraum im städtischen Grau gefeiert – in seiner heutigen Form bestehen bleibt. Dies liegt nicht zuletzt daran, ob der Erinnerungswert des Ortes als Gründungsstätte des „Arbeitervereins Kinderfreunde“ weiterhin als Argument zu taugen vermag.

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1 Vgl. auch: Ina-Maria Greverus, Ästhetische Orte und Zeichen. Wege zu einer ästhetischen Anthropologie, Münster 2005. – Johanna Rolshoven, Übergänge und Zwischenräume. Eine Phänomenologie von Stadtraum und ‚sozialer Bewegung‘, in: Waltraud Kokot/Thomas Hengartner/Kathrin Wildner (Hg.), Kulturwissenschaftliche Stadtforschung, Berlin 2000, 107–122. 2 Die Kinderfreunde wurden 1908 von Anton Afritsch in Graz gegründet. Der gemeinnützige Verein Fratz Graz ging 1991 als eigenständiger Verein aus den Kinderfreunden hervor. Zentrale Figur und Geschäftsführer des Vereins ist Ernst Muhr, der als langjähriges Mitglied der Kinderfreunde mit „Fratz Graz“ neue Projektbereiche und Tätigkeitsfelder etablierte, „mit dem Ziel die Spiel- und Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern.“ (Vgl. aktuelle Broschüre: FratzGraz – Wir spielen überall). Seit 1995 betreibt der Verein Fratz Graz im Afritschgarten einen betreuten Abenteuerspielplatz. 3 Anton Afritsch, zit. n. Winfried Moser, Die Entstehung der Kinderfreunde 1908–1917. Vom Fürsorgeverein zum politischen Erziehungsverband, http://www.wien.kinderfreunde.at/data/kf_bund/Epoche_1Geschichte.pdf. 4 Franz Schacherl, der gewerkschaftlich aktiver Sozialist war, wirkte zu Beginn der 1920er-Jahre als Architekt bei der Wiener Siedlerbewegung. Im Zuge des sozialdemokratischen Reformprogramms des „Roten Wien“ plante er gemeinsam mit seinem Kollegen Franz Schuster innovative Siedlungsbauten und Wohnhöfe, wobei er das Prinzip der Gartenstadt verfolgte und gegen die Monumentalität der in Wien städtebaulich forcierten Superblöcke anschrieb. So machte er sich als kritischer Theoretiker des sozialen Wohnbaus einen Namen und gab 1926 die moderne Architekturzeitschrift „Der Aufbau – Österreichische Monatshefte für Siedlung und Städtebau“ heraus. Nachdem 1934 die Sozialdemokratie verboten und ihre baulichen Maßnahmen eingestellt wurden, fielen auch für Schacherl die Aufträge aus. 1938 floh er, als Vertreter der internationalen Moderne, Sozialist und Jude vom NS-Regime besonders bedroht, nach Paris. Von dort aus emigrierte er 1939 in die damals portugiesische Kolonie Angola, wo er im Regierungsauftrag Spitäler und öffentliche Gebäude plante. 1943 starb Schacherl während einer Magenoperation. 5 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt a. M. 1991, 29. 6 http://www.jugendreferat.steiermark.at/cms/beitrag/11104554/3013147/, Zugriff: 27. 7. 2009.



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Anmerkungen

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ARBEITSAMT GRAZ Das Gebäude des Arbeitsamtes gehörte um 1930 zu den fortschrittlichsten Grazer Bauten und wurde nicht nur über österreichische Fachzeitschriften von einem überregionalen Publikum wahrgenommen, sondern auch in Graz bei der Sezessionsausstellung 1932 prominent präsentiert. Die Monatsschrift „Österreichische Kunst“ lobte die kurze, durch gute Vorbereitung bedingte Bauzeit und schrieb  : „Die zweckdienliche, modern erfaßte Gestaltung des neuen Grazer Arbeitsamtes lehrt uns also in Architekt Eugen Székely einen planvoll schaffenden, alle modernen Bau- und Organisationsmethoden voll beherrschenden Fachmann kennen.“1 Im Jahr 1931 hatte die Stadtgemeinde Graz „in Anbetracht der hohen sozialen Bedeutung des Arbeitsnachweises“2 dem eigens für diesen Zweck gegründeten „Fonds zur Unterstützung von Arbeitsämtern im Sprengel der Industriellen Bezirkskommission Graz“ ein lang gezogenes Grundstück am Bahnhofgürtel kostenlos überlassen. Die Wahl des Bauplatzes war kein Zufall  : Wie die meisten anderen in österreichischen Städten errichteten Arbeitsämter dieser Zeit charakterisierte auch den Grazer Bau die räumliche Nähe zum Bahnhof, wo im städtischen Kontext traditionell die Industriebetriebe und damit ein Großteil der vermittelbaren Arbeitsstellen angesiedelt waren. Der Standort war auch nur wenige Straßen von Arbeiterkammer, Arbeiterwille-Verlagshaus und Volkshaus entfernt, wie auch von zahlreichen Arbeiterwohnhäusern im Bezirk Lend und im angrenzenden, damals noch nicht eingemeindeten Eggenberg. Im Sommer 1931 schrieb der Baufonds einen beschränkten Wettbewerb für das Arbeitsamt aus, an dem sich neben mehreren Grazer Architektenteams (Rudolf Hofer und Ludwig Lepuschitz3, Hans Karl Zisser und Oswald Seuter4) auch Eugen Székely beteiligte. Sein Entwurf ging als Sieger hervor, das Arbeitsamt sollte sein Grazer Hauptwerk, wenige Jahre vor der Emigration nach Haifa, werden. Im August 1931 wurde die Baubewilligung erteilt, nach einer einjährigen Bauzeit konnte im Juli des darauffolgenden Jahres der Amtsbetrieb aufgenommen werden.5 Auf die Schrägsicht vom Bahnhofsgürtel her angelegt, ist das in Eisenbetonskelettbauweise6 errichtete Gebäude durch sein kompaktes Volumen geprägt. Die für das Neue Bauen charakteristische, vom Flachdach bestimmte Horizontale wird mittels durchlaufender Gesimse noch besonders betont. Stilistisch ist der Bau mit dem überdimensionierten Verwaltungsgebäude der I. G. Farben in Frankfurt a. M. (1928–1931) von Székelys Lehrer Hans Poelzig vergleichbar.  

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Wettbewerbsentwurf von Hans K. Zisser und Oskar Seuter, 3. Preis, 1931

Wettbewerbsentwurf von Rudolf Hofer und Ludwig Lepuschitz, Kennwort: Labor, 1931

Auf der Baustelle des Arbeitsamtes

Als Bauleiter des Grazer Arbeitsamtes war Herbert Eichholzer, ein überzeugter Linker und progressiver Architekt, tätig. Auch Székely war politisch dem linken Lager zuzuordnen. Von Zeit zu Zeit publizierte er Texte in der sozialdemokratischen Tageszeitung „Arbeiterwille“, etwa über den nach Plänen von Hubert Gessner neu errichteten Baukomplex des Hotel International und des Volkshauses.7 In seinem 1927 erschienenen Aufsatz über die „Baukunst in der Gegenwart“ wies er auf die enge Beziehung zwischen Architektur und praktischen Bedürfnissen des Lebens hin, was er beim Bau des Grazer Arbeitsamtes unter Beweis stellen konnte  : „Und weil unsere Zeit aus politischen und damit wirtschaftlichen, aus technischen und sozialen Ursachen von Grund aus die Lebenspraxis verändert hat, ist es vor allem die Baukunst, die diesen neuen Voraussetzungen gerecht werden muß.“8 Für Eugen Székely ergaben sich durch den Erfolg beim 98  | 

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Eugen Székely, Arbeitsamt Voitsberg, um 1932, 1969 abgebrochen

Grazer Bau eine Reihe von Folgeaufträgen für Arbeitsämter der Städte Voitsberg und Köflach in der weststeirischen und Liezen in der obersteirischen Industrieregion.9

Arbeitsamt als Bauaufgabe In Österreich wurden infolge des 1920 beschlossenen Arbeitslosengesetzes die ursprünglichen, auf Stellenvermittlung beschränkten Arbeitsnachweise10 in staatliche Arbeitsämter umgewandelt, die nun auch die Anweisung der Sozialleistungen und deren Kontrolle übernahmen.11 In jedem politischen Bezirk wurde ein eigenes Arbeitsamt eingerichtet. Diesen Ämtern waren die paritätischen Industriellen Bezirkskommissionen – jeweils eine in jedem Bundesland – übergeordnet, die zu gleichen Teilen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzt waren und später bei der Errichtung von Arbeitsamtsgebäuden als Auftraggeber fungierten.12 Die neuen Arbeitsämter wurden zunächst provisorisch und räumlich unzulänglich in ehemaligen Kasernen, Schulen, Gaststätten und Hotels untergebracht – der Arbeitsnachweis Graz etwa im Gebäude der Alten Universität in der Hofgasse. Angesichts der rasant zunehmenden Arbeitslosenzahlen erschien die Errichtung von Neubauten, die  

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Arbeitslosenstatistik für Österreich 1924–1928, Abb. aus: Die Industrielle Bezirkskommission Wien, 1928

allen organisatorischen und hygienischen Anforderungen entsprachen, immer dringender notwendig. In Wien war die Situation besonders dramatisch, aber auch in der Steiermark verdreifachte sich die Zahl der Arbeitslosen nach dem Krisenjahr 1929 (1933  : ca. 37 000 vorgemerkte Arbeitslose). So entstand in der wirtschaftlichen Krisenzeit mit den Arbeitsämtern eine neue Bauaufgabe, auf welche die Paradigmen der Rationalisierung von Arbeits- und Produktionsprozessen, aber auch der durch medizinische und psychologische Kontrolle erreichten Effizienzsteigerung übertragen wurden. Bei den Planungen orientierte man sich vielfach an den Arbeitsamtskonzepten im Deutschen Reich, wo man bereits auf jahrzehntelange praktische Erfahrungen und eine intensive theoretische Diskussion der Bauaufgabe zurückgreifen konnte.13 Allen in Österreich um 1930 errichteten Arbeitsämtern,14 so auch jenem in Graz, ist ein neuer gesellschaftlicher Umgang mit arbeitsuchenden Menschen sowie eine hohe entwerferische Qualität und große Sorgfalt bei der Planung gemeinsam, nicht nur vonseiten der Architekten, sondern auch von jener der Auftraggeber, die sich intensiv mit Bauprogrammen und internationalen Vorbildern beschäftigten. Gemeinsames Merkmal ist auch die Wahl der Modernität, Dynamik und Fortschritt suggerierenden Formensprache des Neuen Bauens und die Verwendung moderner Konstruktionswei100  | 

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Arbeitsamt Graz, Entwurf, Ansicht Ghegagasse

sen und Baumaterialien. Die Arbeitsämter wurden als Zweckbauten konzipiert und sind eher mit Industriebauten als mit repräsentativen Gebäuden zu vergleichen. An ihnen waren aber auch gesellschaftliche Denkmuster und Kategorisierungen, soziale Hierarchien und Geschlechterverhältnisse klar ablesbar. Sie können also weniger als Errungenschaft der Arbeiterbewegung, als vielmehr als Orte der Affirmation gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen werden.15 Der erste Bau, der in Österreich eigens für den Zweck der Arbeitslosenkontrolle und -vermittlung errichtet wurde, war 1926/27 das Arbeitsamt für Baugewerbe in WienOttakring von Hermann Stiegholzer und Herbert Kastinger.16 In der Folge entstanden innerhalb weniger Jahre Arbeitsämter in Wien, Graz, Innsbruck und kleineren österreichischen Städten, unter denen vor allem jenes in Wien-Liesing von Ernst A. Plischke (1930–1932) schon zur Bauzeit internationale Anerkennung gefunden hat.

Das Arbeitsamt Graz: Massenkanalisierung und Rationalisierung Ziel von Eugen Székelys Planung für das Grazer Arbeitsamt war größtmögliche Zweckmäßigkeit, optimale Raumorganisation, gute Belichtung, Belüftung und Schalldämp 

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Meldestelle im Erdgeschoss

Warteraum der Arbeitsvermittlung

fung sowie die Verwendung von Materialien, die für die „starke Beanspruchung durch Menschenmassen“17 geeignet waren. Aus hygienischen Gründen waren Böden und Wände verfliest, die schmucklosen Stiegengeländer konnten leicht gereinigt werden. An den Meldestellen im Erdgeschoss sollten pro Stunde rund 700–1000 männliche und 350–800 weibliche Arbeitssuchende erfasst werden können. Im ersten Stock befand sich die nach den verschiedenen Berufszweigen gegliederte Arbeitsvermittlung, in der die Beamten die Arbeitsuchenden in seriell nebeneinandergeordneten, über 14 Einzeltüren betretbaren Kojen (10 für Männer, 4 für Frauen) empfingen. Im zweiten Obergeschoss waren ein Arbeitgeberzimmer, ein Sitzungszimmer und ein größerer Warteraum mit Abfertigungsstelle sowie die für die Vermittlungsabläufe besonders wichtige Zentralablage der Akten (Kartothek) untergebracht, im dritten Stock die Berufsbera102  | 

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Stiegenhaus, drittes Obergeschoss Arbeitsplätze der Vermittlungsbeamten

tung sowie ärztliche und „psychotechnische“18 Untersuchungsräume. Ein elektrischer Lastenaufzug leitete die notwendigen Unterlagen in die Vermittlungs- und Beratungszimmer weiter. Den Vorbildern in Deutschland folgend plante Székely die Bewegungsabläufe und den „raschesten Durchzug“19 der Massen von Arbeitsuchenden im Sinn einer Kanalisierung. Deren Bewegung im Raum wurde von der Straße aus durch eigene, nach Berufsgruppen und Geschlechtern geordnete Eingangstore geführt und durch spezielle Zu- und Abgangskorridore und -stiegenhäuser streng geregelt. Dies folgte dem Prinzip eines den Publikumsverkehr kreuzungslos und damit störungsfrei steuernden Einbahnsystems, das zur Steigerung der Disziplin der Wartenden zum Tragen kam. Wichtigstes Argument war dabei – neben der angestrebten Erhöhung der fließbandmäßigen „Abfertigungsgeschwindigkeit“ –, dass die in den früheren Arbeitsämtern häufigen Konflikte zwischen den Abgefertigten und den Wartenden vermieden werden sollten. Neben dem Ziel der Effizienzsteigerung wurde beim Bau von Arbeitsämtern auch die Forderung nach notwendiger „Massenkontrolle“20 im Sinn von Überwachung und Disziplinierung laut. In Graz gab es deshalb Gitterabsperrungen als Maßnahme für einen geordneten Aufenthalt der Arbeitsuchenden in den Warteräumen sowie elektrisch versperrbare Türen und Lichtsignale, die vonseiten des Beamten auf Knopfdruck geöffnet bzw. ausgelöst werden konnten. Kontrolle wurde aber auch durch Transparenz und „Übersichtlichkeit des ganzen Betriebes“21 ausgeübt. So sollten von den Büros aus „die Beamten die Warteräume ohne weiteres Aufsichtspersonal zu überwachen vermögen“, jedoch auch die Arbeitsuchenden die Beamten beobachten können, „damit die Parteien selbst die Ursache des Wartens erkennen“, was hingegen auch einer demokratischen Offenlegung und damit der positiven Konnotierung des Arbeitsamtes entsprach.  

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Während bei den meisten österreichischen Arbeitsämtern die Kartothek bzw. der Zentralkataster das wichtigste Element der Arbeitsabläufe und „Rückgrat der gesamten Organisation“22 war und deshalb auch im Zentrum der Grundrisslösungen stand, bildete das Arbeitsamt Graz hier eine auffallende Ausnahme, was möglicherweise mit der schmalen, lang gezogenen Form des Grundstückes zu tun hatte  : Der Bau wurde nach einem anderen Schema, nämlich jenem des international viel beachteten, von Willy Hahn und Rudolf Schroeder entworfenen Kieler Arbeitsamtes (1929–1930) errichtet. In Graz ist die Raumorganisation nicht auf ein funktionales Zentrum bezogen, sondern wird aus einer modularen Aneinanderreihung von „Normalarbeitsplätzen“ mit zugehöriger „Abfertigungskoje“ und entsprechenden, nach Berufsgruppen getrennten Warteräumen entwickelt.23 Dieses Konzept war wohl schon in dem von der Industriellen Bezirkskommission Graz ausgearbeiteten Bauprogramm so vorgesehen, da auch andere Wettbewerbseinreichungen dasselbe Muster aufweisen24 und darüber hinaus im Stadtarchiv Kiel ein diesbezüglicher Briefwechsel zwischen der Grazer und der Kieler Stadtverwaltung dokumentiert ist.25

Zerstörung und Verschwinden In der NS-Zeit26 diente das Arbeitsamt Graz zur Vermittlung von ArbeiterInnen als Teil der nationalsozialistischen „Arbeitsschlacht“, ab 1940 für die Lenkung der Zwangsarbeitseinsätze für Kriegsgefangene.27 Ein Bombentreffer, der den Grazer Hauptbahnhof zum Angriffsziel hatte, zerstörte am 18. Dezember 1944 zwar nur den östlichen – das heißt den dem Bahnhofgürtel abgewandten Teil – des Gebäudes.28 Dennoch bedeutete die Bombardierung des Bahnhofviertels indirekt das Ende des Baus. Nach dem Krieg wurde das bombengeschädigte Haus nicht mehr in seiner ursprünglichen Funktion genutzt29 und von der Streckenleitung Graz der Österreichischen Bundesbahnen als Kanzleigebäude übernommen. Diese stellte 1947 ein Ansuchen um Reparatur im Rahmen des städtischen Wiederaufbauprogrammes für bombenbeschädigte Häuser, die im Abtragen des zerstörten östlichen Gebäudeteiles bis auf das Erdgeschoss und dem Aufstellen eines ziegelgedeckten Dachstuhles über diesem bestand.30 Hier wurden eine Hausmeisterwohnung und Mechanikerräume der automatischen Telefonzentrale der Bahn (BASA) untergebracht. Ein ambitioniertes städtebauliches Projekt, das die Bombenschäden als Chance für einen radikalen Neubeginn zu nutzen suchte und als Impuls für den langsam wieder einsetzenden Nachkriegstourismus verstanden wurde, besiegelte Mitte der 1950erJahre schließlich die endgültige Zerstörung des Baus  : der Ausbau und die Vergrößerung des Bahnhofvorplatzes und die Linienführung des „Neuen Bahnhofgürtels“ in Verlängerung des Eggenberger Gürtels, der jene Teile der Häuserzeilen der Ghegagasse und der Schmölzergasse, die vor der Regulierungslinie lagen, weichen mussten. 1955 wurde das ehemalige Arbeitsamtsgebäude zum Zweck der Abtragung an die Grazer Stadt104  | 

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Am Bahnhofgürtel nach dem Bombentreffer am 18. Dezember 1944, im Hintergrund das mittelschwer beschädigte Arbeitsamt

Ehemaliger Standort des Arbeitsamtes (in Verlängerung des Wohnhauses in der Mitte) auf der Fahrbahn des in den 1950er Jahren stadteinwärts verschobenen Bahnhofgürtels, Zustand 2009  

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gemeinde verkauft, die sich ihrerseits verpflichtete, die Neugestaltung des Bahnhofsvorplatzes bis Ende 1956 fertigzustellen. Im Zuge der Neuplanung des Bahnhofareals wurde auch das neue Postgebäude errichtet31 und der neue Standort des Arbeitsamtes in der Babenbergerstraße geplant, nicht weit vom alten entfernt.32 Am 3. Februar 1956 erteilte der Magistrat Graz die Demolierungsbewilligung. Seit Ende 1956 führt der Autoverkehr des neuen Bahnhofgürtels über den Standort des ehemaligen Arbeitsamtes.

Anmerkungen 1 A. H., Der Neubau des Grazer Arbeitsamtes (Eine Arbeit des Zivilarchitekten Ing. Eugen Székely), in: Österreichische Kunst 4 (1933), H. 4, 11–15. – Weiters auch: Bergland 14 (1932), Nr. 9, 40. Zum Grazer Arbeitsamt vgl. auch Antje Senarclens de Grancy, Keine Würfelwelt. Architekturpositionen einer „bodenständigen“ Moderne. Graz 1918–1938, Graz 2007, 200–203. 2 Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 35 (1931), 134. 3 Kennwort: Labor; o. A., Rudolf Hofer Graz, München 1931, Abb. 62. 4 H. K. Zisser, Wien [um 1933], Abb. 30–32. 5 Stadtarchiv Graz, Bauakt Ghegagasse 35–37/Bahnhofgürtel 73. 6 Das Eisenbeton-Rahmengerüst wurde von der Firma Heigl & Schwab ausgeführt. 7 Eugen Székely, Das Heim der Grazer Arbeiter, in: Arbeiterwille, 1. 11. 1930 8 Eugen Székely, Baukunst in der Gegenwart. Zur Ausstellung der Sezession, in: Arbeiterwille, 4. 11. 1927. 9 Vgl. Ulrich Thieme/Felix Becker (Hg.), Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 32, Leipzig 1938, 373. – Hans Vollmer, Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts, 4. Bd., Leipzig 1958, 402–403. Archivalisch kann nur das Arbeitsamt in Voitsberg, ein kleiner, schmuckloser Flachdachbau, belegt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wies dieser offensichtlich bereits derart starke bauliche Mängel auf, dass er 1969 abgerissen und durch einen Neubau an anderer Stelle ersetzt werden musste. Für Auskünfte und Recherchen sei Herrn Max Koren und Herrn Friedrich Reiter, dem ehemaligen Amtsleiter des Arbeitsamtes, gedankt. 10 In den 1920er-Jahren gab es in Graz neben dem 1902 gegründeten städtischen Arbeitsnachweis zahlreiche gewerbliche, auf bestimmte Berufsgruppen spezialisierte Stellenvermittler, daneben auch Stellungsvermittlungsbüros von Wohltätigkeits- und Schutzvereinen sowie Genossenschaften. Ab ca. 1932 boten auch die Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz kostenlos einen Stellennachweis an. 11 Vgl. Karl Schmidt, Geschichte der Arbeitsmarktverwaltung Österreichs von ihren Anfängen an, Salzburg [1991]. – Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 31), Berlin 1979. 12 Vgl. Die Industrielle Bezirkskommission Wien – Landesbehörde für Arbeitsvermittlung und ihre Arbeitsämter 1918–1928, Wien 1928. – Egon Uranitsch, Arbeitsmarktpolitik in Graz, in: Stadtgemeinde Graz (Hg.), Die Stadt Graz, ihre kulturelle, bauliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den letzten sechzig Jahren, Graz 1928, 309–313. 13 Einen Markstein setzte etwa Walter Gropius 1927–1929 mit dem Dessauer Arbeitsamt. Vgl. Robin Krause, Das Arbeitsamt von Walter Gropius in Dessau, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), 242–268. Vgl. allgemein: Christiane Mattiesson, Die Rationalisierung des Menschen. Architektur und Kultur der deutschen Arbeitsämter 1890–1945, Berlin 2007. 14 Vgl. Antje Senarclens de Grancy, Disziplinierung der Massen: Das Arbeitsamt als Bauaufgabe der österreichischen Moderne, in: De re artificiosa. Festschrift für Paul Naredi-Rainer zu seinem 60. Geburtstag, Regensburg 2010, 389–404. 15 Siehe der folgende Beitrag von Werner Suppanz. 16 Vgl. o. A., Das neue Arbeitsamt für das Baugewerbe in Wien, in: Deutsche Bauzeitung 61 (1927), Nr. 102, 833–836. 17 A. H. 1933 (wie Anm. 1), 11. 18 In den psychotechnischen Untersuchungsräumen wurden „mittels spezifisch entwickelter Messinstrumente und Testverfahren die individuellen physischen und psychischen Charakteristika von Arbeitnehmern“ zum Zweck einer gezielten Berufsberatung und Stellenvermittlung eingeschätzt. Mattiesson 2007 (wie Anm. 13), 305. 19 A. H. 1933 (wie Anm. 1), 11. 20 o. A., Ein neues Heim der Arbeitsvermittlung, in: Die neuen Arbeitsämter für die Metall- und Holzindustrie, Wien [1931], o. S. 21 A. H. 1933 (wie Anm. 1), 11.

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22 Bruno Grimschitz, Die Bauten der Arbeitsämter für die Metall- und Holzindustrie in Wien von Hermann Stiegholzer und Herbert Kastinger, in: Die neuen Arbeitsämter für die Metall- und Holzindustrie, Wien [1931], 1–14, 2. 23 In Kiel war durch die Verschiebung von Trennwänden eine spätere größenmäßige Veränderung der Warteräume nach den aktuellen Bedürfnissen möglich, in Graz bestand der Wartebereich aufgrund der geringeren Ausmaße ohnehin nur aus einem einzigen Raum. 24 Vgl. o. A., H. K. Zisser, Wien [um 1933], Abb.31. 25 Vgl. Mattiesson 2007 (wie Anm. 13), 294 und 327, Fußnote 388. 26 Vgl. das Kapitel „Nationalsozialistische Arbeitseinsatzverwaltung“ in: Schmidt [1991] (wie Anm. 9), 118–135. 27 So forderte beispielsweise das Arbeitsamt Graz im Mai 1940 4000 Kriegsgefangene für Erdbewegungsarbeiten an. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945, Graz 1986, 344. 28 Vgl. Walter Brunner, Bomben auf Graz. Die Dokumentation Weissmann (= Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 18), Graz 1989, 226–229. Die Bildunterschriften auf S. 227 scheinen vertauscht zu sein: Das untere Bild zeigt im Hintergrund den nur „mittelschwer“ zerstörten Bau des Arbeitsamtes. 29 Nach dem Krieg waren das Landesarbeitsamt Steiermark am Hauptplatz 14 und das Arbeitsamt Graz in der Kaiserfeldgasse 25) untergebracht. Siehe Adressbuch der Stadt Graz 1949/1950. 30 Stadtarchiv Graz, Bauakt Ghegagasse 35–37/Bahnhofgürtel 73: Ansuchen vom 9. Dezember 1947 um Bewilligung von Sicherungsarbeiten und Dachstuhlherstellung beim ehem. Arbeitsamt, Graz Ghegagasse 33. 31 Mitte der 1950er-Jahre wurden in der Ghegagasse 27–33, im Anschluss an den alten Bauplatz des Arbeitsamtes, konventionelle sechsgeschossige Gemeindewohnhäuser mit Geschäften im Erdgeschoss errichtet. 32 Siehe Plan 1954, Stadtarchiv Graz, Bauakt Ghegagasse 35–37/Bahnhofgürtel 73.



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Katasterblatt für Bauschlosser, Abb. aus: Die Industrielle Bezirkskommission Wien, 1928

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Werner Suppanz

SOZIALBÜROKRATIE STATT KLASSENK AMPF Das Arbeitsamt als „Ort der Moderne“

Seit dem 1. Juli 1994 gibt es in Österreich keine „Arbeitsämter“ mehr, sondern „regionale Geschäftsstellen des Arbeitsmarktservice“. Als „Dienstleistungsunternehmen des öffentlichen Rechts“ (§ 1 Arbeitsmarktservicegesetz), das sich mit als unbürokratisch konnotierten Leitbegriffen wie Service, Chancen und Weiterbildung charakterisiert, strebt dieses einen Bruch mit der Vorstellung vom Amt als Ort der Administration und Kontrolle von Erwerbsarbeitslosigkeit an. Tatsächlich ist die Imagination des „Arbeitsamtes“ stark von Bildern aus den 1920er und 1930er-Jahren geprägt, die wartende Arbeitslose, Frauen und Männer, in Stiegenhäusern und Vorzimmern oder in bittstellender Haltung in Büroräumen, welche Obrigkeit repräsentieren, zeigen.1 Institutionalisierte Arbeitsvermittlung steht in engem Konnex mit Industrialisierung und Urbanisierung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann die systematische Organisation der Arbeitsvermittlung auf kommunaler und zunehmend gesamtstaatlicher Ebene. Die Frage, wem diese vorrangig dienen sollte, begleitete die Einrichtung der „Arbeitsnachweisämter“ von Beginn an. Selbstverwaltete „Arbeitsbörsen“, die an Verteilungsfragen und gerechtem Lohn orientiert waren, setzten sich nicht durch.2 Seitens der Obrigkeit waren die vorrangigen Motive, Müßiggang zu bekämpfen, Fürsorgekosten zu reduzieren und die Arbeitssuche der „würdigen“, „braven“ Armen zu unterstützen.3 Gleichzeitig wurde die effiziente Suche der Unternehmer nach Arbeitskräften zu einem politischen Anliegen. Erst in den 1920er-Jahren kam in Österreich wie im Deutschen Reich die Abwicklung des Anspruchs auf Arbeitslosenunterstützung als zusätzliche Aufgabe hinzu, die hohe räumliche und personelle Anforderungen an die Arbeitsämter stellte. Sie macht die Ambivalenz von Emanzipation und Disziplinierung durch die Sozialbürokratisierung des Umgangs mit Erwerbsarbeitslosigkeit deutlich. Die Einführung von Arbeitslosenversicherungsgesetzen (in Österreich 1920) bedeutete die Erfüllung langjähriger Forderungen der Sozialdemokratie und einen Erfolg zugunsten der Lohnabhängigen. Gleichzeitig wurde damit die Integration der Arbeiterschaft in das System der staatlichen Arbeitsvermittlung vollzogen, mit dem expliziten Motiv, in der Massenarbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg „Ruhe und Ordnung“ und die bestehende Gesellschaftsordnung zu sichern und die Arbeitskraft der Werktätigen zu erhalten4  : „Die Arbeiterbewegung ist sozusagen durch die Verrechtlichung von der Straße in die  

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Gänge der Ämter verlegt worden und findet hier als Warten, Sitzen, Warten, Sitzen, Antrag-Ausfüllen, Antrag-Ausfüllen und dann als Beratungsgespräch mit dem (teil- bzw. nicht-)zuständigen Beamten statt, der das ehemalige ‚Klassenschicksal‘ in den individualisierenden Rechtskategorien des ‚Einzelfalles‘ bearbeitet (oder/und weiterleitet).“5 Die Individualisierung der ArbeitnehmerInnen, die zum Thema der „postmodernen“ Gesellschaft ab den 1980er-Jahren wird, ist in Bauten der Moderne wie dem ersten Grazer Arbeitsamt bereits räumlich vorgeprägt. Die durch Leitsysteme und gleichförmige Gliederung der Räume in abgetrennte Zugänge zu den Schaltern oder Schreibtischen der BeamtInnen geprägte Innenarchitektur sorgt für den effizienten „Fluss“ in der Abwicklung der individuellen Fälle, die so gleichzeitig in eine standardisierte Ordnung gebracht werden.6 In dieser Weise „übersetzt das Baukonzept [auch der Arbeitsämter, Anm. WS] die Rationalisierung von Arbeit in eine räumliche Struktur“. 7 Die funktionelle und klare geometrische Architektur der Arbeitsämter der 1920er und 1930er-Jahre erhält ihre Entsprechung in einer „Politik der Sachlichkeit“, die bereits in der Endphase der Ersten Republik die Sozialpolitik zunehmend prägte und im Austrofaschismus hegemonial wurde. Gemeint sind die vorgebliche Entpolitisierung des Sozialrechts und der Vorrang finanzieller Effizienzaspekte durch Unterordnung der Sozialpolitik unter wirtschaftspolitische Bedingungen.8 Das „Arbeitsamt“ als Sammelpunkt der Menschen, die zumindest zeitweilig dem produktivistischen Paradigma nicht entsprechen, lässt sich als Heterotopie deuten. Mit Michel Foucault sind darunter „wirkliche Orte“ zu verstehen, an denen sich gleichzeitig das Andere der gesellschaftlichen Normen befindet und diese Normen bestätigt werden.9 Arbeitsämter erfüllen die Kriterien der modernen Abweichungsheterotopien (hétérotopies de déviation)10, an denen die Kontrolle der Normanpassung, hier im Sinne des Arbeitsmarktes und der Wirtschaftspolitik, lokalisiert und sichtbar gemacht wird. Sie sind dabei an ein System von Öffnungen und Schließungen gebunden, denn eine spezifische soziale Situation führt zur Unterordnung unter spezifische Regeln, die aber gleichzeitig die Gewährung materieller Ansprüche oder neue Erwerbschancen versprechen.11 Dieser Charakter als Heterotopie stellt auch die Kontinuität des „klassischen“ Arbeitsamtes mit dem aktuellen Arbeitsmarktservice her, unter dessen Zielen (§ 29 Abs. 2 AMSG) die Funktionalität für den Arbeitsmarkt als Leitperspektive definiert ist.

Anmerkungen 1 Anschauungsbeispiele siehe Bildarchiv Austria: http://www.bildarchivaustria.at/Pages/Search/QuickSearch.aspx (Suchworte Arbeitslosigkeit und Arbeitsamt). 2 Vgl. Peter Schöttler, Die Entstehung der „Bourses du Travail“, Frankfurt a. M. 1982. 3 Vgl. Britt Schlehahn, Das Arbeitsamt, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.–New York 2005, 91–98, hier 92–93. – Rolf Lindner, „Unterschicht“. Eine Gespensterdebatte, in: Rolf Lindner/ Lutz Musner (Hg.), Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der „Armen“ in Geschichte und Gegenwart (= Rombach Wissenschaften. Edition Parabasen 8), Freiburg i. Br.–Berlin–Wien 2008, 9–17, hier 12–15.

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  4 Vgl. Emmerich Tálos, Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 5), Wien 1981, 207–209.   5 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (= es 1365 Neue Folge Band 365), Frankfurt a. M. 1986, 133. – Vgl. Martin Kronauer, Von der Ausgrenzung aus der Stadt zur Ausgrenzung in der urbanisierten Gesellschaft. Zur neuen Qualität von Exklusion heute, in: Lindner/Musner 2008 (wie Anm. 3), 41–58, hier 47–48.   6 Vgl. Antje Senarclens de Grancy, Keine Würfelwelt. Architekturpositionen einer „bodenständigen“ Moderne. Graz 1918–1938, Graz 2007, 202–203.   7 Schlehahn 2005 (wie Anm. 3), 97.   8 Michel Foucault, Die Heterotopien/Der utopische Körper. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt a. M. 2005, 259–261.   9 Vgl. ebenda, 11. Foucault selbst erwähnt das Arbeitsamt nicht in seinen Beispielen. 10 Vgl. ebenda, 12–13. Foucaults Beispiele: Alters- und Pflegeheime, psychiatrische Kliniken, Gefängnisse. 11 Vgl. ebenda, 18.



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Heidrun Zettelbauer

ARBEITSAMT GRAZ: ÜBERSCHREIBEN UND ÜBERLAGERN In den folgenden Kurztexten werden am Beispiel des Arbeitsamtes Graz von Eugen Székely drei Aspekte sichtbar, die sich als Vergessen in Form von Überschreiben und Überlagern von kulturellen Bedeutungsschichten zusammenfassen lassen  : erstens als Überlagerung im Sinne eines bewussten Aneignens und Vergessen-Machens von ursprünglich generierten Bedeutungen eines Ortes, konkret durch den Versuch der politischen Neukodierung des Arbeitsamtes. Zweitens als Überschreiben von Erinnerungsspuren eines Ortes im Rahmen von zufällig Vergessenem. Das Bild, das als Ausgangspunkt für die Ausführungen zu einem Flüchtlingstransport jüdischer GrazerInnen 1938 genommen wird, ist eine der wenigen erhaltenen Fotografien, auf denen im Hintergrund zufällig das Arbeitsamt zu sehen ist. Thematisiert wird damit eine gänzlich andere Form der Überlagerung, nämlich jene, eine zufällig erhaltene Spur der Vergangenheit aufzunehmen und ihr als historischer Quelle nachzugehen. Ein dritter Aspekt von Vergessen durch Überschreiben/Überlagern greift schließlich Diskurse um den Abriss des Arbeitsamtes nach 1945 auf. Sichtbar wird eine Dimension des Vergessens, die auf den ersten Blick nicht einem antisemitischen Klima geschuldet ist, sondern der auf Rationalität und Zukunftsorientierung ausgerichteten Haltung der Nachkriegszeit. Nichtsdestotrotz bleibt ein Aspekt des „Reinwaschens“ und der „Entsorgung von Verantwortung“ für die zurückbleibende Tätergesellschaft als problematischer Aspekt präsent.



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NS-Aufmarsch am Bahnhofgürtel vor dem Arbeitsamt Graz, undatiert, vermutlich 1938

NEUKODIEREN Unter den wenigen erhaltenen Fotos des Grazer Arbeitsamtes sticht dieses besonders hervor. Der sichtbare Aufmarsch von Nationalsozialisten vor dem Arbeitsamt wird untermauert durch das Transparent: „Die steirische Arbeitsschlacht hat begonnen. Der Tag für Freiheit und Brot bricht an!“ Das Bild dokumentiert die Neukodierung des Arbeitsamtes im Zuge der Inbesitznahme und Aneignung als symbolischem Ort durch die Nationalsozialisten. Das Schriftband an der Stirnseite verkündet einen kriegerisch-triumphalen Neubeginn im Rahmen der NS-Ideologie. Eugen Székelys Dienstleistungsbau wird mit einer Rhetorik des Sieges symbolisch überschrieben, eines Sieges auch über jene gesellschaftlichen Gruppen, die von den Nationalsozialisten als (politische) Feinde definiert wurden und zu denen Székely als Jude trotz seiner Emigration nach Palästina gehörte. HZ/AG 114  | 

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Aneignungen – NationalSozialismus Im Programm der NSDAP von 1920 hieß es  : „Wir fordern die staatliche Verpflichtung, in erster Linie für die Erwerbs- und Arbeitsmöglichkeiten der Volksgenossen zu sorgen. […] Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist […]. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“1 Diese Forderung bedeutet die Schaffung von Arbeitsplätzen und den gleichzeitigen Ausschluss all jener aus der Arbeitswelt, die nicht als „Volksgenossen“ galten (Juden, Roma etc.). Hitler erklärte die Begriffe „national“ und „sozial“ für identisch – für ihn bedeuteten sie die bedingungslose Einordnung in die „Volksgemeinschaft“.2 Durch Benennung der Partei in „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“, durch die Verbindung des bislang propagierten „Nationalismus“ mit „Sozialismus“ versuchte man auch in die traditionellen Bereiche der Sozialdemokratie vorzustoßen. Die Nationalsozialisten traten wie alle damaligen Parteien gegen die Arbeitslosigkeit auf (im NS-Jargon als „Arbeitsschlacht“ bezeichnet), doch dass die von ihnen geschaffenen Arbeitsplätze auf Kosten von zahlreichen anderen Menschen gingen, wurde nicht thematisiert. Der „Sieg in der Arbeitsschlacht“ beeindruckte dennoch große Teile der Arbeiterschaft, die bislang traditionell der Sozialdemokratie zugewandt gewesen war, und war der wichtigste innenpolitische Erfolg der Nationalsozialisten. 3 Die NSDAP sah sich somit als „soziale Bewegung auf nationaler Grundlage für Arbeiter. Arbeiter im Sinne von Schaffenden schlechthin, also der Stirn und der Faust“. 4 Zur „Überwindung des Gewerkschaftsgedankens“ diente die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF), in welcher die „Volksgemeinschaft“ primär verankert sein sollte und welche nicht nur die Gewerkschaften ablöste, sondern auch durch ein umfassendes Freizeitgestaltungsprogramm („Kraft durch Freude“/KdF) tief in die Privatsphäre der ArbeiterInnen vordrang. Die KdF diente „der weltanschaulich-politisch-kulturellen Erziehung, der Formung eines arisch-kultischen Stils ebenso sehr, wie der Erholung und damit der rein körperlichen Befähigung zur Mehrarbeit, also der Mehrleistung und damit dem Mehrertrag […]“.5 Praktische Umsetzung fand dies auch im Zuge der Propagandamaßnahmen 1938, als die Nationalsozialisten in Österreich die „Volksgemeinschaftsidee“ mit großem Aufwand inszenierten  : Paraden, Fackelzüge, Aufmärsche („Die Volksgemeinschaft diskutierte nicht, sie marschierte.“6), öffentliche Ausspeisungen – vor allem die Inszenierungen am 1. Mai bedeuteten die symbolische Besetzung des traditionellen Arbeiter-Feiertages. Hatten die Sozialdemokraten noch „Freiheit, Arbeit und Recht “ gefordert, so versprachen die Nationalsozialisten nun „Freiheit, Brot und Arbeit“ – der theoretische Begriff des „Rechts“ wurde durch den – auch propagandistisch – praktischen Begriff des „Brotes“ ersetzt. Ursula Mindler



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Lisl-Transport, Frühjahr 1939, Hauptbahnhof Graz, rechts im Hintergrund das Arbeitsamtsgebäude

INTENTIONALITÄT UND NICHT-INTENTIONALITÄT Vom Arbeitsamt Graz sind – außer den Architekturfotos in einer zeitgenössischen Kunstzeitschrift – heute kaum mehr Bilder auffindbar. Einige der erhaltenen Bildspuren hängen mit der Lage des Gebäudes in Hauptbahnhofsnähe im Arbeiterbezirk zusammen. Eine davon ist dieses Foto, das den sogenannten „Lisl-Transport“ zeigt, die illegale Ausreise von Grazer Jüdinnen und Juden nach Palästina im Frühjahr 1939, organisiert von jüdischen Untergrundorganisationen, mit dem Arbeitsamt als zufälligem Hintergrundmotiv. Die Gestapo hat den Transport akribisch mit der Kamera dokumentiert, um die aus ihrer Sicht „erfolgreiche“ rasche Vertreibung und Deportation jüdischer GrazerInnen unter Beweis zu stellen. Intentionalität und Zufälligkeit im Hinblick auf das Erhaltensein historischer Bildspuren liegen hier eng nebeneinander. HZ/ AG

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„Lisl-Transport“: Flucht und Vertreibung 1938/39 Neben Staaten Nord- und Südamerikas stand besonders Palästina ganz oben auf der Liste jüdischer Fluchtziele. Dabei bemühten sich vorrangig zionistische Organisationen, die bereits in der Zwischenkriegszeit die Emigration nach Palästina forciert hatten, um die Organisation der Emigration. Doch aufgrund der restriktiven Bestimmungen der britischen Mandatsmacht war eine legale Einreise Anfang 1939 kaum noch möglich, womit „illegale“ Wege gesucht wurden. Gemeinsam mit Willy Perl und der Wiener Sektion des zionistischen Sportverbandes „Makkabi“ organisierte die Grazer Israelitische Kultusgemeinde ab Ende 1938 und deren später in Wien gegründetes „Provinzreferat“ einen solchen „illegalen“ Palästinatransport, den „Lisl-Transport“. In Absprache mit Adolf Eichmann und dessen „Zentralstelle für Jüdische Auswanderung“ charterte Joshua Torczyner, Vorstandsmitglied der „Makkabi“, in Griechenland ein Schiff, einen ehemaligen Viehtransporter, der auf den Namen „Lisl“ umgetauft und für den Transport von etwa 1000 Personen, die „elend und dürftig zusammengepfercht sein würden“, umgebaut wurde. Der Plan sah vor, dass die „Lisl“ von Triest aus nach Palästina aufbrechen sollte, doch stellte sich diesem Vorhaben die Triestiner Hafenbehörde entgegen, die dem Schiff aus sicherheitstechnischen Überlegungen die Kommissionierung für lediglich 600 Personen geben wollte. Nachdem sich die italienischen Behörden nicht umstimmen ließen, wurde die „Lisl“ nach Rumänien verlegt.7 Parallel zu den Bemühungen um das Schiff kümmerten sich Elias Grünschlag und später Dr. Weinberger als Präsidenten der IKG sowie das Mitglied des Grazer Gemeindevorstandes Alfred Klein und dessen Sohn Otto Günter um die Zusammenstellung der TeilnehmerInnenliste aus Graz. Dabei mussten sie mit dem zunehmenden Druck seitens der Gestapo wie auch der örtlichen Nationalsozialisten fertig werden. Denn im Zuge des Novemberpogroms waren alle männlichen Juden verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verbracht worden. Von dort konnten sie nur gegen die Zusage freikommen, das Deutsche Reich binnen kurzer Frist zu verlassen. Daher wurde aus Grazer Sicht die Verlegung der „Lisl“ von Triest nach Rumänien mit großer Sorge beobachtet und alles daran gelegt, dass der Transport doch stattfinden konnte. Nachdem alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, wurden Ende April 1939 212 JüdInnen aus Graz und weiteren Orten der Steiermark vom Grazer Hauptbahnhof unter Bewachung der Gestapo in einem Sonderzug nach Wien-Südbahnhof verbracht. Von dort ging es schließlich in den Abendstunden des 29. April 1939 in Straßenbahnsonderzügen weiter zur Station der Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft bei der Reichsbrücke. Gemeinsam mit weiteren rund 500 Jüdinnen und Juden wurden die SteirerInnen auf dem DDSG-Schiff „Helios“ nach Rumänien an die Schwarzmeerküste eingeschifft. Dort wurden sie auf die „Lisl“ umgeschifft, die am 4. Mai 1939 mit 921 Passagieren an Bord in Richtung rettendes Palästina aufbrach.8 Gerald Lamprecht



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Magistrat Graz, Lageplan des ehemaligen Arbeitsamtes mit künftiger städtebaulicher Veränderung (Regulierungslinie), 1954

LEERSTELLEN Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung ist immer die Gegenwart. Welche architektonischen Spuren sind noch vorhanden? Was ist (noch) sichtbar? Von Eugen Székelys Arbeitsamt in unmittelbarer Nähe zum Grazer Hauptbahnhof ist heute nichts mehr – vielleicht mit Ausnahme der unterirdischen Fundamente – erhalten. Über seinen ursprünglichen Standort fließt (oder stockt) der Autoverkehr, der in der Nachkriegszeit zum neuen städtebaulichen Paradigma erklärt wurde. Was bleibt, ist eine Leerstelle im Stadtraum, die nicht einmal mehr als solche wahrgenommen wird. Der archivalisch erhaltene Lageplan mit der künftigen Verlegung des Bahnhofgürtels und dem damit verbundenen Abriss des alten Arbeitsamtes dokumentiert die sukzessive Überlagerung und Überschreibung als einen Prozess, der Architektur grundlegend eingeschrieben ist. HZ/AG 118  | 

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Überschreiben durch Stadtplanung Am Höhepunkt des städtischen Wiederaufbaus Mitte der 1950er-Jahre wird im Grazer Stadtplanungsamt die Entscheidung getroffen, das ehemalige Arbeitsamt in der Ghega­ gasse zu demolieren, um Platz für den nach Osten, also stadteinwärts zu verlegenden Bahnhofgürtel und für den Bahnhofsvorplatz als „Tor zur Stadt“ zu schaffen – ein Vorhaben, das dem Paradigma der autogerechten, auf künftiges Wachstum ausgerichteten Stadt folgte. Die Begradigung der Nordsüd-Verkehrsverbindung stand aber auch in Beziehung zu einem anderen städtebaulichen Großprojekt  : der Planung des Neubaugebietes „Marienstadt“9, das 1947 nach dem System der „offenen Stadt“ auf einem riesigen Areal in Industrie-, Verkehrs-, Wohn- und Grünzonen gegliedert werden sollte, jedoch nur rudimentär zur Ausführung kam. Der neue Bahnhofgürtel hätte die westliche Peripherie dieses Stadtteiles gebildet. Nichts ist alltäglicher als der beständige bauliche Wandel von Stadtbildern nach immer neuen gesellschaftlichen Leitbildern. Damit das Neue Platz hat, muss das Alte weichen, verschwinden, beseitigt werden. An der Normalität städtebaulicher Eingriffe und Überschreibungen durch architektonische Interventionen erweist sich der nichtintentionale Aspekt von Vergessen. Im konkreten Fall heißt das  : Was 1955 der Abbruchsentscheidung des Grazer Arbeitsamtes zugrunde liegt, unterscheidet sich diametral vom Akt bewusster Vernichtung jüdischer Kultbauten kaum sechzehn Jahre zuvor. Antisemitische Aggression spielt – scheinbar – keine Rolle mehr, Eugen Székely war bereits 1935 nach Haifa emigriert und als jüdischer Autor des Entwurfs längst aus dem öffentlichen Bewusstsein hinausgedrängt worden. Im Vordergrund steht vielmehr eine Stadtplanung, die auf Sanierung – auch der beschädigten Zukunftsversprechungen – ausgerichtet ist. Dennoch  : Das ehemalige Arbeitsamt gehört in den 1950er-Jahren unzweifelhaft zu den Altlasten der vergangenen Epoche, die quasi entsorgt werden sollte. 10 Tabula rasa-Methode, Pragmatismus und historische Chance seiner Zeit fomuliert 1956 der steirische Landesbaudirektor Paul Hazmuka folgendermaßen  : „Bei Verwirklichung der Gesamtplanung dieses Projektes würde nun auch hier das Unglück der Zerbombung unseres alten Bahnhofes in ein Glück gewandelt werden, weil das bisher sehr häßliche Bahnhofsviertel nunmehr von einwandfrei gestalteten Bauwerken in eine gute Ordnung gebracht, für jeden Besucher unserer Stadt einen harmonischen Begrüßungsakkord geben würde.“11 Als Arbeitsvermittlungsstelle zu klein und funktionslos geworden, nach dem Krieg zweckentfremdet in Betrieb genommen und notdürftig repariert, hat das Arbeitsamt damals längst auch seine ästhetische Funktion als Imageträger einer fortschrittsgerichteten Moderne eingebüßt. Es steht einer Neugestaltung der Stadt – wörtlich und symbolisch – im Weg. Antje Senarclens de Grancy  

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Anmerkungen   1 Programm der NSDAP, Pkt. 4 und 7, in: Das Dienstbuch der NSDAP. Österreichs Hitlerbewegung, hg. Landesleitung Österreich der NSDAP, Wels [1932], 1–2.   2 Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin–New York 2000, 423.   3 Monika Herrmann, Arbeitsschlacht, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, 372.   4 Claus Selzner, Die Deutsche Arbeitsfront. Idee und Gestalt (= Schriften der Deutschen Hochschule für Politik. II. Der organisatorische Aufbau des Dritten Reiches 5), Berlin 1935, 8. – Vgl. Die Deutsche Arbeitsfront. Wesen – Ziel – Wege, verfasst im Arbeitswissenschaftlichen Institut der DAF, Berlin 1943. – Hermann Hesse, Die Überwindung des Gewerkschaftsgedankens durch die Deutsche Arbeitsfront, Diss. Innsbruck 1939. – Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936–1939 (= Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin 22), Opladen 1975.   5 Selzner 1935, 9.   6 Hans-Ulrich Thamer, Nation als Volksgemeinschaft. Völkische Vorstellungen, Nationalsozialismus und Gemeinschaftsideologie, in: JörgDieter Gauger/Klaus Weigelt (Hg.), Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation, Bonn 1990, 112–128, hier 117.   7 Gabriele Anderl, Emigration und Vertreibung, in: Erika Weinzierl/Otto D. Kulka in Zusammenarbeit mit Gabriele Anderl, Vertreibung und Neubeginn: Israelische Bürger österreichischer Herkunft, Wien–Köln–Weimar 1992, 282–284.   8 Gabriele Anderl, Porträts, in: Angelika Hagen/Joanna Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, Wien 2006, 227–235.   9 Vgl. Harald Bleich, Die Marienwiese, in: Der Aufbau 3 (1948), Nr. 7, 163–165. 10 Diese „Entsorgung“ spielte sich vor dem Hintergrund einer raschen Reintegration der Nationalsozialisten und einer bestenfalls ignoranten Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung von Graz ab. 11 Paul Hazmuka, Der steirische Wiederaufbau und Aufbau 1945–1954, in: Die Steiermark. Land – Leute – Leistung, Graz 1956, 410–432, 421.

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Antje Senarclens de Grancy

MARGARETENBAD Nachdem es bereits seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Graz neben der Militärschwimmschule noch eine Reihe von privat geführten Flussbädern gegeben hatte, wurde 1928 mit dem Margaretenbad auf den Zerkowitz’schen Gründen das erste Grazer Freibad im eigentlichen Sinn eröffnet  : eine schlichte, funktionale Anlage mitten im Hof eines gründerzeitlichen Wohnblocks mit Blick auf die Bäume der Nachbargärten und die Klopfbalkone der Hoffassaden.1 In Werbeannoncen wurde das Margaretenbad als „vornehmstes Familienbad“2 empfohlen, das „allen modernen Anforderungen, die in badetechnischer und hygienischer Beziehung an eine offene Badeanstalt gestellt werden können,“3 entspreche. Ein Werbefilm aus dem Eröffnungsjahr, der sich über den historischen Bruch in den Jahren 1938–1945 hinweg im Besitz der Familie Zerkowitz erhalten hat, zeigt gut gelaunte Badegäste beim sommerlichen Freizeitvergnügen, dicht gedrängt, beim Sonnenbaden, auf der Wasserrutsche und beim Schwimmen. Die Entwicklung der Strand- und Freibäder, die Ende des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund eines neuen Körperbewusstseins und der zunehmenden Bedeutung der Freizeitkultur begonnen hatte, erreichte in den 1920er-Jahren einen ersten Höhepunkt. In ganz Europa entstanden zahlreiche private und öffentliche Schwimmbäder, nicht nur zur Freizeitgestaltung, sondern vor allem auch als Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Volksgesundheit  : in Berlin beispielsweise das Strandbad am Wannsee, in Österreich die Strandbadkolonien und Schwimmbäder von Kritzendorf und Klosterneuburg4 und die Seebadeanstalten in Kärnten und im Salzkammergut. Ihnen gemeinsam war meist ein hohes architektonisches Niveau und eine sorgfältige Planung. Das Freibad als urbane Institution und Ort der Moderne bedeutete „eine Öffnung des geschlossenen Raumes der Stadt, ein freieres Arrangement von Architektur, einen direkteren Bezug zur Naturbasis des urbanisierten Raumes“5. Eingeschrieben in die sozialen Veränderungen der Moderne und die Forderung nach Licht, Luft und Sonne für alle erwies sich das Freibad auch als idealer Imageträger der Sozialdemokratie und der Arbeitersportbewegung. In Wien waren es das von Erich Leischner geplante städtische Kongreßbad (1928) sowie zahlreiche Kinderfreibäder, die Teil des Arbeitsbeschaffungs- und Bauprogramms des „Roten Wien“ waren.6 In Graz folgte 1930, zwei Jahre nach dem privaten Margaretenbad, als erste große städtische Freibadeanlage das Augartenbad am Schönaugürtel südlich des namensgebenden Parks.7



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Ein „provisorisches Bad“ Am 18. November 1927, einige Monate nach dem Tod von Alexander Zerkowitz, suchte dessen Witwe Jenny beim Stadtrat um Baubewilligung für die Errichtung eines Schwimmbades in der Grillparzerstraße an. Die Standortwahl war bei diesem privaten Bauprojekt bereits vorgegeben und nicht Ergebnis strategischer Planung für das Allgemeinwohl – wie etwa beim Kongreßbad in Wien (1928) oder dem Augartenbad in Graz (1930), die von den Gemeinden in Arbeiterwohnbezirken errichtet wurden. Beim vorgesehenen Bauplatz handelte es sich nämlich um ein brachliegendes Areal im Familienbesitz der Zerkowitz’ im gründerzeitlichen, bürgerlichen Wohnbezirk Geidorf, dessen Bebauung mit mehrgeschossigen Wohnhäusern um 1910 schon im Detail geplant und bereits begonnen worden, jedoch durch den Kriegsausbruch 1914 endgültig zum Stillstand gekommen war.8 Die Errichtung eines Freibades sollte diese Brache doch noch nutzbar machen und so der Familie ein zusätzliches Einkommen zu den Einkünften aus der Baufirma sichern.9 Auf den Plänen wurde die Anlage zunächst als „provisorisches Bad“ bezeichnet. 1910/11 war der Baugrund vom Grazer Stadtrat für eine städtische Blockverbauung mit einer Straßenführung – Verlängerung der Wastlergasse – als Wohngebiet gewidmet worden. Auf Antrag der Familie Zerkowitz wurde 1928 nun diese Widmung für den Zeitraum von 15 Jahren ausgesetzt und die Genehmigung zum Bau des Bades provisorisch erteilt. Die Familie musste sich jedoch verpflichten, die Badeanlage nach Ablauf dieser Frist auf eigene Kosten abzutragen. Nach einem Rechtsstreit mit einem Anrainer und einer außergerichtlichen Einigung wurde 1933 das Bad schließlich samt seinen Anlagen als endgültiger Bestand genehmigt und die geplante Verlängerung der Wastlergasse aufgegeben.10 Den Auftrag für die Planung des Freibades erhielt im Herbst 192711 der Architekt Eugen Székely, der damals gerade erst seine mehrjährige Arbeitstätigkeit in Griechenland beendet und nach seiner Rückkehr nach Graz noch keine großen Aufträge hatte. Bruno Zerkowitz und Székely kannten einander vermutlich bereits seit längerer Zeit, waren doch Brunos Zwillingsbruder Oskar und der um fünf Jahre jüngere Székely Mitglieder der jüdisch-akademischen Studentenverbindung Charitas. Beide Familien standen außerdem in einem Naheverhältnis zur jüdischen Kultusgemeinde.12 Bruno Zerkowitz, der die Baufirma seines verstorbenen Vaters übernommen hatte, führte die Freibadanlage aus. Nach der behördlichen Endbeschau am 27. Juni 1928 konnte das Margaretenbad für die Badesaison eröffnet werden.

Gestaltung der Badeanlage Die Baupläne wurden im Frühjahr 1928 von Székely mehrmals überarbeitet.13 Beim ursprünglichen, noch relativ schematischen Entwurf mit einer markanten halbkreis124  | 

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o.: Kassagebäude in der Grillparzerstraße, Zustand 1984 r.o: Baderestaurant r.: Die überdachten Terrassen links und rechts des Büffets wurden geschlossen, um mehr Innenraum zu schaffen. Zustand in den 1960er-Jahren

förmigen Rundung von Nichtschwimmerbecken und Kabinen stand die Symmetrie der gesamten Anlage noch stärker im Vordergrund. Schließlich entwickelte sich eine wesentlich komplexere, nach funktionalen und raumökonomischen Gesichtspunkten gegliederte Anlage mit vielen Details, die einen größeren Komfort für die Badegäste bedeuteten. Das Eingangsgebäude verschob sich gegenüber dem Erstplan aus der Symmetrieachse nach rechts, damit sich der Eingang genau in der Achse der Wastlergasse befand und somit die stadträumliche Fernwirkung von dieser Straße aus genutzt werden konnte. Die Anordnung des Bades musste sich nach den vorhandenen Grundstücksgrenzen mit einer Einschnürung des Geländes im hinteren Bereich richten und auf die Geländeneigung eingehen. Székely plante nicht ein großes Gebäude, das alle Funktionen in sich vereinigte, sondern gruppierte auf unterschiedlichen, dem Geländeverlauf entsprechenden Niveaus eine Vielfalt kleiner, eingeschossiger, nach ihren jeweiligen Funktionen aneinandergefügter Holzbauten (Eingangs-, Kabinen-, Restaurantbereich etc.) mit weiß gestrichenen Kippfenstern. Durch ein kleines Kassengebäude, an das ein Abstellraum für Fahrräder angeschlossen war, betrat man das Bad von der Grillparzerstraße aus. Rechterhand, etwas abgeschieden vom eigentlichen Badebereich, befand sich ein kleines Baderestaurant, auch als Büffet oder Erfrischungshalle bezeichnet, mit Sitzgelegenheiten im Freien, das direkt an die Feuermauer zum Haus Nr. 8 angefügt worden war. Vom Eingang aus auf der  

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Frauen-Kabinentrakt mit Duschkojen

linken Seite wurde, parallel zur Straße und entsprechend der Geländeneigung etwas abgesenkt, eine Wiese zum „Luft- und Sonnenbaden“ angelegt, die auch als Turn- und Spielplatz, später als Fußballplatz verwendet wurde. Die kleine halbovale Nische, die für den Trinkbrunnen vorgesehen war, existiert heute noch. Über ein paar Stufen gelangte man zum eigentlichen Freibadbereich. Zu beiden Seiten des Beckens bildeten jeweils die Umkleidekabinen, versperrbaren Aufbewahrungskästchen14 und sechs Kaltduschen kleine, sichtgeschützte Höfe – links für die Damen, rechts für die Herren. Zusätzlich gab es noch zwei Warmduschanlagen. An das betonierte Schwimmbecken mit einem tieferen, von einer Reling geschützten Teil für die einen, drei und fünf Meter hohen Sprungtürme schloss ostseitig ein Nichtschwimmerbecken an.15 Über dieses führte eine breite, bei Kindern und Erwachsenen gleicher126  | 

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Umkleidekabinen

Reling am Beckenrand zum Schutz des Sprungbereichs

Schwimmbecken mit Sprungturm und Wasserrutsche, im Vordergrund der Frauen-Kabinentrakt, rechts die Rasenfläche mit Trinkbrunnennische



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Pergola mit Sitzbänken zwischen Schwimm- und Liegebereich

Ergonomisch geschwungene Holzliegen

maßen beliebte, verzinkte Wasserrutschbahn. Entlang des Beckens spendeten pflanzenberankte Pergolen mit Bänken Schatten, während davor die hölzernen, mit einem eleganten Schwung ergonomisch geformten Holzliegen zum Sonnenbaden dienten. Als zusätzliche Angebote standen den Badegästen Tischtennistische, Massage-Apparate und Medizinbälle zur Verfügung.

Charakteristika der Bäderarchitektur um 1930 Die Erfahrungen, die Eugen Székely beim Grazer Margaretenbad gemacht hatte, konnte er einige Jahre später beim Entwurf für das Freibad Pernegg-Kirchdorf (1931) in der Nähe von Bruck a. d. Mur nochmals zum Einsatz bringen. Bei der bescheidenen, aber in subtilen Proportionen gestalteten, heute nur mehr fragmentarisch erhaltenen Badeanlage erreichte Székely eine Reife, in welcher der Architekturhistoriker Friedrich Achleitner „eine an Josef Frank erinnernde Intelligenz und Kultiviertheit“16 erkannte. Viele der Freibäder dieser Zeit hatten einen provisorischen Charakter, der vor allem auch durch die Wahl des Materials Holz als Baustoff zum Tragen kam – was heute die Erhaltung dieser oft als temporär geplanten Bauten schwierig macht. Auch Székely verband bei seinen beiden Badeanlagen konsequent das Material Holz in Form von schmucklosen, naturbelassenen Bretterverschalungen17 mit moderner Ästhetik und verstand es, alpine und „heimatliche“ Assoziationen des Materials vollständig zu vermeiden. Beide Anlagen vermittelten ein modernes Lebensgefühl, auch wenn im internationalen Vergleich bei modernen Bauten der Werkstoff Holz sonst eher selten zum Einsatz kam. Die Verwendung von Holz wurde Anfang der 1930er-Jahre in der waldreichen Steiermark auch im Hinblick auf dessen volkswirtschaftliche Bedeutung 128  | 

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Eugen Székely, Freibad Pernegg-Kirchdorf, 1931

in Architekturkreisen vielfach diskutiert, im Speziellen in der Grazer Zeitschrift „Bau-, Wohn- und Kunstberatung“.18 Charakteristisch für die Bäderarchitektur um 1930 ist auch die Betonung der Horizontalität, die durch die querliegende Holzverschalung erreicht wurde und als Charakteristikum des Neuen Bauens Modernität suggerierte, sowie die Symmetrie der Anlagen, meist akzentuiert durch zentrale Eingangsgebäude mit erhöhtem Mittelteil, die auch beim Margaretenbad zum Tragen kam.

Transformationen 1937 wurde in einem antisemitisch motivierten Akt das Kassagebäude durch eine Brandbombe beschädigt – ein Vorbote jener Zäsur in der Geschichte des Bades, die der „Anschluss“ im darauf folgenden Jahr bedeuten sollte. 1938 wurde das Bad „arisiert“,19 Juden, und damit auch den Angehörigen der Familie Zerkowitz, war der Zutritt zum Freibad verboten. Otto Bröderer, der „Ariseur“ des Bades, nutzte dieses zwar als Einnahmequelle, investierte aber nicht in dessen Instandhaltung. 1945 wurde das Bad von sowjetischen Soldaten verwüstet, und die Betonbodenplatten wurden durch das Befahren mit Panzern zerstört.20 Nachdem das Bad nach Kriegsende der Familie restituiert worden war, ließ Anny, die Witwe des von den Nationalsozialisten ermordeten Bruno Zerkowitz, die Schäden  

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Eingangsgebäude des Margaretenbades, Zustand 2009

notdürftig beheben und nahm im Sommer 1946 den Badebetrieb wieder auf. Danach wurde die Liegewiese von englischen Besatzungssoldaten außerhalb der Badesaison für Theateraufführungen verwendet. Als in den 1950er-Jahren wieder ein normaler Badebetrieb möglich war, fanden hier auch Boxveranstaltungen auf der Rasenfläche statt. Da der Betrieb des Bades inzwischen nicht mehr lukrativ und der Baubestand bereits in schlechtem Zustand war, fassten 1958 Anny Zerkowitz und ihr Sohn die Übergabe des Bades an die öffentliche Hand ins Auge. Nach Gründung einer Bürgerinitiative für den Erhalt des Bades – an der Kassa wurden rund 5.000 Unterschriften gesammelt – und Androhung des Verkaufs zur Errichtung von mehreren sechs- bis elfstöckigen Wohnbauten und Autogaragen auf dem Badareal21 erwarb die Stadt Graz 1961 mit einer Subvention des Landes Steiermark das Bad und führte es seither als städtische Freizeitanlage.22 Damit begann eine Zeit der Instandsetzungsarbeiten, Abrisse und Umbauten. Die Holzbauten – zur Bauzeit als Provisorium gedacht – wurden sukzessive abgerissen. Übrig geblieben sind nur mehr Spuren der ursprünglichen, von Eugen Székely geplanten und von Bruno Zerkowitz ausgeführten Anlage  : „Duschnischen im ehemaligen Männerbereich, ein Natursteinmäuerchen, zwei Treppen, einige Relinggeländer, eine ovale Brunnennische und einfache Bretterzäune zu den Nachbargrundstücken“ 23. Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde mit der Abtragung der alten, nun als „barackenartig“ bezeichneten Eingangs- und Restaurantgebäude und der Planung eines neuen Garderobentraktes mit Buffet, Kassa und Personalräumlichkeiten begonnen,24 der nichts mehr mit der subtilen Planung Eugen Székelys gemein hat. 130  | 

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Diese Duschen sind eines der letzten Relikte der alten Badanlage.

Margaretenbad, Sommer 2009  

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Anmerkungen   1 1927/28, etwa zeitgleich mit dem Bau des privaten Margaretenbades wurde in Graz auch das seit dem 19. Jahrhundert bestehende „Bad zur Sonne“ zu einem modernen, innerstädtischen Freibad mit angeschlossenem Hallenbad umgebaut. 1932 wurde im damals noch nicht zu Graz eingemeindeten Andritz das private Stuckitzbad – wie das Margaretenbad – als Holzbau errichtet.   2 Annonce in: Adreßbuch der Stadt Graz 1933, 586.   3 Margareten-Bad. Sommerfreibad, Graz, Grillparzerstraße, in: Die Stadt Graz, ihre kulturelle, bauliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den letzten sechzig Jahren nebst kurzen geschichtlichen Rückblicken, hg. v. d. Stadtgemeinde Graz, Graz 1928, 394.   4 Vgl. Caroline Jäger/Sabine Plakolm-Forsthuber/Thomas Prlicˇ, Die Architektur der Klosterneuburger Strandbäder und Wochenendkolonien (= Klosterneuburg Geschichte und Kultur, Sonderband 2), Klosterneuburg 2007. – Lisa Fischer, Die Riviera an der Donau. 100 Jahre Strombad Kritzendorf, Wien–Köln–Weimar 2003.   5 Gottfried Pirhofer/Ramon Reichert/Martina Wurzacher, Bäder für die Öffentlichkeit – Hallen- und Freibäder als urbaner Raum, in: Herbert Lachmayer u. a. (Hg.), Das Bad. Eine Geschichte der Badekultur im 19. und 20. Jahrhundert, Salzburg–Wien 1991, 151–178, 169.   6 Vgl. Hans Hovorka, Republik „Konge“. Ein Schwimmbad erzählt seine Geschichte. Das städtische Schwimm-, Sonnen- und Luftbad am Kongreßplatz in Wien Ottakring 1928–1988, Wien 1988.   7 Die Errichtung eines Bades an dieser Stelle war bereits 1913 im Grazer Gemeinderat diskutiert worden. Vgl. Gerhard M. Dienes, Aus der Geschichte der Grazer Schwimmbäder, in: Gerhard M. Dienes/Franz Leitgeb (Hg.), Wasser. Ein Versuch, Graz 1990, 266–269.   8 Siehe dazu die Biografie von Alexander Zerkowitz in diesem Buch.   9 Jenny Zerkowitz meldete als private Betreiberin das Gewerbe zum Betrieb des Schwimmbades an (Gewerbeschein vom 27. Mai 1929). 10 Stadtarchiv Graz, Bauakt Grillparzerstraße 10–18, Bescheid des Stadtrates Graz, Baurechtsamt, Zl.A10R 318/32, Graz, 2. 10. 1933. Die restlichen Parzellen Grillparzerstraße und Körblergasse sollten noch mit mehrstöckigen Wohnbauten verbaut werden, wozu es erst teilweise in der Nachkriegszeit kommen sollte. 11 Erste Pläne für den „Bau eines provisorischen offenen Schwimmbades mit dem Zugang von der Grillparzerstraße“ sind mit 14. 11. 1927 datiert. 12 Vgl. Harald Seewann, Die Jüdisch-Akademische Verbindung CHARITAS Graz 1897–1938. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf Grazer Boden (= Schriftenreihe des Steirischen Studentenhistoriker-Vereines 12), Graz 1986, 92. 13 Stadtarchiv Graz, Bauakt Grillparzerstraße 10–18: Erste Pläne: 14. 11. 1927 (Bau eines provisorischen offenen Schwimmbades mit dem Zugang von der Grillparzerstraße), Detailpläne 5. 2. 1928, 25. 3. 1928, 21. 4. 1928 (Freibad Zerkowitz). 14 Insgesamt gab es 159 Kabinen und 108 Kästchen. Das Bad war für bis zu 1000 Badegäste vorgesehen. 15 Alle 48 Stunden wurde das Wasser der Schwimmbecken durch eine mechanische und chemische Kläranlage gereinigt. Im ehemaligen Wirtschaftsgebäude des Tschock’schen Schlössls in der nordöstlichen Ecke der Anlage waren die Vorwärmeanlage und die Chlorierungsanlage untergebracht. 16 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Kärnten. Steiermark. Burgenland, Salzburg 1983, 286. 17 Die Bretterverschalungen wurden erst in der Nachkriegszeit farbig (rot und gelb) gestrichen. 18 Vgl. das Kapitel „Werbung für heimisches Holz“, in: Antje Senarclens de Grancy, Keine Würfelwelt. Architekturpositionen einer „bodenständigen“ Moderne. Graz 1918–1938, Graz 2007, 67–69. 19 Siehe unten Beitrag von Gerald Lamprecht zur „Arisierung“ des Margaretenbades. Mit diesem Akt der Enteignung scheint auch ein zweiter, viel subtilerer Aneignungsakt vollzogen worden zu sein: Obwohl schon zuvor gelegentlich der Name des Bades mit einem H (Margarethenbad) geschrieben wurde, scheint erst seit der „Arisierung“ und der damit verbundenen Bewerbung die Schreibweise konsequent verändert worden zu sein. 20 Bruno Zerkowitz’ Sohn Claus erinnert sich, dass diese „ihre Pferde im Wasser gebadet haben und mit den Panzern rundherum um das Becken gefahren sind und dabei die Betondecke kaputt gemacht haben.“ Claus Zerkowitz, aufgezeichnet vom Büro der Erinnerungen, in: Margaret[h]enbad, hg. v. d. BürgerInneninitiative zur Erhaltung und Belebung des Margaretenbades, Graz 2009, 6. 21 Auskunft von Dr. Claus Zerkowitz, Dezember 2009. Baumeister Franz Ludwig Herzog hatte bereits die Pläne ausgearbeitet. Vgl. Alarmruf der Grazer Sportler: „Rettet das Margaretenbad!“, in: Kleine Zeitung, 23. 3. 1958. – Weicht Margaretenbad sieben Wohnhäusern?, in: Neue Zeit, 21. 12. 1960. 22 In den 1960er-Jahren verpachtet an den GAK (Grazer Athletik-Klub). 23 Jördis Tornquist, in: Margaret[h]enbad, hg. v. d. BürgerInneninitiative zur Erhaltung und Belebung des Margaretenbades, Graz 2009, 1. 24 Dieser Trakt wurde erst 1989 nach mehreren Planänderungen fertiggestellt.

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Heidrun Zettelbauer

MARGARETENBAD: DIVERGENTE STRÄNGE DES ERINNERNS/VERGESSENS Befasst man sich mit dem Margaretenbad als materiellem Kristallisationspunkt von Gedächtnis, so fällt vor allem die Divergenz und Vielschichtigkeit der teils im Kollektiven präsenten, teils dem ersten Blick verborgenen Erinnerungsspuren ins Auge. Da erscheint das Bad zum einen als Ort idyllisch verlebter Sommertage, des Lachens, der Entspannung, der Aufregung verbotener nächtlicher Badeaktionen. Das Bad ist zentraler Treffpunkt vieler Familien des Grätzels (auch der Gründerfamilie Zerkowitz), Symbol für langjährige Freund- und Nachbarschaften – Aspekte, die nicht zuletzt ihren Niederschlag in einer BürgerInneninitiative finden, die sich bis in die Gegenwart hinein für den Erhalt des Bades einsetzt. Und doch tragen diese positiv konnotierten, identitätsstiftenden Erinnerungsspuren zum anderen immer auch eine andere, gänzlich gegenläufige Geschichte in sich. In der unmittelbaren Nachbarschaft der Gründerfamilie befand sich ein von einem radikal-antisemitischen Verein betriebenes Studentenheim. Durch die 1938 erfolgte „Arisierung“ des Bades wurde die Familie ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt. Alexander Zerkowitz’ Witwe und drei seiner Kinder wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Die vergessenen und erinnerten Geschichten, die hier aufgegriffen werden, sind vielschichtig, manchmal kaum miteinander in Einklang zu bringen, aber nichtsdestotrotz untrennbar ineinander verwoben.



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KRISTALLISATIONSPUNKTE | MARGARETENBAD

Südmarkheim, ehem. Tschock’sches Schlössl, Körblergasse 23, davor das Schwimmbecken des Margaretenbades, um 1930

NÄHE UND AUSGRENZUNG An der Rückseite des Margaretenbades gelegen, befand sich bis in die 1960er-Jahre das sogenannte Tschock’sche Schlössl. Alexander Zerkowitz selbst hatte die herrschaftliche Villa an den deutschnational-völkischen Verein Südmark vermietet, einen der radikalsten antisemitischen und rassistischen Vertreter des völkischen Milieus in Graz. Der Verein unterhielt im Tschock’schen Schlössl in der Folge ein Heim für „deutsche Studenten“. Das Bild dokumentiert die räumliche Nähe und Präsenz eines radikal antisemitischen Vereins in der unmittelbaren Lebenswelt der Familie Zerkowitz. Der Verein Südmark hatte eine große Menge an Anhängern in der national gesinnten und später häufig nationalsozialistisch orientierten Grazer Studentenschaft. 1937 wurde ein nationalsozialistisch motivierter Anschlag auf das Kassenhäuschen des Margaretenbades verübt – hier kündigte sich der NS-Terror der folgenden Jahre, die Verfolgung, Beraubung, Vertreibung und Vernichtung der jüdischen GrazerInnen bereits an. HZ/AG

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Antisemitismus in der Nachbarschaft – das Südmark-Studentenheim im Tschock’schen Schlössl Claus Zerkowitz bewahrt bis heute eine Werbebroschüre des Südmark-Studentenheims auf, das in der Zwischenkriegszeit im Tschock’schen Schlössl in der Körblergasse 23 untergebracht war. Diese lässt keinen Zweifel an der völkisch-antisemitischen Ausrichtung des Vereines, wenn als Zweck des Heimes angeführt wird, „Söhnen deutscharischer Eltern“, die in Graz eine Schule oder die Universität besuchten, „Unterkunft, bürgerliche Verpflegung und gewissenhafte, fachmännische Aufsicht“ angedeihen zu lassen  : „Es ist bestrebt, die ihm anvertraute Jugend im Geiste des deutschen Schulvereins Südmark zu Volks- und Vaterlandsliebe sowie zu restloser Pflichterfüllung“1 zu erziehen. „Die Zöglinge werden […] in Schule und Haus [zu] Ordnung, Reinlichkeit und Kameradschaftlichkeit angehalten […]. Aufnahme finden nur gesunde, deutsch-arische Schüler, deren Vorleben in sittlicher Hinsicht einwandfrei ist und die gewillt sind, sich der Hausordnung […] in allen Punkten zu unterwerfen“.2 Der Verein Südmark wurde 1889 gegründet und hatte sich, was seine rassistischen Parolen und seinen radikalen Antisemitismus betraf, in negativem Sinn zu einem Vorreiter unter den deutschnationalen Vereinen entwickelt  : Seit 1899 durfte Juden/Jüdinnen die Aufnahme in einzelne Ortsgruppen ohne Angabe von Gründen verweigert werden, 1921 wurden sie laut Vereinsstatut generell von einer Mitgliedschaft ausgeschlossen. 3 Mit seinen Tätigkeiten unterstützte der Verein in gemischtsprachigen Grenzgebieten deutsche Gewerbetreibende und Bauern oder finanzierte Schulen. Politisch gesehen waren viele Vereinsmitglieder dem deutschnationalen Parteienspektrum oder dem nationalen Flügel der Christlich-Sozialen zugehörig, der größte Teil der Anhängerschaft hatte sich jedoch rasch dem Nationalsozialismus zugewandt. Früh richtete der Verein seine Politik auf das Deutsche Reich hin aus und wurde nach 1918 zu einem „Motor der Anschlussbewegung“4 an Deutschland. Auch wenn er damit seit 1933 immer wieder in Konflikt mit dem Dollfußregime geriet, wurde er nicht aufgelöst und konnte seine Tätigkeiten bis 1938 weitgehend unbehelligt fortführen.5 Die Vereinspresse hetzte beständig gegen jüdische Gewerbetreibende in Graz, umso sprachloser lässt die Lektüre der Broschüre zurück, in der die Leitung des Südmark-Studentenheimes unter der Rubrik „Körperpflege“ lapidar vermerkt  : „Für das an das Heim angrenzende Schwimmbad können im Sommer ermäßigte Karten von der Heimleitung bezogen werden“.6 Man hatte offenbar keine Skrupel, unmittelbar von den jüdischen Betreibern des Margaretenbades in der Nachbarschaft zu profitieren. Heidrun Zettelbauer



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KRISTALLISATIONSPUNKTE | MARGARETENBAD

Werbeanzeige anlässlich der Wiedereröffnung des Margaretenbades nach erfolgter „Arisierung“, Tagespost, 16. Juli 1938

UN/SICHTBAR GEMACHTES Die antisemitisch motivierte Ausgrenzung von Juden und Jüdinnen hatte in Graz eine lange Tradition. Zur sozialen Ausgrenzung kam nach dem „Anschluss“ im März 1938 die Zerstörung jüdischen Alltagslebens, Verhaftungen, die Radikalisierung des NS-Terrors im Zuge des Novemberpogroms, schließlich die Vertreibung und Ermordung von Grazer Juden und Jüdinnen. Parallel dazu verlief der Prozess der wirtschaftlichen Enteignung und Beraubung durch die NationalsozialistInnen. Dass sich diese „mitten in der Gesellschaft“ vollzog, darauf verweist diese Anzeige des „Ariseurs“ des Margaretenbades, welche ganz offiziell in der Grazer Presse erschien und von jedem/r Grazer MitbürgerIn wahrgenommen werden konnte. HZ/AG

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Inmitten der Gesellschaft: Die „Arisierung“ des Margaretenbades Anfang Juni 1938 teilt der 38-jährige „Parteigenosse“ Otto Bröderer, „Schriftsteller und Komponist“, dem Gauwirtschaftsamt mit, dass er sich dazu entschlossen habe, das Margaretenbad zu „arisieren“. Auch habe er die Badeanstalt bereits eingehend besichtigt und erbitte angesichts der zu tätigenden Investitionen einen moderaten Preis. Zudem verweist er auf seine „Parteikarriere“  : Mitglied der NSDAP seit 1933, SA seit 1934, Führungsfunktion im Gau Steiermark vor 1934, aktiver Juliputschist mit darauffolgender Haft wegen Hochverrats sowie in der Silvesternacht 1933 an einem SprengstoffAnschlag gegen „zwei Grazer Geschäftsjuden“7 beteiligt. Obwohl sich auch weitere NationalsozialistInnen um die „Arisierung“ des Bades bemühten, erhielt Bröderer den Zuschlag und das Bad wurde am 17. Juli 1938 mit einer nationalsozialistischen Inszenierung wiedereröffnet  : Über dem Eingang hing ein Bild Adolf Hitlers und im Hintergrund spielte man nationalsozialistische Kampflieder.8 Die „Arisierung“ des Margaretenbades verdeutlicht, dass sich der Prozess der Beraubung, Diskriminierung, Entrechtung und Vertreibung der JüdInnen nicht außerhalb der gesellschaftlichen Wahrnehmung, sondern inmitten der Gesellschaft, inmitten der Stadt unter Teilnahme, Zeugen- und/oder Komplizenschaft der „VolksgenossInnen“ vollzog.9 Dabei meint „Arisierung“ im engeren Sinn zunächst die Transferierung des Eigentums von JüdInnen in nichtjüdische „arische“ Hände. Etwas weiter gefasst ist „Arisierung“ jedoch als Vorgang der vollständigen Existenzvernichtung der jüdischen Bevölkerung, deren Vertreibung aus der Gesellschaft zu sehen. Sie ist ein sozialer Prozess, der die Perspektive der Täter offenlegt und die Geschichte der Opfer verschweigt. Die „Ariseure“ rühmten sich ihrer Taten in Zeitungsinseraten, während die Opfer, ihrer Stimme und Rechte beraubt, zu retten versuchten, was zu retten war. Die Behörden hatten der Eigentümerfamilie Zerkowitz die Saisoneröffnung 1938 untersagt, und so bemühten sich Jenny Zerkowitz und ihre sechs erwachsenen Kinder (Bruno, Oskar, Fritz, Elsa, Sylvia und Berta) ab April 1938 um die Rettung des Bades, einerseits durch den Versuch, die Konzession auf die nichtjüdische Schwiegertochter Anny zu überschreiben, und andererseits durch ein Verkaufsangebot an die Stadt Graz. Beide Bemühungen scheiterten an den „Arisierungsplänen“ der Nationalsozialisten, ging es diesen doch um den Raub, mittels dessen unter anderem „verdiente“ „Parteigenossen“ entschädigt werden sollten. Derart wurde das Margaretenbad der Familie Zerkowitz zu einem geringen „Kaufpreis“, von dem diese nie etwas zu sehen bekam, abgepresst und an Bröderer vergeben. Die Familie versuchte ihr Leben durch Flucht zu retten, was nicht allen gelangt. Sowohl Jenny Zerkowitz als auch ihre Kinder Bruno, Berta und Sylvia wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Bröderer hingegen überstand die NS-Zeit wie auch die Nachkriegszeit unbeschadet.10 Gerald Lamprecht



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Mein persönliches Margaretenbad: Ein Super-8-Film meines Großvaters zeigt mich im Jahr 1963 als Baby in den Armen meiner Mutter und meiner Großmutter im Margaretenbad. Ich habe „das Licht, die Luft und die Sonne“ des Bades schon mit der Muttermilch eingesogen. In Erinnerung sind mir meine Kleinkindersommertage: Ich saß auf dem Schoß meiner Mutter in den von wildem Wein umrankten Lauben, müde von Wasser und Hitze … (Jördis Tornquist)

ERINNERUNG ALS IDENTITÄTSSTIFTUNG Die Lage des Margaretenbades in einem der bürgerlichsten Grazer Wohnbezirke weckt seit vielen Jahren Begehrlichkeiten nach einer lukrativen Wohnverbauung dieses Freizeitareals. Die „BürgerInneninitiative zur Erhaltung und Belebung des Margaretenbads“ versucht seit einigen Jahren dem entgegenzuwirken. Im Sommer 2008 organisierte sie zum 80-jährigen Jubiläum des Freibades eine Ausstellung und ein Fest, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Identifikation mit dem innerstädtischen Erholungsort zu festigen. Als ursprünglich nicht beabsichtigter „Nebeneffekt“ machte diese Ausstellung erstmals die vergessene jüdische Geschichte des Bades einer breiteren, hauptsächlich aus Badegästen bestehenden Öffentlichkeit bekannt. HZ/AG

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Das Margaretenbad – ein Wunschpool Das große Areal des Margaretenbades (6141 m2) bietet einen unschätzbaren Wert im dicht verbauten Grazer Stadtgebiet. Seit Generationen genießen Menschen dort ihre Freizeit, viele Ideen werden ausgetauscht, Themen diskutiert. Das Bad ist wie ein Dorfplatz in Kombination mit Sport unter freiem Himmel. Kurz vor Beginn der Sommersaison 2007 wurden viele Stammgäste nervös wegen der Gerüchte, es werde heuer die letzte Badesaison sein, denn das Grundstück solle verkauft und bebaut werden. Claudia Beiser, die Enkelin der Gründerfamilie Anny und Bruno Zerkowitz, wurde kurzerhand aktiv und initiierte eine „BürgerInneninitiative zur Erhaltung und Belebung des Margaretenbades“. Ich kam dazu und wir wurden – gemeinsam mit Brigitte Brantner – zu einem schlagkräftigen Frauenteam. Unser Anliegen, das öffentliche Freibad zu erhalten, wurde binnen weniger Wochen mit 3850 Unterschriften manifestiert, die wir im Herbst 2007 dem Bürgermeister der Stadt Graz übergaben. Damit war die Gefahr der Schließung vorerst gebannt. Da viele Menschen in unserem Grätzel ähnliche Erinnerungen und Gefühle mit dem Margaretenbad verbinden wie wir, beschlossen wir, das Schwimmbad zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 2008 zu feiern. Der Auftakt dazu war die Eröffnung einer „exhibition in progress“ am 26. Juni 2008. Es gelang, mit geringen Mitteln ein Ausstellungsambiente im ehemaligen Bad-Restaurant zu gestalten. Mit viel Eigenleistung wurde eine Ausstellungsbox errichtet, deren Zentrum ein Baldachin bildete. Unter diesem konnten die Besucher und Besucherinnen im Laufe des Sommers ihre Erinnerungen, die sie mit dem Bad verbinden, und ihre Wünsche für die Zukunft schriftlich und akustisch deponieren. Nicht vergessene Handtücher und anderes waren in der Ausstellung zu sehen. Viel Vergangenes und viele Zukunftsideen für das „Margerl“, wie das Margaretenbad von seinen Stammgästen genannt wird, haben die Box im Laufe des Sommers gefüllt. Eine Dame spendete ein goldenes Stammbuch, das reichlich beschrieben wurde. Originale Filmdokumente wurden gezeigt und belebten den Ausstellungsraum, den sich auch die Kinder mit vielen an die Wände geposteten Zeichnungen eroberten. Am 6. September beendeten wir bei strahlendem Wetter die Badesaison 2008 mit einem Geburtstagsfest. In den Abendstunden brachten Stammgäste Darbietungen vor, eine Jugendband spielte auf und Kinder bauten ein Zukunftsmodell, das zeigt, wie sie sich ihr Margaretenbad wünschen. Jördis Tornquist



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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9

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Werbebroschüre Südmark-Studentenheim. Schülerheim des deutschen Schulvereines Südmark in Graz, Graz o. J., 2. Werbebroschüre (wie Anm. 1), 8–9. Zum „Arierparagrafen“ vgl. Sigrid Kiyem, Der Deutsche Schulverein „Südmark“ 1918 bis 1938, phil. Dipl.arb., Wien 1995, 41. Kiyem 1995 (wie Anm. 3), 115. 1938 wurde der Verein mit dem Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) gleichgeschaltet und schließlich der von der SS geleiteten Volksdeutschen Mittelstelle unterstellt. Kiyem 1995 (wie Anm. 3), 120, 165. Werbebroschüre (wie Anm. 1), 8. StLA, LReg. Arisierung Komm. 278. Tagespost, 24. Juli 1938. Vgl. Gerald Lamprecht, „Auf diese Art und Weise würde aus einer jüdischen Kultusstätte ein schönes Wohnhaus für einen alten Nazi erschaffen.“ Organisatorisches und Exemplarisches zum Vermögensentzug in der Steiermark, in: Margit Franz et al. (Hg.), Mapping Contemporary History. Zeitgeschichten im Diskurs, Wien–Köln–Weimar 2008, 351–384. StLA, FLD Rückstellungen 479/1948. – StLA, LG f. ZRS Graz Rk 23/53. – StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr. 3149/1949.

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Antje Senarclens de Grancy

JÜDISCHE ZEREMONIENHALLE Im August 1908 konnte die Grazer jüdische Beerdigungsgesellschaft Chewra Kadischa nach langwierigen administrativen Vorbereitungen endlich das Startsignal zu dem seit vielen Jahren geforderten Bau einer Zeremonienhalle auf dem Jüdischen Friedhof geben.1 Zwei Jahre später, am 25. September 1910, wurde das repräsentative Gebäude, das sich entlang der Alten Poststraße im damals noch außerhalb der Grazer Stadtgrenzen liegenden Wetzelsdorf erstreckte, feierlich eingeweiht. 2 Bis dahin war das kleine, heute noch bestehende Gebäude an der Grundstücksecke für die Aufbahrung der Verstorbenen genutzt worden, das aber für die inzwischen auf fast 2000 Mitglieder angewachsene jüdische Gemeinde längst zu eng geworden war.3 Hatte bei der rund 20 Jahre zuvor errichteten Grazer Synagoge noch ein Wiener Architekt4 herangezogen werden müssen, so konnte nun der seit der Jahrhundertwende in Graz ansässige Baumeister Alexander Zerkowitz die Pläne für die Zeremonienhalle ausarbeiten. Ihm wurde bei der Einweihung überschwänglich für seinen Einsatz gedankt, da er, der auch sonst mit zahlreichen Spenden das jüdische Gemeindeleben unterstützte, auf ein Honorar für die Planung verzichtet hatte.5

Bautyp Jüdische Trauerhalle So wie in Graz-Wetzelsdorf wurden um 1900 in vielen Städten der Habsburgermo­ narchie repräsentative Zeremonienhallen (Bezeichnung auch  : Leichen-, Trauer-, Aufbahrungs- oder Einsegnungshallen)6 auf den jüdischen Friedhöfen errichtet. Geradezu spezialisiert auf diese Bauaufgabe war beispielsweise der Wiener Architekt Wilhelm Stiassny, der neben zahlreichen Synagogen auch die israelitischen Zeremonienhallen für Kojetein/Kojetin (1901), Znaim/Znojmo (1903), Iglau/Jihlava (1903–1904) und Baden bei Wien (1904–1906) plante.7 Auch in St. Pölten (1905/06), in Czernowitz (1905) und in Prag (1911/12) sowie in zahlreichen kleineren Städten entstanden damals Bauten diesen Typs.8 Im 19. und vor allem im beginnenden 20. Jahrhundert hatten sich die seit dem Mittelalter urkundlich belegten, funktionellen jüdischen Taharahäuser für die rituelle Waschung der Verstorbenen zur neuen, eigenständigen und repräsentativen Bauaufgabe der Trauer- bzw. Zeremonienhalle entwickelt. 9 Seit dem 18. Jahrhundert wurde die Leichenbestattung im Zuge der wachsenden städtischen Bevölkerung und der ver 

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änderten Hygienevorstellungen auch als sanitäre Aufgabe erkannt und die Forderung nach der Errichtung eigener Leichenhäuser, die auch die Bestattung von „Scheintoten“ verhindern sollten, laut.10 Parallel dazu erforderte die seit Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgte Aufwertung der – ursprünglich im Freien gehaltenen – Trauerrede bzw. Leichenpredigt innerhalb der jüdischen Bestattungsriten einen großen Versammlungsraum für die Gemeinde, der nun an die Funktionsräume für die Tahara und die Leichenaufbahrung angeschlossen wurde. Auch aufgrund des Zuwachses der jüdischen Gemeinden waren größere Saalbauten notwendig geworden. Eine stilistische Typisierung lässt sich dabei nicht feststellen  : Die Stilwahl reichte von Neoromanik, „maurischem“ Stil und Neoempire bis zu Einschlägen von Secessionismus und Jugendstil. Gemeinsames Merkmal war aber oft eine symmetrische Anlage und eine Kuppel, die (wie in der nicht-jüdischen Architekturgeschichte) zur Hervorhebung des Weihecharakters diente. Wie in Graz wurden auch sonst Trauerhallen meist durch die örtliche Chewra Kadischa errichtet, die in allen jüdischen Gemeinden bestehende, hoch angesehene und für das Gemeindeleben besonders bedeutende Beerdigungsbruderschaft, die neben der Begleitung der Kranken und Sterbenden, dem Transport und der rituellen Waschung des Leichnams auch die Anlegung des Grabes übernahm.

Signal jüdischer Präsenz und Kontinuität Der neue Kultusbau auf dem Friedhof in Wetzelsdorf ergänzte nicht nur – neben Synagoge und Schul- und Amtshaus – die bauliche Infrastruktur des Grazer jüdischen Gemeindelebens, sondern setzte auch ein weiteres bauliches Zeichen in der Öffentlichkeit. Das Gebäude auf dem 1864 angelegten Friedhof hatte eine hohe Bedeutungsfunktion für das Selbstverständnis der erst seit rund einem halben Jahrhundert wieder in Graz bestehenden jüdischen Gemeinde. Er diente angesichts der zunehmenden antisemitischen Anfeindungen auch der Selbstvergewisserung  : einerseits durch das Besetzen des öffentlichen Raumes und das Sichtbarmachen jüdischer Präsenz, andererseits aber auch durch die identitätsstiftende Einordnung der Gemeinde in größere zeitliche Zusammenhänge. So betonte Präses-Stellvertreter Simon Rendi in seiner Eröffnungsrede mit einem Blick in die Zukunft, dass die Zeremonienhalle „ein immerwährendes Denkmal jüdischer Opferwilligkeit und jüdischen Kunstsinnes bilden“11 werde (was sich allerdings nicht bewahrheiten sollte  : Die Halle überdauerte kaum zwanzig Jahre bis zu ihrer Zerstörung). Der seit 1908 in Graz tätige und als Altphilologe historisch besonders interessierte Rabbiner David Herzog suchte wiederum den Bau an die kulturellen Wurzeln jüdischer Existenz anzubinden  : Er hatte angeregt, bei der Ausschmückung der Halle altjüdische ornamentale Motive einzusetzen, was das seit dem 19. Jahrhundert wachsende Interesse an jüdischer Kultur und (Kunst-)Geschichte als Ausgangspunkt 144  | 

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jüdischen Selbstverständnisses widerspiegelte. Noch 15 Jahre später schlug David Herzog in einem Aufsatz über „Jüdische Kunst“ vor, dass „aus den in Palästina ausgegrabenen zahlreichen akkadischen, phönizischen und aramäischen Denkmälern“ 12 ein „jüdischer Stil“ konstruiert werden solle. Die Kontinuität jüdischer Anwesenheit in Graz konnte auch noch 1928 durch die Versetzung von im 19. Jahrhundert aufgefundenen mittelalterlichen jüdischen Grabsteinen vom Hof des Landesmuseums Joanneum in der Raubergasse zum Friedhof in Wetzelsdorf untermauert werden.13 1935 ergänzte ein von Architekt Eugen Székely als Zeichen gegen den zunehmenden Antisemitismus konzipiertes Denkmal für die 90 gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges aus Graz im Auftrag des „Bundes jüdischer Frontsoldaten“ diesen Komplex der Selbstvergewisserung auf dem jüdischen Friedhof.14

Eine Bewohnerin der Stadtrandsiedlung Amselgasse auf einem ­Spaziergang mit ihren Kindern, im Hintergrund die Friedhofsmauer und die Kuppel der Jüdischen Zeremonienhalle, um 1934

Entwurf und Gestaltung Die formale Gestaltung der Zeremonienhalle lässt sich heute nur mehr durch eine zeitgenössische Beschreibung im „Grazer Israelitischen Gemeindeboten“ sowie durch Fotos (mit Ausnahme eines Postkartenmotivs aus der Entstehungszeit und zweier ­Familienschnappschüsse existieren nur die „Täterbilder“ von der Zerstörung im November 1938) rekonstruieren. Grundrisse und Entwurfspläne sind hingegen keine erhalten. Die Ausmaße (Breite der Straßenfront  : 32,70 m, Höhe der Kuppel  : 20,45 m) können heute nur mehr erahnt werden. Einziges bis heute physisch erhaltenes Element der ursprünglichen Gestaltung sind die beiden Eingangstore zum Friedhof und Teile der rund zwei Meter hohen Friedhofsmauer. Stilistisch gehörte der streng symmetrisch angelegte Bau neben der katholischen Kirche im Landeskrankenhaus zu den fortschrittlichsten Grazer Sakralbauten. Für die Zeit um 1910 waren die secessionistischen Motive wie Rillenputz, flächige Wandbehandlung, geometrische Ornamentik in Kombination mit klassischen Details wie dem Tempel 

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Eines der beiden Eingangstore zum Friedhof, die 1910 gemeinsam mit der Zeremonienhalle errichtet wurden, Zustand 2009

Detail des Torpfeilers, letzte Spuren der zerstörten Halle

motiv und abstrahierten ionischen Pilastern15 charakteristisch. Im „Gemeindeboten“ wird von dem Würde vermittelnden „Empirestil“16 des Gebäudes gesprochen, und tatsächlich waren in der zeitgenössischen Secessionsarchitektur Anleihen bei den Stilen „um 1800“, dem französischen Empire, dem österreichischen josephinischen Stil und dem Wiener Biedermeier, sehr beliebt. Die Wahl dieser dem aktuellen Stand der Architekturentwicklung entsprechenden, überkonfessionellen und übernationalen „modernen“ Formensprache deutet auf ein emanzipiertes Selbstbild der jüdischen Gemeinde hin – stärker noch als der auf Abgrenzung zur christlichen Neugotik ausgerichtete, für den

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Zerstörung der Zeremonienhalle im Zuge des Novemberpogroms 1938

Ausdruck des Jüdischen am charakteristischsten erscheinende romanisch-maurische Stil der rund zwei Jahrzehnte früher errichteten Grazer Synagoge. Das Gebäude war gegenüber der Straße um einige Meter zurückversetzt. Ein halb­ elliptischer Vorplatz schuf Platz für die Zufahrt und bildete gleichzeitig auch ein räumlich sammelndes Element vor dem Eingang zum Friedhof. Über einem Giebel schloss eine monumentale, kupfergedeckte Kuppel auf einem achteckigen Tambour den Bau ab, der von einem Davidstern über der Laterne als jüdischer Kultusbau ausgewiesen wurde. Von der Straße aus erreichte man über eine fünfstufige Freitreppe eine offene, das klassische Tempelmotiv aufgreifende Vorhalle, an deren Schmalseiten im Inneren links und rechts je eine Widmungstafel angebracht war. Die Inschrift in hebräischer Schrift über dem Eingang lautete  : ‫יח לכל דעומ תיב‬, „Das Haus, das jedem Lebenden vorbereitet ist“ (Hiob 30, 23), sinngemäß für „Friedhof “.17 Von der Vorhalle aus führten drei Tore in den zentralen Versammlungsraum. Dieser rund 150 m2 große, querrechteckige Saal, der bis zu 300 Personen fassen sollte, wurde von oben durch die Öffnungen der Laterne und durch dreifärbige Glasfenster im Tambour der Kuppel belichtet. Die Wände waren mit stilisierten „altjüdischen“ Ornamenten dekoriert, wobei es sich vermutlich um eine damals für diesen Zweck üb 

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liche Schablonenmalerei handelte.18 Die Ausstattung des Saales entsprach der seit dem 19. Jahrhundert in jüdischen Trauerhallen gebräuchlichen Einrichtung19  : Nordseitig, das heißt an der rechten Schmalwand des Raumes, war das Einsegnungspodium mit einem Rednerpult aufgestellt, flankiert von vier schmiedeeisernen Kandelabern. In die drei Marmortafeln an der Wand darüber waren mit Goldbuchstaben die Gebete, die beim Betreten des Friedhofes gesprochen werden, in hebräischer Sprache eingraviert  : „Der Hort, untadlig ist sein Werk  ; denn alle seine Wege sind recht, ein Gott der Treue, sonder Trug, gerecht und gerad ist er  !“20 (Deut. 32, 4) sowie Psalm 16. Das Eines der wenigen erhaltenen Fotos der dem Friedhof zugewandten von David Herzog entworfene Emblem Front entstand während der Zerstörung. darüber zeigte das auf zwei Trauerweidenzweigen ruhende Buch des Lebens.21 An der dem Eingang gegenüberliegenden Langseite führten drei verglaste Tore zum Friedhof hinaus. Im Anschluss an den Hauptraum waren im rechten, nordseitigen Flügel der für die rituelle Waschung (Tahara) notwendige Waschraum mit dem Taharatisch und der Aufbahrungsraum für die Verstorbenen angeordnet, im linken, südlichen Trakt ein Zimmer für die Trauernden sowie eine Remise für den Leichenwagen. Auch diese Aufteilung folgte den bei jüdischen Trauerhallen üblichen Raumdispositionen.

Zerstörung und Wiederaufbau Gerade aufgrund ihrer symbolischen Repräsentation diente in der Pogromnacht im November 1938 – neben der Grazer Synagoge – auch die Zeremonienhalle als Zielscheibe nationalsozialistischer Ausschreitungen und Zerstörungswut, wie es auch bei vielen anderen jüdischen Zeremonienhallen in Deutschland und Österreich der Fall war.22 Am 10. November 1938 wurde das Gebäude im Zuge der landesweiten Pogrome von den Nationalsozialisten in Brand gesetzt. Ein Zeitzeuge, der am Nachmittag des 10. November mit seiner Chefin zum „Feuerschauen“ nach Wetzelsdorf geradelt war, berichtete  : „An die 50 Leute, höchstens 70, sind da herumgestanden und haben zugeschaut, wie immer noch eine Handvoll Männer mit Benzinkanistern auf der Kuppel der Zeremonienhalle herumgekraxelt sind. Dabei hat’s eh schon lichterloh gebrannt.“23 Im 148  | 

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Vorbereitung der Sprengung

Leichenhalle auf dem Jüdischen Friedhof, 1949 an Stelle der alten Zeremonienhalle errichtet, Zustand um 1990

Verlauf der Zerstörung wurden nicht nur auf dem Friedhof Grabsteine umgestürzt und Gräber geschändet, sondern auch die mittelalterlichen jüdischen Grabsteine, die an der Halle eingemauert waren, zerstört. Bei der brennenden Zeremonienhalle wurde in dieser Nacht auch der damals 70-jährige Landesrabbiner David Herzog schwer misshandelt.24 Die Intention der Nationalsozialisten, die Spuren jüdischen Lebens in Graz zu tilgen und deshalb auch den jüdischen Friedhof möglichst schnell „verschwinden zu lassen“, scheiterte hingegen an den gesetzlichen Grundlagen, die eine Weiternutzung, etwa eine Bebauung des Friedhofsgeländes, für mindestens 30 Jahre untersagten. Besonders perfide erscheint, dass die Israelitische Kultusgemeinde im Februar 1939 nach einer Erhebung des Grazer Stadtbauamtes und des Stadtphysikus vom „Oberbürgermeister der Stadt der Volkserhebung“ aufgefordert wurde, unverzüglich ein Ansuchen betreffend der Wiederherstellung der Friedhofsmauer und der Errichtung einer Totenkammer – auf eigene Kosten – zu stellen.25 Die nahezu mittellose Gemeinde beauftragte daraufhin einen Baumeister mit der Erarbeitung von Plänen für ein – nie realisiertes – „provisorisches Leichenhaus“, einen rund 30 m2 großen barackenartigen Notbau, bestehend aus einem Aufbahrungsraum und einem kleineren Raum für den Wächter, kaum höher als die Friedhofsmauer, das in seiner Armseligkeit in krassem Gegensatz zu dem repräsentativen Bau der ursprünglichen Zeremonienhalle gestanden hätte.26 Zusätzlich zu den Verwüstungen der Pogromnacht am Gebäude und an den Gräbern wurde 1944 die Friedhofsmauer an zwei Stellen durch Bombentreffer zerstört. Nach dem Krieg sprach die Israelitische Kultusgemeinde von der „im Jahre 1938 vollkommen zerstörte[n] Zeremonienhalle“27. Allerdings bestehen unterschiedliche Meinungen darüber, wie es zum vollständigen Abbruch der letzten Baureste gekommen war. Während ein um 1990 befragter Zeitzeuge sich zu erinnern glaubte, dass die Halle erst nach dem Krieg endgültig geschleift wurde, gab die Tochter des ehemaligen Friedhofgärtners an, dass bereits am Tag nach dem Brand die Überreste weggesprengt worden seien,28 was auch der Erinnerung anderer Zeitgenossen entspricht. In den ab 1947 datierten Bauakten im Stadtarchiv ist jedenfalls kein Hinweis auf eine Beseitigung der Mauerreste der alten Halle zu finden, weshalb zumindest angenommen werden  

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Die 1991 eröffnete neue Zeremonienhalle, vom Friedhof aus gesehen

kann, dass der Bauschutt damals bereits weggeräumt und die Spuren beseitigt worden waren. Nach Rückkehr nur weniger Jüdinnen und Juden nach Graz und Restituierung des „arisierten“ Friedhofareals wurden an der Friedhofsmauer und dem Gärtnerhaus („Totengräberhaus“) dringend notwendige Reparaturen durchgeführt.29 Im Jahr 1949 entschloss sich die Israelitische Gemeinde, „im beschränkten Umfange“ und auf eigene Kosten eine neue Halle zu errichten.30 Bis dahin hatte es keinen Raum für die Aufbahrung der Verstorbenen gegeben. In den Plänen von Architekt Raimund Bachmayer für die höchst bescheidene, wenn auch im Vergleich mit dem 1939 geplanten Barackenbau würdigere Halle blieb von der alten Konzeption lediglich die markante konkave Führung der Friedhofsmauer erhalten. 1952 wurde dieser Bau als Provisorium eröffnet. In Folge des „Be/Gedenkjahres 1938/88“ beauftragten Vertreter der Stadt Graz und des Landes Steiermark die Architekten Jörg und Ingrid Mayr (die später auch die Grazer Synagoge neu errichten sollten) mit dem Bau einer neuen Zeremonienhalle, deren Kuppel und Gesamtform an die zerstörte Halle erinnern sollte. Am 11. November 1991 wurde diese der Israelitischen Kultusgemeinde übergeben.31

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Anmerkungen   1 In der außerordentlichen Generalversammlung am 8. 11. 1908. Für den Bau wurden 60–65 000 K vorgesehen. Im Herbst 1908 wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Vgl. Grazer Israelitischer Gemeindebote 1 (1908), Nr. 11, 130 und 2 (1909), Nr. 3, 173.   2 Vgl. Einweihung der neuen jüdischen Leichenhalle in Graz, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 3 (1910), Nr. 6, 75. – Gudrun Reitter, Die Israelitische Kultusgemeinde Graz 1908–1938, Dipl. Arb., Graz 1987, 77–79. – Gudrun Fritsch-Reitter, Marginalien zur Geschichte, in: Die Zeremonienhalle der Israelitischen Kultusgemeinde in Graz, Graz 1991, 10–15.   3 Im Jahr 1910 zählte die jüdische Gemeinde Graz insgesamt 1971 Mitglieder, was 1,3 % der Grazer Bevölkerung entsprach. Die Grazer Chewra Kadischa hatte bereits 1864 vorausschauend ein im Süden anschließendes Grundstück für eine Erweiterung des Friedhofes angekauft. Vgl. Heimo Halbrainer, Beth haChajim: Der jüdische Friedhof von Graz, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 16 (2004), Nr. 62, 5–8.   4 Zur Beauftragung des jüdischen Architekten Maximilian Katscher vgl. Gertraud F. Strempfl, „Wo aber die Juden kein rechtes Gotteshaus haben, da fühlen sie sich nicht zu Hause“. Die beiden Grazer Synagogen – Eine architektonische Annäherung, in: Gerald Lamprecht (Hg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung, Innsbruck u. a. 2004, 235–262, 241. Zu Katschers Biografie vgl. Maximilian Katscher, Eintrag von Dagmar Herzner-Kaiser in: http://www.architektenlexikon.at/de/280.htm. – Doris Steiner, Maximilian Katscher 1858–1917, Dipl. Arb., Wien 2004.   5 Zerkowitz hatte sich darüber hinaus auch bei den Ausführungskosten sehr entgegenkommend gezeigt. Vgl. Einweihung der jüdischen Leichenhalle in Graz, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 3 (1910), Nr. 6.   6 War in Deutschland eher die Bezeichnung „Trauerhalle“ üblich, so wurde auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie in den meisten Fällen von „Zeremonienhalle“ oder „Zeremonienhaus“ gesprochen.   7 Wilhelm Stiassny hatte auch schon 1877–1879 die Zeremonienhalle auf dem alten jüdischen Friedhof am Wiener Zentralfriedhof geplant.   8 In Böhmen und Mähren wurden zahlreiche, zum Teil bescheidenere, Leichen- bzw. Zeremonienhallen errichtet, in der Steiermark auch in Knittelfeld und Leoben. Zu den spätesten in Zentraleuropa vor 1938 errichteten großen jüdischen Zeremonienhallen gehörten jene auf dem Neuen jüdischen Friedhof am Wiener Zentralfriedhof von Ignaz Nathan Reiser sowie in Brünn von Bohuslav Fuchs aus der Mitte der 1920er-Jahre.   9 Vgl. Ulrich Knufinke, Bauwerke jüdischer Friedhöfe in Deutschland (= Schriften der Bet Tfila – Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa 3), Petersberg 2007. 10 Vgl. Artikel „Leichenhaus“, in: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, hg. v. Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Braunschweig 2002, Bd. 1: Volkskunde – Kulturgeschichte, Braunschweig 2005, 198–199. – Artikel „Leichenhaus, Bauaufgabe“, in: ebenda, Bd. 2: Archäologie – Kunstgeschichte, 225–226. 11 Einweihung der neuen jüdischen Leichenhalle in Graz, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 3 (1910), Nr. 6, 76. 12 David Herzog, Jüdische Kunst, in: Die Wahrheit, 17. 8. 1925, 25–27. 13 Vgl. David Herzog, Jüdische Grabsteine und Urkunden aus der Steiermark, Breslau 1931, 8. Zunächst bestand der Plan, anlässlich der 800-Jahr-Feier der Stadt Graz 1928 die Grabsteine zu versetzen. Dies scheint aber erst 1934 realisiert worden zu sein. Vgl. Brief von Landeskonservator Walter Semetkowski (Zentralstelle für Denkmalschutz) an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 23. 3. 1940, LReg 357 Allg. 10/1939. An den Landeshauptmann von Steiermark, staatliche Verwaltung, Abt. Ia – Kultusreferat Graz. 14 Vgl. Martin Senekowitsch, Verbunden mit diesem Lande. Das jüdische Kriegerdenkmal in Graz, Graz 1995. 15 Die charakteristischen, kubisch abstrahierten ionischen Kapitelle der Pilaster stehen jenen nahe, die der in Graz um 1900 tätige, aus Wien stammende Architekt Adalbert Pasdirek-Coreno bei seinen Villen oftmals verwendet hat. Möglicherweise besteht hier ein entwerferischer Zusammenhang. 16 Einweihung der neuen jüdischen Leichenhalle in Graz, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 3 (1910), Nr. 6, 75. 17 „Beyt moed le‘kol chai“. Herzog 1925 (wie Anm. 12), 26. 18 Eine solche Schablonenmalerei wurde beispielsweise auch bei der Restaurierung der wenig später als der Grazer Bau errichteten und 1938 zerstörten Synagoge von St. Pölten rekonstruiert. 19 Knufinke 2007 (wie Anm. 9), 57–58. 20 Einweihung der neuen jüdischen Leichenhalle in Graz, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 3 (1910), Nr. 6, 78. 21 „Auf zwei schräg übereinanderliegenden Trauerweidenzweigen (Alon bahuth) liegt ein aufgeschlagenes Buch, das auf der einen Seite die Worte Sifre Hajim, auf der anderen Seite die Worte Sifre Methim eingezeichnet hat.“ Herzog 1925 (wie Anm. 12) 26. 22 In Österreich wurden neben Graz auch die Zeremonienhallen in Wien/Zentralfriedhof, St. Pölten und Baden b. Wien zerstört. 23 Zit. n.: o. A., „Von wegen Volkszorn …“. Gespräche mit Zeitzeugen, in: Die Zeremonienhalle der Israelitischen Kultusgemeinde in Graz, hg. v. Kuratorium zur Wiedererrichtung der Zeremonienhalle, Graz 1991, 24. 24 Nach einem Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde Graz wurde er „aus dem Bette gerissen […], wurde in der Nacht fast unbekleidet auf den jüdischen Friedhof getrieben, woselbst die Zeremonienhalle bereits in hellen Flammen stand. Dort wurde ihm befohlen, sein  

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eigenes Grab zu schaufeln, doch ließen die Rowdies nach einigen Stunden von ihm ab und gingen ihrer Wege, worauf er, mehr tot als lebendig, in seine Wohnung zurückwankte. […].“ Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde Graz aus dem Jahr 1946. Stadtarchiv Graz, Bauakt Wetzelsdorferstraße 33, Zl: A 10/3-911/1-1949, Betreff: Wiederaufbau der Aufbahrungshalle. Schreiben des Stadtbauamtes: „[…] am 10. Feber 1939 im Beisein des Oberstadtphysikus Dr. Pessl eine Erhebung an Ort und Stelle stattfand und die Vertreter der Israel. Kultusgemeinde verpflichtet wurden, ein bauordnungsmäßig verfasstes Ansuchen sofort einzureichen, welches die Wiederherstellung der Friedhofmauer und die Errichtung der notwendigen Totenkammer beinhalten muss.“ Stadtbau- und Zimmermeister Josef Röttl, St. Peter bei Graz, wurde am 19. 5. 1939 von der Israelitischen Kultusgemeinde beauftragt. Stadtarchiv Graz, Bauakt Wetzelsdorferstraße 33, Brief der Israelitischen Kultusgemeinde an den Magistrat Graz vom 5. 3. 1949. Volkszorn 1991 (wie Anm. 23), 25. Ansuchen der Israelitischen Kultusgemeinde um Baugenehmigung für die Reparatur der Friedhofsmauer und des Gärtnerhauses vom 21. 4. 1947. Übernommen wurden die Bauarbeiten von der „Neuen Heimat“ (Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft Ges.m.b.H.)., was zu einer Rüge des Bundesministeriums führte, da die Baugesellschaft gemäß dem Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz vom 29. 2. 1940 nur den Bau von Kleinwohnungen betreuen dürfe. Der von Baumeister Alexander Bogner ausgeführte Bau war flach gedeckt und nur vom Friedhof aus zugänglich. Der mittlere, in den Straßenraum vorkragende Raum war die eigentliche Aufbahrungshalle, links davon führte eine Tür in den Wasch- und Leichenraum, rechts in den Warteraum für die Trauernden. Die Bezeichnung „Zeremonienhalle“ wurde beibehalten. Zur künstlerischen Gestaltung der neuen Zeremonienhalle vgl. Edwin Heathcote, Monument Builders. Modern Architecture and Death, Chichester 1999, 160–165.

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Heidrun Zettelbauer

JÜDISCHE ZEREMONIENHALLE: ERINNERN / VERGESSEN ALS SELBSTVERGEWISSERUNG Die Gedächtnisforschung hat darauf hingewiesen, dass Erinnern/Vergessen als Identität stiftendes Element auf eine Legitimierung von Handlungen in der jeweils zeitgenössischen Gegenwart abzielt. In den folgenden Kurztexten werden dabei drei Aspekte von Erinnern/Vergessen als Strategien der Selbstvergewisserung thematisiert  : erstens das bewusste Auslöschen und Tilgen von Spuren der Kontinuität jüdischen Lebens in Graz durch die gewaltsamen Zerstörungsaktionen der Nationalsozialisten im Novemberpogrom 1938. Dabei werden nicht allein die Selbstvergewisserungsstrategien der Täter, sondern zugleich jene des meist vernachlässigten anwesenden Publikums und der einzelnen ZuschauerInnen thematisiert. Ein zweiter Aspekt von Erinnerung als Selbstvergewisserung befasst sich mit dem bewussten Aufgreifen von vergessenen bzw. wieder erinnerten Elementen in der künstlerischen Konzeption von Architektur. Hier wird deutlich, dass Architektur durch das bewusste Aufnehmen historischer Bezugspunkte eine Gegenstrategie zum Vergessen darstellen kann. Ein dritter Text schließlich behandelt die Perspektive der auf die Tätergesellschaft folgenden Generationen, die sich der Verdrängung und Ausblendung von Mitschuld und Mitverantwortung stellen müssen. Herausgearbeitet werden Strategien der Selbstvergewisserung im Rahmen öffentlicher Positionierungen vonseiten der Stadt Graz wie des Landes Steiermark im Umgang mit den lokalen Verbrechen des Nationalsozialismus.



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Zeremonienhalle auf dem jüdischen Friedhof in Graz-Wetzelsdorf, Zerstörung während des Novemberpogroms 1938

VERGESSENE KONTEXTE DER ZERSTÖRUNG Durch vielfache Reproduktion haben sich heute die Bilder des im Verlauf des Novemberpogroms 1938 in Brand gesetzten Baus der Jüdischen Zeremonienhalle stärker eingeprägt als die Ansichtskartenmotive des intakten Gebäudes. Als Dokumente der TäterInnengeschichte, in denen die AkteurInnen der Zerstörung sichtbar in den Blick rücken, sind sie sigelartig in das kollektive Gedächtnis von Graz eingeschrieben. Ein meist vergessener Aspekt dieser „TäterInnenbilder“ stellt dabei das „Publikum“ dar. Erst im Wechselspiel zwischen TäterInnen und ZuschauerInnen entfaltet die Zerstörung ihre volle Wirkung. Ein weiterer vergessener Kontext liegt darin, dass gerade diese Bilder der Zerstörung und Auslöschung zu den wenigen erhaltenen (Detail-)Aufnahmen gehören, die von der architektonischen Qualität der zerstörten Zeremonienhalle zeugen. HZ/AG

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Täterbilder? Die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 stellte auch in der Steiermark einen Höhe- und Wendepunkt der Verfolgung der ansässigen jüdischen Bevölkerung dar.1 In Graz selbst kam es zwar zu relativ wenigen Plünderungen und Zerstörungen von Geschäftslokalen, da die meisten jüdischen Geschäfte bereits „arisiert“ waren oder unter kommissarischer Verwaltung standen – jedoch wurden Juden und Jüdinnen misshandelt und verhaftet, die Synagoge am Grieskai wie auch die Aufbahrungs- und Zeremonienhalle auf dem jüdischen Friedhof in Wetzelsdorf in Brand gesteckt. Die Fotografie der brennenden Grazer Zeremonienhalle (oft fälschlich als brennende Grazer Synagoge erinnert) ist die bildlich festgehaltene Erinnerung an die Pogromnacht in Graz. Das nahezu idyllisch anmutende Bild – beinahe andächtig betrachtet die Menge das brennende Gebäude – wird nur durch einen Radfahrer, der den Kopf seitwärts gedreht hat, sowie durch eine Gestalt auf dem Dach (zu weit entfernt, um sie identifizieren zu können) in seiner Ruhe gestört. Dies ist kein vordergründig gewalttätiges Bild, der einzige Hinweis auf eine Gewalthandlung ist der aufsteigende Rauch. Die Person auf dem Dach scheint der herkömmlichen Täter-Zuschreibung zu entsprechen, dürfte sie doch in die Brandstiftung involviert gewesen sein – doch wie ist das Publikum, sind die Zuschauer und Zuschauerinnen, einzuordnen  ? Manche Schaulustige sind offensichtlich eigens mit dem Fahrrad an den damaligen Stadtrand gefahren, um die Zerstörung eines jüdischen Sakralbaus miterleben zu können. Manche sind wohl zufällig vorbeigekommen. Niemand schreitet in das Geschehen ein. Sind sie (mit-)schuldig  ? Sind sie Täter  ? Sind sie Mitläufer  ? Befinden sich unter ihnen auch Opfer, Mitglieder der IKG (Israelitische Kultusgemeinde)  ? Sie nehmen – um mit Michael Wildt zu sprechen – an der Inszenierung nationalsozialistischer Zerstörung teil, sie stellen „ein unverzichtbares Element dieser Aktion dar, die in aller Öffentlichkeit stattfand. Eine solche Aktion zwingt, gewollt oder ungewollt, zur Stellungnahme“ – sie werden „Komplizen“ antisemitischer Politik und deren Inszenierung durch die Nationalsozialisten.2 Das Zerstören der sakralen Gebäude sollte dazu beitragen, jüdisches Leben auszulöschen und jegliche Erinnerung daran zu tilgen. Die Bilder der Zerstörung überlagern die vielfältigen Bilder jüdischen Lebens vor 1938, doch letztlich ist die von den Nationalsozialisten intendierte Auslöschung der Erinnerung an jüdisches Leben gescheitert, da unter anderen das Bild der brennenden Grazer Zeremonienhalle (wie auch jenes der Synagoge), Bilder der Zerstörung jüdischen Lebens, beinahe ikonografisch auf jüdisches Leben in der Steiermark vor 1938 verweisen  ; sie sind Teil des kollektiven Bildgedächtnisses. Ursula Mindler



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Jüdische Aufbahrungshalle, Notbau der Nachkriegszeit (1949), Zustand um 1990

INTEGRATION DES VERSCHWUNDENEN Nach 1945 musste die auf eine kleine Mitgliederzahl reduzierte jüdische Kultusgemeinde in Graz nicht nur mit den Trümmern ihrer zerstörten Lebenswelt leben, sondern hatte auch mit der Tatsache zu kämpfen, dass sie für ihre Begräbniszeremonien keine geeignete Räumlichkeit zur Verfügung hatte. Der hier abgebildete Notbau der Nachkriegsjahre, ebenso wie der Neubau der Zeremonienhalle Anfang der 1990er-Jahre, sind nicht nur funktionelle Hüllen, sondern dienen auch einer bewussten Integration verschwundener und wieder erinnerter historischer Bezugspunkte, um die gewaltsam unterbrochenen Kontinuitätslinien wieder aufzunehmen. HZ/AG

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Architektur als Medium von Erinnerung 1952, wenige Jahre nach Kriegsende, errichtete die radikal dezimierte Grazer Israelitische Kultusgemeinde eine kleine Halle als funktionell notwendigen Ersatz für die Totenaufbahrung. Auch wenn diese ein Notbau und wesentlich geringer dimensioniert war, wurde mit ihr doch die Erinnerung an das Verlorene aufrechterhalten  : durch ihren Standort, ihre Einbindung in die Friedhofsmauer, den symmetrischen Gesamtbau sowie die Hervorhebung des zentralen Hauptraumes mit den untergeordneten Nebenräumen. Noch stärker wurde der Wunsch nach Erinnerung an das Vernichtete dann beim Neubau der Zeremonienhalle um 1990 artikuliert. Besonders wichtig war der Kultusgemeinde, vor allem den wenigen Mitgliedern, die sich noch an das Gebäude vor seiner Zerstörung erinnern konnten, dass der Neubau wie sein Vorgänger eine Kuppel haben sollte.3 In der Entscheidung für dieses Architekturmotiv manifestierte sich jedoch ein Bedeutungswandel  : Beim ursprünglichen Bau von 1909/10 stand beim Zitat von Kuppel und Tempelvorbau (einer auf das antike Pantheon zurückgehenden Motivkombination, die in der Architekturgeschichte auf Erhabenheit und Sakralität rekurriert) die Absicht der Gemeinde dahinter, in einer zunehmend antisemitischen Umgebung die eigene Integration zum Ausdruck zu bringen und dem Ort Würde zu verleihen. Um 1990 wurde hingegen mit der Form der neuen Halle intendiert, die Erinnerung an die verlorene Integrität und Intaktheit zu konstruieren und den Vorgang der Auslöschung rückgängig zu machen. Beide Erinnerungspositionen sind Statements zur jeweiligen Gegenwart. Die Funktion als Erinnerungsträgerin ist eine Grundkonstante der Architektur, die über alle Epochen reicht.4 Sie ist in ihren verschiedenen Ausprägungen immer in Diskurse eingebettet und mit jeweils unterschiedlichen Absichten verbunden. Architektur und Erinnerung sind nicht nur in der als solche errichteten Denkmalarchitektur verbunden, sondern auch bei der Verwendung von Spolien (realen Überresten von älteren Gebäuden), bei der Bedeutungsübertragung durch die Übernahme von Maßen und Proportionen historischer Gebäude oder aber bei mehr oder weniger deutlichen Architekturzitaten – vom Rückgriff auf das Formenvokabular der Antike bis zu den Stilaneignungen des Historismus und den assemblageartigen Zitaten der letzten Jahrzehnte. Die einzigen heute noch erhaltenen materiellen Relikte des ursprünglichen Baus von Alexander Zerkowitz sind zwei – aufgrund ihrer (vermeintlichen) symbolischen Bedeutungslosigkeit – der Zerstörung entgangene Friedhofstore sowie der konkave Schwung der Friedhofsmauer. Die Torpfeiler zeigen dieselbe stilistische Gestaltung wie das zerstörte Gebäude und verweisen auf dessen verschwundene physische Realität. Erst das Wissen um die ursprünglichen baulichen Zusammenhänge macht sie zu Trägern der Erinnerung. Antje Senarclens de Grancy



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Neue Zeremonienhalle am Israelitischen Friedhof, Entwurf: Jörg und Ingrid Mayr, Zustand 2009

VERDRÄNGUNG UND ÜBERSCHREIBUNG In Folge des „Be/Gedenkjahres 1938/88“ wurden die Architekten Jörg und Ingrid Mayr von Vertretern der Stadt Graz und des Landes Steiermark mit dem Bau einer neuen Zeremonienhalle beauftragt. Diese wurde am 11. November 1991 der Israelitischen Kultusgemeinde übergeben. Der Bau trägt damit implizit die Frage nach den öffentlichen und offiziellen Position/ierung/ en im Hinblick auf die Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Grazer MitbürgerInnen in der NS-Zeit, aber auch nach dem Umgang damit nach 1945 im Sinn einer Überschreibung des „Täter­ortes“ in sich. HZ/AG

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Öffentliche Position/ierung/en Wissen heißt Verantwortung übernehmen, hat der Künstler Jochen Gerz kürzlich bemerkt. Dieses Wissen um die Involvierung in die NS-Verfolgungspolitik hat auch in Graz die Projekte einer neuen Erinnerungskultur angestoßen. Zu diesen Zeichensetzungen zählt der Neubau der im November 1938 zerstörten Zeremonienhalle auf dem Grazer Jüdischen Friedhof. Der Beschluss dazu wurde im Gedenkjahr 1938/88 gefasst, und ebenso wie die anlässlich des Gedenkens an das Novemberpogrom 1988 erfolgten Gedenkinitiativen – von der „Erklärung der Stadt Graz“ bis hin zum Synagogendenkmal – war es entscheidend, dass diese Aktionen auf der gemeinsamen Willenserklärung aller politischen Kräfte basierten. Dies ist die offizielle Haltung der Stadt Graz, war die damit verbundene Botschaft. Für die Wiedererrichtung der Zeremonienhalle wurde ein Kuratorium gebildet, an dem sich ebenfalls die namhaften gesellschaftlichen Kräfte beteiligten – die Stadt Graz bzw. die politischen Parteien, die Länder Steiermark, Kärnten, Burgenland, auf die sich der Zuständigkeitsbereich der Israelitischen Kultusgemeinde Graz erstreckt, Vertreter des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, der katholischen und evangelischen Kirchen, Studierendenorganisationen, SpitzenrepräsentantInnen aus Wirtschaft und Gesellschaft bis hin zu privaten SponsorInnen. Damit wurde signalisiert, dass diese Initiative „ein moralisches Anliegen des ganzen Landes und der ganzen Stadt“ ist, wie Kurt D. Brühl, der Präsident der IKG, erklärte.5 Bei der Einweihung bezeichnete der damalige Landeshauptmann Josef Krainer die neue Zeremonienhalle als „Zeichen der Versöhnung“, auch Bürgermeister Alfred Stingl gab seiner Hoffnung auf „Verzeihung und Versöhnung“ Ausdruck.6 Die Botschaft sollte sich nicht nur auf eine erhoffte Versöhnung mit der dunklen Vergangenheit richten. Gerade die breite gesellschaftliche Basis machte die Zeremonienhalle zum Zeichen dafür, dass „im neuen Österreich alter Ungeist keinen Platz haben darf “, verbunden mit der Mahnung „zur Wachsamkeit, ja zum Widerstand […], wo immer der Haß von gestern in neuer Form wieder aufzutauchen beginnt“, wie der Chefredakteur der „Kleinen Zeitung“, Fritz Csoklich, an diesem „Denk- und Danktag“ erklärte.7 Der Wiederaufbau der Synagoge am Grieskai, also im städtischen Zentralraum, sollte im Jahr 2000 die Integration der jüdischen Gemeinde in die gesellschaftliche und die urbane Topografie der Stadt Graz schließlich noch stärker bekräftigen. Heidemarie Uhl



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Anmerkungen 1 Vgl. Dieter A. Binder, Das Schicksal der Grazer Juden 1938, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 203–228. – Gerald Lamprecht, „Seltsamerweise war die jubelnde Menge des deutschen Volkes rechtzeitig am Platz, um das herrliche Schauspiel mitanzusehen“. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde von Graz (unveröffentlichtes Manuskript). Kopie im Besitz der Verfasserin. – Eduard Staudinger, Die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 in Graz, in: Kurt Schmid/Robert Streibel (Hg.), Die Pogromnacht 1938, Wien 1990, 42–50. 2 Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, 10. 3 Freundliche Mitteilung von Architektin Ingrid Mayr. 4 Vgl. Hans-Rudolf Meier/Marion Wohlleben, Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000. – Stanford Anderson, Erinnerung in der Architektur, in: Memoria. Daidalos, Dezember 1995, Bd. 38, 22–37. 5 Rede von Präsident Kurt D. Brühl anlässlich des Spatenstichs, 18. 12. 1990, Archiv Denkmäler des 20. Jahrhunderts in der Steiermark, Institut für Geschichte/Zeitgeschichte der Universität Graz. 6 Elisabeth Welzig, Nach 53 Jahren hat Graz eine neue Zeremonienhalle, in: Kleine Zeitung, 12. 11. 1991. 7 Fritz Csoklich, Denk- und Danktag, in: Kleine Zeitung, 12. 11. 1991.

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Antje Senarclens de Grancy

KINDERHEIM LEND Auf einer Grünfläche im Grazer Bezirk Lend fanden etwa ab den 1910er-Jahren Aktivitäten des Arbeitervereins „Kinderfreunde“ statt, der sich bald zu einer internationalen Bewegung entwickeln sollte. Dieser damals Kernstockgarten genannte öffentliche Freiraum wurde später in Erinnerung an den Gründer der Kinderfreunde in Afritschgarten umbenannt.1 So zentral war dieser Ort im Bewusstsein des Kinderfreundekreises verankert, dass Anton Afritsch nach seinem Tod im Jahr 1924 sogar in der im Ersten Weltkrieg errichteten „Kernstockbaracke“ aufgebahrt wurde.2 Hier wurde, nachdem sich der Kreis um Afritsch zum sozialdemokratischen Erziehungs- und Schulverein „Freie Schule – Kinderfreunde“3 konstituiert hatte, das von Architekt Franz Schacherl geplante „Kinderheim Graz-Lend“4, eine Tagesheimstätte und Betreuungseinrichtung,5 in Angriff genommen. Das 1930 fertiggestellte Gebäude, mit dem hohe Erwartungen als Ort der Kindererziehung und Arbeiterbildung verbunden waren, konnte kaum mehr als drei Jahre lang genutzt werden  : Nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei und ihrer Organisationen im Zuge des Februaraufstandes 1934 wurde auch das Kinderheim konfisziert und in der Folge bis zur Restitution nach Kriegsende von der Grazer Stadtgemeinde genutzt. Seine ursprüngliche bauliche Qualität und sein Entstehungskontext sind heute aus dem Bewusstsein seiner NutzerInnen verschwunden. Die Beauftragung des in Graz geborenen, aber in Wien in der Siedlerbewegung gemeinsam mit Adolf Loos, Franz Schuster, Josef Frank und Margarete Schütte-Lihotzky tätigen Architekten Franz Schacherl6 lässt sich durch dessen familiären Hintergrund erklären. Die Familien Schacherl und Afritsch waren eng miteinander befreundet. Der Vater des Architekten, Dr. Michael Schacherl, der sich als Arzt und Redakteur der Grazer Tageszeitung „Arbeiterwille“ für die Antialkoholbewegung starkmachte und die Gründung des Arbeitervereins „Kinderfreunde“ als „eine Tat von historischer Bedeutung  !“7 bezeichnete, war eine der Integrationsfiguren der steirischen Arbeiterbewegung. Franz Schacherls Bruder Richard war nicht nur ein Lehrerkollege von Anton Afritschs Sohn an der Knabenhauptschule Marschallgasse und mit diesem eng befreundet,8 sondern war auch Obmann der Kinderfreunde-Ortsgruppe Lend, für die das Heim errichtet werden sollte.9 Darüber hinaus war Franz Schacherl mit dieser Bauaufgabe in der Steiermark bereits durch seinen Entwurf für das Arbeiterheim Fohnsdorf (1928/29) und das Kinderheim der Arbeiterkammer in Bruck a. d. Mur mit einem 600 Personen fassenden Vortragssaal (1929/30) vertraut.10 Gemeinsam mit seinem Partner Franz Schuster hatte er auch in Knittelfeld eine Arbeitersiedlung geplant.  

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Franz Schacherl, Entwurf für das Kinderheim Graz-Lend, Ansichten, August 1929

Ein „proletarisches Kulturhaus“ Mitten im Arbeiterbezirk Lend errichtet, befindet sich das Kinderfreundeheim in Gehnähe zu einem von drei Schülern Otto Wagners entworfenen, aus Verlagshaus (1909– 1912), Arbeiterkammer (1924–1936), Arbeiterhotel und Volkshaus (1930) bestehenden Ensemble der steirischen Sozialdemokratie, dessen Gebäude zu identitätsstiftenden Zeichen für die Arbeiterschaft geworden waren.11 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte die Arbeiterbewegung erkannt, welch wichtige erzieherische Rolle die Architektur in Bezug auf ihre Emanzipationsbestrebungen, aber auch die Durch164  | 

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Franz Schacherl, Kinderhort der Arbeiterkammer, Bruck a.d. Mur, 1929/30

Franz Schacherl, Arbeiterheim Fohnsdorf, 1928/29, Zustand im Jahr 1931. Das kleine Gebäude darunter ist ein Petroleum-Magazin, das später in einen Eiskeller umgewandelt wurde.



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setzung ihrer Ideale in den eigenen Reihen spielen konnte, was theoretische Überlegungen und eine große Sorgfalt bei der Planung imageträchtiger Bauten zur Folge hatte. So schrieb der „Arbeiterwille“ 1912 zur Eröffnung seines Verlagshauses, die Arbeiter sollten „Sehnsucht bekommen nach ebensolcher Pflege der Gesundheit und der Schönheit in ihren Arbeitsstätten und in ihren Wohnungen  : Sie sollen mit den dumpfen, schmutzigen, finsteren, stauberfüllten Fabriken und Werkstättenräumen unzufrieden werden, wenn sie sehen, wie es anders sein kann  !“12 Und 1930 war zur Eröffnung des Hotels International und des Volkshauses zu lesen  : „An den Masten des schönsten, des modernsten, wuchtigsten und eindrucksvollsten aller Grazer neuen Bauten stieg gestern die rote Fahne hoch und verkündete, dass dieser gewaltige Bau mit seinen wundervollen Fronten, seinen Erkern, Balkonen und Portalen ein Werk der Grazer Arbeiter und Angestellten ist.“ Das Haus, Franz Schuster und Franz Schacherl, Proletarische Kulturhäuser, „in dem Kampfwille und die Ideale der Wien 1926 Arbeiterklasse daheim sind“, solle eine „Heimstätte ihrer Geselligkeit, ihrer Feste, ihrer Bildungssehnsucht und ihrer Schönheitssehnsucht“13 sein. Auch Architekt Eugen Székely befand, dass mit diesem Bau „ein entscheidender Zuwachs an Selbstvertrauen und innerer Freiheit“14 gesichert sei. In dieselbe Kerbe schlug Franz Schacherl nun mit seinem Heim für die Grazer Kinderfreunde. 1926 hatte er bereits gemeinsam mit Franz Schuster den schmalen programmatischen Band „Proletarische Kulturhäuser“ als Gestaltungsrichtlinie für Laien im Verlag des Arbeiter-Abstinentenbundes veröffentlicht.15 Diese Kulturhäuser – Kinderhorte, Schutzhäuser oder Arbeiterheime – wurden als „Zeugnis der vorwärtsstrebenden Wucht des sozialistischen Proletariats, eine Stätte proletarischer Kultur, ein Arsenal, aus dem das Proletariat das geistige Rüstzeug für die kommenden Kämpfe empfängt“, verstanden und sollten sich nicht an bürgerlichen Vorbildern oder einem „mißverstandenen Heimatstil“ orientieren, sondern eine sachliche, schmucklose, den proletarischen Zwecken entsprechende neue Ästhetik und Raumtypologie entwickeln. Das klassische Tempelmotiv mit Säulenvorhalle und Giebel wird auf vielen der Zeich166  | 

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Exemplarische Tagesheimstätte einer „Kinderfreunde“-Ortsgruppe, Erdgeschoss und Ansicht, Abb. aus: Proletarische Kulturhäuser, 1926  

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Flur und Stiegenaufgang im Kinderhort eines Kulturhauses für eine kleine Stadt, Abb. aus: Proletarische Kulturhäuser, 1926

nungen zitiert. Diese sind in ihrer feinlinigen Ausführung stilistisch eng mit jenen von Franz Schusters Lehrer Heinrich Tessenow verwandt, weshalb angenommen werden kann, dass die Illustrationen von Schuster stammen.16 Das zentrale Element aller Varianten von Kulturhäusern war der Saal  : Im Kapitel „Kinderhort“ war es der „große Aufenthaltsraum für die Kinder, der zugleich auch der Saal für Vorträge, für Feste, Theateraufführungen und Versammlungen der Kinder und Eltern“17 war, im Volkshaus „der Versammlungssaal, der Saal für die Feste und Vorträge, für die ernste Arbeit und für die Erholung  ; der Saal, in dem sich die Gemeinschaft, die 168  | 

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Gemeinde versammelt, um sich zu bilden, um an dem Aus- und Aufbau der großen Gemeinschaft zu arbeiten“18. Das multifunktionale Gebäude des sozialdemokratischen Arbeiter- oder Volksheims mit Bildungs- und Versammlungssaal, Bibliothek, Vereinsbüros etc. hatte sich bereits um die Jahrhundertwende mit einem hohen architektonischen Anspruch zu einem neuen Bautyp entwickelt. Ein herausragendes österreichisches Beispiel aus dieser Zeit ist das Arbeiterheim Favoriten von Wagner-Schüler Hubert Gessner (1901/02). Ab Mitte der 1920er-Jahre wurden auch in kleineren steirischen Orten (Krieglach, Weiz, Diemlach und Rottenmann) Kinderheime und -horte mit Veranstaltungssälen von der Steirischen Arbeiterkammer unter der Bedingung, dass die Bauten „den Zwecken der Arbeiterbildung, der Kinderfürsorge und den Gewerkschaften dienen“19, mitfinanziert und in Kooperation mit den Kinderfreunden errichtet.20

Das Kinderheim Lend 1927 wurde die rund zehn Jahre vorher von den „Kinderfreunden“ errichtete Holzbaracke am „Spielplatz für die Jugend“ im Afritschgarten als baufällig eingeschätzt, ein Neubau erschien dringend notwendig. Auf Ansuchen des Vereins „Freie Schule – Kinderfreunde“ überließ deshalb die Grazer Stadtgemeinde diesem den kommunalen Grund mit einem 60-jährigen Benützungsrecht und Vorkaufsrecht gegen die Leistung eines jährlichen Anerkennungszinses.21 Im Frühjahr 1929 begann Franz Schacherl mit der Planung des Gebäudes,22 im Juni 1930 konnte die Steiermärkische Baugesellschaft „Grundstein“ mit den Bauarbeiten beginnen. Noch im Herbst wurde das Heim zur Benützung freigegeben.23 Der ursprüngliche Plan, im südlichen Teil des Geländes einen Spielplatz, ein Plantschbecken mit Brauseanlage und Klosetts anzulegen, wurde nicht realisiert. Trotz seiner modernen Grundhaltung unterschied sich der Bau, der in traditionellem Ziegelmauerwerk ausgeführt war, von der progressiven Architektur des Neuen Bauens durch die starke Betonung der Symmetrie und zitathafte Symbolik seiner Form, die der „Nobilitierung“ der pädagogischen Ziele der Arbeiterbewegung diente. Das Pathos des Tempelmotivs, das durch den monumentalen Giebel24 und die ehemals unverputzten Backsteinstützen der offenen Vorhalle angedeutet wurde und in der Architekturgeschichte traditionell eine Hervorhebung zum Ausdruck bringt, spiegelt den hohen Stellenwert wider, welcher der Erziehungs- und Bildungsarbeit mit Kindern beigemessen wurde. Die so entstandene überdachte Terrasse hatte aber auch die ganz praktische Funktion, bei Schlechtwetter einen Aufenthaltsraum im Freien zu bieten, und ist bis heute bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt. Die kleinsprossigen, ursprünglich dunkel gestrichenen Holzfenster gehörten zum Formenrepertoire der 1920er-Jahre. Nur der nördliche, linke Flügeltrakt wurde unterkellert. Hier befanden sich – über eine kleine Vorhalle aus erreichbar – zwei Wohnräume, eine Bibliothek, eine Wohnkü 

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SPÖ-Kinderfreundeheim in den 1950er-Jahren mit Roten Falken

che, eine Garderobe für die Veranstaltungen und Abortanlagen. Die Räume waren sehr sparsam ausgestattet, die Böden mit Xylolith (fugenloser Steinholzbelag) belegt. Es gab keine Zentralheizung, die Räume wurden getrennt mit Dauerbrandöfen beheizt. Ein kleiner Projektionsraum, über eine Eisentreppe erreichbar, war als Zwischengeschoss eingezogen. Der südliche Teil neben dem Hauptsaal, der zwei Spielräume und einen kleinen Werkstättenraum aufnehmen sollte, blieb aus unbekannten Gründen vorerst nicht ausgeführt. Von der nördlichen Vorhalle aus erreichte man den mittleren Teil des Gebäudes, den der quergelagerte, rund 160 m2 große, multifunktionelle Saal einnahm, der als eigentlicher Aufenthaltsraum für die Kinder und abends als Vortrags-, Versammlungs- und Kinosaal25 diente. Genehmigt wurde der Saal für maximal 224 Personen (14 Sesselreihen à 16 Sitze), Franz Schacherl hatte ursprünglich mit 304 Personen eine wesentlich größere Zuschauermenge geplant.26

Neuadaptierungen Nach 1945 wurden alle Immobilien der Kinderfreunde an die Landesorganisation restituiert. 1947 wurden am Gebäude ein Bombenschaden repariert und der Bau innen und außen umfangreich renoviert. Decken wurden instand gesetzt, Wände wieder auf170  | 

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Grundriss des Kinderheims Lend, Plan von Franz Schacherl, Mai 1929

gemauert, ein neuer Brettelboden (Parkett) in der Halle verlegt, und auch der bereits erwähnte fehlende Teil im Süden in der von Schacherl geplanten Form ausgeführt.27 Nachdem die „Kinderfreunde“ 1945 in die Parteiorganisation der SPÖ aufgenommen worden waren, wurde nun auch der Schriftzug am Giebel verändert  : „S.P.Ö. – Freie Schule Kinderfreunde – ‚Afritschgarten‘“. Fotos aus den 1950er-Jahren belegen, dass die „Kinderfreunde“ und nun auch die 1925 gegründete Jugendorganisation „Rote Falken“ Gebäude und Garten viel und gerne nutzten. Der große Saal wurde in der Nachkriegszeit als „Arbeiterkino“ bespielt. In den späten 1970er-Jahren war die Bausubstanz des als Parteiheim genutzten Gebäudes stark heruntergekommen und sanierungsbedürftig, der Ort lag quasi brach und wurde nur mehr sporadisch genutzt. Beinahe hätte dies das Ende des Schacherl-Baus bedeutet  : 1978 wurde entschieden, den Altbestand zu demolieren und auf den bestehenden Fundamenten ein „pavillonartiges“ Kindergartengebäude in Fertigteilbauweise zu errichten.28 Man hatte dafür schon eine Kindergarten-Standardausführung der Fertigteilbaufirma Zenker ins Auge gefasst, der Beginn der Bauarbeiten verzögerte sich allerdings.  

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Alfred Stingl, Bürgermeister der Stadt Graz, bei der Wiedereröffnung des Afritschgarten-Heims zum 75-Jahr-Jubiläum der Kinderfreunde, ­Sommer 1983

Im Herbst 1981 kam es schließlich zu einer Änderung des Vorhabens zugunsten von Umbau und Neuadaptierung des bestehenden Gebäudes für einen Kindergarten, ein Seniorenheim und ein Vereinsheim für die „Kinderfreunde“.29 In der Folge wurden die Dachkonstruktion und einige Mauerteile im Inneren abgetragen und ein Satteldach anstelle des ursprünglichen Flachdaches mit dem markanten Giebel errichtet, was einen gravierenden optischen Einschnitt für die Gesamtwirkung des Gebäudes bedeutete. Der große Saal, der das Zentrum von Schacherls Konzeption gebildet hatte, wurde durch eine eingezogene Wand auf 110 m2 verkleinert und später aufgrund der wachsenden Zahl an betreuten Kindern nochmals abgetrennt. Die charakteristische kleinsprossige Fenstergestaltung wurde beibehalten, auch die offene Vorhalle hinter den Stützen blieb bis auf den Einbau eines Büroraumes bestehen. Zum 75-Jahr-Jubiläum der „Kinderfreunde“ konnte der Bau im Sommer 1983 wiedereröffnet werden. Unter der Leitung von Eva Klepp-Afritsch, der Enkelin Anton Afritschs, wurde damit ein Neustart des Gebäudes in Angriff genommen. Heute beherbergt das Gebäude den Kindergarten der „Kinderfreunde“ und das Büro des unabhängigen Vereins „Fratz Graz“, der die Grünfläche 1990 zu einem Abenteuerspielplatz umgestaltete. Im Vordergrund stand bei den Neuadaptierungen das für das Funktionieren Notwendige und das mit beschränkten finanziellen Mitteln Machbare. Identitätsstiftend für den Verein „Kinderfreunde“ war der Ort, der Afritschgarten als sozialer Raum und Aktionsfeld. Hingegen waren das Wissen um die architektonische Qualität des Baus, die Rolle der Architektur in der Geschichte der Arbeiterbewegung und das intellektu172  | 

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Diskussionsabend im Saal des Afritsch-Heims mit Johanna Dohnal im Jahr 1985

Zustand 2009, Spuren der ursprünglichen Gestaltung sind noch erkennbar



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Die von Franz Schacherl konzipierte überdachte Terrasse wird bis heute viel genutzt, Foto 2009.

elle und politische Engagement Franz Schacherls inzwischen verloren gegangen, die Traditionslinie abgerissen. Nicht zuletzt hatte aber auch die Gesellschaft als Ganzes damals noch nicht die facettenreiche Architektur der Zwischenkriegszeit für sich wiederentdeckt.

Anmerkungen 1 Der Straßenname Am Freigarten (eine Quergasse der Gabelsbergerstraße) bezieht sich auf den hier im 18. Jahrhundert befindlichen größeren bürgerlichen Freigarten: „in der Rechtsstellung hervorgehoben, nicht der üblichen Besteuerung unterstellt)“, der später zum Teil mit Fabriksgebäuden verbaut wurde. Karl A. Kubinzky/Astrid M. Wentner, Grazer Straßennamen. Herkunft und Bedeutung, Graz 1996, 25. 2 Vgl. Anton Afritsch, Erinnerungen. Vom Buchhändler zum Landtagspräsidenten, Graz 1977, 104. 3 Zu diesem Verein siehe folgenden Beitrag von Heidrun Zettelbauer. 4 Diese Bezeichnung ist auf den Entwurfsplänen im Stadtarchiv Graz, Bauakt Gabelsbergerstraße 22 eingetragen. 5 Die Bezeichnung „Kinderheim“ ist heute missverständlich: Hier wurden Kinder nur tagsüber betreut, blieben also nicht über Nacht – im Gegensatz zu anderen Kinderheimen der Arbeiterbewegung, etwa in Köflach (1925 eröffnet), wo 80 obdachlosen Kindern Unterkunft und Verpflegung geboten wurde. 6 Schacherl arbeitete damals mit Franz Schuster im Siedlungsamt der Gemeinde Wien an zahlreichen Projekten, darunter einigen Siedlungen, und gab gemeinsam mit diesem die Architekturzeitschrift „Der Aufbau – Österreichische Monatshefte für Siedlung und Städtebau“ heraus.

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Michael Schacherl, 30 Jahre steirische Arbeiterbewegung 1890 bis 1920, Graz 1931, 258. Vgl. Afritsch 1977 (wie Anm. 2), 141. Richard Schacherl-Sharell, Wie es begonnen hat, in: Anton Afritsch d. J. Der Kinderfreund Anton Afritsch, Graz [1958], 82–88, 86. Darüber hinaus hatte Schacherl gemeinsam mit Franz Schuster auch in Knittelfeld eine Arbeitersiedlung im Auftrag der GESIBA gebaut. Vgl. Siedlung Knittelfeld, in: Arbeiter-Zeitung, 21. 6. 1924, 12. Dies waren die Wagner-Schüler Hubert und Franz Gessner sowie Hans Laurentschitsch. Vgl. Antje Senarclens de Grancy, „Moderner Stil“ und „Heimisches Bauen“. Architekturreform in Graz um 1900, Wien–Köln–Weimar 2001, 241–250. – Dies., Keine Würfelwelt. Architekturpositionen einer „bodenständigen“ Moderne, Graz 2007, 155–156 und 190–194. Ein Haus der Arbeit, in: Arbeiterwille, 7. 4. 1912, 9. Unser Haus, in: Arbeiterwille, 1. 11. 1930. Eugen Székely, Das Heim der Grazer Arbeiter, in: Arbeiterwille, 1. 11. 1930. Franz Schuster/Franz Schacherl, Proletarische Kulturhäuser, Wien 1926. Dieser Band gehörte 1938 zu jenen Büchern, die von den Nationalsozialisten auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt und verboten wurden. Vgl. die frühen Zeichnungen in: Franz Schuster 1892–1972, hg. v. d. Hochschule für angewandte Kunst, Wien 1976, 11–17. Schuster/Schacherl 1926 (wie Anm. 15), 12. Ebenda, 13. Der Verleumdungsfeldzug gegen die Arbeiterkammer, in: Arbeiterwille, 9. 1. 1931. Vgl. Heidemarie Uhl, Geschichte der steirischen Kammer für Arbeiter und Angestellte in der Ersten Republik, Wien–Zürich 1991, 210. In Graz wurde zwei Jahre später, 1932, auch noch, allerdings von einem anderen Architekten, ein zweiter großer, ebenerdiger Bau dieser Art in der Josef-Huber-Gasse für die Kinderfreundegruppe Graz-Gries errichtet, bestehend aus einem Hortraum, einer Bibliothek, einem Raum für den Hauswart und einem 144 m2 großen Saal (Versammlungs- bzw. Turnraum). Stadtarchiv Graz, Bauakt Josef Huber Gasse 38b. Verhandlung am 3. 12. 1928. Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 32 (1928), 185–186. – Vgl. auch Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 34 (1930), 156. Ab 1930 ist vom „Grundstück des Vereins Freie Schule – Kinderfreunde“ die Rede. „Die Landeszentrale für Steiermark des sozialdemokratischen Erziehungs- und Schulvereins ‚Freie Schule – Kinderfreunde‘ hat eine rund 7500 m2 umfassende Fläche des sogenannten Kernstockgartens an der Gabelsbergerstraße von der Stadtgemeinde Graz käuflich erworben […]“. Schreiben des Stadtrates Graz, Stadtbauamt, Rechtsabteilung an den Gemeinderat vom 4. 7. 1930. Zl. X-R-961/3/1930. Stadtarchiv Graz, Bauakt Gabelsbergerstraße 22 (vormals: Gabelbergerstraße 14a). Pläne von Franz Schacherl, Wien, vom Mai 1929 (Erdgeschossgrundriss, P.Z. 616), August 1929 (Ansichten, P.Z. 618 und Grundriss Keller und Fundamente, P.Z. 615) und im Mai 1930 (Lageplan, P.Z. 814, Schnitt, P.Z. 816). Ansuchen an das Stadtbauamt um Baubewilligung zur Errichtung eines Kinderheims im sogenannten Kernstockgarten am 26. April 1930, Baubeginn geplant Mitte Mai 1930. Baukommissionsverhandlung am 26. Juni 1930, Baubeginn im Juni 1930, Rohbau fertig im August 1930, fertiggestellt Ende Oktober 1930. Endabnahmekommission: 21. November 1930, Abschluss und freigegeben: 30. November 1930. Da keine Fotos aus der Entstehungszeit erhalten sind, kann nur angenommen werden, dass die auf den Plänen eingetragene Inschrift „Kinderheim Graz-Lend des Vereines ‚Freie Schule – Kinderfreunde‘“ tatsächlich am Giebel angebracht wurde. Erst am 25. 1. 1934, also nur wenige Wochen vor der Konfiszierung des Gebäudes in der Folge des Februaraufstandes, erhielten die Kinderfreunde die Kinobetriebsstättengenehmigung. Als Brandschutzmaßnahme war die Saaldecke mit Heraklithplatten ausgekleidet. Stadtarchiv Graz, Bauakt Gabelsbergerstraße 22, Zl. A 10/3 – W-148/1-1947, Ansuchen um Baugenehmigung beim Stadtbauamt: Landesleitung der SPÖ. Freie Schule „Kinderfreunde“, Graz – Albrechtgasse 3, 28. 3. 1947, Baubewilligungs-Bescheid am 19. 9. 1947. Ansuchen der SPÖ-Freie Schule Kinderfreunde an den Magistrat Graz um Baubewilligung, Kindergarten Gabelsbergerstraße 14 b, 21. 7. 1978. Geplant waren ein zweigruppiger Kindergarten, Räume für den Hort- und Neigungsgruppenbetrieb und eine Familienberatungsstelle. Ansuchen um Baubewilligung für das Bauvorhaben Umbau Afritschheim zu einem Kindergarten und Jugendheim. (Ansuchen um Planänderung), 21. 12. 1981.



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DER VEREIN „FREIE SCHULE – KINDERFREUNDE“ Die „Kinderfreunde“ waren einer der traditionsreichsten Vereine in der Sozialdemokratie. 1907/08 von Anton Afritsch und anderen in Graz gegründet, wollte der Verein fortschrittliche Erziehungsgrundsätze fördern. Eltern und Erzieher sollten im Sinne einer „partnerschaftlichen Ehe“ durch „solidarisches Verhalten“ zu einem Vorbild für Kinder und Jugendliche werden, körperliche Strafen wurden dezidiert abgelehnt, die meisten Mitglieder waren zudem strikte Anhänger der Alkohol-Abstinenzbewegung. Der Verein veranstaltete gemeinsame Ausflüge und sportliche Betätigungen, organisierte Ferienaufenthalte, -horte und -kolonien für die Kinder und diskutierte im Rahmen von Elternabenden über zeitgenössische Erziehungsfragen. Ab 1912 erschienen eigene Zeitschriften, nämlich „Der Kinderfreund“, die „JugendAnton Afritsch, der Gründer der Kinderfreunde, rechts von ihm seine post“ und „Sozialistische Erziehung“. Früh Frau Amalie, links seine Schwägerin Betty Dulnig, 1920 wurde die Bindung an die Arbeiterbewegung gefördert, es gab eigene Kinderfeste, und die organisierten Kinder und Jugendlichen waren in die sozialdemokratischen Aufmärsche zum 1. Mai oder nach 1918 auch zum 18. November eingebunden. Schon vor 1914 hatten sich in der Steiermark zudem erste Ortsgruppen des liberalen Wiener Vereins „Freie Schule“ gebildet, der durch die Gründung von Erziehungsanstalten und Schulen Kinder frei von politischen und konfessionellen Tendenzen durch Förderung ihrer natürlichen Anlagen zu „vorurteilslosen Menschen“ heranbilden wollte. Dieses Ziel sollte durch die Verbreitung pädagogischer und hygienischer Grundsätze über Erziehung in der Schule wie auch zuhause erreicht werden. Zunächst ohne große Resonanz in der Arbeiterbewegung fusionierte der Verein „Freie Schule“ schließlich 1923 mit dem seit 1917 bestehenden Reichsverein „Arbeiterverein Kinderfreunde für Österreich“ zum Verein „Freie Schule Kinderfreunde“. Die Zielsetzungen des Vereins 176  | 

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Kinderfreunde-Ausflug in Hundsdorf bei Judendorf-Straßengel, 1919

trafen sich in vielen Punkten mit der in den 1920er-Jahren vom sozialdemokratischen Nationalratsabgeordneten Otto Göckel forcierten Schulreform. In den Statuten von 1923 wurde ausführlich über das Ziel einer „sozialistischen Lebensreform“ referiert  : „Der Verein ist vor allem ein Elternverein. Sein Zweck ist es, das Proletariat zusammenzufassen, damit aus gemeinsamer Kraft das geistige und leibliche Wohl seiner Kinder und deren Entwicklung zu sozialistischem Denken, Fühlen und Wollen so gefördert werde, wie es dem einzelnen Elternpaar in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht möglich ist. Er führt auch den Kampf um die Freiheit der öffentlichen Schule. In diesem Sinne wendet er alle seine Mittel an, um die Trennung von Schule und Kirche sowie die Aufhebung aller Bildungsprivilegien zu erreichen. Daher fördert er die auf diese Ziele gerichtete Schulreform und wird einer Zertrümmerung der öffentlichen Schule in Bekenntnisschulen mit allen Mitteln entgegenwirken.“1

Österreichweit gab es 1927 bereits 95.308, in der Steiermark von 1923 bis 1931 zwischen 13 000 und 15 000 Mitglieder der „Kinderfreunde“. Zentral für den Verein erwies sich die Errichtung bzw. die Adaption von Erholungsheimen, in Graz gab es etwa ein Heim auf dem Steinberg, in Hundsdorf, Eichberg, Waldhaus, den Seidlerhof sowie den Pfeifferhof in Andritz. Dazu kamen im Jahr 1930 das Kinderheim Lend in der Gabelsbergerstraße und 1932 jenes im Bezirk Gries (Josef-Huber-Gasse). Häufig wurden Kinderheime wie diese zu lokalen Zentren der Arbeiterbewegung, in ihnen trafen sich die verschiedenen  

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Arbeitervereine, hier fanden Unterrichtskurse statt, es gab meist eine Bibliothek, gesellige Unterhaltungsveranstaltungen, Theater- und Kinovorführungen. Auch die Schutzbündler nutzten die Lokale für ihre Treffen. Nach der behördlichen Auflösung aller sozialdemokratischen Organisationen im Februar 1934 wurden die Heime und Einrichtungen großteils von vaterländischen Kinder- und Jugendorganisationen übernommen.2 Welche Bedeutung der Verein „Freie Schule Kinderfreunde“ für die Arbeiterbewegung insgesamt hatte, zeigt nicht zuletzt das vereinseigene Heim im Afritschgarten, das sich in der Nachkriegszeit zu einem zentralen Kristallisationspunkt sozialdemokratischer Politik-, Arbeits- und Lebenskultur entwickelte.

Anmerkungen 1 Vgl. Robert Hinteregger/Karin Schmidlechner/Eduard Staudinger, Für Freiheit, Arbeit und Recht. Die Steirische Arbeiterbewegung zwischen Revolution und Faschismus (1918–1938), Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Wanderausstellung 1984, Graz 1984, 88–93, 135–138, Zitat 136. – Allgemein zur Geschichte der Kinderfreunde siehe folgende Festschriften: Steirische Kinderfreunde 1908–1968, 60 Jahre Steirische Kinderfreunde. Bericht zur Jubiläumskonferenz in Graz am 18. Mai 1968, Graz 1968. – Jakob Bindel (Hg.), 75 Jahre Kinderfreunde 1908–1983. Skizzen. Erinnerungen. Berichte. Ausblicke, Wien–München 1982. – 100 Jahre Kinderfreunde. Die Jahrhundertidee. Im Interesse der Kinder. Die Kinderfreunde Steiermark Magazin, Sonderausgabe 2/2008, Graz 2008. 2 Hinteregger et. al. 1984 (wie Anm. 1), 135–138.

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KINDERHEIM LEND: MATERIELLE UND IMMATERIELLE SPUREN Wie nähert man sich dem Gedächtnis eines materiellen Ortes an  ? Was sind mögliche Referenzpunkte des Erinnerns/Vergessens  ? Zunächst ist es wohl ein Versuch der Rekonstruktion von erhalten gebliebenen Spuren  : Manches davon ist auf den ersten Blick rekonstruierbar, manches erst auf einen zweiten, und manche „Spuren“ müssen erst über Umwege generiert werden, weil sie nicht im öffentlichen, sondern im privaten Gedächtnis Abdrücke hinterlassen haben. Die folgenden Kurztexte zum Kinderheim Lend gehen dabei Erinnertem/Vergessenem sowohl auf materieller als auch auf immaterieller Ebene nach  : Zunächst anhand eines autobiografischen Erinnerungstextes von Richard Schacherl, der selbst eng mit dem Afritschgarten als Ort Realität gewordener gesellschaftlicher Visionen verbunden war. Dann – im Rahmen eines lebensgeschichtlichen Interviews – der Frage nach den immateriellen Referenzpunkten und Kontinuitätslinien sozialer Utopien und deren zeitgenössischer Ausformungen. Und schließlich der Frage, welche Informationen und Indizien aus den erhaltenen materiellen und immateriellen Spuren abgeleitet werden können. Welche „Reste“ und „Rückstände“, auch zufällig erhaltene materielle Spuren erweisen sich als relevant für das überhaupt noch Rekonstruierbare  ?



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Rote Falken vor dem Kinderheim „Afritschgarten“, 1950er-Jahre. Die Roten Falken wurden 1925 als Teil der Kinderfreunde (12–15-jährige) gegründet.

AUSDRUCK UND ABDRUCK Richard Schacherl, der Bruder des Architekten, war eines der ersten „Kinderfreundekinder“ und später Obmann der Ortsgruppe Lend. 1958 erinnerte er sich in einer Gedenkschrift an seine erste Begegnung mit dem Begründer der Kinderfreunde, Anton Afritsch, und an den Bau des Heimes in Lend. Wie sein Bruder Franz war er ein überzeugter Sozialdemokrat und musste, nachdem er 1938 ins KZ Dachau deportiert worden war und nur unter der Bedingung freigelassen wurde, Österreich zu verlassen, nach Neuseeland emigrieren. Architekt Franz Schacherl hat mit seinem Entwurf für das Kinderheim Lend einen realen Ort für Afritschs Utopie geschaffen. Das Gebäude war Ausdruck einer selbstbewussten und modernen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und ist – auch wenn seine architektonischen Qualitäten vergessen wurden – bis heute immaterieller Identifikations- und materieller Referenzort in der Erinnerung mehrerer Generationen. HZ/AG

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Der Utopie einen Raum geben „Ihr werdet es mir verständnisvoll verzeihen, wenn meine Erinnerungen manchesmal ‚sentimental‘ klingen. Erinnerungen, die über ein halbes Jahrhundert zurückliegen, sind niemals ganz objektiv, sie sind glorifiziert und erfüllt von der leisen unbewussten Trauer über die entschwundenen Tage der Jugendzeit. […] Ich war das erste ‚Kinderfreundekind‘. Im Jahre 1901, sieben Jahre vor der Gründung, machte ich die Bekanntschaft von Anton Afritsch. Er hatte mich eingeladen, seine Schmetterlingssammlung anzusehen. Ich war damals acht Jahre alt und die Tramfahrt vom Bahnhofgürtel zur Leitnergasse im unteren Jakominiviertel schien mir, dem kleinen Buben, endlos. Hier, im dritten Stock eines Zinshauses, begrüßte mich der freundlich lächelnde Mann, der später einen so nachhaltigen Einfluß auf das Leben tausender Menschen und auf meines hatte. […] Dieser erste Besuch und die folgenden nächsten Jahre einer tiefen Freundschaft legten den Grundstein für meine Liebe zur Natur, für meinen Beruf als Lehrer und Freund der Jugend und der arbeitenden Menschen. Sonntage um Sonntage folgten mit Halbtags- und Ganztagswanderungen. […] Diese Exkursionen waren zuerst nur eine Familienangelegenheit  : Willi, Pepi, Toni, die Söhne, und ich. Später kamen mein Bruder Franz und Frau Afritsch mit den jüngeren Kindern Gretl und Viktor, und später einige unserer Gespielen, die Kinder der Nachbarn und der Straßen. Es war der Genius der Liebe und Freundschaft in der Seele dieses gütigen Menschen Anton Afritsch, der das Licht und das Verlangen nach Schönheit in den Augen dieser Kindergruppe sah. Es war die tiefe Erkenntnis, daß der Weg der Befreiung des Proletariats bei den Kindern beginnen, daß er hinweg von dem Elend der proletarischen Straße und den Zinshaushöfen zur freien Natur mit all ihren Wundern für Geist, Seele und Herz führen müsse. Und auch weg von den bewußten und unbewußten Beschränkungen einer klassenbeherrschten Schule zur freien Gemeinschaft von Eltern und Kindern. So wurde die Idee geboren  : von den einzelnen Kindern des Familien- und Freundeskreises zur Masse der Kinder und deren Eltern. So entstand ein sozialistisches Erziehungsprogramm, das zu einem Kulturwerk wurde. Eine alte Werkzeughütte im Volksgarten war die erste Stätte der Spiele und Aktionen. Dann erhielten wir das Städtische Jugendheim im Volksgarten in Graz. […] Tausende Veranstaltungen für Kinder und Eltern wurden dort abgehalten. Alles wurde zu klein. In ganz Österreich und auch im Ausland wurden Ortsgruppen gegründet. Die Afritsch-Stammgruppe erhielt ein neues, eigenes Kinderheim. Mein Bruder Franz Schacherl, der Architekt in Wien war, machte den Plan. (Er starb als Flüchtling im Jahre 1942 [1943, d. Hg.] in Portugiesisch-Westafrika.) Ich war nach Afritsch’ Tod der letzte Obmann der Stammgruppe, bis im Jahre 1934 die Dollfuß-Faschisten das Heim konfiszierten.“ Auszug aus: Richard Schacherl-Sharell, Wie es begonnen hat. In: Anton Afritsch d. J., Der Kinderfreund Anton Afritsch, Graz 1958, 82–88



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Afritschgarten, Wiedereröffnung nach dem Umbau zum 75-Jahr-Jubiläum der Kinderfreunde, Februar 1983

IN DIE ERINNERUNG EINGESCHRIEBENES Der ursprüngliche Bau von Franz Schacherl aus dem Jahr 1930 hat sich bis heute stark verändert. Jede Generation hat ihre jeweiligen Vorstellungen in das Gebäude und den Ort als Ganzen neu eingeschrieben. Unterschiedliche Benutzergruppen haben dem Haus das Ihre hinzugefügt oder von diesem entfernt. Kontinuitäten, aber auch Vielschichtigkeit und Wandel werden nicht zuletzt auf der Ebene (auto-)biografischer Erinnerungen sichtbar. HZ/AG

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Materieller Ort und soziale Skulptur Ende der 1960er-Jahre entwickelte Joseph Beuys sein künstlerisches Konzept der „sozialen Skulptur“. Er propagierte einen erweiterten Kunstbegriff, der nicht allein auf materielle Artefakte beschränkt ist, sondern die gesamte Gesellschaft mit einbezieht. Nach Beuys entwickle und forme der Mensch durch Denken und Sprache soziale Strukturen, sein Kunstbegriff umfasst jegliche kreative menschliche Tätigkeit. Kunst in der Gesellschaft nehme den Platz ein, veraltete Lebensformen durch neue zu ersetzen. Mit der Idee der „sozialen Skulptur“ ist die Vorstellung verbunden, dass jeder Mensch die individuelle Freiheit hat, in der Gesellschaft zu handeln und somit für diese verantwortlich ist.1 Wenn man den Afritschgarten betritt, so entsteht rasch der Eindruck einer Verschränkung von gesellschaftspolitischer Utopie und einer „sozialen Plastik“ im Sinne Beuys’. Auch wenn sich die materiellen Gegebenheiten mit der Renovierung des Gebäudes 1982/83 stark verändert haben, so ist in dem von der Außenwelt fast abgeschotteten grünen Refugium eine Form sozialer Energie wahrzunehmen, die an Erzählungen aus der Gründungszeit der Kinderfreunde erinnert. Dies spiegelt sich auch im Gespräch mit Josef „Petz“ Macsek, der nahezu sein ganzes Leben lang mit den Kinderfreunden verbunden ist.2 Der Afritschgarten sei immer schon ein zentraler Ort für diese gewesen, erzählt er  : das Kinderheim, eine starke Ortsgruppe, viele Kinder und entsprechend viele Veranstaltungen. Es sei der Zug der Zeit gewesen, bei der Renovierung kaum Rücksicht auf die Geschichte des Bauwerks zu nehmen. Der Umbau sei auch so etwas wie ein Aufbruch, ein Neubeginn und Generationenwechsel gewesen, der zudem mit einer grundlegenden Neuorientierung verbunden war. Zwar habe sich die Nutzung des Gebäudes im Vergleich zu vorher kaum verändert, aber die „modernere“ Gestaltung war Ausdruck eines inneren Wandlungsprozesses  : Der Wohlstand setzte ein, die Menschen hatten mehr Geld und Freizeit und die Kinderfreunde mussten darauf reagieren. Sozialistische Werte, Solidarität und Rituale, die noch in der Nachkriegszeit wichtig waren, verloren an Bedeutung, was gleich blieb, war die Einstellung zu den Kindern. Diese würden die Zeit, die man ihnen widmet, heute mit der gleichen Begeisterung annehmen wie früher. Petz ist seit 1958 bei den Kinderfreunden aktiv, zunächst in St. Leonhard, Liebenau, dann Wetzelsdorf. Langsam wuchs er in die Organisationsstruktur hinein, arbeitete als Helfer, übernahm eigene Gruppen, fuhr erstmals 1971 als Erzieher in ein Sommerlager und übernahm schließlich die Leitung des Ferienlagers in Sekirn/Wörthersee – mit Unterbrechungen bis 2008. 1997 wechselte er hauptberuflich zur Ferienaktion, seit seiner Pensionierung ist er wieder ehrenamtlich tätig. Den roten Faden seiner Tätigkeiten für die Kinderfreunde bildet der Wunsch, die soziale Energie, die er selbst erfahren hat, weiterzugeben – angepasst an die jeweiligen Zeitvorstellungen. Heidrun Zettelbauer



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Fenster an der Rückseite des Kinderfreundegebäudes im Afritschgarten, Zustand 2009

ÜBRIGGEBLIEBENES Das Vergessene als das, was übrig bleibt. Wandel in Funktion, Nutzung und Äußerem ist dem Medium Architektur grundlegend inhärent. Häufig sind es gerade scheinbare Nebensächlichkeiten, Details, versteckte und auf den ersten Blick kaum ins Auge fallende Spuren und Fragmente, die den Ausgangspunkt bilden für den architekturhistorischen Prozess der Rekonstruktion ursprünglicher ästhetischer und funktionaler Bedeutungsschichten eines Bauwerkes. HZ/AG

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Rückstände: Architektur als materielle Spur Als wir im Rahmen der Vorbereitungen für dieses Buch erfuhren, dass es im Grazer Bezirk Lend ein von Franz Schacherl entworfenes Gebäude geben soll, machten wir uns neugierig auf die Suche  : Die Pläne im Stadtarchiv waren schnell ausgehoben, Schacherls Autorschaft nach diesen Quellen rasch belegt. Doch bei einem Lokalaugenschein schien am Gebäude nichts auf den Planer wichtiger Wiener Wohnsiedlungen der Zwischenkriegszeit hinzuweisen  : ein nichtssagender Bau, ein unproportioniertes Satteldach, bei dem wir – zu Recht – auf „irgendwann in den 1980er-Jahren“ tippten, Thermofenster aus jüngster Zeit, Fichtenholz-Verschalungen im Inneren, eine unübersichtliche Raumsituation. Ein „Nutzbau“ eben, der kaum etwas von seiner ursprünglichen Qualität zeigte. Dennoch, nach näherer Untersuchung, dann die Auflösung des Rätsels, ob wir überhaupt im „richtigen“ Gebäude waren  : Die Toilettenfenster, zwei Kellerfenster, einige Türblätter und Türklinken – all das machte uns schließlich sicher, dass wir es mit einem um 1930 errichteten Bau zu tun hatten, dessen architektonische Bedeutung im Laufe der Jahrzehnte vergessen wurde. Was darauf folgte, war eine mühsame Suche nach dem ursprünglichen Grundriss- und Raumkonzept des Kinderheimes Lend mit Hilfe der kopierten Originalpläne. Es sind oft solche Überbleibsel, zufällig und intentionslos erhaltene materielle Spuren, an denen sich für BauforscherInnen und DenkmalpflegerInnen die Authentizität eines Baus erweist. Das gilt nicht nur für die Architektur früherer Jahrhunderte, sondern wird zunehmend auch für die Erforschung und Erhaltung der zum Teil höchst fragilen Bauten der Moderne wichtig. Vergleichbar mit den für ArchäologInnen bedeutsamen Fundorten in historischen Abfalldeponien oder Latrinen sind diese Spuren (Originalputz, originale Bauteile) oft „Rückstände“ der Transformationen durch Renovierung oder Sanierung. Sie befinden sich meist an – in Bezug auf ihren Repräsentationsstatus – hierarchisch untergeordneter Stelle oder an der Peripherie  : an der Rück-, Unter- oder Innenseite oder an versteckten Orten wie Kellern, Sanitäranlagen, Abstellräumen. Diese hierarchische Ordnung im Prozess des Verschwindens gilt selbst im Fall der gewaltsamen Zerstörung der Grazer Jüdischen Zeremonienhalle in der Pogromnacht 1938  : Das Einzige, was die Verwüstung überdauert hat, sind die Eingangstore zum Friedhof, die als unbedeutende Funktionsobjekte und deshalb nicht als zerstörungswürdig erachtet wurden. Zuweilen überdauern auch Bauteile, herausgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext, zufällig an anderer Stelle. Ein prominentes Beispiel sind die großflächigen Originalfenster des 1925/26 in Dessau errichteten Bauhausgebäudes, die – ohne dokumentarische Intention – als Bauteile für Gewächshäuser einer Gärtnerei die Transformationen und Verstümmelungen des Gebäudes in NS- und DDR-Zeit überstanden haben und nun bei der Sanierung wieder sorgsam als authentische Zeugen eingesetzt wurden. Antje Senarclens de Grancy  

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Anmerkungen 1 Barbara Lange, Soziale Plastik. In: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2002, S. 276–279. 2 Die folgenden Informationen und Zitate sind den Gesprächsnotizen zum Interview mit Josef „Petz“ Macsek, 3. Juni 2009 entnommen.

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Julia Poelt

STADTRANDSIEDLUNG AMSELGASSE Lehman Brothers, faule Kredite, Immobilienblase, Insolvenz, Arbeitslosigkeit – das sind Schlagworte von heute. Wohin die Entwicklung noch gehen wird, ist ungewiss. Vor 90 Jahren begann mit dem Kurssturz an der New Yorker Börse am 25. Oktober 1929, dem „Schwarzen Freitag“, schon einmal eine weltumspannende Wirtschaftskrise. Von ihr wurde auch die junge Republik Österreich, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Auflösung der Monarchie ohnehin mit tiefgreifenden volkswirtschaftlichen Strukturproblemen zu kämpfen hatte, voll getroffen. Von 1932 bis zum „Anschluss“ betrug die offizielle Arbeitslosenrate laufend mehr als 20 %. Im selben Zeitraum sank jedoch der Anteil der unterstützten Arbeitslosen auf etwa die Hälfte, womit sie gleichzeitig aus der amtlichen Statistik herausfielen.1 Da Kleidung, Schuhe, Küchenausstattung usw. in den Haushalten nur in viel geringeren Mengen als heute vorhanden waren, kam es schnell zu materiellen Verfallserscheinungen, hinzu kamen soziale und psychische Folgephänomene2 sowie Wohnungsnot. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit war gekoppelt mit dem verzweifelten Bemühen, der zunehmenden politischen Polarisierung einerseits und der Proletarisierung und Politisierung hauptsächlich der Arbeiterschaft andererseits Einhalt zu gebieten.

Randsiedlungsaktionen Im Deutschen Reich, wo sich die Situation ähnlich darstellte, kam es zu einer selbst organisierten, „wilden“ Siedlerbewegung am Rande vieler Städte, wo Wohnungslose Notquartiere errichteten oder bezogen (zum Beispiel Schrebergartenhäuschen).3 Die Dritte Notverordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg vom 6. Oktober 1931 griff den Siedlungsgedanken4 auf und schuf zusammen mit mehreren folgenden Richtlinien und Verordnungen die gesetzliche Voraussetzung für die Errichtung Vorstädtischer Kleinsiedlungen mit Hilfe zinsverbilligter Reichsdarlehen.5 Das Konzept wurde in Österreich mit wenigen Abänderungen übernommen (der Versuch, dafür eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, blieb aufgrund widerstreitender politischer Konzepte erfolglos) und die Umsetzung Ende 1932 mit Hilfe einer bewilligten Kreditüberschreitung in Höhe von einer Million Schilling (S) durch das Sozialministerium begonnen.6 Im Rahmen der bald Randsiedlungsaktion genannten Maßnahme entstanden nun an der  

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Peripherie von Ortschaften und Städten Siedlungen, deren Umfang mit zwei bis über 300 Siedlerstellen stark schwankte. Die Flächen gehörten in der Mehrzahl der Fälle Bauvereinigungen und Genossenschaften, ansonsten den Kommunen.7 Auf den zwischen 600 und 2500 m2, im Allgemeinen jedoch etwa 1000 m2 großen Grundstücken8 sollten nun möglichst billige, daher kleine, aber ausbaufähige Einzel- oder Doppelhäuser in einfachster Form und Ausstattung, jedoch aus dauerhaften Materialien errichtet werden.9 Dafür war die Mitarbeit der erwerbslosen oder kurzarbeitenden und bevorzugt kinderreichen Siedlungswilligen bei der Gewinnung und Herstellung von Baustoffen, Geländeaufschließung und Errichtung der Häuser selbst in großem Umfang erforderlich und Voraussetzung für die Zuteilung einer Siedlerstelle.10 An Unterkellerung, Isolierung, Badezimmer, Umzäunung, Anschluss an kommunale Wasser-, Gas- und Elektrizitätsleitungen sowie Abwasserentsorgung wurde häufig gespart, 11 um mit dem Darlehen des staatlichen Bundes-Wohn- und Siedlungsfonds in Höhe von 4500 S auszukommen. Die Randsiedlungen waren nicht nur eine Wohnungsfürsorgemaßnahme, sie sollten den Siedlern durch den Anbau von Kartoffeln, Gemüse und Obst sowie durch Fleisch, Eier und eventuell Milch aus der Haltung von Kleintieren, gelegentlich sogar Schweinen und Ziegen, auch ihren Lebensunterhalt sichern helfen.12 Zusätzlich zum Mietzins kamen nach Ablauf eines Freijahres Ausgaben für Verzinsung und Tilgung des Fondsdarlehens hinzu. Da die Gärten nach so kurzer Zeit oft noch mehr Investitionen für Pflanzen, Saatgut, Dünger, Werkzeug usw. benötigten, als sie Gewinn abwarfen, zeigte sich schon bald die Schwäche des „Konzepts Randsiedlung“  : Einerseits waren Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit und möglichst Kinderreichtum Voraussetzung für den Erhalt einer Siedlerstelle, andererseits waren gerade diese Siedler gar nicht in der Lage, ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen.13 Als daher im Dezember 1934 die zusätzliche Randsiedlungsaktion II angekündigt wurde, lagen die hauptsächlichen Unterschiede im finanziellen Bereich,14 und ab 1937 mussten auch Bewerber für eine Siedlerstelle der ursprünglichen Randsiedlungsaktion (dann häufig RS I genannt) wenigstens Kleinverdiener, -pensionisten oder Kurzarbeiter sein und die Siedlungen wurden als Nebenerwerbssiedlungen definiert.15 In ganz Österreich entstanden in etwa 130 Gemeinden rund 340 Randsiedlungen mit über 5500 Siedlerstellen. Sowohl rein zahlenmäßig als auch im Verhältnis der Siedlerstellen zur Einwohnerzahl liegt die Steiermark im Mittelfeld der österreichischen Bundesländer, als typische Randsiedlungsstädte stuft Robert Hoffmann neben Wien, Linz und St. Pölten auch Klagenfurt, Salzburg und Graz ein.16

Grazer Stadtrandsiedlungspläne Der Grazer Gemeinderat befasste sich mit dem Siedlungsthema bereits zu einem Zeitpunkt, als im Deutschen Reich an den ersten Vorstädtischen Kleinsiedlungen gebaut wurde, man in Österreich auf politischer Ebene jedoch noch verschiedene Siedlungs190  | 

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konzepte diskutierte.17 So hatte der Grazer Gemeinderat schon in seiner Sitzung am 30. Juni 1932, in der er sich mit Maßnahmen zur Linderung der Auswirkungen der Wohnungs- und Arbeitslosigkeit in der Stadt befasste, die Stadtbaudirektion beauftragt, ein Stadtrand-Siedlungsprogramm für Arbeitslose auszuarbeiten.18 Gleichzeitig sollte die „Anregung, das Siedlungswesen durch Beistellung von Grundstücken und Überlassung von Altmaterial zu fördern, einem eingehenden Studium“ unterzogen werden.19 Nach den erhaltenen Archivalien im Grazer Stadtarchiv zu urteilen, blieb es über die Sommermonate nach außen hin still um die Siedlungsaktion.20 Es ist aber anzunehmen, dass sich kommunale Stellen inzwischen mit der Thematik befassten. Nachdem nämlich das Stadtbauamt am 29. September 1932 beauftragt worden war, die gemeindeeigenen, noch 1932 verfügbaren und für Stadtrandsiedlungszwecke geeigneten Grundstücke zusammenzustellen, konnte es seinen Bericht bereits am 1. Oktober 1932 vorlegen.21 Zu diesem Zeitpunkt bemühte sich der Grazer Stadtbaumeister Wolfgang Alkier gerade darum, zusammen mit der mit ihm in enger Verbindung stehenden Arbeitsgemeinschaft Erwerbsloser und Kurzarbeiter, die Kooperation der Stadt Graz und die Genehmigung des zuständigen Bundes-Wohn- und Siedlungsamtes (BWSA) für ein großes, auf 150 Siedlerstellen angelegtes Randsiedlungsprojekt auf städtischem Boden zu erhalten.22 Für Randsiedlungsprojekte kamen laut Richtlinien jedoch nur gemeinnützige Bauvereinigungen als Siedlungsträger in Betracht.23 Noch Mitte Oktober 1932 wurde die Arbeitsgemeinschaft Erwerbsloser und Kurzarbeiter als erhoffter Siedlungsträger in die Gemeinnützige Kleinsiedlungsgenossenschaft für Steiermark und Kärnten reg. G. m. b. H. übergeleitet. Doch es war zu spät  : Einerseits hatten sich wohl bei Bürgermeister Vinzenz Muchitsch, seinen Stellvertretern und dem Gemeinderat Zweifel an der grundsätzlichen Gemeinnützigkeit der Alkier’schen Konstellation festgesetzt, andererseits wollte man in Hinblick auf die beschränkten Bundesmittel dem BWSA möglichst schnell ein fundiertes Konzept vorlegen.24 Innerhalb weniger Tage, nämlich bis zum 20. Oktober 1932,25 fanden die Kommunalpolitiker eine wahrhaft salomonische Lösung für das Problem des Siedlungsträgers. Die in Zukunft bewilligten Siedlerstellen sollten in etwa gemäß dem Stimmenverhältnis der politischen Parteien im Gemeinderat im Verhältnis 23   : 17 auf die ins Auge gefassten gemeinnützigen Baugenossenschaften aufgeteilt werden  : 23/40 Anteile für die sozialdemokratische Gemeinnützige Bau- und Wohnungsgenossenschaft für Steiermark in Graz r. G. m. b. H., 17/40 Anteile für die christlichsozial orientierte Wiener Gemeinnützige Bau-, Wohn- und Siedlungsgenossenschaft „Heim“ r. G. m. b. H. und die großdeutsch eingestellte Landesbaugenossenschaft für Steiermark r. G. m. b. H. zusammen. Damit waren gleichzeitig die drei großen im Grazer Gemeinderat vertretenen Parteien zufriedengestellt.26



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Stadtrandsiedlung mit zwölf Doppelhäusern in der nördlichen Amselgasse, nördlich des Grazer Zentralfriedhofes, Stadtplan von 1942

Siedlung auf den Versorgungshausgründen Es galt nun auch, aus den fünf vom Stadtbauamt in dessen Bericht beschriebenen Grundstücken das am besten geeignete auszusuchen. Die Wahl fiel auf die sogenannten Versorgungshausgründe. Sie lagen in dem Geviert zwischen der Südbahn im Westen, der Feldgasse im Norden, der heutigen Vinzenz-Muchitsch-Straße im Osten und der Kapellenstraße im Süden und waren dem städtischen Altersheim in der heutigen Albert-Schweitzer-Gasse27 zur Bewirtschaftung zugewiesen. Ausschlaggebend für die Wahl der auch Altersheimökonomie genannten Fläche waren wohl schließlich die Grundstücksgröße, die Tatsache, dass sie unbelastet von Anleihen war, die Pachtverhältnisse und die Straßenherstellungskosten.28 192  | 

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Die Geschehnisse der folgenden Monate zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie alles andere als geradlinig verliefen, weshalb sie hier nur in ihren Ergebnissen wiedergegeben werden können.29 Dies lag wohl vor allem an den allgemeinen Informationsdefiziten bezüglich der Voraussetzungen und Abläufe im Zusammenhang mit Antragstellung und Finanzierung sowie Kommunikationsmängeln mit dem Wiener BWSA, wodurch viel wertvolle Zeit verloren wurde. Zum einen lief die Randsiedlungsaktion ja gerade erst an, zum anderen kam bei der Stadtgemeinde immer wieder die Vermutung zur Sprache, Grazer Interessen würden bei Land und Bund oft hintangestellt.30 Glücklicherweise zogen aber die Stadt und die Baugenossenschaften unvermindert am selben Strang und trieben die Planungen für eine Stadtrandsiedlung31 mit etwa 40 Siedlerstellen voran, obwohl es noch immer keine Kreditzusage gab. Schon am 19. Oktober 1932 präsentierte die Gemeinnützige Bau- und Wohnungsgenossenschaft für Steiermark dem Stadtrat Pläne von Eugen Székely für ein Haus mit Wohnküche, zwei kleinen Zimmern, Stall, Waschküche und Abort, das mit etwa 9500 S veranschlagt war. Nur durch Versetzen zweier Fenster sollten zwei Häuser dieses Typs zu einem Doppelhaus zusammengefügt werden können. Vermutlich wollten ursprünglich auch die anderen beiden Baugenossenschaften nach diesen Plänen bauen.32 Da die Kosten aber zu hoch waren, stellte Székely am 22. März 1933 eine neue Planung für ein giebelständiges, entlang der Firstlinie geteiltes Doppelhaus mit Steilgiebel und symmetrischen Vorbauten mit geringerer Dachneigung vor. Diese war mit 6600 S pro Haushälfte deutlich billiger, vermittelte aber dennoch eine gewisse optische Großzügigkeit.33 In der Zwischenzeit diskutierte man bei der Stadt immer noch die Frage, welchen Teil der Versorgungshausgründe man bebauen sollte  : Im östlichen Teil waren die Böden besser und eine Bewässerungsanlage installiert, weshalb der Direktor des Altersheims dafür plädierte, den westlichen Teil zu bebauen und der Ökonomie den östlichen Teil zu belassen. Trotzdem fiel am 7. April 1933 die endgültige Wahl auf den östlichen Teil des Geländes, da die Bebauung des westlichen Teils für jeden Siedler 150 S mehr an Anschlusskosten bedeutet hätte, und man legte die Aufteilung des Widmungsgrundes auf 42 Baustellen fest.34 Zwar hatte es am 1. März 1933 Kreditzusagen für je 20 Siedlerstellen in Zeltweg, Bruck/Mur und Kapfenberg gegeben,35 doch die Grazer Planungen waren noch immer nicht bewilligt worden. Zur Jahresmitte sah es gar nicht mehr so aus, dass es noch zu einem Baubeginn im Jahr 1933 kommen würde, als fast schon unerwartet das BWSA am 4. Juli 1933 alle 42 Siedlerstellen genehmigte. Nun musste es schnell gehen, um die warme Jahreszeit möglichst gut auszunützen  : Augenscheinsverhandlung, Baubewilligung, Baurechtsverträge, Grundbuchsanträge, alles folgte rasch aufeinander, und Ende August waren die ersten vier Doppelhäuser bis zur Dachgleiche fertiggestellt. Die Baugenossenschaft „Heim“ hatte sich inzwischen allerdings für die Errichtung von Einzelhäusern entschieden, Planverfasser war Fritz Müller aus Preding/Weststeiermark. Insgesamt entstanden bis zum Ende des Jahres 1933 sechs Doppelhäuser auf jeder Seite  

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Zweifamilien-Siedlungshäuser im Jahr 2009

der nördlichen Hälfte der Amselgasse, errichtet von den Siedlern der Gemeinnützigen Bau- und Wohnungsgenossenschaft für Steiermark in Graz, vier Doppelhäuser der Landesbaugenossenschaft auf der Ostseite der südlichen Amselgasse, und der „Heim“ gehörten zehn Einzelhäuser auf der Westseite der südlichen Amselgasse und auf der Nordseite der Kapellenstraße.36 In den folgenden Jahren entstanden im damaligen Grazer Stadtgebiet noch insgesamt 139 weitere Siedlerhäuser im Rahmen der Randsiedlungsaktionen I und II, und zwar 1934 auf dem westlichen Teil der Altersheimökonomie 74 Siedlerhäuser, 1935 ein Stadtrandsiedlungsareal direkt an der Nordseite des Zentralfriedhofs und zwischen 1935 und 1937/38 ein weiteres im Dreieck zwischen Kärntner Straße im Westen, Südbahn im Osten und der späteren Straße Am Lindenkreuz.37 Zusammen mit den in den damaligen Umlandgemeinden Wetzelsdorf (50 Häuser) und Gösting (34 Häuser) gelegenen Siedlerstellen wurden also im heutigen Grazer Stadtgebiet 265 Randsiedlungshäuser errichtet38 und man kann Graz ganz zu Recht als eine der wichtigsten und größten Randsiedlungsstädte Österreichs bezeichnen.

Anmerkungen 1 Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 31), Berlin 1979, 28–29. 2 Die berühmte Marienthal-Studie beschreibt eindrücklich diese Situation. Marie Jahoda/Paul F. Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen

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von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie (= Edition Suhrkamp 769), Frankfurt a. M. 1975 [Erstausgabe 1933]. Vgl. z. B. Tilman Harlander/Katrin Hater/Franz Meiers, Siedeln in der Not. Umbruch von Wohnungspolitik und Siedlungsbau am Ende der Weimarer Republik (= Stadt, Planung, Geschichte 10), Hamburg 1988, 43–46 (allgemein) und 148–161 (am Beispiel Düsseldorf). Es ist hier nicht der Raum, die unterschiedlichen Ausformungen, Inhalte, Verortungen und konzeptuellen Hintergründe von „Siedlung“ und „Innenkolonisation“ in der Zwischenkriegszeit in Österreich und Deutschland mit ihren Rückgriffen ins 19. Jahrhundert zu betrachten. Siehe dazu Robert Hoffmann, „Nimm Hack’ und Spaten …“. Siedlung und Siedlerbewegung in Österreich 1918–1938 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 33), Wien 1987. Harlander/Hater/Meiers 1988 (wie Anm. 3), 68–72. Hoffmann 1987 (wie Anm. 4), 217–221. Ebenda, 254–255. Ebenda, 255. Fondsdarlehen für vorstädtische Kleinsiedlungen, in: Die Baugenossenschaft 5 (1932), 165–167. Ebenda, 165–166. – Vgl. dazu Julia Poelt, Die Grazer Stadtrandsiedlungen der Randsiedlungsaktionen 1932–1937 (= Reihe Habilitationen, Dissertationen und Diplomarbeiten 15, hg. v. d. Karl-Franzens-Universität Graz) (Geisteswissenschaften, Volkskunde), Graz 2008, 159–164. Am Beispiel der Randsiedlung Leopoldau siehe Margit Altfahrt, Anspruch und Wirklichkeit. Realität einer Arbeitslosensiedlung am Beispiel Leopoldau, in: Margit Altfahrt (u. a.), Die Zukunft liegt in der Vergangenheit. Studien zum Siedlungswesen der Zwischenkriegszeit (= Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 12), Wien 1983, 77–100, 79, 92, 97. Fondsdarlehen 1932 (wie Anm. 9). – Vgl. dazu Poelt 2008 (wie Anm. 10), 174–187. Altfahrt 1983 (wie Anm. 11), 86–94. – Poelt 2008 (wie Anm. 10), 188–192. Als Siedler waren Kleinverdiener vorgesehen, die Bundesdarlehen konnten bis 8000 S betragen und die Grundstücke waren im Allgemeinen kleiner. Richtlinien für die Randsiedlungsaktion II, in: Die Baugenossenschaft 8 (1935), 30–31. Vgl. dazu Poelt 2008 (wie Anm. 10), 125. Neue Richtlinien für Stadtrandsiedlungen, in: Die Baugenossenschaft 10 (1937), 75–77. Hoffmann 1987 (wie Anm. 4), 254–257 und 291–295. Ebenda, 167 und 203–206. Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 36 (1932), 113–114 und 116. Ebenda, 114. Stadtarchiv Graz, Bauaktenarchiv, erster Faszikel „Stadtrandsiedlung“. Zu diesen und den weiteren erhaltenen Akten zu den Grazer Stadtrandsiedlungen siehe Poelt 2008 (wie Anm. 10), 23–25 und 241. Ebenda, 101 und 105. Ebenda, 96–100. Fondsdarlehen 1932 (wie Anm. 9). Zum gemeinnützigen und genossenschaftlichen Bauwesen in der Zwischenkriegszeit vgl. Poelt 2008 (wie Anm. 10), 40–53 und die dort angegebene Literatur. Poelt 2008 (wie Anm. 10), 100–104. Und damit sechs Tage vor dem Datum, unter dem die endgültigen Richtlinien für die Randsiedlungen veröffentlicht wurden! Poelt 2008 (wie Anm. 10), 107–108. Siehe dazu auch Karl A. Kubinzky/Astrid Wentner, Grazer Straßennamen. Herkunft und Bedeutung, 2., verb. Aufl., Graz 1998, 19. Poelt 2008 (wie Anm. 10), 105–107. Siehe dazu genauer Poelt 2008 (wie Anm. 10), 108–115. Beispiele bei Poelt 2008 (wie Anm. 10), 98 und 114. Bezüglich der im damaligen Grazer Stadtgebiet gelegenen Siedlungen verwendeten sowohl die Stadt als auch die Baugenossenschaften so gut wie ausschließlich den Terminus Stadtrandsiedlung. Poelt 2008 (wie Anm. 10), 108–109 und 111. Ebenda, 111, 115, Abb. 18–21, 23–27, 40–43. Ebenda, 109–112. Neue Kredite für gemeinnützige Wohnungsbauten und Stadtrandsiedlungen, in: Die Baugenossenschaft 6 (1933), 38. Poelt 2008 (wie Anm. 10), 115–116, Abb. 2–3. Ebenda, 121–123 und 127–133. Ebenda, 135–142.



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Eugen Székely, Modell eines Siedlungshauses für die Stadtrandsiedlung, gezeigt in der Jubiläumsausstellung der Sezession Graz, 1933

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Antje Senarclens de Grancy

EUGEN SZÉKELYS HÄUSER IN DER AMSELGASSE Der Entwurf für die Siedlungshäuser entlang der gerade verlaufenden Amselgasse geht auf Eugen Székely zurück.1 Es ist dies die einzige dokumentierte Wohnsiedlung des Architekten, allerdings hatte er sich bereits 1928 mit dem Entwurf für Doppelhäuser einer „Kleinhaus-Eigenheimsiedlung“ für ein nicht bekanntes Grundstück beschäftigt. Warum die Wahl der Gemeinnützigen Bau- und Wohnungsgenossenschaft für Steiermark auf Székely gefallen ist, ist nicht bekannt. Eine Rolle wird dabei aber wohl seine Nähe zur Sozialdemokratie gespielt haben.2 Hatte Székely im Herbst 1932 ursprünglich Einfamilienhäuser mit minimaler Wohnfläche, aber rationalen Grundrissen geplant, so arbeitete er die Entwurfspläne im Frühjahr 1933 aufgrund einer notwendigen Kosteneinsparung zugunsten von zwölf identischen Doppelhäusern, je sechs auf jeder Straßenseite, fertig aus.3 Gleichzeitig konnte damit aber wohl auch ein angesichts der Minimalausmaße der Wohneinheiten allzu hüttenartiges Aussehen der Siedlung vermieden werden. Die Realisierung der Anlage wurde daraufhin vom genossenschaftlichen Bauträger organisiert. Ausgeführt wurden die Bauarbeiten von den Siedlern selbst, unter denen auch einige Professionisten (Maurer, Elektriker, Installateur, Gärtner etc.4) waren.5 Jede Siedlerfamilie musste eine Person zum gemeinschaftlichen Bau der Siedlung zur Verfügung stellen, falls man selbst dazu nicht in der Lage war, musste ein Mitarbeiter des Freiwilligen Arbeitsdienstes6 bezahlt werden. Erst nachdem die Rohbauten in Gemeinschaftsarbeit abgeschlossen worden waren, wurden die Doppelhäuser mit je 1100 bis 1200 m2 Grund an je zwei Siedlerfamilien verlost, die wiederum mit dem Los bestimmten, wer jeweils die Nordbzw. die Südseite des Zweifamilienhauses bewohnen sollte.7 Die Räume der Doppelhäuser wurden so angeordnet, dass genau spiegelgleich jeweils über Erd- und Dachgeschoss reichende Wohneinheiten für zwei Familien mit separatem Hauseingang zur Verfügung standen.8 Die Häuser mit hellockerem Verputz und grüngestrichenen Fensterbalken waren giebelseitig zur Straße hin angeordnet und straßenseitig zur Hälfte unterkellert. Der Grundriss der Zweifamilienhäuser entsprach nach der Planänderung nun keineswegs dem damaligen Stand der intensiv betriebenen Wohnbaudiskussion um platzsparende, aber funktionelle Raumorganisation. So brachte beispielsweise der unflexible Plan durch die Nord-Süd-Ausrichtung der Straße eine ungleiche Situation der Wohnungen im Hinblick auf Lichteinfall und thermische Qualität. Von einem als Terrasse dienenden, überdeckten Vorplatz 9 aus, an den da 

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Schottergrube der Siedlungsbaustelle, 1933. Dieses und die folgenden Baustellenfotos stammen aus dem Fotoalbum der Siedlerfamilie Motschnik.

Betonmischmaschine

Betontransport von der Mischmaschine zum Haus

Verlegen einer Sickergrube. Die späteren Bewohner arbeiteten beim Bau mit.

„Das erste Haus steht“, Spätsommer 1933

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Eugen Székely, Grundrisse eines Siedlungshauses in der Amselgasse, rechts mit Einrichtungsvorschlag  

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„Sommerabend 1935“, vor dem Haus der Familie Motschnik

„Sommer 1934, Klein-Straßgang“. In den Häusern gab es keine Badezimmer.

hinter ein Kleintierstall für Hühner und Hasen anschloss, erreichte man über ein paar Stufen einen kleinen Vorraum. Von hier aus teilte die Stiege zum Obergeschoss, die aus Platzgründen sehr steil war, das Haus quasi in zwei Teile und ließ keine fließenden Raumübergänge in dem kleinen Haus zu. Auf der Straßenseite war ein Zimmer angeordnet, zum Garten hin die Wohnküche mit einer kleinen Speis. Im oberen Stock, der von den Siedlern oft an Untermieter weitervermietet wurde, wirkte sich die Schräge der Wände in den beiden Kammern ungünstig aus. Es gab – vermutlich aus Gründen der maximalen Kostenreduktion – auch keine Einbauschränke oder andere Platz sparende Einbauten. Die Häuser für die Erwerbslosen hatten eine höchst bescheidene Ausstattung – einen gemauerten Kochherd in der Küche, eine Toilette ohne Wasserspülung – und verfügten auch über keine Bäder. Die Einrichtung der Räume besorgte jede Familie selbst.10 Noch vor Fertigstellung wurde das Modell der Siedlungshäuser bei der Jubiläumsausstellung der „Sezession Graz“ 1933 gezeigt. Im Vergleich mit der kubischen, flach abschließenden Gestalt der von Székely errichteten öffentlichen Bauten (Arbeitsamt Graz, Sanatorium Eggenberg etc.) ist die steilgiebelige Dachform besonders auffallend. Diese stellt den Entwurf in das Umfeld der seit der Jahrhundertwende geführten Diskussion um das „deutsche Haus“ und die „heimische Bauweise“.11 Der Grund für diese Formenwahl, die jedoch bei Siedlungsbauten international durchaus Standard war, 200  | 

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kann in dem um 1933 konservativer werdenden kulturellen Klima in Graz, dem sich auch die progressivsten Architekten anzupassen hatten, gesehen werden. Allerdings hatte Székely noch 1927 geschrieben, dass in der Frage Steil- oder Flachdach aus klimatischen Gründen noch keine endgültige Entscheidung möglich sei.12

Anmerkungen   1 Vgl. Ludwig Lepuschitz, Bauaussichten für 1933, in: Bau- und Wohnberatung. Monatsschrift für Heimkunde, Bau, Garten und Stube 2 (1933), H. 1, 1–2, 2.   2 Siehe dazu die Biografie von Eugen Székely in diesem Buch.   3 Vgl. dazu den Beitrag von Julia Poelt über die Stadtrandsiedlung Amselgasse.   4 Die Tatsache, dass diese Siedler diese für das Projekt wichtigen Berufsausbildungen hatten, hat wohl bei deren Auswahl für das Projekt mitgespielt.   5 Mündliche Auskunft von Vera Bauer, der Tochter einer Siedlerfamilie, am 6. Juli 2009 in Passail.   6 Die Gründung des Freiwilligen Arbeitsdienstes nach deutschem Vorbild war 1932 eine Maßnahme der österreichischen Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.   7 Die Siedler in diesem Teil der Amselgasse waren der sozialdemokratischen Gewerkschaft zugehörig. Es bestanden wenige Kontakte zu den Siedlern, die den Christlichsozialen und den „Unpolitischen“ (unter diesen waren auch illegale Nationalsozialisten) zugezählt wurden.   8 Die Häuser sind heute durch individuelle Umbauten, die in vielen Fällen nur je eine Haushälfte betrafen, in ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild kaum mehr erkennbar.   9 Dieser war gemauert und holzverkleidet. 10 Erste Veränderungen im Inneren waren beispielsweise Bäder, die in die ab den 1950er-Jahren nicht mehr gebrauchten Kleintierställe eingebaut wurden. Die äußere einheitliche Gestaltung der Siedlung, die bis zum Holzstakettenzaun reichte, blieb bis in die 1960er-Jahre erhalten. Ab den 1970er-Jahren sind einige Familien weggezogen und haben ihre Häuser verkauft. Mündliche Auskunft von Vera Bauer (wie Anm. 5). 11 Vgl. z. B. Wolfgang Voigt, Vom Ur-Haus zum Typ. Paul Schmitthenners ‚deutsches Wohnhaus‘ und seine Vorbilder, in: Vittorio Magnago Lampugnani/Romana Schneider (Hg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition, Frankfurt 1992, S. 245–265. 12 Eugen Székely, Baukunst in der Gegenwart. Zur Ausstellung der Sezession, in: Arbeiterwille, 4. 11. 1927.



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KRISTALLISATIONSPUNKTE | STADTRANDSIEDLUNG AMSELGASSE

Werner Suppanz

ENTPROLETARISIERUNG IN DER STADTRANDSIEDLUNG – EINE GEGEN / MODERNE STRATEGIE „Auch der Arbeiter soll die Scholle lieben, der er entstammt. Wenn er aus dem Getöse des Maschinensaales heimkehrt, sollen ihm die Blumen seines Gartens entgegenleuchten.“1 Diese von binären Codes – „Arbeiter“ (im Satz davor als „landfremd“ bezeichnet) und „Scholle“, „Maschinensaal“ und „Garten“ – bestimmte programmatische Aussage des faschistischen Heimatblocks bringt die Kontextualisierung der Siedlungsbewegung der 1920er und 1930er-Jahre in Diskursen der Moderne auf den Punkt. Sie zeigte sich in zwei Stoßrichtungen, im Gedanken der „Innenkolonisation“ und Reagrarisierung abseits der Städte sowie im insgesamt weitaus einflussreicheren und stärker geförderten Bestreben zur Errichtung von Stadtrandsiedlungen. 2 Als Ort und als Projekt lässt sich diese in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl bürgerlichen als auch proletarischen Bevölkerungsgruppen zuordnen. Für das Deutsche Reich wird zur Stadtrandsiedlung als „Ort der Moderne“ konstatiert  : „Die Suburbanisierung – im Kaiserreich zunächst ein Phänomen der Reichen – setzte sich somit während der Weimarer Republik verstärkt fort und führte zu einer erstaunlichen Differenzierung der Stadtrandsiedlungen.“3 Bürgerliche Villenviertel sind hier ebenso wie Kleingärtenanlagen der KleinbürgerInnen und auch ArbeiterInnen inkludiert. Charakteristisch für die Errichtung der Stadtrandsiedlungen im Österreich der Zwischenkriegszeit ist der Konnex dreier Motive  : a) Siedlung als Ausdruck einer antiurbanen Haltung, partiell verbunden mit agrarromantischen Vorstellungen  ;4 b) zunehmende Politisierung der „Innenkolonisation“, die sie in Österreich schließlich ab 1933 zu einem Mittel der austrofaschistischen Arbeitslosenpolitik machte  ; c) Konzentration auf ArbeiterInnen und Erwerbsarbeitslose als Zielgruppe. Damit wurde die Stadtrandsiedlung endgültig in den politischen Zusammenhang der Skepsis gegenüber Urbanität, Mobilität und Industrialisierung gestellt und im politischen Spektrum der Rechten und den konservativen Gruppen zuordenbar. Zwar errichtete auch das „Rote Wien“ 11 % der geschaffenen Wohnungen als Einfamilienhäuser,5 dennoch zeigt sich, dass auch die „architektonische Moderne“ Suburbanisierung mit Vorstellungen von Autarkie verband.6 Im „autoritären Ständestaat“ wurden schließlich Leitvorstellungen bestimmend, die gleichzeitig zur massiven politischen Förderung der Stadtrandsiedlung führten  : Die „Entproletarisierung der Arbeiterschaft“, die in der Bindung der ArbeiterInnen an Privateigentum und damit gleichzeitig an die bäuerliche „Scholle“ und an Besitz im 202  | 

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bürgerlichen Sinn bestand, wurde zum ideologischen Ziel. „Aus Bolschewiken wieder gute Staatsbürger“ zu machen 7, war die lapidarste Legitimation der Randsiedlungspolitik. Wirtschaftspolitisch stand der Gedanke einer partiellen familiären Autarkie durch Gartenprodukte als Naturaleinkommen im Vordergrund, zunächst in Form der Erwerbslosensiedlung, insbesondere für Ausgesteuerte, zunehmend vorrangig aber als Nebenerwerbssiedlung für (männliche) Kurzarbeiter.8 Der Deutungsrahmen dieser Politik bestand in der Auffassung, dass die Lohnarbeitsgesellschaft in der Weltwirtschafts- Stadtrandsiedlung Amselgasse, überdachter Vorplatz krise an ihr Ende gekommen sei. Eine Antwort darauf könnte nur in aus austrofaschistischer Sicht inakzeptablen Maßnahmen sozialistischer Arbeitsbeschaffung oder in der Akzeptanz dieser Entwicklung bestehen, die als Resultat der Krise der urbanen, industriellen Moderne aufgefasst wurde. 9 Der Gedanke der Entproletarisierung in der städtischen Randsiedlung stellte somit eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen dar, die das deutschnationale und das katholisch-konservative Lager als Bedrohung der sozialen Kohärenz auffassten. Die Konzeption der Siedlungen als Ensemble von Einfamilienhäusern, erweitert durch Nachbarschaften, zielte dabei auf die Wiederherstellung von „Gemeinschaft“ anstelle abstrakter „gesellschaftlicher“ Beziehungen ab.10 Damit war ein geschlechterpolitisches Ziel verbunden, denn die Annäherung an eine „natürliche“ Lebensweise sollte auch „natürliche“ Aufgabenverteilungen zwischen den Geschlechtern wiederherstellen. Die Errichtung der „Nebenerwerbssiedlung mit Einführung der Kurzarbeit“ sollte von der „Ausschaltung der Frauenarbeit aus den Industriebetrieben“ begleitet werden. Die Arbeit im Eigenheim, insbesondere der Gartenbau, galt damit als weibliche Arbeitssphäre, letztlich sollte durch die Wirkungen des Siedlungswesens auch die Geburtenrate wieder ansteigen.11 Die städtische Randsiedlung in der Ausprägung, die im Konnex der Weltwirtschaftskrise und insbesondere der austrofaschistischen Diktatur steht, lässt sich dabei trotz aller vormodernen Bezüge als Konzept für eine „andere“ Moderne deuten. Denn auch die „entproletarisierte“ Lebensform setzte die Arbeit der Männer im „Maschinensaal“ voraus, die „Blumen des Gartens“ sollten den neuen Arbeiter-Eigentümern nach der Rückkehr aus der Stadt oder der Fabrik entgegenleuchten. Die Stadtrandsiedlung der 1930er-Jahre entspricht letztlich der Zielvorstellung einer „Modernisierung ohne Modernität“, in der neben die Sphäre des technisch-ökonomischen Wandels eine mit dieser nur lose verbundene, auf scheinbar „natürlichen Bindungen“ wie Familie, Gemeinschaft und Boden beruhende Lebenswelt tritt – ein Konzept, mit  

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KRISTALLISATIONSPUNKTE | STADTRANDSIEDLUNG AMSELGASSE

Ehemaliger Selbstversorgergarten hinter dem Haus, Zustand 2009

dem die austrofaschistische Diktatur einem damals Jahrzehnte alten christlich-konservativen Diskurs zur politischen Hegemonie verhalf. 12

Anmerkungen   1 Das Nationalratsprogramm des Heimatblockes 1930, in: Österreichische Parteiprogramme 1868–1966. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Klaus Berchtold, Wien 1967, 406–427, 421.   2 Vgl. Werner Suppanz, Arbeitslosigkeit als Thema der Sozialpolitik im „Ständestaat“, phil. Diss. Graz 1993, 183.   3 Jörn Weinhold, Die Stadtrandsiedlung, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.–New York 2005, 183–192, 188.   4 Vgl. ebenda.   5 Vgl. Robert Hoffmann, Entproletarisierung durch Siedlung? Die Siedlungsbewegung in Österreich 1918–1938, in: Gerhard Botz (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte, Wien–München–Zürich 1978, 713–742, 718.   6 Vgl. Weinhold 2005 (wie Anm. 3), 188.   7 So Sicherheitsminister Neustädter-Stürmer, in: Ministerratsprotokoll Nr. 1050 (5. 2. 1937), 16.   8 Vgl. Julia Poelt, Die Grazer Stadtrandsiedlungen der Randsiedlungsaktionen 1932–1937 (= Grazer Universitätsverlag. Reihe Habilitationen, Dissertationen und Diplomarbeiten 15), Graz 2008, 319–322.   9 Vgl. Suppanz 1993 (wie Anm. 2), 184–185. 10 Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1979 [1887]. 11 Josef Dobretsberger, Die wirtschaftspolitischen Aufgaben des neuen Staates, Wien 1937, 58 und 69. 12 Vgl. Werner Suppanz, „Die Gesellschaft treibt der Auflösung zu.“ Das christlich-konservative Lager in Österreich und die Unübersichtlichkeit der Moderne, in: Barbara Boisits/Peter Stachel (Hg.), Das Ende der Eindeutigkeit. Die Frage des Pluralismus in Moderne und Postmoderne (= Studien zur Moderne 13), Wien 2000, 27–44, 41.

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Heidrun Zettelbauer

STADTRANDSIEDLUNG AMSELGASSE: REFERENZPUNKTE DES ERINNERNS UND VERGESSENS Woran knüpft sich Erinnertes  ? An welche Bezugspunkte ist Vergessenes und wieder Aufgenommenes angelagert  ? Diese Fragen halten die Kurztexte zur Stadtrandsiedlung in der Amselgasse zusammen. So geht es um die Erinnerungen einer Siedlerfamilie, die sich eng an ein Fotoalbum als Referenzpunkt für die Familiengeschichte binden. Gesellschaftliche Konzepte werden hier auf biografisch-familiärer Ebene in spezifischer Weise sichtbar, bleiben aber letztlich vielschichtig und ambivalent. Die beiden folgenden Kurztexte thematisieren gegenwärtige Referenzpunkte auf gänzlich andere Weise  : So wird zum einen die Frage nach der Notwendigkeit von Transformationen und dem damit – zwangsläufig  ? – verbundenen Verblassen des baukulturellen Gedächtnisses aufgeworfen und für einen bewussten Umgang mit der heute noch erhaltenen Siedlungsstruktur plädiert. Zum anderen wiederum wird der Blick aus der Perspektive des Architekten auf eine mögliche Neuinterpretation von historischer Bausubstanz unter gegenwärtigen Anforderungen und zeitgemäßen architektonischen Vorzeichen gelenkt, bei der die Erinnerung an den Altbestand erhalten bleibt.



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Familienfoto, Stadtrandsiedlung Amselgasse, Herbst 1934

FRAGMENTE UND ERZÄHLUNGEN Viele der späteren BewohnerInnen der Stadtrandsiedlung in der Amselgasse beteiligten sich selbst an den Bauarbeiten. Das Bild von 1934 aus dem privaten Fotoalbum einer Siedlerfamilie mit Blick auf die Gartenseite des Hauses einer befreundeten Nachbarfamilie lässt die zurückliegenden mühevollen Arbeiten vergessen. Es strahlt Zufriedenheit und Stolz auf das Erreichte aus und lenkt den Blick auf einen familiären Innenraum als intimen Rückzugsraum. Nicht die von Erwerbslosigkeit bedrohte Arbeiterfamilie steht hier im Blickpunkt, sondern die „bürgerliche“ Familie, die sich ein Haus und einen eigenen Ort zum Leben geschaffen hat. In den Bildkompositionen dieses familiären Innenraums ähneln sich die Fotos der verschiedenen Siedlerfamilien. HZ/AG

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An Bilder geknüpfte Erinnerungen Der Umschlag des Fotoalbums aus den 1930er-Jahren, angelegt von Franziska und Josef Motschnik, hat ein modernes Muster  : stilisierte grüne Blumen, Blätter und weiße Schraffuren verweben sich, goldene Zierfäden umspannen Vorder-, Rückseite und den Buchrücken – nicht zuletzt sein guter Erhaltungszustand verweist auf seine Bedeutung für die Familiengeschichte1  : Fotos von Fahrradausflügen, Weihnachtsabenden und Spaziergängen ebenso wie von Berg- und Skitouren mit Freunden, Festen, beruflichen Reisen oder technischen Bauten wie der Großglockner-Hochalpenstraße. Die Bilder sind nicht chronologisch geordnet, auch nicht thematisch, aber sie dokumentieren wichtige Familienereignisse, vor allem von 1933 bis 1935, als die Stadtrandsiedlung in der Amselgasse entstand. Ihre Mutter, so erzählt Tochter Vera, war sehr an der Geschichte der Baugründe interessiert und ihr Vater hat den Bau und die Zeit nach dem Einzug akribisch mit dem Fotoapparat festgehalten – dass er damals schon einen Fotoapparat besessen hat, war ungewöhnlich. Vera kann sich noch erinnern, dass sie jeden Tag zum Vater auf die Baustelle gegangen ist, um abends mit ihm in die Wohnung in der Kaiserfeldgasse in der Innenstadt zurückzukehren. Der Umzug in die Siedlung 1935 war eine große Umstellung, plötzlich lebte man „fast wie im Dorf “. Veras Vater fuhr seit dem Ersten Weltkrieg zur See. 1933 arbeitslos geworden, ließ er sich auf Vermittlung eines Freundes für ein Haus in der Amselgasse eintragen. Ihre Mutter war schon seit 1917 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SP) und als Sekretärin im Frauenreferat für die Politikerin und Frauenrechtlerin Martha Tausk tätig.2 1934 wurde sie nach dem Verbot der SP sofort abgebaut. Das Fotoalbum dokumentiert, dass sie bei den Kinderfreunden engagiert war, wenngleich Vera sich nicht mehr daran erinnern kann, an Gruppenstunden teilgenommen zu haben. Überhaupt hatte Veras Mutter enge Kontakte zu den Jugendorganisationen der SP, wo auch viele SozialistInnen jüdischer Herkunft engagiert waren. Nach dem Krieg brach sie jedoch mit der Partei, nicht zuletzt aufgrund der Involviertheit vieler Sozialdemokraten in das NSRegime. Die Familie wohnte lange Zeit gemeinsam mit der Mutter in der Amselgasse, 1972 wurde die zweite Doppelhaushälfte noch als „Lufthaus“ gekauft, 1982 das Grundstück erworben, vor einigen Jahren das Haus schließlich verkauft. Das Fotoalbum wurde nach dem Krieg nicht weiter ergänzt. Es dokumentiert als Bildgedächtnis eine Zeit, in der das neue Wohnhaus zu einem familiären Rückzugsort wurde – dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der brisanten politischen Umwälzungen 1933/34 und deren Folgen für die der Sozialdemokratie nahestehenden Siedler. Heidrun Zettelbauer



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Doppelwohnhäuser der Stadtrandsiedlung Amselgasse, Zustand 2009

TRANSFORMATIONEN Ob Flachdach oder Steildach: Serielle Gleichförmigkeit der Wohnhäuser war Anfang der 1930erJahre entscheidendes Merkmal der meisten Siedlungsanlagen, was auch zur Verbilligung des Bauens beitrug. Der Großteil der Doppelhäuser der ehemaligen Erwerbslosensiedlung in der Amselgasse hat sich seit dem Entstehen stark verändert. Der einheitliche Gesamteindruck wurde in Einzelinterpretationen fragmentiert, die „Uniformierung“ der Architektur aufgehoben. Das suburbane Konglomerat bildet ein Spannungsfeld zwischen erinnerten und vergessenen materiellen Bezugspunkten, zwischen dem Individualitäts- und Komfortanspruch der BewohnerInnen und der ursprünglichen strukturellen Einheitlichkeit der Siedlung. Steuerungsmaßnahmen der Behörden können als Beitrag zum Erhalt des Siedlungscharakters im Interesse der Öffentlichkeit oder als Eingriffe in den individuellen Lebensspielraum gelesen werden. HZ/AG

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Verlust des baukulturellen Gedächtnisses Die meisten der Siedlungshäuser in der Amselgasse stehen noch, wenngleich mittlerweile renoviert oder umgebaut. Das ursprünglich einheitliche Erscheinungsbild fiel dem Wunsch nach Individualität zum Opfer. Einige Parzellen wurden zusammengelegt, Randparzellen geteilt. So entstanden im Gegensatz zum ursprünglichen Charakter größere Haustypen, die heute wie Fremdkörper erscheinen. Veränderte Lebenssituationen, aber auch unterschiedliche Wohnvorstellungen von ZuzüglerInnen wirken sich auf die Verortung in der Siedlung, auf soziale Differenzierungen und auf die Nutzungsvielfalt aus. Die Selbstversorgergärten entwickelten sich oftmals zu reinen Ziergärten, auch wenn bei vielen BewohnerInnen noch die Erinnerung an die Nutzgärten mit Kleintierhaltung lebendig ist. Krähende Hähne werden heute eher als Belästigung empfunden und ein Gemüsegarten ließe womöglich auf geringes Einkommen schließen. In der Grazer Stadtplanung existiert für keines der Stadtrandsiedlungsgebiete ein Bebauungsplan. Bei der sehr geschlossen wirkenden Siedlung im Bereich Amselgasse/ Adalbert-Stifter-Gasse ging das Bemühen des Stadtplanungsamtes in die Richtung, „solche erkennbaren Typen mit Bebauungsplänen entsprechend abzudecken“. 3 Das Charakteristische der Anlage sollte trotz Nachverdichtung erhalten bleiben. Vorstudien für eine Bebauungsrichtlinie wurden zwar beauftragt, eine Richtlinie aber letztendlich nie beschlossen. Veränderungen und Nachverdichtung werden weiter fortgesetzt, Bauansuchen im Anlassfall beurteilt. So geht der ursprüngliche Charakter der Siedlung mehr und mehr verloren. Laut Auskunft des Stadtplanungsamtes ist das Errichten von Garagengebäuden oder Carports im hinteren Gartenbereich nicht erwünscht, dennoch entstehen solche. Es ist zu befürchten, dass der Charakter der Gesamtanlage für immer zerstört wird. Zumal diese aufgrund der höheren Dichte auch für Bauträger interessant werden könnte, die dann möglicherweise mehrere Parzellen zusammenlegen. In den Anfangsjahren der Siedlung war man bei Erweiterungsplänen noch mit sehr rigiden Vorschriften konfrontiert, die dem Erhalt der einheitlichen Formensprache und des Erscheinungsbildes dienen sollten. So konnte es schon vorkommen, dass nachträglich errichtete Gartenhütten abgerissen werden mussten oder Veranda-Anbauten nicht bewilligt wurden. Baukultur und der Erhalt des Gebietscharakters scheinen hingegen heute kein Thema mehr zu sein. Es geht nicht darum, für Einfamilienhausgebiete niedriger Dichte eine Lanze zu brechen, sondern vielmehr darum, das kollektive, baukulturelle Gedächtnis für bedeutende historische Siedlungen zu schärfen, die Siedlungs- und Baukonzepte als urbanistisch und auch wohnungspolitisch wertvolle Beispielfälle zu erhalten und in entsprechend respektvoller Art weiterzuentwickeln. Elisabeth Lechner



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Wohnhaus in der Amselgasse, nach dem Umbau durch das Architekturbüro INNOCAD, Zusammenlegung zu einem Einfamilienhaus, 2007

NEUINTERPRETATION Umbau/Neuadaptierung älterer Architektur ist häufig eine Gratwanderung zwischen erinnerten materiellen Spuren auf der einen Seite und vergessenen auf der anderen. Auf welche Weise bezieht sich eine architektonische Neukonzeption auf materiell Überkommenes? Welche Referenzpunkte des Alten werden in das Neue integriert, welche beiseitegelassen oder entfernt? Wo liegen die Grenzen der Einbeziehung materieller historischer Bezugspunkte? Und wo erscheint es notwendig, neue Wege einzuschlagen? Hier wird aus einem Zweifamilienhaus der Stadtrandsiedlung durch Zusammenlegung ein Einfamilienhaus. Mit Respekt im Hinblick auf Proportionen und Silhouette wird die ursprüngliche Konzeption neu interpretiert, der Charakter des Siedlungshauses dabei erhalten. HZ/AG

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„Pimp my Home“: Transformation eines Doppelhauses Die Bauform des Doppelhauses der Stadtrandsiedlung wurde wohl ursprünglich deshalb gewählt, um diese größer erscheinen zu lassen, aber auch um an der Außenhülle an Baukosten zu sparen. Jedes Haus wurde einst entlang der Grundgrenze durch eine Mittelwand in zwei unabhängige Wohneinheiten geteilt. Dieses im Jahr 2006 von einer dreiköpfigen Familie erworbene Doppelhaus war zu diesem Zeitpunkt eigentlich keines mehr, sondern zu einem Einfamilienhaus verschmolzen worden. Die ursprünglich vorhandene, räumliche Bescheidenheit des Siedlerhauses unter vielen Schichten jahrzehntelanger Anlagerungen verborgen. Mit dem Kauf des Doppelhauses erwarb die Familie aber auch die beiden zugehörigen Grundstücke mit jeweils 1000 m2. Der Gesamtkaufpreis erhöhte sich dadurch und überstieg so das übliche Verhältnis von Haus- zu Grundstücksfläche. Unsere Aufgabe bestand daher darin, einen Stufenplan zu entwickeln, der es den Eigentümern erlaubte, möglichst flexibel zu bleiben und das Haus auch zukünftigen Bedürfnissen anzupassen. Die Typologie des Doppelhauses konnte hier einfach gut genutzt werden, da ja bereits ursprünglich eine Trennung vorgesehen war und diese konstruktiv genutzt werden kann. In einem ersten Schritt musste das Haus thermisch saniert werden. Gleichzeitig wurden die erfolgten Adaptierungen als Chance wahrgenommen, die Raum- und Belichtungsqualitäten zu verbessern. Die ursprüngliche räumliche Konzeption sah zwar gut proportionierte, aber kleine Räume vor, die einem heutigen Standard nicht mehr entsprachen. Außerdem wurden im Laufe der Jahre viele kleinere Umbauten vorgenommen, die einer sinnvollen Weiternutzung entgegenstanden. Durch Entfernen einiger Wände und das behutsame – sowohl straßen- als auch gartenseitige – Öffnen der Fassade wurden der Innen- und Außenraum stärker verbunden. Das Obergeschoss wurde reorganisiert und Sanitärräume eingebaut. Sollten die Eigentümer später einmal wieder zwei Wohnungen brauchen, kann eine nachträgliche Trennung leicht durchgeführt werden. Im Erdgeschoss können durch Verschluss der Türen zwischen Kinderzimmer/Küche und Wohnzimmer zwei abgeschlossene Einheiten entstehen. Das Obergeschoss wird dem südlichen Hausteil zugeschlagen, während der nördliche Teil eine Ergänzung durch ein Wohnzimmer im Garten erfährt. Martin Krammer



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Anmerkungen 1 Dank gilt an dieser Stelle Vera und Ernst Bauer, die Bilder aus dem Fotoalbum für die vorliegende Publikation und sich selbst für ein Interview zur Verfügung gestellt haben. Die folgenden Informationen und Zitate sind den Gesprächsnotizen zum Interview mit Vera Bauer (geb. 1929) am 6. Juli 2009 entnommen. 2 1919 zog Tausk als erste Frau für die SP in den steirischen Landtag und später in den Bundesrat ein, bevor sie 1928 nach Zürich ging, um für die internationale Arbeiterbewegung zu arbeiten. Vgl. Brigitte Dorfer, Die Lebensreise der Martha Tausk. Sozialdemokratie und Frauenrechte im Brennpunkt, Innsbruck 2007. 3 Interview Julia Poelt mit Heinz Rosmann, Abteilungsvorstand des Stadtplanungsamtes, Magistrat Graz, zit. n. Julia Poelt, Die Grazer Stadtrandsiedlungen der Randsiedlungsaktionen 1932–1937 (= Reihe Habilitationen, Dissertationen und Diplomarbeiten 15, hg. v. d. Karl-Franzens-Universität Graz), Graz 2008, 200.

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BIOGRAFIEN IM SOZIALEN RAUM Jüdisches Leben, Antisemitismus, urbane Bezugsräume, soziale Netzwerke und 1938 als Bruchlinie

BIOGRAFISCHE SKIZZEN

Heidrun Zettelbauer

Befasst man sich mit jenen sozialen Räumen, die das Leben von Alexander und Bruno Zerkowitz, Eugen Székely und Franz Schacherl prägten, mit jenen historischen und kulturellen Kontexten, sozialen Oberflächen und Spannungsfeldern, die Teil ihrer biografischen Identität waren, so rücken vor allem vier Aspekte ins engere Blickfeld, die im Folgenden ansatzweise skizziert werden sollen  : erstens die Frage nach dem jüdischen Leben in Graz vor dem Hintergrund antisemitischer Ausgrenzungsmuster, die in Graz seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sowie in der Zwischenkriegszeit zweifelsohne stark vorhanden waren, und damit verbunden die Frage nach einer verstärkten Innenorientierung des Grazer Judentums seit dem Ersten Weltkrieg. Zweitens gilt es, jene urbanen Bezugsräume zu skizzieren, die sich für die im Folgenden betrachteten Biografien als relevant erwiesen, und – damit verbunden – drittens die Frage nach jenen sozialen Netzwerken aufzuwerfen, die nicht nur mit den räumlichen Bezugspunkten korrelierten, sondern sich auch als zentral für die differenzierten politischen Orientierungen der vier Architekten bzw. Baumeister erwiesen. Wie sich Vater und Sohn Zerkowitz, Székely und Schacherl in diesen genannten sozialen Räumen positionierten, wie sie darin von der Gesellschaft positioniert wurden, das heißt, mit welchen Fremdzuschreibungen sie konfrontiert waren und welche Erfahrungen sie persönlich machten, lässt sich nicht pauschal beantworten. Im Gegenteil, gerade wenn man die historischen und kulturellen Kontexte ins Zentrum einer Betrachtung rückt, so werden zwar zum einen Ähnlichkeiten, zum anderen aber vor allem auch Differenzen zwischen ihren Lebensverläufen sichtbar. Während die ersten drei Aspekte dabei vor allem auf ein in hohem Maß ausdifferenziertes jüdisches Leben im Graz der Zwischenkriegszeit verweisen, auf kulturelle, soziale und politische Positionierungen jenseits einfacher Zuschreibungen, so betont der vierte im Folgenden angerissene Aspekt, vor allem die gemeinsamen Erfahrungslagen, die sich erzwungenermaßen aus der NS-Verfolgungsgeschichte ergaben  : Der März 1938, der „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, mit all seinen Folgen für die jüdische Bevölkerung von Graz, bedeutete auch für die hier fokussierten Architekten bzw. ihre Familien einen biografischen wie familiären Bruch.

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Jüdisches Leben in einer antisemitischen Umwelt Der Grazer Historiker Gerald Lamprecht hat in seinem kultur- und sozialhistorisch angelegten Überblick Fremd in der eigenen Stadt die Entstehung der modernen jüdischen Gemeinde in Graz dargestellt. Er hat darin einerseits umfassend grundlegende Rahmenbedingungen der Emanzipationsdiskurse in der Habsburgermonarchie und der Steiermark wie auch zentrale AkteurInnen bei der Gründung der Grazer Kultusgemeinde, Sozial- und Berufsstrukturen, Wohnverhältnisse, Vereine und Institutionen der jüdischen GrazerInnen beleuchtet. Andererseits hat er in beeindruckender Weise die zentralen historischen Etappen der Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Graz vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg nachgezeichnet  : von den ersten privaten Gottesdiensten und der Entstehung koscherer Wirtshäuser, der Konstituierung der Israelitischen Corporation als Vorläuferin einer eigenständigen jüdischen Kultusgemeinde in Graz, von den Bemühungen um einen eigenen jüdischen Friedhof, über die Anmietung von ‚Withalms Coliseum‘ 1865 als erster Synagoge der Neuzeit in Graz, von der Konsolidierung der jüdischen Gemeinde im Rahmen der Errichtung zentraler institutioneller Strukturen wie einer jüdischen Schule oder einer Mikwe, bis hin zum Bau und zur Einweihung einer eigenen von Max Katscher entworfenen Synagoge im Jahr 1892.1 Wie vielfältig jüdisches Leben in Graz Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, darüber geben vor allem die vielen jüdischen Vereine Auskunft  : Wohltätigkeits- und Frauenvereine, Lesezirkel, studentische Unterstützungsvereine und zionistische Vereinigungen bis hin zu Turnvereinen.2 Nicht zuletzt diese Vereine waren es, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu den zentralen Orten jüdischer Identitätsbekundung und -stiftung wurden.3 Rückt man jüdisches Leben im Grazer Kontext ins Blickfeld, so erweist es sich dabei vor allem als notwendig, die permanenten Wechselbeziehungen zwischen der jüdischen und der nicht-jüdischen Bevölkerung zu berücksichtigen.4 Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Wechselwirkung von antisemitischen Diskursen und der Innenorientierung und damit zugleich Ausdifferenzierung jüdischen Lebens im Graz der Zwischenkriegszeit, die im Folgenden näher betrachtet werden soll. „[N]icht das Judentum provozierte den Antisemitismus, sondern die Antisemiten produzieren den Antisemitismus  ; das heißt der Antisemitismus ist zunächst das Problem der Antisemiten und erst in seiner Auswirkung, in seiner Aggression das Problem der angegriffenen Gruppen, da diese in ihrer Freiheit behindert werden, in letzter Konsequenz dem Mord gegenüber stehen“5, betont Dieter-Anton Binder und verweist damit auf einen Vorgang, der häufig vergessen wird. Antisemitische Diskriminierungsmuster waren keine Erfindung der Moderne, sondern reichten in ihren Traditionslinien bis ins Mittelalter zurück, wobei in der Vormoderne in erster Linie wirtschaftliche Motive eine Rolle für die Ausgrenzungsphänomene spielten.6 Das Entstehen des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert kann einerseits als direkte Reaktion auf die rechtliche Gleichstellung von Juden/Jüdinnen in Österreich 1867 gesehen, anderer216  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Kopfgrafik einer Korrespondenzkarte der jüdisch-akademischen Verbindung Charitas Graz, 1911

seits aber auch als Folge der Modernisierungsprozesse und des Aufkommens moderner Massenpolitik begriffen werden.7 Eine besondere Akzentuierung, Aufladung (und gesellschaftliche Durchsetzung) erfuhr der Antisemitismus durch den Nationalismus, der die „Qualität“ des Antisemitismus in seiner modernen Form grundlegend veränderte.8 Nationalistische Bewegungen und Diskurse wurden zu einer Haupttriebfeder9 des modernen Antisemitismus. Klaus Holz hat das Entstehen dieses „nationalen Antisemitismus“ in die 1870er-Jahre datiert und auf dessen spezifische semantische Struktur verwiesen. Seiner Ansicht nach hatte das Judenbild darin die Funktion, eine nationale Wir-Gruppe zu formieren, das nationale Selbst- und das jüdische Fremdbild fungieren gewissermaßen als zwei Seiten ein und derselben Medaille  : „Deshalb kann das Judenbild nur als Gegenbild analysiert werden […]. Dem modernen antisemitischen Judenbild entspricht ein Selbstbild als Volk/Staat/Nation.“10 In Graz prägte der Antisemitismus das politisch-kulturelle Klima seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Dies wurde ebenso sichtbar in behördlichen Schikanen in der Frühzeit der israelitischen Kultusgemeinde wie auch unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, in der deutlich antisemitischen Haltung der Mehrheit der Grazer Studentenschaft bzw. einzelner akademischer Funktionäre.11 Während der habsburgische Gesamtstaat im Sinne der Wahrung des Völkerfriedens noch versuchte, nationalistische und antisemitische Agitation in die Schranken zu weisen, führten der Wegfall der Zensur und der Anwendung des Strafrechts gegen antisemitische Publikationen bereits während des Ersten Weltkriegs und vor allem in den ersten Nachkriegsjahren dazu, dass es vorerst zu einem negativen Höhepunkt antisemitischer Ausgrenzungsphänomene kam.12 Dieser antijüdische Diskurs richtete sich zunächst vor allem gegen ostjüdische Flüchtlinge in Graz, die aufgrund der Kriegshandlungen an der Ostfront zur Flucht gezwungen gewesen waren.13 Auch wenn nur ein geringer Teil der Kriegsflüchtlinge jüdischen Glaubens war, erweiterte sich der politisch-mediale Angriff bald jedoch auf Juden/Jüdinnen ganz generell, wenn etwa von Vertretern des Gemeinderates antisemitische Stereotypen wie jene des „jüdischen Wucherers“, des „Drückebergers“ und „Kriegsgewinnlers“ oder ganz allgemein des „Anderen“, des „Fremden“, des „Ostjuden“ als Gegenbild zu „den Deutschen“ öffentlich verbreitet wurden. Welch widersprüchli 

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che Projektionsflächen und Konstruktionen die verbreiteten Bilder dabei waren, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es möglich war, Juden/Jüdinnen einerseits vorzuwerfen, „kapitalistische Ausbeuter“ zu sein, während sie andererseits als „Marxisten“ und „Klassenkämpfer“ verunglimpft wurden.14 In den Umbruchsjahren 1918/19 wurden diese antijüdischen Stereotypen neuerlich massiv reaktiviert, wobei tätliche Übergriffe auf jüdische Studenten und Lehrer (etwa 1923 an der Universität Graz15) auf ein frühes Eindringen nationalsozialistischen Gedankenguts in das antisemitisch geprägte bildungsbürgerlich-akademische Milieu verweisen. Dazu kamen die unzähligen antisemitischen Propagandaschriften des einschlägigen Stocker-Verlages16, der ökonomisch geprägte Antisemitismus der steirischen Christlichsozialen, das Jonglieren mit antisemitischen Ressentiments aus politisch-taktischem Kalkül in der sozialdemokratischen lokalen Presse, wie auch Antisemitismus im Volksbildungs- oder Schulbereich.17 Dieter-Anton Binder sieht im Erstarken des Antisemitismus in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in der Steiermark vor allem auch eine Kompensation für die eigene politische Unzulänglichkeit im Kampf um die Untersteiermark und deren Verlust an den SHS-Staat  : „Mangels einer ausgeprägten slawischen Minderheit profilierte man das eigene ‚Herrenmenschentum‘ an einem ‚volksfremden Judentum‘, das im übrigen wie die Mehrheit der nichtjüdischen Grazer Bevölkerung seit der Gründerzeit in dieser Stadt lebte.“18 Mit Fortdauer der Ersten Republik lässt sich jedenfalls eine Radikalisierung des Antisemitismus feststellen,19 was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass viele Grazer Vereine sukzessive begannen, den sogenannten „Arierparagrafen“ in ihre Statuten aufzunehmen, welcher Juden/Jüdinnen den Mitgliederstatus verwehrte.20 Auch die Propaganda der völkischen Vereine und PolitikerInnen, nicht in den Geschäften und bei Unternehmen von Juden/Jüdinnen einzukaufen, zumeist gefolgt von ausführlichen Listen „deutscher“ und „jüdischer Geschäfte“ (Erstere seien „zu fördern“, Zweitere „zu meiden“), die bereits seit den 1890er-Jahren von den völkischen Grazer Vereinen gebetsmühlenartig wiederholt worden waren, wurden nach Kriegsende neuerlich reaktiviert und medial professionalisiert.21 In Bezug auf das deutschnationale Grazer Milieu hatte dabei insbesondere die Studentenschaft bei der Formulierung und Durchsetzung antisemitischer Haltungen eine „Pionierrolle“ eingenommen,22 daneben aber erwiesen sich vor allem nationale Verbände als „Vorreiter“ des „nationalen Antisemitismus“.23 Obwohl in Graz neben einer überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung andere nationale Minderheiten zahlenmäßig gering vertreten waren24, kennzeichnete die von nationalistischer Seite geschürte Angst vor „Überfremdung“ das politische Denken in der Stadt.25 Das deutschnationale Vereinswesen blühte und eine lokale national-konservative Presse machte sich zum Sprachrohr eines radikalen Deutschtums. Graz betrachtete sich als „Bollwerk deutscher Kultur“26 und hatte um 1900 ein starkes nationales Selbstverständnis entwickelt.27 Hier ging außerparteiliche deutschnationale Agitation in spezifischen Vereinen Hand in Hand mit offizieller deutschnational geprägter Gemeinderatspolitik wie 218  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Broschüre des Südmark-Studentenheims in der ehemaligen Tschock’schen Villa in der Körblergasse. Vermieter war Alexander Zerkowitz.  

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in kaum einer anderen Stadt.28 Spätestens nach 1900 sind antisemitische Haltungen als gemeinsames Bindeglied der disparaten deutschnational-völkischen Parteien- und Vereinslandschaft zu sehen. Wie diese war auch die Presse sowie die vielfältige Grazer Vereinslandschaft29 politisch und weltanschaulich differenziert, in der häufig Lager überschreitenden Grundbefindlichkeit des Antisemitismus hingegen war man sich einig.30 Juden/Jüdinnen wurden als die eigentlichen Feinde des „deutschen Volkes“ aufgefasst. Demnach war die Entgegensetzung einer „deutschen Volksgemeinschaft“ und einer „jüdischen Interessensgemeinschaft“ (verkörpert in Liberalismus und Marxismus, wie das etwa die GDVP 1920 in ihrem Salzburger Programm festhielt), konstitutiv für das deutschnationale Milieu. In der Frage des Antisemitismus im deutschnationalen Milieu bestand nach 191831 jedenfalls kein qualitativer Unterschied mehr zum Antisemitismus der NSDAP, indem „die Juden“ als Gegenvolk konstruiert und auf diese Weise der „deutschen Volksgemeinschaft“ erst Sinn verliehen wurde.32 Für die seit den 1920er-Jahren in der Steiermark aktiven Nationalsozialisten (in Graz gab es 1924 zwei Gemeinderäte, 1929 einen, die der NSDAP zugehörig waren33) war der Antisemitismus eine ideologische Grundkonstante, wobei mit dem Erstarken der NSDAP vor allem seit dem Juli-Putsch 1934 eine neue Komponente antisemitischer Ausgrenzungspraktiken hinzukam  : der Übergang von verbalen und publizistischen Aktivitäten hin zu tätlichen Angriffen, Terroraktionen und Sabotageakten gegen jüdische Einrichtungen oder Privatpersonen.34 Die zunehmende Radikalisierung mündete schließlich 1938 im offenen Terror gegen, der Verfolgung, Beraubung und in vielen Fällen der Ermordung jüdische/r GrazerInnen. Die skizzierten starken Kontinuitätslinien antisemitischer Haltungen in erster Linie von Seiten der in der Stadt dominanten deutschnational-völkischen Kreise 35 und das Erstarken der Nationalsozialisten in der Zwischenkriegszeit vermögen auch die ab 1914 verstärkt einsetzende Innenorientierung des Grazer Judentums zu erklären. Bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren des Ersten Weltkriegs, besonders aber seit Beginn der 1930er-Jahre kam es in Graz zu einer deutlichen Ausdifferenzierung jüdischen Lebens und der jüdischen Vereinslandschaft und einer verstärkten Rückbesinnung auf jüdische Identitäten und Traditionen. Folgt man Gudrun Reitter, so kann als Indikator für den starken antisemitischen öffentlichen Diskurs in Graz zudem die zunehmende Präsenz von Zionisten in leitenden Positionen der Verwaltung in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) gesehen werden, die 1914 einsetzte und sich bis 1938 beständig verstärkte.36 Ausdruck für diese Innenorientierung sind etwa die in der Nachkriegszeit zahlreich entstehenden zionistischen Vereine oder zionistische Ortsgruppen von jüdischen Vereinen in Graz37 sowie die sehr präsente Palästinaberichterstattung in den Mitteilungen der israelitischen Kultusgemeinde, die mit dem Namen des Vorstandsmitglieds der IKG, Oskar Freudmann, verbunden war.38 Besonders zu Beginn der 1930er-Jahre verstärkte sich das Interesse an zionistischen Ideen unter der Grazer jüdischen Bevölkerung, was nicht zuletzt unmittelbar auch auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 zurückzuführen ist, denn im selben Jahr emigrierten 220  | 

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bereits die ersten Grazer Mitglieder der Grazer Zionistischen Ortsgruppe nach Palästina. Im Sinne der jüdischen Siedler- und Kolonisationsbewegung versuchten aktive Grazer Zionisten zudem bewusst die Berufsstruktur innerhalb der Gemeinde zu verändern, indem Kurse und Vorträge zu Landwirtschaft und Gärtnerei abgehalten wurden. 1933 entstand etwa der Grazer Stadtkibbuz in der Münzgrabenstraße, welcher als physische und kollektive Vorbereitung für die Auswanderung nach Erez Israel fungieren und ausschließlich auf Basis körperlicher Arbeit funktionieren sollte.39 Antisemitische Ausgrenzungsmuster einerseits sowie die Ausdifferenzierung und erzwungenermaßen verstärkte Innenorientierung auf ein innerjüdisches Leben andererseits bildeten ein zentrales Spannungsfeld, vor dessen Hintergrund sich die Lebensverläufe der Familien Zerkowitz, Székely und Schacherl ereigneten. Darüber hinaus bildeten vor allem auch räumliche Verankerungen innerhalb der Stadt ein zentrales Identitäts- aber auch Differenzmuster in Biografien jüdischer GrazerInnen.

Urbane Bezugsräume Maßgeblich für die räumliche Strukturierung der Stadt waren die Phase der Modernisierung und Industrialisierung und der damit verbundene enorme Zuwachs der Grazer Bevölkerung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1848 und 1913 verdreifachte sich die Anzahl der GrazerInnen von 50 000 auf 150 000 EinwohnerInnen40, wobei es hier im Gegensatz zu den meisten deutschen und österreichischen Städten zu einer Verdrängung der eingesessenen Bevölkerung kam.41 Zwischen 1884 und 1893 verließen 6000 Menschen die Stadt, 15 000 wanderten im gleichen Zeitraum zu – damit wies Graz eine Wanderungsfrequenz auf, die einem Fünftel der Gesamtbevölkerung gleichkam, zwischen 1901 und 1904 betrug die Mobilitätsrate sogar 25 %.42 Durch diese hohe Mobilität kam es in Graz tatsächlich nahezu zu einem vollständigen Bevölkerungsaustausch.43 Während die unteren Schichten der Grazer Bevölkerungsstruktur vor allem aus steirischen ZuwanderInnen und einheimischen GrazerInnen bestand, kamen die Migrierenden der „besseren Gesellschaft“ aus mittel und weiter entfernten Gebieten der Habsburgermonarchie. Diese seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führende Gesellschaftsschicht bestand zum überwiegenden Teil aus „Nicht-SteirerInnen“, die zudem weiterhin Kontakte in ihre Herkunftsregionen, nach Wien und darüber hinaus aufrecht hielten. Es handelte sich in erster Linie um deutschsprachige ZuwanderInnen, die zudem mehrheitlich deutschnational eingestellt waren und die längerfristig in Graz blieben. In der Arbeiterschaft war die Mobilität weitaus höherer als unter den bürgerlichen ZuwanderInnen, wobei auch hier bis 1900 verstärkt eine Phase der Stabilisierung in der Zu- bzw. Abwanderung erkennbar wurde. Eine Phase, die zugleich mit der Konsolidierung der Arbeiterschaft seit den 1890er-Jahren zusammenfiel.44 Die enorme Bevölkerungsexpansion im 19. Jahrhundert führte zu einem Modernisierungsschub in Graz, die Wirtschaft expandierte, der öffentliche Dienst wurde ausgebaut,  

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neue Schulen, Fabriken, Straßen, Bürogebäude und Wohnbauten errichtet. In der Folge verlagert sich das soziale Gewicht innerhalb der Stadt, wobei diese Entwicklung auf Tendenzen eines modernen „City building“ verweist. Es bildeten sich zwei in hohem Maß voneinander verschiedene sozio-ökonomische Räume innerhalb der Stadt aus, die zugleich ein Ausdruck sozialer Über- und Unterordnung im städtischen Machtgefüge waren. Die neue Struktur der Industriestadt zerstörte das von sozialer Heterogenität und räumlicher Homogenität der vorindustriellen Zeit gekennzeichnete Stadtgefüge. Räumliche Zusammenhänge und damit in Zusammenhang stehende soziale Beziehungen und Klassenstrukturen wurden neu konfiguriert  : Der ursprüngliche Stadtkern wurde zu einem kaum mehr bewohnten Geschäftsbezirk, dessen Bevölkerung sich tendenziell nach Jakomini (6. Bezirk) und St. Leonhard (2. Bez.) verlagerte. Der Bauboom, der die Errichtung zahlreicher Monumentalbauten, Geschäftsgebäude und Ämter umfasste, verstärkte diesen Prozess ebenso wie auch das Abtragen der Stadtmauern. Der 2. und der 3. Bezirk (Geidorf ) wurden zu exklusiven Wohnbezirken der Oberschicht, was nicht nur in den zahlreichen Villen, Palästen und prachtvollen Wohnhäusern sichtbar wurde, sondern auch symbolisch darauf hinwies, dass sich der Einfluss der „besseren Gesellschaft“ festigte.45 In Jakomini siedelte sich in erster Linie der mittlere und untere Mittelstand an, der Bezirk verzeichnete aber auch einen Anteil am Industriesektor von Graz. Die primären Wohngebiete der „städtischen Unterschichten“ waren Lend (4. Bezirk) und Gries (5. Bezirk) jenseits der Mur bzw. rund um den Südbahnhof.46 Die räumliche, sozio-ökonomisch geprägte Strukturierung der Stadt unterstrich die soziale Distanz zwischen den verschiedenen Klassen und verstärkte sich zudem im Lauf der Zeit. Es gab innerhalb der Grazer städtischen Gesellschaft im hier betrachteten Zeitraum kaum Beziehungen zwischen den einzelnen sozialen Gruppen. Die Mur bildete eine physische und eine symbolische Barriere inmitten der Stadt. In den 1870er-Jahren berichtete ein Beobachter, dass die beiden Murufer in Graz beinahe getrennte Städte bildeten und der Austausch sowohl an BewohnerInnen als auch an Handelsgütern über die Flussufer hinweg äußerst gering war. Diese sichtbare Grenze innerhalb der Stadt bestätigte sich auch bei den Volkszählungen  : 76 % der männlichen Grazer, die zwischen 1900 und 1910 in Graz wohnten, wechselten (mehrfach) ihren Wohnort, aber nur ein Viertel der Übersiedlungen war mit einem Überschreiten der Mur verbunden.47 Das Zusammenleben in der Stadt war zudem von großen Spannungen gekennzeichnet. William H. Hubbard verdeutlicht dies am Beispiel der Gemeinderatswahlen, bei denen es häufig zu Beschwerden von BewohnerInnen des rechten Murufers kam, wonach mehrfach die mangelnde Vertretung im Gemeinderat und die Vernachlässigung von Angelegenheiten die Arbeiterschaft betreffend beklagt wurden. Die sozio-ökonomische Trennlinie, die durch die Stadt verlief, korrelierte demnach in anderer Hinsicht auch mit politischen Grenzlinien. Das Ergebnis der Reichsratswahlen von 1901 zeigte etwa ein deutliches Übergewicht der Sozialdemokratie in den Bezirken Lend und Gries, während in der Innenstadt, St. Leonhard und Geidorf die Stimmen der Deutschnationalen überwogen.48 Dass die Sozialdemokratie – nach einer Phase der 222  | 

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Konsolidierung – ihre zentralen Institutionen und die Parteizentrale am rechten Mur­ ufer errichtete, war demnach kein Zufall und verweist darauf, dass eben der Großteil ihrer Wählerschaft in Lend und Gries zuhause war.49 Die jüdischen GrazerInnen, die um 1900 rund 1,2 % der Grazer Gesamtbevölkerung darstellten, lebten zum überwiegenden Teil in den Arbeiterbezirken Lend und Gries (55 %). In der Innenstadt waren es rund 20 %, in Jakomini 14 %. In Leonhard und Geidorf schließlich rund 11 %. Zeitlich geschichtet veränderte sich diese Wohnverteilung in den folgenden Jahren kaum  : So ging zwar 1910 die Anzahl jüdischer Haushalte in Innenstadt, Lend und Gries um 8 % zurück, Jakomini erhielt im selben Zeitraum eine Zunahme um 7 %. Die Anzahl jüdischer Haushalte in den exklusiven Wohnbezirken der Oberschicht blieb im gleichen Zeitraum gleich. Der Bezirk Jakomini hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts von einem agrarisch strukturierten zum bevölkerungsreichsten Grazer Bezirk entwickelt, hier gab es günstige Wohn- und Erwerbsmöglichkeiten. Der skizzierte tendenzielle Zuzug von Teilen der jüdischen Bevölkerung in diesen Bezirk kann – folgt man Gerald Lamprecht – damit auch tendenziell als Hinweis auf soziale Verschiebungen gewertet werden  : nicht als unmittelbarer Aufstieg von ärmlichen Vorstadtbezirken in das städtische Bürgertum und seine Wohngebiete, jedoch als Zwischenschritt, als erste Phase eines sozialen Aufstiegs.50 Nichtsdestotrotz blieb die vorrangige Konzentration jüdischer Haushalte auf Lend und Gries gegeben. Die Gründe dafür lagen vor allem darin, dass am rechten Murufer sowohl die religiöse als auch eine kulturelle Infrastruktur vorhanden war – hier befanden sich die Synagoge, jüdische Bildungseinrichtungen und nicht zuletzt viele koschere Lokale. Gerade für jüdische ZuwandererInnen gab es somit auch die Möglichkeit der Anknüpfung an bereits vorhandene soziale Netzwerke und Nachbarschaften.51 Die skizzierten Wohnverhältnisse bilden schließlich auch in hohem Maß die Sozial- wie auch Berufsstruktur der jüdischen GrazerInnen ab. Der überwiegende Teil der Grazer jüdischen Bevölkerung setzte sich aus ArbeiterInnen bzw. kleinen selbstständigen UnternehmerInnen zusammen. Der jüdische Anteil an bürgerlichen Schichten blieb bis zum Ersten Weltkrieg gering und ein Aufstieg in das städtische Bildungs- und Großbürgertum blieb nur sehr wenigen Mitgliedern der Kultusgemeinde vorbehalten.52

Soziale Netzwerke Soziale Netzwerke bilden einen wichtigen Eckpunkt in der Kontextualisierung von Biografien. Entsprechend der räumlichen Verortung innerhalb der Stadt und in Korrelation mit der sozialen Schichtung der jüdischen Gemeinde in Graz sollen im Folgenden vor allem sozialdemokratische Netzwerke betrachtet werden, die für einige (wenn auch nicht alle) der hier fokussierten Architekten ein zentrales biografisches Bezugssystem bildeten. Die frühe Arbeiterbewegung hatte ihren Anfang mit Beginn der konstitutionellen Ära in Österreich genommen und bald Forderungen nach dem direkten  

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und geheimen Wahlrecht sowie einer Reduktion der Arbeitszeit und nach Krankenversicherung gestellt.53 Während sozialdemokratische Funktionäre Mitte der 1870erJahre und der 1880er-Jahre mit Verhaftungswellen, Verurteilungen und Ausweisungen zu kämpfen hatten, begannen die ArbeiterInnen ab den 1890er-Jahren eine zentrale und eigenständige Rolle in der politischen Landschaft in Graz zu spielen.54 Anfangs verband die Sozialdemokratie der gemeinsame Antiklerikalismus mit national-liberalen Kräften, spätestens ab 1900 jedoch entwickelten sich beide Lager zu Konkurrenten in der Gemeindevertretung. 1905 gelang es den sozialdemokratischen Funktionären alle Mandate der 3. Wahlkurie zu erzielen – ein Monopol, das sie zwar 1908 verloren, aber 1911 neuerlich gewinnen konnten. Im Jänner 1911 wurde zudem der sozialdemokratische Gemeinderat Alois Ausobsky zweiter Bürgermeister-Stellvertreter. Graz war demnach die einzige Stadt in Österreich, in der die Sozialdemokratie bereits vor 1918 eine starke Vertretung erlangen konnte.55 Entsprechend dem lagerübergreifenden antisemitischen Diskurs in Graz ließen sich auch in der Sozialdemokratie seit den 1880er-Jahren entsprechende Anfeindungen gegen Juden/Jüdinnen feststellen. An sich waren in den Rängen der Parteifunktionäre nur wenige Juden/Jüdinnen vertreten, u. a. der Vater von Franz Schacherl, Dr. Michael Schacherl, der zunächst als Student in Wien kleinere Beiträge für den Arbeiterwillen verfasst hatte und später im Grazer Gemeinderat und im Steirischen Landtag für die Sozialdemokratische Partei vertreten war.56 Michael Schacherl wurde in seiner Funktion als Chefredakteur des Arbeiterwille nach der Niederlage der Sozialdemokraten bei den Reichsratswahlen 1901 zur Zielscheibe antisemitischer Anwürfe aus den eigenen politischen Reihen.57 Dennoch unterschied sich der Antisemitismus der Sozialdemokratie in vielen Punkten deutlich von jenem des deutschnational-völkischen Milieus, welcher an modernen Rassentheorien orientiert war. Antisemitische sozialdemokratische Diskurse richteten sich dahingegen vielmehr gegen ein finanzkräftiges, vermeintlich jüdisches Großbürgertum und griffen zumeist generalisierend Besitz und kapitalistische Ausbeutung an und weniger generell ein „Jüdisch-Sein“.58 Während die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu Beginn die Kriegsziele des Habsburgerstaates noch mittrug, begann sich in den letzten Kriegsjahren zunehmend eine starke Friedenssehnsucht bei den ArbeiterInnen durchzusetzen – nicht zuletzt aufgrund der starken Einschränkungen der Arbeiterinteressen durch die Kriegswirtschaft. Der März 1917 und die Revolution in Russland wurden nicht nur international zu einem Wendejahr der Arbeiterschaft, sondern entfalteten auch in der Steiermark eine beträchtliche Propagandawirkung.59 Besonders 1917/18 sowie in der unmittelbaren Nachkriegszeit sah sich die sozialdemokratische Parteileitung mit der Gefahr einer unkontrollierten Radikalisierung der ArbeiterInnen konfrontiert, schließlich war die Ernährungslage in Graz schrecklich, es herrschten Hunger, die Gefahr von Plünderung, Zerstörung und Gewalt. Dabei bestand nicht nur ein akuter Lebensmittelmangel, auch Rohstoffe für die Industrie fehlten und kurzfristig musste etwa das Werk in LeobenDonawitz aufgrund von Kohlemangel stillgelegt werden.60 224  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN „Tag des Kindes“, um 1930. Dieses jährlich stattfindende Fest wurde von den Kinderfreunden als Gegenveranstaltung zum katholischen Fronleichnam eingeführt.

Betrachtet man die Sozialdemokratie im Lauf der Zwischenkriegszeit, so lässt sich vor allem ein zentrales Spannungsfeld festhalten  : Während es einerseits zu einer fruchtbaren Ausdifferenzierung des Milieus kam (sichtbar in einem Schub an institutionellen Neuerungen wie der Einrichtung der Arbeiterkammern, einer kontinuierlichen Vertretung in politisch-demokratischen Gremien von Stadt, Land und Bund sowie einem ausdifferenzierten sozialdemokratischen Vereinsleben), nahmen andererseits die zunehmend auch gewaltsam ausgetragenen Konflikte mit den rechtskonservativen und faschistischen politischen Strömungen wie dem Heimatschutz des Judenburger Rechtsanwalts Dr. Walther Pfrimer kontinuierlich zu. Die Agitation von Pfrimer mündete im September 1931 im sogenannten Pfrimer-Putsch, der zwar mit seinem Ziel, die Republik zu beseitigen und eine Diktatur unter dem Zeichen der Heimwehrbewegung zu errichten, scheiterte  ; die zahlreichen Verhaftungen von Sozialdemokraten während des Putschversuchs erlaubten jedoch bereits einen Ausblick auf die Ereignisse von 1933/34.61 Die Sozialdemokratie fungierte seit dem Regierungsantritt von Dollfuß, nach Ausschaltung des Parlaments und der Demontage des Verfassungsgerichtshofs im März 1933 bald auch als Zielscheibe des autoritären Ständestaats. Schikanöse Hausdurchsuchungen nach Waffen in Arbeiterheimen, Parteisekretariaten, Konsumvereinen und Druckereien führten schließlich zur Aufstandsbewegung von Linzer Schutzbündlern am 12. Februar 1934, die rasch auf die Steiermark übergriff. Brennpunkte der Februarunruhen waren vor allem Graz, Eggenberg und Gösting sowie Teile der obersteirischen Industrieregion, vor allem um Bruck an der Mur. Nach Besetzung des Parteihauses der Sozialdemokratischen Partei, der Verhaftung prominenter Funktionäre der Partei und des Schutzbundes war der demokratische Aufstand in Graz am 14. Februar niedergeworfen, während in Bruck an der Mur die Unruhen wesentlich länger dauerten. Nach dem Februaraufstand durchlief eine Welle von Verhaftungen sozialde 

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mokratischer Funktionäre, die sowohl hohe als auch ganz niedrige Parteifunktionen eingenommen hatten, ganz Österreich, der eine Reihe von Gerichtsverhandlungen und Urteilen folgten.62 Bereits am 14. Februar 1934 war die Sozialdemokratische Partei verboten worden, alle Mandate waren ihr aberkannt und alle ihre Organisationen aufgelöst worden.63 Viele SozialdemokratInnen traten nun der neuen – illegal operierenden – Partei der Revolutionären Sozialisten bei, ein weiterer beträchtlicher Teil der ehemaligen Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei schloss sich der Kommunistischen Partei an. Der kommunistische Widerstand organisierte zunächst vor allem Hilfe für Verwandte von Verhafteten oder verfasste Flugschriften und Informationsmaterial gegen den faschistisch-autoritären Ständestaat, ab 1937 vor allem gegen die drohende Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland.64 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatten sich am rechten Murufer zentrale sozialdemokratische Institutionen, Einrichtungen und Vereine etabliert, nicht zuletzt sichtbar an den sozialdemokratischen Bauten wie dem 1911 in der Hans-Reselgasse/Ecke Strauchergasse errichteten Parteihaus der steirischen Arbeiterschaft, in dem die Parteileitung, die Tageszeitung Arbeiterwille und die Bruchdruckerei Vorwärts untergebracht waren. Unmittelbar neben dem Verlagsgebäude wurde von 1924 bis 1926 das Amtsgebäude der Kammer für Arbeiter und Angestellte errichtet, das auch als repräsentatives Symbol für den von der Arbeiterschaft errungenen sozialen und kulturellen Aufstieg und das neue Selbstbewusstsein der Sozialdemokratie fungierte. 1928 wurde ein Zubau errichtet, einerseits für das Hotel International, das 32 Einzel- und Doppelzimmer für ArbeiterInnen, ein Restaurant und ein Kaffeehaus umfasste, andererseits ein Volkshaus mit Fest-, Vortrags- und Versammlungssälen (Kammersaal) für rund 2000 Personen, Büros, einen Turnsaal sowie eine Bibliothek mit Lesesaal. 65 Der Bezirk Lend wies damit nicht nur eine äußerst hohe Dichte an sozialdemokratischen Institutionen und Organisationen auf, hier bündelte sich die räumliche Nähe zur Partei mit dem Lebenszentrum vieler Grazer ArbeiterInnen und dem vielfältigen sozialdemokratischen Vereinsspektrum, das von konservativen, weitgehend entpolitisierten Vereinen bis hin zu progressiven, auf Veränderung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft abzielenden Organisationen reichte. Letztere umfassten etwa den Freidenkerbund, die sozialdemokratischen Arbeiterjugendorganisationen oder die Kinderfreunde.66

1938 als biografischer und familiärer Bruch – Fremdzuschreibungen und gemeinsame Erfahrungslagen So unterschiedlich die Biografien von Alexander und Bruno Zerkowitz, Eugen Székely und Franz Schacherl bis 1938 auch verliefen – mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 waren alle Architekten bzw. ihre Familien vom nationalsozialistischen Terror, der Enteignung und Beraubung, Vertreibung und Verfolgung betroffen. Der biografische und familiäre Bruch, der sich an die Machtergreifung durch 226  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN

die Nationalsozialisten knüpfte, hatte zwei Dimensionen  : Zum einen wurden Juden/ Jüdinnen von den Nazis als die zu bekämpfenden Feinde ausgemacht, zum anderen erzwangen Letztere durch die im Gefolge der antisemitischen Konstruktionen gesetzten Maßnahmen gegen Juden/Jüdinnen gemeinsame Erfahrungslagen unter den Verfolgten. So ausdifferenziert jüdische Lebenswelten in Graz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch waren, für den Nationalsozialismus stellten Juden/Jüdinnen und das Judentum die zentrale ideologische Feindkategorie dar, ihre Vernichtung bildete gleichsam den Kern nationalsozialistischer Ideologien. Mit dem ‚Anschluss‘ 1938 setzte die NS-Politik zunächst die Zerstörung der ökonomischen und sozialen Lebensgrundlagen der Juden/Jüdinnen, die Vernichtung der religiösen und kulturellen Infrastruktur sowie die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung in Gang. Mit Kriegsbeginn 1939 und spätestens ab 1941 trat an Stelle der Vertreibung und Beraubung fortan die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung.67 Bereits unmittelbar mit dem ‚Anschluss‘ wurden antisemitische Grundhaltungen, Repressions- und Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden/Jüdinnen von den Nationalsozialisten gesetzlich verankert und führten zu Berufsverboten, Geschäftsschließungen, Schulverweisen oder der Ausweisung aus den Wohnungen, wobei alle diese Maßnahmen öffentlich verlautbart und unter den Augen der nicht-jüdischen Bevölkerung für alle sichtbar vollzogen wurden. Neben ersten Verhaftungswellen im März 1938, von denen vor allem auch Repräsentanten der jüdischen Gemeinde in Graz betroffen waren, kam es zur Zerstörung der Infrastruktur der Kultusgemeinde sowie der Vereine, zu ersten Beraubungsaktionen und „wilden Arisierungen“. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 schließlich gingen die Grazer Synagoge und die Zeremonienhalle auf dem jüdischen Friedhof in Flammen auf, jüdische Geschäfte wurden verwüstet, Grazer Juden/Jüdinnen misshandelt. Viele jüdische Männer wurden verhaftet und dann ins Konzentrationslager Dachau transportiert und nur unter der Bedingung wieder freigelassen, dass sie das Deutsche Reich binnen weniger Tage verließen. Damit begann für viele, vor allem auch noch in Graz anwesende Juden/Jüdinnen ein Wettlauf mit der Zeit, um die entsprechenden Ausreisepapiere zu erlangen. Vonseiten der NS-Behörden wurden verschiedene Maßnahmen gesetzt, um die Auswanderung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung zu forcieren – unter anderem, indem die Israelitischen Kultusgemeinden zur Mitarbeit gezwungen wurden. Im Rahmen des sogenannten „LislTransports“, der im Frühjahr 1939 unter Aufsicht der Gestapo durchgeführt wurde, gelang auf diese Weise 212 Grazer Juden/Jüdinnen die illegale Einreise nach Palästina.68 Mitte 1939 wurden die noch anwesenden Grazer Juden/Jüdinnen in Sammelwohnungen konzentriert und ab September 1939 nach Wien zwangsübersiedelt, wovon vor allem ältere Menschen betroffen waren. Für diejenigen, denen die Emigration auch von Wien aus verwehrt blieb, begannen ab Oktober 1939 und dann vor allem ab 1941 die Deportationen in die Vernichtungslager.69 Gerald Lamprecht hat jüngst darauf hingewiesen, dass sich die kollektivierende und entmenschlichende Perspektive des Nationalsozialismus auf die Juden/Jüdinnen in ho-

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hem Maß in jenen Quellen niederschlägt, welche die NS-Verfolgungsgeschichte dokumentieren. Die von den Nationalsozialisten generierten Akten und Quellenbestände zeichneten einerseits vorwiegend ein passives Bild der Juden/Jüdinnen, andererseits werden darin die Perspektive der jüdischen Opfer und ihre Reaktionen kaum oder überhaupt nicht sichtbar.70 Bis in die 1980er-Jahre lag auch der Fokus der historischen Forschung in erster Linie auf NS-Eliten und auf den strukturellen Rahmenbedingungen der NS-Verfolgungsgeschichte. Erst in den letzten Jahren gab und gibt es eine Vielzahl von Projekten, die neue Wege einschlagen, sei es, indem sie neue Quellenbestände erschließen,71 sei es, indem sie den Fokus verstärkt auf das Beziehungsgeflecht jüdischer und nicht-jüdischer Lebenswelten lenken und dabei sowohl Kontinuitäten als auch Brüche reflektieren.72 Diese Projekte verbindet der Blick auf jene Handlungs(spiel) räume, die Menschen vor und während der Zeit des Nationalsozialismus offenstanden und welche ihnen verwehrt waren.73 Sie berücksichtigen ein in hohem Maß ausdifferenziertes jüdisches Leben ebenso wie gemeinsame Erfahrungslagen, die sich erzwungenermaßen aus der NS-Verfolgungsgeschichte ergeben. Zugleich verweigern sie sich jedoch einer Verlängerung von Fremdzuschreibungen an Juden/Jüdinnen und Homogenisierungen jüdischer Geschichte und Biografien im Sinne der Logik der NS-Politik. Vor dem Hintergrund der folgenden biografischen Skizzen gilt es sich vor Augen zu führen, dass sich Alexander und Bruno Zerkowitz, Eugen Székely und Franz Schacherl im Spannungsfeld eines ausdifferenzierten, jüdischen Lebens sowie einer ausgeprägten zionistischen Szene in Graz im frühen 20. Jahrhundert einerseits und starken antisemitischen Traditionslinien in der Stadt andererseits positionieren mussten. Sie bewegten sich innerhalb, am Rand oder außerhalb der skizzierten sozialen, kulturellen und politischen Netzwerke. Ihr unmittelbares Lebensumfeld war von den starken räumlichen Grenzziehungen innerhalb der Stadt Graz geprägt und sie prägten dieses mit ihren Bauten zugleich wieder mit. So unterschiedlich ihre eigenen Biografien und die Lebensverläufe ihrer Familienmitglieder vor 1938 auch verliefen – durch die auf antisemitischen Konstruktionen basierenden Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen Juden/Jüdinnen erfuhren sie und ihre Familien mit dem ‚Anschluss‘ Verfolgung, Terror, Enteignung und Beraubung, Vertreibung und Vernichtung.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

Vgl. Gerald Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 8), Innsbruck–Wien–Bozen 2007. Vgl. ebenda, 189–214. – Vgl. Gudrun Reitter, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, in: Dieter A. Binder/Gudrun Reitter/Herbert Rütgen, Judentum in einer antisemitischen Umwelt. Am Beispiel der Stadt Graz 1918–1938, Graz 1988, 85–124. Vgl. Lamprecht 2007 (wie Anm. 1), 51. Vgl. ebenda, 11. Dieter-Anton Binder, Antisemitismus und Judentum, in: Binder/Reitter/Rütgen 1988 (wie Anm. 2), 2. Vgl. Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, UnSichtbar. NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Steiermark, Graz 2008, 26.

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN

  7 Helmut Berding hat dabei vor allem auf die Bruchlinien verwiesen, die dabei den modernen von einem früheren Antisemitismus trennen, nämlich die „politische Instrumentalisierung“ des Antisemitismus, eine neue „Mobilisierung der Massen“, eine „integrationsideologische Verwendung“ antisemitischer Rhetorik „in Interessens- und Berufsverbänden“ und schließlich die „Verschmelzung von rassentheoretischen und volkstumsideologischen Ideen […] in eine manichäische Weltanschauung“. Vgl. Helmut Berding, Antisemitismus in der modernen Gesellschaft: Kontinuität und Diskontinuität, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, 206. Vgl. Peter G. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Göttingen 2004, 46–47.   8 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die vielfältigen Konfliktpotenziale im ausgehenden 19. Jahrhundert in Zentraleuropa (also politischkulturelle, national und ethnisch argumentierende Strategien und Tendenzen der Selbstbehauptung, der Ausgrenzung und Xenophobie, Formen von Antisemitismus oder Antislawismus) generell als Reaktion auf die umfassenden Modernisierungsprozesse begriffen und zurückgeführt werden können auf eine verstärkte Wahrnehmung von Multiethnizität und -kulturalität sowie Vielsprachigkeit um 1900. Unter anderem bedingt durch Urbanisierung und Mobilität wurde kulturelle Heterogenität von breiten gesellschaftlichen Gruppen wahrgenommen und wurden davon ausgehend ausgrenzende, holistische Gegenentwürfe dazu entwickelt. Vgl. Moritz Csáky, Die Wiener Moderne. Ein Beitrag zu einer Theorie der Moderne in Zentraleuropa, in: Rudolf Haller et al. (Hg.), nach kakanien. Annäherungen an die Moderne (= Studien zur Moderne 1), Wien et. al. 1996, 78.   9 Vgl. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 7), 31. 10 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, 552, 540, zit. n. Pulzer 2004 (wie Anm. 7), 33. Klaus Holz hat in dem Zusammenhang auf einen Wandlungsprozess in den 1870er-Jahren hingewiesen, einen Umschwung in der semantischen Struktur des Antisemitismus. Seiner Ansicht nach verlagerten sich dabei antijüdische Positionierungen von einer kulturellen Differenz hin zu einer „Ethnisierung“. Holz nennt hier ein Strukturmuster, das grundsätzlich konstitutiv für nationale Diskurse ist, ein Denken in Dichotomien und scharfen Konfrontationskonturen, Strukturen von Einschluss/Ausschluss, Selbst- und Fremdbilder, wobei die ‚eigene Nation‘/das ‚eigene Volk‘ nicht nur ‚nach außen‘ abgegrenzt wird, sondern immer auch ‚innere Feinde‘ einer Nation ausgemacht werden. Vgl. Heidrun Zettelbauer, Die Liebe sei Euer Heldentum. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt a. M.–New York 2005, 177. – Vgl. auch George L. Mosse, Die Juden im Zeitalter des modernen Nationalismus, In: Peter Alter/Claus-Ekkehard Bärsch/Peter Berghoff (Hg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden (= Tagungsband des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Mercator-Universität – Gesamthochschule Duisburg), München 1999, 23, zit. n. Pulzer 2004 (wie Anm. 7), 32. 11 Binder 1988 (wie Anm. 5), 5. 12 Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 27. 13 Aus Angst vor russischen Pogromen traten viele Menschen aus Galizien und der Bukowina bereits zu Kriegsbeginn die Flucht in westlichere Teile der Habsburgermonarchie an. Bereits im August 1914 kamen erste Flüchtlingswellen in Wien an. Graz erreichten die ersten Flüchtlinge am 23. September 1914. Um die Versorgung gewährleisten zu können, wurde bereits 1914 ein Hilfsausschuss eingerichtet, der später als Einrichtung des Landes unter dem Ehrenschutz des Statthalters stand. Von den insgesamt 18 263 Flüchtlingen waren nur rund 11,6% jüdisch. Vgl. Reitter 1988 (wie Anm. 2), 67–69. – Nichtsdestotrotz entzündete sich an diesen ostjüdischen Flüchtlingen ein ausgrenzender antisemitischer Diskurs von Seiten der völkischen Presse sowie deutschnationalen PolitikerInnen und Vereinen. Vgl. etwa die Agitation des deutschnationalen Vereins Südmark, exemplarisch: Lina Kreuter-Gallé, Hauptrede, gehalten auf der Frauenversammlung, einberufen vom Deutschen Frauen-Bund Steiermarks, 15. Dezember 1917 (Graz), 1–14. 14 Zum Antisemitismus in Graz und der Steiermark siehe generell Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 28–29. – Vgl. Reitter 1988 (wie Anm. 2), 79. 15 Vgl. Reitter 1988 (wie Anm. 2), 82, 83. 16 Vgl. dazu Herbert Rütgen, Der Leopold Stocker Verlag von der Verlagsgründung bis 1938, in: Binder/Reitter/Rütgen 1988 (wie Anm. 2), 173–202. 17 Binder 1988 (wie Anm. 5), 5. 18 Ebenda, 3–4. 19 Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 28–29. 20 Der Verein Südmark war wohl einer der ersten, die den Ausschluss von Juden/Jüdinnen forcierten. Bereits 1899 erlaubte das sogenannte Troppauer Abkommen Juden/Jüdinnen gegebenenfalls die Aufnahme in die Ortsgruppen zu verweigern. Offiziell wurde der sogenannte „Arierparagraf“ 1921 eingeführt. Vgl. Zettelbauer 2005 (wie Anm. 10), 122–123. Einer der zentralen antisemitischen Agitatoren der Ersten Republik war der 1919 gegründete Deutsch-österreichische Schutzverein Antisemitenbund, der bereits 1919 vorwegnahm, was ab 1938 in Österreich durch Gesetze und Verordnungen durchgesetzt wurde – die Vertreibung von Juden/Jüdinnen aus der Gesellschaft. Vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 29. 21 Vgl. Zettelbauer 2005 (wie Anm. 10), 278–279, 283–286.

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22 Vgl. Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988, 207, zit. n. Pulzer 2004 (wie Anm. 7), 34. 23 Vgl. Pulzer 2004 (wie Anm. 7), 37. 24 Zur slowenischen Bevölkerung in Graz siehe: Christian Promitzer/Michael Petrowitsch, „Wes Brot du ißt, des Lied du singst!“ – Slowenen in Graz, in: Christian Stenner (Hg.), Slowenische Steiermark. Verdrängte Minderheit in Österreichs Südosten (= Zur Kunde Südosteuropas Band II/23), Wien–Köln–Weimar 1997, 167–234. 25 William H. Hubbard, Auf dem Weg zur Großstadt. Eine Sozialgeschichte der Stadt Graz 1850–1914 (= Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 17), Wien 1988, 25. 26 Heidemarie Uhl, „Bollwerk deutscher Kultur“. Kulturelle Repräsentationen nationaler Politik in Graz um 1900, in: Dies. (Hg.), Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900, Wien 1999, 39–82. 27 Hubbard 1988 (wie Anm. 25), 167–175. 28 Eduard G. Staudinger, Die Südmark. Aspekte der Programmatik und Struktur eines deutschen Schutzvereines in der Steiermark bis 1914, in: Helmut Rumpler/Arnold Suppan (Hg.), Geschichte der Deutschen im Bereich des heutigen Slowenien 1848–1941 (= Schriftenreihe des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 13), Wien– München 1988, 140. 29 Die vielen nebeneinander existierenden und zum Teil eng miteinander vernetzten völkischen Vereine dokumentieren, dass das deutschnationale Milieu eine sehr inhomogene politische Bewegung darstellte, die von verschiedensten Parteien und deren Vorfeldorganisationen getragen wurde. Vgl. Ernst Hanisch, Der lange Schatten. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (= Österreichische Geschichte), Wien 1994, 120–123. Das Einnehmen eines „nationalen“ Standpunkts macht dabei ein Paradox deutlich: „national“ heißt vor 1918 zumeist in hohem Maß antihabsburgisch, nach 1918 anti-österreichisch, beinhaltet also niemals eine positive Bezugnahme auf einen österreichischen Staat, sondern immer eine explizite Ausrichtung auf das Deutsche Reich hin bzw. konkrete Anschlussforderungen. Nach 1918 war die Berufung auf eine „deutsche Identität“ des Landes freilich parteiübergreifend, nicht nur im deutschnationalen Parteienspektrum. Aber es wäre gleichzeitig vollkommen verfehlt, von jeder Manifestation „nationaler Identität“, die mit dem Begriff „deutsch“ verbunden war, auf eine homogene politische Zielsetzung hinter dieser „deutschen Orientierung“ zu schließen. Im Gegensatz zu den politischen Konzeptionen der Sozialdemokratie oder der Christlich-Sozialen entstand nach 1918 mit der Großdeutschen Volkspartei (GDVP) und dem Landbund ein deutschnationales Parteienspektrum und zugleich eine Bewegung, die sich selbst als „national“ bzw. auch „völkisch“ bezeichnete und in der deutschnationale Forderungen (durchaus in Tradition der deutschnational-völkischen Vereine vor 1918) mit der Entwertung und Ablehnung des bestehenden Staates – oft auch seiner demokratischen Verfassung – verbunden wurden. Vgl. Johanna Gehmacher, Völkische Frauenbewegung. Deutschnationale und nationalsozialistische Geschlechterpolitik in Österreich, Wien 1998, 15–16. Die deutschnationale und antiklerikale GDVP wie der Landbund hatten den Anschluss Österreichs an Deutschland zu einem bestimmenden politischen Ziel gemacht, auch die österreichische Sozialdemokratie forderte bis 1933 den Anschluss und auch für die katholisch-konservativen Christlichsozialen stand der „deutsche Charakter“ des Landes außer Frage. Schließlich war auch antisemitische Rhetorik in verschiedenen politischen Spektren präsent, nicht nur in der alldeutschen Schönerer’schen Ausprägung, sondern massiv etwa auch in der Christlichsozialen Partei. Wenngleich es dabei vor allem auch darum ging, politische Gegner zu attackieren, so führte die beständige antisemitische Rhetorik verschiedener politischer Milieus nicht zuletzt dazu, schon lange vor dem Nationalsozialismus das Klischee vom „skrupellosen, lüsternen und revolutionären Juden fest im Bewusstsein der Bevölkerung“ zu verankern. Vgl. Bruce Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, 322, 324, zit. n. Pulzer 2004 (wie Anm. 7), 29. 30 Binder 1988 (wie Anm. 5), 5. 31 Vgl. Gehmacher 1998 (wie Anm. 29), 29. – Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, München 1967, 482–483. 32 Vgl. Gehmacher 1998 (wie Anm. 29), 29. 33 Vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 48. Vgl. Meinhard Brunner, Allgemeine politische und soziale Entwicklung von Graz 1850 bis 2003, in: Walter Brunner (Hg.), Geschichte der Stadt Graz 1: Lebensraum – Stadt – Verwaltung, Graz 2003, 215–310, hier 253, 258. 34 Vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 48–59. 35 Vgl. Zettelbauer 2005 (wie Anm. 10), 113–115. 36 Vgl. Reitter 1988 (wie Anm. 2), 26f, 69, 65. 37 Vgl. ebenda, 102–115. 38 Vgl. ebenda, 53. 39 Vgl. ebenda, 75, 112–113. 40 Vgl. Peter Teibenbacher, Räumliche Differenzierung in der Stadt Graz um 1900/1910, in: Helfried Valentinitsch/Friedrich Bouvier (Red.), Graz um 1900. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 27/28, hg. von der Stadt Graz, Graz 1998, 109–130, hier 109. 41 Vgl. Hubbard 1988 (wie Anm. 25), 20. 42 Ebenda, 32.

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43 Ebenda, 20, 41. Erst mit der neuen Heimatgesetzgebung von 1901 kam es bis 1910 zu einem sprunghaften Anstieg der „beheimateten“ GrazerInnen, ab 1910 war zudem die Nachkommengeneration der ZuwanderInnen erwachsen. 44 Ebenda, 42–43. 45 Ebenda, 43–44. 46 Vgl. ebenda, 45–46. Nahezu ausschließlich von ArbeiterInnen bewohnt waren auch die Vororte Eggenberg und Gösting. Zu den Grazer Stadtrandbezirken und Vororten vgl. Gerhard Dienes, Aus der Geschichte der ehemaligen Grazer Vororte von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Brunner 2003 (wie Anm. 33), 601–646; Karl A. Kubinzky, Die Stadtrandgemeinden und Stadtbezirke von 1850 bis zur Gegenwart im Überblick, in: Brunner 2003 (wie Anm. 33), 647–712, hier 650. Vgl. dazu auch Hubbard 1988, 47. 47 Vgl. Hubbard 1988, 46–47. 48 Teibenbacher 1998 (wie Anm. 40), 112, 120–124. – Lamprecht 2007 (wie Anm. 1), 70. 49 Hubbard 1988 (wie Anm. 25), 50. 50 Lamprecht 2007 (wie Anm. 1), 67–70. 51 Ebenda, 71–72. 52 Ebenda, 72–80, hier 80. 53 Vgl. Hubbard 1988 (wie Anm. 25), 126–127. 54 Vgl. ebenda, 130f. 55 Vgl. ebenda, 175–177. 56 Vgl. Alfred Wiedl, Sozialdemokratie um 1900, in: Robert Hinteregger/Karl Müller/Eduard Staudinger (Hg.), Auf dem Weg in die Freiheit. Anstöße zu einer steirischen Zeitgeschichte, Graz 1984, 111–112. – Vgl. Friedrich Kleinschuster, Geschichte der steirischen Arbeiterpresse „Arbeiterwille“ von Anfang bis zum 1. Weltkrieg, in: Hinteregger/Müller/Staudinger 1984 (wie Anm. 56), 137. 57 Wiedl 1984 (wie Anm. 56), 125. 58 Vgl. Ebenda, 112–113. 59 Vgl. Robert Hinteregger/Karin Schmidlechner/Eduard Staudinger, Für Freiheit, Arbeit und Recht. Die Steirische Arbeiterbewegung zwischen Revolution und Faschismus (1918–1938), Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Wanderausstellung 1984, Graz 1984, 16–17. 60 Vgl. Hinteregger/Schmidlechner/Staudinger 1984 (wie Anm. 59), 29. 61 Vgl. ebenda, 64–72, 68. 62 Vgl. ebenda, 88–93, hier 92. 63 Ernst Bruckmüller, Österreich-Lexikon 3, Wien 2004, 230. 64 Zum Widerstand der Arbeiterbewegung in der Steiermark vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 203–227. 65 Vgl. Antje Senarclens de Grancy, Architektur in Graz, Wien 2008, 28–30. 66 Vgl. den Beitrag von Heidrun Zettelbauer, Der Verein Freie Schule – Kinderfreunde in diesem Band. 67 Vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 130. 68 Vgl. ebenda, 130–149, 163f. – Vgl. auch den Beitrag von Gerald Lamprecht zum „Lisl-Transport“ in diesem Band. 69 Vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler 2008 (wie Anm. 6), 170. 70 Vgl. Lamprecht, „Hochverehrter Herr Reichskommissar!“ Aspekte nationalsozialistischer Herrschaftspraxis am Beispiel persönlicher Eingaben an Reichskommissar Bürckel. In: Zeitgeschichte 3/09, 148. 71 Vgl. Lamprecht 2009 (wie Anm. 70), 148 72 So etwa das Ausstellungs- und Vermittlungsprojekt „Das Dreieck meiner Kindheit“ in der Herklotzgasse in Wien. Vgl. Michael Kofler/Judith Püringer/Georg Traska (Hg.), Das Dreieck meiner Kindheit. Eine jüdische Vorstadtgemeinde in Wien, Wien 2008. 73 Heidrun Zettelbauer, Briefe, (Auto-)Biographien und Institutionen – theoretisch-methodische Annäherungen an die Erforschung regionaler NS-Herrschaft und Verfolgungspolitik, in: Zeitgeschichte 3/09, 143.

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Alexander Zerkowitz und seine Frau Jenny, um 1910

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN

Antje Senarclens de Grancy

ALEXANDER ZERKOWITZ (Wien 1860–1927 Graz)

Stadtbaumeister Alexander Zerkowitz gehörte in Graz seit der Jahrhundertwende zu den wichtigsten Bauunternehmern. Er konnte rasch im bürgerlichen Milieu der Stadt Fuß fassen und vertrat mit seinen Bauten um 1910 eine zurückhaltendelegante Richtung der Moderne. Sein Hauptwerk, die 1938 zerstörte jüdische Zeremonienhalle, war ein bedeutender Beitrag zur Grazer Architektur dieser Zeit. Zerkowitz’ Familie stammte ursprünglich aus Mähren. 1 Sein Vater Nathan wurde 1817 im jüdischen Viertel von Leipnik geboren und übersiedelte als junger Mann nach Prag. 1851 heiratete er die aus Prag stammende Franziska Kalmus und zog mit ihr nach Wien, wo Alexander 1860 als fünftes Kind der Familie zur Welt kam. Nathan Zerkowitz führte an mehreren Standorten in Wien und in Trauer-Album für Nathan Zerkowitz, 1907 Böhmen eine florierende Posamentriemanufaktur, wo unter anderem Goldstickereien für Armeeuniformen hergestellt wurden. 1873 erhielt er dafür ein Anerkennungsdiplom der Wiener Weltausstellung. Nathan Zerkowitz starb 1907 in Baden bei Wien, wo die wohlhabende Familie in der Alleegasse eine Villa besaß, und ist im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs begraben. Alexander Zerkowitz2 hat wohl seine Ingenieursausbildung in Wien absolviert. Er heiratete die aus dem ostböhmischen Nachod stammende Jeannette („Jenny“) Nettel (geb. 1860). Um 1885 übersiedelte er mit ihr nach Banja Luka in Bosnien, wo er als Bahnbaumeister im Brückenbau tätig war. Dort kamen fünf seiner sieben Kinder zur Welt  : die Zwillinge Oskar und Bruno (geb. 1889), Sylvia (geb. 1890), Berta (geb. 1892)  

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und Ernst (geb. 1894, gestorben im Jahr darauf und begraben auf dem jüdischen Friedhof in Graz). In Banja Luka war Zerkowitz auch Mitglied der ÖsterreichischUngarischen Israelitischen Kultusgemeinde. Im Jahr 1895 übersiedelte die Familie von Bosnien (laut Meldezettel von Sarajevo) nach Graz.3 Hier wurden die Kinder Fritz (geb. 1897) und Else (geb. 1898) geboren. In den ersten Jahren wechselte die Familie oft die Wohnadresse in den gutbürgerlichen Bezirken St. Leonhard und Geidorf, bis sie im September 1912 in das gerade fertiggestellte eigene Mehrfamilienhaus Humboldtstraße 33 einzog. Zerkowitz vertrat nicht nur beruflich als Ingenieur, sondern auch im Privatleben eine fortschrittsorientierte Haltung. Er verwendete bei seinen Bauten früh Eisenbeton, seine eigenen Häusern im Bezirk Geidorf verfügten über eine Zentralheizung, und er plante dort auch eine Jenny Zerkowitz, um 1890 (nicht ausgeführte) elektrische Liftanlage ein. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte er auch den Bau einer der ersten Grazer Tankstellen vor, vermutlich auf seinem eigenen Grundstück im Bezirk Geidorf. Bereits seit 1904 verfügte er über einen eigenen Telefonanschluss.

Integration und Anerkennung In Graz war Alexander Zerkowitz als Baumeister und Bauunternehmer mit den Arbeitsbereichen „Hochbau, Tiefbau, Wasserbau, Betonbau“ tätig, zunächst mit einem Bürositz in dem vom Wiener Architekturbüro Fellner und Helmer errichteten Thonethof in der damaligen Pfarrgasse 1/Ecke Herrengasse,4 später in der Körblergasse 23, und führte einen Zimmermeisterbetrieb in der Volksgartenstraße 26. Der Zimmerwerks- und Lagerplatz, wo Gerüsthölzer und Baumaterial der Firma aufbewahrt wurden, befand sich auf dem Grundstück Fabrikgasse 38 im Bezirk Gries. Im Grazer Adressbuch findet sich ab 1901 ein Eintrag Alexander Zerkowitz’, nicht nur – wie bereits seit 1896 – unter den Privatadressen, sondern jetzt auch in der Rubrik „Baumeister“. 234  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Die Zerkowitz-Kinder beim Musizieren

Alexander Zerkowitz, sitzend, 1. von links, rechts dahinter seine Frau Jenny in einem Kurort, um 1900  

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1904 erscheint in einer größeren Anzeige im Adressbuch erstmals der Titel „Stadtbaumeister“. Zerkowitz erwarb um 1910 ein Terrain im Bezirk Geidorf, einen Teil des ehemaligen Tschock’schen Parks, wo er selbst als Bauherr einen Häuserkomplex errichtete. Das sogenannte Tschock’sche Schlössl, Körblergasse 23, nutzte er zunächst als Büro für seine Bauunternehmung, ab 1919 vermietete er es dann an den antisemitischen Schulverein Südmark, der dort ein Schüler- und Studentenheim für „Söhne deutsch-arischer Familien“ einrichtete. Alexander Zerkowitz positionierte sich in Graz offenbar bewusst in bürgerlichnationalen Kreisen, in dieser Zeit kein Widerspruch zu seiner jüdischen IdentiArbeitsmappe der Firma Zerkowitz, um 1910 tät, wenngleich vonseiten antisemitischrassistischer Teile des Milieus Juden/Jüdinnen zunehmend ausgegrenzt wurden. Er war seit 1910 neben zahlreichen anderen Vertretern des gesellschaftlichen Lebens Mitglied des Vereins für Heimatschutz, der sich den Schutz der historischen Stadtbilder und die Weiterentwicklung der „heimischen“ Bauweise zum Ziel gesetzt hatte. Bei Anfragen in Bezug auf geeignete Grazer Bauunternehmen empfahl der Verein speziell Zerkowitz’ Firma,5 dessen Bauten in diesem Umfeld besonders geschätzt wurden. Noch Mitte der 1920er-Jahre, als der Heimatschutzverein bereits intensiv mit dem antisemitischen Schulverein Südmark kooperierte, scheint Zerkowitz auf Einladungslisten des Ersteren auf. Weiters war Zerkowitz auch Mitglied des Naturwissenschaftlichen Vereins für Steiermark, neben prominenten Persönlichkeiten wie Viktor Geramb, dem Referenten des Vereins für den Arbeitsbereich Anthropologie.6

Verankerung im jüdischen Milieu Alexander Zerkowitz zählte zu den wohlhabenderen Mitgliedern der Israelitischen Gemeinde in Graz und wurde von dieser aufgrund seiner Bautätigkeit und finanziellen Zuwendungen dankbar als Gönner und „Immerwährender Wohltäter“7 bezeichnet. Er und nach seinem Tod seine Witwe Jenny spendeten bis Ende der 1920er-Jahre regelmäßig hohe Summen für wohltätige Zwecke. Mitte der 1930er-Jahre wurden die Beträge dann 236  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Grundrisse des Erdgeschosses und der Galerie des Winterbetsaals im Erweiterungsbau der Grazer jüdischen Kultusgemeinde, 1913 Erweiterungsbau für das Schul- und Amtshaus der Israelitischen Kultusgemeinde, erste Entwurfsvariante, 1913

wesentlich geringer, vermutlich aufgrund gesunkener Einkünfte aus dem Baugeschäft. Darüber hinaus erschienen in den jüdischen Gemeindenachrichten kontinuierlich Werbeinserate der Baufirma. Dass sich die Familie mit dem jüdischen Milieu stark identifizierte, kann auch daran abgelesen werden, dass Alexanders Sohn Oskar, der ab 1906/07 an der Technischen Hochschule Bauingenieurswesen und danach an der Universität Medizin studierte, Mitglied der jüdischen Studentenverbindung Charitas war.8 Zerkowitz war quasi der Hausarchitekt der jüdischen Gemeinde in Graz. Für  

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Reparaturarbeiten der Synagoge9 wurde er ebenso hinzugezogen wie für die meisten Bauvorhaben, die vor allem in die Jahre von 1909 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges fielen. Das bedeutendste Projekt war dabei die 1910 eröffnete Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof im damals noch nicht zu Graz eingemeindeten Wetzelsdorf,10 einer der wichtigsten Grazer Kultusbauten der Zeit um 1900, mit dem die jüdische Gemeinde zudem ein selbstbewusstes Signal im öffentlichen Raum setzen konnte. Nachdem die Schülerzahl der israelitischen Volksschule 1912/13 stark gestiegen war, erhielt Zerkowitz 1914 auch den Auftrag für einen Zubau an das bisherige Amts- und Schulhaus am Grieskai, das in den 1890er-Jahren im Zuge des Synagogenbaus nach einem Entwurf von Max Katscher errichtet worden war. Die Pläne zum Zubau lieferte Zerkowitz kostenlos, auch bei der Bausumme war er zu Nachlässen bereit. Der Zubau umfasste im Erdgeschoss einen heizbaren Winterbetsaal mit Frauengalerie, mit zwei großen Rundbogenfenstern und einer Doppeleingangstür, und im ersten Stock darüber zwei Schulzimmer (für jeweils 50 bzw. 60 Kinder), die in unmittelbarer Nähe zu den zwei bereits bestehenden Schulräumen angeordnet waren.11 Am Außenbau hielt sich Zerkowitz dabei ganz an das stilistische Konzept des älteren, historistischen Backsteingebäudeteils.

Bauen für das Grazer Bürgertum Aufgrund der historischen Ereignisse in der NS-Zeit haben sich im Familienbesitz keine Unterlagen über die Bauprojekte der Firma Zerkowitz erhalten. Deshalb geht die Kenntnis bestimmter Arbeiten oft auf Zufallsfunde zurück. In der Familie hat sich zumindest die Erinnerung an Bauten für die Eisenbahn sowie an die Ausführung der Grazer Kaiverbauung zwischen Hauptbrücke und Keplerbrücke, die um 1900 in Angriff genommen wurde, erhalten. Bisher konnte jedoch noch kein konkreter Anhaltspunkt dafür gefunden werden. Einen Hinweis auf einen Zerkowitz’schen Bau gibt auch Friedrich Achleitner  : Er nennt Zerkowitz als Urheber eines Gebäudes des Kühlschiffs in der Brauerei in Leoben-Göss.12 Miteigentümer und Präsident der Gösser Brauerei war Leopold Löwy, Alexander Zerkowitz’ Schwager, ein Wiener Großindustrieller und Brauereibesitzer. Eine Reihe von weiteren Auftraggebern stammte aus dem bürgerlichen jüdischen Umfeld. Für den Besitzer des Tuchversandhauses Simon Rendi übernahm Zerkowitz die Bauausführung des Geschäfts- und Wohnhauses an der prominenten Adresse Joanneumring 5 sowie des Zubaus im Hof.13 Die Pläne des Haupthauses stammten von Leopold Theyer, der Architekturprofessor an der Grazer Technischen Hochschule war und zahlreiche großstädtische Wohn- und Geschäftsbauten des gerade neu entstandenen Gründerzeitviertels auf den ehemaligen Joanneumsgründen entworfen hatte. Nur wenige Jahre später beauftragte Simon Rendi wieder Alexander Zerkowitz  : Auf seinem Grundstück Keesgasse 7–11 ließ er 1912/13 zwei viergeschossige Wohnbauten errichten, mit glatten, sehr sparsam dekorierten Fassaden.14 Besonders interessant 238  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Magazin mit Eisenbetonkonstruktion für das Tuchversandhaus von Simon Rendi, im Hof der Häuser Keesgasse 7–11



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Übersichtsplan für die Verbauung der Tschock’schen Gründe, um 1910

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN

ist das Hofgebäude, wo Magazine und Arbeitsräume („Manipulationsräume“) für die Anfertigung von Musterkollektionen der Stoffe des Tuchversandhauses Rendi untergebracht wurden – ein frühes lokales Beispiel für eine Eisenbetonarchitektur, die sich an einem Nutzbau wie diesem früher als anderswo umsetzen ließ. Der Bau war mit einem Scheddach gedeckt und durch Oberlichten belichtet, im Inneren schuf eine Galerie zusätzlichen Arbeitsraum.15 Ebenfalls aus dem Kreis der jüdischen Auftraggeber stammte Hermann Öhler. Für die Firma Kastner & Öhler führte Zerkowitz 1912 das vom Wiener Architekturbüro Fellner & Helmer geplante Warenhaus in der Sackstraße aus.16

Verbauung der „Tschock’schen Gründe“ Sein größtes und ambitioniertestes, wenn auch fragmentarisch gebliebenes Bauvorhaben realisierte Zerkowitz in den Jahren 1910–1912 auf dem von ihm erworbenen, annähernd dreieckigen Areal im Bereich Grillparzerstraße, Humboldtstraße und Körblergasse.17 Geplant waren in geschlossener Verbauung 21 dreistöckige Wohnhäuser mit Vorgärten und Drei- bis Fünfzimmerwohnungen sowie kleineren Mansardenwohnungen, angeordnet um einen zunächst als Kinderspielplatz vorgesehenen Garten bzw. entlang der verlängerten und platzartig erweiterten Wastlergasse. Das groß angelegte Developerprojekt, das innerhalb weniger Jahre abgeschlossen sein sollte, wurde vom Grazer Gemeinderat begrüßt, da es den in der Stadt bestehenden dringenden Bedarf an Wohnungen zu decken half und darüber hinaus auch Arbeitsplätze schaffte  ; von den Anrainern wurde es hingegen zum Teil heftig bekämpft. Nur vier Häuser wurden tatsächlich ausgeführt, wahrscheinlich stoppte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges endgültig das Vorhaben. Die Wohnungen hatten einen für Grazer Verhältnisse hohen Standard und verfügten über eine (von einer Münchner Firma produzierte) Zentralheizung und ein Badezimmer. Während die Gebäude in der Grillparzerstraße verkauft wurden,18 behielt die Familie Zerkowitz das Haus Humboldtstraße 33 und bezog dort eine Wohnung. Die Fassaden der vier Wohngebäude zeichnen sich durch ruhige Flächen mit feinsinnig und sparsam eingesetztem plastischen Schmuck (zum Beispiel Puttenreliefs) und einer weitestmöglichen dekorativen Reduktion aus, wie sie zu dieser Zeit in Graz noch kaum zu finden war. Der damals noch relativ reformorientierte Verein für Heimatschutz empfahl, die weiter zum Bau anstehenden Neubauten in der Körblergasse formal an Zerkowitz’ Bauten anzupassen.19 So schrieb der Grazer Kunsthistoriker Walter von Semetkowski  : „Kräftige Gliederungen der Fronten durch breite Erkerausladungen, Terrassen u. dgl. lassen durch Licht und Schatten das Straßenbild beleben, die Eckbildungen ziehen das Auge angenehm auf sich, im ganzen lebt ein Ton von Freude und Wohnlichkeit, die nur die süddeutsche Architektur so ganz zu eigen hat.“20 Die Einreichpläne im Grazer Stadtarchiv tragen zwar nur Stempel und Unterschrift von Alexander Zerkowitz, aus anderen Quellen geht jedoch hervor, dass der Fassadenentwurf auf das Münchner Architekturbüro Stengel & Hofer zurückgeht  : Dieses pub 

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Schaubild der geplanten Verbauung entlang der Körblergasse

lizierte 1918 in der deutschen Zeitschrift „Moderne Bauformen“ die (auch im Grazer Stadtarchiv erhaltenen) Schaubilder des nur zum Teil ausgeführten Baukomplexes als „Studie zur Überbauung des Geländes Körbler- Humboldt- Grillparzergasse [sic  !]“21, und auch im Grazer Gemeinderat wurde von „einem Münchner Architekten“22 gesprochen. Wie und weshalb diese Beauftragung zustande kam, ist nicht bekannt.

Familie Zerkowitz – Opfer der Shoah Alexander Zerkowitz verstarb bereits im Jahr 1927,23 deshalb blieb ihm das grausame Schicksal seiner Familie erspart. Sein Grab befindet sich am Israelitischen Friedhof in Graz-Wetzelsdorf. Dort wurde 1938 in der Pogromnacht sein wichtigster und für die Grazer Stadtgeschichte bedeutendster Bau, die jüdische Zeremonienhalle, von den Nationalsozialisten in Brand gesetzt und zerstört. Das von Zerkowitz seinerzeit erweiterte Amtsund Schulgebäude der Israelitischen Kultusgemeinde am Grieskai wurde beschlagnahmt und 1939 in das „Amtsgebäude der HJ u. BDM Bannführung“24 umgewandelt. Zerkowitz’ Witwe, drei seiner Kinder und sein 83-jähriger Bruder Salomon wurden 242  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Eckhaus Grillparzerstraße/Humboldtstraße, Foto 1936

Eingang des Hauses Grillparzerstraße 4

Stiegenhaus, Grillparzerstraße 4



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Parte in einer Tageszeitung Grabstein von Alexander Zerkowitz auf dem Jüdischen Friedhof in Graz-Wetzelsdorf

von den Nationalsozialisten in verschiedenen Ghettos und Konzentrationslagern ermordet.25 Nur seine Kinder Oskar, Fritz und Elsa konnten sich durch ihre Flucht bzw. Emigration in die USA bzw. England retten, sein Enkel Claus überlebte mit seiner nicht-jüdischen Mutter in Graz. Am 13. Oktober 1941 wurde Alexander Zerkowitz’ Witwe Jenny von Graz nach Wien gebracht, laut Meldezettel in ein „Altersheim“ mit der Adresse Hohe Warte 32. Tatsächlich handelte es sich dabei um das ehemalige Israelitische Blindeninstitut und Altersheim in Döbling, dessen behinderte und gebrechliche BewohnerInnen ins Ghetto Theresienstadt nördlich von Prag deportiert wurden. So erging es auch Jenny Zerkowitz, die am 28. Juni 1942 mit dem Transport IV/2 nach Theresienstadt gebracht wurde, wo sie am 22. Dezember desselben Jahres 82-jährig starb. Alexander Zerkowitz’ Sohn Bruno, der das Bauunternehmen des Vaters übernommen hatte, wurde 1942 im KZ Jasenovac im heutigen Kroatien ermordet. Sein Zwillingsbruder Oskar hatte als Zahnarzt eine Praxis in der Friedrichstraße in Berlin geführt.26 Er emigrierte in die USA, wo er 1959 verstarb. Ihre Schwester Sylvia (seit 1919 verehelichte Flecker-Koenigstein) wurde im Februar 1941 in das Ghetto Opole Lubelskie in Polen deportiert (eine letzte Meldung vom Judenrat im Jänner 1942 berichtet, dass sie sehr krank sei). Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt, von Opole Lubelskie führten im Jahr darauf die Züge in die Vernichtungslager. Die unverheiratete Bertha, die in Wien als Klavierlehrerin gearbeitet hatte, wurde am 16. Jänner 1942 von Wien ins Ghetto in Riga (Lettland) deportiert, wo die Internierten Zwangsarbeit leisten mussten und mit einer hohen Sterblichkeitsrate konfrontiert waren. Ihr Todesdatum ist unbekannt. Fritz Zerkowitz, der als Arzt in Wien gearbeitet hatte, überlebte die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald27 und konnte schließlich in die USA emigrieren, wo er 1970 in Waterbury/Connecticut verstarb. Elsa Zerkowitz emigrierte 1939 von Wien nach England und lebte bis 1994 unverheiratet als Malerin und Keramikerin in 244  | 

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Anmerkungen   1 Für Informationen zur Geschichte der Familie Zerkowitz danke ich ganz besonders Dr. Claus Zerkowitz und Mag. Claudia Beiser. Weiters vgl. http://alfredhanscom.tripod.com/zerkowitz.pdf, Zugriff: 12. 1. 2009.   2 Der Nachname wird in den früheren Quellen auch Zerkovitz geschrieben.   3 Meldezettel von Alexander Zerkowitz in der Meldekartei im Grazer Stadtarchiv. Vgl. auch die Einträge zu den Familienmitgliedern in den Meldekarteien im Stadtarchiv und im Grazer Meldeamt im Städtischen Amtshaus.   4 Heute: Fischer-von-Erlachgasse. Vgl. Adressbuch der Stadt Graz, Graz 1900, 175.   5 Vgl. z. B. Stellungnahme des Vereins für Heimatschutz in Steiermark im Vereinsarchiv im Steiermärkischen Landesarchiv, Zl.377/1911.   6 Mitteilungen des Naturwissenschaftlichen Vereines für Steiermark, B. 64/65, 1929, X.   7 Spendenliste für den jüdischen Asylbau, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 3 (1910), Nr. 2, 1. März, 25.   8 Laut Hauptkatalog im Archiv der TU Graz hat Oskar Zerkowitz am 3. Oktober 1906 an der Bauingenieurschule der Technischen Hochschule immatrikuliert. Vgl. auch Harald Seewann, Die Jüdisch-Akademische Verbindung CHARITAS Graz 1897–1938. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf Grazer akademischem Boden (= Schriftenreihe des Steirischen Studentenhistoriker-Vereines 12), Graz 1986, 92.   9 Reparatur im Tempel, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 3 (1912), Nr. 3, 15. 5. 1912, 28. – Renovierungsarbeiten, in: Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz 7 (1932), Nr. 6, November. 10 Siehe die Beiträge zur Jüdischen Zeremonienhalle in diesem Buch. 11 Referent der Kultusgemeinde war bei diesem Projekt Präses Simon Rendi. Vgl. Amts- und Schulhauszubau, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 7 (1914), Nr. 1, 20. 1. 1914, 2–3. 12 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Kärnten. Steiermark. Burgenland, Salzburg–Wien 1983, 270. 13 Stadtarchiv Graz, Bauakt Joanneumring 5. 14 Pläne signiert und gestempelt: Alexander Zerkowitz, Juni 1912. Hier befanden sich in einer der Wohnungen ab 1928 bis zur Auflösung 1938 die vom Wiener Architekten Arnold Karplus gestalteten Räumlichkeiten der Loge des jüdischen Wohltätigkeitsvereins B’nai B’rith, dessen Vorsitzender Simon Rendi war. 15 Zur Benützung der Arbeitsräume vgl. Das Tuchhaus S. Rendi, Graz, Joanneumring, in: Neue Freie Presse, 6. 10. 1931, 9. 16 Vgl. Österreichische Kunsttopographie, Bd. 53: Die Kunstdenkmäler der Stadt Graz. Die Profanbauten des 1. Bezirkes. Altstadt, bearb. v. Wiltraut Resch, Wien 1997. 17 Grillparzerstraße 6 und 8 (1910/11), Humboldtstraße 31/Grillparzerstraße 4 und Humboldtstraße 33 (1911/12). – Vgl. Achleitner 1983 (wie Anm. 12), 386, 388–389. – Eva Lettl, Jugendstilarchitektur in Graz, Dipl.arb., Graz 2004, 81–83. 18 Das Haus Grillparzerstraße 4 wurde beispielsweise an den Rechtsanwalt Dr. Viktor Wutte verkauft. 19 Steiermärkisches Landesarchiv, Archiv Verein für Heimatschutz in Steiermark, Zl. 484/1913. 20 Walter von Semetkowski, Baufragen des dritten Bezirkes. Einige Notizen, in: Grazer Montags-Zeitung, 6. 2. 1911. 21 Moderne Bauformen 17 (1918), 131. 22 Das bestätigt auch ein Gemeinderatsprotokoll: „Wenn die Pläne auch von einem Münchner Architekten herrühren […]“. Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 10. Februar 1911, in: Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz, Nr. 5, 20. Februar 1911. Auch wenn es unter den Grazer Architekten und Baumeistern zahlreiche Kontakte nach Bayern gab, ist nicht bekannt, wie die Verbindung im konkreten Fall nach München hergestellt wurde. 23 Am 1. Jänner 1927. Er wurde am Israelitischen Friedhof in Graz begraben. 24 Stadtarchiv Graz, Bauakt Grieskai 58. 25 Informationen zur Verfolgungsgeschichte der Familie wurden folgenden Datenbanken entnommen: The Central Database of Shoah Victim’s Names, Yad Vashem – Israel. – Opferdatenbank der Shoah-Opfer des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes. 26 Vgl. Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in zahnmedizinischen Berufen – eine vorläufige Namensliste, http://www.vdzm.de/opferliste.htm. 27 Vgl. Paul F. Cummins, Musik trotz allem. Herbert Zipper – Von Dachau um die Welt, Wien 1993, 122. Fritz Zerkowitz war in den KZ Dachau und Buchenwald Zimmergenosse von Herbert Zipper, dem Komponisten des Dachauliedes. 1946 sagte er in seinem Exilort Waterbury/ Connecticut zu Zipper, „daß dessen Humor ihm geholfen habe, manche der dunkelsten und verzweifeltsten Stunden zu überleben.“



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BIOGRAFISCHE SKIZZEN

Croydon. Sie trug 1975 ihre ermordeten Familienmitglieder in die Liste der Opfer der Shoah in Yad Vashem ein.

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Anny und Bruno Zerkowitz mit ihrem Sohn Claus

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN

Antje Senarclens de Grancy

BRUNO ZERKOWITZ

(Banja Luka 1889–1942 Jasenovac)

Bruno Zerkowitz als Soldat

Anny und Bruno Zerkowitz in den 1930er-Jahren

Alexander Zerkowitz’ Sohn Bruno wurde am 2. März 1889 in Banja Luka geboren, übersiedelte mit seiner Familie 1895 nach Graz. Er war, wie ihn seine Frau später charakterisierte, „kein religiöser Jude, sondern ein kultureller, ein liberaler Jude, ein Freidenker“1 und scheint im Gegensatz zu seinen Eltern, die intensive Beziehungen zur jüdischen Kultusgemeinde pflegten, und zu seinem Zwillingsbruder Oskar, welcher der jüdischen Studentenverbindung Charitas angehört hatte, keinen engeren Kontakt zu jüdischen Kreisen gesucht zu haben. In der Familie Zerkowitz habe man, so die Erinnerung seiner Frau Anny, überhaupt nicht religiös gelebt  : „Sie hat Weihnachten gefeiert, es wurden die Angestellten beschenkt. Ich hatte nie das Gefühl, in einem jüdischen Haus zu sein.“ 1933 heiratete Bruno Anny, geb. Rappel (1905–1999), die wesentlich jünger war als er. Sie stammte aus einer nach eigener Aussage „sehr rechtsnational“ eingestellten  

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Baustelle des Margaretenbades, Grillparzerstraße, Frühjahr 1928

Grazer Familie, die aber nichts gegen die Heirat der Tochter einzuwenden hatte, und führte mit ihr eine glückliche Ehe. 1936, am 9. November, kam ihr Sohn Claus zur Welt, er blieb das einzige Kind des Ehepaares.

Baufirma und Badbetrieb Nach dem Tod des Vaters im Jänner 1927 übernahm Bruno Zerkowitz das gut eingeführte Baugeschäft, dessen Inhaberin jedoch seine Mutter Jenny blieb. Ehemalige Angestellte erinnerten sich später, dass die Firmenleitung mit ihren Mitarbeitern sehr gut umgegangen sei.2 Wichtigstes Bauprojekt, bei dem die Familie Zerkowitz zudem auch Bauherrin war, stellte das Margaretenbad3 auf dem eigenen, nach dem Stopp der Bautätigkeit nach 1912 unverbaut gebliebenem Grundstück in der Grillparzerstraße dar. Damit konnte ein weiterer Teil des Areals kommerziell ausgenützt werden. Nach einer Umwidmung des Grundes wurde 1927 Architekt Eugen Székely, der gerade nach einem mehrjährigen Arbeitsaufenthalt in Griechenland wieder nach Graz zurückgekommen war, mit den Planungen beauftragt.4 1928 wurde das Bad eröffnet und entwickelte sich schon bald zu einem beliebten städtischen Erholungs- und Freizeitort. Die Bauunternehmung und der Zimmermeisterbetrieb Zerkowitz wurden bis zur „Arisie248  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Inserat im Adressbuch der Landeshauptstadt Graz, 1933

rung“ nach 1938 weitergeführt, über das Freibad-Projekt hinaus sind jedoch keine konkreten Bauvorhaben der Firma in diesen Jahren bekannt. Die Haupteinnahmequelle der Familie scheint sich zunehmend auf den Badebetrieb des Margaretenbades und des zugehörigen Badebüffets verlagert zu haben. Zumal auch die Familie ab Ende Bruno Zerkowitz mit seiner Familie im Margaretenbad, Sommer 1937 der 1920er-Jahre immer stärker den Antisemitismus der GrazerInnen zu spüren bekam, wie unter anderem bereits im Jahr 1929 ein Aufruf im NS-Blatt „Grazer Nachrichten“ belegt, der auch das Bauunternehmen Zerkowitz unter den von „Deutschen“ zu boykottierenden Gewerbebetrieben auflistet.5 1937 wurde ein antisemitisch motivierter Brandanschlag auf das Margaretenbad verübt, wie sich Brunos Witwe Anny 1988 in einem Interview erinnerte.6

Nach 1938 In der Rückschau kam Anny Zerkowitz zu dem Schluss, dass ihr Mann Bruno trotz seiner positiven Lebenseinstellung in Bezug auf den immer aggressiver werdenden Antisemitismus wohl Vorahnungen hinsichtlich der kommenden Ereignisse gehabt haben musste. Auf den Kinderwunsch seiner Frau hin habe er zunächst gemeint, „daß man in ‚solchen Zeiten‘ keine Kinder auf die Welt setzen dürfe … Aber dadurch, daß er ja in nationalen Kreisen verkehrte und diese Kreise natürlich für den Anschluß waren, hatte mein Mann vielleicht seine eigene Gefahr nicht erkannt oder erkennen wollen.“7 Bruno Zerkowitz fühlte sich in seinem Grazer Umfeld fest verankert und teilte nicht die Ideen des Zionismus, die in Graz im jüdischen Milieu seit Jahrzehnten heftig diskutiert wurden. Obwohl er den Ernst der Lage nach dem „Anschluss“ im Gegensatz zu seinen Freunden aus den nationalen Kreisen („sie waren natürlich alle begeistert … da gab es keine traurigen Menschen“8) zu erkennen schien, kam für ihn eine Auswanderung, etwa nach Israel, nicht in Frage.  

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In der Reichspogromnacht am 10. November 1938 wurde Bruno Zerkowitz um 4 Uhr früh von der Gestapo abgeholt, gemeinsam mit rund 300 weiteren männlichen Grazer Juden zum Polizeigefängnis geschleppt und zunächst ins KZ Dachau expediert,9 wo er schweren Misshandlungen ausgesetzt war. Nach drei Monaten gelang es seiner Frau, ihn wieder nach Graz zu holen. Ab diesem Zeitpunkt hat Anny ihren Mann immer nur mehr stundenweise gesehen. Der Grund- und Immobilienbesitz der Familie, darunter auch das Margaretenbad, wurde ab 1939 „arisiert“. 1940 musste Bruno Zerkowitz nach Claus Zerkowitz, 1947 Jugoslawien emigrieren. Dort kam er wie viele andere Grazer Juden ins KZ Jasenovac im heutigen Kroatien, wo er am 24. Februar 1942 erschossen wurde. Sein kleiner Sohn Claus (geboren am 9. November 1936) war 1938 zum Schutz vor den Nazis katholisch getauft worden. Als „Arierin“ und aufgrund ihrer Kontakte zu nationalen Eliten überstand Anny Zerkowitz gemeinsam mit ihrem Sohn relativ unbeschadet den Krieg und die NS-Zeit in Graz in einer Mietwohnung in der Wastlergasse 8, wo bis zu ihrer Deportation auch Brunos Mutter Jenny wohnhaft war. Nach der Restitution eines Teils des Immobilienbesitzes bezogen Anny und Claus Zerkowitz im Oktober 1946 wieder ihr Haus in der Humboldtstraße 33.

Anmerkungen 1 Ich muß jetzt unterbrechen, das strengt mich alles zu sehr an … Anni Zerkowitz, in: Elfriede Schmidt, 1938 … und was dann?, Thaur 1988, 262. 2 Mündliche Mitteilung von Dr. Claus Zerkowitz am 7. 7. 2009. 3 Siehe dazu die Beiträge zum Margaretenbad in diesem Buch. 4 Eugen Székely und Brunos Bruder Oskar Zerkowitz kannten einander von der jüdischen Studentenverbindung Charitas her. 5 Deutsche! Kauft bei deutsch-christlichen Geschäftsleuten!, in: Grazer Nachrichten der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung), 23. 3. 1929, o. S. 6 Anny Zerkowitz im Interview, Schmidt 1988 (wie Anm. 1). 7 Ebenda. 8 Ebenda. 9 „Fast alle Männer wurden sodann ins Polizei-Gefängnis geschleppt und am nächsten Tag mittels Sonderzug nach Dachau expediert. Nur ganz wenige, die außerhalb Graz in die Wälder flüchten konnten, sind von den Torturen verschont geblieben. Später sind die meisten Juden aus Dachau wieder nach Graz zurückgeschickt worden, von denen dann ein größerer Teil allmählich auswandern konnte.“ Aus: Bericht der israelitischen Kultusgemeinde Graz betreffend den Novemberpogrom 1938 in Graz, 29. 4. 1946, HHStA, Unveröffentlichte Manuskripte für das Rot-Weiß-Rot-Buch, DÖW 8342. Vgl. Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, UnSichtbar. NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008, 144.

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Brief von Anny Zerkowitz an das Grazer Stadtbauamt, 1. März 1946



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Eugen Székely

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN

Antje Senarclens de Grancy

EUGEN SZÉKELY

(Budapest 1894–1962 Haifa) In der kulturell konservativen und traditionsorientierten Steiermark der Zwischenkriegszeit war Eugen Székely1 nicht nur einer der profiliertesten und aufgeschlossensten Vertreter des Neuen Bauens mit bereits internationaler Arbeitserfahrung (Berlin, Athen), sondern gehörte zunächst auch – trotz des wachsenden Antisemitismus – zu den anerkanntesten Architekten. Bereits früh erhielt er für seine Arbeit mehrere hohe Auszeichnungen, darunter den Staatspreis (1927), die Goldene Medaille für die Verdienste um die Republik (1928) und die Silberne Kunstmedaille der Stadt Graz (1932). Von seinen wichtigsten Grazer Bauten sind Annonce des väterlichen Wäschegeschäftes im Adressbuch der nur wenige noch zumindest im Kern oder Landeshauptstadt Graz, 1920 fragmentarisch erhalten. Während seine Bautätigkeit relativ gut belegt werden kann, ist über seine Persönlichkeit nur sehr wenig bekannt, da weder Tagebücher noch Erinnerungen von ZeitgenossInnen erhalten sind. Einige Hinweise deuten zumindest auf seine politische Nähe zum sozialdemokratischen Lager,2 enge Kontakte zur jüdischen Gemeinde und eine starke Affinität zum zionistischen Gedanken hin. Eugen Székely wurde am 3. August 1894 in Budapest geboren, dort kamen auch seine Geschwister Ella (1896) und Georg (1898) zur Welt. Die Familie übersiedelte 1898 zu den Großeltern mütterlicherseits, die ursprünglich ebenfalls aus Ungarn (Zuständigkeit  : Körmend) stammten, nach Graz. 1900 wurde hier der Bruder Fritz geboren. Eugens Vater, Sigmund Székely (1866–1912), übernahm in Graz um das Jahr 1899 ein großes Leinen- und Wäschegeschäft für den gehobenen Bedarf am Joanneum­ring 6, das seine Mutter Paula, geb. Kohn, nach dessen Tod3 weiterführte.4 Den Lebensmittelpunkt der Familie bildete das Wohnhaus Maygasse 13 im Bezirk Jakomini. Eugens Schwester Ella starb 1925, sein Bruder Georg, ein Techniker, war Gesellschafter der  

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Elektrotechnikfirma KOMEG und führte in der Überfuhrgasse einen Betrieb für „Kunstgewerbliche Holzindustrie“ bis zu dessen „Arisierung“.5 Fritz war als Kaufmann tätig. Von beiden Brüdern ist, nachdem sie laut Meldezettel 1938 Österreich verlassen haben, nichts Weiteres mehr bekannt. Eugen Székely maturierte im Jahr 1912 an der k.k. Staats-Oberrealschule in der Keplerstraße. Als Leutnant der österreichisch-ungarischen Armee nahm er am Ersten Weltkrieg teil und wurde 1915 „in Anerkennung tapferen Verhaltens vor dem Feinde“6 vom k.k. Kriegsministerium mit der bronzenen Verdienstmedaille ausgezeichnet.7

Studium in Graz und Berlin Ab dem Wintersemester 1913 studierte Székely – unterbrochen durch seinen Kriegseinsatz – an der Hochbau-Schule der Grazer Technischen Hochschule. Im Juli 1921 schloss er dort sein Architekturstudium mit der II. Staatsprüfung ab. 8 Seine in den 1850er-Jahren geborenen Lehrer gehörten noch einer Generation an, die zeitlebens dem Historismus verpflichtet blieb, und richteten ihre Lehre deshalb auch noch ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts auf die Beschäftigung mit den historischen Stilen und der Ornamentik aus.9 Wilhelm Löw unterrichtete bis 1924 das Fach Baukunst, von den antiken Hochkulturen bis zur Gotik, sowie Baustil- und Formenlehre. 10 Leopold Theyer, Professor für Hochbau bis 1923 und einer der wichtigsten Grazer Architekten der gründerzeitlichen Stadtbebauung, hatte die Baukunst ab der Renaissance übernommen.11 Erst nach Székelys Studienabschluss sollte es zur Studienreform um Friedrich Zotter und Julius Schulte kommen, die Raum für die internationalen Tendenzen der modernen Architektur bot. Entscheidend für Székelys weitere Entwicklung war deshalb seine Aufnahme in die Akademie der Künste in Berlin im Herbst 1921, wo er bis zum Frühjahr 1923 studierte.12 Im Meisteratelier für Architektur von Hans Poelzig (1869–1936), der pro Semester nur rund sechs Schüler betreute,13 war er nicht nur mit einem charismatischen Lehrer konfrontiert, sondern auch mit den Vorstellungen eines Architekten, der in den Jahren zuvor Vorsitzender des Deutschen Werkbundes gewesen war und zu den wichtigsten Vertretern der deutschen Avantgarde gehörte. „Wenn eine Architekturschule es erreicht, daß die Schüler den Möglichkeiten des heutigen Schaffens unbefangen gegenüberstehen, ohne Scheuklappen traditioneller oder modernistischer Färbung, so ist wohl alles erreicht, was erstrebt werden kann“14, schrieb Poelzig über seine Lehrtätigkeit an der Akademie. Alle zwei Wochen ließ er seine Studenten Stegreifentwürfe durchführen, die dann von den Studienkollegen gegenseitig beurteilt und von ihm selbst schließlich einer Schlusskritik unterzogen wurden.15 Das Charakteristikum seiner Ausbildung war der praxisorientierte Unterricht, die fortgeschrittenen Studenten erhielten Gelegenheit, sich an Projekten des Lehrers zu beteiligen. 254  | 

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So arbeitete Székely bereits in den ersten Monaten nach Studienbeginn an zwei berühmten Entwürfen Hans Poelzigs mit  : jenem für das Festspielhaus Salzburg (1920/21), ein Projekt, das nach der Grundsteinlegung 1922 in der folgenden Inflationszeit nicht mehr realisiert werden konnte, sowie am Wettbewerbsentwurf für das Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße, Berlin-Mitte (1921/1922), einem 22-stöckigen Bau auf dem Grundriss eines sphärischen Dreiecks.16 In Poelzigs Meisteratelier lernte er Harry Rosen­thal kennen, mit dem er nach beider Emigration in Haifa/Palästina kooperieren sollte. In Berlin gewann er nach seinem Studium erste Berufserfahrungen als Planer und Bauleiter für private Bauherren. Vermutlich noch in der Berliner Zeit entstanden ist der Entwurf für eine Synagoge,17 wovon ein Lehmmodell in der ersten Ausstellung der neu gegründeten Sezession Graz (1924) gezeigt und von der lokalen Presse kritisch aufgenommen wurde. Beanstandet wurde, dass der Bau „die eigenartige Form eines vielfach durchlöcherten Sturmhelms [habe]. Vielleicht hat der Künstler bei der geballten Form an die konzentrierende Kuppelwucht russischer Kirchen gedacht“18. Möglicherweise stand der Entwurf in Beziehung zu Hans Poelzigs Entwurf für das Salzburger Festspielhaus, an dem Székely mitgearbeitet hatte.

Praxis in Griechenland Nachdem sich Eugen Székely ab März 1924 kurzfristig wieder in Graz aufgehalten hatte, nahm er im November desselben Jahres eine Stelle als Bauleiter in Athen an. Während des dreijährigen Arbeitsaufenthaltes in Griechenland bei der Baufirma Tekton Bau A.G. entstanden verschiedene Privatbauten und ein Krankenhaus. Ein Entwurf für die Mühle in Keratsini19 zeigt, dass sich Székely im Rathaus Chania, Entwurf, um 1925 Industriebau schon früh eine sachlichreduzierte, kubische Bauweise, die später unter dem Begriff Internationaler Stil zusammengefasst wurde, wählte. Bei anderen Beispielen wie dem Entwurf für das Rathaus der Stadt Chania auf der Insel Kreta20 erweist sich hingegen, dass er wie viele andere Architekten seiner Generation bei repräsentativeren Bauten auch in einer klassizistisch-monumentalen Formensprache zuhause war.21 Während seines Aufenthaltes in Griechenland, von dem er zahlreiche Landschaftsund Architekturskizzen nach Graz mitnehmen sollte, beteiligte sich Székely auch an archäologischen Grabungen. Im Herbst 1925 ermöglichten die Spenden österreichi 

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Entwurf für eine Mühle in Keratsini, Griechenland, um 1925

scher Großindustrieller eine Grabung in Aigeira an der Nordküste des Peloponnes.22 Unter Leitung von Otto Walter vom Österreichischen Archäologischen Institut in Athen und unter Mitwirkung von Hans Möbius vom Deutschen Archäologischen Institut wurden einige Gebäude, darunter ein Zeustempel und ein Theater, untersucht und von Székely aufgemessen und dokumentiert.

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Ab 1927 war Székely wieder in Graz und richtete ein Büro in der Heinrichstraße 10 ein. Seine profunde Ausbildung, die mehrjährige Berufspraxis und seine gute Vernetzung ermöglichten ihm schon bald, als selbstständiger Architekt Fuß zu fassen (ab 1932 führte er den Titel eines Zivilingenieurs) und sich auch an der Diskussion um die internationalen Tendenzen der modernen Architektur zu beteiligen, etwa im November 1927 in einem Aufsatz in der sozialdemokratischen Zeitung „Arbeiterwille“ über „Baukunst in der Gegenwart“  : „Und weil unsere Zeit aus politischen und damit wirtschaftlichen, aus technischen und sozialen Ursachen von Grund aus die Lebenspraxis verändert hat“, schrieb er in diesem Beitrag, „ist es vor allem die Baukunst, die diesen neuen Voraussetzungen gerecht werden muß.“23 Im konservativen kulturellen Klima in Graz um 1930 war Székely ein überzeugter Vertreter des Neuen Bauens, auch wenn er sich den zeitgenössischen Versuchen, eine „bodenständige“ und „traditionsverbundene“ Moderne zu etablieren, nicht völlig entziehen konnte oder wollte. Bereits kurz nach seiner Rückkehr aus Griechenland beteiligte er sich auch neben Kollegen wie Viktor Badl, Fritz Zotter, Fritz Haas und Laurenz Schweighofer an der Ausarbeitung von Detailplänen für den neuen, vom Ortsverband Graz der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs verfassten Verbauungs- und Regulierungsplan für Graz, dessen Durchführung 1925 von der Stadtgemeinde beschlossen worden war. Dieser Plan sollte „insbesondere für die in den letzten Jahren bevorzugte neuzeitliche Siedlungs-Kleinbauweise die notwendige planliche Vorbereitung und Regelung schaffen“24. „Liebe und Verehrung für das gute Alte“ sollten „mit der Notwendigkeit der Erfüllung der neuzeitlichen Erfordernisse zusammengehen  ; Alt- und Neu-Graz werden nicht feindliche Gegensätze sein, sondern die Glieder einer gesunden Entwicklungsreihe aus einer wertvollen Vergangenheit in eine wertvolle Zukunft  !“25. Zu diesem Zweck wurden Wettbewerbe durchgeführt. Székely erhielt den III. Preis für einen Plan des Viertels um den Jakominiplatz mit der Neuaufstellung der Mariensäule (Projekt „Platzgruppe“). In einem weiteren Projekt (Motto „Ziel und Zweck“) beschäftigte er sich mit dem Altstadtgebiet der Bezirke Lend und Gries. Gemeinsam mit Fritz Haas26 und Franz Heigl erarbeitete er auch einen Verbauungsplan für die Gemeinde Liebenau, die damals noch nicht zu Graz gehörte.27

BIOGRAFISCHE SKIZZEN

Grazer Verbauungsplan

Bau- und Planungstätigkeit um 1930 Die Jahre um 1930 waren höchst arbeitsreich. Einigen der wichtigsten Projekte dieser Zeit – dem Arbeitsamt Graz, dem Margaretenbad und der Stadtrandsiedlung Amselgasse – sind in diesem Buch eigene Kapitel gewidmet. Neben mehreren Großbaustellen in Graz beteiligte Székely sich auch an Wettbewerben im In- und Ausland. Den ersten größeren Bauauftrag in Graz bedeutete 1927/28 das Margaretenbad, ein Freibad  

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Unterkunftshaus Quiddelbacherhöhe, Entwurf, 1932

in der Grillparzerstraße, das Bruno Zerkowitz in Auftrag gab und ausführte.28 Die hier gewonnenen Erfahrungen mit dieser Bauaufgabe konnte Székely dann auch bei dem Folgeauftrag für das ebenfalls ganz als Holzkonstruktion errichtete Freibad in PerneggKirchdorf einsetzen. Von mehreren Entwürfen und Wettbewerbsbeiträgen aus dieser Zeit sind kaum mehr als Jahreszahl und Benennung bekannt, so von einem „Wörthersee-Wettbewerb“ (vermutlich für ein Strandcafé), weitere Projekte waren die Entwürfe für einen Zentralautobusbahnhof und ein Geschäftsportal.29 Im März 1933 stellte er das Wettbewerbs­ projekt für ein 58-Betten-Unterkunftshaus auf der Quiddelbacher Höhe in RheinlandPfalz fertig, bei dem er sich an den zeitgenössischen Entwürfen für alpine Hotels mit querliegender Holzverschalung und Pultdach orientierte. Ein Schwerpunkt der Arbeit von Eugen Székely war die Planung von öffentlichen Gebäuden, bei seinem Lehrer Hans Poelzig hatte er sich bereits mit einem Theaterbau auseinandergesetzt. Das erste Projekt war 1928 sein Wettbewerbsbeitrag für das Grazer Künstlerhaus, das im lokalen Kulturmilieu bereits seit Jahrzehnten gefordert und anlässlich der groß aufgezogenen 800-Jahr-Feier der Stadt Graz wieder diskutiert wurde. Das bestehende Thalia-Gebäude sollte umgebaut und erweitert werden und mehrere Ausstellungs- und Vortragssäle aufnehmen.30 Székelys 1930 überarbeiteter Vorschlag 258  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Überarbeiteter Wettbewerbsentwurf für das Grazer Künstlerhaus, Februar 1930

sah an der Hauptfassade einen dreiteiligen Eingangsbereich und ein abstrahiertes Tempelmotiv mit Dreiecksgiebel vor. Tatsächlich realisiert wurde ein anderer öffentlicher Bau  : das Arbeitsamt Graz, das Székelys Hauptwerk werden sollte und dem Aufträge für kleinere Städte folgten.31 Der kubische, flach gedeckte Nutzbau gehörte um 1930 gemeinsam mit dem StadtwerkeGebäude von Rambald Steinbüchel-Rheinwall – auch er war wie Székely ehemaliger Schüler und Mitarbeiter von Hans Poelzig – zu den progressivsten öffentlichen Bauten in Graz. Ein weiterer wichtiger Auftrag war das Kaufmännische Sanatorium in Eggenberg (1930), ein 100-Betten-Bau, bei dem es sich um den Umbau einer Villa der Zeit nach 1900 und einen flach gedeckten Anbau handelte. Eine besonders komplexe Aufgabe war der (nicht realisierte) Wettbewerbsentwurf für die Bezirkskrankenversicherungsanstalt in Bratislava (Nova ulica, um 1930). Auf drei Etagen mussten Räume mit unterschiedlichsten Anforderungen im Grundriss funktionell um einen Hof angeordnet und über Stiegenhäuser erschlossen werden  : Warteräume, Untersuchungs- und Therapieräume, Laboratorien, Räume für die Administration und Einzahlung der Versicherungsbeiträge, Lagerräume für Prothesen, Arbeitskleidung etc. Die Stockwerke darüber sollten Wohnungen und Reserveräume umfassen, was an der kleineren Fenstergröße ablesbar sein sollte. Székely wählte dazu  

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Um- und Zubau des Sanatoriums Eggenberg, Graz, 1931–1933

die Formensprache des Internationalen Stils, mit dynamisch abgerundeten Fassadengliederungen, breiten Fensterbändern und einem flachen Dachabschluss. Aufgrund der drückenden Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg war der Wohnbau eine der zentralsten Problemstellungen der Architektur der Zwischenkriegszeit. Auch Székely beschäftigte sich immer wieder mit dem Bau von freistehenden Wohnhäusern. Dabei fällt auf, dass er für diese Bauaufgabe nur Häuser mit traditionellen Steildächern und konventionellen Formen entworfen hat – im Gegensatz etwa zu seinem jüngeren Kollegen Herbert Eichholzer, der zur selben Zeit alle seine Einfamilienhäuser nach dem Vorbild Le Corbusiers mit Flachdächern abschloss. Bereits aus dem Jahr 1928 sind Pläne für eine „Kleinhaus-Eigenheimsiedlung“ mit Doppelwohnhäusern erhalten, die vermutlich nicht umgesetzt wurden. Ebenfalls nicht zur Umsetzung kam das 1930 für private Auftraggeber, das Ehepaar Gottfried und Emma Hechtl, geplante Einfamilienhaus in Graz-Kroisbach am Dr. Eckener-Weg, das sich kaum von den konservativen Entwürfen seiner Kollegen im Steiermärkischen Werkbund unterschied.32 Ein groß angelegtes Projekt war 1932/33 die Planung einer Stadtrandsiedlung für Erwerbslose mit ihren Familien in der Amselgasse nördlich des Grazer Zentralfriedhofes im Auftrag der sozialdemokratisch orientierten Gemeinnützigen Bau- und Wohnungsgenossenschaft für Steiermark. Diese sollte mit finanzieller Unterstützung durch die staatliche Randsiedlungsaktion dazu beitragen, den Wohnungsmarkt zu entlasten 260  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Entwurf für die Bezirksversicherungsanstalt Bratislava, Nova ulica

Entwurf für eine Kleinhaus-Eigenheimsiedlung, Kombinationsmöglichkeiten der Haustype A für zwei, vier und sechs Familien, Juli 1928  

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Entwurf für ein Wohnzimmer, kolorierte Tuschzeichnung, um 1930

Schreibtisch und Sessel, um 1930, wahrscheinlich zur Einrichtung des Sanatoriums Eggenberg

Kaminverkleidung, Keramiken von Hans Adametz (Professor an der Bundeslehranstalt für das Baufach und Kunstgewerbe)

Kachelofen, um 1930

und die Massenarbeitslosigkeit einzudämmen.33 Zwölf giebelständige Doppelhäuser mit ausgebautem Dachgeschoss und jeweils rund 1000 m2 Grund für Kleintierhaltung und Gemüseanbau wurden von den Siedlern nach seinen Plänen selbst errichtet. Wie die meisten Architekten seiner Generation entwarf Székely im Zuge seiner Planungen auch Möbel, Kamine, Lampen bzw. ganze Wohnungseinrichtungen, die ein 262  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Eugen Székely gewidmete Abteilung der Steirischen Jubiläumskunstschau, Industriehalle, 1928

großes formales Spektrum umfassten. Sie reichten von den biedermeierlich anmutenden Möbeln im Gästezimmer des Grazer Werkbundhauses 1928 über weißlackierte Möbel mit abgerundeten Kanten, die wahrscheinlich zur Inneneinrichtung des Sanatoriums Eggenberg gehörten,34 bis zu kunstgewerblich-expressionistischen Gestaltungen für Kachelöfen und Kamine.

Vernetzung in Kunstvereinen In seiner Grazer Zeit engagierte sich Székely zum Teil sehr intensiv in verschiedenen Kunst- und Architektenvereinen. Schon 1928 war er in der „Steirischen Jubiläumskunstschau“ in der Abteilung der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs (ZV) neben bereits etablierten Kollegen wie Rudolf Hofer, Hans Hönel, Ludwig Lepuschitz und Fritz Haas mit mehreren Entwürfen prominent vertreten. Diese Ausstellung zur 800-JahrFeier der Stadt Graz, an der sich alle wichtigen Grazer Künstlervereinigungen beteiligten, wurde als eine Art Leistungsschau des steirischen Kunstgeschehens verstanden.35 Székely war auch Mitglied36 und ab 1928 (neben Wilhelm Thöny als Vorsitzendem) stellvertretender Präsident der Sezession Graz, der progressivsten Grazer Künstlervereinigung der Zwischenkriegszeit. Stand zu ihrer Gründungszeit die bildende Kunst im Vordergrund, so setzte sich die Sezession ab etwa 1927 verstärkt auch mit den modernen Tendenzen in der Architektur auseinander.37 Székely beteiligte sich nicht nur 1924 an der ersten, sondern auch an anderen Ausstellungen der Sezession.38 In der  

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Mitglieder der Sezession Graz, von links nach rechts: Hans Grubbauer, Wilhelm Thöny, Eugen Székely, Ferdinand Rogatsch, Franz Heigl, Fritz Silberbauer, Erich Hönig, Hanns Wagula

Jubiläumsausstellung 1933 war er mit einer Verbauungsstudie für den Schlossberg und dem Entwurf der Stadtrandsiedlung in der Amselgasse vertreten.39 Eine Aquarellzeichnung – Bühnenszene aus Goethes „Triumph der Empfindsamkeit“ – von Alfred ­Wickenburg, dem langjährigen Präsidenten der Sezession, mit persönlicher Widmung an Eugen Székely zu Weihnachten 1930, lässt auf ein freundschaftliches Verhältnis zu diesem schließen, auch dem politisch engagierten Architekten Herbert Eichholzer scheint Székely nahe gestanden zu sein.40 Die starke Vernetztheit und fast „familiäre“ Nähe der Architekten im Grazer Kulturmilieu führte dazu, dass viele von ihnen sich an mehreren, weltanschaulich und künstlerisch-ästhetisch unterschiedlichen Vereinigungen beteiligten. So war Székely (genauso wie die politisch unterschiedlichen Lagern angehörenden Architekten Herbert Eichholzer, Hans K. Zisser, Rudolf Hofer etc.) auch im Steiermärkischen Werkbund Mitglied, der eine viel konservativere Haltung als die Sezession vertrat. Er gehörte sogar zu jenem engeren Kreis von Architekten und bildenden Künstlern, die 1928 an der Gestaltung des Werkbund-Musterhauses in der Grazer Schubertstraße beteiligt waren. Dieses Haus stellte quasi das gebaute Manifest einer für die Bedürfnisse der „bodenständigen“ und „traditionsverbundenen“ Provinz adaptierten Moderne dar, wie sie der Steiermärkische Werkbund vertrat. In der Tagespresse wurde Székelys Entwurf des Mobiliars im Gästezimmer hervorgehoben, dessen Formen historischen, im Besonde264  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Alfred Wickenburg, Aquarellzeichnung zu Goethes „Triumph der Empfindsamkeit“, mit persönlicher Widmung an Eugen Székely, Weihnachten 1930 Erker in dem von Eugen Székely eingerichteten Gästezimmer im Musterhaus des Steiermärkischen Werkbundes in Graz, 1928

ren biedermeierlichen Vorbildern entlehnt waren.41 Székelys Bruder Georg unterstützte als Stifter den Steiermärkischen Werkbund. Politisch stand Eugen Székely dem sozialdemokratischen Lager nahe, ein Umstand, der ihn unter den politisch vorwiegend rechts stehenden Vertretern des Steiermärkischen Werkbundes – verstärkt durch den zunehmenden Antisemitismus – immer mehr zum Außenseiter werden ließ.

Jüdische Identität Eugen Székelys Familie und auch er selbst standen in engem Kontakt zur Israelitischen Kultusgemeinde in Graz, beteiligten sich an deren Aktivitäten – so ist etwa für 1913 die Konfirmation (reformierte Variante der Bar Mizwa) seines Bruders Fritz belegt 42 – und spendeten regelmäßig für wohltätige Zwecke. Seine Schwester Ella engagierte sich bei der 1919 gegründeten Ortsgruppe Graz der „Jüdischnationalen Frauenorganisation“.43 Székely selbst war Mitglied der zionistisch orientierten, jüdisch-akademischen Verbindung Charitas Graz, für die er noch in den 1930er-Jahren Festveranstaltungen gestaltete.44 Da in Graz Synagoge, Schul- und Verwaltungsbau sowie Friedhofszeremonienhalle bereits seit längerer Zeit existierten, hat er als Architekt für die Grazer Kultusgemeinde zwar nicht die Rolle des 1927 verstorbenen Stadtbaumeisters Alexander Zerkowitz übernommen. Doch er beschäftigte sich dennoch mit dem damals auch in den Kreisen der Modernen diskutierten Bautyp Synagoge, wie das bereits erwähnte Synagogenmodell zeigt. Seine angesehene soziale Stellung spiegelte Székelys ab Jänner 1930 und auch nach der Emigration nach Palästina bestehende Mitgliedschaft bei der Loge „Graz“ des un 

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Denkmal des Bundes Jüdischer Frontsoldaten für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, Jüdischer Friedhof in Graz-Wetzelsdorf, 1935

abhängigen jüdischen Ordens „B’nai B’rith“ wider, einem international tätigen sozialelitären Humanitätsverein.45 Die gesellschaftliche Situation, der man sich mit deren Gründung zu stellen suchte, hatte Präsident Simon Rendi zwei Jahre zuvor zusammengefasst  : „Der Name Graz soll uns aber nicht nur den einfachen Namen der von sonnigen Bergen, von grünbedeckten Fluren und von duftenden Tannenwäldern umgebenen, von der wilden Mur durchflossenen Stadt bezeichnen, in der wir der Humanität einen Tempel errichtet haben. Der Name Graz soll uns auch stets an den heißen Boden erinnern, auf dem wir stehen und auf dem noch immer die Wogen der Judenfeindlichkeit viel höher als in anderen Ländern gehen.“46 Auch Eugen Székely selbst hatte in Graz schon Ende der 1920er-Jahre unter dem zunehmenden Antisemitismus zu leiden. 1929, beinahe am Höhepunkt seiner Tätigkeit als Architekt, listete ihn das nationalsozialistische Publikationsorgan „Grazer Nachrichten“ unter jenen jüdischen Bauunternehmern und Architekten auf, mit denen die „deutschen“ Grazer keine Geschäfte machen sollten.47 In Reaktion auf solche Anfeindungen war in Graz zionistisches Gedankengut immer stärker verbreitet, seit 1926 war auch die Israelitische Kultusgemeinde zionistisch dominiert. Häufig berichteten Grazer Palästina-Reisende von ihren Eindrücken, Eltern wurden aufgerufen, bei der Berufswahl ihrer Kinder im Hinblick auf ihre mögliche Auswanderung zu entscheiden. Einen 266  | 

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entscheidenden Anstoß für Székelys Emigration48 – immerhin einige Jahre vor dem „Anschluss“ und zu einer Zeit, wo er in Österreich trotz antisemitischer Hetze noch nicht in seiner Existenz unmittelbar bedroht war – könnte schließlich ein Vortrag von Jakov Ornstein gewesen sein, einem 1920 nach Tel Aviv ausgewanderten Wiener Architekten und B’nai B’rith-Mitglied, der im September 1932 in Graz über „Die Niederlassungsmöglichkeiten in Palästina“ sprach.49 Als letzte dokumentierte Arbeit vor seiner Emigration gestaltete Székely im Auftrag des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Ortsgruppe Graz, für den Israelitischen Friedhof in Wetzelsdorf ein Denkmal der gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs als Zeichen gegen den zunehmenden Antisemitismus.50 Der Verband, dem auch Székely selbst als ehemaliger Frontkämpfer angehörte, trat mit diesem Denkmal gegen antisemitisch motivierte Geschichtsfälschung ein und es sollte an die tiefe Heimatverbundenheit der Juden erinnern, die bis zum Einsatz ihres Lebens an der Front gegangen war. Dieses besteht aus einer schlichten Marmorplatte zwischen zwei Steinpfeilern, in welche die Namen von 90 Gefallenen der Grazer jüdischen Gemeinde eingraviert sind. Das Denkmal selbst wurde am 23. Juni 1935 in Anwesenheit zahlreicher Ehrengäste und rund 500 jüdischer Frontsoldaten eingeweiht.51

Emigration und Neubeginn Die genauen Motive für Székelys Auswanderung im Jahr 1935 nach Palästina sind nicht bekannt, es kann aber angenommen werden, dass nicht nur die zunehmende Radikalisierung der politischen Verhältnisse, sondern auch die schlechte Wirtschaftslage in Österreich eine Rolle gespielt haben. So sind aus dem Jahr 1934 keine Projekte seines Grazer Architekturbüros überliefert. Székelys Mutter Paula folgte ihrem Sohn im Jahr darauf nach. Die Kollegen von der Sezession Graz hielten mit ihm noch weiterhin Kontakt, sein Stimmrecht in der Vereinigung gab er an den Architekten Friedrich Zotter weiter.52 Für seine Existenzgründung im seit 1922 unter britischem Mandat stehenden Palästina wählte Székely – wie bereits einige andere Grazer Juden vor ihm – Haifa, eine zwischen Meer und Karmelgebirge gelegene, in den 1930er-Jahren durch die Einwanderung aus Europa stark anwachsende Stadt im Norden des heutigen Israel. Hier hatte sich bereits eine Reihe deutschsprachiger Architekten – auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Deutschland, aber auch bereits in der Pionierzeit – niedergelassen und drückte der Stadt, zeitgleich mit der Transformation von Tel Aviv zur „Weißen Stadt“, einen modernen Stempel auf.53 Székely, der seinen Namen nun Szekey schrieb, hielt sich in Palästina anfangs mit kleineren Aufträgen („Wohnungseinrichtungen und eine Arbeitersiedlung in dem nahe gelegenen Ort Kirjat Benjamin“54) über Wasser, zumal die wirtschaftliche und politische Situation ab 1936 angespannt war und damit auch Bauaufträge schwer zu be 

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kommen waren. So schrieb Székely am 25. Dezember 1937 in einem Neujahrsgruß an Herbert Eichholzer und Viktor Badl  : „Bei mir geht’s einigermaßen, noch nicht aber so wie es sollte.“55 In Haifa traf er wieder mit Harry Rosenthal, einem ehemaligen Studienkollegen bei Hans Poelzig an der Berliner Akademie, zusammen, der seit seiner Emigration aus Deutschland Wohnhäuser und andere Ansichtskarte vom Kingsway in Haifa, um 1935 Bauten errichtet hatte, sich jedoch 1938 für eine Übersiedlung nach England entschied. Um seine Interessen als Architekt – auch im Hinblick auf eine mögliche Rückkehr – weiter zu pflegen, unterzeichnete er im Dezember 1938 mit Eugen Székely ein vertragliches Geschäftsabkommen  : Unter der Bezeichnung „Harry Rosenthal C. E., Eugen Szekey, C. E., Architects“ sollte Székely während Rosenthals Abwesenheit dessen Bauangelegenheiten in Palästina weiterführen.56 Diese Kooperation manifestierte sich bereits einige Wochen später, als Székely eine Ideenskizze für ein – nicht ausgeführtes – Kultur- und Versammlungshaus (Beth Am) in Nahariya, nördlich von Haifa, lieferte.57 Székelys Situation scheint sich verbessert zu haben, nachdem er mit dem Industriellen Hans Moller in Kontakt gekommen war.58 Dieser war gemeinsam mit seinem zionistisch eingestellten Cousin Erich Besitzer einer Textilfabrik in Böhmen gewesen. Nun, nachdem er 1938 von Wien nach Palästina emigrieren musste, plante er den Ausbau der von seinem Cousin bereits 1934 im Ort Kirjat Ata unweit von Haifa neu gegründeten Textilfabrik, der ATA Textil Ltd.59 In den 1940er-Jahren beauftragte er in der Folge Eugen Székely mit dem Bau der Sheddach-Fabrikshallen (für Baumwollspinnerei, Weberei, Färberei, Näherei)60 sowie des Verwaltungsgebäudes und einer Wohnsiedlung für die Beschäftigten, deren ebenerdige Häuser klar und zweckmäßig gestaltet sind. Weitere Aufträge bestanden in der Planung zweier Wohnhäuser für die Familie. In Wien-Döbling hatte Adolf Loos für Hans Moller eine heute zu den „Ikonen“ der Wiener Moderne zählende Villa („Haus Moller“, 1927/28) entworfen, bei der er den „Raumplan“ mit unterschiedlich hohen und durch Stufen miteinander verbundenen Wohnebenen umgesetzt hatte.61 Auf Wunsch des Bauherrn sollte Székely diesem Konzept – wenn auch in bescheidenerem Ausmaß – beim Haus für Mollers Mutter auf dem Berg Carmel (um 1939) sowie auch bei dessen eigenem Haus in Kirjat Ata (1947) folgen.62 Bei Letzterem sind die Verkleidung mit dem ortsüblichen Kalkstein und die hölzernen Fensterläden die auffälligsten Unterschiede zu den weißverputzten Wänden des Loos’schen Hauses. Székely schloss hier trotz der modernen Formen an die regionalen Bautraditionen an – eine Haltung, die ihm aus seiner Zeit im Steiermärkischen Werkbund durchaus vertraut war. 268  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Eugen Székely, Wohnhaus für den Textilindustriellen Hans Moller, Kirjat Ata, 1947 fertiggestellt

Um das Jahr 1960 wurde der Gesamtkomplex der Textilfirma ATA abgeschlossen. Eugen Székely lebte bis zu seinem Tod gemeinsam mit seiner Frau Annelise in Haifa, wo er am 13. November 1962 starb.63

Anmerkungen   1 Zu Biografie und Werkverzeichnis von Eugen Székely vgl. v. a. Myra Warhaftig, Deutsches und österreichisches Architekturerbe in Israel, in: kunst und kirche 49 (1986), H. 4, 260. – Dies., Eugen Szekey (Szekely), in: Dies., Sie legten den Grundstein. Leben und Wirken deutschsprachiger jüdischer Architekten in Palästina 1918–1948, Tübingen–Berlin 1996, 300–305. – Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 32, Leipzig 1938, 373. – Hans Vollmer, Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts, 4. Bd., Leipzig 1958, 402–403.   2 Auf eine solche Nähe weisen z. B. Eugen Székelys in der sozialdemokratischen Tageszeitung „Arbeiterwille“ publizierten Beiträge hin, z. B.: Eugen Székely, Baukunst in der Gegenwart. Zur Ausstellung der Sezession, in: Arbeiterwille, 4. 11. 1927. – Eugen Székely, Das Heim der Grazer Arbeiter, in: Arbeiterwille, 1. 11. 1930.   3 Vgl. Grazer Israelitischer Gemeindebote 5 (1912), Nr. 4, 55.   4 Das Warenangebot bestand in Schlesischem Leinen- und Tischzeug, Schweizer Stickereien, kompletten Brautausstattungen, Anfertigung von Wäsche bis zur feinsten Ausführung. Vgl. Anzeige in: Adressbuch der Stadt Graz, Graz 1922, 590.   5 Stadtarchiv Graz, Statthaltereiakten, Verzeichnis jüdischer Gewerbeinhaber, deren Gewerberechte auf Grund der Entscheidung des Staatskommissars in der Privatwirtschaft, Prüfstelle für die kommissarischen Verwalter, Wien, vom 17. 1. 1939 zur Löschung beantragt wurden, Graz, 21. 3. 1939, 11.   6 Wiener Zeitung, 2. 7. 1915, 2.   7 1921 gibt Eugen Székely als Staatsangehörigkeit Ungarn an. Er scheint also nach 1919 seine Nationalität beibehalten zu haben.   8 Laut Hauptkatalog im Archiv der TU Graz hat Székely an der Hochbauschule am 16. 10. 1913 immatrikuliert und am 12. 7. 1921 die II. Staatsprüfung „sehr gut“ bestanden.   9 Vgl. Programme der Technischen Hochschule ab 1918/19. 10 Vgl. Marcus Ludescher, Das wissenschaftliche Personal an der Technischen Universität Graz, 2 Teile, Graz 1995, 1. Teil, 66. 11 Zu Theyer allgemein vgl. Monika Jäger, Der Architekt Leopold Theyer 1851–1937, phil. Diss., Graz 1988. 12 Schriftliche Auskunft von Gudrun Schneider, Akademie der Künste, Berlin, am 30. 1. 2009. Laut Warhaftig 1996 (wie Anm. 1), 300 erlangte Székely Anfang 1923 an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg den Grad eines Diplom-Ingenieurs. Diese Information  

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konnte nicht bestätigt werden, da das Archiv der ehemaligen TH Berlin-Charlottenburg im November 1943 infolge eines Bombenangriffs nahezu vollständig vernichtet wurde. Lediglich die Immatrikulationsbücher und einige Unterlagen der Zentralen Universitätsverwaltung sind erhalten geblieben. Eugen Székely ist jedoch in den Immatrikulationsbüchern nicht nachweisbar (schriftliche Auskunft vom 1. 12. 2009 von Claudia Schülzky Universitätsarchiv Technische Universität Berlin.) Angaben zum Meisteratelier Hans Poelzigs im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Bestand Preußische Akademie der Künste Nr. 715 sowie Meisterateliers Bd. 3. Hans Poelzig, Zur Einführung, in: Poelzig und seine Schule. Ausstellung veranstaltet von der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin, Berlin März 1931, 1–3, 3. Vgl. Sylvia Claus, Schüler und Schule. Hans Poelzigs Lehre, in: Wolfgang Pehnt/Matthias Schirren (Hg.), Hans Poelzig 1869 bis 1936. Architekt Lehrer Künstler, München 2007, 172–181, 178. Vgl. Poelzig 1931 (wie Anm. 14) 5–6. – Wolfgang Pehnt/Matthias Schirren (Hg.), Hans Poelzig 1869 bis 1936. Architekt Lehrer Künstler, München 2007, 228. Katalog der 1. Ausstellung der Sezession Graz, Graz 1924, Kat.-Nr. 169. A[lfred] M[öller], Die Sezession. Zur ersten Ausstellung der Grazer Sezession im Joanneum, in: Tagespost, 15. 11. 1924, Abendblatt. Vgl. auch: Bruno Ertler, Erste Ausstellung der Sezession Graz, in: Neues Grazer Tagblatt, 6. 11. 1924. Der Technische Entwurf stammte von Ing. Wilhelm Zapf von der Firma Tekton Bau A.G. Diese beiden Entwürfe sind nur mehr nach Fotografien aus der Sammlung Fürböck, Multimediale Sammlungen Graz, Universalmuseum Joanneum, rekonstruierbar. Der Rathausentwurf war mit einer Ansicht und dem Erdgeschossgrundriss in der Sonderausstellung der Sezession Graz im Oktober 1927 zu sehen. Ebenfalls in Griechenland sind Projekte für ein Krankenhaus in Athen, den Umbau einer Matrosenkneipe beim Hafenbüro der griechischen Nationalreederei in Piräus und den Sommersitz Embiricos entstanden. Otto Walter, Versuchsplanung in Aigeira, in: Jahreshefte des österreichischen Institutes in Wien 27 (1932), 225–234. Eugen Székely, Baukunst in der Gegenwart. Zur Ausstellung der Sezession, in: Arbeiterwille, 4. 11. 1927. Vgl. Antje Senarclens de Grancy, Keine Würfelwelt. Architekturpositionen einer „bodenständigen“ Moderne. Graz 1918–1938, Graz 2007, 111–112. Stadtbildausstellung Alt- und Neu-Graz. Die bau- und kulturgeschichtliche Entwicklung der Landeshauptstadt Graz von der frühen Grenzburg bis zur Vorbereitung der Zukunft im neuen Stadtbauplan, amtlicher Führer, Graz 1928, 115. Ebenda, 122. Rund zehn Jahre später, nach dem „Anschluss“, sollte Fritz Haas einen Gesamtplan für die Neugestaltung der Gauhauptstadt Graz, mit einem Führersaal am Schloßberg und einem Gauzentrum mit Aufmarschgelände und KdF-Stadt ausarbeiten. Vgl. Karl Albrecht Kubinzky, Die Stadtplanung für die Gauhauptstadt Graz, in: Stefan Karner (Hg.), Graz in der NS-Zeit. 1938–1945, Graz 1998, 245–256, 247–249. Der Öffentlichkeit präsentiert wurden diese Projekte 1928 bei der von der Stadt Graz veranstalteten Stadtbildausstellung „Alt- und NeuGraz“ in der Industriehalle. Siehe oben die Beiträge über das Margaretenbad. Dietrich Ecker, Architekt Herbert Eichholzer 1903–1943, Diss., Graz 1984, 304. Ein Entwurf für das Geschäft des Papier- und Schreibwarengroßhändlers Robert Nachbauer in der Herrengasse 13 ist im Dietrich-Ecker-Nachlass im Archiv der TU Graz erhalten. Vgl. Tina Lipsky, Graz. Visionen einer Stadt. Unrealisierte Bauprojekte von 1900–2000, Dipl. arb., Graz 2004, 76–78, 77. Siehe dazu die Beiträge zum Arbeitsamt Graz in diesem Buch. Pläne im Archiv der TU Graz, Nachlass Dietrich Ecker. Siehe oben die Beiträge zur Stadtrandsiedlung Amselgasse. Fotografien in der Sammlung Fürböck, Multimediale Sammlungen Graz, Universalmuseum Joanneum. Außer einem Schaubild der Mühle in Keratsini waren auch sein Wettbewerbsentwurf für das Grazer Künstlerhaus, Pläne für das Margaretenbad, das zu dieser Zeit gerade im Bau war, sowie Reiseskizzen ausgestellt. Katalog Steirische Jubiläumskunstschau Graz 1928, 79, Kat.-Nr. 111–114. In seiner Zeit in Berlin und Griechenland hielt Székely Kontakt mit der Sezession Graz. Er scheint im Mitgliederverzeichnis 1926 auf: Neue Galerie, Sezessionsarchiv, Schuber E, Heft Mitgliederlisten der Sezession. Margit Fritz-Schafschetzy, Künstlerische und ideologische Tendenzen in den steirischen Kunst- und Künstlervereinigungen der Zwischenkriegszeit und deren Beeinflussung durch gesellschaftliche und politische Veränderungen. Eine rezeptionsgeschichtliche Betrachtung, phil. Diss., Graz 1991, 177. Sezession Graz, Sonderausstellung, Oktober 1927, Ausst.kat., Graz 1927, 23–24, Kat.-Nr. 111–121. Sezession Graz. Katalog der Jubiläumsausstellung 1923–33, Graz 1933, Kat.-Nr. 120–125. In der 1932 durchgeführten Sezessionsausstellung waren sein Wettbewerbsprojekt für das Arbeitsamt Graz und für das Bad in Pernegg zu sehen. Herbert Eichholzer war Bauleiter des Grazer Arbeitsamtes. Vgl. Bruno Binder, Das Grazer Werkbundhaus, in: Die Bau- und Werkkunst 5 (1928/29), 161–163. – Vgl. dazu: Antje Senarclens de Grancy,

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Nicht kalter Internationalismus, sondern „freudige“ Sachlichkeit. Das Grazer Werkbundhaus als Antithese zur „Wohnmaschine“, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 55 (2001), H. 1, 117–131. Der Kunstkritiker Alfred Möller lobte in der „Tagespost“ Székelys Idee, die billigeren Weichholzmöbel in Hartholz zu fassen, „ein konstruktiv ganz logischer Vorgang, der etwa den Rustikaquadern an den Kanten italienischer Palastbauten entspricht“. A[lfred] M[öller], Das Werkbundhaus, in: Tagespost, 9. 10. 1928, Abendblatt. Gemeinde- und Vereinsnachrichten, in: Grazer Israelitischer Gemeindebote 6 (1913), Nr. 4, 44. Vgl. Korrespondenzen. Graz (Jüdischnationale Frauenorganisation), in: Jüdische Zeitung, 20. 6. 1919, 6. Vgl. Harald Seewann, Die Jüdisch-Akademische Verbindung CHARITAS Graz 1897–1938. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf Grazer Boden (= Schriftenreihe des Steirischen Studentenhistoriker-Vereines 12), Graz 1986, 91. Zu Székelys Festgestaltungen: Jüdischakademische Verbindung „Charitas“ Graz, in: Mitteilungen der Isralitischen Kultusgemeinde Graz 8 (1933), Nr. 1. Vorgeschlagen wurde Székely von Rechtsanwalt Dr. Ludwig Bíro. Ziel des 1843 von deutsch-jüdischen Einwanderern in den USA gegründeten „Unabhängigen Ordens B’nai B’rith“ war die Zusammenfassung von Juden verschiedenster Anschauungen und Überzeugungen auf der Basis eines ethischen Programmes im Sinne der Förderung hoher Menschheitsziele, der Unterstützung von Wissenschaft und Kunst, der allgemeinen Linderung von Not und der Hilfe gegenüber Verfolgten. Vgl. Robert Breitler, „B’nai B’rith“ in Graz. Zur Sozialgeschichte des Grazer jüdischen Bürgertums in der Zwischenkriegszeit, Dipl.arb., Graz 2002. – Ders., B’nai B’rith in Graz. Zur Sozialgeschichte des Grazer jüdischen Bürgertums in der Zwischenkriegszeit, in: Gerald Lamprecht (Hg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 5), Innsbruck u. a. 2004, 191–207. Ansprache des w. Präsidenten der „Graz“ Br. Kommerzialrat S. Rendi bei der Installation der neuen Vereinigung am 6. Mai 1928, in: B’nai B’rith Mitteilungen, H. 6, Juni 1928, 220–227, 224. Vgl. Breitler 2002 (wie Anm. 45), 74. Grazer Geschäftsleute jüdischer Rasse und Abstammung, in: Grazer Nachrichten, 23. 3. 1929. Auch wenn Eugen Székely bei seiner Emigration nicht mehr zu den bis in die 1920er-Jahre in Palästina eingewanderten Pionieren gehörte, muss bei ihm doch von einer starken Affinität zum Zionismus ausgegangen werden, da er noch nicht zu den von den Nationalsozialisten nach der Machtergreifung in Deutschland Vertriebenen zählte, die ab 1933 die Einwanderungszahlen hochschnellen hatten lassen. Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz 7 (1932), Nr. 5. – Vgl. Jacques Ornstein, Die Bautätigkeit in Palästina, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines 1925, H. 11/12, 93–96. Zu Jakov Ornstein: Nitza Metzger-Szmuk, Des maisons sur le sable. Tel Aviv. Mouvement moderne et esprit Bauhaus, Paris u. a. 2004, 382–383. Vgl. Martin Senekowitsch, Verbunden mit diesem Lande. Das jüdische Kriegerdenkmal in Graz, hg. v. Militärkommando Steiermark, Graz 1995. – Aufruf!, in: Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz 9 (1934), Nr. 4, Juli. Vgl. Die jüdische Heldengedenkfeier in Graz, in: Jüdische Front, Nr. 13, 1. 7. 1935. Telegramm von Eugen Székely an die Sezession Graz (Wortlaut: „uebertrage stimme zotter“), ohne Datumsangabe, Sezessions-Archiv, Neue Galerie. Dazu gehörten zum Beispiel Alexander Baerwald, der bereits 1909 eingewandert war und hier das erste Gebäude des Technion (Technische Hochschule) errichtet hatte, sowie Alfred Goldberger, Harry Rosenthal sowie Adolf Rading, der selbst nicht Jude war, aber mit seiner jüdischen Frau aus Protest Deutschland verlassen hatte. Warhaftig 1996 (wie Anm. 1), 300. Im Zeitraum der Recherchen zu diesem Beitrag hat die Verfasserin leider keinen Zugang zu den im Nachlass der im März 2008 verstorbenen Architektin Myra Warhaftig versammelten Unterlagen zu Eugen Székely erhalten, weshalb weiterführende Recherchen in Israel im Rahmen dieses Projektes nicht möglich waren. Postkarte, Kopie im Dietrich-Ecker-Nachlass, Archiv der TU Graz. Sylvia Claus, Harry Rosenthal (1892–1966). Architekt und Designer in Deutschland, Palästina, Grossbritannien, Zürich 2006, 176 . Den Hinweis auf diese Zusammenarbeit verdanke ich Dr. Iris Meder, Wien. Ebenda, 223–224. Zu Székelys Situation in Palästina/Israel vgl. v. a. Warhaftig 1996 (wie Anm. 1). Laut Thieme-Becker 1938 (wie Anm. 1) hat Székely weiters auch ein Stadion und eine Arbeitersiedlung in Tel Aviv geplant. Beide Projekte müssen bereits vor 1938 entstanden sein, da mit dem Erscheinungsjahr des Thieme-Becker-Bandes (1938) ein Terminus ante quem gegeben ist. Zur Textilfabrikantenfamilie Moller vgl. Tano Bojankin, Kabel, Kupfer, Kunst. Walter Bondy und sein familiäres Umfeld, in: Andrea Winklbauer (Hrsg.), Moderne auf der Flucht. Österreichische KünstlerInnen in Frankreich 1938–1945, Ausst.kat., Wien 2008, 30–49. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Dr. Iris Meder, Wien. In Zusammenarbeit mit dem aus Wien stammenden Statiker Ernst Grünwald (Grunewald). Adolf Loos hatte 1928 auch die Werkssiedlung für die Moller’sche Firma S. Katzau in Babí u Nachod in Böhmen entworfen. Warhaftig 1996 (wie Anm. 1), 301. Zu Székelys Todesjahr gibt es bei Myra Warhaftig divergierende Angaben: In ihrem Aufsatz von 1986 (wie Anm. 1) gibt sie das Jahr 1969 an, in ihrem Buch von 1996 (wie Anm. 1) hingegen 1962.

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Franz Schacherl

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN

Günter Eisenhut

FRANZ SCHACHERL (Wien 1895–1943 Luanda)

Michael Schacherl (1868–1939), Portrait von Paul Schmidtbauer, 1920er-Jahre

Viktoria Schacherl (1873–1941)

Der Architekt Franz Schacherl wurde im Wien der Zwischenkriegszeit als kritischer Theoretiker des sozialen Wohnbaus und als innovativer Planer großer Einfamilien- und Reihenhaus-Siedlungen für Arbeiter bekannt, die er in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Franz Schuster entwarf und plante. Nach 1934 bekam er als exponierter Linker keine öffentlichen Aufträge mehr. Als Vertreter der internationalen Moderne, Sozialist und Jude höchst gefährdet, flüchtete er nach dem Anschluss über Paris nach Angola, wo er 1943 starb.1 Franz Schacherl wird am 28. November 1895 in Wien als Sohn von Michael Schacherl und dessen Frau Viktoria (geb. Eisenstädter) geboren.2 Sein Vater, der ebenso wie seine Mutter aus einer jüdischen Familie stammt, ist einer der bedeutendsten Männer der steirischen Arbeiterbewegung.3 Michael Schacherl hat, nach seiner Tätigkeit als  

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Sekretär Viktor Adlers während seines Medizinstudiums, eine Stelle als Kassenarzt in Graz übernommen und war später Reichsrats-, dann Nationalratsabgeordneter und langjähriger Chefredakteur des „Arbeiterwille“, der Zeitung der steirischen Sozialdemokraten. Franz Schacherl wächst gemeinsam mit seinem 1893 geborenen Bruder Richard und den Schwestern Magda und Klara in Graz, woher die Familie der Mutter stammt, auf. Wo Schacherl sein Architekturstudium absolviert, ist unklar. Aus einem Brief seiner Witwe geht hervor, dass er in Graz studiert habe, was aber archivalisch nicht bestätigt werden kann.4 Im Ersten Weltkrieg ist er eingerückt und wird 1917 zum technischen Referat des Gruppenkommandos Etschtal kommandiert.5 1916 heiratet Franz Schacherl. Seine Frau Clementine geht später mit ihrem zweiten Mann nach Ungarn. Es sollte die erste von drei Ehen sein  : Die zweite schließt er mit Margarethe Kienzl aus Graz, seine dritte Frau heißt Rosa. Einer seiner besten Freunde ist Walter Fischer,6 sein späterer Schwager. Dieser charakterisiert Schacherl in seinen Memoiren  : „Franzl [hatte] eine schwarze Mähne und war von athletischem Körperbau  : Ein Mann, der jedes Frauenherz höher schlagen ließ und der Frauen konsumierte wie Zigaretten  ; und er war ein starker Raucher […].“7

Architekt des Siedlerverbandes Ab 1923 arbeitet Franz Schacherl als Architekt beim „Österreichischen Verband der Siedler, Kleingärtner und Kleintierzüchter“ (ÖVSK), wo er als Leiter des Konstruktionsbüros fungiert. Der Generalsekretär dieses Verbandes ist der Philosoph, Soziologe und Volksbildner Otto Neurath  ;8 Chefarchitekt ist Franz Schuster,9 der bis dahin bei Heinrich Tessenow gearbeitet hat. Schacherl und Schuster kennen einander bereits von früher, sie haben 1921 gemeinsam mit Adolf Loos den Bau der „Kriegerheimstätte Hirschstetten“,10 eine der ersten Wiener Selbsthilfe-Siedlungsanlagen zur Linderung der Wohnungsnot nach dem Krieg, sowie die „Siedlung Südost“ (Laaer-Berg-Straße 151–199), eine Siedlung mit kleinen Vorgärten und tiefen Hausgärten zur Selbstversorgung, geplant. Als Architekten des Siedlerverbandes planen sie 1923/24 im 10. Wiener Gemeindebezirk eine Siedlung mit 190 Häusern (Raxstraße 31–111). 1924 entsteht nach ihren Plänen die sogenannte Schutzbund-Siedlung in Knittelfeld in der Obersteiermark mit rund 40 Häusern. Friedrich Achleitner schreibt über diese nach dem sozialistischen Wehrverband benannte Arbeitersiedlung  : „Nach einer ausführlichen Darstellung des Knittelfelder Siedlungsbaus in der ‚Arbeiter-Zeitung‘ vom 21. 6. 1924 entsprechen die Häuser ‚im Ausmaß den Kernhäusern der Type 7, wie sie von der Gemeinde Wien durch Milliardenkredite gefördert und von der GESIBA zusammen mit dem Verband in großer Zahl im Wiener Bereich errichtet werden‘. Der aus der Situation heraus entwickelte Lageplan, die ‚Torsituation‘ bei der Gaaler Straße, der gekrümmte Gassenraum und schließlich der kleine, intime Platz 274  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Franz Schuster und Franz Schacherl, Arbeitersiedlung Knittelfeld, Grundrisse des Erdgeschosses (oben) und des Dachgeschosses (unten) sowie Ansicht des Platzes, aus: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 1926

zeigen in einer überzeugenden Weise, wie mit bescheidenen Mitteln städtebauliche Qualitäten erzeugt werden können. Der gleichen Minimaldefinition entsprechen die Häuser (rund 34 m2 verbaute Fläche). Insgesamt ein besonderes Zeugnis der Siedlerbewegung der 20er-Jahre.“11 Gemeinsam mit Schuster entwirft Schacherl 1924 auch die Siedlung „Neustraß­ äcker“ (Wien 22, Göschenweg 1–32) mit 160 zweigeschossigen Reihenhäusern, die 1926 fertiggestellt wird. Der Entwurf weist eine abgeklärte und versachlichte Interpretation „klassischer“ Motive der „Gartenstadt“-Bebauung auf und besticht durch seine Sachlichkeit, Systematik und Einfachheit bei gleichzeitiger subtiler Differenzierung des räumlichen Programmes.12 Es geht Schacherl und Schuster nicht um die ästhetische Originalität ihrer Entwürfe, sondern darum, mit bescheidenen Mitteln möglichst bequeme und praktische Häuser zu gestalten. Schacherl ist als radikaler Sozialist auch gewerkschaftlich aktiv. Im Frühjahr 1924 kommt es diesbezüglich zu einem Eklat, wodurch seine Tage als Leiter des Kon­ struktionsbüros vermutlich gezählt sind  :13 Schacherl setzt sich als Betriebsratsobmann des Verbandes mit zum Teil drastischen Mitteln gegen Lohnkürzungen zur Wehr – er droht einem Sekretär wegen einer Lüge mit einer Ohrfeige. Daraufhin leiht er sich 500 Schilling aus, „da er wie gewöhnlich nur Schulden und kein Geld hatte“14 und fährt mit seinem Freund und Kollegen Walter Fischer einige Wochen nach Italien.  

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Franz Schuster und Franz Schacherl, Siedlung Neustraßäcker, Wien 22, 1924

Selbstständige Tätigkeit mit Franz Schuster Als sich Schuster als Architekt selbstständig macht, wird Schacherl sein Partner, gemeinsam arbeiten sie für das Siedlungsamt der Gemeinde Wien. Die Architekten erreichen, so Friedrich Achleitner, „einen ungewöhnlich hohen Standard in der Planung der Haustypen und der bis ins kleinste durchdachten Wohnabläufe.“15 Auch Möbeltypen von schlichter Zweckmäßigkeit werden entwickelt. 1925 planen Schuster und Schacherl die Eigenheimkolonie „Am Wasserturm“ (Wien 10, Raxstraße 10–12) mit 188 Häusern. Als Vorzug dieser Planung gilt die verblüffende räumliche Vielfalt bei gleichzeitigem Streben nach höchster Ökonomie.16 Die Grundrisse zeigen eine intensive Beschäftigung mit Fragen der Typisierung und Normierung. „Besonders der kleinste Haustyp beeindruckt durch seine Raumökonomie  : Bei einer Hausbreite von knapp 5 Metern wird ein Höchstmaß an Nutzungsmöglichkeiten erzielt. Dabei werden künftige Veränderungen bereits berücksichtigt.“17 276  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Sesseltyp für Siedlungsbauten

Franz Schuster und Franz Schacherl, Eigenheim­ kolonie Am Wasserturm, Wien 10, 1925  

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Siedlung Am Wasserturm, Ansichten, Schnitte und Grundrisse eines Siedlungshauses (Siedlungs-Haustype 1925/26, Mittelhaus)

Franz Schuster und Franz Schacherl, Kindergarten der Siedlung Laaerbergstraße, Wien 10, 1927

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Franz Schuster und Franz Schacherl, Karl Volkert-Hof, Wien 16., 1926

1927 entsteht nach ihren Plänen eine große Siedlung am Laaerberg.18 Die Bauten zeichnen sich durch eine klare, bis ins kleinste Detail durchdachte architektonische Gestaltung aus. Die neue Architektur soll durch ihre einfache, unromantische und sachliche Form das Wesen und den Geist der neuen Generation demonstrieren. In der Einteilung und in der Benutzbarkeit der Räume soll die innere Neueinstellung erkennbar sein, der sich das äußere Kleid selbstverständlich anfügen sollte.19 1926 entsteht nach ihrer Planung ein mehrstöckiger Geschossbau, der „Karl Volkert-Hof “ (Wien 16, Thaliastraße 75).20 Dieser Hof sollte beim Arbeiteraufstand im Februar 1934 heiß umkämpft werden. Nachdem sein Partner Franz Schuster seine Arbeit ab 1927 in Frankfurt fortsetzt, errichtet Schacherl ab 1928 alleine in der Obersteiermark und in Graz mehrere Arbeiter- und Kinderheime (Fohnsdorf, Graz-Lend, Bruck a. d. Mur), denen in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist.21



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Publizistische Tätigkeit Wie eng die Verbindungen von Schacherl und Schuster zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sind, zeigen auch ihre Planungen für „proletarische Kulturhäuser“, über die sie 1926 eine Broschüre veröffentlichen (und an die Schacherl bei den erwähnten Arbeiter- und Kinderheimen direkt anschließt).22 Mit ihrem Engagement für die „Gartenstadt“ stehen sie in Opposition zu den Hauptströmungen der Wohnbaupolitik des „Roten Wien“, die sich in beeindruckenden Großbauten wie dem „Karl Marx-Hof “ manifestiert. In ihrem 1926 für das theoretische Organ der Sozialdemokratie „Der Kampf “ verfassten Artikel „Proletarische Architektur“23 bringen sie ihre Kritik klar zur Geltung  : Nach der Feststellung, dass eine proletarische Kunst und Kultur notwendiger Ausdruck der Zeit sei, schreiben sie über die Monumentalität und das Pathos der „Volkswohnpaläste“24 des Wiener Gemeindebaus  : „Sozialistische Architektur kann und darf nicht kleinbürgerlich sein, […] darf nicht absolutistisch, königlich sein. […] Wir müssen den Mut haben, so nüchtern und klar wir für gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Umstellungen eintreten, unbekümmert um die Kritik […], daß wir Zertrümmerer von Kulturen sind, auch für die Architektur einer neuen, proletarischen Welt einzutreten. Wir müssen den Mut haben, die große Nüchternheit-Ernüchterung, die große Einfachheit-Vereinfachung, die große Klarheit-Klärung […] auch in der Architektur zu suchen und zu wollen.“25

Die übliche „heimelige“ Gestaltung des Siedlungsbaues im Grün der Stadtränder Wiens kritisieren sie als verlogen  : „Wir sind zu feige, die kleinen Götzen der Sentimentalität, der Spießbürgerlichkeit und der verlogenen Romantik abzusetzen, die aus jedem Bauwerk grinsen, die unter dem Titel ‚Heimatkunst‘, ‚Gemütlichkeit‘, ‚Lieblichkeit‘ usw. kultiviert werden.“26 Im selben Jahr (1926) bringt Franz Schacherl mit Franz Schuster, der die Schriftleitung übernimmt, die Zeitschrift „Der Aufbau – Österreichische Monatshefte für Siedlung und Städtebau“ heraus. Als Schuster 1927 von Ernst May27 als Mitarbeiter nach Frankfurt geholt wird, wird die Zeitschrift, die heute als wichtiger Beitrag zur Entwicklung der modernen Architektur in Österreich gesehen wird, eingestellt. Schuster und Schacherl propagieren mit diesem Periodikum Positionen des internationalen, modernen Städtebaus, die in Österreich heiß umkämpft sind, zum Beispiel jene von Le Corbusier. Sie gewinnen die wichtigsten Exponenten der Gartenstadtbewegung im deutschsprachigen Raum als Mitarbeiter, wie Hans Kampffmeyer, Hermann Neubacher, Otto Neurath, Bruno Taut, Heinrich Tessenow und Martin Wagner. Weitere Mitarbeiter sind Josef Frank und Ernst May. Es erscheint ein Jahrgang mit zwölf Heften, das Sonderheft 8/9 ist dem großen „Internationalen Wohnungs- und Städtebaukongreß“ in Wien gewidmet, der auch in den vorhergehenden und nachfolgenden Hef280  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Collage aus „Der Aufbau – Österreichische Monatshefte für Siedlung und Städtebau“, 1926/27



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ten eine wichtige Rolle spielt. Unter dem Titel „Das österreichische Siedlungshaus“ veröffentlicht Schacherl einen Beitrag über neue Technologien zum rationellen und sparsamen Bau von Siedlungen. Im Artikel „Zur Stadtentwicklung Wiens“ tritt er für eine moderne Raumplanung und die Ausweitung des Siedlungsbaues nach englischen, holländischen und deutschen Vorbildern ein.28 In der Wiener „Arbeiterzeitung“ veröffentlicht Schacherl 1926 einen längeren Artikel29 über den Internationalen Wohnungs- und Städtebaukongreß, der die Regelung des Bodenbesitzes und die Verteilung von Ein- und Mehrfamilienhäusern behandelt. Er stellt darin die Forderung, die Elendsviertel der Großstädte mit ihren Zinskasernen, Hinterhäusern und Lichtschächten durch Bauten im weiten, grünen Land zu ersetzen. Das Wohnungselend der Proletarier, verursacht durch kapitalistischen Zinswucher und Bauspekulation, soll durch weitgehende Enteignungsgesetze und Stadtplanung im Interesse der Allgemeinheit überwunden werden. Schacherl betont die Notwendigkeit, der Stadtentwicklung in Österreich einen neuen kulturellen Impuls in Richtung „Gartenstadt“ zu geben und den „Hochhausbau“ (gemeint sind die auch in Wien üblichen großen Wohnbauten) zu beenden. Ebenfalls in der „Arbeiterzeitung“ publiziert Schacherl 1932 eine vehemente Stellungnahme für das Flachdach, das zu diesem Zeitpunkt ideologisch heftig umstritten ist.30 Flachdächer gelten besonders den rechtsstehenden Vertretern „bodenständiger“ Architektur als Synonym des von Moskau gesteuerten Kulturverfalls.31 Er schlägt vor, die teuren Steildächer mit den traditionellen Dachkonstruktionen, die nur als Rumpelkammern und Trockenböden nutzbar sind, durch flache Dächer mit Dachgärten zu ersetzen  : „Das flache Dach gibt […] mehr als bloß eine Nutzfläche, mehr als Luft, Licht und Grün […]. Es kann durch seine neue Funktion ein wichtiges Element neuer menschlicher Gemeinschaft werden, denn wichtiger als neue Baustoffe und Konstruktionsmethoden, ornamentlose Flächen und kubische Formen ist, daß der neue Mensch die Wohnform findet, die ihn zu einer neuen, menschlichen Gemeinschaft führt.“ Von ihm selbst sind – mit einer Ausnahme32 – keine Bauten mit Flachdächern bekannt. Die Aufträge bleiben zu dieser Zeit bereits aus, bedingt durch die krisenhafte politische Entwicklung und den Niedergang des sozialen Wohnbaus. Wegen der Stornierung zweier großer Gemeindebau-Aufträge (bei einem dieser Projekte arbeitet er mit dem Architekten Anton Brenner zusammen) sieht sich Schacherl 1932 gezwungen, seine Kunstsammlung (mit Werken von Gustav Klimt, Egon Schiele, Julius Zimpel, Franz Zülow etc.) dem Kunstpublizisten Hans Ankwicz-Kleehoven zum Kauf anzubieten.33

Politischer Umbruch Nach der Ausschaltung des Parlaments durch das Dollfuß-Regime 1933 kann Schacherl vorerst noch Kurse an Wiener Volkshochschulen halten, wie aus einem unveröffentlichten Buch vom Dezember 1933 mit dem Titel  : „Die Farbe in Kunst und Alltag“ zu 282  | 

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entnehmen ist, das ursprünglich als Kursbehelf entstanden ist.34 Im Vorwort betont Schacherl, keine neue Farbenlehre entwickeln zu wollen  ; es geht ihm um die Sensibilisierung der Allgemeinheit. Interessant sind seine Ausführungen über „Farbe und Linie“ und „Farbe und Fläche“, die seine Auseinandersetzung mit moderner Kunst zeigen, so wie die Passagen über Farbe in Bezug auf Wohnung und Kleidung, mit denen er Neuland in der Volksbildung betritt. Die politischen Ereignisse, insbesondere das Verbot der Sozialistischen Partei und ihrer Organisationen nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934, beeinflussen Schacherls Existenz tiefgreifend. Durch die bedeutende Rolle seines Vaters in der steirischen Sozialdemokratie ist er von klein auf in dieser politischen Bewegung heimisch. Wie seine Geschwister hat er als Jugendlicher durch die Grazer „Kinderfreunde“ wesentliche Impulse erhalten, für die er später das bereits erwähnte Kinderheim im Grazer Volksgarten plant.35 Ob er sich an den Kämpfen im Februar 1934 beteiligt, ist noch nicht geklärt. Ein „Hausbuch“ Franz Schacherls aus dem Zeitraum 1934–1937, ein besonders aufwendig gestaltetes Gästebuch, gibt einen unmittelbaren Einblick in seine private und politische Situation. Es ist ein hochinteressantes Dokument zur politischen, aber auch zur stilistischen Entwicklung in dieser Zeit, da es die in Österreich seltene Rezeption surrealer und konstruktiver Tendenzen zeigt und viele Collagen – von Schacherl, Senkinc und Wiener – enthält.36 Zum Freundeskreis, der sich bei Schacherl häufig trifft, zählen vor allem Künstler  : Franz Senkinc, der erst in letzter Zeit als Fotograf wiederentdeckt wurde  ;37 Otto Rudolf Schatz, heute als einer der bedeutenden Maler und Illustratoren der Zwischenkriegszeit gewürdigt, der später in die Tschechoslowakei emigriert  ;38 Karl Wiener, der in den Jahren 1933–1945 ein politisch brisantes Werk schafft  ;39 Carl Zahrradnik, Mitarbeiter Schacherls, der 1938 flüchtet und sich am bewaffneten Widerstand beteiligt  ;40 Rudolf Pointner, der während des Krieges einen illegalen Privatdruck für Otto Basil herstellt und im surreal-kubistischen Stil illustriert und sich gegen Kriegsende der französischen Widerstandsbewegung anschließt.41 Einige Male ist auch der bekannte Maler und Grafiker Franz Zülow im Hausbuch vertreten. Auch der Maler und Grafiker Ernst Paar, in der NS-Zeit im kulturellen Widerstand und nach dem Krieg Präsident der bekannten Künstlervereinigung „Der Kreis“, dokumentiert seine wiederholten Besuche.42 Die zahlreichen Bilder zu den aktuellen politischen Ereignissen zeigen klar die Haltung der Künstler im „Schacherl-Kreis“. Sie ist meist geprägt von zynischer Ironie, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse richtet. Typisch dafür ist zum Beispiel Schacherls Reaktion auf die politische Rolle der katholischen Kirche im Austrofaschismus („St. Schacherlarius“) oder Franz Senkinc aggressives Blatt mit dem „Inneren Schweinehund“. Besonders viele Reaktionen und Kommentare beziehen sich im Hausbuch auf die Niederschlagung des Schutzbundaufstandes im Februar 1934. Franz Schacherl macht in einer Collage mit einer großen Blutlache vordergründig auf die Grausamkeit der Exekutive bei der Besetzung der Arbeiterwohnbauten aufmerksam. Er verwendet dazu ein

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Franz Schacherl, Collage aus seinem Hausbuch zum Februaraufstand 1934 (Karl Volkert-Hof in Wien 1927 und während der Kämpfe 1934)

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Zeitungsfoto von den Barrikadenkämpfen vor dem von ihm geplanten „Karl-VolkertHof “ in der Thaliastraße. Die Szene ist von der Seite der Aufständischen gesehen, die Polizei bewegt sich auf die improvisierte Barrikade aus Matratzen und Möbeln zu. Die Überdeckung des nach links gekippten Zeitungsfotos des Gemeindebaus – von ihm 1927 datiert – mit dem nach rechts gekippten Foto von 1934 macht nicht nur Assoziationen Richtung „Absturz“ frei, sondern nimmt auch Bezug auf seine eigene Tätigkeit als Architekt dieses Hauses. Die Datumszettel aus dem Abreißkalender vom 14. und besonders vom 15. Februar sind blutig, an diesen Tagen ist der Angriff der Exekutive erfolgt. Dass auch die israelitischen Namenstage auf den Datumszetteln zu sehen sind, könnte ein bewusster Hinweis auf seine jüdische Herkunft sein. Das „Hausbuch“ gibt auch viele Einblicke in die existenzielle Situation Franz Schacherls. Exekutionen und fehlende Aufträge machen ihm das Leben schwer. Bereits vor 1934 scheint ihm ein Gemeindebau-Auftrag entzogen worden zu sein. Nach dem Februar 1934 stellt er selbst ironisch seine ökonomische Lage dar, die sich immer mehr zuspitzt, denn selbst seine Möbel werden vom Exekutionsgericht beschlagnahmt. Ab Herbst 1934 sucht er sich mit der Herstellung von Kunstgewerblichem über Wasser zu halten, zumindest bis zum Jahresende 1935 setzt er diese Tätigkeit fort. Ein Gast, Hans Drexler, reimt am 24. September 1934 holprig aber treffend zu einem Aquarell Rudolf Pointners, das Schacherl bei der Arbeit zeigt  : „Viecher, Knöpf und Eisenbahnen / malt der Scha, es ist zum wanen. / Dieses kommt, weil er nicht Gott vertraut. / Hätt’ er früher Kirchen ’baut, / läg er heut nicht auf der Bärenhaut, / könnt fürs Vaterland sich reich betätigen … / dies, glaub ich, kann man bestätigen.“ Schließlich gelingt es Schacherl doch, wieder Aufträge als Architekt und Innenarchitekt43 zu finden. Auf einem unsignierten Blatt des „Hausbuches“ findet sich ein Hinweis auf die Planung eines privaten Wohnhauses. Ab 1935 arbeitet Carl Zahrradnik 44 in seinem Atelier mit. Schacherl scheint zu dieser Zeit aber auch überlegt zu haben, nach England zu emigrieren. Eine der letzten Seiten des Hausbuches zum Jahreswechsel 1937 gibt einen ernüchternden Kommentar zur Situation  : „Wir haben immer Luftschlösser gebaut  ! Weiterbauen  !  !  !“ Drei weitere Hausbücher Schacherls aus der Zeit ab 1930 befinden sich in England, eine Publikation ist aber wegen der fehlenden Zustimmung der Besitzer leider nicht möglich.

Mitarbeit beim „PLAN“ 1937/38 beteiligt sich Schacherl als Mitglied des Redaktionskollektivs am „PLAN“, einer avantgardistischen und antifaschistischen Zweimonatsschrift für Kunst und Kultur, die erstmals kurz vor dem „Anschluss“ erscheint, dann verboten wird und nach ihrem Wiedererscheinen nach dem Krieg als wichtige Kulturzeitschrift legendären Ruf erlangen wird.45 Mit Otto Basil, dem Herausgeber, ist Schacherl befreundet, für ihn richtet  

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er auch eine Wohnung ein.46 Basil stellt den Architekten im PLAN als Erbauer von großen, vorbildlichen Siedlungen mit insgesamt 1200 Häusern sowie von Volkswohnbauten, Kinderheimen, Genossenschaftshäusern und Arbeiterheimen vor. Er betont auch dessen publizistische Aktivitäten  : „Schacherl ist ein Allround-Man der Kunstund Kulturkritik  ; er ist ein ebenso mutiger wie temperamentvoller Bekämpfer der zahlreichen rückschrittlichen Tendenzen, die sich in den letzten Jahren im Kulturleben breitgemacht haben.“47 In seinem programmatischen Artikel „Über zukünftiges Bauen“ schreibt Franz Schacherl  : „Neue Lebensformen offenbaren sich in einem neuen Lebensgefühl […]. In revolutionärer Weise manifestiert sich dieses Lebensgefühl nur in der Dichtung, in der Malerei und Plastik […]. Die geistigen, sozialen und technischen Errungenschaften unserer Zeit haben in der Baukunst von heute kaum einen nennenswerten Niederschlag gefunden. Die Baukunst ist hinter ihrer Zeit zurückgeblieben, sie wirkt mitunter sogar hemmend auf die Entfaltung des Lebens. Das Ziel, die beste Art des Beherbergens in schönster Form zu verkörpern, wird einem Schönheitsbegriff geopfert, der den Lebensauffassungen früherer Zeiten entspricht. […] Dampfschiffe, Flugzeuge, Stromlinienzüge, Autos, Elektrogeräte besitzen als reiner Zeitausdruck Elemente des neuen Formwillens, welche als Anknüpfung zu den Erscheinungsformen der neuen Baukunst betrachtet werden können.“48

Ein Briefwechsel zwischen Franz Schacherl, Otto Basil und dem Grazer Architekten Herbert Eichholzer49 dokumentiert, dass es zwischen Schacherl und Eichholzer zu einem Streit wegen eines geplanten Beitrages des Architekten Fritz Janeba kommt, dessen Arbeiten Schacherls theoretischen Beitrag ursprünglich illustrieren sollten. Da Eichholzer die Architektur Janebas als mittelmäßig einschätzt und er sich mit seiner Forderung, die „Abteilung Architektur“ im PLAN zu führen, durchsetzt, verlässt Schacherl wutentbrannt das Kollektiv und kann erst durch die Vermittlung von Axl Leskoschek zur weiteren Mitarbeit bewegt werden.50 Den Maler und Grafiker Leskoschek, der an der steirischen Tageszeitung „Arbeiterwille“ mitgearbeitet hat und noch nicht lange aus der Haft im Internierungslager Wöllersdorf entlassen ist, kennt Schacherl bereits aus seiner Grazer Zeit. Weitere Freunde Schacherls im PLAN-Kreis sind, soweit das derzeit belegbar ist, neben Otto Basil auch Carl Zahrradnik und Rudolf Pointner, der im ersten Heft das Bild „Die Tanzenden“ publiziert.51 Nach der Besetzung Österreichs am 13. März 1938 werden die bereits fertigen Nummern 2 und 3 des PLAN beschlagnahmt und Basil wegen „Verspottung des Führers“ angezeigt. Schacherl ist durch seine Mitarbeit an der Zeitschrift exponiert. Seine sozialistische Einstellung und seine jüdische Herkunft erhöhen die Gefahr, ein Opfer der nach lange vorbereiteten Listen anlaufenden Verhaftungswellen zu werden, die bereits in den ersten Tagen nach dem „Anschluss“ beginnen. 286  | 

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BIOGRAFISCHE SKIZZEN Franz Schacherl, „Ja, wo ist er denn der Schacherl? 1. September 1939“, Collage



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Franz Schacherl, Collage, um 1942

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Am 17. März 193852 flüchtet Franz Schacherl nach Paris, nachdem er die Nachricht erhalten hat, dass die Gestapo sein Atelier am Reumannplatz durchsucht und besetzt hat. Durch Vermittlung Baron Rothschilds in Paris erhält er von der portugiesischen Regierung den Auftrag, in Angola, der portugiesischen Kolonie in Westafrika, Spitäler und Regierungsgebäude in Zusammenarbeit mit einem portugiesischen Ingenieur und einem Architekten zu errichten. Doch die zuständigen Behörden in Angola haben weder die Absicht noch die finanziellen Mittel, die Bauten ausführen zu lassen – eine tiefgehende Enttäuschung für Franz Schacherl. Immerhin werden zwei private Gebäude, ein Hotel und ein Kino, nach seinen Plänen gebaut. Ein Brief Franz Schacherls und seiner Franz Schacherl in Angola vor Bauprojektplänen (Auftrag der portugiesischen Regierung) Frau Rosa aus Nova Lisboa vom 26. Mai 193953 gibt Einblick in ihre Lebensverhältnisse in Angola  : Die mangelnden Sprachkenntnisse und die „orientalische Erledigung aller Angelegenheiten“ (Rosa Schacherl) machen ihnen ebenso zu schaffen wie das Klima (bis zu 40°C in der „kühlen“ Jahreszeit). Sie wohnen in einem Hotel und wollen im Juni mit ihrer Tochter Magda ein kleines Haus mit einem großen Garten beziehen. Rosa kritisiert die kolonialen Gebräuche, etwa dass die Frauen „der weißen Götter“ nicht arbeiten dürfen und sich mindestens fünf Hausangestellte halten. „Da die Löhne gering sind, ist der Patron zufrieden und die Schwarzen werden nicht danach gefragt.“ Franz Schacherl schreibt, dass er endlich das Büro installieren kann und in der angolanischen Presse mit Vorschusslorbeeren für ihn nicht gespart wird, obwohl er noch gar nichts planen konnte. Private Aufträge sind von der Zustimmung des Generalgouverneurs abhängig, da er als öffentlicher Angestellter tätig ist. Am meisten strengen Schacherl die häufigen Empfänge an, die ihm mitten im tropischen Afrika besonders lächerlich erscheinen, wobei seine noch geringen Portugiesischkenntnisse die Situation zusätzlich erschweren. Obwohl er noch kein Gehalt bekommen hat, ist er zuversichtlich und schreibt  : „Mein Plan die Familie betreffend, hat sichere Chance.“ Ob er damit Emigrationspläne seiner Familie meint, ist bisher nicht geklärt.  

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Flucht und Exil

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Brief von Franz Schacherl an den Generalkonsul von Großbritannien in Luanda, 30. November 1942

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Franz Schacherls Vater stirbt 1938, seine Mutter wird 1939 von Graz nach Wien deportiert, wo sie 1941 in einem Krankenhaus der Israelitischen Kultusgemeinde stirbt.54 Die Schwester Magda überlebt mit ihrem Mann Walter Fischer in Moskau, sein Bruder Richard emigriert, nachdem er im Zuge der ersten Verhaftungswelle von Juden 1938 nach Dachau deportiert worden und unter der Bedingung der Auswanderung wieder freigekommen ist, nach Neuseeland. Nur seine Schwester Klara bleibt in Graz, von ihrem „arischen“ Mann beschützt.55 Nach drei Jahren folgenlosen Planens in Nova Lisboa übersiedelt Schacherl nach Luanda. Ein Foto von 1940 zeigt ihn mit Arbeitskollegen vor den Wasserfällen des Loculla in Nord-Angola. Es ist das letzte erhaltene Lebenszeichen. Richard Schacherl und Magda Fischer, zwei der Geschwister von Im Mai 1943 stirbt Magda, die Toch- Franz Schacherl, bei einem Steiermarkbesuch, 1973 ter der Schacherls, an einer Blinddarmentzündung infolge der Inkompetenz der behandelnden Ärzte und nicht vorhandener Spitalshilfe. Das ist besonders tragisch, wenn man den vergeblichen Kampf Schacherls bedenkt, seine Spitalsbauten zu realisieren. Am 28. Oktober 1943 stirbt auch Franz Schacherl – während einer Operation wegen eines durchgebrochenen Magengeschwürs – im Alter von 48 Jahren in Luanda. Auch er hätte bei einer besseren medizinischen Behandlung überlebt. Seine Frau Rosa verlässt nach zwei Selbstmordversuchen Angola und geht nach England.

Anmerkungen 1 Der vorliegende Beitrag ist eine von Antje Senarclens de Grancy geringfügig überarbeitete und aktualisierte Version von: Günter Eisenhut, Franz Schacherl, in: Günter Eisenhut/Peter Weibel (Hg.), Moderne in dunkler Zeit. Widerstand, Verfolgung und Exil steirischer Künstlerinnen und Künstler 1933–1945, Graz 2001, 380–391. 2 Rosa Schacherl, Brief vom 2. 5. 1980, Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Akt 16211. Falls nicht anders vermerkt, stammen die folgenden Daten und Informationen aus dieser Quelle. Dieser Brief ist das einzige unter den spärlichen Dokumenten über Franz Schacherl, das über seine Lebensumstände nach der Emigration Auskunft gibt. Er stammt von seiner dritten Frau, Rosa Schacherl, die in England verstorben ist. Der Nachlass Schacherls ist, soweit durch Flucht und Emigration noch etwas vorhanden war, nach seinem Tod in Angola wahrscheinlich mit seiner Witwe Rosa nach England gelangt und dort verblieben. Die Recherchen durch den Verfasser auf Grundlage der letzten Adresse Rosa Schacherls blieben erfolglos. Zu Biografie und Werkverzeichnis Franz Schacherls vgl. auch den Eintrag von Petra Schumann in: www.architektenlexikon.at.



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  3 Zu Michael Schacherl (1868–1939) vgl. Ernst Mang, Steiermarks Sozialdemokraten im Sturm der Zeit, Graz 1988, 249–256.   4 In einem Brief an Lilli Beer schreibt die Witwe Rosa Schacherl: „Franz Schacherl geboren am 28. November 1895, in Wien und in Graz aufgewachsen und dort studiert.“ Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Dok. Nr. 16211. Jedoch konnte seine Inskription weder an der TU Graz noch an der TU Wien, der Akademie der Bildenden Künste Wien und der Universität für angewandte Kunst Wien (ehem. Kunstgewerbeschule) belegt werden. Schriftliche Auskünfte von Dr. Marieluise Vesulak, Archiv der TU Graz, 29. 5. 2009; Juliane Mikoletzky, Archiv der TU Wien, 30. 11. 2009; Ferdinand Gutschi, Archiv der Akademie der Bildenden Künste Wien, 7. 12. 2009; Silvia Herkt, Sammlung der Universität für angewandte Kunst Wien, 13. 1. 2010.   5 Franz Schacherl, Feldpostkarte an seine Schwester Magda in Besitz seiner Nichte, Ruth Scheurer, Kopie im Eisenhut-Archiv, Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum.   6 Der Arzt und Journalist Walter Fischer, Bruder von Ernst und Otto Fischer, heiratete Schacherls Schwester Magda.   7 Walter Fischer, Kurze Geschichten aus einem langen Leben, Mannheim 1986, 33–37.   8 Otto Neurath war „Wirtschaftsdiktator“ der Münchner Räterepublik, führendes Mitglied des „Wiener Kreises“ und prägte die Arbeiterbildung in Österreich. Er entwickelte mit dem Grafiker Gerd Arntz die „Wiener Methode der Bildstatistik“, die sich – nach Neuraths Emigration 1934 nach Holland und 1941 nach England – vor allem in den USA als internationale Bildersprache durchsetzte.   9 Franz Schuster (1892–1972), Architekt, Planer, Lehrer, Schriftsteller, war nach dem Krieg Leiter der Fachklasse für Architektur an der Akademie für angewandte Kunst. Vgl. Helmut Weihsmann, In Wien erbaut. Lexikon der Wiener Architekten des 20. Jahrhunderts, Wien 2005, 361–363. 10 Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934, Wien 1985, 272. 11 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Salzburg–Wien 1983, 237. 12 Erich Raith, Zur Morphologie der Gartenvorstädte, Diss., Wien 1996, 1. Bd., 172. 13 Fischer 1986 (wie Anm. 7), 33–34. 14 Ebenda. 15 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Bd. 3/1, Salzburg–Wien 1990, 276. 16 Raith 1996 (wie Anm. 12), 178. 17 Novy/Förster, zit. n. Raith 1996 (wie Anm. 12), 180. 18 Vgl. Franz Schuster, Ausstellungskatalog Hochschule für angewandte Kunst, Wien 1976, 21. Schuster plante in der Steiermark neben der Siedlung in Knittelfeld auch das 1963–1966 errichtete Gebäude der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter gegenüber dem Grazer Hauptbahnhof. In der NS-Zeit passte er sich an, seine 1948 erschienene Publikation „Der Stil unserer Zeit. Ein Beitrag zum kulturellen Wiederaufbau“ zeigt ihn als einen Vertreter der „gemäßigten Moderne“. 19 Vgl. Otto Kapfinger, Positionen einer liberalen Moderne. Die Wiener Werkbundsiedlung 1932, in: Astrid Gmeiner/Gottfried Pirhofer, Der österreichische Werkbund, Salzburg–Wien 1985, 155ff. 20 Vgl. Helmut Weihsmann 1985 (wie Anm. 10), 384. 21 Siehe dazu die Beiträge zum Kinderheim Lend in diesem Buch. 22 Franz Schuster/Franz Schacherl, Proletarische Kulturhäuser, Wien 1926. 23 Franz Schuster/Franz Schacherl, Proletarische Architektur, in: Der Kampf, Jänner 1926, 34–39. 24 Vgl. die Kritik Josef Franks in seinem Aufsatz „Der Volkswohnpalast“ aus dem Jahr 1926. Über die Polarisierung unter den Architekten vgl. Erich Bernard/Barbara Feller, Moderne Tradition oder internationale Moderne?, in: Heimo Halbrainer (Hg.), Herbert Eichholzer. Architektur und Widerstand, Ausst.kat., Graz 1988, 14–33. 25 Schuster/Schacherl 1926 (wie Anm. 23), 34–36. 26 Ebenda, 36. 27 Ernst May war ab 1925 Stadtbaudirektor von Frankfurt. Auch Margarete Schütte-Lihotzky wurde von ihm nach Frankfurt berufen und ging Anfang der 1930er-Jahre mit ihm nach Moskau. Ihnen schlossen sich eine Reihe von Architekten an, die am Projektierungstrust „Standardgorprojekt“ mitarbeiteten, u. a. auch Herbert Eichholzer. 28 Um zu identifizieren, welche der vielen redaktionellen, ungezeichneten Artikel von Schacherl und welche von Franz Schuster stammen, würde es noch weiterer Recherche bedürfen. 29 Franz Schacherl, Die Städtebauer der ganzen Welt, in: Arbeiterzeitung, 12. 9. 1926. 30 Franz Schacherl, Das flache Dach, in: Arbeiterzeitung, 20. 7. 1932. Das Flachdach wurde als bestimmendes Element der internationalen Moderne in der Architektur als „bolschewistisch“ diffamiert. 31 Siehe z. B. die Angriffe des NS-Theoretikers Paul Schultze-Naumburg gegen das „Bauhaus“ in Dessau. Auch Herbert Eichholzer wurde in der Steiermark mit ähnlichen Argumenten angegriffen. 32 1926 planten Schuster und Schacherl in Wien ein Einfamilienhaus in einer strengen Quaderform mit Flachdach und Dachterrasse, das jedoch vor einigen Jahren abgerissen wurde. Vgl. Iris Meder, Offene Welten. Die Wiener Schule im Einfamilienhaus 1910–1938, Diss., Stuttgart 2004, 369 und Abb. 541.

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33 Brief vom 4. 11. 1932, Handschriftenabteilung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Vgl. Meder 2004 (wie Anm. 32), 680. 34 74-seitiges Typoskript im Besitz von Ruth Scheurer, Exemplar Nr. 5. „Die Drucklegung dieses Buches scheiterte an der Unmöglichkeit es mit den notwendigen Mehrfarbendrucken auszustatten […].“ (Franz Schacherl im Vorwort). 35 Richard Schacherl-Sharell, Wie es begonnen hat, in: Anton Afritsch d. J., Der Kinderfreund Anton Afritsch, Graz 1958, 82–88, 86. 36 Die Bezüge Schacherls zur sozialistischen Illustrierten „Kuckuck“, in der er in der Nummer 20/1932 einen Artikel veröffentlichte, sind noch nicht geklärt. Schacherls „Hausbuch“ umfasst 72 Seiten mit Zeichnungen, Aquarellen, Collagen und Texten. Das in Pergament gebundene Buch ist das dritte in Folge. Es wurde auf CD digitalisiert (digital im Eisenhut-Archiv, Neue Galerie Graz, Landesmuseum Joanneum. Rechte: Ruth Scheurer, Wien). 37 Vgl. Monika Faber, Zeit ohne Zukunft. Photographie in Wien 1918–1938, Wien 1999. 38 Vgl. Wilfried Daim, Otto Rudolf Schatz, Wien 1978. 39 Der umfangreiche Nachlass von Ernst Wiener wurde erst im Zuge der Recherchen für den Ausstellungskatalog „Moderne in dunkler Zeit“ (siehe Anm. 1) aufgefunden. Der Verfasser verdankt diesen Fund den freundlichen Hinweisen Wilfried Daims. 40 Vgl. Carl Zahrradnik, Eigenverlag, „Galerie am Bauernhof“, o. J., Wischathal, NÖ. Kopie im Eisenhut-Archiv, Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum. 41 Vgl. Eisenhut/Weibel 2001 (wie Anm. 1). 42 Vgl. ebenda. 43 Ruth Scheurer, Brief vom 25. 11. 1998 an den Verfasser, Eisenhut-Archiv, Neue Galerie Graz, Landesmuseum Joanneum. Ruth Scheurer ist die Nichte Franz Schacherls, die Tochter seiner Schwester Magda, die mit Walter Fischer verheiratet war. Sie lebt in Wien und unterstützte die Recherche für diese biografische Skizze tatkräftig. 44 Carl Zahrradnik, Maler und Grafiker, Wien 1909–1982 Wien, Mitarbeit am „Schacherl-Hausbuch“, Mitglied im „Plan-Kollektiv“ 1937/38, emigrierte nach dem „Anschluss“ nach Dänemark, dann nach Frankreich, wo er im französischen Widerstand tätig war. Er ging 1943 nach Italien, wo er aus der Gestapo-Haft entfliehen konnte und sich 1944 den Partisanen anschloss. 1945 Sekretär der österreichischen Freiheitsbewegung in Rom. Vgl. Carl Zahrradnik, Ausst.kat., Floridsdorf 1974. 45 PLAN 1 (1938), H. 1. Eines der nur drei erhalten gebliebenen Exemplare befindet sich im Dietrich-Ecker-Archiv, Graz (aus dem Nachlass Herbert Eichholzer). Kopie im Eisenhut-Archiv, Neue Galerie Graz, Landesmuseum Joanneum. Zum „Vorkriegs-PLAN“ siehe: Günter Eisenhut, Das erste Heft der legendären Kulturzeitschrift PLAN, in: Heimo Halbrainer (Hg.), Herbert Eichholzer. Architektur und Widerstand, Ausst.kat., Graz 1998, 82–90. 46 Zu Basil vgl. Volker Kaukoreit/Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Otto Basil. Otto Basil und die Literatur um 1945: Tradition, Kontinuität, Neubeginn (= Profile 2), Wien u. a. 1998. 47 PLAN 1 (1938), H. 1, 22. 48 Ebenda, 4–5. Eine Abbildung von Ernst Plischkes Haus am Attersee illustriert Schacherls Artikel. Plischke, einer der Hauptvertreter der internationalen Moderne in der österreichischen Architektur, ist in dem Heft mit der Abbildung einer weiteren Arbeit vertreten, ebenso Herbert Eichholzer mit dem Modellfoto seines Gemeinschaftswohnhochhauses in Moskau von 1933 und seiner „Junggesellen-Pfahlhütte“ in Graz. 49 Über die Gründung und Herausgabe gibt es ein umfangreiches Konvolut an Briefen von Herbert Eichholzer, Otto Basil, Franz Schacherl, Axl Leskoschek und Kurt Neumann im Teil-Nachlass Eichholzers bei Hermine Eichholzer (Schwägerin), Graz. 50 Statt von Janeba veröffentlichte Eichholzer Arbeiten von Plischke. Vgl. Eisenhut 1998 (wie Anm. 45), 89. 51 Zu den Mitgliedern des Kollektivs und den Beiträgern zählen neben den schon Genannten die Schriftsteller Franz Theodor Csokor, Rudolf Geist und Theodor Kramer, die Maler Lois Pregartbauer, Gottfried Goebel, Edgar Jené, Carl Rabus, die Bildhauerin Anna Mahler und der Architekt Friedrich Zotter. Siehe Eisenhut 1998 (wie Anm. 45). 52 Rosa Schacherl schreibt in ihrem Brief (wie Anm. 2) „Februar“, wahrscheinlich in Verwechslung mit dem Februar 1934. 53 Brief an Michael Schacherl aus dem Besitz von Ruth Scheurer, Kopie im Eisenhut-Archiv, Neue Galerie Graz, Landesmuseum Joanneum. 54 DÖW-Datenbankeintrag (Zentralfriedhof). 55 Mitteilung von Ruth Scheurer.

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AUTORINNEN UND AUTOREN Dieter A. Binder Historiker, geb. 1953, Univ. Prof., lehrt seit seiner Habilitation für Österreichische Geschichte und Österreichische Zeitgeschichte 1983 am Institut für Geschichte der KarlFranzens-Universität und seit 2004 an der Fakultät für Mitteleuropastudien der Andrássy Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte  : Geschlossene Gesellschaften, regionale Identitäten, österreichische Zeit- und Gegenwartsgeschichte. Günter Eisenhut Galerist, geb. 1946 in Graz. Autor, Herausgeber u.a. „Moderne in dunkler Zeit – Verfolgung, Widerstand und Exil steirischer Künstlerinnen und Künstler 1933–1948“ und „Meisterwerke der Steirischen Moderne“, Kurator zahlreicher Ausstellungen, Obmann der „prenninger gespräche“, Mitglied des Kuratoriums des Joanneums. Betreiber der „galerie remixx – bilder_bücher_fotos der moderne“. Gabu Heindl Selbstständige Architektin in Wien. Studium in Wien, Tokyo und Princeton. Lehre an diversen Universitäten, u.a. Berlage Institute Rotterdam, TU Delft, TU Graz, derzeit an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Publikationen in Fachzeitschriften, Büchern und Katalogen. Herausgeberin von „Arbeit Zeit Raum. Bilder und Bauten der Arbeit im Postfordismus“, Wien 2008. Martin Krammer Architekt, geb. 1968 in Graz. Seit 2003 INNOCAD Planung und Projektmanagement GmbH, Graz  ; seit 1999 Präsident der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs – Sektion Steiermark  ; seit 2007 Vorsitzender des Kuratoriums des HDA, Graz. Daneben intensive Auseinandersetzung mit Bühnenbildern, Rauminstallationen, Eventproduktion, Kuratorentätigkeit, Workshopleitung, Vortragstätigkeit und der Herstellung von Essen (Experimentalkonditorei und -imbiss). Judith Laister Kulturanthropologin und Kunsthistorikerin, geb. 1972 in Linz, lehrt und forscht an der TU Graz (Institut für Stadt- und Baugeschichte) und der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte  : Stadtanthropologie, Raumtheorien, Visuelle Anthropologie, Gegenwartskunst. Forschungsprojekt zu künstlerischen und architektonischen Strategien partizipativer Stadterneuerung.



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Gerald Lamprecht Historiker, geb. 1973, Leiter des Centrums für Jüdische Studien der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte  : Jüdische Regionalgeschichte, Antisemitismus, NS-Herrschaftssystem und Verfolgung der Jüdinnen und Juden sowie Antisemitismus. Elisabeth Lechner Architektin, geb. 1957 in Graz. Studium der Architektur an der TU Graz, 1984 Diplom bei Prof. Sokratis Dimitriou (Thema  : Sozialpädagogische Wohngemeinschaften), 1989–1997 gemeinsames Architekturbüro ARCO mit Architekt Viktor Jung in Graz, seit 1997 eigenes Architekturbüro in Graz. Iris Meder Kunsthistorikerin, Studium der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft, Kuratierung von Ausstellungen und Symposien u. a. für ÖGFA, ORTE, ZV, Künstlerhaus, Wien Museum und Jüdisches Museum Wien. Zahlreiche Publikationen zur Kunst und Architektur der europäischen Moderne. Seit 2008 FWF-Forschungsprojekt zu Landschaftsarchitektur in Österreich 1912–1945. Ursula Mindler Zeithistorikerin, geb. 1979, studierte in Graz und Uppsala Geschichte und arbeitet zurzeit an ihrer Dissertation. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus (mit besonderer Berücksichtigung von „Tätergeschichte“ bzw. regionalem Schwerpunkt auf Steiermark und Burgenland). Lehrbeauftragte am Institut für Geschichte und derzeit am Centrum für Jüdische Studien und am Institut für Geschichte/ Zeitgeschichte an der Universität Graz beschäftigt. Julia Poelt geb. 1960 in München, Diplom-Bibliothekarin, Studium der Volkskunde (Ethnologia Europaea) in München und Graz. Seit 2002 an der Universitätsbibliothek der TU München. Veröffentlichungen  : „… daß du spürst  : das Kind mag mich“, in  : „,Nur eine Frage der Zeit‘. 16 Fallstudien zum Älter- und Altwerden“, Graz 1999  ; „Die Grazer Stadtrandsiedlungen der Randsiedlungsaktionen 1932–1937“, Graz 2008. Antje Senarclens de Grancy Kunsthistorikerin, geb. 1964, Studium in Graz, Wien und Paris. 1994–2004 Mitarbeiterin des SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“, 2003–2007 und seit 2010 Architekturfakultät der TU Graz. Freiberufliche wissenschaftliche und kuratorische Tätigkeit. Forschungsschwerpunkte  : Österreichische Architektur 1900–1960, Kulturreformbewegungen, Architektur und Identität.

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Werner Suppanz Historiker, Assistenzprofessor am Institut für Geschichte/Zeitgeschichte der Universität Graz. 1996–2004 Mitarbeiter des SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“. Forschungsprojekte und Publikationen zu Gedächtnis- und Identitätspolitik, politische Kultur, Säkularisierung und Moderne, Kulturtheorie. Jördis Tornquist Architektin, geb. 1963 in Graz, Studium an der TU Graz, Diplom 1990. Gemeinsames Architekturbüro mit Johannes Fiedler. Arbeitsschwerpunkte  : Städtebau, öffentlicher Raum, Stadtgeschichte, z.B.  : Erhaltung und Sanierung „Haus Lind“ von Herbert Eichholzer, Lehrbeauftrage am Institut für Wohnbau, TU Graz  ; seit 2008 Mitglied des Beirates für BürgerInnenbeteiligung der Stadt Graz Heidemarie Uhl Historikerin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte. 2005 Habilitation im Fach Allgemeine Zeitgeschichte an der Universität Graz, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Graz. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Gedächtniskultur und zur österreichischen/europäischen Geschichtspolitik. Heidrun Zettelbauer Historikerin und Kulturwissenschafterin, geb. 1972. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre am Institut für Geschichte, Fachbereich Österreichische Geschichte der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte u.a. Geschlechtergeschichte und -theorie, Deutsch-/Nationalismus, Biographieforschung, Körpergeschichte, Museologie  ; freiberuflich tätig im Museums- und Ausstellungsbereich.



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ABBILDUNGSNACHWEIS Archiv „Historia academica judaica“, Graz  : 217 Archiv Kinderfreunde Steiermark, Graz  : 170, 177, 182, 225 Archiv der Technischen Universität Graz  : 98 (u.), 101, 258, 261 (o.), 262 (li. o.) Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien  : 20, 21, 273 (re.), 288, 289, 290, 291 Eisenhut-Archiv, Neue Galerie, Universalmuseum Joanneum  : 272, 273 (li.), 276, 277 (o. und u.), 278 (o. und u.), 279, 281, 284 Eva Mohringer-Milowiz, Graz  : 26, 48, 54, 82, 87, 105 (u.), 130, 131 (o. und u.), 146 (o. und u.), 150, 158, 184, 194, 204, 208 (alle), 243 (u. li. und re.), 244 (re.) Ingrid Mayr, Graz  : 149 (re.), 156, 173 (u.), 174 Innocad, Graz  : 210 Multimediale Sammlungen Graz, Universalmuseum Joanneum  : Coverbild, 12, 16, 68, 95, 114, 116, 121, 125 (o. li. und re.), 126, 127 (o. li. und u.), 128 (li. und re.), 134, 147, 148, 154, 239, 255, 256, 260, 262 (re. o. und li. und re. u.), 262, 266 Privatarchiv Antje Senarclens de Grancy, Graz  : 199, 261 (u.), 265 (li.) Privatarchiv Claus Zerkowitz, Graz  : 125 (u. re.), 232, 233, 234, 235 (o. und u.), 236, 244 (li.), 246, 247 (li. und re.), 248, 249 (u.), 250 Privatarchiv Eva Klepp-Afritsch, Seiersberg  : 172, 173 (o.), 176, 177, 180, Privatarchiv Günter Eisenhut  : 287 Privatarchiv Hansjörg Weidenhoffer, Graz  : 127 (o. re.), 243 (o.) Privatarchiv Hedwig Wingler, Köflach  : 14 Privatarchiv Jördis Tornquist, Graz  : 138 Privatarchiv Vera Bauer, Passail  : 40 (li. und re.), 145, 187, 188, 198 (alle), 200 (li. und re.), 203, 206 Sammlung Kubinzky, Graz  : 141 Sammlung Spari  : 99 Stadtarchiv Graz  : 118, 122, 161, 162, 164, 171, 192, 237 (o. und u.), 240, 242, 251 Stadtgemeinde Fohnsdorf  : 165 (u.) Steiermärkisches Landesarchiv  : 105 (o.), 129, 259 10 Jahre Steiermärkischer Werkbund, Graz 1933  : 31 Adreßbuch der Stadt Graz  : 249 (o.), 253 Die Industrielle Bezirkskommission Wien, Wien 1928  : 100, 108 Franz Schuster/Franz Schacherl  : Proletarische Kulturhäuser, Wien 1926  : 166, 167, 168 Grazer Nachrichten, 1929  : 18 H. K. Zisser, Graz 1933  : 98 (o.li.) Jahrbuch Arbeiterkammer 1929  : 165 (o.)  

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Minhag Styria, Graz 2005  : 149 (li.) Myra Warhaftig, Sie legten den Grundstein, Berlin 1996  : 252, 269 Österreichische Bau- und Werkkunst, 1928/29  : 265 (re.) Österreichische Kunst, 1933  : 102 (o. und u.), 103 (li. und re.) Rudolf Hofer, München 1931  : 98 (o. re.) Sezession Graz, Graz 1933  : 196 Tagespost, 1938  : 136 Wasmuths Monatshefte für Baukunst 1926  : 275 Werbebroschüre Südmark-Studentenheim, o. J.: 219

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ANTJE SENARCLENS DE GRANCY

„MODERNER STIL“ UND „HEIMISCHES BAUEN“ ARCHITEKTURREFORM IN GRAZ UM 1900 REIHE KULTURSTUDIEN. SONDERBÄNDE, BAND 25

Auf der Suche nach Alternativen zum „Wahnsinnsgebäude“ (Otto Wagner) des Historismus orientierte sich die Architektur in Graz um 1900 zum einen an der Wiener Moderne, im Speziellen dem Kreis um Otto Wagner, zum anderen an den Vorstellungen eines „bodenständigen“, „heimischen“ Bauens, wie sie von Theodor Fischer und Paul Schultze-Naumburg vertreten wurden. Im Zentrum steht hier die Frage nach der Umsetzung der unterschiedlichen Erneuerungsbestrebungen der Architektur der Jahrhundertwende im kulturellen Kräftefeld einer zentraleuropäischen Stadt „zweiter Ordnung“. Ein interdisziplinär verstandener kulturwissenschaftlicher Ansatz, der auf „Rekontextualisierung“ und Rekonstruktion von Mehrdeutigkeit angelegt ist, eröffnet neue Sichtweisen auf die Vielfalt der Architektur der frühen Moderne.

2001. 459 S. 191 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-99284-4

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BIRGIT SCHWARZ

GENIEWAHN: HITLER UND DIE KUNST

Zu den folgenreichsten Eigenschaften Hitlers gehörte, dass er sich für ein Genie hielt. Übernommen hatte er die Genievorstellung bereits in seiner Jugend aus Künstlerbiographien des 19. Jahrhunderts. Nach seiner Ablehnung an der Wiener Akademie verinnerlichte er sie im Konzept des verkannten Künstlers. Das romantische Geniekonzept, das sich längst ideologisiert und mit nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Inhalten aufgeladen hatte, bildete die Basis seiner Weltanschauung und Selbstkonzeption als „Führer“, Künstler-Politiker und Stratege. Künstlertum und Geniewahn erzeugten auch die Notwendigkeit der ständigen Selbstbestätigung und Selbstdarstellung als Kunstfreund und Mäzen und bildeten damit die Grundlage für die Kulturbesessenheit des Dritten Reiches. War die Architektur das Medium des NS-Staates, so dienten historische Gemälde Hitlers persönlicher Imagepflege. Erstmalig werden die Gemäldekollektionen in Hitlers Wohnungen und diversen Residenzen vorgestellt und ihre Bedeutung rekonstruiert, die die Hauptwerke für den Diktator hatten. 2009. 400 S. 114 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78307-7

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Volker Wahl (hg.)

Das sta atliche Bauhaus in Weimar Dokumente zur geschichte Des instituts 1919–1926 ( Veröffentlichungen Der historischen kommission für thüringen. grosse reihe, BanD 15)

Das Staatliche Bauhaus in Weimar gilt als international bedeutsamste Kunstschule des 20. Jahrhunderts. Im April 1919 als künstlerisch-handwerkliche Lehranstalt von dem Architekten Walter Gropius (1883-1969) gegründet, lehrten und studierten hier bis zur Schließung im März 1926 namhafte Künstler der Moderne. Mit dem vorliegenden Band wird die bisher umfangreichste Auswahl der Schlüsseldokumente für die institutionelle Entwicklung dieser Kunstlehranstalt in einer quellenkritisch erarbeiteten Edition vorgelegt. Sie enthält zahlreiche unbekannte und zuvor nicht publizierte Texte und zeichnet sich gegenüber früher erschienenen Veröffentlichungen durch ihre Vollständigkeit in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht aus. Von der Gründungsgeschichte 1919 bis zum Austritt des Lehrkörpers und der Studierenden 1925 sowie der folgenden Neuformierungsphase als Staatliche Hochschule für Handwerk und Baukunst bis 1926 werden alle entscheidenden Entwicklungen dieses Instituts dokumentarisch belegt und damit der Bauhausforschung neue Quellen erschlossen. Inhalt der beiliegenden CD-Rom: Druckschriften des Bauhauses (Faksimile-Edition), Personalakten der Lehrer, Befragungsprotokolle des Kultusministeriums 1920, Erläuterungen zu den Dokumenten im Hauptband, Register und Gesamtinhaltsverzeichnis 2009. VI, 820 S. 36 S/w-Abb. Auf 32 TAf. MIT eIneM begleITbAnd Auf Cd-RoM. gb. 170 x 240 MM. ISbn 978-3-412-20170-8

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Jost Hermand

Kultur in finsteren Zeiten naZifascHismus, innere emigr ation, exil

In fast allen politischen Debatten der Zeit zwischen 1933 und 1945 hat der Begriff Kultur eine zentrale Rolle gespielt. Während es dabei in der Inneren Emigration und im Exil fast ausschließlich um hochkulturelle Vorstellungen ging, sind die Nationalsozialisten auf diesem Sektor stets von strategischen Gesichtspunkten ausgegangen. Sie boten jeder Bevölkerungsschicht – trotz aller vorgeblichen Volksgemeinschaftskonzepte – das ihnen Gemäße: der Bildungsbourgeoisie die Werke der klassischen Tradition und den sogenannten breiten Massen eine sie von den mörderischen Fernzielen der NSDAP ablenkende Unterhaltungskultur, deren wichtigstes Ziel es war, sie bei guter Laune zu halten. Jost Hermand zeigt in seinem neuen Buch, daß dieses Kalkül maßgeblich zu jener Erfolgsgeschichte des Nazifaschismus beigetragen hat, die für die Nachgeborenen bis heute ein bestürzendes Phänomen ist. Ihre Gegner in der Inneren Emigration und im Exil – ohne Zugang zu den auf Breitenwirkung zielenden Massenmedien und daher im Bereich der randständigen höheren Künste bleibend – blieben dagegen relativ wirkungslos und konnten erst im Zuge der sogenannten Vergangenheitsbewältigung nach dem Dritten Reich die nötige Anerkennung finden und damit eine Wirkung entfalten. 2010. 337 S. Mit 53 S/w-Abb. Gb. Mit SU. iSbN 978-3-412-20604-8

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