Architektur in Zeiten der Krise: Aktuelle und historische Strategien für die Gestaltung „neuer Welten“ 9783035627756, 9783035627725

In times of crisis: Quo vadis, architecture? Driven by the desire to create better worlds in the face of multiple cris

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Architektur in Zeiten der Krise: Aktuelle und historische Strategien für die Gestaltung „neuer Welten“
 9783035627756, 9783035627725

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Theoretische Rahmung
Architektur in Zeiten der Krise
Ein Fazit mit Aussicht
Anhang

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Architektur in Zeiten der Krise

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 2

Edition Angewandte Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien Herausgegeben von Gerald Bast, Rektor

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 3

Susanne Stacher

Architektur in Zeiten der Krise Aktuelle und historische Strategien für die Gestaltung „neuer Welten”

Birkhäuser Basel

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 4

Impressum Library of Congress Control Number: 2023936682

Susanne Stacher Doktor der Philosophie, Habilitation im Fachbereich Architektur und Städtebau, Professorin an der École nationale supérieure d’architecture

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

de Versailles

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

https://www.versailles.archi.fr/fr/annuaire-enseignants/susanne-stacher

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von der Universität für angewandte Kunst Wien und mit Unterstützung der École nationale

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten

supérieure d’architecture de Versailles und ihres Forschungslabors LéaV

Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung,

Mit Gastbeiträgen von: Paolo Amaldi, CH-Genf, und Philippe Potié,

der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und

F-Nizza

der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses

Projektleitung „Edition Angewandte“ für die Universität für

Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den

angewandte Kunst Wien: Anja Seipenbusch-Hufschmied, A-Wien

Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergü-

Content & Production Editor für den Verlag: Katharina Holas, A-Wien

tungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Übersetzung aus dem Französischen: Caroline Gutberlet, D-Berlin Lektorat: Claudia Mazanek, A-Wien

ISSN 1866-248X

Layout, Gestaltung und Satz: Katharina Erich, A-Wien

ISBN 978-3-0356-2772-5

Covergestaltung: Floyd E. Schulze, Birkhäuser Verlag, D-Berlin

e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2775-6

Litho Buchkern: Katharina Erich und Elmar Bertsch, A-Wien

Französische Print-ISBN 978-3-0356-2774-9

Litho Cover: Pixelstorm Litho & Digital Imaging, A-Wien

Die französische Originalausgabe erscheint zeitgleich 2023 unter dem

Druck: Holzhausen, die Buchmarke der Gerin Druck GmbH,

Titel: Architecture en temps de crise. Stratégies actuelles et historiques pour la conception de „mondes nouveaux“

A-Wolkersdorf Papier: Nautilus Classic 90 g/m , holzfrei Bilderdruck matt 135 g/m 2

2

Schriften: Kern: Avenir, MetaPlus, Nami Com; Cover: Arial und Times

© 2023 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Im Westfeld 8, 4055 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 987654321

www.birkhauser.com

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 5

Inhalt

2 Zurück zur Ländlichkeit Streben nach Entschleunigung ...................................

62

• Ebenzer Howard: Die Gartenstadt als Vorbild der Vorwort ....................................................................

6

Theoretische Rahmung

..............................

9

Krisen ........................................................................

10

modernen Agrarstadt ..................................................

66

• Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky: Haus mit einer Mauer und Selbstversorgergarten, 1920 .............. • Hannes Meyer: Siedlung Freidorf, Muttenz, 1919–1924 • Welche Entwürfe, welche Ästhetiken angesichts der 12

Psychologie der Krise ................................................

13

83

3 Schaffen durch Zerstören Beschleunigung als Mittel zum Zweck ......................

98

• Marinetti und Sant’Elia: Die Manifeste des Futurismus

• Pierre-Henri Castel: Apokalypse, Angst und Schrecken – wie gelingt eine Wiederverzauberung der Welt? ........

13

• Sigmund Freud: Todestrieb und Sublimierung ...........

14

1909/1914 ..................................................................

101

• Le Corbusier: Plan Voisin de Paris, 1925 ...................... 106 • Gordon Matta-Clark: Anarchitektur und Conical

• Hartmut Rosa: Beschleunigung und Resonanz, eine neue Weltbeziehung ...........................................

73

• Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung, 1920/1933 ..................................................................

Krise? ..........................................................................

69

17

Intersect, 1975 ............................................................ 117 • Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet, ab 2020 ....... 125

Ästhetik ....................................................................

18

Nutzungen und Rituale .............................................

19

Krise, Katastrophe, Zusammenbruch, Kollaps ............

20

4 Wiederverzauberung der Welt Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft 134 • Paul Otlet und Le Corbusier: Weltmuseum und Museum mit unbegrenztem Wachstum, 1928/1939 ..................... 136 • Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace, 1961–1965 .................................................................. 148

Zeit ...........................................................................

22

• Fortschritt ...................................................................

22

• Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug, 1969

• Beschleunigung ..........................................................

24

• Ryūe Nishizawa und Rei Naito: Teshima Art Museum,

• Subjektive Zeit ............................................................

26

Vier Figuren ..............................................................

28

157

2010 ............................................................................. 162

Ein Fazit mit Aussicht

................................... 168

Andere Zeiten, andere Räume – Paolo Amaldi ............... 177

Architektur in Zeiten der Krise

...............

33

Angesichts eines „Endes aller Zeiten“ – Philippe Potié .. 181

Sprung rückwärts in Raum und Zeit ..........................

34

Anhang

1 Archaismus • J.-N.-L. Durand und J.-T. Thibault: Tempel für die

................................................................ 183

Abbildungsverzeichnis ..................................................

184

Gleichheit, 1793 ..........................................................

40

Bibliografie .................................................................... 187

• Bernard Rudofsky: Architektur ohne Architekten, 1964

46

Index ............................................................................. 193

• Hans Hollein: Absolute Architektur, 1962 ...................

50

Dank ............................................................................... 199

• Junya Ishigami: House & Restaurant, Yamaguchi, 2019

55

Biografie der Autorin ..................................................... 200

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Vorwort Was nun folgt, ist Spekulation, oft weitausholende Spekulation, die ein jeder nach seiner besonderen Einstellung würdigen oder vernachlässigen wird. Im weiteren ein Versuch zur konsequenten Ausbeutung einer Idee, aus Neugierde, wohin dies führen wird.  Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920)

Giorgio de Chirico, Die Eroberung des Philosophen, 1913/1914, Öl auf Leinwand Die Zeit auf der Uhr, die einen frühen Nachmittag anzeigt, passt nicht zur düsteren Stimmung des Gemäldes, dessen lange Schatten von einem wesentlich späteren Zeitpunkt künden. Diese Diskrepanz wirkt beunruhigend, denn man verliert die zeitliche Orientierung. Die glänzende Kanone im Vordergrund, vor der zwei metallisch wirkende, wie Kanonenkugeln anmutende Artischocken liegen, sowie die Abwesenheit von Menschen und die mutmaßlich vollkommene Stille verstärken dieses Krisengefühl. Nur die Technik – zudem verkörpert durch die fahrende Eisenbahn – scheint wie von selbst in Bewegung zu sein, als Sinnbild eines Fortschritts, der bedrohliche Züge angenommen hat. Der Titel „Die Eroberung des Philosophen“ verweist auf diesen Kipppunkt, wo die Technik an die Stelle des reflexiven Denkens tritt.

6

Vorwort

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 7

Verschiedene Positionen aus Wissenschaft und Philosophie

Meine Hypothese lautet, dass historische Krisen, die eine

zu den aktuellen Krisen geben uns ein Werkzeug an die Hand,

Störung der linearen Zeit und des Strebens nach Fortschritt

um die Vorstellungen von Fortschritt, Wachstum, Natur und

(der seit der Moderne als kontinuierliche Dynamik begriffen

Gesellschaft zu hinterfragen, die in Architekturprojekten

wird) hervorrufen, gleichzeitig auch immer zu ontologischen

jüngeren Datums zum Tragen kommen. Die ästhetischen Ent-

Krisen führen, in denen unsere Beziehung zur Welt infrage

scheidungen und Entwurfsstrategien dieser Projekte werden

gestellt wird. In diesen Momenten des Umbruchs werden

denen aus anderen Krisenzeiten, die sich im Laufe der

Fortschritt, Kultur und Gesellschaft in ihren Grundlagen und

Geschichte ereignet haben, gegenübergestellt. Krisen sind

ihrem Wesen hinterfragt. Wenn Krisen menschliches Handeln

Kippmomente, in denen die Zeit gleichsam stehen bleibt, sich

radikal infrage stellen, sind die Haltungen, die Architekt:innen

die Erwartungen an die Zukunft verändern und sich neue

in solchen destabilisierenden Momenten einnehmen, als

Perspektiven auftun.

psychische Mechanismen anzusehen, die aus deren inneren

Wir werden die Gegenwart hinterfragen, indem wir die Archi-

Krisen resultieren. Das zwingt sie, Stellung zu beziehen und

tekturgeschichte neu auslegen. Dabei werden wir uns vielmehr

durch die eigenen Entwürfe neue Weltbeziehungen zu schaffen.

auf die Brüche konzentrieren und eine Deutung durch das

Historische Krisen fungieren als Auslöser und wecken starke

Prisma der Krise unterbreiten, statt die heroischen Ereignisse,

Emotionen, die uns zum Nachdenken und Handeln bewegen:

die großen Erfindungen und den technischen Fortschritt zu

Wir projizieren uns in sie hinein und stützen uns auf sie, um

beleuchten und einem Narrativ zu folgen, dem eine vermeint-

Projekte zu entwerfen, die die Welt grundsätzlich hinterfragen

liche historische Linearität zugrunde liegt.

und somit ihrerseits die Welt in eine Krise stürzen. Da sie eine

Denn ist es nicht so, dass gerade in Momenten tiefgreifender

Gegenströmung hervorbringen, üben architektonische Entwürfe

Veränderungen, die stets mit einer starken Beschleunigung

eine Rückwirkung auf die Gesellschaft aus. Insofern können

einhergehen, unter dem Vorzeichen der Dringlichkeit bedeu-

sie nicht nur als „Ausdruck“ der Krisen betrachtet werden,

tende Projekte entstehen, die eine neue Weltbeziehung zu

denen sie eine dinghafte Gestalt verleihen, sondern auch als

skizzieren vermögen? Dass die Ausarbeitung solcher Projekte

„Agierende“, die auf ihre Weise an der Transformation

letztlich das einzige Mittel ist, um in unsicheren und angstbe-

von Gesellschaft mitwirken. Somit können wir Krisen durch

setzten Zeiten weiterzukommen? Aber wie kann aus der Angst

diese Architekturen verstehen, und das ist genau der Blick-

heraus ein Schaffensdrang entstehen?

winkel, aus dem heraus ich meine Erkundungen unternehmen

Wenn ich heute im Kontext der Krisen, die unsere gegenwär-

werde. Welche Art von Projekten entwickeln Architekt:innen,

tige Gesellschaft auf globaler Ebene erschüttern und bedro-

welcher Strategien und Mittel bedienen sie sich, was ist ihr

hen, die Architekturgeschichte durch das Prisma der Krise zu

Instrumentarium?

beleuchten versuche, dann in dem Bemühen, uns aus dem

Momente des Stillstands eröffnen ein fiktionales Feld; das

lähmenden Schrecken zu lösen und zum Nachdenken und

Unerwartete, Schwebende, Unbekannte entfacht ein kreatives

Handeln anzuregen.

Potenzial, das von dem Drang getragen ist, die Welt zu verändern: Architekt:innen bemühen sich, die Gesellschaft umzu-

Zusammenhänge zwischen Krise, Zeit und Ästhetik

wandeln, das Stadt-Land-Verhältnis zu überdenken, sich

Wo große historische Umbrüche eine neue ästhetische

andere Städte und Wohnformen vorzustellen, die Architektur

Dynamik – begriffen als Ausdruck einer kulturellen Renais-

und ihre Materialität zu erneuern, aber auch, eine innovative

sance – hervorbringen, werden bestimmte Muster und

Ästhetik zu schaffen, um eine Dynamik des Neubeginns in

Konstanten erkennbar, die der Bildung einer kollektiven Vor-

Gang zu setzen. Welchen Blick auf die Welt schlagen sie vor?

stellungswelt zugrunde liegen. Diese Umbrüche infolge von

Gemäß welcher Ästhetik (im Sinne einer sinnlichen Erfahrung)

Wirtschafts-, Finanz-, Staats-, Gesellschafts- oder Gesund-

und zu welchen Zwecken?

heitskrisen sowie von Kriegen oder Umweltkatastrophen

Die Vorstellung vom „Ende der Zeiten“ fordert uns auf, über

schlagen sich insbesondere in der Architektur nieder, die

unsere Beziehung zur Welt nachzudenken. Krisen bewirken

wie andere künstlerische Praktiken als Vorreiterin das Bild

einen Bruch, eine klare Zäsur zwischen dem Davor und dem

einer „neuen Welt“ über die Trümmer der „alten“ breitet.

Danach. Sie unterbrechen die Dynamiken, die bis dahin die Vorwort

7

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 8

Welt bestimmten, und haben ihre eigene Zeitlichkeit. In der

Die Mechanismen dieser räumlich-zeitlichen Eingriffe, die

kurzen Spanne des Kippmoments laufen die Geschehnisse

verschiedene Möglichkeiten des Reagierens, Projizierens und

verdichtet, wie in Zeitlupe ab. Angesichts von Krisen, so meine

Handelns erahnen lassen, werden anhand unterschiedlicher

Hypothese, müssen Architekt:innen Strategien entwickeln, um

Beispiele aufgezeigt. Dabei stütze ich mich im Wesentlichen

ihre eigene Raum-Zeit zu erschaffen, und sich dem Chaos

auf die Projekte und Schriften der jeweiligen Architekt:innen

entziehen, indem sie eine „neue Welt“ kreieren. Was genau

sowie auf Interviews, die mit ihnen geführt wurden. Maßgeblich

ist die Triebfeder für ihre Projekte? Welche Rolle nehmen

für die Auswahl der Schriften und Projekte, die längst nicht

Architekt:innen in den großen Krisenmomenten ein? Auf

erschöpfend ist, sind die jeweils bestimmenden Merkmale der

welche Art wirken sie an der Formulierung neuer Werte mit?

vier Figuren. Ausgehend von den Ästhetiken und Narrativen der präsen-

Vier Figuren von zeitverändernden Handlungsmodi

tierten Architekten, die in krisenbedingten Kippmomenten

Ich schlage vor, die Reaktionsweisen von Architekt:innen ange-

entstanden sind, richtet sich das Augenmerk auf ihre Gefühls-

sichts von Krisenzeiten entsprechend ihrer Handhabung von

welt und ihre Anliegen, auf ihr Verhältnis zu Fortschritt und

Raum und Zeit zu differenzieren. Diese Kategorien der Kon-

Technik sowie darauf, wie sie an der Formulierung neuer

traktion und Dilatation der Raum-Zeit sind mit spezifischen

Werte mitgewirkt haben. Besonderes Interesse gilt dabei

Handlungsmodi verbunden, die immer mit einem bestimmten

ihrem Handeln auf der Raum-Zeit-Ebene, dem Ausgangspunkt

psychologischen Zustand einhergehen: Nehmen die Archi-

einer Ästhetik, in der Fiktion und Ritual eine wesentliche Rolle

tekt:innen das eine Mal einen Kurswechsel vor und versetzen

spielen. Die ausgewählten Architekten sind namhafte Vertreter

sich in die Raum-Zeit einer vergangenen Epoche, so versuchen

der Baukunst, und ihre Projekte und Schriften sind allgemein

sie ein andermal die bestehenden Dynamiken zu verlangsamen

bekannt; mein Beitrag wird die Analyse und Deutung ihrer

oder zu beschleunigen, oder aber sie versuchen den disruptiven

Projekte durch das Prisma der Krise sein, verbunden mit der

Prozess der Krise anzuhalten, um sich in eine ferne Zukunft

Frage nach ihrem Instrumentarium und ihrer Handhabung von

zu projizieren.

Zeit. Die ausgewählten Beispiele stammen im Wesentlichen

Um die Handlungsweisen mit der Handhabung von Zeit zu

aus dem 20. und 21. Jahrhundert; einige sind älteren Datums,

verbinden, habe ich – als Darstellungen einer bestimmten

um zu verdeutlichen, wie bestimmte Phänomene und Hand-

Dynamik, als mentales Bild, Konzept oder Handlung in greif-

lungsmodi über einen längeren Zeitraum fortbestehen. Die

barer Form – vier „Figuren“ ausgemacht, die auf einem

Auswahl der Beispiele ist eine dezidiert internationale, um die

Eingriff in die Zeit beruhen. Diese Figuren, die in der gegen-

Unterschiedlichkeit der politischen, sozialen und kulturellen

wärtigen Welt (wieder) auftauchen, sind als psychischer und

Kontexte aufzuzeigen. Die internationale Dimension erlaubt

politischer Ausdruck des Schaffens in Krisenzeiten anzusehen.

außerdem, die Architektur in den Kontext einer immer stärker

Handlungsmodi und Positionierungen verdichten sich zu einer

vernetzten Welt zu stellen (was in Krisen- und Kriegszeiten

ästhetischen Haltung und bieten Narrative für eine Neugestal-

wesentlich sichtbarer wird). Die historische Einbindung gegen-

tung der Gesellschaftsräume. Die vier Möglichkeiten, in die

wärtiger Projekte lässt sie greifbar werden, ermöglicht einen

Zeit einzugreifen, sind:

Vergleich der Narrative, Anliegen und Instrumente sowie eine Auslotung ihres Aktionspotenzials angesichts künftiger Klima-,

Archaismus: Sprung rückwärts in Raum und Zeit

Gesundheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen.

Zurück zur Ländlichkeit: Streben nach Entschleunigung

Der erste Teil dieser Publikation liefert das theoretische Instru-

Schaffen durch Zerstören: Beschleunigung als Mittel zum

mentarium für die eigentliche Architekturanalyse im zweiten

Zweck

Teil, dessen Gliederung den vier „Figuren“ des Handelns und

Wiederverzauberung der Welt: Aufhebung der Zeit durch

der Handhabung von Zeit und Raum folgt.

einen Sprung in die Zukunft

8

Vorwort

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Theoretische Rahmung Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischen nichts und allem, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu erfassen; […] Er ist gleichermaßen unfähig, das Nichts zu sehen, dem er entrissen wurde, und das Unendliche, das ihn verschlingt. […] Das ist unser wahrer Zustand. Das macht uns unfähig, etwas entweder sicher zu wissen oder es überhaupt nicht zu kennen. Wir treiben auf einer weiten Mitte, immer unsicher und schwankend, von einem Ende zum anderen gestoßen; jeglicher Grenzpunkt, an den wir uns klammern und festhalten wollten, gerät ins Wanken und entschlüpft uns, und wenn wir ihn verfolgen, entzieht er sich unserem Zugriff, er entgleitet uns und wendet sich zu ewiger Flucht; nichts steht für uns still. […] Wir brennen vor Verlangen, einen festen Halt und eine letzte, beständige Grundlage zu finden, um darauf einen Turm zu errichten, der sich bis zum Unendlichen erheben soll, aber unser ganzes Fundament kracht auseinander, und die Erde tut sich bis in die Tiefen auf.1

Blaise Pascal, Gedanken (1670)

9

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 10

Krisen

tiefgreifenden Wandel, die in utopischen oder dystopischen Szenarien Gestalt annehmen.

10

Fast täglich verkünden die Medien Krisen und sagen größere

Ein anderes Phänomen, von dem wir insbesondere während

Katastrophen voraus. Auf der einen Seite haben wir den Klima-

der Lockdowns zur Eindämmung der Pandemie betroffen

notstand und die Umweltkrise, die sich zu einer immensen

waren, ist der Eindruck, dass die Zeit stillsteht. „Wenn alles

Katastrophe auszuweiten drohen, wenn die Auswirkungen des

stillsteht, kann alles infrage gestellt, umgelenkt, ausgewählt,

Menschen auf den Planeten nicht drastisch eingeschränkt

gesichtet, endgültig unterbrochen oder, im Gegenteil, be-

werden, auf der anderen Seite eine Verschärfung der Ungleich-

schleunigt werden“, stellt der französische Soziologe und

heiten, die seit den 1980er Jahren zu einer wachsenden Ver-

Philosoph Bruno Latour fest, der diesen Stillstand der Zeit als

elendung der ärmsten sozialen Schichten führt. Es sind Protest-

Chance für eine mögliche Neuorientierung ansieht.2 Ein

bewegungen entstanden, deren Akteur:innen Straßen und

günstiger Zeitpunkt also, um sich auf das Wesentliche zu

Verkehrskreisel blockieren sowie Plätze, Einkaufszentren und

konzentrieren und sich eine andere Welt für die Zukunft aus-

im Bau befindliche Flughäfen besetzen. Umweltschützer:innen,

zumalen. Denn wie Latour mahnt: „Tatsächlich ist die Gesund-

Klimaaktivist:innen, Gelbwesten, Gewerkschaftler:innen, Protest-

heitskrise eingebettet in etwas, das keine – stets vorüber-

nomad:innen und viele andere versuchen sich symbolischer

gehende – Krise ist, sondern ein dauerhafter und unumkehr-

Orte zu bemächtigen, um ihren Unmut gegenüber der weltweit

barer ökologischer Wandel. Während wir bei Ersterer gute

herrschenden Dynamik zum Ausdruck zu bringen.

Chancen haben, glimpflich davonzukommen, stehen bei

Während ich diese Zeilen schreibe – im Rückblick am Ende

Letzterem die Chancen gleich null.“3

meiner Recherche –, sind zwei große Krisen hinzugekommen:

Angesichts des ökologischen Notstands, der keine Krise ist,

zuerst die Pandemie, besonders verheerend und grenzenlos,

„sondern ein dauerhafter und unumkehrbarer Wandel“, denken

und dann der Krieg in der Ukraine, eine wahre menschliche,

Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen sowie

ethische und geopolitische Katastrophe, die zudem die ökolo-

Politiker:innen, Philosoph:innen, Architekt:innen und Städte-

gische, wirtschaftliche und soziale Krise auf globaler Ebene

planer:innen über neue Modelle nach, in denen der Mensch

drastisch verschärft und deren volles Ausmaß wir noch nicht

einen geringeren Einfluss auf die Natur haben sollte. Der öko-

abschätzen können. Zahlreiche Publikationen haben sich bereits

logische Notstand hängt unmittelbar mit der Geopolitik und

mit der weltweiten Interdependenz in Krisenfällen beschäftigt,

dem Wirtschafts- und Finanzsystem zusammen, die wiederum

insbesondere wenn es zur Überlagerung mehrerer Krisen

andere, nämlich soziale Krisen auslösen können. Wie For-

kommt. Doch erst wenn wir plötzlich direkt betroffen sind, wer-

scher:innen warnen, könnte das Zusammenfallen unterschied-

den wir uns kollektiv bewusst, wie stark diese Interdependenz

licher Krisen eine globale Katastrophe auslösen, die die

der Ströme von Energie, Nahrungsmitteln, Technologieproduk-

Überlebensfähigkeit auf unserem Planeten gefährdet.

ten usw. in einer globalisierten Welt ist. Diese bedeutenden

Nach der Finanzkrise von 2008 prognostizierte Jacques Attali

Krisen zeigen uns, dass wir vor nichts in Sicherheit sind (für

eine recht düstere Zukunft;4 Thomas Piketty hingegen sieht in

diejenigen, die noch glaubten, es zu sein), und machen die po-

der Krise nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Dynamik

litische, wirtschaftliche, soziale, ökologische und gesundheitliche

der Beschleunigung und des Fortschritts, die bedeutende

Zerbrechlichkeit unserer vollends vernetzten Welt deutlich.

Veränderungen und Verbesserungen in der Menschheits-

Das rasante globale Grassieren des Coronavirus und die

geschichte herbeiführen könnte. In seinem Buch Kapital und

Energiekrise in Europa infolge des Krieges in der Ukraine

Ideologie 5 unterstreicht der Ökonom die Notwendigkeit, eine

haben in hohem Maße unser Bewusstsein dafür geschärft,

auf mehr Gleichberechtigung aufgebaute Gesellschaft nach

dass wir uns in einer Krise befinden. Wir wurden schlagartig

sozialdemokratischem Vorbild zu schaffen, in der die

mit den negativen Auswirkungen der Globalisierung und mit

Umverteilung von Vermögen absoluten Vorrang haben muss

der Anfälligkeit unserer Lebensräume konfrontiert. Die Logik

(etwa durch progressive Vermögenssteuern), um einer Ver-

des Fortschritts und des unbegrenzten Wachstums wird mehr

schärfung der Armut entgegenzuwirken. Zur Verhinderung

denn je infrage gestellt, und es entstehen Träume von einem

einer unumkehrbaren ökologischen Katastrophe plädiert er

Theoretische Rahmung

Anmerkungen Seite 30 xx

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 11

für eine weltweite Regulierung der CO2-Emissionen (wovon

Dieses Wiederaufleben apokalyptischer Themen ist mehr als

vor allem die reichen Länder betroffen wären) mit dem Ziel,

ein Symptom“, schreibt Michaël Fœssel.11 Für den Philosophen

die Luftverschmutzung und die Zerstörung der Ozonschicht zu

ist das Ende der Welt bereits eingetreten, weil das menschliche

reduzieren.

Subjekt durch den Verlust seiner Handlungsmöglichkeiten

Bei dem jetzigen Tempo könnte die Gleichzeitigkeit von Krisen,

nicht mehr von der Welt bewohnt ist: „Der Triumph der Technik

gepaart mit der Verschärfung bzw. Beschleunigung mehrerer

über das Handeln, des Kapitals über die Arbeit, des Bedürf-

Indikatoren (etwa das Versiegen von Energieressourcen, der

nisses über das Verlangen sind alles Phänomene, die erklären,

rasante Anstieg der Weltbevölkerung, klimabedingte Migra-

warum wir es so eilig haben, eine Welt, die wir bereits verloren

tionsbewegungen, soziale und ökonomische Ungleichheiten

haben, zu Ende gehen zu sehen.“12 Er verortet diesen Verlust

oder Finanzkrisen) zum Zusammenbruch der Gesellschafts-

in der Moderne und der „Auflösung der traditionellen Hierar-

systeme führen, wie die Analysen zahlreicher internationaler

chien, was ein neues Unbehagen hervorgerufen hat, nämlich

Forscher:innen nahelegen. Angesichts der Verschärfung der

,nach dem Ende der Welt‘ leben zu müssen“.13 Insofern sei

verschiedenen Krisen auf globaler Ebene in den letzten Jahren

„die Tatsache, dass das Ende der Welt bereits eingetreten ist,

ist eine neue Wissenschaft namens Kollapsologie entstanden,

[…] eine gute Nachricht, die uns vor die Alternative stellt, das

die einen intuitiven Ansatz verfolgt; denn das Erstellen von

Leben zu verewigen oder einen Raum für das Mögliche einzu-

Prognosen auf der Grundlage komplexer Daten könne keine

richten“, denn „am dringendsten ist nicht, die kommende

rein wissenschaftliche Forschung ohne spekulative Dimension

Apokalypse zu verhindern, sondern sich die Welt wieder anzu-

sein, so Pablo Servigne und Raphaël Stevens, die Exponenten

eignen“.14 In seinem Nachwort zur Neuauflage 2019 thematisiert

dieser Strömung in Frankreich. In ihrem ersten Buch für ein

Fœssel „die katastrophale Beschleunigung des Klimawandels“15

breites Publikum mit dem Titel Comment tout peut s’effondrer,6

und stellt die Frage „Was macht das Reale zu einer wirklichen

das ein Bestseller wurde,7 stellen sie folgende von einem apo-

Welt?“16 in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Angesichts

kalyptischen Unterton begleitete rhetorische Frage: „Können

der durch den Klimawandel stark verschärften sozialen Ungleich-

das Zusammentreffen und die Verstetigung von ,Krisen‘ unsere

heit, wenn nur die Reichsten ihr Überleben durch Abschottung

Zivilisation wirklich in einen unumkehrbaren Strudel hinein-

sichern können, drängt sich die Frage auf, was eigentlich eine

ziehen?“ Sie lenken das Augenmerk auf die Verbindungen

bewohnenswerte und rettungswürdige Welt wäre. So lädt

zwischen den verschiedenen Krisen, um uns vor der Gefahr zu

Fœssels Buch in diesen unsicheren Zeiten zum Handeln, zur

warnen, die ihr Zusammenfallen für die Gesellschaft bedeuten

Neugestaltung der Welt ein.

könnte. Sie versuchen uns damit klarzumachen, dass wir auf

Während die einen aus einer politischen und gesellschaftlichen

den Zusammenbruch, auf „das Ende der Welt“ zusteuern,

Perspektive heraus das Handeln in den Vordergrund stellen,

allerdings nicht ohne Szenarien einer Wiederverzauberung

konzentrieren sich die anderen darauf, wie die ökologische

der Welt zu entwerfen, die ein anderes Bild der Zukunft

Apokalypse vermieden werden kann. Doch unabhängig vom

zeichnen, um die Leserschaft nicht in eine nihilistische De-

Blickwinkel betrifft die Frage der Unumkehrbarkeit alle Men-

pression zu stürzen.10 So sprechen sie sich für den Aufbau

schen und alle Bereiche. Wissenschaftliche Erkenntnisse

einer resilienteren Gesellschaft aus, die auf der Bildung autono-

vermischen sich mit Emotionen. Mehr oder weniger gewagte

mer, vernetzter Kollektive beruht und demzufolge in ländlichen

Vorhersagen im Zusammenhang mit der Frage „Wann geht

Gegenden angesiedelt ist. Die durch Covid -19 ausgelöste

die Welt unter?“ erhitzen die Gemüter, ohne eine Antwort zu

Gesundheitskrise hat diese Bewegung aufs Land noch verstärkt,

geben, denn niemand kann die Zukunft vorhersagen. Dann

nicht nur als Zufluchtsort für Städter:innen, sondern auch als

wird versucht, sich in eine ungewisse Zukunft zu projizieren.

Ort, der für die Erzeugung lebenswichtiger Güter von entschei-

Um sich der Angst vor dem „Ende der Welt“ zu entziehen,

dender Bedeutung ist.

entwickeln die einen Theorien, Strategien und diverse Szenarien

„Unsere Epoche ist, so sagt man, eine der Katastrophen. Ange-

„anderer Gesellschaften“, die resilienter, egalitärer und nach-

sichts von Gesundheits- und Umweltkrisen oder der atomaren

haltiger sind. Die anderen nehmen eine nihilistische Haltung

Bedrohung ist der Fortschrittsglaube der Angst gewichen.

ein, sehen zu, wie die Welt zugrunde geht, und genießen die

8

9

Anmerkungen Seite 30

Krisen

11

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 12

letzten Augenblicke, die ihr noch bleiben. Die Dynamik des

Im aktuellen Kontext die Krise in den Mittelpunkt der Forschung

Kippmoments fördert die Entstehung dystopischer und utopi-

zu stellen, eröffnet die Möglichkeit, die Korrelation zwischen

scher Szenarien der Vor- oder Nach-Katastrophen-Zeit, die die

dem Niedergang eines Systems und der Entstehung eines

Umrisse einer neuen Gesellschaft skizzieren. Dieser fiktionale

neuen Paradigmas sowohl in ästhetischer als auch in sozialer

Prozess führt uns zurück zu unserem Forschungsgegenstand:

Hinsicht zu analysieren. Die Suche nach einer neuen Welt findet

Architektur, Kunst und Ästhetik im weiteren Sinne, begriffen

oft ihren ersten Ausdruck in der Architektur: Sie öffnet imaginäre

als geteilte Erfahrung des Wahrnehmbaren (siehe Abschnitt

Räume und schafft neue Weisen, die Welt zu bewohnen (und

„Ästhetik“).

damit auch des In-der-Welt-seins im Heidegger’schen Sinne). So lassen sich die Umwälzungen unserer Gesellschaften in den

Welche Entwürfe, welche Ästhetiken angesichts der Krise?

Bauwerken ablesen, die den Kern, den Status Nascendi uto-

Durch ihr Ausmaß beeinflussen die verschiedenen Krisen unserer

mitgewirkt?

Epoche und die apokalyptischen Erzählungen auch die Archi-

Die französische Philosophin Agnès Gayraud definiert „Kultur“

tektur. Welche Rolle können Kunst und Architektur in einem

in Anlehnung an Theodor W. Adorno als „die Art und Weise,

Schlüsselmoment spielen, wenn die bis dato gültigen Systeme

wie eine Gesellschaft sich selbst darstellt, und die Gesamtheit

kollabieren? Können sie eine neue Weltbeziehung aufbauen?

der sedimentierten Formen, die diese Darstellungen ihrer

Welche Aufgabe kann die Architektur haben, wenn sie zum

selbst veranschaulichen“.20 Die Kultur ist Ausdruck der politi-

Medium einer Untergangsvision oder, im Gegenteil, zu einer

schen, philosophischen und künstlerischen Ideen einer Gesell-

Schöpfungsvision für eine neue Gesellschaft wird? Dies führt

schaft. Sie stellt, so Gayrauds Formulierung, „eine Art Kruste

uns zur Frage der Ästhetik und der Form.

über der Welt“ dar, entstanden durch die Geschichte, durch

Für den Mathematiker und Wegbereiter der sogenannten

Reden, Geschwätz und Repräsentationen; eine ziemlich dünne

Katastrophentheorie (1972) René Thom bezeichnete der

Kruste, und „dann kommen die Kritiker und kratzen, versuchen

Begriff „Katastrophe“ den Ort, an dem eine Funktion plötzlich

das Sedimentierte aufzulösen, bringen zutage, dass sich unter

ihre Form ändert. Er versuchte die unvermittelten Formvari-

dem Offenkundigen Widersprüche verbergen“.21 Das post-

anten, die zum Auftreten von Diskontinuitäten führen, mit

metaphysische kritische Denken (das seit Kant den Versuch

einzukalkulieren, um ein dynamisches Modell zu entwickeln,

der Philosophie, die Existenz Gottes beweisen zu wollen,

das eine Morphologie hervorbringen kann.18 Er stellte eine

anprangert) bezieht sich auf das Offensichtliche, insbesondere

Verbindung zwischen Singularitäten und der Entstehung von

auf die Kultur, und versucht die Sedimentschichten freizulegen.

Formen her. Eine „Katastrophe“ war für ihn also eine Ände-

Versuchen wir also, an dieser Kruste zu kratzen und die ver-

rung der Form, die zum Auftreten einer Diskontinuität führt.19

schiedenen Kulturkrisen unserer Gesellschaft zu analysieren,

Die Verbindung zwischen Diskontinuität, Bruch und Entste-

indem wir in den Kosmos der Architektur und der urbanen

hung einer Form, welche auf einem dynamischen System

Visionen eintauchen.

gründet, ist besonders interessant, wenn man diese Annahme

Wie funktioniert ästhetisches Handeln und wie eignet es sich

auf die Architektur-produktion anwendet. Denn wie Kunst

die Welt an? Welche tieferen Motive stecken dahinter? Um

und Literatur hat Architektur Teil am fiktionalen Prozess (sei

Antworten auf diese Fragen zu finden, werde ich in dieser

er nun utopisch oder dystopisch) durch ihr Vermögen, andere

theoretischen Rahmung fünf Themenbereiche entfalten: zu-

Lebensweisen in anderen Räumen zu skizzieren.

nächst die Psychologie der Krise, um ästhetisches Handeln

Die Frage der Form gehört in den Bereich der Ästhetik.

aus psychologischer Sicht zu verstehen; dann die Ästhetik, um

Welche Ästhetik ist heranzuziehen, wenn alles kippt?

genauer zu bestimmen, was dieser Begriff umfasst; ferner die

Welche Funktion hat der ersonnene Entwurf und wie

Nutzungen und Rituale, um die physische Dimension zu

kann dieser umgesetzt werden? Wie ist sein Modus Ope-

erfassen, die ihrerseits eine bestimmte Ästhetik hervorbringt;

randi zur Überwindung der Krise?

des weiteren die Zeit als wesentlichen Faktor für die fiktionalen

17

12

Theoretische Rahmung

pischer Ideen verkörpern. Wie haben Architekt:innen in Kippmomenten an der Formulierung neuer kultureller Werte

Anmerkungen Seite 30

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Eingriffe seitens der Architekt:innen; und schließlich den

um die Welt zu retten, wenn man um die Unausweichlichkeit

Begriff des Fortschritts, um die Zielsetzungen der Entwürfe

ihrer Zerstörung weiß?“23

besser fassen zu können.

In seiner Antwort beschäftigt sich Castel mit dem Moment, der dem Weltende vorausgeht: Wie wird der Mensch reagieren?

Psychologie der Krise

Er ordnet die Vorstellung vom Weltende in den historischen Kontext ein und stellt fest, dass es seit jeher apokalyptische Erzählungen gegeben hat; „neu aber ist, dass es nicht eine

Für ein besseres Verständnis des ästhetischen Prozesses wird

Katastrophe ist, sondern die Katastrophe. Günther Anders

die für Krisenzeiten typische Gefühlslage untersucht, nämlich

nannte das eine Apokalypse ohne Reich, ohne Heil“, erläutert

die Angst. Wie können wir mit unserem Schaffen darauf rea-

er. „Diese Vorstellung gab es vor dem Atomkrieg der 1960er

gieren und uns aus dem Stillstand befreien? Wie vermögen

Jahre nicht. Die Klima- und Umweltkatastrophe bedroht die

wir kraft des ästhetischen Prozesses unsere angstvolle Weltbe-

Existenz der Menschheit und der Welt.“ Im Gegensatz zu vielen

ziehung zu überwinden?

anderen verzichtet Castel darauf, die Alarmglocken zu läuten,

Für den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard ist Angst

um die Menschen zu mobilisieren, damit sich die gegenwärtige

etwas zutiefst Menschliches; es ist der Schwindel des freien

Lage verbessert (so wie dies beispielsweise Bruno Latour in

Individuums angesichts seiner Möglichkeiten und wider-

seinem Buch Où atterrir? getan hat).24 Er geht von der fatalis-

sprüchlichen Entscheidungen: „Wäre der Mensch ein Tier

tischen Feststellung aus: „Die Apokalypse ist unvermeidlich,

oder ein Engel, würde er sich nicht ängstigen können. Da er

sie wird kommen, in Wirklichkeit hat sie schon begonnen. Wir

eine Synthesis ist, vermag er sich zu ängstigen. Und je tiefer

sind die Menschen vom Ende. Es geht nicht mehr darum, wie

er sich ängstigt, desto größer ist der Mensch.“ In Krisensi-

sie aufgehalten werden kann, sondern darum, wie wir mit ihr

tuationen verstärkt sich die Angst umso mehr. Forscher:innen,

leben können.“25

insbesondere Philosoph:innen und Psycholog:innen, versuchen

Castel befasst sich mit unserem Verhalten in der Endphase

dann die Möglichkeiten der Reaktion des Menschen auf die

der Menschheit und kommt zu dem Schluss, dass wir eben

Krise und deren Reichweite zu ergründen und zu bewerten.

keine Angst vor dem Ende der Welt haben müssen, da dieses

22

so sicher sei wie für den Einzelnen die Gegebenheit des Todes.

Pierre-Henri Castel: Apokalypse, Angst und Schrecken – wie gelingt eine Wiederverzauberung der Welt?

Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine Angst gibt. Angst und Obsession sind Castel zufolge „die Kollateralschäden der aufkommenden Figur des verantwortlichen Individuums“.26 Unser psychologischer Zustand angesichts des Weltendes

Ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit: Am 31. Dezember 2018

(das er in einer fernen Zukunft ansiedelt) wird zur Kernfrage,

war Pierre-Henri Castel, Philosoph, Psychoanalytiker und For-

da er die kollektive Bewusstwerdung konditioniert. „Wie kann

schungsdirektor am CNRS, in der Radiosendung L’Invité(e)

die lähmende Angst in einen kollektiven Rettungsimpuls um-

des Matins von France Culture zu Gast. Guillaume Erner, der

gewandelt werden?“, fragt Castel in seinem Buch Le Mal qui

Moderator der Sendung mit dem Titel „Zusammenbruch:

vient. Essai hâtif sur la fin des temps, das philosophische und

2019 oder das Ende der Zeiten?“, eröffnete das Gespräch mit

psychologische Ansätze verbindet.27 „Lange Zeit hat man es

folgender Frage: „Angesichts der Litanei von Klimakatastrophen

mit der Angst versucht“, doch „die Heuristik der Angst ist in-

und alarmierenden Prognosen, aber auch der zunehmenden

effektiv, denn Angst kann zu Übersprungshandlungen führen;

Aufmerksamkeit für Kollaps-Theorien scheint die Vorstellung

aber sie lähmt auch und die daraus folgenden Effekte der

vom nahenden Ende sich in den Köpfen festgesetzt zu haben.

Resignation sind weit verbreitet. Deshalb habe ich vorge-

Aber was geschieht, wenn man diese Annahme ernst nimmt?

schlagen, es mit dem Schrecken zu versuchen. Am Ende wird

Was wird aus dem menschlichen Handeln und der Moral,

die Angst so groß sein, dass wir aufwachen“, spekuliert

wenn es kein Morgen mehr gibt? Wie soll man mit dem

Castel in der Hoffnung, den Lauf der Dinge doch noch ändern

Ende der Welt leben? Warum sollte man weiterhin handeln,

zu können.28 Was die Reaktion der Menschen nach dieser

Anmerkungen Seite 30

Psychologie der Krise: Pierre-Henri Castel

13

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Bewusstwerdung betrifft, bleibt er allerdings skeptisch:

Zerstören“ auf diesen Aspekt zurückkommen, der uns einen

„Es ist nicht sicher, dass es in Richtung des kollektiven Interesses

Schlüssel zum Verständnis des „Zerstörungstriebs“ liefern

geht, wenn sie [die Bewusstwerdung] keine Überlebensstra-

könnte.

tegien nährt, sondern furchtbare, gewalttätige Handlungen ent-

Castels Position mag fatalistisch erscheinen – er versucht

fesselt.“ Castel nennt diesen Zustand (in Anlehnung an Freuds

nämlich nicht, den Gang der Welt zu verändern, indem er uns

Theorie des Destruktionstriebs) „die Herrschaft des Bösen“.

auffordert, gegen jedwede Handlung zu kämpfen, die die In-

Dieses Szenario geht von der Annahme aus, dass menschliches

teressen des Gemeinwohls unterläuft –, hätte er nicht gleich

Handeln in Chaossituationen nicht notwendigerweise auf das

zu Beginn seines Buches angekündigt, dass er einen spekula-

Gute ausgerichtet ist: „Wenn es drängt, steht man dann

tiven Ansatz verfolgt und sich dabei auf den Leitsatz von

aufseiten der Opfer oder aufseiten der Henker?“, fragt er und

Freud bezieht: „Was nun folgt, ist Spekulation […], ein Versuch

stellt sich die Reaktion des letzten Überlebenden vor, der

zur konsequenten Ausbeutung einer Idee, aus Neugierde,

vielleicht eine „unheimliche, besondere Freude an den Trüm-

wohin dies führen wird.“35 Damit setzt er eine Reflexion in

mern und Gemetzeln“ empfindet.30 Die Möglichkeit, dass das

Gang, in der der Zusammenbruch, den er in einer fernen

Böse entfesselt wird, sei in den postapokalyptischen Holly-

Zukunft ansiedelt, in den Bereich der Fiktion gerückt wird.

wood-Drehbüchern sehr wohl vorhanden, komme aber im

Die unterbreitete apokalyptische Erzählung ist eine Spekula-

Katastrophen-Diskurs nicht vor, warnt er. „Das schließt das

tion, anhand derer er die Umrisse einer fiktiven Welt erkunden

Gute nicht aus, aber das Gute wird Klauen und Zähne haben,

kann. Durch seinen fiktionalen Ansatz lädt Castel uns ein, nicht

es wird bis zum Schluss seinen Willen zur Aufrechterhaltung

in Nihilismus zu verfallen, sondern eine Wiederverzauberung

der Gerechtigkeit bewahren und dafür ziemlich brutale Mittel

der Welt anzustreben.

einsetzen.“

Eine solche Haltung als Reaktion auf Krisensituationen ist

29

31

Castel bezieht in seiner weiteren Argumentation den Faktor

weit verbreitet, auch in der Architektur. Dies wird anhand

Zeit mit ein, da „das Ende der Welt nicht sofort kommen

einiger Beispiele im Kapitel „Wiederverzauberung der Welt“

wird“. Wenn die Panik nachlässt, muss man das Leben über-

veranschaulicht.

denken und sich mit dem Gedanken an den Untergang anfreunden: „Wenn sich unser Schicksal in den nächsten Jahrhunderten entscheidet, was wird dann aus unserer Moral, wenn nur noch wenig Zeit bleibt, um glücklich zu sein? Ist es wirklich so schlimm, dem Ende der Welt nahe zu sein, und wie können

Von Sigmund Freud erfahren wir, dass das ästhetische Handeln

wir uns einen glänzenden Abgang verschaffen?“ Als Moral

auf dem Todestrieb beruhen kann. Er entwickelte dieses Konzept

schlägt Castel daher die Freude vor: „Es steht uns nicht mehr

nach dem Ersten Weltkrieg als einem Ereignis beispielloser

viel Zeit zur Verfügung, um glücklich zu sein. So präsentiert

menschlicher Vernichtung. Im Jahr 1915, mitten im Krieg, ver-

sich das Morgen oder Übermorgen als die einzige Gelegen-

öffentlichte der Vater der Psychoanalyse einen Text, in dem er

heit, die uns bleibt, um zu verwirklichen, was uns am Herzen

die komplexen Beziehungen zwischen Krieg und Tod analysierte.

liegt.“

Dieser Text, der sogleich auch ins Französische übersetzt

32

14

Sigmund Freud: Todestrieb und Sublimierung

33

Damit thematisiert Castel sowohl die unheimliche Lust an

wurde, lässt seine tiefe Skepsis gegenüber der Idee des Fort-

der Zerstörung als auch das Sehnen nach einer Wieder-

schritts der Menschheit erkennen, da der Krieg die Illusion

verzauberung der Welt. Die Frage der Wahrnehmung und

zerstört hat, dass die kulturellen Errungenschaften unerschüt-

des psychologischen Zustands angesichts des Zusammen-

terlich seien; auf schonungslose Weise hat er die primitiven

bruchs steht im Zentrum seiner Erkundungen: „Es war ein

Triebmotive offengelegt:

Weg, die Idee des Todestriebs bei Freud aufzugreifen, was mir

„Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, […] werden wir

erlaubt, die eigentliche Bedeutung der Zivilisation und des

selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns

Anteils an Zerstörung, der in ihrem Aufbau steckt, zur Spra-

aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden.

che zu bringen.“34 Ich werde im Kapitel „Schaffen durch

Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so

Theoretische Rahmung

Anmerkungen Seite 30

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viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele

dieses Phänomen als „ewige Wiederkehr des Gleichen“41

der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe

und stellte die Hypothese auf, „daß es im Seelenleben einen

erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose

Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip

Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten Diener

hinaussetzt“.42 Freud war der Ansicht, dass Lustprinzip und

suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur

Destruktionstrieb paradoxerweise keinen Widerspruch dar-

Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe

stellen, da die Selbstzerstörung eine Möglichkeit ist, innere

muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären,

Spannungen abzubauen, und das Streben nach Lust manchmal

der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelen-

nichts anderes ist als das Ende eines Schmerzes. Seiner These

störung verkünden. Aber wahrscheinlich empfinden wir das

zufolge würde das niedrigste Spannungsniveau (das das

Böse dieser Zeit unmäßig stark und haben kein Recht, es

Lustprinzip erreichen will) letztlich dem Ruhezustand des

mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht

Leblosen entsprechen. So kommt er zu dem Schluss, dass

erlebt haben.

das Lustprinzip im Dienste des Destruktionstriebs steht:

Der einzelne, der nicht selbst ein Kämpfer und somit ein

„Wiederholungszwang und direkte lustvolle Triebbefriedi-

Partikelchen der riesigen Kriegsmaschinerie geworden ist,

gung scheinen sich dabei zu intimer Gemeinsamkeit zu

fühlt sich in seiner Orientierung verwirrt und in seiner

verschränken.“43

Leistungsfähigkeit gehemmt.“

In Das Unbehagen in der Kultur (1930) unterscheidet Freud

36

Daraufhin stellt sich Freud die Frage, welche Triebe uns dazu

zwischen der trennenden Tendenz des Todestriebs (auch

bewegen, den Tod eines anderen Menschen herbeizuwün-

Thanatos), der die lebende Substanz auflösen, vernichten,

schen: Wir anerkennen „den Tod für Fremde und Feinde und

in ihren „uranfänglichen, anorganischen Zustand“ zurück-

verhängen ihn über sie ebenso bereitwillig und unbedenklich

führen will, und der bindenden Tendenz des Lebenstriebs,

wie der Urmensch“. Der Unterschied zu diesem bestehe darin,

„die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren

dass „unser Unbewußtes […] die Tötung nicht aus[führt], es

Einheiten zusammenzufassen“44 (auch É, der mitunter die

denkt und wünscht sie bloß. […] So sind wir auch selbst, wenn

Triebe zur Selbsterhaltung und die Sexualtriebe umfasst, seine

man uns nach unseren unbewußten Wunschregungen beurteilt,

Energie ist die Libido 45). Eros und Thanatos wirken gleichzeitig

wie die Urmenschen eine Rotte von Mördern.“37 Freud setzt

und kämpfen unaufhörlich gegeneinander an, was Leben

diesen Wunsch in den Kontext der Aufklärung, die von der

hervorbringt. Diese beiden Triebe, die dem Wiederholungs-

Idee des menschlichen Fortschritts getragen wird:

zwang unterliegen, zielen zunächst auf das Subjekt selbst und

„Es ist ein Glück, daß alle diese Wünsche nicht die Kraft

richten sich dann, um die Selbstzerstörung zu vermeiden, auf

besitzen, die ihnen die Menschen in Urzeiten noch zutrau-

ein anderes Objekt in Form von Liebe oder Zerstörung.

ten; in dem Kreuzfeuer der gegenseitigen Verwünschun-

Freuds These46 wurde von seinen Zeitgenossen, insbesondere

gen wäre die Menschheit längst zugrunde gegangen, die

von den Marxisten Wilhelm Reich und Otto Fenichel, heftig

besten und weisesten der Männer darunter wie die schöns-

angefochten, denn mit einer solchen Theorie könnten Krieg

ten und holdesten der Frauen.“38

und Völkermord sowie soziale und wirtschaftliche Ausbeutung legitimiert und unwiderruflich sein, da sie als biologisches

Destruktionstrieb, Todestrieb

Phänomen verstanden würden.

Nach dem Krieg entwickelte Freud in Jenseits des Lustprinzips 39

Interessant am Destruktionstrieb ist die Tatsache, dass er in

(1920) das Konzept von Destruktionstrieb oder Todestrieb. Er

seiner verwüstenden Dynamik versucht, das niedrigste

beobachtete einen Wiederholungszwang bei Kriegsneurotikern,

Spannungsniveau zu erreichen, um Erleichterung herbei-

bei denen traumatische Ereignisse starke Spannungen erzeug-

zuführen. Um schneller zum „Nullpunkt“ der Spannung

ten und immer wieder im Traum auftauchten. Der Patient sei

zu gelangen, strebt man nach einer Beschleunigung

„genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu

aller Dinge und der Zeit. In diesem Moment kann das

wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein

Über-Ich mit dem Destruktionstrieb interagieren, um

Stück der Vergangenheit zu erinnern“.40 Freud charakterisierte

die Energie in ein produktiveres Feld umzulenken, was

Anmerkungen Seite 30 und 31

Psychologie der Krise: Sigmund Freud

15

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als „Sublimierung“ bezeichnet wird und uns zum Gegen-

Triebverzicht als Grundlage von Kultur

stand dieser Studie zurückführt: zu Architektur und Kunst.

Freuds Definition von Kultur ist eng mit den Trieben verbunden. Er sieht in der Kultur ein Mittel für den Menschen, sich von

16

Sublimierung durch Kunst und deren Verhältnis zur Zeit

seiner eigenen Natur und seiner natürlichen Umgebung zu

Nach Freuds Auffassung kann der Destruktionstrieb über den

entfernen: Das Wort „Kultur“ bezeichnet „die ganze Summe

Umweg der Sublimierung in schöpferische Tätigkeit umgewan-

der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser

delt werden. Bei diesem Umwandlungsprozess wird die Trieb-

Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt“, wobei sie

energie in Bereiche umgelenkt, die gesellschaftlich wertge-

zwei Zwecken dient: „dem Schutz des Menschen gegen die

schätzt werden, insbesondere den der Kunst, den die soziale

Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen unter-

Gruppe und das Über-Ich gutheißen. Dank dieser doppelten

einander“.47 Kultur beruht auf Verzicht, wie in Unbehagen in

Dynamik, die vom Todestrieb ausgeht, der auf Vernichtung aus

der Kultur dargelegt wird: Es ist „unmöglich zu übersehen,

ist, und dessen Sublimierung, die darin besteht, beispielsweise

in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist,

durch die Kunst neue Perspektiven zu eröffnen, kann das (indi-

wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung,

viduelle oder kollektive) Trauma der Zerstörung überwunden

Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur

werden. Dieser Aspekt wird im Kapitel „Erschaffung durch

Voraussetzung hat“.48 Für den Begründer der Psychoanalyse

Zerstören“ erörtert.

ist das Gewissen „die Folge des Triebverzichts“.49

Im Prozess der Sublimierung, bei dem die Urtriebe in schöpfe-

Die Kultur wäre also kein aktives und bewusstes Konstrukt,

rische Sphären gehoben werden, wird das Zeitempfinden zu

sondern ein „Prozess, der über die Menschheit abläuft“,50 ein

einem wichtigen Werkzeug. Die Kunst ermöglicht es, die Zeit-

unbewusster Prozess im Dienste des Eros, der versucht, die

wahrnehmung zu verändern oder sogar aufzuheben, wie das

vom Lebenstrieb angetriebenen Menschen zu größeren Ein-

Beispiel der Musik zeigt. Man denke an das Magnificat der

heiten zu vereinen.51 Dieser zivilisatorische Prozess steht im

Dante-Symphonie von Franz Liszt: Wenn wir das Decrescendo

Gegensatz zum natürlichen Aggressionstrieb, der Ausdruck

der Stimmen des Kinderchors hören, das sich allmählich ent-

des nach außen gerichteten Todestriebs ist. Der Aggressions-

fernt, halten wir den Atem an. Die Violinen vibrieren weiter in

trieb wird jedoch nicht einfach unterdrückt, sondern auch zum

hohen Lagen und verharren in einem erhabenen Schwebezu-

Aufbau der Kultur verwendet (durch Sublimierung). Die Kultur

stand. Dann wird es still. Wir spüren, wie sich die Spannung

steht also im Zentrum des Kampfes zwischen Eros und Thanatos,

auflöst, einen Augenblick lang hatten wir das Gefühl, dass die

dem Lebens- und dem Todestrieb.

Zeit stillsteht.

Dies ist ein für unsere Forschung einsatzfähiges Konzept,

In der Architektur kann die Zeit durch eine anachronistische

denn wenn wir die Ästhetik in das Zentrum des permanenten

Ästhetik, eine starke Raumatmosphäre oder einen spezifischen

Konflikts zwischen den Trieben stellen, können wir daraus

künstlerischen Akt aufgehoben sein, sodass eine neue Weltbe-

stichhaltige Interpretationen für die Analyse der in Krisenzeiten

ziehung entsteht, welche die Raumwahrnehmung verändert.

geschaffenen Ästhetik ableiten: In diesen Momenten starker

Die Aufhebung der Raum-Zeit lässt etwas anderes entstehen.

Beschleunigung radikalisiert sich alles, erst recht der Kampf

Schöpferisches Handeln kann als ein fiktionaler Vorgang ange-

zwischen Eros und Thanatos. Dieser psychoanalytische Ansatz

sehen werden, der eine eigene Zeitlichkeit und Räumlichkeit

eröffnet eine neue Perspektive für die Interpretation von

begründet und die Konstruktion eines Anderswo ermöglicht.

Architekturprojekten, die in Zeiten der Instabilität entworfen

In Krisenzeiten, nach einem Krieg oder einer Katastrophe, ver-

wurden, insbesondere wenn sie mit der umfassenderen Frage

mögen Kunst, Architektur und Ästhetik (im weitesten Sinne)

nach der Wirkung der Ästhetik auf die Gesellschaft im Allge-

den Destruktionstrieb zu sublimieren und ihn auf höhere Ziele

meinen in Verbindung gebracht werden.

auszurichten, um mit dem Lebenstrieb eine Gesellschaft wieder-

Zusammenfassend lässt sich bei der Untersuchung der mögli-

aufzubauen, die eine größere Resonanz, einen höheren Zivili-

chen Verbindungen zwischen den psychologischen Reaktionen

sationsgrad und einen stärkeren Zusammenhalt aufweist, eben

und den Zeitmodi die Hypothese aufstellen, dass der Vorgang

das, was Freud „Kultur“ nennt.

der Verdrängung in zwei Phasen verläuft. Die erste besteht

Theoretische Rahmung

Anmerkungen Seite 31

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zunächst in einer Aufhebung der Zeit, um sich aus dem Hier

Fähigkeit, uns von der Welt „ergreifen“, berühren und verän-

und Jetzt zu lösen, die zweite in einem Zeitsprung nach vorn,

dern zu lassen. Rosa zufolge mangelt es in unserer modernen

um eine neue Zukunft zu eröffnen, wobei der Lebenstrieb die

Gesellschaft an Resonanz, da die Beschleunigung der Zeit

treibende Kraft ist (Kap. 4 „Wiederverzauberung der Welt“).

unsere Weltbeziehung auf individueller und kollektiver Ebene

Der Zeitmodus des Todestriebs hingegen besteht in einer

tiefgreifend verändert hat.

Beschleunigung, um den Untergang voranzutreiben, gefolgt

Rosa analysiert unsere Weltbeziehung anhand unterschied-

von einem Akt der Sublimierung, der die Zeit aufhebt und ein

lichster Formen, angefangen bei unseren körperlichen Grund-

neues Feld der Möglichkeiten eröffnet (Kap. 3 „Schaffen

erfahrungen (Atmung, Ernährung, Empfindungen) über unsere

durch Zerstören“). Das ästhetische Handeln hängt also vom

affektiven Beziehungen bis hin zu den ausgefeiltesten kogni-

jeweiligen Zeitmodus und vom jeweiligen psychologischen

tiven Konzepten. Er legt drei Resonanz-Kategorien fest: die

Zustand ab.

Beziehungen zu anderen Menschen in den Bereichen Freundschaft, Liebe und Politik („horizontale Resonanzachsen“), die

Hartmut Rosa: Beschleunigung und Resonanz, eine neue Weltbeziehung

Beziehungen zur Materie, zu Artefakten und Dingen in den

Die Frage der Kultur und der Aufhebung der Zeit ist auch

in den Bereichen Natur, Religion, Kunst und Geschichte („ver-

Gegenstand der Überlegungen von Hartmut Rosa. In der

tikale Resonanzachsen“) – mit anderen Worten alles, was nach

Nachfolge Adornos befasst sich der deutsche Soziologe mit

Gayraud die „Kruste über der Welt“ oder „Kultur“ ausmacht.

der Situation des Einzelnen angesichts von Krisen, die durch

Dieses Konzept ist für die Erforschung der Strategien und

die von ihm sogenannte Beschleunigung der Zeit in unseren

Sprache der Architektur interessant, weil es die Gesamtheit

modernen Gesellschaften ausgelöst werden. Er entwickelt

unseres In-der-Welt-seins einschließt, das hier durch das

eine „soziale Kritik der Zeit“ und analysiert zu diesem Zweck

Prisma der Ästhetik ergründet werden soll.

Bereichen Arbeit, Bildung und Sport („diagonale Resonanzachsen“) und die Beziehungen zu Ideen und einem Absoluten

die Transformationen, die sozialen Umbrüche, das Werden des Individuums und dessen Weltbeziehung. Rosa zufolge ist

Ästhetik und die Kraft der Kunst

die bedeutendste Erfahrung der Moderne die der „Beschleu-

Nach Rosa ist die Ästhetik integraler Bestandteil der

nigung“ – „alles wird immer schneller“ –, was zu einer grundle-

Resonanz:

genden Krise unserer Gesellschaft führt. „Wenn Beschleunigung

„Die Kunst ist – fast gleichzeitig mit der und in ganz

das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“, um

ähnlicher Weise wie die Natur – zur vielleicht wichtigsten

der gegenwärtigen Hektik entgegenzuwirken, so seine Hypo-

und nach und nach alle Alltagsbereiche durchdringenden

these. Unter „Resonanz“ versteht er „eine spezifische Form

Resonanzsphäre der Moderne geworden. […] Die Kunst

des Eintretens in eine Beziehung zur Welt, die auf wesentlichen

berührt und bewegt den modernen Menschen als Rezipien-

Dingen beruht. […] Dafür muss man sich mit der Welt verbun-

ten im Innersten seiner Seele wie nichts anderes – und sie

den fühlen. […] Man muss die Erfahrung gemacht haben, die

gebietet ihm als Produzenten, das heißt als Künstler oder

Welt zu berühren.“ Diese Betrachtung vom Standpunkt des

Kunstschaffendem, indem sie ihre eigene Gesetzmäßigkeit

Einzelnen, die fast schon eine mystische Dimension aufweist,

gegen alle instrumentelle, politische oder ökonomische

ergänzt Rosa um eine Betrachtung vom Standpunkt der Gesell-

Vernunft geltend zu machen vermag.“54

52

53

schaft, da die menschliche Lebensqualität auch ein institutionel-

Ähnlich wie das Religiöse in früheren Gesellschaften durch-

les und kulturelles Problem ist. Er versucht mit der Vorstellung

dringt die Kraft der Kunst „die (spät-)moderne Subjektivität

zu brechen, dass allein materielle, symbolische und psychische

in allen Poren […]. Ästhetische Resonanzfähigkeit ist auf

Ressourcen uns zu unserem Glück verhelfen, und betont, dass

diese Weise als kollektiv verbindliche Forderung an die gesell-

wir auch in der Lage sein müssen, zu handeln. Die Resonanz,

schaftliche Stelle religiöser Resonanzfähigkeit getreten.“55

das heißt unsere sinnliche, bewusste Verbindung zur Welt,

Ich komme später im Abschnitt Zeit auf dieses Phänomen

stärkt unser Handlungsvermögen und im Gegenzug unsere

zurück, denn tatsächlich stellt die Ersetzung der Religion

Anmerkungen Seite 31

Psychologie der Krise: Hartmut Rosa

17

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durch die Kunst in unseren Gesellschaften, die einem

von Hartmut Rosa ist die Rolle der Kunst: Sie ermöglicht es

Krisengefühl ausgesetzt sind, einen wichtigen Analyse-

uns, über die Erfahrung der Resonanz hinauszugehen, uns aus

punkt dar.

dem Hier und Jetzt zu lösen und mögliche Weltbeziehungen

Zum besseren Verständnis dessen, wie der ästhetische Prozess

auszuloten. Indem sie neue Möglichkeiten ersinnt, vermag die

funktioniert, sollten wir uns Nietzsche zuwenden. Christoph

Kunst raumzeitliche Fiktionen zu schaffen. In Momenten starker

Menke hat den Doppelcharakter der Kunst, den Nietzsche in

Beschleunigung oder in Krisensituationen, wenn die Orientie-

Die Geburt der Tragödie thematisiert, treffend zusammenge-

rungspunkte verschwimmen, hat Kunst die Aufgabe, andere

fasst: „Kunst gibt es nur, wo Rausch und Bewusstheit, Spiel

Beziehungen zur Gegenwart auszuloten, um eine Form der

der Kräfte und Bilden von Formen zusammen und gegenein-

Resonanz wiederzufinden. Welche Ästhetik kann in solchen

ander wirken. […] Der Künstler ist in sich geteilt; er ist ent-

Situationen entstehen? Was bedeutet „Ästhetik“ eigentlich,

zweit in selbstbewußtes Vermögen und rauschhaft entfesselte

zumal in Zusammenhängen, in denen eine neue Weltbeziehung

Kraft.“ Diese Dissonanz der Kunst ist für Rosa integraler

aufgebaut werden muss?

56

Bestandteil des Konzepts der Resonanz (nicht zu verwechseln mit der Konsonanz, die, wie er ausdrücklich klarstellt, harmonisierend wirkt) und bezieht das Publikum mit ein:

Ästhetik

„Tatsächlich bilden ,Kunsttempel‘ die paradigmatischen, kultischen Räume der modernen Gesellschaft für ritualisierte

Der deutsche Philosoph Gernot Böhme, der sich auf Baum-

Resonanzerfahrungen: In den Museen, Theatern und

garten (Schüler von Winckelmann) stützt, erinnert daran, dass

Konzertsälen, aber auch in den Kinos und an vergleichbaren

unter „Ästhetik“ nicht in erster Linie das Schöne zu verstehen

Orten suchen und finden moderne Menschen immer wieder

ist, sondern die Fähigkeit der Sinne, wahrzunehmen: Die

aufs Neue Momente der transformativen Erschütterung und

Aisthesis (griechischer Terminus für Wahrnehmung) hat zum

Verflüssigung ihres Selbst- und Weltverhältnisses, des

Ziel, auf den Ursprung der philosophischen Ästhetik zurückzu-

Berührt-, Bewegt- und Ergriffenwerdens.“57

führen, die zunächst als Theorie sinnlicher Erkenntnis entworfen

Die Empfindungen, die uns die Künste bescheren, führen uns

wurde.61 Diese Definition ist für uns von Interesse, da sie es

zum Kern der Ästhetik. Sie ist ein holistisches Konzept für

uns ermöglicht, Architekturprojekte nicht anhand der Form

Rosa, der Schönheit als Resonanz betrachtet, die „die Möglich-

(Regeln der Raumkomposition, Proportionen, Harmonie usw.),

keit einer gelingenden Beziehung zur Welt und damit reales

sondern anhand der sinnlichen Erfahrung in all ihren Dimen-

Glück“ bietet.58 Die Kunst steht im Mittelpunkt des nostalgi-

sionen zu analysieren. Jacques Rancière geht noch einen

schen Strebens nach Resonanz:

Schritt weiter und fügt die Frage des Denkens, der Identifika-

„Wie ich […] zu zeigen versucht habe, besteht die Spezifität

tion und des Teilens des Sinnlichen hinzu, bis hin zur politischen

der Kunst nun aber darin, dass sie über die Erfahrung reiner

Dimension. Für den französischen Philosophen ist Ästhetik

Resonanz hinaus die gesamte Bandbreite der (zu einem

„weder eine allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die

historischen Zeitpunkt kulturell) möglichen Weltbeziehungen

die Kunst durch ihre Wirkungen auf die Sinne definiert, sondern

nachzubilden und zum Ausdruck zu bringen und damit

eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von

fühlbar zu machen vermag.“

Kunst. Ästhetik ist eine Weise, in der sich Tätigkeitsformen,

59

Das treibt moderne Menschen in die Museen, Kinos, Theater

die Modi, in denen diese sichtbar werden, und die Arten, wie

und Konzertsäle, da sie dort unterschiedliche Arten und Formen

sich die Beziehungen zwischen beiden denken lässt, artikulie-

der Weltbeziehung ausprobieren können, die es ihnen ermög-

ren, was eine bestimmte Vorstellung von der Wirksamkeit des

lichen, die eigene zu kanalisieren, zu modifizieren oder anzu-

Denkens impliziert.“62 Für Rancière ist „die ästhetische Denk-

passen: „Ästhetische Resonanz wird so zu einem Experimen-

weise erheblich mehr als ein Gedanke zur Kunst. Sie ist eine

tierfeld für die Anverwandlung unterschiedlicher Muster der

Idee des Denkens, die an die Idee einer Aufteilung [im Sinne

Weltbeziehung.“

des Teilens innerhalb einer Gesellschaft] des Sinnlichen

60

Für das hiesige Thema besonders interessant an diesem Ansatz

18

Theoretische Rahmung

gebunden ist.“63 Er interessiert sich insbesondere für die

Anmerkungen Seite 31

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 19

Beziehung zwischen Ästhetik und Politik, wobei für ihn die

„Reale muss fiktionalisiert werden, um gedacht zu werden“.68

Künste nicht nur als solche, sondern auch als „Formen

Die Fiktion macht die Realität sinnlich erfahrbar und ver-

der Einschreibung des Sinns der Gemeinschaft wahrgenom-

ständlich.

men und gedacht werden können. Diese Formen legen

Dies sind also die drei möglichen Ansätze zur Analyse der

fest, wie Werke oder künstlerische Aufführungen ,Politik

Funktionsweise ästhetischen Handelns: Der erste betrifft den

machen‘.“64

durch ein Werk hervorgerufenen Schwebezustand, der zweite

Ästhetik wird hier in dieser weiten Dimension verstanden, die

die Veränderung der Zeit oder zumindest ihrer Wahrnehmung

auch gesellschaftliche Aspekte umfasst. Die politische Ebene

und der dritte der dem künstlerischen Prozess innewohnende

der Ästhetik (und wie sie auf die Gemeinschaft einwirkt) wird

fiktionale Modus. Bei der Analyse der Beispiele werden wir

anhand zahlreicher architektonischer Beispiele analysiert,

auf diese drei Ansätze zurückkommen, insbesondere auf

die im zweiten Teil (insbesondere in Kapitel 2) vorgestellt wer-

die Frage der Zeit, die ich für einen Schlüsselfaktor des ästhe-

den, jedoch nicht, ohne vorher die Schlüsselfrage zu erörtern:

tischen Handelns halte, da dieses, insbesondere in Krisen-

Wie funktioniert ästhetisches Handeln und wie eignet es sich

zeiten, die Zeit aufheben kann, um raumzeitliche Fiktionen zu

die Welt an?

eröffnen, aus denen eine andere Weltbeziehung erwächst.

Rancière schlägt drei Kriterien für die Analyse vor. Einer der wichtigsten Faktoren ist die Zeit, da Kunst auf die Zeitwahrnehmung einwirken kann: „Der ästhetische Zustand ist reine

Nutzungen und Rituale

Suspendierung, ein Augenblick, in dem die Form als solche wahrgenommen wird. Es ist der Augenblick, in dem eine be-

Doch wie wird eine neue Vision von Gesellschaft entworfen?

sondere Menschheit [humanité spécifique] gebildet wird.“

Welche Vorstellungswelt, welche Rituale liegen ihr zugrunde?

65

Dieser Schwebezustand, dieser kurze Stillstand der Zeit, ist

Ästhetik, so meine Hypothese, geht stets mit spezifischen

ein Moment, in dem die Dinge zerfallen und auf andere Weise

Ritualen einher, die mehr als bloße „Nutzung“ sind. Während

wieder neu zusammengesetzt werden, wobei auch eine andere

die Nutzung eine Praxis ist, die mit einer bestimmten Verwen-

Vorstellung von Gesellschaft entstehen kann.

dungsweise und Funktion verbunden ist, bezeichnet ein Ritual

Der zweite Faktor ist die Fähigkeit der Kunst, die Wahrnehmung

die Gesamtheit der Regeln und Gewohnheiten einer bestimm-

von Raum und Zeit zu verändern. Sie kann die „Ordnungen

ten Gruppe, die von einer spezifischen Idee, Lebensauffassung,

der Geschichtlichkeit [régimes d’historicité]“ (um den von

Ideologie, einem Glauben oder einer kulturellen Tradition

François Hartog geprägten Begriff zu verwenden), das heißt

getragen werden. Es ist die „Gesamtheit der Handlungen,

die Artikulation der drei Zeitkategorien (Vergangenheit, Gegen-

Worte und Gegenstände, die sehr genau kodifiziert […] und

wart und Zukunft) gegeneinander ausspielen, ihre eigenen Zeit-

auf spezifische Lebenslagen zugeschnitten sind“.69

lichkeiten entwickeln und ihre eigenen Revolutionen erfinden,

Im Gegensatz zur simplen Nutzung, die im architektonischen

denn „die Zeitlichkeit des ästhetischen Regimes der Künste

Kontext relativ leicht zu verstehen und zu bestimmen ist

[besteht] gerade aus dem Nebeneinander von heterogenen

(durch das „Raumprogramm“, das die Nutzung der Räume

Zeitlichkeiten“, wie Rancière hervorhebt. Das ästhetische

festlegt und üblicherweise vom Bauherrn vorgegeben wird),

Regime der Künste „widmet sich der Erfindung neuer Lebens-

ist ein Ritual aufgrund der ihm zugrunde liegenden Vorstel-

formen, in dem es ausgeht von einer Vorstellung dessen, was

lungswelt (Lebensauffassung, Ideologie, Glaube, Tradition)

66

die Kunst gewesen ist und was sie hätte sein können“. Es

viel schwerer zu entschlüsseln. Diese Vorstellungen sind auch

ist also ein interpretierender und zugleich spekulativer Blick

Vektoren einer neuen Ästhetik, die nicht nur die Gebäude-

auf die Geschichte, der sowohl die Gegenwart als auch die

form und -hülle definiert, sondern auch die räumliche Kom-

Erwartung der Zukunft reflektiert.

position, die das Programm anordnet. Durch die Anordnung

Ein dritter wichtiger Faktor, der der Kunst eigen ist, ist die

der Räume bestimmt sie die Art und Weise der Nutzung (wie

Fiktion. Man muss, so Rancière, Geschichte denken, indem

man sich bewegt, wie man sitzt usw.), und in diesen Räumen

man das Reale durch Fiktionen interpretiert, denn das

finden die Alltagsrituale statt.70

67

Anmerkungen Seite 31

Nutzungen und Rituale

19

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 20

Architekturbücher beschreiben und analysieren meist Formen

sondern auch den ihr zugrunde liegenden Nutzungen, Ritualen

und Nutzungen, beschäftigen sich aber weitaus seltener mit

und Ideen, da sie in ihrer Gesamtheit Ausdruck und kritische

der Frage der Rituale. Rituale haben eine Funktionsweise, die

Hinterfragung eines bestimmten In-der-Welt-seins sind.

man in Anlehnung an Nietzsche als dionysisch bezeichnen

Welche Rituale und Nutzungen, welche Formen von Ästhetik

könnte (im Gegensatz zum Apollinischen, das sich mehr auf

(im weitesten Sinne) entstehen also in Krisenzeiten, um eine

die Form bezieht).

neue Beziehung zur Welt und zur Zeit aufzubauen? Bevor

In Die Geburt der Tragödie (1872)

71

unterscheidet Nietzsche

diese Fragen im Architektur-Teil beantwortet werden können,

zwischen der apollinischen und der dionysischen Kunst und

gilt es zunächst die Bedeutung des Begriffs „Krise“ und seine

stellt sie einander gegenüber. Die apollinische Kunst beruht

Beziehung zur Zeit zu klären.

auf der Erfahrung des Auges: bildende Kunst, Traumwelten, das Schöne. Die dionysische Kunst hingegen beruht auf der körperlichen Erfahrung von Musik, Tanz, Rhythmus, Festen und Rauschzuständen sowie auf der Versöhnung des Menschen mit der Natur und auf der Freiheit: Mit Dionysos

Krise, Katastrophe, Zusammenbruch, Kollaps

befreit sich der Mensch von den herkömmlichen Ständen

20

und sozialen Kategorien und vereint sich in Bacchus-Chören.

Es stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt davon ausge-

Auf diese Weise wird „der Mensch […] Mitglied einer höheren

gangen werden kann, dass wir uns „in einer Krise“ befinden.

idealen Gemeinsamkeit“, einer „Weltenharmonie“.72 Diese

Da ständig Krisen auftreten, sie sich bisweilen sogar überlappen

zwei gegensätzlichen und sich ergänzenden Prinzipien finden

und mehr oder weniger verheerende Auswirkungen für Mensch

sich in der griechischen Tragödie wieder. Warum nicht auch in

und Umwelt haben, könnte man annehmen, dass wir uns ge-

der Architektur, die Ritual und Form miteinander verbindet?

wissermaßen immer in einer Krise befinden. Allerdings gibt es

Ein Ritual ist unter anderem eine kollektive Weise, Räume zu

Abstufungen: Je nach Schwere der Krise können ihre Folgen

erleben und zu durchqueren. Rituale zeichnen sich durch

mehr oder weniger destabilisierend sein und sehr unterschiedli-

Wiederholung und ständige Wiederkehr aus und werden

che Reaktionen auslösen, auch abhängig von den Erfahrungen

davon bestimmt; sie haben etwas Mechanisches und Auto-

und Erlebnissen des Einzelnen.

matisches an sich. Rituale gehorchen dem dionysischen

Schauen wir uns nun die etymologischen Bedeutungen der

Prinzip und versetzen uns in eine Art Schwebezustand, der

Begriffe „Krise“, „Katastrophe“, „Zusammenbruch“ und „Kol-

sich unserem Zugriff entzieht, ja unkontrollierbar ist – wir

laps“ an, denen eine Dynamik des Umbruchs innewohnt, die

werden gegen unseren Willen hineingezogen. Ein Ritual ist

von einer starken Beschleunigung der Zeit in Gang gesetzt wird.

eine kollektive kulturelle Handlung, die mit dem kollektiven

Das seit dem 16. Jahrhundert im deutschen Sprachraum vor-

Unbewussten verbunden ist. Rituale beinhalten auch eine

erst als medizinischer Begriff bezeugte Wort „Krise“ ist aus

zwanghafte Dimension, wie Freud in seiner Beschreibung

dem griechischen krisis („Unterscheidungsvorgang oder -ver-

der Zwangsvorstellungen von Menschen mit Kriegstraumata

mögen“73) entlehnt und leitet sich vom Verb krínein = trennen,

dargelegt hat; sie helfen dann, die Dämonen auszutreiben

unterscheiden ab. Für Seneca waren Krisen die „Konflikte

und das Trauma zu überwinden.

der Natur“.74 In französischen Wörterbüchern tauchte der

Wir sind in der Lage, die Gestaltungen der Moderne zu be-

Begriff im Mittelalter in der Bedeutung von „Angriff“ auf und

schreiben und rationale Diskurse zu begreifen, aber wir tun uns

wurde zum Beispiel im Zusammenhang mit dem „Erscheinen

unendlich schwer, Rituale zu entziffern und zu beschreiben, ob-

einer schweren Krankheit“ verwendet. In Momenten der In-

wohl diese für das Verständnis bestimmter Architekturprojekte

stabilität deutet die etymologische Bedeutung des Wortes auf

von entscheidender Bedeutung sind. Denn Rituale geben

einen Umbruch mit darauffolgender Lösung hin, legt aber

Auskunft über kulturelle Phänomene – manchmal viel besser

auch die Idee einer „Entscheidung“ nahe: Es ist der Vorgang

als die Form (und die Beschreibung) des Bauwerks selbst. Aus

oder das Vermögen, zu unterscheiden und zu entscheiden.

diesem Grund gilt mein Interesse nicht nur der Architektur,

Die Krise markiert einen Bruch und teilt die Zeit in ein Davor

Theoretische Rahmung

Anmerkungen Seite 31

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 21

und ein Danach. Sie ist ein Moment intensiver Beschleunigung

Das Ende der Zeiten

bis hin zu einem Wendepunkt, an dem die Dinge sich ent-

Die Zeit in der Schwebe gleicht einem Stillstehen der Zeit,

scheiden. Es ist wichtig zu beachten, dass krisis sowohl eine

einem Ende der Zeiten, und das führt uns zur Frage der

Störung des gewohnten Ablaufs als auch ein trennender

„Apokalypse“. Nach der griechischen Etymologie bedeutet

Vorgang ist, der eine Entscheidung oder eine Lösung impliziert.

Apokalypse eigentlich „Enthüllung“ oder, religiös konnotiert,

Kommt es dank einer Krise zur Auflösung einer schwierigen

„Offenbarung“ mit Bezug auf das Weltende. Das Wort ist

Situation? In diesem Fall wäre die Krise als eine Gelegenheit

dem griechischen apokálypsis („das Enthüllen“) entlehnt

anzusehen, die genutzt werden kann, um die Dinge zum

und setzt sich aus dem Verb kalýptein („verhüllen, bedecken“)

Besseren zu verändern.

und dem Präfix apó („von – weg“) zusammen. Die Apoka-

Während die Krise ein Kippmoment beinhaltet mit der Mög-

lypse ist also buchstäblich „das ent-verhüllte Ding“ und im

lichkeit eines Auswegs, implizieren die Begriffe Katastrophe,

weiteren Sinne „das den Menschen Enthüllte“, „das Entfernen

Zusammenbruch und Kollaps eine abrupte Abwärtsbewe-

des Schleiers, der das Ding verbarg“.78

gung. Das Wort „Katastrophe“ wurde um 1600 aus grie-

Die Apokalypse bedeutet nicht das Ende der Welt, sondern

chisch katastrophé („Umkehr, Wendung“) entlehnt und setzt

das Ende einer Welt. Sie bietet die Möglichkeit einer neuen

sich aus der Vorsilbe katá („abwärts“) und dem Substantiv

Welt, die als eine bessere (und anderweitige) erhofft wird,

strophé („das Drehen, Wenden, Wendung“) zusammen;75

die der Offenbarung. Die Vorstellung vom Ende der Zeiten

sie ist also buchstäblich eine „Wendung der Lage mit einem

beruht meistens auf einer religiösen Weltanschauung,

Absturz“ und bezeichnet ein plötzlich eintretendes Ereignis,

nämlich die der göttlichen Bestrafung aufgrund des Fehl-

das den Lauf der Dinge tiefgreifend verändert und Vernichtung,

verhaltens der Menschheit. Im Christentum wird vor dem

Verderben und Tod bringt. Das französische Wort „effondre-

Jüngsten Gericht die Entscheidung darüber gefällt, wer in

ment“ für „Zusammenbruch“ wurde aus dem Vulgärlateinischen

den Himmel kommt und wer in die Hölle. In der biblischen

exfundatus („von Grund auf umstürzen“ ) entlehnt und leitet

Apokalypse, die „Offenbarung des Johannes“ genannt wird,

sich von fundus („Grund, Boden“) ab: Es bedeutet „auf

hebt der Engel „mit der Stimme von sieben Donnern“ seine

Grund stoßen“ (im landwirtschaftlichen Kontext), „eindrücken,

rechte Hand zum Himmel empor und schwört:

brechen, zusammenbrechen lassen“. Das im angelsächsischen

„Es soll hinfort keine Zeit mehr sein“79 – eine Vorstellung, die

Raum verwendete Wort „Kollaps“ ist von spätlateinisch col-

zur Zeit der Aufklärung kritisch aufgegriffen wurde, insbesondere

lapsus („Zusammenbruch“) entlehnt und leitet sich von lapsus

von Immanuel Kant. Dies wird weiter unten im Abschnitt

(labi = „gleiten, straucheln“) und prolapsus („hingleiten, aus-

„Das Ende aller Dinge“: Der kritische Blick von Immanuel

gleiten und fallen, abgleiten“) ab.

Kant vertieft.

76

77

Die Begriffe Katastrophe, Zusammenbruch und Kollaps

Die Vorstellung vom Ende der Zeiten hat seit jeher als

bezeichnen also einen Wendepunkt mit einem Sturz in die

Drohkulisse gedient, um gegen Verhaltensweisen vorzugehen,

Tiefe, ein Umkippen ohne Halt, während die Krise ein Schwe-

von denen behauptet wurde, sie würden dem guten Fortgang

bezustand, ein die Stabilität bedrohendes Ereignis ist; sie

der Gesellschaft zuwiderlaufen. Die historische Zeit bleibt

stellt einen bestehenden Zustand infrage und lässt ihn kippen.

vor dem apokalyptischen Abgrund abrupt stehen. Weltende-

Die Dimension des Schwebezustands bei der Krise eröffnet

Vorstellungen können eine lähmende Wirkung haben oder

die Möglichkeit einer Lösung und vielleicht einer Neujustie-

eine Flucht in Frömmigkeit und Mystizismus bewirken, er-

rung; sie kann als Auslöser wahrgenommen werden. Eine

möglichen aber auch eine radikale Infragestellung unseres

Katastrophe hingegen bedeutet eine umfassende, radikale

individuellen wie kollektiven In-der-Welt-seins. Heute be-

Umgestaltung und erfordert eine Rückbesinnung auf die

steht die Herausforderung gerade darin, dass wir angesichts

wesentlichen Dinge. Krisen und Katastrophen sind disruptive

der bedrohlichen Krisen eine reflektierte und zugleich krea-

Momente, mit denen starke Dynamiken der Beschleuni-

tive Haltung einnehmen, die uns handlungsfähig macht.

gung einhergehen. In diesen Momenten des Bruchs steht die Zeit, die der Beschleunigung unterlag, plötzlich still.

Anmerkungen Seite 31

Krise, Katastrophe, Zusammenbruch, Kollaps

21

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 22

Zeit

Fortschritt

Die Vorstellung vom Ende der Zeiten ist zugleich eine Einladung,

Diese Veränderungen eröffneten einen neuen Horizont, der

noch einmal ganz neu über unsere Beziehung zur Welt und

als Fortschritt auf einen Begriff gebracht wurde. An die Stelle

zur Zeit nachzudenken. Die Zeitwahrnehmung, unser Verhältnis

der Endlichkeit der Welt trat eine neue Finalität, die einer

zu Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft haben sich im

möglichen Progression.86 Erstreckten sich die Erwartungen im

Laufe der Geschichte enorm verwandelt, daher verdient die

Mittelalter auf das religiöse Jenseits, so war der Fortschritts-

Frage nach dem Fortschritt in diesem Verhältnis ein besonderes

gedanke, der in der Renaissance aufkam, weltlich. 1588 verlieh

Augenmerk.

Montaigne dem Fortschritt die Bedeutung einer stufenweisen

In Vergangene Zukunft (1989) entwickelt der deutsche His-

Transformation zum Besseren87 durch Moral (Tugend88) und

toriker Reinhart Koselleck die These, dass sich die Beziehung

Wissen (die Neugier, zu lernen). 1697 postulierte Leibniz die

zur Zeit seit der Renaissance tiefgreifend verändert hat. „So-

allgemeingültige Wahrheit „progressus est in infinitum per-

lange man sich im letzten Zeitalter glaubte, konnte das wirk-

fectionis“89: Die Vollkommenheit der Welt ist nur als ein dauer-

lich Neue der Zeit nur der Jüngste Tag sein, der aller

hafter Optimierungsprozess denkbar. Die Vollkommenheit als

80

bisherigen Zeit ein Ende setzte“, stellt er fest und zitiert

Finalität „diente seitdem einer irdischen Daseinsverbesserung,

Nicolaus von Cues, einen deutschen Denker aus dem späten

die es erlaubte, die Lehre von den letzten Dingen durch das

Mittelalter: „Et ob hoc santi saepe hoc tempus novissimum

Wagnis einer offenen Zukunft zu überholen“.90 Es fand ein

et finem saeculorum nominant“82 („Und deshalb nennen die

Perspektivwechsel statt, der trotz einer ungewissen Zukunft

Heiligen dieses Zeitalter häufig das letzte und das Ende aller

auf Weiter- und Fortentwicklung ausgerichtet war. Koselleck

Zeiten“). Zu jener Zeit waren die „Erwartungen, die über alle

zufolge ist „Fortschritt“ der „erste genuin geschichtliche

bisherige Erfahrung hinauswiesen, […] nicht auf diese Welt

Begriff, der die zeitliche Differenz zwischen Erfahrung und

bezogen. Sie richteten sich auf das sogenannte Jenseits,

Erwartung“ berücksichtigte.91 Das optimistische Jahrhundert

apokalyptisch angereichert auf das Ende dieser Welt insge-

der Aufklärung glaubte an eine Zukunft, die besser sein würde

samt.“ Dagegen konnten auch alle Enttäuschungen nichts

als die Vergangenheit. Rousseau zog die Vervollkommnungs-

ausrichten, die sich breitmachten, wenn sich wieder einmal

fähigkeit des Menschen in Betracht und ordnete sie in den

herausstellte, dass eine Prophezeiung vom Ende dieser Welt

Lauf der Geschichte ein. Von nun an konnte die Geschichte

nicht eingetroffen war; sofort wurde die Prophezeiung wieder

allen Auseinandersetzungen und Rückschlägen zum Trotz als

aufgegriffen und von einer Generation zur nächsten durch

ein dauerhafter Prozess der zunehmenden Vervollkommnung

eine neue apokalyptische Voraussage vom Weltende abge-

verstanden werden, der vom Handeln der Menschen und der

löst. Die iterative Struktur apokalyptischer Erwartung „immu-

Gesellschaften abhängt.

81

83

nisierte“ die diesseitigen Erfahrungen, sodass es unmöglich

22

war, den mit dem Jenseits verbundenen Erwartungshorizont

„Das Ende aller Dinge“: Der kritische Blick von Kant

zu überwinden.84

Die Französische Revolution eröffnete einen neuen Erwartungs-

Mit der Entdeckung und Erkundung der Neuen Welt, dem

horizont. Sie wurde als ein radikaler Bruch im Zeitkontinuum

Ausbruch der Religionskriege, den Entdeckungen der Wissen-

wahrgenommen. Wie viele andere Denker der Aufklärung be-

schaften und der Kopernikanischen Revolution kam eine neue

fürwortete auch Kant die Französische Revolution und sah die

Zeitwahrnehmung auf: „Erst nachdem die christliche Ender-

Ideen der Aufklärung in ihr verkörpert und konkret umgesetzt.

wartung ihre stete Gegenwärtigkeit verlor, konnte eine Zeit

In seinen Augen markierte sie einen entscheidenden Schritt auf

erschlossen werden, die unbegrenzt und für das Neue offen

dem Weg zur Emanzipation des Menschen.92 Sogar nach dem

wurde. Ging es bislang um die Frage, ob das Weltende allenfalls

Thermidor behauptete er, dass „die Untaten der Jakobiner

früher als vorgesehen oder erwartet eintreffen würde, so ver-

nichts im Vergleich zu denen der Tyrannen der Vergangen-

schoben allmählich die Berechnungen den Jüngsten Tag in

heit“ seien.93 1794 entgegnete Kant in einem Text mit dem

immer weitere Ferne, bis er gar nicht mehr zur Debatte stand.“85

Titel Das Ende aller Dinge all denen, die aus Entsetzen über

Theoretische Rahmung

Anmerkungen Seite 31 und 32

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 23

den Terror „das Ende der Welt“ verkündeten, dass es sich

Auf diese grundlegende Frage bietet er zwei Antworten – es

dabei lediglich um das Ende einer Welt handelte.

ist der Endzweck menschlichen Daseins und die Angst, die-

In seiner Reflexion über das Ende der Zeiten fragt Kant, warum

sen niemals erfüllen zu können:

die Menschen einer apokalyptischen Vorstellungswelt bedür-

„Der Grund des ersteren scheint darin zu liegen, weil die

fen, worin diese besteht und was sie aus philosophischer Sicht

Vernunft ihnen sagt, daß die Dauer der Welt nur sofern

bedeutet. Im Rückgriff auf die Ankündigung des Engels, der

einen Werth hat, als die vernünftigen Wesen in ihr dem

seine rechte Hand zum Himmel emporhebt und schwört: „Es

Endzweck ihres Daseins gemäß sind, wenn dieser aber

soll hinfort keine Zeit mehr sein“,94 zeigt der Philosoph die

nicht erreicht werden sollte, die Schöpfung selbst ihnen

Unmöglichkeit eines Stillstands der Zeit auf und kommt zu

zwecklos zu sein scheint: wie ein Schauspiel, das gar keinen

dem Schluss: „Wenn man nicht annimmt, daß dieser Engel

Ausgang hat und keine vernünftige Absicht zu erkennen

,mit seiner Stimme von sieben Donnern‘ (V. 3) habe Unsinn

gibt. Das letztere gründet sich auf der Meinung von der

schreien wollen, so muß er damit gemeint haben, daß hinfort

verderbten Beschaffenheit des menschlichen Geschlechts,

keine Veränderung sein soll.“95 Das absolute Ende ist mit voll-

die bis zur Hoffnungslosigkeit groß sei; welchem ein Ende

kommener Erstarrung verbunden und bar aller Ideen und

und zwar ein schreckliches Ende zu machen, die einzige der

Überlegungen, da ohne Zeit kein Wandel denkbar ist. Das

höchsten Weisheit und Gerechtigkeit (dem größten Theil

Ende aller Dinge würde also das Ende eines kontinuierlichen

der Menschen nach) anständige Maßregel sei.“99

Wandels (in Verbindung mit einem unaufhörlichen Denkprozess)

Das erste Argument handelt vom Sinn des Daseins, das

bedeuten, der für Kant gleichbedeutend ist mit Fortschritt.

zweite von der furchtsamen Moralität angesichts der Sünde.

Aber da ein Ende der Zeit unmöglich ist, muss es sich dabei

Der Mensch fürchtet sich davor, das Endziel seines Daseins

vielmehr, wie er feststellt, in der Vorstellungswelt um einen

nicht zu erreichen, da er seinem Ideal nicht gerecht wird; und

„Übergang der Zeit zur Ewigkeit“ handeln: In dem Moment,

wenn er zugrunde gehen muss, so soll auch alles andere mit

in dem das Ende aller Dinge keine „objektive Realität“ mehr

ihm zugrunde gehen! Er stellt sich in den Mittelpunkt der

ist (die an eine physische Realität gebunden ist), sondern der

Welt, die ohne ihn keine Daseinsberechtigung hätte. Die

Einbildungskraft entspringt, „stoßen wir auf das Ende aller

Ursachen für das „Ende mit Schrecken“ können Kant zufolge

Dinge als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfah-

unterschiedlicher Natur sein:

rung“. Dieses Ende ist aber zugleich „der Anfang einer Fort-

„Daher sind auch die Vorzeichen des jüngsten Tages (denn

dauer eben dieser übersinnlicher, folglich nicht unter Zeit-

wo läßt es eine durch große Erwartungen erregte Einbil-

bedingungen stehender Wesen“,96 die keineswegs reell,

dungskraft wohl an Zeichen und Wundern fehlen?) alle von

sondern nur moralischer Natur sein können, da sie sich den

der schrecklichen Art. Einige sehen sie in der überhand-

Sinnen entziehen: Sie sind jenseits des sinnlich Wahrnehm-

nehmenden Ungerechtigkeit, Unterdrückung der Armen

baren und der Erfahrung und damit auch außerhalb der Zeit.

durch übermüthige Schwelgerei der Reichen und dem

Die geistige Darstellung vom „Ende aller Dinge“ ist lediglich

allgemeinen Verlust von Treu und Glauben; oder in den an

eine Figur des Übersinnlichen, eine spekulative Idee der an-

allen Erdenden sich entzündenden blutigen Kriegen etc.:

gehaltenen Zeit. Für Kant bedeutet die apokalyptische Vor-

mit einem Worte, an dem moralischen Verfall und der

stellungswelt das Ende der sinnlich wahrnehmbaren Welt,

schnellen Zunahme aller Laster samt den sie begleitenden

97

die sich jeder Kritik entzieht: Es ist die übersinnliche Welt, die

Übeln, dergleichen, wie sie wähnen, die vorige Zeit nie sah.

Wohnstatt Gottes, das Reich vom Ende – das Imaginäre vom

Andre dagegen in ungewöhnlichen Naturveränderungen,

Ende der Zeiten.

an den Erdbeben, Stürmen und Überschwemmungen, oder

Kant fragt sodann nach dem Sinn und Zweck des apokalypti-

Kometen und Luftzeichen.“100

schen Denkens: „Warum erwarten aber die Menschen

Der Gedanke, dass die Zeit plötzlich stillstehen könnte, dass

überhaupt ein Ende der Welt? Und, wenn dieses ihnen

der sterbende Mensch aus der Zeit fällt und in die Ewigkeit

auch eingeräumt wird, warum eben ein Ende mit Schrecken

eingeht, löst einen furchtbar-erhabenen Schauer aus:

(für den größten Theil des menschlichen Geschlechts)?“98

Anmerkungen Seite 32

„Dieser Gedanke hat etwas Grausendes in sich: weil er

Zeit: Fortschritt

23

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 24

gleichsam an den Rand eines Abgrunds führt, aus welchem

der „heroische Glaube an die Tugend“.105 Der Verteidiger der

für den, der darin versinkt, keine Wiederkehr möglich ist […];

Vernunft ist sich bewusst, dass die Funktion des Fortschreitens

und doch auch etwas Anziehendes: denn man kann nicht

nicht unmittelbar durch Erfahrung einzulösen ist. Dennoch ist

aufhören, sein zurückgeschrecktes Auge immer wiederum

er überzeugt, dass neue Erfahrungen, wie die der Französischen

darauf zu wenden […]. Er ist furchtbar-erhaben: zum Theil

Revolution, sich in Zukunft summieren würden, sodass „die

wegen seiner Dunkelheit, in der die Einbildungskraft

Belehrung durch öftere Erfahrung ein dauerhaftes Fortschreiten

mächtiger als beim hellen Licht zu wirken pflegt.“

zum Besseren absichern könne“.106 Darauf bedacht, die mora-

101

Dieses Phänomen ist universell, weil es, wie der Philosoph der

lische Entwicklung zu beschleunigen, versuchte Kant in seiner

Aufklärung feststellt, „unter allen vernünftelnden Völkern, zu

Schrift Zum ewigen Frieden (1795) sich der kommenden

allen Zeiten, auf eine oder andre Art eingekleidet, angetroffen

Weltfriedensorganisation zu vergewissern, „weil die Zeiten,

wird“.102 Allerdings weist Kant angesichts der apokalyptischen

in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer

Vorstellungswelt dem Menschen die Verantwortung für seine

kürzer werden“.107

Taten zu: „In der That fühlen nicht ohne Ursache die Menschen die Last ihrer Existenz, ob sie gleich selbst die Ursache derselben sind.“

103

Beschleunigung

Ein grundlegender Gedanke, höchst

aktuell in unserer Zeit, die wegen der verheerenden Auswir-

Die Vorstellung von der Beschleunigung des Fortschritts (und

kungen menschlichen Handelns auf der Erde Anthropozän

der Zeit) breitete sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts aus.

genannt wird, was uns zur Frage des Fortschritts zurückführt.

Begeistert stellte 1784 der deutsche Philosoph und Naturwissenschaftler Ludwig Büchner fest, dass „der Rückschritt nur

24

Diskrepanz zwischen technischem und moralischem

örtlich und zeitlich, der Fortschritt aber dauernd und allgemein

Fortschritt

ist“.108 Er fand es gar nicht mehr erstaunlich, „wenn heutzutage

Fortschritt, verstanden als aktive Umgestaltung der Welt, um-

der Fortschritt eines Jahrhunderts dem von Jahrtausenden in

fasst den technischen und den moralischen Fortschritt. Wie

früherer Zeit gleichkommt“,109 da jeder – oder fast jeder – Tag

Kant betont, gibt es eine Diskrepanz zwischen der schnellen

Neues hervorbringt. Seit der Neuzeit wird Zeit nicht mehr als

Entwicklung des menschlichen Fortschritts und der langsamen

homogen vorgestellt, sondern als kontinuierliches Fließen,

Entwicklung unserer Moralität – und er setzt fort:

das einer stetigen Beschleunigung unterliegt, so Reinhart

„Natürlicherweise eilt in den Fortschritten des menschlichen

Kosellek, der feststellt, dass die historischen Prozesse nun

Geschlechts die Cultur der Talente, der Geschicklichkeit

eine eigene, von den Jahrhunderten unabhängige Zeitstruktur

und des Geschmacks (mit ihrer Folge, der Üppigkeit) der

erlangten. „Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maß

Entwicklung der Moralität vor; und dieser Zustand ist

seiner Zeit in sich“, schrieb Johann Gottfried Herder 1799 in

gerade der lästigste und gefährlichste für Sittlichkeit sowohl

seiner Metakritik von Kants Werk, „keine zwei Dinge der Welt

als physisches Wohl: weil die Bedürfnisse viel stärker

haben dasselbe Maß der Zeit. […] Es gibt also (man kann es

anwachsen, als die Mittel, sie zu befriedigen. Aber die

eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzähl-

sittliche Anlage der Menschheit, die […] ihr immer nachhinkt,

bar viele Zeiten.“110

wird sie, die in ihrem eilfertigen Lauf sich selbst verfängt

Die Zeitwahrnehmung veränderte sich noch grundlegender

und oft stolpert, (wie man unter einem weisen Weltregierer-

im 19. Jahrhundert mit der Beschleunigung der Industrialisie-

wohl hoffen darf) dereinst überholen […].“

rung. Fortschritt wurde nun vorrangig mit technischen Innova-

104

Doch trotz der Diskrepanz zwischen dem schnellen menschli-

tionen assoziiert. Die Erfindung der Eisenbahn beispielsweise

chen Fortschritt und dem langsamen Fortschritt unserer

ermöglichte eine erhöhte Geschwindigkeit und ließ reale

Moralität bleibt Kant hinsichtlich der menschlichen Entwicklung

Entfernungen entsprechend geringer erscheinen. Wie

optimistisch – im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen,

Alphonse de Lamartine, ein prominenter Zeitzeuge des

für die die Versuchung der Apokalypse seltsamerweise verlo-

19. Jahrhunderts, unterstrich: „Der schnelle Lauf der Zeit ersetzt

ckender erscheint, um diese Diskrepanz zu überwinden, als

den zwischenliegenden Abstand.“111 Außerdem überschlugen

Theoretische Rahmung

Anmerkungen Seite 32

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sich die politischen Ereignisse seit der Revolution mit einer

Verschiedenheiten der Interessen, die wir mit ihnen ver-

noch nie dagewesenen Geschwindigkeit. Die Tatsache, dass

knüpfen.“117 Auf diese Weise relativierte Lévi-Strauss die

Lamartine seit 1790 unter acht verschiedenen Herrschafts-

Geschichtlichkeit der Kulturen und die damit möglicherweise

systemen und unter zehn Regierungen gelebt hatte, veran-

verknüpfte Vorstellung von Fortschrittlichkeit. Im Jahr 2003

lasste ihn 1851 zu der Bemerkung: „Es gibt keine Geschichten

prägte der französische Historiker François Hartog den Begriff

der Zeitgenossen mehr. Die kaum verflossenen Tage scheinen

„régimes d’historicité“ und entwickelte ein neues Geschichts-

schon tief in den Schatten der Vergangenheit versenkt.“

konzept, wonach eine „Zeitkrise“ eintritt, wenn der Bezug zur

112

Seitdem hat sich dieses Phänomen immer weiter beschleunigt

Geschichte verloren geht und die Gegenwart zur alleinigen

und verstärkt. Mit jeder Generation – oder noch viel schneller –

zeitlichen Dimension wird, ohne Verbindung zur Vergangenheit

vollzieht sich ein radikaler Bruch mit dem Vorangegangenen.

oder zur Zukunft. Dieses Konzept des „Präsentismus“, das

Doch wie steht es bei diesem rasanten Lauf um den Fortschritt?

heißt der omnipräsenten Gegenwart, dient ihm als Werkzeug zur kritischen Analyse unserer heutigen Welt.118 Wenn die

Unterschiedliche Geschwindigkeiten des Fortschritts

Gegenwart die alleinige zeitliche Dimension ist, dann befindet

Im Zuge des 19. Jahrhunderts kam man zu der Ansicht, dass

sich auch der Fortschrittsbegriff in einer grundlegenden Krise.

es unterschiedliche Geschwindigkeiten des Fortschritts gebe: Seit der Entdeckung der Neuen Welt und ihrer einheimischen

Zweifel am Fortschrittsgedanken

Kulturen wurde Geschichte als eine Abfolge paralleler Ereig-

Die Diskrepanz zwischen den vorauseilenden „Fortschritten

nisse aufgefasst, was dazu berechtigte, dass man verschiedene

des menschlichen Geschlechts“ und der hinterherhinkenden

Orte, verschiedene Epochen und verschiedene menschliche

„Entwicklung der Moralität“119, die Kant vorwegnahm, hat

Gesellschaften miteinander verglich und hierarchisierte.113

letztendlich gewaltige Ausmaße angenommen: Erstere haben

So reflektierte der deutsche Philosoph und Dichter Friedrich

sich derart beschleunigt, dass sie Letztere schließlich über-

Schlegel 1795 über Geschichte sowie Raum und Zeit:

rollten, ja zunichtemachten. Kriege, die mit immer destrukti-

„Das eigentliche Problem der Geschichte ist die Ungleichheit

veren Waffen geführt werden, Umweltverschmutzung durch

der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der

Industrialisierung, Müll aus technischen Erfindungen usw.

gesamten menschlichen Bildung, besonders die große

bedrohen die Welt als Ganzes, angefangen mit der menschli-

Divergenz in dem Grade der intellektuellen und der

chen Spezies. Moral und Vernunft können potenziell einen

moralischen Bildung.“

Kurswechsel herbeiführen, allerdings macht ihre Langsamkeit,

114

Ein solches Urteil ist heutzutage nicht mehr rezipierbar, ent-

wie schon Kant feststellte, angesichts der Schnelligkeit des

sprach aber bis zur Dekolonisierung der vorherrschenden

technischen Fortschritts Handeln nahezu unmöglich. Unauf-

Meinung. Im 19. Jahrhundert unterschied Hegel noch zwischen

haltsam hat der technische Fortschritt, wie Goethes Zauber-

Gesellschaften mit und ohne Geschichte, ein Ansatz, den

lehrling, eine Eigendynamik entwickelt, sodass wir heute

Claude Lévi-Strauss zu Beginn der postkolonialen Phase hinter-

aufgehört haben, an den „Fortschritt“ zu glauben oder zumin-

fragte und diskreditierte. Ausgehend von der Tatsache, dass

dest auf ihn zu vertrauen.

der Gegensatz zwischen zwei Kulturen sich „zunächst aus einer

In einem Essay hat sich der französische Philosoph Raphaël

unterschiedlichen Scharfeinstellung zu ergeben“ scheint,

Enthoven mit dem Fortschrittsgedanken in unserer heutigen

führte der französische Ethnologe 1952 den Begriff der

Gesellschaft und den Endzeitvorstellungen beschäftigt. Dabei

„allgemeinen Relativitätstheorie“ ein (in Anlehnung an Einsteins

ordnet er die gegenwärtigen apokalyptischen Verkündungen

wissenschaftliche Zeit-Theorie).116 In seiner Kritik der ethno-

in den historischen Kontext ein und kommt insbesondere auf

zentrischen Perspektive kam er zu dem Schluss: „Die Geschicht-

Kants Text Das Ende aller Dinge zu sprechen. Wie er betont,

lichkeit oder, besser noch, der Ereignisreichtum einer Kultur

habe man solche Voraussagen schon immer für zwecklos gehal-

oder eines kulturellen Prozesses, ist also eine Funktion, nicht

ten: „All diesen vorauseilenden Ankündigungen ist gemeinsam,

ihrer objektiven Eigenschaften, sondern des Standorts, an

dass sie den moralischen Verfall bezeugen und folglich ‚alle

dem wir uns ihnen gegenüber befinden, und der Zahl und

von der schrecklichen Art‘ sind.“120 Enthoven kritisiert die

115

Anmerkungen Seite 32

Zeit: Beschleunigung

25

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 26

heutigen Verkünder des „Weltendes“, die er dem Lager der

anderen Visionen mit ihrem starken Erneuerungsimpetus,

Konterrevolutionäre zuordnet:

denn sie eröffnen neue Denkfelder für eine auf andere Weise

„Die Millenaristen, die die Metapher vom Ende der Welt

„mögliche“ Welt. Sie begründen eine neue Ethik, die ihrer-

wörtlich nehmen, die Konterrevolutionäre von heute, die

seits eine neue Ästhetik hervorbringt, womit wir wieder bei

glauben, sie würden durch ihren Kampf gegen die Globali-

unserem Thema wären, der Architektur. Wie lässt sich die Ver-

sierung retten, was noch zu retten ist, und alle, die sich ein-

knüpfung von Architektur und Zeit präziser denken? Wie kann

bilden (weil es sie im Grunde beruhigt), die letzten Augen-

Zeit wahrgenommen und begriffen werden, und wie ist ihr

blicke eines noch menschlichen Zeitalters zu erleben und

Verhältnis zum Raum?

für die die Wendung ,alles hat ein Ende‘ nur ein anderer Ausdruck ist für ,alles geht verloren‘, erinnert die Lektüre

Subjektive Zeit

von Kant daran, dass der Nihilismus eine narzisstische Lei-

26

denschaft ist und dass es, solange jede Epoche Propheten

Kant zufolge sind Raum und Zeit keine Eigenschaften, die an

hervorbringt, die diese als Haufen Asche betrachten, nichts

Gegenständen haften, sondern Anschauungsformen: „Die Zeit

Neues unter der Sonne geben wird.“

ist kein diskursiver, oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Be-

121

So kann man (radikal vereinfacht) sagen, dass es angesichts

griff, sondern eine reine Form der sinnlichen Anschauung.“122

von Krisen zwei Arten von Narrativen gibt, die jeweils ein an-

Er erläutert dies am Beispiel der Erfahrung, die wir beim

deres Ziel verfolgen. Während das apokalyptische Narrativ

Betrachten einer schönen Blumenwiese machen: „Ihre Ästhetik

das Augenmerk auf das Weltende richtet und dabei vor allem

soll uns aber lehren, daß Zeit und Raum bloß reine Formen

Angst schürt, versucht das andere Narrativ, die Welt mit einer

der sinnlichen Anschauung sind, daß sie außer diesen keine

neuen Vision von Gesellschaft und Politik zu „flicken“, so bei-

objektiven Bestimmungen der Dinge seyn können, und sie

spielsweise bei Thomas Piketty, der mit seinem Reformwillen

haben doch im Grunde nichts weiteres gezeigt, als daß wir

in die Nachfolge Kants gerückt werden kann.

eine Rezeptivität der äußeren und inneren Sinne haben.“123

Zur Erinnerung, Kant schrieb seinen Text, weil er die Reformen

Kant kommt zu dem Schluss: „Die Zeit ist eine notwendige

begrüßte, die sich die Französische Revolution auf die Fahnen

Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man

geschrieben hatte, wobei „das Ende aller Dinge“ sich auf den

kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst

apokalyptischen „Hang“ der Konterrevolutionäre bezog, die

nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus

der Philosoph der Aufklärung ironisch kritisierte. In unserem

der Zeit wegnehmen kann.“124

heutigen Kontext bezieht sich „das Ende aller Dinge“ jedoch

Betrachten wir die Zeit also nicht als „objektive Zeit“, die in

nicht mehr auf eine sich vollziehende soziale Revolution, wie

messbare Einheiten unterteilt ist (die Zeit der Uhren), sondern

zu Kants Zeiten, sondern im Gegenteil auf ein Fehlen von Auf-

als subjektive Zeit, die wir wahrnehmen und erleben. Wie der

lehnung gegen die aktuelle Dynamik, die eine große ökologi-

französische Anthropologe Éric Chauvier treffend am Beispiel

sche und soziale Krise auszulösen droht. So sollte „das Ende

einer urbanen Peripherie dargelegt hat, ist Zeit lediglich das

aller Dinge“ heute ein Appell sein, sich gegen die Umweltzer-

flüchtige Wahrnehmen einer Empfindung, derer wir uns erst

störung und die soziale Ungerechtigkeit zu erheben.

bewusst werden, wenn die Zeit wie aufgehoben erscheint:

Es gilt also, zwischen diesen beiden Arten von Narrativen klar

„Ähnlich wie beim Erwachen aus einem bösen Traum wurde

zu unterscheiden. Während sich die einen auf die Frage des

uns klar, […], dass unsere Zeit im Takt des dahinfließenden

Zusammenbruchs beschränken, ohne Aussicht auf eine kultu-

Autoverkehrs verstrich […]. Gewiss, wir hatten Anhalts-

relle Renaissance, zeigen die anderen in konstruktiver Weise

punkte chronologischer Art, sie waren jedoch nur die

Perspektiven für die Schaffung einer besseren Gesellschaft

illusorische Oberfläche unserer Existenz. Viel tiefergehend

auf. Die nihilistischen Visionen treten nicht für eine Sache, für

wird unsere Zeit auf fast unbewusste Weise durch den Lärm

ein gerechteres und zukunftsfähiges Modell ein, sie sind nicht

der Autos zu den Stoßzeiten und die vollkommene Stille

konstruktiv, sondern fatalistisch, und der Kategorie der reli-

dazwischen, die sich über unsere Straße wie über eine

giösen Apokalypse zuzurechnen. Uns interessieren hier die

Beerdigung legt, getaktet.“125

Theoretische Rahmung

Anmerkungen Seite 32

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 27

Anders als bei den Schwankungen des Alltagslebens, die fast

Gottheit personifiziert, die sich schnellfüßig fortbewegt und

neutral und kaum wahrnehmbar sind, verändert sich die Zeit-

mit spitzen Fingern eine Waage hält, die aus dem Gleichge-

wahrnehmung in Krisenzeiten deutlich: Die Zeit beschleunigt,

wicht geraten ist, als würde sie vom Sog der Geschwindigkeit

intensiviert und verdichtet sich. Die Ereignisse überstürzen

mitgerissen. Wenn Kairos vorbeirauscht, muss man ihn im

sich, jede neue Nachricht wird mit Spannung erwartet. Haben

richtigen Moment an den Haaren packen. Die Figur steht für

wir uns schließlich an die Situation gewöhnt, dehnt sich die

die Gelegenheit, die eine Situation wenden kann, wobei sie

Zeit und scheint unendlich; die Wochentage gehen nahtlos

über deren endgültigen Ausgang bestimmt (Leben oder Tod,

ineinander über, alles wirkt „zeitlos“ und die Zukunft erscheint

Sieg oder Niederlage); sie weist also auf die Bedingung für

als ein ferner Horizont (wie unsere jüngste Erfahrung mit den

den Erfolg einer Handlung. Kairos ist eine immaterielle zeitli-

Lockdowns gezeigt hat). Wenn es keine Zukunft mehr gibt,

che Dimension, die nicht mit Uhren gemessen wird, sondern

gibt es auch keine Gegenwart mehr. Das Warten macht die

mit dem Empfinden. Kairos unterscheidet sich damit von

gegenwärtige Zeit zunichte und sie treibt dahin.

chronos (dargestellt als bärtiger Greis), der die physikalische,

126

Krisen sensibilisieren unsere Zeitwahrnehmung, da sie einen

lineare, empirische Zeit verkörpert und den Wandel in der

Bruch im Zeitkontinuum bewirken. Sie ermöglichen eine Ver-

Welt bekundet, der sich in Vergangenheit, Gegenwart und

räumlichung der Welt, die dann ausgehend von den Bruch-

Zukunft gliedert. Während Chronos das Fließen der Zeit

stellen in spezifische Zeiteinheiten unterteilt wird. So strukturiert

repräsentiert, verleiht Kairos dem Augenblick Tiefe und

die Abfolge von Krisen die Welt und rhythmisiert die Zeit.

bewirkt eine andere Wahrnehmung der Welt, der Ereignisse,

Unser Krisenbewusstsein und unsere Krisenerfahrung impli-

der Dinge und des Einzelnen von sich selbst (eine Vorstellung,

zieren eine bestimmte Repräsentation der Zeit. Die Reaktionen

die in der Phänomenologie und insbesondere bei Martin

der Architekt:innen auf Krisen, die im zweiten Teil dieses Buches

Heidegger eine wichtige Bedeutung erlangt hat). In der

untersucht werden, zeugen ja gerade davon, wie sie die Zeit

Ästhetik ist Kairos „der für die Verwirklichung eines Werkes

im Verlauf einer Krise wahrnehmen; als Ausweg versuchen sie,

sich darbietende günstige Augenblick“.128

in die Zeit einzugreifen, indem sie „Gegenzeiten“ und „Gegen-

In seinem Buch Chronos – L’Occident aux prises avec le

räume“ entwerfen. In Phasen der Krise nutzen sie die Gunst

Temps zeigt François Hartog eine intrinsische Verflechtung

der Stunde, um die unerträglich gewordene gegenwärtige

zwischen Chronos, Kairos und Krisis auf. Kairos als Bezeichnung

Zeit zu verändern und „Gegenwelten“ zu erschaffen.

für einen entscheidenden Augenblick in einer unerwarteten Situation impliziert wie Krisis „einen Schnitt, einen Bruch im

Kairos, menschliches Handeln „zur rechten Zeit“

Raum-Zeit-Kontinuum“.129 Monique Trédé-Boulmer zufolge

In der griechischen Kultur gab es einen Zeitbegriff für das

verweist der Begriff Kairos „auf die Entstehung eines Diskonti-

Handeln in entscheidenden Momenten: kairos. Während der

nuums in einem Kontinuum, auf ein Durchstoßen der Zeit im

Kairos zu Homers Zeiten noch „einen neuralgischen Ort im

Raum“.130 In der Etymologie von Kairos und Krisis findet man

Körper, einen kritischen Punkt“ bezeichnete, änderte sich die

laut Hartog „den Akt des Schneidens, der sich in einer Art

Bedeutung des Begriffs mit dem Aufkommen der Geisteswis-

Kontraktion der Zeit äußert, in der Entstehung eines Davor

senschaften (Medizin, Politik, Rhetorik) im Griechenland des

und eines Danach“.131

5. Jahrhunderts v. Chr. und bezeichnete nun die günstige Ge-

Er veranschaulicht dies am Beispiel der Krankheit, die ein

legenheit. Es war die Epoche, in der die Griechen „versuchten,

„Krisendenken“ ist, da der Arzt mit seiner Prognose die

eine Kunst der Vorhersage und der Prognose zu entwickeln,

„kritischen Tage“ und ihre regelmäßige Wiederkehr erkennen

und in der Beherrschung des Kairos den Schlüssel zum Erfolg

muss. Unter dem scheinbaren Chaos der Krankheit ist eine

sahen“.

127

Seither ist Kairos die Zeit der günstigen Gelegenheit,

Ordnung verborgen, die das geübte Auge des Arztes aus-

die einmalig ist und nie wiederkehren wird. Dieser Begriff um-

machen muss: „eine zeitliche Ordnung. Erst dieses Vorgehen

fasst zwei Dimensionen, eine zeitliche und die des menschlichen

macht ihn handlungsfähig, indem er die ,günstigen Augenblicke‘

Handelns, das wirksam sein und „zur rechten Zeit“ erfolgen

(kairoi) für seinen Eingriff nutzt.“132

muss. In der Mythologie wurde Kairos als kleine geflügelte

Von besonderem Interesse ist hier also die Tatsache, dass die

Anmerkungen Seite 32

Zeit: Subjektive Zeit

27

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Handlung des „(Ab-)Schneidens“ etymologisch gesehen sowohl

Vier Figuren

der Krise als auch der Zeit innewohnt, insbesondere dem Kairos – wenn es darum geht, den günstigen Augenblick zu

Im Anschluss an diese Einleitung, die das theoretische Rüst-

ergreifen, in dem die Gefahr besteht, dass eine Situation kippt.

zeug für die Untersuchung der Fallbeispiele zur Verfügung

Welche Form ästhetischen und zeitlichen Handelns kann in

stellt, sollen die vier Figuren kurz in Erinnerung gerufen

der Architektur entstehen, um eine neue Weltbeziehung zu

werden, die mit unterschiedlichen zeitlichen Strategien und

skizzieren, eine Situation zu wenden? Wie kann die Zeit zum

den ihnen entsprechenden Handlungsmodi angesichts von

Instrument für ein Architekturprojekt werden? Betrachten wir

Krisen verbunden sind.

also menschliches Handeln und insbesondere das ästhetische Handeln der Architekt:innen in einer raumzeitlichen Dimension.

Figur 1. Angestrebt wird ein Sprung in Raum und Zeit in eine genügend weit zurückliegende Vergangenheit oder in einen

Tempus und Templum – Zerteilung von Raum und Zeit

urtümlichen „Naturzustand“ durch Rückbesinnung auf die

Die Zeit kann man nicht denken, man kann sie nur erfahren,

Arché (den Anfang oder das Urprinzip der Welt) und den

betonte Kant. Um ihrer Herr zu werden, zerteilen wir sie in

Archetypus (die Urform), um eine neue Zukunft zu eröffnen. Es

messbare und fassbare Einheiten und legen Epochen fest,

handelt sich um eine erneuernde Rückkehr zu früheren Zeiten.

etablieren Ordnungssysteme der Geschichtlichkeit.

> Kapitel 1: Archaismus: Sprung rückwärts in Raum und Zeit

Das lateinische Wort tempus für „Zeit“ bedeutet „Zeitabschnitt“, also eine Epoche, und leitet sich vom indoeuropäi-

Figur 2. Angestrebt wird eine Entschleunigung, eine Verlang-

schen tem („schneiden“) ab; auf Griechisch bedeutet auch

samung der Zeit durch die Abkehr vom herrschenden Fort-

temno „abschneiden“. Interessanterweise haben tempus und

schrittsgedanken, entweder gezwungenermaßen oder

templum etymologisch die gleiche Wurzel; diese bezeichnet,

aufgrund einer antizipierenden Entscheidung, um sich in einer

Catherine Malabou zufolge, eine bestimmte Art und Weise,

neuen Gesellschaftsform zu verankern, die agrarisch geprägt

„einen Raum und eine Zeitspanne in einem Sakralisierungs-

ist und auf kooperativen Modellen beruht, wo alles erst zu

vorgang von der natürlichen Welt zu trennen“;

133

das erste

erschaffen ist, meist von einem selbst.

templum war die Zerteilung des Himmels und des Bodens in

> Kapitel 2: Zurück zur Ländlichkeit: Streben nach

Abschnitte durch die Auguren. Tempus und templum entspre-

Entschleunigung

chen einer „Teilung, deren Grenzen mithilfe eines Stabes oder Zepters gezogen werden“.134 Zerteilen ist also ein künstlicher

Figur 3. Angestrebt wird eine Beschleunigung der Zeit,

Akt. So, wie das Zerteilen der Zeit uns ermöglicht, sie zu er-

um so schnell wie möglich den Untergang herbeizuführen, an

fassen, zu gliedern und vorstellbar zu machen, damit wir uns

den Nullpunkt zu gelangen, an dem alles neu beginnen kann,

orientieren können, so ermöglicht die Architektur, den Raum

nachdem Tabula rasa gemacht wurde. Der Handlungsmodus

zu strukturieren, indem sie ihn von der Welt abgrenzt und

wird vom Destruktionstrieb und dessen Sublimierung

abtrennt. In dieser Hinsicht können Architekturprojekte durch-

bestimmt, um eine neue Welt entwerfen zu können.

aus als eine Art „Tempel“ betrachtet werden, die sich des

> Kapitel 3: Schaffen durch Zerstören: Beschleunigung als

Raums bemächtigen, indem sie ihn zerteilen, um Parallelwelten

Mittel zum Zweck

zu erschaffen. – Und welches Verhältnis zur Zeit stellen sie

28

dabei her?

Figur 4. Angestrebt wird eine Aufhebung der gegenwärtigen

Um den Modus Operandi der „Zerteilung“ des Raums (und

Zeit, um sich in eine andere Zukunft zu projizieren, die fröhlich

der Welt) von Architekturprojekten zu verstehen, wird zunächst

und hoffnungsvoll sein soll. Verdrängung und Lebenstrieb

eine Zeiteinteilung („unsere eigene Uhr“) vorgeschlagen. Dafür

sind die treibenden Kräfte dieser Haltung, die eine neue, ver-

werden temporale Orientierungspunkte (verbunden mit be-

zauberte Welt zu entwerfen sucht.

stimmten Handlungsmodi) für jene Zäsurmomente konstruiert,

> Kapitel 4: Wiederverzauberung der Welt: Aufhebung der

die entstehen, wenn das Zeitkontinuum „in eine Krise gerät“.

Zeit durch einen Sprung in die Zukunft

Theoretische Rahmung

Anmerkungen Seite 32

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Archaismus Sprung rückwärts in Raum und Zeit

Wiederverzauberung der Welt Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft

Zurück zur Ländlichkeit Streben nach Entschleunigung

Schaffen durch Zerstören Beschleunigung als Mittel zum Zweck

Vier Figuren

29

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Anmerkungen 1 Blaise Pascal, Gedanken, a. d. Französ. v. Ulrich Kunzmann, Berlin 2012, 16 und 19 (Original: „Impossible de trouver une assiette ferme“, Manuskript erstellt zwischen 1656 und 1662, veröffentlicht in: Pensées, Paris 1670). 2 Bruno Latour, „Imaginer les gestes-barrières contre le retour à la production d’avant-crise“, in: AOC, 30.03.2020: https://aoc.media/opi nion/2020/03/29/imaginer-les-gestes-barrie res-contre-le-retour-a-la-production-davant crise/ (zuletzt aufgerufen am 14.11.2022). 3 Ebd. 4 Jacques Attali, Sept leçons de vie. Survivre aux crises, Paris 2010. 5 Thomas Piketty, Capital et idéologie, Paris 2019; dt. Ausgabe: Kapital und Ideologie, a. d. Französ. von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja S. Dressler, München 2020. Siehe vor allem den Vierten Teil „Neues Nachdenken über die Dimensionen des politischen Konflikts“, der eine egalitäre Gesellschaft skizziert (aber auch den Dritten Teil, der eine vergleichende Analyse von Gesellschaftsstrukturen im internationalen Kontext bietet). 6 Pablo Servigne, Raphaël Stevens, Comment tout peut s’effondrer, Paris 2015. 7 45 000 verkaufte Exemplare. 8 Servigne et al. 2015, 20. 9 Ebd., 15. 10 Siehe Pablo Servigne, Raphaël Stevens, Gauthier Chapelle, Une autre fin du monde est possible, Paris 2018, ihr zweites Buch, in dem sie den Begriff „Kollapsosophie“ prägen und das im Gegensatz zum ersten Buch eher philosophische Gedanken als eine wissenschaftliche Erklärung von Tatsachen enthält. Um uns auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten, die von einem unfreiwilligen Zurückschrauben unserer Lebensverhältnisse bestimmt sein wird, empfehlen die Autoren, zu antizipieren und nicht passiv darauf zu warten, bis „es passiert“, bis „es über uns hereinbricht“, zu einem Zeitpunkt, an dem es schon „zu spät“ sein wird. 11 Michaël Fœssel, Après la fin du monde. Critique de la raison apocalyptique, Paris 2012, Umschlagtext.

30

12 Ebd. 13 Ebd., siehe auch Michaël Fœssel, Nach dem Ende der Welt. Kritik der apokalyptischen Vernunft, a. d. Französ. von Brita Pohl, Wien/Berlin 2019, 23: „Die Hauptwirkung des Weltverlusts verortet sich jedoch anderswo als in der ,Erfahrungsarmut‘, die auf den Triumph von Technik und Kapital folgte. Angesichts des Risikos der Apokalypse ist die Versuchung groß, die Politik auf Maßnahmen zur Bewahrung des Lebens zu reduzieren.“ 14 Ebd. 15 Nachwort in: Fœssel 2012, 291. 16 Ebd., 305. 17 Denis Delbecq, „René Thom au point de non-retour“, in: Libération, Sciences, 31.10.2002: https://www.liberation.fr/sci ences/2002/10/31/rene-thom-au-point-denon-retour_420173 (zuletzt aufgerufen am 15.11.2022). 18 Siehe René Thom, Stabilité structurelle et morphogenèse (1972), Paris 1977. 19 Delbecq 2002. 20 Agnes Gayraud in einer Radiosendung von France Culture, Reihe „69, année philosophique“, Folge 2/4: „Adorno, mort d’un antimoderne“, 1.10. 2019: https://www.radio france.fr/franceculture/podcasts/les-cheminsde-la-philosophie/adorno-mort-d-un-antimoderne-5117463 (zuletzt aufgerufen am 3.1. 2023). „Adornos Denken dreht sich um die Frage der Kultur, die für ihn eine Ansammlung von Schlichtungsversuchen und Täuschungsmanövern ist. Das im Kern seiner Kulturkritik enthaltene Rätsel besteht in der Tatsache, dass man sich bewusst wird, dass Kultur eben dieses Sammelsurium von Täuschungen ist, und sich die Frage stellt: Warum fallen wir gerne darauf herein? Kultur ist die Art und Weise, wie eine Gesellschaft sich selbst darstellt, und die Gesamtheit der sedimentierten Formen, die diese Darstellungen ihrer selbst veranschaulichen, eine Art Kruste über der Welt, eine Schicht, die abzukratzen wäre, unter der aber nichts ist.“ 21 Ebd.: „[…] was sich eben zeigt, ist die Kultur: die Verrußung der Welt und der Dinge durch die Geschichte, durch Reden, Geschwätz und Repräsentationen […].“ 22 Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst („Begrebet Angest“, 1844), in: Gesammelte

Werke, Bd. 7, 11/12, Regensburg 1952, 161. 23 Pierre-Henri Castel, Effondrement: 2019 ou la fin des temps?, Radiosendung von France Culture: L’Invité(e) des Matins, Moderator: Guillaume Erner, 31.12.2018: https://www. radiofrance.fr/franceculture/podcasts/linvite-e-des-matins/effondrement-2019-ou-lafin-des-temps-2355938 (zuletzt aufgerufen am 3.1.2023). 24 Bruno Latour, Où atterrir? Comment s’orienter en politique, Paris 2017; deutsch: Das terrestrische Manifest, a. d. Französ. von Bernd Schwibs, Berlin 2018. 25 Castel 2019. 26 Frédéric Manzani, Le Mal qui vient, in: Philosophie Magazine, 31.8. 2018: https://www.philomag.com/les-livres/lessaidu-mois/le-mal-qui-vient-36181 (zuletzt aufgerufen am 16.11. 2022). 27 Pierre-Henri Castel, Le Mal qui vient. Essai hâtif sur la fin des temps, Paris 2018, 20. 28 Castel 2019. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Pierre-Henri Castel, Pollution, inondations, contaminations: comment vivre avec la peur?, Radiosendung von France Culture: L’Invité(e) des Matins, Moderator: Guillaume Erner, 28.10.2019: https://www.franceculture.fr/emis sions/linvite-des-matins/pollution-inondationscontaminations-comment-vivre-avec-la-peur (zuletzt aufgerufen am 3.1. 2023). 34 Ebd. 35 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt a. M. 1940, 4– 69, hier 23. 36 Sigmund Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915), in: Ders., Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2009, 133 – 161, hier Kap. I „Die Enttäuschung des Krieges“, 135. 37 Ebd., Kap. II „Unser Verhältnis zum Tode“, 158. 38 Ebd., 158. 39 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt a. M. 1940, 4– 69, hier 23. 40 Ebd., Kap. III, 16 (Hervorh. im Original). 41 Ebd., 21.

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42 Ebd. 43 Ebd., 22. 44 Freud, Das Unbehagen in der Kultur 2009, Kap. VI, 82. 45 Der Lebenstrieb äußert sich im Narzissmus und in der Objektliebe. 46 Insbesondere „Jenseits des Lustprinzips“ (1920). 47 Freud 2009, Kap. III, 55f. 48 Ebd., 63. 49 Ebd., Kap. VII, 91. 50 Ebd., Kap. III, 62: „Die Kulturentwicklung erscheint uns als ein eigenartiger Prozeß, der über die Menschheit abläuft, an dem uns manches wie vertraut anmutet.“ 51 Ebd., Kap. VI, 85: „Wir fügen hinzu, sie sei ein Prozeß im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle.“ 52 Hartmut Rosa, Quelles relations aux autres dans la société moderne?, Radiosendung von France Culture, 26.9.2018: https://www.franceculture.fr/emissions/la-grande-table-2eme-par tie/quelles-relations-aux-autres-dans-la-so ciete-moderne (zuletzt aufgerufen am 3.1.2023). 53 Ebd. 54 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019 (hier 6. Aufl., 2022), 472f. 55 Ebd., 473. 56 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, 37 (zit. nach Rosa 2022, ebd., 478; Hervorh. im Original). 57 Rosa 2022, 479. 58 Ebd., 482 (Hervorh. im Original). 59 Ebd., 483. 60 Ebd. 61 Siehe Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001: https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/ object/display/bsb00043538_00009.html? contextSort=sortKey%2Cdescending&con textRows=10&context=sinnlicher&zoom=1.00 (zuletzt aufgerufen am 17.11.2022). 62 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. von Maria Muhle, a. d. Französ.

Anmerkungen zu Seite 15 – 22

von Maria Muhle sowie Susanne Leeb und Jürgen Link, 2., durchgesehene Aufl., Berlin 2008, 23 (https://www.geisteswissenschaften. fuberlin.de/v/interart/media/dokumente/ober seminar/ranciere_aufteilung_des_sinnlichen. pdf). 63 Ebd., 69 (Hervorh. im Original). 64 Ebd., 28. 65 Ebd., 40f. 66 Ebd., 43. 67 Ebd., 43 (Hervorh. im Original). 68 Ebd., 61 (Korrektur der Übersetzung „Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann.“ durch die Autorin). 69 Definition im Larousse: https://www.la rousse.fr/dictionnaires/francais/rituel/69584 (zuletzt aufgerufen am 10.1. 2023). 70 Zum Beispiel: Jeden Morgen um 7 Uhr steht Herr X auf, betrachtet die Straße aus dem Fenster und weckt seine Frau erst, nachdem er seinen Kaffee getrunken hat. 71 Nietzsche schrieb dieses Werk während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 bis 1871, in dem er als freiwilliger Sanitäter diente, bis er an Diphtherie erkrankte. Danach zog er sich in die Schweizer Berge zurück, um über die griechische Tragödie zu sinnieren. 72 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Schriften, „Die Geburt des tragischen Gedankens“ (1870), in: Ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München, Berlin, New York 1980, 582f. 73 Stichwort „crisis“, in: Bailly, Wörterbuch Griechisch–Französisch (1894), Paris 1935, 1137, Sp. I–II. 74 Stichwort „crisis“, in: Gaffiot, Wörterbuch Lateinisch–Französisch, Paris 1934, 443. 75 Definitionen von „Katastrophe“ und „Strophe“, in: Duden, Bd. 7: Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim u. a. 2001. 76 Stichwort „exfundatus“, in: Gaffiot, S. 624, Sp. I. 77 Stichwort „prolabor“, in: Gaffiot, S. 1251, Sp. III. 78 Stichwort „apocalypse“, in: Bailly 1934, S. 226, Sp. II. 79 Die Bibel (Lutherbibel 2017), Offenbarung 10,6. 80 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin 1989 (12. Aufl. 2022). 81 Ebd., 315.

82 Nicolaus von Cues, in: ebd., 315 (zit. nach Karl Borinski, Die Wiedergeburtsidee in den neueren Zeiten, München 1919, 112. 83 Koselleck 1989, 361. 84 Ebd., 362. 85 Ebd., 315. 86 Ebd., 362. 87 Stichwort „progrès“, in: Dictionnaire étymologique CNRTL des CNRS (Centre national de la recherche scientifique): „1588 ,stufenweise Transformation zum Besseren‘ (Montaigne, Essais, II, 12, éd. P. Villey et V.-L. Saulnier, p. 497: le progrez de ses estudes)“: https://www.cnrtl.fr/etymologie/progrès (zuletzt aufgerufen am 21.11. 2022). Diese Definition von Fortschritt des CNRS basiert auf der Interpretation eines Essays von Montaigne, der im Zusammenhang mit Sextius hervorhebt, dass man durch den Erwerb von Wissen, insbesondere durch das Studium der Philosophie, den Tod vermeiden kann: „Krates seinerseits sagte, die Liebe werde wenn nicht durch die Zeit, so durch Hunger geheilt; für den aber, dem beides nicht gefiele, wiederum durch den Strick. Jener Sextius, von dem Seneca und Plutarch mit so großer Hochachtung sprechen, stürzte sich derart eifrig ins Studium der Philosophie, daß er alle andren Dinge aufgab; als er jedoch merkte, wie er hiermit zu langsam vorankam und in Verzug geriet, beschloß er, sich ins Meer zu stürzen: Da ihm das Wissen unerreichbar blieb, wählte er den Tod.“ (Montaigne, Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, 247). 88 Montaigne, ebd., 218: „Das Unterscheidungsmerkmal der Wahrheit unseres Glaubens aber müßte unsre Tugend sein, wie Tugend das himmlischste, freilich auch am schwersten zu erlangende Unterscheidungsmerkmal und würdigste Werk der Wahrheit überhaupt ist.“ 89 Gottfried Wilhelm Leibniz, De rerum originatione radicali (1697), in: Opera philosophica, Berlin 1840, 150 (zit. nach Koselleck 1989, 362). 90 Koselleck 1989, 362. 91 Ebd., 366. 92 Siehe Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig 1912, 341–386.

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93 Chris Harman, Une histoire populaire de l’humanité, Paris 2011, 336. 94 Die Bibel (Lutherbibel 2017), Offenbarung 10,6. 95 Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge (1794), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, 325–339, hier 333. 96 Ebd., 328. 97 Vgl. Fœssel 2019: Das Ende der Zeit versetzt die sinnlich wahrnehmbare Welt in einen Schwebezustand und bedeutet das Ende der sinnhaften Dinge. 98 Kant 1912, 330. 99 Ebd., 330f. 100 Ebd. 101 Ebd., 327. 102 Ebd. 103 Ebd., 332. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Koselleck 1989, 365. Hier bezieht er sich auf Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kant’s gesammelte Schriften, 1. Abt. Werke, Bd. 7, Berlin 1907, § 4 und 7, 88 (Hervorh. bei Koselleck). 107 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Stuttgart 1984, 56. 108 Ludwig Büchner, Der Fortschritt in Natur und Geschichte im Lichte der Darwin’schen Theorie, Stuttgart 1884, 30 (zit. nach Koselleck 1989, 368). 109 Ebd., 34 (zit. nach Koselleck 1989, 368). 110 Johann Gottfried Herder, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799), Berlin 1955, 68 (zit. nach Koselleck 1989, 323). 111 Alphonse de Lamartine, Geschichte der Restauration, Bd. 1 (1853), a. d. Französ. von Theodor Roth, Stuttgart 1851, 5. 112 Ebd., 5. 113 Vgl. Koselleck 1989, 322. 114 Friedrich Schlegel, Condorcets „Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“ (1795), in: Ders., Kritische Schriften, München 1964, 236 (zit. nach Koselleck 1989, 363). 115 Claude Lévi-Strauss, Rasse und Geschichte (Race et histoire, 1952), a. d. Französ. von Traugott König, Frankfurt a. M. 1972, 37. 116 Ebd., 38. 117 Ebd., 36 (Hervorh. im Original). 118 Vgl. François Hartog, Régimes d’historicité:

32

Présentisme et expériences du temps (2003), Paris 2012. 119 Kant 1912, 332. 120 Vgl. Raphaël Enthoven, L’Apocalypse en 1794, in: Philosophie magazine, Nr. 66, Februar 2013, 24 (Hervorh. im Original). 121 Ebd. 122 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1 (Erste Fassung 1781) (= Werkausgabe Bd. III, hg. von Wilhelm Weischedel), Frankfurt a. M. 1992, Kap. „Der transzendentalen Ästhetik“, Zweiter Abschnitt: „Von der Zeit“, § 4, 79. 123 Immanuel Kant, Kritische Briefe an Herrn Immanuel Kant, über seine Kritik der reinen Vernunft, Göttingen 1790, 202. 124 Kant 1992, 78. 125 Éric Chauvier, Contre Télérama, Paris 2011. 126 Vgl. Stéphane Audoin-Rouzeau, Il y a un imaginaire de fin de guerre qui, avec la crise du Covid -19, n’arrivera jamais, Radiosendung von France Culture, 15. 4.2020: https://www.franceculture.fr/emissions/linvitedes-matins/stephane-audoin-rouzeau-est-lin vite-des-matins (zuletzt aufgerufen am 10.1.2023). 127 Monique Trédé-Boulmer, Kairos. L’à-propos et l’occasion, Paris 1992, Umschlagtext. 128 Patrice Guillamaud, L’essence du kairos, in: Revue des Études Anciennes, Vol. 90, Nr. 3– 4, 1988, 359– 371, hier 359. 129 François Hartog, Chronos – L’Occident aux prises avec le Temps, Paris 2020, 22f. 130 Trédé-Boulmer 1992, 54. 131 Hartog 2020, 25. – Stichwort „καιρός“, in: Pierre Chantraine, Dictionnaire étymologique de la langue grecque, Paris 1968, S. 480, Sp. I– II. Chantraine weist auf die zweifelhafte Etymologie des Wortes hin und bezieht sich auf die Forschungen des deutschen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: „Wilamowitz hebt den Begriff des entscheidenden Augenblicks, der eine Grenze markiert, hervor und erwähnt in diesem Zusammenhang κείρω, ‚abschneiden‘. Hermès 15, 1880, p. 506 sqq.“ 132 Ebd., 26. 133 Catherine Malabou, Le temps. Notions Philosophiques, Paris 1996, 7f. 134 Ebd.

Anmerkungen zu Seite 22 – 28

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Architektur in Zeiten der Krise Architektur ist kultisch, sie ist Mal, Symbol, Zeichen, Expression. […] Architektur ist Konditionierung eines psychologischen Zustandes. Hans Hollein, Alles ist Architektur, 1967 

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Charles de Wailly, Projekt für die Umgestaltung des Panthéons in eine Pyramide, Paris, um 1797, Perspektive, Feder und Tinte, lavierte Tinte mit Spuren von Graphit auf Papier, auf Karton montiert

1Archaismus Sprung rückwärts in Raum und Zeit Zeit: ein Sprung in Raum und Zeit, um einen Kurswechsel zu vollziehen Psychologie: Rückkehr zum Archetypus unter Bezugnahme auf eine frühere Kultur Modus Operandi: Reduzierung der Materialien, Verwendung von Urformen

Der Modus Operandi der Ästhetik, wie sie in der theoretischen

der Zeit und der Sprache“; bei diesem Vorgang dient die

Rahmung dargelegt wurde, vollzieht sich im nun folgenden

Apokalypse mit dem Bild der Wüste oder des Gartens „der

Kapitel in einem Sprung in Raum und Zeit. Die Rückbesinnung

Entstehung einer neuen Zeitlichkeit, die das Archaische zum

auf eine Epoche, die weit genug zurückliegt, um Abstand zur

Hauptmodus der Erfassung und Identifikation mit der Zeit

Jetztzeit zu gewinnen und somit eine andere Weltbeziehung

erhebt“.3 Wie zeigt sich diese „Rückkehr“ in der Architektur,

aufzubauen, erfolgt durch einen beabsichtigten Kurswechsel.

und inwiefern trägt sie dazu bei, eine neue Zukunft zu denken?

Es ist eine idealisierte „Rückkehr zu den Wurzeln“, eine Projek-

Wie können eine neue Formensprache und eine neue Ästhetik

tion in eine frühere Epoche, deren Ästhetik wiederverwendet

erschaffen werden, wenn Architekt:innen aus der Vergangenheit

wird, um ein neues politisches, kulturelles und gesellschaftliches

schöpfen? Auf welche Vorbilder stützen sie sich dabei, und wie

Ideal zu konstruieren. In diesem Kapitel geht es um die Neu-

kann dadurch die gegenwärtige Zeit initialisiert werden?

erfindung einer Sprache, eines Vokabulars, eines kulturellen Codes, die ein neues Zeitalter einläuten, indem sie aus dem

Archetypus

Urprinzip der Welt – arché – schöpfen. Unter Bezugnahme

In ihrer raumzeitlichen Dynamik rekurriert die Ästhetik auf

auf die griechischen Philosophen definierte Hannah Arendt

den Archetypus (von griech. archétypon „zuerst geprägt;

die Arché als „einen Anfang, der selbst nicht anfängt, eine

Urbild“),4 der in der Philosophie ein ideales (allgemeines)

dauernde Quelle des Entstehens“.1 Aus dieser Urquelle des

Modell ist, von dem ausgehend die Form, der Stoff und

potenziellen Werdens schöpfen Architekt:innen und Künst-

der Zweck eines Themas, das gleichsam zu einer Serie

ler:innen ihre Schaffenskraft. Chris Younès nennt sie eine

gehört, konstituiert werden. Bei den Empirikern ist der

sprudelnde „source-ressource“, Quelle und Ressource in

Archetypus eine „Grundempfindung, die psychologisch als

einem. Philippe Potié geht auf den Zeitfaktor ein und beschreibt

Ausgangspunkt dient, um ein Bild zu konstruieren“.5

den „Archaismus“ treffend als „einen Ort der Initialisierung

Gemäß der Theorie der Analytischen Psychologie von C. G. Jung

2

Anmerkungen Seite 60

Sprung rückwärts in Raum und Zeit

35

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 36

sind „Archetypen die instinktiven Formen mentaler Reprä-

Inhalt transportieren. Der beste Träger ist zu diesem Zweck

sentation“, die der menschlichen Erfahrung a priori zugrunde

auch der einfachste:

6

liegen, indem sie die Denk- und Vorstellungsmuster konditio-

„In Mythen, Legenden und allen anderen elaborierten

nieren. Es sind also leere Vorformen, die das Instinkt- und

mythologischen Stoffen gelangt man an die Grundstrukturen

Geistesleben organisieren und mentale Bilder (Gedanken,

der menschlichen Psyche nur durch eine sie bedeckende

Fantasien, Träume usw.) nach ihren je eigenen Dynamiken

Schicht mit Kulturelementen. Märchen hingegen enthalten

strukturieren. C. G. Jung sah in den Mythen einen Zugangs-

weitaus weniger spezifisches, bewusstes Kulturmaterial

weg zu den kulturellen Archetypen. In einem Brief an Sigmund

und spiegeln deshalb die Grundstrukturen der Psyche

Freud (der als Antwort auf Jungs Theorie der unzähligen Arche-

klarer wider.“10

typen den Begriff der „Urphantasien“ prägte, die lediglich das

Die „Schicht mit Kulturelementen“ stört C. G. Jung bei der

intrauterine Leben, die „Urszene“ bzw. den elterlichen Koitus,

Entzifferung der Grundstrukturen der menschlichen Psyche,

die Verführung und die Kastration umfassen) pochte Jung auf

da sie diese überlagert und verkompliziert, während Märchen

7

seine Kulturtheorie: „Das Letzte der Neurose und der Psychose

sich aufgrund ihrer offenkundigen Schlichtheit wesentlich

werden wir ohne Mythologie und Kulturgeschichte nicht lösen.“

besser dafür eignen.

Von besonderem Interesse ist hier die Verbindung zwischen

Gilt das auch für die Architekturformen? Diese Analyse soll

Archetypus (als Repräsentationsform), Psychologie und Kultur-

uns als Schlüssel zum Verständnis der Werke dienen: Die

8

36

geschichte, geht es doch darum, die Entstehung eines Werkes

Archetypen, auf denen sich ein Werk stützen kann, sind –

mit archetypischen Zügen in einem Kontext des Umbruchs zu

samt all der darin enthaltenen Symbolik – umso leichter zu

verstehen, wenn Kultur, Gesellschaft und Umwelt in eine Krise

erkennen, je reduzierter und schlichter die Formensprache

geraten, die eine ontologische und im Grunde genommen

ist. Tatsächlich greifen Werke, die entstehen, wenn gesell-

auch eine psychologische ist. Welche Träume lassen sich durch

schaftliche Werte in eine Krise geraten, häufig auf Archetypen

den Rückgriff auf den Archetypus einer früheren Kultur herbei-

zurück, so jedenfalls meine Hypothese, um an eine ideali-

rufen? Welche Symbolik transportiert er?

sierte frühere Kultur anzuknüpfen. Auf diese Weise wird die

Kehren wir zu C. G. Jung zurück, um mehr darüber zu erfahren.

Gegenwart in der Schwebe gehalten und erfährt eine

Seiner Theorie zufolge neigt die menschliche Psyche überall

Erneuerung durch die Vergangenheit. Der Archetypus dient

dazu, auf ein und dieselbe a priori vorgegebene Repräsenta-

dann dazu, die symbolischen Kategorien zu reaktivieren, die

tionsform zurückzugreifen, und wird vom Universalthema

Kulturen Struktur verleihen, und sich Letztere (wieder) anzu-

strukturiert, das sie in sich birgt. Dieses Thema, das allen

eignen, indem die bis dahin gültigen Werte durch andere er-

menschlichen Kulturen und allen geschichtlichen Epochen,

setzt werden. Durch einen solchen raumzeitlichen Eingriff

trotz der Unterschiede in der symbolischen Darstellung,

lassen sich die ontologischen Werte einer Gesellschaft verän-

gemeinsam ist, generiert das kollektive Unbewusste. Die

dern. Der Archetypus dient als Werkzeug für eine Kultur-

Archetypen treten in Mythen und Träumen zutage und bilden

und Gesellschaftskritik, indem er aus Mythen, Symboliken

symbolische Kategorien, die Kulturen Struktur verleihen. In

und a priori vorgegebenen Repräsentationsformen schöpft.

einer offenkundigen Schlichtheit verbinden sie ein Symbol

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Archetypen starr sind,

mit einer Emotion.

im Gegenteil, wie C. G. Jung bemerkt: Die „archetypischen

„Die Archetypen werden [in den Märchen] in ihrer

Formen [sind] nicht bloss statische Muster […], sondern dyna-

einfachsten, schlichtesten und prägnantesten Form

mische Faktoren, die sich ebenso spontan wie die Instinkte

dargestellt. In dieser reinen Form liefern uns die arche-

in Impulsen äussern.“11

typischen Bilder die besten Schlüssel zum Verständnis der

Dieser Aspekt verleiht ihnen etwas Lebendiges, sodass sie

Prozesse, die in der Kollektivpsyche ablaufen.“

jederzeit reaktiviert und unbegrenzt wiederverwendet

9

An dem Archetypus-Begriff von C. G. Jung ist besonders

werden können. Die Besonderheit des Archetypus ist

interessant, dass das Wesentliche auf ein Bild oder eine

gerade seine Zeitlosigkeit: Er ist immer da und ist schon

Form reduziert wird, die einen symbolischen und kulturellen

immer dagewesen, er ist außerhalb der Zeit.

Archaismus

Anmerkungen Seite 60

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Welche Archetypen wurden wann in der Geschichte und

Gesellschaft aufzubauen. Hier transportiert die Ästhetik auf ko-

zu welchem Zweck bemüht?

difizierte Weise eine politische und gesellschaftliche Bot-

Die raumzeitlichen Rückbesinnungsvorgänge setzen Dynami-

schaft. Die Verwendung antiker Archetypen bietet die

ken in Gang, die der bis dahin vorherrschenden Ästhetik zu-

Möglichkeit, eine zuvor unmögliche, neue Form der Resonanz

widerlaufen. Davon zeugen die nach Platons Vorbild abge-

einzuführen, kraft derer die Bürger:innen in einer humanisti-

haltenen Gastmahle in der Renaissance, die durch Rückgriff

schen Gesellschaft nun „die Welt berühren“ können.12 Im

auf die Antike einen Kontrapunkt zur damaligen politischen

Mittelalter wurden die „vertikalen Resonanzachsen“ (nach

Lage setzten, die von endlosen Kriegen und Lagerkämpfen

Hartmut Rosa die Beziehungen zu Ideen und einem

geprägt war. Dante, der selbst im Exil lebte, beschreibt dies

Absoluten in den Bereichen Natur, Religion, Kunst und

anschaulich in seiner Reise durch die Hölle, an deren Rand er,

Geschichte) weitestgehend von der Religion vereinnahmt.

geführt von dem Dichter Vergil Sokrates, Platon, Euklid und viele andere griechische Philosophen antrifft. Das Streben nach Erneuerung unter Rückbesinnung auf eine frühere Epoche wie die Antike findet seinen Ausdruck in Botticellis Gemälde Die Geburt der Venus, in dem die Liebesgöttin mit einer magischen, gleichsam schwebenden Zartheit ein neues Zeitalter ankündigt. Botticellis Gemälde revolutionierte die mittelalterliche Malerei ebenso wie die Darstellung der Idealstadt, mit der die Perspektive in die Malerei eingeführt wurde. Der Rückgriff auf antike Quellen ermöglicht es, das Pendel auf null einzustellen.

Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus, um 1484/1485, Tempera auf Leinwand

Die Rolle der Ästhetik besteht nun darin, diesem neuen intellektuellen Impuls, der die philo-

In der Renaissance weiteten sie sich auf die Bereiche der

sophische und politische Reflexion der Bürger:innen anregt,

Kunst, Architektur und Philosophie aus. Die neue Greifbarkeit

Gestalt zu verleihen. Ein Impuls, der in der zerbrechlichen

der Welt, in der der Mensch nun denken und handeln konnte,

Frische der Venus ebenso wiederzufinden ist wie in der römisch

spiegelt sich in Bildern wider, die den „neuen Wind“ (den

inspirierten Rotunde, die in einem dynamischen Raum zu

Zephir buchstäblich verkörpert) zum Ausdruck bringen. Der

schweben scheint und gleichsam der Zeit enthoben das Zentrum

Lebenstrieb bricht sich Bahn und vertreibt die Finsternis

einer menschenleeren Stadt bildet, die im Werden begriffen ist

der überkommenen Epoche.

und erst noch gebaut werden muss. In einem solchen Moment

Seit der Renaissance ist der fiktionale Modus der Verankerung

der Aufhebung der Zeit lässt die Ästhetik die Archetypen

in einer früheren Epoche ein wiederkehrendes Phänomen in

einer weit zurückliegenden Epoche aufleben, um die Menschen

krisenbedingten Kippmomenten, auch wenn die Ästhetik und

zu berühren, indem sie ihnen (wie Zephir der Venus) eine be-

die symbolische Dimension je nach Epoche variieren können.

lebende Regung einhaucht, die sie dazu antreibt, eine bessere

Anmerkungen Seite 60

Sprung rückwärts in Raum und Zeit

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Luciano Laurana (vormals zugeschrieben), Idealstadt, um 1480/1490, Öl auf Holztafel

„Initialisierung“ der Sprache

der unter der Schreckensherrschaft seinen Höhepunkt erreichte, durch ein neues Kultur- und Symbolprogramm subli-

Nehmen wir als Beispiel die Französische Revolution. Sie

miert (in höhere Sphären erhoben) wurde. Zu diesem Zweck

markierte das „Ende einer Welt“, wie Kant es formulierte,

wurde im Jahr II der Republik (22. September 1793 bis

indem sie eine neue Regierungsform einführte, die auf den

21. September 1794) ein Wettbewerb ausgelobt, dessen

Werten der Aufklärung beruhte. Welche Ästhetik entstand in

ehrgeiziges Programm die Schaffung von Revolutionszeremo-

diesem radikalen Übergangsstadium vom Absolutismus zur

nien und -festen sowie neuer Institutionen und Denkmäler für

Volkssouveränität, als sogar die Zeitrechnung auf null gestellt

die Republik vorsah, um die alten zu ersetzen. Dieser Wende-

wurde (der neue Kalender begann mit der Gründung der

punkt war mit der Rückkehr archaischer Formen verbunden.

Republik im September 1792 mit dem Jahr I), und wie vermit-

Das zeigt unter anderem der Entwurf von Charles de Wailly,

telte sie die neuen Werte? Auf welche Epoche, welche Kultur,

der 1797 im Rahmen einer Ausschreibung für die Sicherung

welche Mythen und Riten stützte sie sich?

der Kuppel des Panthéon vorschlug, eine Pyramide in die

Nach der massiven Zerstörung königlicher und kirchlicher

ehemalige Kirche einzufügen, um sie dem Zeitgeschmack an-

Denkmäler ergab sich die zwingende Notwendigkeit, neue

zupassen und ihr die fehlende statische Stabilität zu verleihen.

Symbole für die aufstrebende Republik einzuführen. Aus

Ägyptische Formen waren auch in den Entwürfen für den

psychoanalytischer Sicht ließe sich die Hypothese aufstellen,

Wettbewerb des Jahres II stark vertreten. Zu den zahlreichen

dass der Destruktionstrieb (zusammen mit dem Todestrieb),

Vorhaben zählte auch ein republikanisches Denkmal als Ersatz für das Reiterstandbild Ludwig XIV. auf der Place des Victoires. Den Zuschlag bekam der Architekt Sobre für seinen von Elefanten gestützten Obelisken, der mit nach dem Vorbild ägyptischer Hieroglyphen flach eingravierten Allegorien verziert war und von einer Freiheitsstatue gekrönt wurde.13 Durch das Aufgreifen des ägyptischen Stils erhielt der Zeitfaktor eine wichtige Bedeutung, da man sich auf diese Weise in eine frühere Epoche zurückversetzen konnte. Dieses ästhetische Vorgehen ging mit einem politischen Programm einher: Jene Intellektuellen, die meinten, dass Frankreich dem ägyptischen Volk die Aufklärung nahebringen und es von den Mamelucken befreien sollte, betrachteten Ägypten nun als „Wiege der westlichen Zivilisation“. Diese Art von Verankerung an einem fernen Ort und in einer fernen Epoche funktioniert

Architekten Legrand und Molinos, Entwurf für einen Nationalzirkus auf der Place des Invalides in Paris, 1791

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Archaismus

wie ein Archetypus im Sinne C. G. Jungs und eröffnet die

Anmerkungen Seite 60

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Möglichkeit, eine Gesellschaft von Grund auf neu aufzubauen.

Republik und die Nationalfeiertage im Winter mit staatsbürger-

Bei einem so radikalen Umsturz, der nicht nur die Politik und

lichen und kämpferischen Liedern zu feiern“.15 Die alten Kultur-

die Staatsführung tangiert, sondern auch Ethik und Moral,

denkmäler sollten neuen Symbolen und Ritualen weichen, die

Religion und Ontologie, spielen Rituale eine wesentliche

zur Konsolidierung der jungen Republik beitragen konnten.

Rolle: Die emotionale Funktion der Kirche wurde von säkularen

Solche Umdeutungen von Ritualen, wozu auch gehörte, dass

Festen abgelöst, die auf die neuen Ideale von Freiheit,

Opernarien durch Revolutionslieder ersetzt wurden, scheinen

Gleichheit und Gerechtigkeit (sporadisch anstelle der Brüder-

bei der „Sublimierung“16 der Politik der Schreckensherrschaft

lichkeit) ausgerichtet waren. Zahlreiche Bauvorhaben sollten

eine wesentliche Rolle gespielt zu haben, dadurch dass der

die republikanischen Feste in Szene setzen, und so entwarfen

Destruktionstrieb mit dem Festritual (nach dionysischem

die Architekten riesige Arenen, um ihnen einen geeigneten

Muster) auf ein höheres Ziel umgelenkt wurde.

Rahmen zu bieten.

Hatte das Programm der neuen Bauvorhaben bis 1792 im

So sah eine Verordnung vom 5 floréal an II (24. April 1794)

Wesentlichen die Republik und die Freiheit zum Gegenstand

den Umbau der Oper der Königlichen Musikakademie (ein

(wie zahlreiche Vorschläge für die Nationalversammlung und

wichtiges Symbol der Kultur des Ancien Régime), die damals

die Place de la Bastille belegen), verlagerte sich mit dem Er-

am Boulevard Saint Martin untergebracht war, in eine über-

starken des linken Flügels innerhalb der Revolutionsbewegung

dachte Arena vor, „die dazu bestimmt ist, die Triumphe der

sein Schwerpunkt immer mehr in Richtung republikanische

14

Tugend und Gleichheit.17 In dieser Dynamik spielte der Politiker und Kupferstecher Sergent-Marceau, der als Abgeordneter im Nationalkonvent in der Fraktion der Montagnards saß und Mitglied des Überwachungsausschusses war,18 eine wichtige Rolle. Der glühende Revolutionär war in die Massaker vom September 1792 verwickelt.19 Seine Unterschrift steht unter einem Rundschreiben, in dem er diese Taten rechtfertigt (was man ihm später zum Vorwurf machte): „[…] Die Pariser Kommune beeilt sich, ihre Brüder in allen Departements darüber in Kenntnis zu setzen, dass ein Teil der in ihren Gefängnissen festgesetzten wilden Verschwörer vom Volk getötet worden ist. […] Zweifellos wird die ganze Nation […] sich schon bald dieses für das Wohl der Allgemeinheit so notwendigen Mittels bedienen.“20 Im Oktober 1792 wurde Sergent-Marceau zum stellvertretenden Leiter der „Kommission zur Erhaltung der künstlerischen Denkmäler“ nominiert, deren Aufgabe es war, die von den revolutionären Tumulten bedrohten Meisterwerke in Museen zu verwahren und die historischen Baudenkmäler vor Vandalismus zu schützen. In dieser Funktion schlug er am 7. Oktober 1793 vor,21 man möge „den Konvent bitten, dass ein Tempel für die Gleichheit und einer für die Freiheit errichtet werde und dass die Bildprogramme zugleich als ornamentaler Schmuck für diese beiden […] dienen. Ich weise darauf hin, dass es nur recht ist, wenn die Nation, die dafür zahlt, sich auch daran erfreuen kann. […] Das wird ein neues Schauspiel sein, für das Universum, Architekt Sobre, Entwurf eines Denkmals für die Place des Victoires in Paris mit Hieroglyphen und Elefanten, Wettbewerbsentwurf, 1793

Anmerkungen Seite 60

erschreckend für die Despoten, interessant für alle Völker.“22

„Initialisierung“ der Sprache

39

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 40

Leo von Klenze nach Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault, Temple à l’Égalité, 1793, Perspektive und Grundriss

J.-N.-L. Durand und J.-T. Thibault: Tempel für die Gleichheit, 1793

entspricht allerdings keiner klassischen Bauordnung und

Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault, die

Konventionen überall gleich, was dem gesamten Bau einen

zuvor im Atelier von Étienne-Louis Boullée gearbeitet hatten,

schablonenhaften, normierten Charakter verleiht. Der Unter-

gewannen den ersten Preis des Wettbewerbs für den Tempel

bau ist nicht weniger seltsam, bestehen doch die beiden

für die Gleichheit mit ihrem Entwurf für ein neoklassizistisches

Seitenteile nicht aus Stufen, wie bei griechisch-römischen

Bauwerk, das weit über die Funktion eines Tempels hinausging

Tempeln üblich, sondern aus dicken Mauern, die an den

und ein regelrechtes Heiligtum sein sollte, das der Republik

Enden ein Quadrat bilden, auf dem (rechts) eine Allegorie

geweiht war.23 Das Bauwerk hat die Form eines Peripteros,

der Gerechtigkeit und (links) eine Allegorie der Gleichheit

weist mehrere Kuriositäten auf: Bei den sechs Frontsäulen ist die Zwischenweite entgegen den stets nuancierten klassischen

eingraviert sind. Auch die Säulen sind ungewöhnlich, denn sie haben keinen runden, sondern einen quadratischen Querschnitt.24 All diese architektonischen Mittel spiegeln die neue „revolutionäre Ordnung“ des Tempels wider, der moderne, kubische und abstrakte Merkmale aufweist. Seine ägyptische Anmutung verdankt er einerseits den Kapitellen mit den Frauenköpfen, für die zweifellos der Tempel von Dendera in Ägypten Pate stand,25 und andererseits den Mauern zu beiden Seiten, die wie die Vorderpfoten der Sphinx von Gizeh nach vorn ragen. Auf dem Giebel sind Allegorien der Freiheit und der Gleichheit abgebildet, zwischen denen die Inschrift „Sie sind unzertrennlich“ prangt. Unter dem Fries ist zu lesen: „Die Tugenden sind die festesten Säulen der Gleichheit.“26 Diese Tugenden werden auf den Säulen genannt: Staatsbürgerliche Gesinnung, Mut, Eintracht, Arbeit, Sparsamkeit, Weisheit. Die Botschaft der Inschriften, die an das staatsbürgerliche Jean-Nicolas-Louis Durand, „Combinaisons horisontales, de Colonnes, de Pilastres, de Murs, de Portes et de Croisées“, 1802, Tafel 2, aus: Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique 40

Archaismus

und moralische Verhalten der Republikaner appellieren, wird

Anmerkungen Seite 60

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 41

symbolisch durch die Frauenköpfe (mit griechischem statt

des leçons d’architecture données à l’école polytechnique

ägyptischem Kopfschmuck) unterstrichen, die wie zahllose

(1802) eine erschöpfende Methode zur Durchführung eines

Über-Ichs von oben auf sie herabschauen.

Bauprojektes und zur Gebäudeanalyse. Das Neun-Felder-Haus,

Durand und Thibault waren die einzigen der am Wettbewerb

bei dem die Gebäudeteile in drei verschiedenen Kombinationen

für den Tempel für die Gleichheit teilnehmenden Architekten,

„zu einem Ganzen zusammengefügt“ werden,29 ist ein leuchten-

die über das eigentliche Denkmal hinaus ein Revolutionsmu-

des Beispiel dafür. In gewisser Weise kehrt dieses dreidimensio-

seum im Tempelinneren vorschlugen. Ein Bildprogramm, das

nale Spiel, das als zweite Tafel im zweiten Teil des Bandes mit

sich an die Zeichnungen von Jacques-Louis David anlehnt,

der Überschrift „Horizontale Kombinationen von Säulen,

veranschaulicht die wichtigsten Ereignisse der Revolution:

Stützen, Wänden, Türen und Fenstern“ abgebildet ist, zu den

den Sturm auf die Bastille, den Ballhausschwur, eine Szene

geometrischen Wurzeln der Architektur zurück und reiht sich

des Nationalkonvents sowie mehrere Kampfszenen. Eine

in die Tradition von Vitruvs De architectura ein.

raumgreifende Statue der Glückseligkeit der Allgemeinheit

Die Reduzierung der Architektur auf ein Vokabular der wirksa-

füllt die Mitte des Museums aus.27 Auf zwei Seitenaltären

men und nützlichen Typisierungen unterlag einer Dynamik,

steht geschrieben: „Natur, Vernunft, Menschlichkeit und

die derjenigen von Boullées fantastischen Entwürfen entgegen-

Gerechtigkeit sind das Fundament der Gesellschaftsordnung“.

gesetzt war, die von der Kraft des Erhabenen getragen eine

Mit dem großen Glasdach, durch das Tageslicht einfällt,

kosmische Stimmung verbreiten, wie die Entwürfe eines

taucht dieser Museumstempel der Moral die Gemälde und

Kenotaphs für Isaac Newton (1784) und der Königlichen Biblio-

Symbole der Republik in weißliches Licht.

thek (1786) belegen. Die postrevolutionäre stilistische Reduktion

Den klassischen Tempel auf eine streng geometrische, schab-

spiegelt nicht nur die Entstehung einer neuen bürgerlichen

lonenhafte Gestaltung zu reduzieren, kündigte einen Paradig-

(weniger wohlhabenden) Kundschaft wider, sondern auch den

menwechsel an: Nicht mehr das Schöne bestimmt die Ästhetik mit ihrem fragilen Gleichgewicht der Wahrnehmung, auch nicht das Erhabene eines Boullée, das starke Emotionen auslöst, sondern das Reduzierte und radikal Schlichte, das mit Rationalisierung und Kostenersparnis am Bau einhergeht.28 So hat dieser Revolutionstempel die Aufgabe, gleichsam den Destruktionstrieb zu sublimieren, indem er diesen in höchste Kunst umwandelt, die die Architekten mit einem moralischen und staatsbürgerlichen Erziehungsprogramm verbinden. Als a priori vorgegebene Repräsentationsform dient der Archetypus des Tempels nach ägyptischem Vorbild als Ausgangspunkt für die psychologische Konstruktion eines kollektiven Imaginären. Im Unterschied zur Architektur von Claude-Nicolas Ledoux, bei der alles – von der Bauform bis zum Ornament – eine „sprechende“ Symbolik transportiert, und im Gegensatz zur Architektur von Étienne-Louis Boullée, die das Register des Erhabenen bedient, reduziert Jean-Nicolas-Louis Durand, der radikal mit seinem Lehrer bricht, die Architektur auf Typisierun-

Jacques-Louis David, Der Schwur der Horatier, 1784, Öl auf Leinwand

gen, auf ein fast stummes Vokabular, wobei schon von außen, ohne jedes Geheimnis, sich das Innere eines Bauwerks erahnen

Durchbruch des Fortschrittsgedankens, der mit der einsetzenden

lässt. Das Tempelprojekt wurde nie realisiert.

Industrialisierung rasch konkrete Formen annahm. Die Form- und

Drei Jahre nach dem Staatsstreich von Napoleon Bonaparte

Kostenreduktion erfolgte durch eine drastische Simplifizierung, die

entwickelte Durand im ersten Band seiner Vorlesungen Précis

die Architektur auf ein Grundvokabular des Bauens reduzierte.

Anmerkungen Seite 60

Durand und Thibault: Tempel für die Gleichheit

41

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 42

Damit war die „lustvolle Spannung“, verglichen mit der erha-

Sturz Robespierres) bis 1799 währte. Der nach dieser Regierung

benen Architektur eines Boullée, am Nullpunkt angelangt.

benannte Directoire-Stil, der nüchterner in seiner Ornamentik

Ein solcher Zustand der Spannungslosigkeit wird gemäß

als der Louis-XVI-Stil und schlichter als der Empire-Stil war,

Freuds Lustprinzip angestrebt, um die Spannungen abzubauen,

spiegelt den Umbruch wider, der durch die Französische Re-

die der Kampf gegen den Destruktionstrieb erzeugt. Könnte

volution herbeigeführt wurde. In dieser Phase der „Initialisie-

man also in dieser Ästhetik mit ihrer zur Schau gestellten

rung“30 der Zeit machte sich in der Kunst wie in der Architektur

Schlichtheit und Banalität des Vokabulars eine Art willentliche

eine Vorliebe für Elementarformen und die Antike als Erkun-

Entspannung nach den revolutionären Spannungen sehen?

dungsfeld geltend. Im ausgehenden 18. Jahrhundert sei, so

Als wäre eine „emotionale Entspannung“ nötig, um sich auf

Robert Rosenblum,31 eine Rückbesinnung auf den simplifizierten

die Erwartung einer Zukunft zu konzentrieren, die sich am

antiken (dorischen) Stil und, nachdem Napoleon Kaiser gewor-

Beginn der Industrialisierung auf den technischen Fortschritt

den war, eine imperiale Theatralik zu beobachten, die in der

ausrichtet? Dieses Zurücksetzen auf null des stilistischen Aus-

Architektur an eine aufgeladene Ästhetik anknüpfte. Der Arc de

drucks und der Architektursprache zeugt von einer radikalen

Triomphe du Carrousel, den Napoleon nach dem Italienfeldzug

Umgestaltung der Gesellschaft.

und der Gründung der Cisalpinischen Republik (1806) in Paris errichten ließ, weist bereits einen neobarocken Stil auf.

Directoire-Stil und Ägypten: Reduktion und Rückkehr zu den Wurzeln

Zur Zeit der Revolution versuchte die Kunst die Zeit aufzuheben und durch einen Sprung rückwärts einen Kurswechsel vorzunehmen: Durch den Verweis auf eine andere Zeitlichkeit

Ein Blick auf Kunst und Mobiliar soll nun helfen, diese Fragen

und Räumlichkeit markierte sie einen Bruch mit der Geschichte.

auf einer anderen Ebene zu beleuchten, wobei ich mich auf

Die turbulente Komposition des berühmten Historiengemäldes

die Zeit des Direktoriums beschränke, das von 1795 (dem

Die Sabinerinnen (1799), das Jacques-Louis David im Gefängnis entwarf und nach seiner Freilassung unter dem Direktorium malte, spiegelt die Turbulenzen seiner Epoche wider – im Gegensatz zu seinem 1784, also noch vor der Revolution, entstandenen Bild Der Schwur der Horatier, das durch eine rationale, strenge, stoische Komposition die Zeit anzuhalten suchte und die republikanischen Werte des antiken Rom durch die Motivwahl des Schwurs hochhielt, der für die Anhänger der Aufklärung ein vorausweisendes Symbol der Hoffnung darstellte.32 Diderot unterstrich die Sogwirkung des Gemäldes durch die Stille, Einsamkeit, Abkapselung und Versunkenheit der Figuren, die sich verhalten, als gäbe es keine Zuschauer. Dadurch wird die dramatische Intensität der Malerei bis

Jacques-Louis David, Die Sabinerinnen, 1799, Öl auf Leinwand

42

Archaismus

Anmerkungen Seite 60

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 43

zum Äußersten gesteigert – Michael Fried fasst dies unter

sich die Kleider von Frauen, dem Ideal der Antike entsprechend,

den Begriff der „Anti-Theatralik“. (Diese Form des antithea-

in schlichte weiße Tuniken. Davon zeugt ein anderes Bild von

tralischen Rationalismus findet sich auch bei Durand wieder.)

Jacques-Louis David, Madame Recamier, wo die Porträtierte

Als die Malerei nach der Revolution wieder theatralisch

auf einer Liege aus Holz im etruskischen Stil einen Archetypus

wurde, brauchte sie neue Kunstgriffe, insbesondere durch

evoziert, der aus einer anderen Raum-Zeit stammt.

das Spiel mit der Perspektive, um den Eindruck zu erwecken,

Juliette Récamier war mit einem wohlhabenden Bankier

es gäbe niemanden außer den Figuren im Bild, mit denen die

verheiratet und führte einen Salon in ihrem Pariser Stadtpalais,

Betrachter:innen sich identifizieren sollten.

das sie vom Architekten Louis-Martin Berthault nach antikem

In seinem Bild Die Sabinerinnen unterbreitet David eine Per-

Vorbild ausstatten ließ. Das völlig unübliche Interieur machte

spektive mit zwei Fluchtpunkten und lässt dadurch die weibli-

Furore und prägte die Mode, denn es suggeriert die bewusste

che Hauptfigur Hersilia, die mit einer weit ausholenden,

Lossagung von einer Kultur, die als inadäquat für die neue

dramatischen Geste die Römer von den Sabinern trennt, wie

revolutionäre Gesellschaft angesehen wurde. Für die neue

vergrößert heraustreten, wobei ihre nicht mittige Anordnung

Ästhetik bediente man sich in der griechisch-römischen,

die Dynamik der Darstellung noch verstärkt und dem Wunsch

etruskischen und ägyptischen Kunst, um ausgehend vom

nach Frieden Nachdruck verleiht. Zu dieser Zeit entwickelte

Archetypus der „Wiege der Kulturen“ eine Gesellschaft

David seinen Stil weiter und holte sich, in Abkehr von Raffael,

wiederauferstehen zu lassen, die auf anderen Paradigmen

33

Anregungen bei Perugino und anderen Präraffaeliten, um

beruhte. Diese leere Vorform des Archetypus, die das

eine Rückkehr zum „reinen Griechentum“ für sich zu bean-

Instinkt- und Geistesleben organisiert und die mentalen

spruchen: „Ich habe mich an etwas ganz Neues herange-

Bilder strukturiert, fungiert hier als Generator des Imaginären,

wagt, […] ich will die Kunst wieder an die Prinzipien heranführen,

der dieser neu zu erschaffenden Welt, die auch einer neuen

die bei den Griechen befolgt wurden“;36 er schritt voran,

Sprache bedarf, Gestalt zu verleihen vermag.

34

35

indem er in der Zeit zurückging (wobei er nach Meinung seiner Schüler und Mitarbeiter, die sich selbst als „Primitive“ bezeichneten, zu wenig archaisch war 37). David traf eine kühne und sehr umstrittene Entscheidung: die männlichen Helden in einer archaischen Weise nackt darzustellen;38 Hersilia dagegen ist mit einer weißen Tunika bekleidet und zu ihren Füßen kniet eine Frau mit halb entblößten Brüsten. Das Bild, das der Maler in einem gesonderten Raum des Louvre ausstellte und für das er Eintritt kassierte, zog eine Vielzahl von Besuchern an. Außer bei den großen Themen der Geschichte und der Mythologie fand diese Ästhetik auch im Alltag ihren Niederschlag. So verwandelten Jacques-Louis David, Madame Récamier, 1800, Öl auf Leinwand Anmerkungen Seite 60 und 61

Directoire-Stil und Ägypten

43

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 44

nach kunstvollen Details begierigen Kundschaft hatte eine Schließung zahlreicher Kunsttischlereien zur Folge. Die durch den Übergang zur republikanischen Regierungsform ausgelöste Krise der kunsthandwerklichen Produktion sowie Sparzwänge führten zu einer Simplifizierung des Stils. Zusammenfassend ist zu beobachten, dass die neue Ästhetik mit Bedacht das „Ende einer Welt“ durch eine Jean-Léon Gérôme, Bonaparte vor der Sphinx, 1867/1868, Öl auf Leinwand

selbstbewusste Schlichtheit des Dekors zum Ausdruck

Einer solchen „Initialisierung“ der historischen Zeit war auch

bringt, indem sie sich aller Symbolik der Epoche des Absolu-

das französische Mobiliar unterworfen. Nach dem Ägyptenfeld-

tismus entledigt. Die neuartigen politischen Werte werden

zug (1798–1801) wurden Stühle im ägyptischen oder griechisch-

durch eine Wiederbelebung der Mythen und Rituale der

römischen Stil mit ausgefallenen Verzierungen und einer

Antike vermittelt, sowohl der Alltags- wie der Festrituale:

speziellen Farbgebung in den Grundfarben entworfen, die von

Man saß nicht mehr gerade, wie es die Etikette verlangt

einem weit zurückliegenden Archaismus geprägt waren.

hatte, sondern streckte sich auf einer Récamiere im etruski-

Der Blick zurück lässt die Zeit stillstehen. Dies legt zumindest

schen Stil aus; in den eigens errichteten Volksarenen feierte

Stuhl im ägyptischen Directoire-Stil, 1799/1800, Mahagoni

44

Archaismus

ein berühmter Satz nahe,

man die Republik und stimmte Kampflieder an (ähnlich wie

der Napoleon zugeschrie-

in den Arenen der Römer, nur eben ohne Gladiatoren). Ob

ben wird: „Von der Spitze

Bauwerke, Mobiliar, Festbauten oder Bekleidung, sie alle

dieser Pyramiden schauen

boten einen geeigneten Rahmen für die Inszenierung der

vierzig Jahrhunderte auf

jungen Republik, in der das Leben für alle deutlich sichtbar

39

euch herab.“ Aus dieser

eine andere Form annahm, die mit den neuen politischen

fernen Perspektive lässt sich

und gesellschaftlichen Gegebenheiten konform ging. Die

die Zeit „initialisieren“ bzw.

Ästhetik diente diesen Zielen und schuf die zum Aufbau der

zurück auf null setzen, um

neuen Welt notwendigen Orte und Symbole. Auch hier ging

eine neue Ästhetik entste-

es darum, eine bestimmte Form der Resonanz zu begründen,

hen zu lassen, die der

in die sich jeder Bürger, jede Bürgerin als aktives Mitglied der

„neuen Welt“ entspricht.

Gesellschaft einbezogen fühlte. Hartmut Rosas Konzept

Die neue Sachlichkeit hatte

aufgreifend: Die horizontalen Resonanzachsen (von Gesell-

nicht nur eine symbolische

schaft und Politik) wurden durch die vertikalen Resonanzach-

und politische Bedeutung,

sen verstärkt (Kunst, die Feierlichkeiten oder die Tempel für

sondern auch wirtschaftliche

die Freiheit und Glückseligkeit der Allgemeinheit, deren

Gründe, denn die Ereignisse

Funktion die der Religion verdrängte). Diese Orte, Rituale

rund um die Revolution und

und Objekte waren aber nicht nur eine symbolische Verkör-

das plötzliche Verschwinden

perung der Revolution, sie verliehen ihr auch eine physische

einer wohlhabenden und

und architektonische Gestalt, die wiederum einen adäquaten

Anmerkungen Seite 61

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Handlungsrahmen bot. Denn Partizipation und Handeln sind

des „neuen Menschen“, der sich dieser unmenschlichen

Schlüsselfaktoren für das Entstehen des Gefühls der Reso-

Bedingungen entledigt hat, zeichnete sich durch eine tiefe

nanz, insbesondere wenn es gilt, den Todes- und Destruktions-

(oft romantische) Naturverbundenheit aus, durch Bewegungs-

trieb zu kanalisieren, indem er durch Kunst, neue Feierlichkeiten

freiheit und eine Kleiderreform (ohne Korsett), durch gesunde

und Tempel „sublimiert“ wird, den Grundsteinen für die

Ernährung (damals kamen die ersten Theorien des Vegetarismus

Konstruktion des Imaginären einer anderen Gesellschaft.

westlicher Prägung auf), Sport und Ausdruckstanz (als Reaktion

Zurück zur Natur: Lebensreformbewegung und „Initialisierung“ von Körper, Seele und Geist auf dem Monte Verità Die Frage der gesellschaftlichen Resonanz stellte sich in anderer Form erneut gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses, der die Lebensbedingungen immer unmenschlicher machte: Die Luftverschmutzung und die dadurch verursachten Krankheiten, die Ausbeutung der Arbeiter:innen und die ungebremste Spekulation führten zu einer schweren sozialen Krise. Die exponentielle Dynamik löste eine harsche Kapitalismus-Kritik aus und zahlreiche Gegenmodelle

Johann Adam Meisenbach, Tanzkreis des Choreografen Rudolf von Laban auf dem Monte Verità, um 1914

entstanden. Die einen sahen in der damals von Karl Marx entwickelten kommunistischen Wirt-

auf das den Körper einer gewaltsamen Dressur unterziehende

schaftstheorie, die anderen in der Anarchie einen möglichen

Ballett) sowie die Emanzipation der Frauen. Die Lebensrefor-

Ausweg, und wieder andere suchten Zuflucht in neuen religiösen

mer lehnten die Großstädte ab und träumten von einer

oder mystischen Strömungen. Verschiedenste Reformbewe-

Rückkehr zu einem idealisierten Naturzustand. Sie strebten

gungen entstanden in dem Bestreben, die Lebensbedingungen

eine grundlegende Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen,

zu verbessern und die Welt grundlegend zu verändern. Nicht

Konventionen und Lebensweisen an, um zur „wahren Natur

nur der Landbesitz und die Ausbeutung der Arbeitskraft

des Menschen“ zurückzufinden.

wurden grundsätzlich infrage gestellt, sondern auch die in-

Als Madame Récamier die Haltung und die Kleidung der

dustrielle Produktion als solche. Das Handwerk und vor allem

Antike übernahm, ging es ihr im Wesentlichen darum,

das Kunsthandwerk wurden als Gegenmodell gepriesen, und

durch einen Stilwechsel symbolisch eine neue Ära einzuläuten.

man suchte auch ein anderes Verhältnis zur Natur zu etablieren,

Ende des 19. Jahrhunderts waren die Beweggründe weitaus

deren Ausbeutung einige Theoretiker mit der des Menschen

ernster und die Maßnahmen, die in dieser Krisenzeit ergrif-

verglichen40 (siehe Kap. „Zurück zur Ländlichkeit“). Das Ideal

fen wurden, viel radikaler – alternative Wirtschaftsmodelle,

Anmerkungen Seite 61

Zurück zur Natur

45

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 46

„Lebensreform“ und ganzheitliche Ästhetik –, wobei sie sich

„Tänzer ist immer jener neue Mensch, der seine Bewußtheit

auf vorindustrielle oder noch weiter zurückliegende Epochen

nicht einseitig aus den Brutalitäten des Denkens, des Gefühls

bezogen, um den ersehnten Neubeginn herbeizuführen.

oder des Wollens schöpft. Es ist jener Mensch, der klaren

Wie die folgenden Beispiele zeigen, kann der Sprung in

Verstand, tiefes Empfinden und starkes Wollen zu einem

Raum und Zeit auch durch eine „Rückkehr zu einem ursprüng-

harmonisch ausgeglichenen und in den Wechselbeziehungen

lichen Naturzustand“ erfolgen, indem das Idealmodell nicht

seiner Teile dennoch beweglichen Ganzen bewußt zu

mehr in einer anderen Kulturepoche gesucht wird (wie bei

verweben trachtet.“42

den bisherigen Beispielen), sondern in einem Urzustand der

Hier klingen die Worte Nietzsches nach, der im Tanz die

Menschheit, der aller „Kultur“ oder „Zivilisation“ vorausgeht.

Möglichkeit einer Vereinigung des Menschen mit der Natur

Diese stark idealisierte, wunschtraumhafte Rückkehr zu einem

sah, wie sie im Bild des tanzenden Philosophen zum Aus-

„Urzustand“ erfolgt über eine Wiederbelebung der Naturele-

druck kommt. Der Ausdruckstanz machte sich sein ekstatisches

mente, Rohmaterialien und Urformen, die heute angesichts

dionysisches Prinzip zu eigen und setzte es in die Tat um, ins-

der Umweltkrise wieder an Aktualität gewinnt. Aber wie

besondere auf dem Monte Verità, wo bei Festritualen der

kommt dies in der Ästhetik zum Ausdruck? Mit welchen Mitteln

Sonnenzyklus im Rhythmus der Trommeln mit Tänzen, Texten

und Ritualen lässt sich diese Wiederbelebung umsetzen

und Chorgesängen gefeiert wurde. 1917, auf dem „Con-

(oder inszenieren) und wie ist der Körper bei diesem „Zurück

gresso Anazionale“, dauerten diese Rituale sieben Tage lang

zur Natur“ involviert?

an, um die Verzweiflung über den anhaltenden Krieg in

Die Wichtigkeit der Rolle des Körpers wird am Beispiel der

einem zutiefst archetypischen Akt zu ertränken, aber auch in

lebensreformerischen Kolonie Monte Verità veranschaulicht,

der leisen Hoffnung auf die mögliche Wiedergeburt eines

einer utopischen Kommune, die sich am Beginn des 20. Jahr-

neuen Menschen, der mehr im Einklang mit der Umwelt und

hunderts von den „verheerenden Auswirkungen“ (wie es da-

mit sich selbst lebt.

mals hieß) der Industriegesellschaft abwandte und auf die

Dieses Streben nach einem Leben im Einklang mit der Natur,

Naturelemente zurückbesann, um die „innere Natur“ des

einschließlich der Natur des Körpers und der inneren Natur

Menschen wiederzuentdecken. Ihr Streben nach Erneuerung

des Menschen, setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit der von

drückte sich insbesondere in einer drastischen Beschränkung

England inspirierten Lebensreformbewegung43 als Reaktion

auf das Allerwesentlichste aus, angefangen beim Körper.

auf die von der Industriegesellschaft verursachten Leiden ein;

Die Feldarbeit verrichteten die Mitglieder der Kolonie nackt,

dass es sich auch in der Zwischenkriegszeit und nach dem

um die Haut der Sonne auszusetzen; sie stellten alles selbst

Zweiten Weltkrieg fortsetzte, zeigt das Beispiel von Bernard

her, sowohl die (rein vegetarische) Nahrung als auch die

Rudofsky, einem leidenschaftlichen „Kultur“- Kritiker, dessen

Kleidung. Die Holzhütten waren sehr rudimentär, aber mit

Streben nach Wiederverwurzelung in einer anderen Raum-

großen Terrassen ausgestattet, um die Bewohner:innen zum

Zeit-Dimension wiederzufinden ist.

Leben im Freien zu animieren, wo sich auch die Duschen und Wannen befanden. Rudolf von Laban, der 1913 auf dem Monte Verità seine „Schule für Kunst“ gründete (eine Art Tanzschule mit Sommerkursen, die er bis 1918 leitete),

46

Bernard Rudofsky: Architektur ohne Architekten, 1964

unterrichtete die uneingeschränkte Bewegung des Körpers,

Bernard Rudofsky formulierte als Reaktion auf die Strömung

der sich frei von allen gesellschaftlichen Konventionen von

der Moderne eine harsche Gesellschaftskritik und fasste den

seinen Gefühlen leiten lässt.41 Er ereiferte sich für einen

Begriff der Architektur in seiner ganzen kulturellen Dimension.

natürlicheren Ausdruck im Tanz, den er in der Osmose von

Heute gilt er als einer der Wegbereiter der ökologischen

Mensch und Natur suchte und der sich in Ritualen und

Architektur, zu seinen Lebzeiten jedoch machte er prinzipielle

Tänzen mit kultischer und archaischer Dimension zeigt.

Einwände gegen den Funktionalismus geltend und steckte

Der Tanz, so Laban, involviere Körper, Geist und Seele glei-

dafür viel Kritik ein. Auf welche Vorbilder stützte er sich bei

chermaßen, die sich in ihm harmonisch verbinden sollten:

der Formulierung einer neuen Ästhetik, die „natürlicher“ und

Archaismus

Anmerkungen Seite 61

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„näher am Menschen“ sein sollte? Auf welche Raum-Zeit bezog er sich? Welche Botschaft, welche Symbolik wollte er vermitteln? Doch zunächst sollen die Ereignisse beleuchtet werden, die der Auslöser für diese zutiefst ontologische Kulturkrise waren. Der 1905 in Mähren in eine jüdische Familie geborene Visionär österreichischer Herkunft verließ Europa in den 1930er Jahren, als sich der Antisemitismus massiv verschärft hatte, und ließ sich in Brasilien nieder, wo er zwei Villen baute. 1941 ging er in die USA. Er kuratierte eine Ausstellung im MoMA und erhielt 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Als die Nazis immer mehr an Macht gewannen, und auch während des Zweiten Welt-

Bernard Rudofsky, „Bewegliche Architektur in Vietnam“, aus: Architektur ohne Architekten

kriegs, bemühte er sich, eine Form kultureller Resonanz jenseits des Atlantiks zu etablieren. Von der westlichen Kultur zutiefst

„Psychoanalyse des Kleides“, des Körpers und der

enttäuscht, die zu ihrer eigenen Vernichtung geführt hatte, wandte

Lebensweisen

er sich den Archetypen aus fernen Kulturen zu, die in der inter-

In seinem Text „Now I lay me down to eat. Notes and Foot-

nationalen Architektur kaum Beachtung fanden.

notes on the Lost Art of Living“ mit Texten, den das italienische

Rudofsky stellte sich dem Funktionalismus entgegen und

Architekturmagazin Domus in den 1930er Jahren veröffent-

richtete sein Augenmerk auf weltweite lokale Bauweisen, die

lichte, erläutert Rudofsky seine Kritik der Moderne: „Keine

ohne Architekten entstehen – ein Thema, das ihn spätestens

neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut not.“45 Der Band

seit seiner Dissertation über die primitive Betonbauweise auf

zeigt historische und kulturelle Alternativen zu den bestehenden

den südlichen Kykladen, die er 1931 der TU Wien vorgelegt

Einrichtungen des Alltagslebens (zum Essen, Schlafen, Sitzen

hatte, faszinierte. In ähnlicher Weise hinterfragte er Beklei-

oder für die Körperwäsche) auf, will aber „weder gefährliche

dungsmoden, Alltagsrituale und Nutzungen, um sie besser

Irrlehren verbreiten, noch unser angeborenes Recht aushöhlen,

an die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen anpassen zu

die schlechtesten Entscheidungen zu treffen. Vielmehr veran-

können. Seine Gesellschaftskritik bezog sich zunächst auf das

schaulicht er anhand beliebiger Beispiele, dass das Leben

Alltagsleben und insbesondere den Platz des Körpers darin.

weniger langweilig sein kann als das, was wir daraus machen“,

Rudofsky ging es darum, die Absurdität bestimmter Nutzungen,

so Rudofskys sarkastische Erklärung im Vorwort.46

Bekleidungen und Konventionen aufzuzeigen, die einem

Rudofsky strebte eine radikale Kulturreform – angefangen mit

Schönheitsideal gehorchten, das in seinen Augen wert- und

der Befreiung des Körpers von den Modezwängen – wie auch

sinnlos geworden war. Er entwarf alternative Bekleidung, die

deren Umsetzung in die Praxis an. So folgte er 1944 mit sei-

er für natürlicher hielt, und stützte sich dabei auf Archetypen

ner Frau Berta einer Einladung des Black Montain College,

anderer Kulturen. Die orientalische Lebenskunst regte ihn

einer experimentellen freien Universität, die 1933 in North

besonders an, doch zu seinem Bedauern sei sie nicht importiert

Carolina gegründet worden war. Dort leitete das Paar Work-

worden, obwohl unsere gesamte Kultur, angefangen beim

shops zur Herstellung von Sandalen als ergonomische Alter-

Alphabet über die Wissenschaft, Religion und Philosophie bis

native zu Schuhen, die aus ästhetischen Gründen die natürliche

hin zur Ethik und Ästhetik, von ausländischen Vorbildern

Form der Füße unwiederbringlich entstellen.

übernommen wurde:

Rudofsky war der festen Überzeugung, dass die moderne

„Seltsamerweise hatten diese Importe keinen oder wenig

Gesellschaft – und insbesondere die Bereiche Bekleidung und

Einfluss auf unsere Denkweise; statt nach weltlicher Weisheit

Architektur – sich von den Bedürfnissen und der Sinnlichkeit

zu streben, sehen wir in der Mechanisierung die Antwort

des Menschen entfernt habe. Er stellte mehrere Male im

auf unsere Gebete und lassen uns von Industrie und Handel

MoMA in New York aus, nachdem er den Wettbewerb „Or-

unsere Wünsche und Geschmäcker diktieren.“44

ganic Design“ gewonnen hatte. In einer großen Ausstellung

Anmerkungen Seite 61

Bernard Rudofsky: Architektur ohne Architekten

47

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Stammbaum“ zeigten, die er als „einheimisch, anonym, spontan, bodenständig oder ländlich“ bezeichnet haben wollte.49 Bauweisen aus der ganzen Welt also, die allesamt bestechend sind durch die Klugheit, mit der die im jeweiligen natürlichen Umfeld verfügbaren Materialien genutzt werden. Diese anonymen Bauten, die seit undenklichen Zeiten in rauen Umgebungen fortbestehen oder nach denselben Prinzipien immer wieder neu errichtet werden – Prinzipien, die einen intelligenten Umgang mit dem Klima und dem spezifischen Kontext aufweisen –, stellte Rudofsky zeitgenössischen Bauten herausfordernd gegenüber: „Von der Architektur, bevor sie zur Kunst des Fachmannes wurde, gibt es viel zu lernen. Die unverbildeten Baumeister Bernard Rudofsky, symmetrischer Schuh und Fuß, Gipsabgüsse, die die Deformation der Füße durch das Tragen spitzer Schuhe demonstrieren, aus: Are Clothes Modern? 47

in Raum und Zeit […] zeigen ein bewundernswertes Talent, Bauten in die natürliche Umgebung einzugliedern. Anstatt die Natur zu ,erobern‘, wie wir es tun, begrüßen sie die Wechselhaftigkeit des Klimas und die Herausforderung der

mit dem Titel Are Clothes Modern?, die 1944/1945 gezeigt

Topographie.“50

wurde, postulierte er, dass unsere Kleidung nutzlos und auf-

Das Publikum wurde ohne jede textliche Erläuterung mit

grund ihrer hochgradigen Künstlichkeit sogar schädlich

diesen Fotos konfrontiert, die die indigenen Bautraditionen

für den menschlichen Körper sei. Das Magazin New Yorker

in den Mittelpunkt stellten. Ethik und Fortschritt wurden somit

nannte seine Vorgehensweise „Psychoanalyse des Kleides“,

grundlegend infrage gestellt. Anders als in unserer Kultur

da Rudofsky mit derselben Akribie die Bekleidungsbräuche

würden namenlose Baumeister höchst selten das Allgemein-

und die je damit verbundene Körperbeziehung unter die

wohl dem Streben nach Profit und Fortschritt unterordnen,

Lupe nehmen würde. Rudofsky stellte das Korsett und den

stellte Rudofsky im Begleitkatalog kritisch fest und zitierte

westlichen Schuh als Folterinstrumente dar: „Der ultimative

den Kulturhistoriker Johan Huizinga: „Die Annahme, daß

Triumph der heutigen Bekleidung ist der symmetrische

jede Neuentdeckung oder Verfeinerung bestehender Um-

Schuh, zu unserem größten Bedauern sind wir unfähig, einen

stände Aussicht auf höhere Werte oder größeres Glück ver-

symmetrischen Fuß auszubilden. Mit unendlicher Geduld ver-

spricht, ist ein äußerst naiver Gedanke … Es ist nicht im

suchen wir unser Leben lang unsere Füße umzuformen, um

geringsten widersinnig zu sagen, daß eine Kultur an wirklichem

einem Ideal zu genügen, das die Schuhhersteller als ,Leisten‘

und greifbarem Fortschritt scheitern kann.“51 Rudofsky machte

[Ideal] vorgegeben haben. Wäre der menschliche Fuß so

keinen Hehl aus seiner Enttäuschung darüber, dass die funk-

geformt wie der Schuh, der heute für ihn entworfen wird,

tionalistische Architektur im großen Maßstab verbreitet würde

befände sich der große Zeh in der Mitte.“ Seine Aussagen

und die Bürger so träge seien, dass sie am Ende „Chaos und

veranschaulichte Rudofsky mit Fußabgüssen, die zeigen, dass

Hässlichkeit“ hinnähmen:

48

der Fuß tatsächlich die durch den Schuh vorgegebene Form

„Nachdem wir von den Pflichten und Privilegien der Leute,

annimmt und damit pathologisch entstellt wird.

die in älteren Zivilisationen leben, nichts wissen und da wir Chaos und Häßlichkeit als unser vorherbestimmtes Schicksal

48

Architektur ohne Architekten, 1964/1965

betrachten, neutralisieren wir alle etwaigen Zweifel über

Im Anschluss an die Ausstellungen Behind the Picture Window

die Eingriffe der Architektur in unser Leben mit lahmen

und The Kimono Mind präsentierte Rudofsky 1964/1965 in der

Beteuerungen, die an niemand bestimmten gerichtet sind.“52

Ausstellung Architecture Without Architects 200 großforma-

Die Ausstellungen von Rudofsky stießen auf heftige Kritik,

tige Schwarz-Weiß-Fotografien, die eine „Architektur ohne

stellten sie doch die vorherrschende Lehre des Funktionalismus,

Archaismus

Anmerkungen Seite 61

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 49

galt ihm als Vorbild weiser Schlichtheit und als Gegenmodell zur westlichen Kultur. „Philosophie und Know-how der anonymen Baumeister“ galten ihm als die „größte unangezapfte Quelle architektonischer Anregung für den industriellen Menschen […]. Die Lehre, die daraus gewonnen werden kann, reicht weit über ökonomische und ästhetische Erwägungen hinaus, da sie das viel härtere und immer schwieriger werdende Problem berührt: wie man lebt und leben läßt, wie man Frieden hält mit seinen Nachbarn, im engeren wie auch im weiteren Sinn.“53 Der Kurswechsel, den Rudofsky durch seinen Rekurs auf eine andere Raum-Zeit vollzog, führte zur Entstehung einer neuen Ästhetik, die auf einer radikalen Reduktion gründete. Das Plakat der Bernardo-Sandale veranschaulicht dies: Hinter dem Frauenfuß, der die neue Ledersandale trägt, steht ein steinerner Fuß, der eine römische Sandale trägt und zweifellos zu einer antiken Statue gehörte. Die Botschaft ist klar: Die Menschen der Antike zeichneten sich durch einen klugen Umgang mit der Physiognomie aus, der im Lauf der Jahrhunderte verloren ging. Was „funktionell“ ist, kann nur der Körper selbst vorgeben und keine Schönheitslehre, die den Körper zu formen versucht, indem sie ihn entstellt. Und was für den Bernard Rudofsky, Bernardo, Plakat, 1944

Körper gilt, gilt auch für die Architektur. Die ontologische Krise, ausgelöst durch die Krise der Moderne

die damals noch hoch im Kurs war, radikal infrage. Zur Erin-

und die Erschütterung des Fortschrittsgedankens durch die

nerung: 1932, dreißig Jahre zuvor, hatten Philip Johnson und

Ausbreitung des Faschismus, schlug sich bei Rudofsky in

Henry-Russell Hitchcock in eben diesen Hallen des MoMA

einer „Ästhetik des Natürlichen und Ursprünglichen“ nieder,

mit ihrer Ausstellung Modern Architecture. International

die als Kulturideal einer neuen Zukunft dargelegt wurde.

Exhibition die Ideen der Moderne bzw den „International

In seinem Schaffen drückte sich das Streben nach Resonanz

Style“ weithin bekannt gemacht.

in einem Willen zur holistischen Umgestaltung der Welt aus,

Rudofsky nahm damals schon eine Gegenposition ein und

mit dem Ziel, ihren Bewohner:innen einen würdigeren Lebens-

knüpfte mit seiner Kulturkritik an die Anliegen der Lebensre-

raum zu bieten und so die Krise einer Kultur zu überwinden,

formbewegung an. Angesichts des Zusammenbruchs der

die nichts anderes vermocht hatte, als sich selbst zu zerstören.

deutschen Kultur infolge des Aufstiegs des Nationalsozialismus

Seit Beginn der Umweltbewegung als Antwort auf die ökolo-

verschärfte sich seine Kritik jedoch deutlich. Die Vorstellung

gische Krise gelten seine Ausstellungen als die gelungensten

vom geradlinigen, stetigen Fortschritt, auf der die Moderne

in der Geschichte des New Yorker Museums – und Rudofsky

beruhte, verlor sich in der schrecklichen menschlichen Katastro-

erhielt Lehraufträge an der Yale University in den USA, an

phe des Zweiten Weltkriegs. Von einer tiefen Verzweiflung

der Universität Waseda in Tokio und an der Königlichen

gepackt, holte Rudofsky sich Anregungen bei den Archetypen

Akademie in Kopenhagen. Angesichts der gegenwärtigen

ferner Kulturen, damit eine neue Kultur entstehen konnte,

Situation, in der wir uns dringend auf weltweiter Ebene mit

die auf einer natürlicheren Lebensweise gründete und deren

lokalen und ökologisch angepassten Bauweisen beschäftigen

Bauweisen besser an die Nutzungen angepasst waren und im

müssen, um den CO2-Fußabdruck zu verringern, dient sein

Einklang mit der Natur standen. Die Architektur ohne Architekten

Werk als Inspirationsquelle für eine andere Art des Bauens.

Anmerkungen Seite 61

Bernard Rudofsky: Architektur ohne Architekten

49

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 50

Hans Hollein, Überbauung Wien, 1960, Fotomontage

Hans Hollein: Absolute Architektur, 1962

durch die Alliierten im Jahr 1955, als Österreich als „Opfer

Auch das Schaffen von Hans Hollein zeichnet sich durch eine

nismus war vorherrschend, der Antisemitismus ungebrochen,

Rückkehr zum Archaischen aus, allerdings in einer anderen

die Vergangenheit tabu. Bleiernes Schweigen machte sich

Form. Hollein, der wie Rudofsky Österreicher war, aber eine

breit und sollte das intellektuelle und künstlerische Klima

Generation jünger, berief sich auf eine Raum-Zeit, die weit

noch lange beeinträchtigen. Hinzu kam die eisige Stimmung

entfernt genug war, um sich aus einer als erdrückend, statisch

des Kalten Krieges, die durch die Nähe Wiens zum Eisernen

und festgefahren empfundenen Gegenwart zu lösen, indem

Vorhang, der den kommunistischen Block von der kapitalisti-

er sich auf die Archetypen des kollektiven Unbewussten

schen Welt trennte, noch verschärft wurde; alles wirkte erstarrt,

stützte. Sein Ansatz resultierte aus einer tiefen Krise der Iden-

reglos und stumm.

des Nationalsozialismus“ anerkannt wurde. Damit war stillschweigend Kontinuität gewahrt. Die Angst vor dem Kommu-

tität, Kultur und Politik und lässt sich mit dem damaligen politischen Kontext erklären.

Ontologische Krise

Nach der Befreiung Österreichs im Frühjahr 1945 und während

Junge Architekten wie Hans Hollein (1934 –2014), die nach

der zehn Jahre Besatzung durch die Siegermächte wurde die

dem Krieg in Österreich studiert hatten, wussten nur allzu

Stadt Wien, die bis 1955 in vier Besatzungszonen geteilt

gut, dass Frank Lloyd Wrights puritanischer Leitspruch „Truth

war, zu einem zentralen Schauplatz des Kalten Krieges, wo

against the World“56 (Wahrheit gegen die Welt), der noch sehr optimistisch war, was die Moral des Menschen betrifft,

Großbritannien, Frankreich, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion ihre jeweilige Ideologie durchsetzen wollten.

seine Bedeutung vollends verloren hatte. Wie Hannah Arendt

Doch die dringlichste Aufgabe, der sich die Alliierten

1951 schrieb, war „die ganze Struktur der westlichen Kultur

(jeweils im eigenen Sektor) stellen mussten, bestand darin,

mit all den dazugehörigen Überzeugungen, Traditionen,

den Menschen Nahrung und ein Dach über dem Kopf zu

Urteilsmaßstäben über unseren Köpfen niedergestürzt“.57

geben. Daher starteten sie umfassende Bauprogramme für

Dieses Verdikt lässt sich insbesondere auf den modernen

günstigen Wohnraum und es entstanden zunächst Reihen-

Geschichtsbegriff übertragen, dem der Gedanke zugrunde

häuser aus Fertigteilen,55 dann zeilenförmige Wohnriegel und

liegt, den Fortschritt als einen kontinuierlichen und nicht en-

standardisierte, immer höhere Mehrgeschosswohnbauten.

denden Prozess zu begreifen. Tatsächlich schien die Zeit

Die Architektur des Wiederaufbaus war Ausdruck eines

damals stillzustehen. In ihrem Werk Zwischen Vergangenheit

rationalen Funktionalismus, der, aus der Not geboren, den

und Zukunft führte Arendt den Begriff der „Lücke“ ein, die

Grundbedürfnissen entsprach.

zwischen Vergangenheit und Zukunft besteht, einer „sonderba-

Anders als in Deutschland endete die politische Umerziehung

ren Zwischenperiode […], die sich manchmal in die historische

54

50

Archaismus

Anmerkungen Seite 61

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 51

Zeit hineinschiebt, wenn […], den Handelnden und Zeugen,

Elendsviertel, d. h. der wild wuchernden Architektur, zu

den Lebenden selber, ein Intervall in der Zeit zu Bewußtsein

verbessern und als Ausgangsbasis zu nehmen, aber nicht

kommt, welches ganz von Dingen bestimmt ist, die nicht

die funktionelle Architektur.

mehr sind, und von solchen, die noch nicht sind.“ Dieser

Die funktionelle Architektur hat sich als Irrweg erwiesen“.60

58

Schwebezustand ohne Vergangenheit und Zukunft war eine

Auch Hundertwasser plädierte dafür, dass der Bewohner mit

Zeit der Ungewissheit, des Zweifels und der Verunsicherung,

den „vier Wände[n], in denen er wohnt“, interagieren können

die insbesondere die jüngere Generation in eine ontologische

muss. In diesem Postulat klingt der Resonanzgedanke von

Krise stürzte.

Hartmut Rosa an, der die Bedeutung der Möglichkeit zu han-

In der von Orientierungslosigkeit geprägten Nachkriegszeit

deln unterstreicht, um mit der Vorstellung aufzuräumen, dass

ist eine Rückbesinnung auf Archetypen und eine Suche nach

allein materielle, symbolische und psychische Ressourcen uns

Resonanz zu beobachten. Was die jungen Wiener Architekten

zu unserem Glück verhelfen. Durch seinen Resonanzbegriff

und Künstler damals jedoch verband, war ihr Rebellionswille –

erweitert sich unser Handlungsvermögen, nicht nur, um uns

Rebellion gegen ein verknöchertes Establishment, gegen einen

von der Welt „berühren“61 zu lassen (passive Haltung), sondern

festgefahrenen Kunstmarkt und gegen den Funktionalismus

auch, um sie zu verändern.

der Nachkriegsarchitektur, der ihnen genauso starr und un-

Hans Hollein und Walter Pichler fanden Hundertwassers

menschlich erschien. Ein kleiner Kreis von Künstler:innen und

Ansatz zu „weich“ und bezogen eine gegensätzliche Position.

Architekt:innen opponierte gegen die „Alleinherrschaft des

Sie waren der Ansicht, dass nur eine Rückkehr zu den

trivialen Funktionalismus“. Unter ihnen kämpften Markus

Archetypen zu einer echten Erneuerung führen könne. Von

Prachensky und Arnulf Rainer dafür, „die Architektur ernst zu

einer inneren Krise erfasst, versuchten sie die Gegenwart

nehmen“ und „die verspielte Leichtigkeit der Bauhausära

„aufzuheben“, indem sie an frühere Epochen anknüpften,

endlich zu überwinden. Die Architektur als Kunst hat mit

die so weit zurücklagen, dass man Abstand gewinnen und

Funktion nichts zu tun“, verkündeten sie in ihrem Manifest

sich in ein Anderswo projizieren konnte. So tauchten sie

Architektur mit Händen (1958) und deuteten auf die Notwen-

in das Archaische und in ursprüngliche Rituale ein und eröff-

digkeit hin, dass jeder Mensch bauen können sollte:

neten gleichzeitig eine Perspektive auf die Zukunft, eine

„Funktionelle Architektur ist angewandte Kunst. Jeder

andere Zukunft.

Mensch soll seine eigene Architektur machen, soll seine Hände dazu benützen, seine Architektur zu formen, zu

Die Initiationsreise von Hans Hollein

kleben, zu graben, zu kratzen, zu klammern, zu schüren, zu

Nachdem Hans Hollein sein Studium an der Wiener Akademie

scherren und zu beißen aus Federn, Bäumen, Gras, Papier,

der bildenden Künste (1953 –1956) bei Clemens Holzmeister

Erde und Heu.“

beendet hatte, beschloss er das Weite zu suchen und ging in

59

In seinem berühmten Verschimmelungsmanifest gegen den

die USA, einem Land mit besonderer Anziehungskraft, um

Rationalismus in der Architektur (1958) rebellierte Friedensreich

weiter zu studieren und den Grad eines „Master of Archi-

Hundertwasser gegen die funktionellen Wohnungen, die den

tecture“ zu erwerben. Er durchquerte das riesige Land mit

tatsächlichen Bedürfnissen der Bewohner:innen nicht gerecht

dem Auto, von New York bis zur Westküste, um das Gefühl

würden:

der Unermesslichkeit, das Weiträumigkeit bereitet, am eige-

„Es muß endlich aufhören, daß Menschen ihr Quartier

nen Leib zu spüren – eine radikale und zweifellos befreiende

beziehen wie die Hendeln und die Kaninchen ihren Stall. […]

Erfahrung nach dem Trübsinn der Heimat, den er wohlweis-

Die materielle Unbewohnbarkeit der Elendsviertel ist der

lich hinter sich gelassen hatte. Die unendlichen Weiten be-

moralischen Unbewohnbarkeit der funktionellen, nützlichen

rührten ihn zutiefst, genauso wie die Eingriffe der Menschen,

Architektur vorzuziehen. In den sogenannten Elendsvierteln

die der Landschaft mit ihrer Architektur und Technik ihren

kann nur der Körper des Menschen zugrundegehen, doch

Stempel aufgedrückt hatten. Aus demselben Grund begeisterte

in der angeblich für den Menschen geplanten Architektur

sich Hollein für die Reisen ins All und die menschlichen Spuren,

geht seine Seele zugrunde. Daher ist das Prinzip der

die in der Unendlichkeit des Kosmos hinterlassen werden, da

Anmerkungen Seite 61

Hans Hollein: Absolute Architektur

51

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 52

dies unser Weltbild radikal veränderte. Aber ebenso fasziniert

„Architektur ist eine geistige Ordnung, verwirklicht durch

war er von den uralten Siedlungen der Pueblo-Indianer, die

Bauen.

er auf seiner Initiationsreise entdeckte. In seinen Schriften

[…] Es manifestiert sich nicht zuerst im Aufstellen schützender

spricht er von der Verbindung zwischen „oben und unten“,

Dächer, sondern in der Errichtung sakraler Gebilde, in der

zwischen Wohn- und Kultstätten: ein archaischer Topos, der

Markierung von Brennpunkten menschlicher Aktivitäten –

seinen Architekturbegriff entscheidend prägte. Die Stärke

Beginn der Stadt.

seiner frühen Arbeiten beruht darauf, dass er die kultische

Alles Bauen ist kultisch.

Dimension der archaischen Rituale auf Alltagssituationen

Architektur – Ausdruck des Menschen selbst – Fleisch und

der heutigen Welt anwandte und damit an Gefühle appel-

Geist zugleich.

lierte, die ins Unbewusste verdrängt wurden, und an kultu-

Architektur ist elementar, sinnlich, primitiv, brutal,

relle Archetypen im Sinne C. G. Jungs.

schrecklich, gewaltig, herrschend. Sie ist aber auch Verkörperung subtilster Emotionen,

Überwindung des Todestriebs durch Archetypus,

sensitive Aufzeichnung feinster Erregungen, Materialisation

Ritual und Kult

des Spirituellen.“63

Zurück in Wien schloss sich Hollein dem Kreis der Architek-

Der Text erschien 1963 im Katalog zur Ausstellung Hollein/

t:innen und Künstler:innen der Wiener Avantgarde an. Seine

Pichler: Architektur in der Wiener Galerie nächst St. Stephan,

Rebellion betraf jedoch etwas anderes, denn seine Suche

wo Hans Hollein und Walter Pichler „Stadt-Skulpturen“ in

nach dem ursprünglichen Wesen der Dinge war weit entfernt

Zeichnungen und Fotomontagen als Manifest gegen den

von der Idee eines harmonischen Konsenses, der auf der

Funktionalismus präsentierten: Riesige monolithische Fels-

Emanzipation der Bürger durch einen Partizipationsprozess

blöcke, die den Felsformationen aus dem Neolithikum ähneln,

beruht. „Architektur ist nicht Befriedigung der Bedürfnisse

thronen über den Dächern von Städten wie Manhattan, Wien

der Mittelmäßigen, ist nicht Umgebung für kleinliches Glück

oder Salzburg. Diese unheimlichen Felsmassen führen jedwe-

der Massen“, schrieb er scharfzüngig in seinem Manifest Ab-

den Funktionalismus ad absurdum und fügen die Architektur

solute Architektur (1962). Ihm ging es um die grundlegende

in die elementarsten Gegebenheiten ein:

62

archaische Dimension von Architektur:

„Die Gestalt eines Bauwerkes entwickelt sich nicht aus den materiellen Bedingungen eines Zwecks. Ein Bauwerk soll

Hans Hollein, Werk und Verhalten, Leben und Tod, Podium mit Totenbahre und Mumie, Biennale von Venedig, 1972

52

Archaismus

Anmerkungen Seite 61

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 53

nicht seine Benutzungsart zeigen, ist nicht Expression von

Im Ausstellungskatalog von 1963 legte Hollein seine Inspira-

Struktur und Konstruktion, ist nicht Umhüllung oder Zuflucht.

tionsquellen anhand von Fotografien offen, die durch ihre

Ein Bauwerk ist es selbst.

Anordnung auf einer Doppelseite in einen Dialog treten (wie

Architektur ist zwecklos.

in Le Corbusiers Ausblick auf eine Architektur, 1922): linker-

Was wir bauen, wird seine Verwendung finden.

hand eine Weltraumrakete, riesige Maschinen, ein Eisenerz-

Form folgt nicht Funktion. […].“64

waggon, ein Rennwagen, eine Kriegsruine und ein NS-Flakturm

Die „Schockbilder“ veranschaulichen Holleins semantischen

in Wien, rechterhand Aztekenpyramiden, eine Raketenab-

und kommunikativen Architektur-Ansatz, der aus dem Archai-

schussrampe, ein Atompilz, ein Kriegsschiff und das Eingangs-

schen schöpft. Ihre Botschaft ist ambivalent: Hollein kritisierte

tor eines Tempels in Zentralamerika. In der Mitte ist zu lesen:

nicht nur die Unveränderlichkeit der Städte, sondern auch die

„Architektur, Ausdruck der Kraft und des Geistes einer

seinerzeit überaus modische urbane Mega-Struktur, indem er

Epoche, einer Idee. Die Architektur ist aus den Händen der

sie als unheimliches Gebilde erscheinen ließ. Damit reaktivierte

Architekten genommen worden.

er eine Dimension der Architektur, die in der Ära des Funktio-

Architekten haben nichts mit den großen Bauwerken

nalismus marginalisiert (ja tabuisiert) wurde: die emotionalen

unserer Zeit zu tun. Die Architektur von Heute gibt es noch

und psychologischen Aspekte, die sich mit Mythen und Ri-

nicht.“67

tualen, Sakralem und Kultischem verbinden. „Architektur ist

Dieses „Psychogramm“ lässt die drei Grundpfeiler des Vor-

kultisch, sie ist Mal, Symbol, Zeichen, Expression. […] Archi-

stellungsgebäudes von Hollein klar erkennbar werden: die

tektur ist Konditionierung eines psychologischen Zustandes“,

Kriegsruinen der Gegenwart, die Archetypen uralter Kulturen

schrieb er in seinem Manifest Alles ist Architektur (1967)

der Vergangenheit und die Technologie der Zukunft. Dies sind

65

und brachte damit eine seit Semper, Wagner und Freud ver-

die Werkzeuge, die er zu nutzen gedenkt, um eine „Architektur

drängte fundamentale Stärke der Architektur ans Licht. Der

von heute“ zu entwickeln, die „es noch nicht [gibt]“. Mit dieser

technische Fortschritt, so Hollein, würde eine ungeahnte

Aussage holt er zum Rundumschlag gegen die Architektur

Freiheit mit sich bringen, da er die Architektur von ihren

seiner Zeit aus. Das gibt ihm die Möglichkeit, die Architektur

primären Funktionen befreit; daher könne sie sich in Zukunft

in all ihren Dimensionen – die emotionalen, symbolischen

„intensiv mit Raumqualitäten und der Befriedigung psycholo-

und rituellen miteingeschlossen – radikal neu zu denken.

gischer und physiologischer Bedürfnisse beschäftigen“.66

Die Wahl von Archetypus und Urempfinden als Stützen und

Hans Hollein, Werk und Verhalten, Leben und Tod, Rennwagen und kultisches Badezimmer Anmerkungen Seite 61

Hans Hollein: Absolute Architektur

53

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 54

Ausgangspunkt eines neuen Vorstellungsgebäudes ist, so

Stuhl auf einem Floß. In seiner eisigen Nacktheit lässt er an

meine These, Holleins Versuch, alles nach 1945 in Österreich

Hygiene und Sauberkeit denken, vor allem aber wird hier der

Verdrängte psychologisch zu überwinden. Da diese Verdrän-

Gegenstand „Stuhl“ und seine Beziehung zum Körper grund-

gung der psychologischen Konstruktion einer neuen Gesell-

legend hinterfragt. Er lädt zum Hinsetzen ein, um die Toten-

schaftsvision im Weg steht, beruft sich Hollein auf den

bahre zu betrachten und über Leben und Tod nachzudenken.

originären Archetypus, um einen radikalen Kurswechsel her-

Das Nebeneinander dieser beiden Kultobjekte appelliert an

beizuführen und durch Konfrontation mit dem Tod die Mög-

das Archaische in uns und konfrontiert uns mit grundsätzlichen

lichkeit wiederzueröffnen, eine neue Welt aufzubauen, in der

Fragen: unser In-der-Welt-sein, das Vergehen der Zeit, die

Emotionen endlich einen Platz haben.

Vergänglichkeit des Lebens, Tod. Die arché des Übergangs-

Seinen psychologischen Ansatz veranschaulicht eine Installa-

ritus, der in dem eisigen Stuhl vergegenständlicht ist, lässt

tion, die 1972 auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde.

uns in der Zeit zurückgehen und tief in unser kollektives

Die Arbeit mit dem Titel Werk und Verhalten, Leben und Tod

Unbewusstes eintauchen.

besteht aus einem Podium auf Stelzen über dem Wasser, auf

Im Innern des österreichischen Pavillons präsentierte Hollein

dem eine Totenbahre steht, die geschützt wird von einem

ein seltsam anmutendes Badezimmer. Alle Gegenstände

schlichten Zeltdach mit vier Bäumchen als Stützen. Auf der

(Duschwanne, Becken, Stuhl, Liege, Tisch, Stele) waren per-

Totenbahre liegt eine in dickes Tuch gewickelte Mumie. In

fekt geometrisch angeordnet und rundum weiß gefliest, wie

der Nähe des Podiums thront ein rundum gefliester weißer

der Stuhl im Außenbereich. Auf diese Weise verwandelten

Hans Hollein, Doppelseite aus: Hollein/Pichler: Architektur, Ausst.-Kat. Galerie nächst St. Stephan, Wien, 1963

54

Archaismus

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 55

sich diese Alltagsgegenstände in Kultobjekte. Durch die

Dieses Beispiel aus dem Frühwerk von Hans Hollein zeigt

Duschwanne ging ein roter Riss, so rot wie das Blut der Opfer-

uns, wie die Architektur Krisen aufgreifen kann, um sie besser

gaben, das die Steine der aztekischen Pyramiden befleckt,

zu überwinden, indem sie sich Archetypen zunutze macht.

wie Hollein in einem Interview erklärte. Der Boden des Beckens

Im Unterschied zu Markus Prachensky, Arnulf Rainer oder

gegenüber war ebenfalls rot. Durch einen schmalen Durch-

Friedensreich Hundertwasser, die eine Resonanz schaffen

gang von 60 cm Breite gelangte man vom „Badezimmer“

wollten, indem sie die Bewohner:innen in den Bauprozess

über einen Holzsteg direkt zur Totenbahre. Neben dem Pavillon

einbezogen, konfrontierte Hollein sie mit den tief vergrabenen

stand ein seltsam anmutendes Objekt, das ein bisschen wie

Schichten ihrer Psyche.

ein Rennwagen aussah, aber die Form einer Totenbahre

Durch gleichzeitige Bezugnahme auf Archetypen, Kriegsruinen

hatte; außerdem war es mit Fahrradrädern ausgestattet und

und futuristische Hochtechnologie stellte Hollein zwei diame-

auf dem Fahrgestell lag eine Duschwanne, ein Alltagsgegen-

tral entgegengesetzte Raum-Zeiten her, die es ihm erlaubten,

stand. Das Fahrzeug, bei dem nichts zusammenzupassen

sich von der Gegenwart zu befreien. In ästhetischer Hinsicht

scheint, verfremdet die Beziehung zwischen Form und Nutzen,

bestand sein Modus Operandi darin, Urzustände der

indem etwas per definitionem Statisches dynamisiert wird.

Menschheit (Leben und Tod – Eros und Thanatos) wiederauf-

Auf diese Weise stellt die Installation unsere Beziehung zur

leben zu lassen, um sich die Welt, die in seiner Wahrneh-

Welt grundlegend infrage.

mung jegliche emotionale Dimension abwehrte, neu anzuverwandeln. Diese Welt, die Hollein mitten im Kalten

Übergangsritus

Krieg wieder lebendig machen wollte, drehte sich nicht um

In Holleins Kunstinstallation wird der ewig wiederkehrende

funktionale und quantitative Probleme des Wiederaufbaus,

Todestrieb, den Freud theoretisiert hat, auf eine Weise subli-

sondern um grundlegende Fragen der Wahrnehmung, ange-

miert, die die verdrängten Kriegserinnerungen (Hollein hatte

fangen mit der des Körpers. Sein Schaffen beinhaltet eine

in seiner Kindheit den Krieg erlebt) zu überwinden ermöglicht,

psychische Dimension, in der Emotionen und Triebe eine

nämlich durch die Auseinandersetzung mit dem Tod als Quelle

zentrale Rolle spielen – getreu der freudianischen Tradition,

des Traumas in einer anderen Raum-Zeit.

die die Wiener Kunst- und Architekturszene stark prägte. Die

Die kultische Installation ist trotz der Anwesenheit der Toten-

außerordentliche Kraft seiner Werke liegt in der Thematisierung

bahre allerdings kaum als Bestattungsritual zu deuten, sondern

des Ringens zwischen Eros und Thanatos, was eine Spannung

eher als Übergangsritus, der eine Veränderung des Status in-

erzeugt, die Freud zufolge „die ganze Buntheit der Lebens-

nerhalb einer Gesellschaft markiert (wie er in alten Kulturen

erscheinungen“ ergibt 69 – und uns ermöglicht, uns wieder

zu finden ist), denn hier geht es nicht darum, sich von einem

lebendig zu fühlen.

Verstorbenen zu verabschieden, sondern darum, die Zeit aufzuheben, um das Gewohnte neu zu ordnen, wofür der Übergangsritus unter anderem steht. Aus psychologischer Sicht besteht ein Übergangsritus, Madlen Sell zufolge, aus drei Etappen: Krise (das Individuum wird von

Junya Ishigami: House & Restaurant, Yamaguchi, 2019

seinem früheren Leben abgeschnitten, was einem symbolischen

Der Archaismus hält auch heute wieder Einzug in die Archi-

Tod gleichkommt),68 Ende (das Individuum wird abgesondert

tektur, wenngleich in anderer Form und aus anderen Gründen

– in einen Schwebezustand versetzt –, was einer symbolischen

als in den 1960er Jahren. Die durch den Klimawandel und die

Schwangerschaft gleichkommt), Wiedergeburt (das Indivi-

globale ökologische Krise vermehrt auftretenden Umweltka-

duum wird mit einem neuen Status wieder in die Gesellschaft

tastrophen haben die Beziehung zwischen Architektur und

eingeführt – was einer symbolischen Wiedergeburt gleich-

Umwelt verändert. Die Natur wird nicht mehr durch die Archi-

kommt). Übergangsriten bieten die Möglichkeit, den Todes-

tektur des Menschen „geordnet“ und „veredelt“, wie man

trieb zu überwinden, indem sie dem Bestattungskult entlehnte

noch im Protokoll des fünften CIAM-Kongresses 1937 in Paris

Archetypen verwenden, um neue Horizonte zu eröffnen.

lesen kann, das Le Corbusier im Zusammenhang mit der

Anmerkungen Seite 61

Junya Ishigami: House & Restaurant, Yamaguchi

55

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 56

einen Kurswechsel vorgenommen: Sie stellt die westlichen Modelle zunehmend infrage und besinnt sich verstärkt auf die Grundelemente der eigenen Kultur. Die Natur, die in der japanischen Kultur seit jeher einen besonderen Stellenwert hat, vor allem im Shintoismus, der davon ausgeht, dass alle Dinge beseelt sind (die vielen Götter können Tiere, Pflanzen und sogar menschliche Wesen sein), wird in ihrer ganzen Verletzlichkeit neu überdacht. Die jüngste japanische Architektur zeugt von dieser Neuausrichtung, bei der von Anfang an die Natur im Mittelpunkt des Entwurfsprozesses steht. In diesem Streben nach Wiederanknüpfung an die Naturelemente spielt das Archaische eine zentrale Rolle und bestimmt nicht nur die Auswahl der zumeist roh belassenen Baumaterialien (Erde, Stein, Beton), sondern auch die Gestaltung, die Bauweise und letztlich auch die Nutzung. Wie funktioniert der Modus Operandi der Ästhetik vor dem Hintergrund der ökologischen Krise, die auch eine ontologische ist, und wie skizziert er eine neue Weltbeziehung? Die Architektur von Junya Ishigami bringt die besondere Verbindung von Archaismus und Natur zum Ausdruck. Der junge

Junya Ishigami, Projekt für acht Ferienhäuser in Dali (China), Modell, Ausstellung Freeing Architecture, Fondation Cartier, Paris, 2018

Architekt bezieht die Umwelt als wesentlichen Bestandteil in seine Projekte ein. Er vertritt einen ganzheitlichen, animistisch

56

Planung eines Skiresorts verfasste: „Der Ordner greift mit

geprägten Ansatz: Statt für eine Person zu bauen, will er alle

seiner humanistischen Lehre ein, die sich auf alle Techniken

Bewohner:innen, ja alle Lebewesen auf Erden, einschließlich

stützt. Er bringt Licht in das Dickicht, erfasst klarsichtig, misst,

der Tiere und der Naturelemente, mitdenken. Sein kritischer

richtet und ordnet. In die Entwürfe und Taten kehrt Ordnung

Ansatz zielt auf die Befreiung der Architektur von vorgefass-

ein. […] der Standort wird durch die Architektur veredelt.“

ten Ideen, Stilen und Praktiken, kurzum von der kulturellen

70

Seit der Zeit, als Le Corbusier den Architekten als ein Werk-

Dimension, zugunsten einer umfassenden Erneuerung ihrer

zeug betrachtete, das die Natur ordnet, um sie in den Dienst

Prinzipien: „so, als würden wir Gebäude in einer Welt bauen,

des Menschen zu stellen, ist uns bewusst geworden, dass

die keinen Begriff von Architektur hat“.71 Die Nutzung wird

diese Unterwerfung zu unumkehrbaren Problemen geführt

ebenso infrage gestellt wie die Architektur selbst. Die „neuen

hat, die uns inzwischen vollends überfordern. Der Optimismus

Rollen und Bedingungen der Architektur“72 kommen unter

der Moderne, der auf dem Glauben an den Fortschritt

anderem in einem neuartigen Archaismus zum Tragen, bei

und die Segnungen der Technik basierte, ist dem Zweifel

dem die Natur die Bauform und die Nutzungsweisen der

und dem Schrecken vor den verheerenden Folgen für die

Bewohner:innen bestimmt.

Umwelt gewichen.

Dieser Ansatz spiegelt sich beispielsweise in einem Bauprojekt

Dieser Paradigmenwechsel zeigt sich auch in der Ästhetik.

in Dali im Südwesten Chinas wider, bei dem Ishigami zum

Dass der neue Bautrend, dem ein anderes Naturverhältnis

Schutz der Natur die zu erbauenden acht Ferienhäuser rund

zugrunde liegt, ausgerechnet aus Japan kommt, ist nicht von

um die für die Region typischen großen Felsblöcke anordnete.

ungefähr. Schwer getroffen durch die Atombomben von

Statt mit einem „sauberen“ Bauplatz zu beginnen, wie dies

Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 sowie durch immer

Architekt:innen üblicherweise tun, baute er die Zimmer sehr

stärker werdende Tsunamis, die 2011 die atomare Katastrophe

sorgfältig um die Felsen herum, die er auf diese Weise in den

von Fukushima verursachten, hat die japanische Architektur

Ferienkomplex integrierte. Dieser wird von einem 300 Meter

Archaismus

Anmerkungen Seite 61

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langen, hauchdünnen Dach überspannt, das stellenweise

neoarchaische Höhlenraum, der gänzlich aus Beton-Stalaktiten

Öffnungen hat, damit Licht und Luft ins Innere gelangen können.

mit der Textur und Farbe von Erde besteht, in die Urzeit

Die Felsblöcke werden zu tragenden Elementen; Innen- und

zurück, als der Mensch das Gleichgewicht der Erde noch

Außenbereich verschmelzen organisch miteinander und bilden

nicht bedrohte.

eine seltsame Felslandschaft, eine Art inneres Naturschutzge-

Angesichts dieser zeitgenössischen Architektur, die das Ar-

biet. Ishigamis Naturschutzbestreben schlägt sich in einer

chaische heraufbeschwört und starke psychische wie physische

architektonischen und ästhetischen Strategie nieder, die eine

Erlebnisse bereitet, scheint die Ästhetik-Definition von

eigene Form des Archaismus hervorbringt, in der sich der

Jacques Rancière mehr denn je zutreffend zu sein: „Der

Mensch gleichsam neu definiert, indem er sich mit Leib und

ästhetische Zustand ist reine Suspendierung, ein Augenblick,

Seele zwischen den Felsformationen niederlässt, die seine

in dem die Form als solche wahrgenommen wird.“76

Wege, Bewegungen, Alltagsrituale und die Art und Weise,

Durch den Kurswechsel, den die genannten Architekturen

den Raum zu bewohnen, bestimmen.

mit ihrer Rückkehr zu den grundlegenden Archetypen (die

Für das Projekt House & Restaurant eines japanischen Chef-

Höhle, die Felslandschaft) vollziehen, kann ein neues psycho-

kochs in Yamaguchi entwickelte Ishigami ein Konzept, das

logisches Bild für eine Gesellschaft entstehen, die sich ihres

ebenso archaische Züge trägt, diesmal allerdings ins Erdreich

Einflusses auf die Natur im Zeitalter des Anthropozäns

verlagert wurde. Er traf die radikale Entscheidung, „Löcher in

allmählich bewusst wird. Diese Projekte hebeln die Wahrneh-

den Boden zu graben, sie mit Beton zu füllen und anschließend

mung von Raum und Zeit aus und schaffen die Möglichkeit,

Höhlen um die Pfeiler herum auszugraben“.74 Die Erde des

(zumindest vorübergehend) in eine Welt zu entfliehen, die

73

Geländes wurde als Schalung für die Betonstruktur verwendet, die einer Höhlenlandschaft ähnelt. Das sei wie bei archäologischen Ausgrabungen, wo man im Voraus nicht wissen könne, was einen erwartet, so Ishigami, welche Art von Räumen sich aus dem Erdreich herausformen, obwohl im Vorfeld alles modelliert wurde.75 Die Bagger, die zunächst Hohlräume aushoben, die mit großen Mengen Beton ausgefüllt wurden, und die danach die Erde rundherum ausgruben – als ob sie das riesige Skelett eines seltsamen urgeschichtlichen Tieres freilegen wollten –, sind Teil eines modernen Bauverfahrens, das allerdings an uralte Bauweisen erinnert, als der Mensch Löcher ins Erdreich grub, um Schutz zu finden. So projiziert uns dieser

Anmerkungen Seite 61

Junya Ishigami, House & Restaurant, Yamaguchi, Japan, 2019, Fotograf: Yashiro Photo Office

Junya Ishigami: House & Restaurant, Yamaguchi

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zum Träumen einlädt. Mythen und Träume, die Werkzeuge der auf Archetypen gründenden Psychologie von C. G. Jung,

Der raumzeitliche Modus Operandi des Archaismus

verdichten sich in einer Architektur, die sich nicht nur von ihnen anregen lässt, sondern durch ihre Raumgestaltung, Ma-

Die in diesem Kapitel vorgestellten Beispiele zeigen verschie-

terialität und spezifische Beziehung zur natürlichen Umgebung

dene ästhetische Handlungsmodi auf, die durch politische,

selbst zur Schaffung von Mythen und Träumen beiträgt. Der

soziale oder klimatische Umwälzungen ausgelöst wurden.

Archetypus beschränkt die Form, die zum Träger eines sym-

Ihnen allen gemeinsam ist eine radikale Simplifizierung, die

bolischen und kulturellen Gehalts wird, auf das Wesentliche.

durch eine Rückbesinnung auf Archetypen früherer Epochen

Die daraus resultierende Symbolik verweist auf eine fragile,

erreicht wird. Mit diesem Sprung in Raum und Zeit kann der

bedrohte Natur, so, als hätte die Architektur ihr letztes Denk-

Lauf der Dinge angehalten und es kann mit der (zeitlichen)

mal bereits errichtet. Dank dieser raumzeitlichen Erfahrungen

Realität gebrochen werden, wodurch ein neuer Rahmen ge-

wird der Mensch sich seines In-der-Welt-seins und seiner

schaffen wird, in dem alles möglich zu sein scheint: Eine

Beziehung zur Umwelt stärker bewusst. Damit entsteht eine

ferne Vergangenheit wird Gegenwart; eine andere Kultur

Form der Resonanz, die die Erde als Ganzes umfasst, von der

etabliert sich und tritt an Stelle der unsrigen. Es ist ein grund-

die Menschheit nur einen kleinen Teil ausmacht.

sätzliches Infragestellen einer Kultur, die mit der Gegenwart und mit der Vision einer lebbaren Zukunft nicht mehr vereinbar ist. Der Archetypus wird herbeizitiert, um durch eine Rückkehr zu den Wurzeln eine grundlegend andere Zukunft zu eröffnen.

Junya Ishigami, House & Restaurant, Yamaguchi, Japan, 2019, Fotograf: Yashiro Photo Office

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Archaismus

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Diese raumzeitlichen Modi Operandi setzen Gegenströmungen

die Beziehungen zu anderen Menschen (Gesellschaft), zur

in Gang, indem sie sich auf Archetypen aus früheren Kulturen

Materie (Dinge) und zu Ideen und einem Absoluten in den

stützen, die als „Wiege der Kultur“ wahrgenommen werden,

Bereichen Natur, Religion, Kunst und Geschichte (Kultur)

wie die ägyptischen Ornamente aus der Zeit nach der Fran-

umfassen, unser Handlungsvermögen nicht zu vergessen.

zösischen Revolution gezeigt haben, die den Bruch mit der

In allen hier vorgestellten Beispielen haben die Architekten

Kultur des Ancien Régime markierten. Die neuen politischen

eine Resonanz mit einer krisengeschüttelten Welt herzustel-

Werte wurden über reaktivierte Archetypen vermittelt, so bei

len versucht. In ihrer ontologischen Suche nach Resonanz,

dem von Durand entworfenen, ägyptisch inspirierten Tempel

die unser In-der-Welt-sein bestimmt, versetzte sie der Rekurs

für die Freiheit, der als Ausgangspunkt für die Konstruktion

auf Archetypen in die Lage, wesentliche Fragen aufzuwerfen,

eines neuen kollektiven Imaginären dienen sollte.

um eine Zukunft aufzubauen. In solchen Momenten der

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm sich Bernard Rudofsky

Suspendierung muss sogar die Gegenwart erst erschaffen

die „Initialisierung“ der Kultur vor, indem er genau an der

werden, wie Holleins klare Aussage verdeutlicht: „Die Archi-

Stelle auf einen radikalen Neuanfang setzte, wo es die westliche

tektur von Heute gibt es noch nicht.“ Der Archetypus als

Kultur, die ihren eigenen barbarischen Zusammenbruch her-

leere Vorform öffnet dann einen imaginären Raum des Nach-

beigeführt hatte, nicht gab. Die wahre Kultur wäre demnach

denkens über eine andere Weltbeziehung: Er hält die Gegen-

eine Kultur, die von dem, was gemeinhin unter „Fortschritt“

wart in der Schwebe, sodass sich durch die Bezugnahme auf

verstanden wird, unberührt geblieben ist.

eine ausreichend weit zurückliegende Epoche eine neue

Hans Hollein stellte die Uhren auf null, indem auch er an

Zukunft abzeichnen kann.

uralte, in der westlichen Kultur verloren gegangene Rituale anknüpfte und sich dabei auf Archetypen stützte – als eine Art obligatorischer Übergangsritus der Läuterung, ohne den es keine neue Zukunft geben kann, fernab vom Funktionalismus des Wiederaufbaus und des Krieges. Junya Ishigami wiederum reaktiviert eine betont physische, haptische und perzeptive originäre Beziehung zur Natur im Urzustand, um das Überleben zu sichern, nun aber nicht mehr das des Menschen (wie bisher in der Geschichte), sondern der Natur. Auf diese Weise „sakralisiert“ er die Natur, bevor sie unter dem Expansionsdruck des Menschen vollends verschwindet. Alle genannten Architekten verwendeten einen spezifischen Wirkmechanismus, um über den Umweg des Archetypus eine neue Ästhetik zu schaffen, die eine kulturelle Gegenströmung in Gang setzte: Durand formulierte ein schablonenartiges abstraktes und „akulturelles“ Vokabular; Rudofsky demontierte die Kultur, indem er alle Errungenschaften verwarf, die der menschlichen Natur zuwiderlaufen, Hollein stellte sie durch Archetypen infrage und Ishigami durch die Gegenüberstellung mit einem neuen, originären Naturzustand. Man könnte diese Projekte als unterschiedliche Formen des Widerstands gegen eine Welt betrachten, mit der keinerlei Resonanz herzustellen ist. Hier sei nochmals an die von Hartmut Rosa definierten drei Resonanzachsen erinnert, die

Der raumzeitliche Modus Operandi des Archaismus

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Anmerkungen 1 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken, München 1979, 135. 2 Chris Younès, Entre transpassabilité et transpossibilité, l’archaïque en architecture, in: Stéphane Bonzani (Hg.), L’archaïque et ses possibles: architecture et philosophie, Genf 2020, 321–325, hier 321. 3 Philippe Potié, L’archaïque et le contemporain, in: Bonzani 2020, 167–171, hier 169. 4 Stichwort „Archetypus“ in: Duden. Das große Fremdwörterbuch, Mannheim 2007. 5 Stichwort „archétype“, 2. Bedeutung, in: TLFi, Le Trésor de la Langue Française informatisé: http://stella.atilf.fr/ (zuletzt am 11.5. 2023). 6 Brief von C. G. Jung an J. C. Vernon vom 18. Juni 1957, in: C. G. Jung, Letters, Bd. 2: 1951–1961, ausgewählt und hg. von Gerhard Adler, Princeton 1976, 372f. 7 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Dritter Teil, Leipzig/Wien 1917, 23. Vorlesung: Allgemeine Neurosenlehre, 430f.: https://archive.org/details/freud1917-vorlesungen-c-neurosen/page/430/mod e/2up?q=phantasien. 8 Brief von C. G. Jung an Sigmund Freud vom 25. Dezember 1909, in: C. G. Jung, Briefe, 3 Bde., hg. v. Aniela Jaffé in Zusammenarbeit mit Gerhard Adler, a. d. Engl. und Französ. übers. von Aniela Jaffé, Olten/Freiburg i. Br. 1990, Bd. 1: 1906 –1945, 34. 9 Marie-Louise Von Franz [Schülerin von C. G. Jung], L’interprétation des contes de fées, Paris 2003, 23. 10 Ebd. 11 C. G. Jung, Der Archetyp in der Traumsymbolik, in: Ders. et al. (Hg.), Der Mensch und seine Symbole, a. d. Engl. übers. von Klaus Thiele-Dohrmann, Olten 1968, 67–82, hier 70. 12 Hartmut Rosa, Quelles relations aux autres dans la société moderne?, Radiosendung von France Culture, 26.9.2018: https://www.franceculture.fr/emissions/la-grande-table-2emepartie/quelles-relations-aux-autres-dans-lasociete-moderne. 13 Nachdem das neue Regime nach dem Sturz Robespierres das Ruder in der Hand

60

hatte, tauchte die Freiheitsstatue zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Wettbewerbs nicht mehr auf. 14 Nach dem Brand der Opéra im Palais Royal am 8. Juni 1781 zog die Königliche Schauspieltruppe in ein eigens für sie von Nicolas Lenoir errichtetes neues Opernhaus am Boulevard Saint-Martin. 15 Vgl. Werner Szambien, Les projets de l’an II. Concours d’architecture de la période révolutionnaire, Paris 1986, 65f. 16 Im Freud’schen Sinne die Ausrichtung des Destruktionstriebes über den Umweg der Kunst und anderer gesellschaftlich anerkannter Mittel auf ein höheres Ziel hin. 17 Szambien 1986, 84f. 18 Artikel „SERGENT (Antoine-François)“, in: Biographie universelle ancienne et moderne, Bd. 39, Paris/Leipzig 1854, 96– 99, hier 98. 19 Bei diesem Massaker wurden in mehreren Wellen – in einem Kontext der Panik vor einer österreichisch-preußischen Invasion – gefangen gesetzte Royalisten und Kleriker ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Es gab Hunderte von Toten. Zu ihnen zählte auch die Prinzessin de Lamballe, vgl. Louis Mortimer Ternaux, Histoire de la Terreur: 1792 –1794, Bd. 3, Paris 1868, 316. 20 Ebd., 308. 21 Vgl. Szambien 1986, 65ff. 22 Henri Lapauze, Procès-verbaux de la commune générale des arts …, Paris 1903, 143. Zu Sergent-Marceau siehe: N. Parfait, Notice sur A.F. Sergent, graveur en taille, député de Paris à la Convention Nationale, Chartres 1848, 38. 23 Vgl. Werner Szambien, J-N-L Durand, 1760–1834, de l’imitation à la norme, Paris 1984, 45f., Abb. S. 239f. 24 Ebd., 268: Durand übernahm diesen quadratischen Querschnitt auch in seinem Landhaus in Thiais (1825) für eine der Säulen der Gartenfassade und begründete seine Wahl mit der Kostenersparnis: „In Privatgebäuden der untersten Klasse verbindet sich der Aufwand notgedrungen mit den billigsten Materialien, das heißt mit den anfälligsten […]. Aus diesem Grund wird man die Stützen sehr kurz machen, um ihre Festigkeit zu erhöhen; und aus demselben Grund wird man sie

vielleicht quadratisch machen, statt ihnen eine runde Form zu geben.“ 25 Ebd., 46. Dieser Tempel war schon vor Napoleons Ägyptenfeldzug wohlbekannt, wie ein Aquarell von Louis-Amable Crapelet aus dem Jahr 1754 belegt, das im Louvre hängt. 26 Ebd., 239. In der späteren Fassung von Charles Coudray wurden sie durch Ruhmesdarstellungen und die Inschrift „Félicité publique“ („Glückseligkeit der Allgemeinheit“) sowie unterhalb des Frieses durch die Inschrift „Die Tugenden sind die festesten Säulen der Glückseligkeit der Allgemeinheit“ ersetzt. 27 Ebd., 46. 28 Die Reduktion bestimmt von nun an die architektonische Gestaltung, und zwar in einer noch reduzierteren Weise als im Neoklassizismus, der im Europa der Aufklärung aufkam und in Frankreich in den letzten 20 Jahren der Regentschaft Ludwig XV. bereits in Mode war, wie die École militaire (1751– 56), der Palais de Compiègne (ab 1751 wiederaufgebaut), die Kirche Sainte-Geneviève (1764 –90) und zahlreiche andere Bauten in Paris belegen. 29 J.N.L. Durand, Précis des leçons d’architecture données à l’école polytechnique, Bd. 1, Paris 1802, 2. Teil, 87. 30 Vgl. Potié, in: Bonzani 2020, 169. 31 Robert Rosenblum, L’Art au XVIIIe siècle. Transformations et mutations, Saint-Pierre-deSalerne 1989. 32 Vgl. ebd., 60 –77, 133–137. 33 Michael Fried, La place du spectateur. Esthétique et origines de la peinture moderne, Paris 1990, 18f. 34 Vgl. Rosenblum 1989, 134f. 35 Simon Lee, David, Paris 2002, 202. 36 Zit. nach: Étienne-Jean Delécluze, Louis David, son école et son temps: souvenirs d’Étienne-Jean Delécluze, Paris 1855, 61. Das Zitat stammt aus dem Erläuterungstext zur Ausstellung von Jacques-Louis David mit dem Titel De la nudité de mes héros und geht wie folgt weiter: „Als ich die Horatier und Brutus malte, stand ich noch unter römischem Einfluss. Aber, meine Herren, ohne die Griechen wären die Römer in Kunstdingen nur Barbaren gewesen. Also müssen wir zu den Quellen zurück, und das ist es, was ich im Moment

Anmerkungen zu Seite 35 – 43

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versuche zu tun.“ (ebd., 61) 37 Vgl. Rosenblum 1989, 134f. 38 David rechtfertigte diese Entscheidung in seinem Text „De la nudité de mes héros“, vgl. Delécluze 1855. 39 Pierre Larousse, Fleurs historiques des dames et des gens du monde clef des allusions aux faits et aux mots célèbres que l’on rencontre fréquemment dans les ouvrages des écrivains français, Paris 1862, 589. 40 Siehe Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1940), in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, Kap. XI, 699. 41 Susanne Stacher, Sublime Visionen. Architektur in den Alpen, Basel 2018, Kap. 3, 84 – 90, 94–98. 42 Rudolf von Laban, Die Welt des Tänzers, fünf Gedankenreigen, Stuttgart 1920, 3. 43 Stacher 2018, Kap. 3, 80 – 91. 44 Bernard Rudofsky, Now I lay me down to eat. Notes and Footnotes on the Lost Art of Living, Garden City (New York) 1980, 12. 45 Ebd., 5; den italienischen Satz „Non ci vuole un nuovo modo di construire, ci vuole un nuovo modo di vivere“ übersetzte Rudofsky selbst ins Deutsche im Zusammenhang mit seiner Ausstellung Sparta/Sybaris, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien 1987; Ausst.-Kat. Wien 1987, sowie ins Amerikanische: „What we need is not new technologies, but a new way of living“. 46 Rudofsky 1980, 12. 47 Von links nach rechts: Gipsabguss des entstellten Fußes eines Erwachsenen, der sich der Schuhform angepasst hat; Leisten aus Holz; zeitgenössischer Schuh; Gipsmodell eines fiktiven symmetrischen Fußes, der der Vorstellung menschlicher Anatomie eines Schuhherstellers entspricht. 48 Bernard Rudofsky, Are Clothes Modern? An essay on contemporary apparel, Chicago 1947, 74. Das Begleitbuch zur Ausstellung im MoMA kann über folgende Adresse heruntergeladen werden: https://www.moma.org/docu ments/moma_catalogue_3159_300063439.pdf; die Aufnahmen der Ausstellung finden sich hier: https://www.moma.org/calendar/exhibitions/3 159 (beide zuletzt aufgerufen am 7.12.2022).

Anmerkungen zu Seite 43 – 57

49 Bernard Rudofsky, Architektur ohne Architekten. Eine Einführung in die anonyme Architektur, a. d. Engl. von Regina Haslinger und Berta Rudofsky, Salzburg/Wien 1993, Vorwort, o. S. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. (Hervorh. im Original). 54 Großbritannien, Frankreich, die USA und die UdSSR betrieben eine je eigene Kulturpolitik, die als Vehikel für ihre jeweilige Ideologie diente. Der Wettstreit der Systeme wurde auch auf dem Feld der Architektur (und ihrer medialen Propagierung) ausgetragen, die zum wichtigen Instrument eines „Erziehungsprogramms“ für eine neue Gesellschaftsordnung wurde. Vgl. https://www.azw.at/de/termin/ kalter-krieg-und-architektur/ (zuletzt am 8.12.2022). 55 Die Entwürfe stammten insbesondere von Roland Rainer und Carl Auböck. 56 Frank Lloyd Wright, in: Donald W. Hoppen, The seven ages of Frank Lloyd Wright: a new appraisal, Santa Barbara 1993, 46. 57 Hannah Arendt, Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von The Origins of Totalitarianism (1951), a. d. Amerikan. übers. von Ursula Ludz, in: Dies. und Eric Voegelin, Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe, Göttingen 2015, 15–30, hier 22. 58 Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz, 5. Aufl., München 2020, 13. 59 Markus Prachensky, Arnulf Rainer, Architektur mit den Händen (1958), in: Günther Feuerstein (Hg.), Visionäre Architektur. Wien 1958/1988, Berlin 1988, 47. 60 Friedensreich Hundertwasser, Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur, 1958/1959/1964, in: ebd., 47f., hier 47. 61 So die Wortwahl von Hartmut Rosa in: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019. 62 Walter Pichler, Hans Hollein, Absolute Architektur, 1962, in: Feuerstein 1988, 58f., hier 58. Das Manifest bestand aus zwei Teilen, von denen der erste von Hans Hollein verfasst wurde und der zweite aus der Feder Walter

Pichlers stammt. (Hollein fährt fort: „Architektur wird gemacht von denen, die auf der höchsten Stufe der Kultur und Zivilisation, an der Spitze der Entwicklung ihrer Epoche stehen. Architektur ist eine Angelegenheit der Eliten.“) 63 Ebd. 64 Ebd., 59. 65 Hans Hollein, Alles ist Architektur, 1967, in: Feuerstein 1988, 236f., hier 236. 66 Ebd. 67 Hans Hollein, in: Katalog zur Ausstellung Hollein/Pichler: Architektur in der Galerie nächst St. Stephan, Wien, Mai 1963, o. S. 68 Vgl. Madlen Sell, La dation du nom et autres rites de passage chez les Seereer Siin du Sénégal, in: Le Journal des Psychologues, Nr. 320, 2014, 74–77. 69 Sigmund Freud, Abriss der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1965, 12. 70 Le Corbusier 1939, in: Le Corbusier (Zeichnungen), François de Pierrefeu (Text), La Maison des hommes, Paris 1942, Kap. VII, 193 (auch in: L’Architecture d’aujourd’hui, Bd. 36, Nr. 126, Juni/Juli 1966, 11). 71 Junya Ishigami im Flyer zur Ausstellung Freeing Architecture, 30. März bis 9. September 2018, Fondation Cartier, Paris. 72 Ebd. 73 Junya Ishigami, Vortrag „Masterclass“ an der Pariser École spéciale anlässlich der Ausstellung Freeing Architecture in der Fondation Cartier, 12. April 2018, https://fb.watch/i7DMM_ hIhz/: „Der Kunde wollte eine Räumlichkeit, die sich wie ein alter Weinkeller anfühlt, aber ich wollte keine Imitation. Also habe ich mir überlegt, dass man sie direkt ins Erdreich verlagern muss, damit es sich wirklich archaisch anfühlt.“ 74 Ebd. 75 Ebd. Modellierung anhand eines großformatigen Modells, das anschließend gescannt wurde, um die Baupläne zu erstellen. 76 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. von Maria Muhle, a. d. Französ. übers. von Maria Muhle sowie Susanne Leeb und Jürgen Link, 2., durchgesehene Aufl., Berlin 2008, 40f.

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Emil Krause, Hugo Mayer (nach einem Masterplan von Adolf Loos), Siedlung Rosenhügel, Siedlerarbeit, 1921, Fotograf: Josef Derbolav Machovsky

2 Zurück zur Ländlichkeit Streben nach Entschleunigung Zeit: Entschleunigung Psychologie: Rückgriff auf gesellschaftliche Archetypen; kollektive Rückbesinnung und Mitgefühl Modus Operandi: Reduktion und Sublimierung durch Ästhetik

Das Phänomen der „Rückkehr zur Ländlichkeit“ geht mit

einher, entweder umständehalber nach einer Katastrophe oder

Entschleunigung und mit substanziellen Einschränkungen der

einem Krieg oder aufgrund einer proaktiven Willensentschei-

Lebensweise einher, die von einer urbanen zu einer agrarischen

dung, die einen Verzicht impliziert. Solche Momente der Ein-

übergeht. Die Idee der Entschleunigung als Antwort auf die

schränkung sind mit einem starken ästhetischen Streben und

Dynamik des Fortschritts und dessen Folgen, die wir immer

einem fundamentalen Bedürfnis nach Verschönerung des neuen

weniger im Griff haben, bringt die Hoffnung auf eine Verlang-

„Naturzustands“ verknüpft, um darin über die Befriedigung

samung des Beschleunigungsprozesses mit sich, der exponen-

der mit dem bloßen Überleben verbundenen Bedürfnisse hinaus

tielle Ausmaße angenommen hat. Als Gegenentwurf zum

eine wahrnehmbare intellektuelle Entfaltung zu finden, die eine

chaotischen Wachstum der Industriestädte, verursacht durch

Transzendierung des vom üblichen Kulturmodell weit entfernten

die Dynamik des Kapitalismus und der Bodenspekulation,

Urzustands ermöglicht. Wie kann die Ästhetik neue Narrative

verbindet sich die „Rückkehr“ zu einer zumeist auf Autarkie

der „Rückkehr zur Ländlichkeit“ erschaffen? Und welche Archi-

und Selbstversorgung beruhenden neuen Form der Agrar-

tekturformen nimmt sie an, um der Dynamik der schnell wach-

gesellschaft in der Regel mit der Vision einer Gesellschaft,

senden Städte standzuhalten?

die nach genossenschaftlichem Vorbild umgestaltet wird

Der psychologische Modus besteht in einem „kollektiven Mit-

und nach Autonomie strebt. Kollektives Handeln spielt

gefühl“ (getragen vom Lebenstrieb) und in einer utopischen

dabei eine Schlüsselrolle und hat eine starke politische

Vision für die Gesamtheit einer sozialen Klasse (dann spricht

Dimension mit dem Ziel, gemeinschaftlich eine Gesellschaft

man von „Solidarität“) oder, in kleinerem Maßstab, für den

aufzubauen, die sich durch eine größere Solidarität und

begrenzten Mitgliederkreis einer Mikrogesellschaft, die ein

Resonanz auszeichnet.

paralleles Experimentum Mundi lebt. Die entschleunigte „Rück-

Diese Gegendynamik geht mit drastischen Einschränkungen

besinnung“ auf eine vorindustrielle Gesellschaftsform nimmt

(der Lebensweise, der Kultur, der verfügbaren Materialien usw.)

mitunter nostalgische, romantische und sogar mystizistische

Streben nach Entschleunigung

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Züge an, wenn sie nicht in ein gewagtes Abenteuer abdriftet.

Berührung kommt) die bestehende Diskrepanz zwischen der

In jedem Fall knüpft sie an gesellschaftliche Archetypen an, die

Schnelligkeit des technischen Fortschritts und der Langsamkeit

tief im kollektiven Unbewussten vergraben sind. Das Imaginäre

der menschlichen Moral entgegen: „Aber die sittliche Anlage

beruht hier auf einem anderen Verhältnis zur produktiven Natur

der Menschheit, die […] ihr immer nachhinkt, wird sie, die in

(natürlicher, näher am Menschen, mit einem anderen Produk-

ihrem eilfertigen Lauf sich selbst verfängt und oft stolpert, (wie

tionsmaßstab) sowie auf der Neugestaltung einer „maßvolleren“

man unter einem weisen Weltregierer wohl hoffen darf) der-

Gesellschaft, das heißt mit reduziertem Konsum und auf die

einst überholen.“3 Vor dem Hintergrund der Aufklärung war

Befriedigung der Grundbedürfnisse ausgerichtet, allerdings

Kant der Überzeugung, dass im rasanten Wettlauf zwischen

angereichert mit neuen Kulturelementen und gesellschaftlichen

Moral und Fortschritt, der Konsum und Überfluss einschließt,

Werten, kraft derer die Einschränkungen und das damit zwangs-

am Ende die Moral siegen würde. Doch er hat sich geirrt. Im

läufig entstehende Gefühl von Verlust ertragen und überwunden

Zuge der zunehmenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert,

werden können. Bleibt die Frage, wie es bei diesem Modus

der Ausbreitung des Kapitalismus (mit seinen zyklischen

Operandi der Entschleunigung gelingt, neue Werte einzuführen,

Schwankungen, die dem Prozess der „schöpferischen Zerstö-

mit anderen Worten, auf welche ästhetische Ressourcen zu-

rung“ im Sinne Joseph Schumpeters innewohnen: Prosperität,

rückgegriffen wird, um mit den Einschränkungen und deren

Rezession, Depression, Erholung; siehe Kap. 3) und der immer

Sublimierung umzugehen.

gierigeren Bodenspekulation (1873 platzte die Spekulations-

Die „Rückkehr zur Ländlichkeit“ ist in der Geschichte ein wieder-

blase und löste wegen ihres Ausmaßes und ihrer internationa-

kehrendes Phänomen. Die Vision eines „Weltendes“ in Verbin-

len Tragweite die erste Große Depression aus) blieb ein

dung mit der Idee einer heilsamen „Rückkehr aufs Land“, wie

Großteil der Bevölkerung vom Fortschritt ausgeschlossen. Die

sie heute von den Vertretern der Kollapsologie propagiert wird

Industrialisierung verwandelte die Städte in überbevölkerte

(die Covid-19-Krise hat den Trend zur Stadtflucht noch beschleu-

und entsprechend ungesunde Metropolen und setzte die Ar-

nigt), erinnert an die Lebensreformbewegungen, die im ausge-

beiterklasse menschenunwürdigen Lebensbedingungen aus.

henden 19. Jahrhundert in England und im deutschsprachigen

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Hoffnung, die man

Raum aufkamen. Auf welchen Ideen basierte ihr Streben nach

in den technischen Fortschritt gesetzt hatte, infolge seiner ver-

Erneuerung und wie wurden diese in der Architektur umge-

heerenden Auswirkungen teilweise zerschlagen. Der Fort-

setzt? Wie verpflichteten sie zum Handeln? Im Folgenden wird

schritt hatte den Wettlauf gegen die Moral gewonnen.

die Bewegung der „Rückkehr zur Ländlichkeit“ – als Antwort auf Grundbedürfnisse und zugleich utopische Projektion einer

Walter Benjamin und der Engel der Geschichte

besseren Welt – anhand einiger Beispiele aus dem frühen

Im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus

20. Jahrhundert nachgezeichnet, auch um den Bogen zum

in Deutschland und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

heutigen Trend der Stadtflucht zu spannen, der von der Angst

kritisierte Walter Benjamin, der in Berlin in eine assimilierte

vor dem Klimawandel und vom Willen nach Entschleunigung

jüdische Familie geboren wurde und ab 1933 in Frankreich im

getragen wird.

Exil lebte, den Fortschritt. Er verglich ihn mit einem unkontrollierbaren Sturm, der den „Engel der Geschichte“ in die Zukunft

Anzweiflung des „Fortschritts“

treibt, obwohl sich dieser der Vergangenheit zuwenden will,

In diesem Kapitel wird der derzeit zunehmend in der Kritik

um deren Trümmer wieder aufzurichten. Benjamin ließ sich

stehende Begriff des Fortschritts als ein „Prozeß andauernder

dafür von einem Bild von Paul Klee inspirieren, das er in den

und zunehmender Vervollkommnung […], der […] von den

frühen 1920er Jahren erworben hatte:

Menschen selber zu planen und zu vollstrecken sei“, diskutiert.

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein

Wie in der Einleitung dargelegt, hielt schon Kant dem Leib-

Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im

niz’schen Postulat „progressus est in infinitum perfectionis“2

Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine

und der Idee Rousseaus von der Vervollkommnungsfähigkeit

Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine

des Menschen (insbesondere, wenn er mit der Natur in

Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß

1

64

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 95

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 65

so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zuge-

Sozialdemokratie, für den

wendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns

die Natur „gratis da ist“7

erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die

und ganz im Dienst des

unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor

Menschen steht. Entgegen

die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten

dieser positivistischen

wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein

Weltanschauung folgte

Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln

Benjamin eher dem Ansatz

verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht

von Joseph Fourier, der

mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam

die Frage der Natur mit

in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der

der Idee einer sinnvollen

Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir

gesellschaftlichen Arbeit

den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

verband;8 die Ausbeutung

4

Demnach bewahren die Trümmerhaufen, die der Fortgang des

der Natur sollte den kol-

Fortschritts verursacht hat, in sich eine Erinnerung, die den

lektiven (und nicht dem

katastrophalen Lauf der Geschichte aufhalten kann. Der Engel

spekulativen) Interessen

will die Zeit verlangsamen, um innezuhalten und die Trümmer

untergeordnet werden.

wieder aufzurichten, doch vergeblich. Diese Kritik des Fort-

Diese Vorstellung, die sowohl die Natur als auch eine für die

schritts versucht aus der Dynamik der Beschleunigung

Gesellschaft als Ganzes sinnvolle Arbeit umfasst, war bereits in

auszubrechen, die die Menschheit in eine grauenvolle Zukunft

der englischen Reformbewegung des späten 19. Jahrhunderts

treibt. Dieser Text ist einer von vielen, die Walter Benjamin

weit verbreitet; diese stellte sich gegen die unbegrenzte Dyna-

auf seiner Flucht Hannah Arendt anvertraute, nachdem er

mik des Industrialisierungsprozesses, der drastische Auswir-

als Deutscher in Südfrankreich in ein Internierungslager

kungen auf die Städte und die ländlichen Gebiete hatte.

gesteckt worden war. In seiner Verzweiflung nahm er sich

Der Fortschritt, der für gewöhnlich mit dieser Dynamik in Ver-

wenig später, im September 1940, als er in Portbou, nahe

bindung gebracht wird, ist ein ins Unendliche strebender

der französischen Grenze festsaß, das Leben. Arendt ver-

Vektor. Doch weil die Moral nicht mehr einem Fortschritt

schickte Benjamins Manuskripte nach New York, wo sie 1942

entsprach, der sich schrittweise von jeglicher Moral losgesagt

veröffentlicht wurden.

hatte und nur noch der eigenen Bahn des „immer mehr“

Angesichts des Aufstiegs des Faschismus reflektierte Benjamin

folgte, mussten der Begriff des Fortschritts neu definiert und

über Geschichte und Zeit und stellte die Vorstellung vom linea-

neue Formen der Stabilität gefunden werden – ausgehend von

ren Verlauf des Fortschritts infrage:

der Natur, einschließlich der des Menschen. Wie und auf wel-

Paul Klee, Angelus Novus, 1920, aquarellierte Zeichnung aus Tusche u. Ölkreide auf vergilbter Radierung eines Luther-Porträts aus dem 19. Jh.

„Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschenge-

cher Grundlage sollte eine Gemeinschaft geschaffen werden,

schlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres

die sich wieder mit der Natur verband? Im englisch- und

eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs

deutschsprachigen Raum des späten 19. und frühen 20. Jahr-

nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses

hunderts stand die Natur im Vordergrund der Erneuerungs-

Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung

bestrebungen, die von dem Wunsch nach Versöhnung des

des Fortschritts überhaupt bilden.“5

Menschen mit seiner Umwelt getragen waren und ihren Aus-

Benjamins Zweifel am linearen Verlauf des Fortschritts schloss

druck in der Idealvorstellung der „Town-Country“ bzw.

die Ausbeutung der Natur mit ein. Gemäß seiner marxistischen

Gartenstadt fanden. Diese wurde nicht als Gegensatz zwischen

Auffassung sollte die „Arbeit, wie sie nunmehr verstanden

Stadt und Land begriffen, sondern als Idealstadt, die sich das

wird“, nicht „auf die Ausbeutung der Natur“ hinauslaufen,

Ländliche zu eigen machte und zur Natur zurückkehrte. Für

„welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Pro-

diese Bewegung, die auf einem starken kollektiven Mitgefühl

letariats gegenüber stellt“, schreibt er und bezieht sich dabei

beruhte, mussten angemessene urbane und architektonische

auf Josef Dietzgen, einen wichtigen Akteur der deutschen

Formen gefunden werden. Es entstanden ganzheitliche

6

Anmerkungen Seite 95

Streben nach Entschleunigung

65

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 66

Modelle, die einen regelrechten „Kosmos“ schufen, in dem wieder eine Resonanz zwischen Mensch und Umwelt erzeugt und der Aufbau einer genossenschaftlich organisierten Gesell-

Ebenzer Howard: Die Gartenstadt als Vorbild der modernen Agrarstadt

schaft möglich wurde, die auf gemeinschaftlichem Handeln

Als Ausgangspunkt dient uns die von Ebenezer Howard (1850–

beruhte. Welche Form haben diese Gesellschaftsmodelle ange-

1928) ersonnene „Gartenstadt“, da sie in der Folgezeit Mo-

nommen? Mit welchen Mitteln lässt sich ein kollektiver Geist

dellcharakter für zahlreiche Stadtentwicklungsvorhaben hatte.

bilden?

Heute verbinden wir mit diesem Begriff meist eine einfache Wohnform und vernachlässigen die Philosophie, die dem Kon-

Die in diesem Kapitel vorgestellten Beispiele enthalten Refle-

zept der Gartenstadt innewohnt, obwohl sie in gesellschaftli-

xionen über das Wesen und die Ausrichtung des Fortschritts.

cher Hinsicht revolutionär war – und doch ist angesichts der

Dabei geht es auch um den Status der Natur (als Freizeitraum

heutigen Krisen wieder ein wachsendes Interesse daran festzu-

und als produktive Natur) angesichts des ungebremsten

stellen. Als Reaktion auf die verheerenden Auswirkungen der

Wachstums der Industriestädte. Die Projekte übermitteln eine

Industriellen Revolution – die katastrophalen hygienischen Zu-

Kritik der Undifferenziertheit des urbanen Raums, die von der

stände in den rußgeschwärzten, überbevölkerten Städten und

rein spekulativen Dynamik des Kapitals gesteuert wird; sie unter-

das Elend der Arbeiter – stellte Howard im Londoner Kontext

breiten differenzierte, durch „starke Formen“9 gegliederte

des späten 19. Jahrhunderts weitreichende Überlegungen zum

Lebensräume, die für die Allgemeinheit bestimmt sind. Diese

Verhältnis von Stadt und Land an. Er wollte die laufende Spe-

beruhen auf einer grundlegenden Fragestellung: Wie findet man

kulationsdynamik bremsen, indem er ein alternatives Gemein-

eine Form, die der Formlosigkeit der modernen Stadt, die

schaftsmodell im ländlichen Raum vorschlug.

gemeinschaftliche Räume ausmerzt, entgegenwirkt? Wie kann

Die Gartenstadt – nachgerade ein Modell sozialer Durchmi-

man ein Gegenmodell entwerfen, das makrokosmisch und

schung – soll wie ein Magnet sowohl die Stadt- als auch die

stark genug ist, um gegen die bestehenden Dynamiken

Landbevölkerung anziehen. Um diese Idee zu veranschaulichen,

standzuhalten, und das gleichzeitig vielfältige mikrokosmische

entwarf Howard ein Diagramm mit drei Magneten, die Stadt,

Erfahrungen zulässt, die das Entstehen einer anderen Welt-

Land und die von ihm sogenannte „Town-Country“ mit ihren

beziehung konkret ermöglichen?

Vorzügen und Schattenseiten darstellen. Dem krassen Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land setzte er das Idealmodell der „Stadt in der Landschaft“10 entgegen, die idealerweise die

Ebenezer Howard, aus: Tomorrow – A peaceful Path to Real Reform, 1898, „Die drei Magneten“ 66

Zurück zur Ländlichkeit

„Social Cities“, Vernetzung der Gartenstadt

„Garden-City“, Diagramm der Gartenstadt und des umgebenden Agrarlandes

Anmerkungen Seite 95

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 67

besten Eigenschaften von Stadt und Land vereinen sollte:

ihrerseits an das Fernbahnnetz angeschlossen ist. Es ist ein re-

„Schönheit der Natur. Soziale Chancen. Leicht zugängliche

gelrechter Mikrokosmos, der nach eigenen Regeln funktioniert

Felder und Parks. Niedrige Mieten. Hohe Löhne. Niedrige

und dennoch mit der Außenwelt verbunden ist.

Steuern. Viel zu tun. Niedrige Preise. Ohne Schwitzsystem. Platz für Unternehmertum. Kapitalfluss. Reine Luft und reines

Ein politisches Modell

Wasser. Gute Kanalisation. Helle Häuser & Gärten. Kein

Howard legte besonderes Augenmerk darauf, wie die Verwal-

Rauch. Keine Slums. Freiheit. Zusammenarbeit.“

tung des Bodens als Gemeingut gestaltet sein sollte, um die

11

Howard schlug mit seiner Gartenstadt eine Kompromiss-

Spekulation zu bekämpfen. Er folgte einer politischen Vision,

lösung vor, um die Nachteile der Lebensweisen in der Stadt

die auf eine Reform des Bodenrechts sowie eine Stärkung der

und auf dem Land zu beheben. Dafür übertrug er die guten

Macht der Kommunen und des Staates im Zuge der Urbanisie-

Eigenschaften der Stadt auf das Land und umgekehrt. Auf

rung setzte. Er erwog sogar, die Banken in eine soziale Rich-

diese Weise führte er die Stadt gleichsam zum Naturzustand

tung zu reformieren: Sie sollten die Gewinne an die Stadtkasse

zurück und erhob das Land zum Kulturzustand, indem er die

ausschütten und durch die Stadtverwaltung kontrolliert wer-

herkömmliche urbane Logik vollständig umkrempelte. So

den.12 Diese Vision ist in das Zeitgeschehen eingebettet. Zur

wurde die ländliche Langeweile mit Kultur und Bildung sowie

Erinnerung: Marx hatte 1867 Das Kapital veröffentlicht, also

einer neuen Gesellschaftsordnung überwunden, in der jeder

31 Jahre vor dem Erscheinen von Howards Gartenstadt-Projekt.

Einzelne am kollektiven Leben teilnahm.

In Bezug auf den Kommunismus nahm Howard eine ambiva-

Die ideale Raumordnung basiert hier auf einem Prinzip von

lente Haltung ein: „Gewiß ist er ein vorzügliches Prinzip, und

Ringen mit einer Gartenanlage im Zentrum, um die sich das

bis zum gewissen Grad sind wir alle Kommunisten, selbst die,

Rathaus, die Kultureinrichtungen und das Krankenhaus grup-

die bei dem bloßen Gedanken schaudern, so genannt zu wer-

pieren; daran schließt ein großer „Zentralpark“ an. Rund um

den. Wir alle glauben an kommunistische Straßen, Parks, Biblio-

diesen Park läuft eine verglaste Galerie als Einkaufszentrum,

theken usw. Aber darum dürfen wir doch den Individualismus

der „Kristallpalast“. Um sie herum erstreckt sich ein Wohnviertel,

nicht unterschätzen.“13 Er verteidigt auch die Notwendigkeit

das durch Avenuen untergliedert ist; an der breitesten und

des Wettbewerbs, um das menschliche Handeln anzuspornen,

prächtigsten Avenue, die als kreisförmiger Park angelegt ist,

insbesondere hinsichtlich der Art und Weise, wie das Land zu

stehen die Schulen. Am Außenring befinden sich die Fabri-

bewirtschaften sei, da die Produktivität der Kommune eine

ken, deren Grundstücke direkt an der Ringbahn liegen, die

gute Bodenrente einbringt, die für ihr Funktionieren unerlässlich ist. Allerdings sollte der freie Wettbewerb nicht zu einem System der Ausbeutung führen; die Unternehmen seien „natürlich an das allgemeine Landesgesetz sowie an die Vorschriften gebunden, die für Werkstätten bestimmte Raumverhältnisse und gesundheitliche Bedingungen vorsehen“14. Ziel ist es, die Qualität der Produkte und die Produktion in einer gerechteren und sozial verträglicheren Weise zu verbessern. Um die Fehler des Kapitalismus zu korrigieren, soll Howard zufolge der Markt reguliert werden, damit es nicht zu Überproduktion und Handelsverlusten kommt. So sollten die Ladengeschäfte im „Kristallpalast“ der Aufsicht durch die Gemeinde unterliegen, die einen Numerus clausus festlegt, um sie vor der Konkurrenz zu schützen, gleichzeitig aber auch die Konsumenten, die, sollten sie mit den Produkten oder Preisen unzufrieden sein, fordern können, dass ein anderes Fachgeschäft dersel-

„Ward and Centre Garden-City“, Ausschnitt des Planes der Gartenstadt

Anmerkungen Seite 95

ben Branche die Genehmigung erhält, sich in der Gartenstadt

Ebenezer Howard: Die Gartenstadt

67

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 68

niederzulassen. Dieses Regulierungsprinzip oder „Prinzip der

ausbilden und, da alsdann alle zu Mitarbeitern heraufrückten,

lokalen Option“, wie Howard es nennt, sollte in einem ersten

würde der Unterschied zwischen Herren und Untergebenen

Schritt „beispielsweise auf Bäckereien und Waschanstalten

langsam verwischt werden“.21 Howards Fortschrittsbegriff

wohl angewendet werden können“, bevor es verallgemeinert

beruht auf der Idee einer gerechteren Gesellschaft, die sich

wird. So würde die Gartenstadt bessere Bedingungen bieten

selbst verwaltet und versorgt, ohne sich abzukapseln, ganz im

als die existierenden Städte. Das Idealmodell von Howard

Gegenteil.

kann weder als „absolut kommunistische[s]“ noch als „sozialis-

Für die konkrete Umsetzung übertrug Howard seine Überlegun-

tisches Experiment“ angesehen werden,16 vielmehr ist es eine

gen zunächst auf den Maßstab der Gartenstadt, erwog aber

originelle Mischung aus unterschiedlichen Aspekten des Ge-

auch ein landesweites Wachstumsmodell zu einem späteren

meinwesens und individuellen Interessen, aus sozialer Regulie-

Zeitpunkt.22 Er ging davon aus, dass die Gartenstadt aufgrund

rung und individueller Freiheit, die dem Prinzip des freien

ihrer vielen Vorzüge so viele Menschen anziehen würde, dass

15

Wettbewerbs unterliegt.

sie vergrößert werden müsste, allerdings nicht durch die

Anregungen dafür holte sich Howard in der politischen Theorie

Bebauung des umliegenden Ackerlandes, da dieses für die

von Thomas Spence (1750–1814), einem radikalen Demokraten,

Ernährung der Stadt unerlässlich ist sondern durch noch mehr

der Ende des 18. Jahrhunderts nach einem Konflikt um Gemein-

Gartenstädte. Diese müssten weit genug voneinander entfernt,

deeigentum in Newcastle eine Agrarreform formulierte, die

jedoch über Bahnverbindungen in wenigen Minuten zu erreichen

auf der Vergesellschaftung von Grundbesitz und der Bildung

sein und ein Netz aus kleineren Gartenstädten bilden, die

autonomer Pfarrgemeinden gründete, in denen nur eine ein-

um große Pole herum angeordnet wären wie Satelliten, die um

zige Steuer zu zahlen wäre, nämlich die Grundrente, die „jeder

Planeten kreisen.

an die Gemeinde abführt und die der Größe, Güte und den

Die Gartenstadt unterläuft die Dynamik der Beschleunigung,

sonstigen Vorzügen seines Grundstücks entspricht“.17 Damit

die mit dem Industrialisierungsprozess einhergeht, und entwi-

würden die Infrastruktur und die öffentlichen Gebäude sowie

ckelt ihre eigene Wachstumsdynamik, da die industrielle Pro-

die Verwaltung und die Armenhilfe finanziert. Howard interes-

duktion zwecks Verbesserung ihrer Umsetzbarkeit und Ausbau-

sierte sich auch für die frühen Schriften seines Zeitgenossen

fähigkeit Teil ihres Systems ist, allerdings anderen Prinzipien und

Herbert Spencer (1820 –1903), der, bevor er sich den Liberalen

gesellschaftlichen Regeln gehorcht. Howard ging es darum, die

anschloss, für die Agrarreform von Thomas Spence warb und

kapitalistische Dynamik der Industrie zu „entschleunigen“ und

für das „Gesetz der allgemeinen gleichen Freiheit“ eintrat.

sie auf eine andere Bahn des Fortschritts zu lenken, die statt

Im Unterschied zu diesen Modellen schwebte Howard jedoch

auf der linearen Wirtschaft auf einer Kreislaufwirtschaft beruht.

nicht die Enteignung der Eigentümer im ganzen Land vor, viel-

Die Gartenstadt versucht, ihre „Uhr“ zu verlangsamen und sich

mehr schlug er vor, „das erforderliche Land, auf dem das System

dem Beschleunigungsprozess zu entziehen, indem sie ihre

in kleinem Maßstab durchgeführt wird, anzukaufen“19 und die

eigenen Zeitlichkeiten und Funktionsregeln – gewissermaßen

Maßnahme des Landerwerbs in einem zweiten Schritt auszu-

eine parallele Raumzeit – erschafft.

weiten; er ersetzte die Pfarrgemeinde durch die Stadtgemeinde

Mit wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen und ökologischen

als alleinigem Grundeigentümer, die vollkommen eigenständig

Argumenten entwarf Howard ein ganzheitliches Modell, mit

über die zu tätigenden Investitionen entscheiden sollte. Sein

dem er das ausufernde Wachstum der Städte seiner Epoche

Modell beruhte also auf einer Art sozialistischem Kommunita-

infrage stellte. Um die „Rückkehr zur Ländlichkeit“ zu versinn-

rismus liberaler Prägung mit der Gemeinde und dem Staat als

bildlichen, bediente er sich des Kreises als vollendete Form,

Garanten einer sozialen Marktwirtschaft.

die gegen die Formlosigkeit der Industriestadt und die Zersie-

Howard schlug vor, die Produktions- und Verkaufsstrukturen zu

delung ankämpft. Mit dieser starken geometrischen Form

reformieren, indem er ein genossenschaftliches System ein-

konnte er ein gesellschaftliches Gegenmodell entwerfen, das

führte, bei dem die Arbeiter und die Angestellten der Geschäfte

der Expansionsdynamik der Stadt trotzt. Wie eine Festung

am Gewinn beteiligt und somit ermutigt würden, ihr Bestes zu

widersetzt sich die Gartenstadt dem Druck der Bodenspekula-

geben. Dies könnte sich „allmählich zu einem ständigen Brauch

tion und entwickelt im Innern eine Heterotopie mit eigener

18

20

68

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 95

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 69

Raum-, Zeit- und Gesellschaftsordnung. Die Kreisform der Gar-

Deutschland drei sehr unterschiedliche architektonische Vor-

tenstadt stellt ein Ideal dar, dessen Raumordnung an verschie-

schläge vor, die auf den jeweiligen politischen, sozialen und

dene Situationen angepasst werden kann. Es handelt sich also

ökonomischen Kontext reagierten. Was für andere Bereiche

mehr um ein Raumschema, welches einem Gesellschaftskon-

gilt, gilt auch für die Architektur: Es gibt nicht die eine Antwort

zept Gestalt verleiht, als um eine starre Stadtform.

auf eine Krise, es gibt keine universelle Wunderlösung für alle

Das utopische Modell nahm einige Jahre später, 1903, in

Probleme. Die Gartenstadt von Howard mag als Idealmodell

Letchworth konkrete Gestalt an, und Howard zählte zu den

erscheinen, doch mit ihrem enormen Flächenbedarf blieb sie

ersten Bewohnern der Gartenstadt. Sein Konzept war so

weitestgehend utopisch. Interessant ist festzustellen, dass ihre

erfolgreich, dass 1919 eine zweite Gartenstadt in Welwyn ge-

Gesellschaftsordnung, die auf genossenschaftlichen und

baut wurde (beide gehören heute zum Londoner Stadtgebiet),

demokratischen Prinzipien basiert, gerade in Zeiten akuter

und viele weitere in ganz Europa folgten.

Krisen und dringenden Handlungsbedarfs aufgegriffen wurde,

Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz lässt die Gartenstadt an das

wenn eine Bottom-up-Umorganisation mehr denn je für den

Resonanz-Konzept von Hartmut Rosa denken: Die Möglichkeit

Aufbau einer neuen Gesellschaft geeignet erscheint.

zu handeln wird hier zu einem Kernelement, und jeder Einzelne findet in dieser Gesellschaft seinen Platz und seine Rolle. Ein derartiges gesellschaftliches, politisches und ästhetisches Stadtmodell ist Ausdruck der Suche nach Resonanz in einer Gesellschaft, die sich in einer Krise befindet: Wohnform, Arbeit,

Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky: Haus mit einer Mauer und Selbstversorgergarten, 1920

Landwirtschaft, Freizeit und Kultur bilden ein ausgewogenes Ganzes und streben auf dasselbe Ideal zu.

Unter dem Gesichtspunkt der radikalen Flächenreduzierung

Angetrieben von seinem sozialen und ökologischen Engage-

des Modells von Howard ist an erster Stelle Adolf Loos (1870–

ment, gründete Howard sein Stadtmodell auf unterschiedlichen,

1933) zu nennen. Loos setzte sich, wie so manche andere sei-

ja sogar widersprüchlichen politischen Theorien. Genau das

ner Zeitgenossen, nach dem Ersten Weltkrieg für den Bau von

macht aber vermutlich die Stärke seines Modells aus: dessen

Gartenstädten für Arbeiter ein, in einer Zeit, in der die Armut

Vermögen, sich über Doktrinen hinwegzusetzen. Der Beweis

so groß war, dass die Ärmsten (insbesondere Kriegsheimkehrer)

dafür sind die vielen Gartenstädte, die in mehreren Ländern

die Wälder um Wien auf chaotische Weise abzuholzen began-

auf Betreiben von Akteuren unterschiedlicher politischer Cou-

nen, um behelfsmäßige Behausungen zu bauen und Nutzgärten

leur – Kommunisten, Sozialisten, Liberale – entstanden. Diese

anzulegen. Da Österreich nicht nur den Krieg verloren hatte,

Offenheit ist zugleich auch eine Schwäche, wenn mit der Zeit

sondern auch einen Großteil des Staatsterritoriums abtreten

die gemeinschaftliche und politische Dimension verblasst oder

musste, war das Elend hier noch größer als in anderen euro-

ganz verschwindet und schließlich die ursprüngliche Garten-

päischen Ländern. Loos sympathisierte mit den Demonstratio-

stadt (die auf einem Genossenschaftssystem beruhte) zu einer

nen der „Siedlerbewegung“ – die Mittellosesten kämpften für

Art Paradies auf Erden für Privateigentum wird, wo jeder

die Überlassung landwirtschaftlich nutzbarer Baugrundstücke –

Einzelne sein eigenes, säuberlich von anderen getrenntes

und beschloss, sich bei der Gemeinde Wien für sie einzusetzen,

Zuhause triumphierend feiert.

die ein neues Amt namens Siedlungsamt eingerichtet hatte mit der Aufgabe, die anarchisch daherkommende Bottom-up-

Im Anschluss an diese Darlegung des theoretischen Modells

Bewegung in ordentliche Bahnen zu lenken. Man wollte den

soll nun aufgezeigt werden, wie Howards Gartenstadt nach

Grüngürtel der Stadt bewahren, der als Lunge Wiens erachtet

dem Ersten Weltkrieg in der wirtschaftlich und sozial schwieri-

wurde, und einer Revolution (wie in Russland) zuvorkommen –

gen Nachkriegssituation in drei deutschsprachigen Ländern

eine Maßnahme mit einer stark politischen, sozialen und öko-

umgesetzt wurde. Obwohl sie sich auf dasselbe Modell berie-

logischen Dimension. Schon bald bekam Loos Verstärkung von

fen,alegten Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky in

der jungen Architektin Margarete Lihotzky (1897–2000; später

Österreich, Hannes Meyer in der Schweiz und Bruno Taut in

Schütte-Lihotzky, sie entwickelte die sogenannte Frankfurter

Anmerkungen Seite 95

Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky: Haus mit einer Mauer

69

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 70

Küche in den 1920er Jahren). Auch Ernst Egli, Josef Frank,

zuzuteilen – und nur ihnen. Das war letztlich ein hochpolitischer

Emil Krause, Hugo Mayer und viele andere Architekten setzten

Akt und unter den Kommunisten nicht unumstritten, da für sie

sich für den Bau neuer Arbeitersiedlungen mit Selbstversorger-

die Revolution in erster Linie ein Instrument war, um die Ge-

gärten ein. Nun galt es, für dieses Bauprogramm die Modalitä-

sellschaft zu verändern, und nicht, um sie über Wasser zu halten.

ten der notwendigen Flächenreduzierung des Howard-Modells

Wie Friedrich Engels in seinem 1872 veröffentlichten Text Zur

zu entwickeln.

Wohnungsfrage schreibt, bot die Verbindung von Haus und

Loos erkannte sofort, dass das Haus nicht das Wichtigste war,

Garten der arbeitenden Klasse die „Grundlage einer materiell

sondern der Garten, weil er die Leute ernährte und überdies

erträglichen und stellenweise behaglichen Lage“, aber auch

ihren Destruktionstrieb zu kanalisieren vermochte. Er war der

„ihrer geistigen und politischen Nullität“.25 Die herrschende

Überzeugung, dass der Garten das psychische Gleichgewicht

Klasse träume mithin von Arbeitern, die ein Häuschen besitzen,

des Arbeiters wiederherstellen konnte, der nur Fabrikarbeit

denn „die Verbindung von Landbau und Industrie, der Besitz

und Arbeitsteilung kannte und keinen Ort hatte, um sich „ab-

von Haus und Garten und Feld, die Sicherheit der Wohnung,

zureagieren“. Doch um innerlich ausgeglichen zu sein, muss

das wird heute, unter der Herrschaft der großen Industrie,

man aufbauen und zerstören können: „Gärtnerische Arbeit ist

nicht nur die ärgste Fessel für den Arbeiter, sondern das größte

die unbedingt notwendige zerstörende Ergänzung für jeden

Unglück für die ganze Arbeiterklasse“.26 Loos sah die Dinge

aufbauenden Arbeiter. Ohne diese verkommt er geistig und

freilich anders, zumal im Fall von Wien nicht die Industriellen

körperlich.“ Gartenarbeit kann somit Vergnügen bereiten, da

die Siedlungen bauten und die Arbeiter damit in eine gewisse

sie den Destruktionstrieb befriedigt, wenn man der Erde ihre

Abhängigkeit brachten, vielmehr die Arbeiter selbst mit ihrer

Früchte entreißt, um sich zu ernähren. Deshalb plädierte Loos

eigenen Arbeitskraft. Das war ein emanzipatorischer Akt. In dem

dafür, dass das Recht auf einen Garten ausschließlich den Arbei-

ihm eigenen Tonfall (immer ein bisschen flapsig, aber von

tern vorbehalten blieb, ihnen würde nämlich der Ausgleich vor-

Ernsthaftigkeit getragen) konstatierte er: „Ich bin Kommunist.

enthalten, da die Fabrikarbeit eine rein aufbauende Arbeit sei:

Der Unterschied zwischen mir und einem Bolschewiken ist nur

„Wer revolutionen vermeiden will, wie ich, wer evolutionist

der, dass ich alle Menschen zu Aristokraten, er alle Menschen

ist, soll ständig daran denken: der besitz eines gartens beim

zu Proleten machen will.“27

einzelnen muß aufreizend wirken, und wer da nicht schritt

Die Entwürfe, die Loos für die Arbeitersiedlung zeichnete,

hält, ist für jede kommende revolution oder jeden krieg

muten wie Gartenbaupläne an, wo jeder Quadratmeter der

verantwortlich.“

Gartenarbeit geweiht ist, während Freizeitaktivitäten nur in Ge-

23

24

In einer Zeit extremer sozialer Instabilität und Armut plädierte

meinschaftsgärten erlaubt sind. Um eine maximale Produktivität

Loos dafür, den Ärmsten der Armen ein Haus und einen Garten

zu gewährleisten, wurde die Kontrolle der Bewirtschaftung der

Siedlerfrauenarbeit, 1921 (links), Kleintierhof, 1924 (rechts), Fotograf: Josef Derbolav Machovsky. Die 543 Reihenhäuser der Siedlung Rosenhügel, Wien 12, entstanden nach Entwürfen von Emil Krause und Hugo Mayer gemäß dem Masterplan von Adolf Loos

70

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 95

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 71

Gärten durch die Genossenschaftsverwaltung ausgeübt. Bevor einem Siedler das Recht gewährt wurde, ein Haus zu bauen, musste er erst beweisen, dass er in der Lage war, sich richtig um seinen Garten zu kümmern; wenn nicht, war schlimmstenfalls ein Ausschluss aus der Genossenschaft die Folge.28 Der Garten musste nämlich mit drei Ernten das Überleben der Bewohnerschaft sichern, und die Plätze waren begehrt. Optimierung und Reduktion „Jede Siedlung geht vom Garten aus. Der Garten ist das Primäre, die Wohnung ist das Sekundäre“, lautete das Credo von Loos,29 der auch hier, in Korrelation zu den sozialen Gegebenheiten, eine strikte Reduktion auf das Wesentliche unterbreitete. Wie Margarete Schütte-Lihotzky in ihren Lebenserinnerungen bezeugt: „Nicht selten hausten acht oder neun Menschen in einem Zimmer, und ich fand kaum ein Kind, das nicht mit ein oder zwei Geschwistern in einem Bett schlafen musste.“30 Ihren Überlegungen zur Funktionalität des Lebensraums der Arbeiter entsprechend, entwarf sie zusammen mit Loos ein hochfunktionelles Haus mit einem einzigen beheizbaren Raum, der als Wohnküche diente und dessen Mittelpunkt der offene Kamin bildete: „[…] es ist wieder die freude an der zerstörung,

Adolf Loos, „Selbst-Versorger“: Schema für die Erschließung von Kleinsiedlungen, 1918. Entwicklungsplan für eine Siedlung mit vier verschiedenen Haustypen unterschiedlicher Größe, einem gemeinschaftlich bewirtschafteten Garten mit Fischteich, Viehfarm und Gemeinschaftskompost, einer Gemeindeweide und einem Sportplatz

die [ihn] dazu lockt, sich zum kamin zu setzen und zuzusehen, wie ein stück holz nach dem anderen verbrennt.“31 Daran angeschlossen war ein kleiner Nebenraum, den Loos und Schütte-Lihotzky „Spülküche“ nannten, wo Gemüse geschält, Geschirr gespült, Wäsche gewaschen wurde und die Bewohner:innen sich waschen konnten. Um das Ganze zu optimieren, entwarf Margarete Schütte-Lihotzky ein multifunktionales Becken aus Beton, das als Spül- und Waschbecken und als Badewanne diente, mit einem klappbaren Holzbrett, das als Arbeitsfläche und als Waschbrett genutzt werden konnte. Die Spülküche führte direkt auf eine kleine Außenterrasse, sodass man auch im Freien arbeiten konnte. In einer (idealerweise unterirdischen) Vorratskammer konnte Gemüse gelagert werden. Zum Haus gehörten ein Hühnerhof, ein Schuppen, ein Abort (Trockentoiletten) und ein Gemüsegarten mit einem Kompost, „denn die abfallstoffe des ganzen hauses samt den menschlichen fäkalien sind notwendig für die bodenbereitung“, wie Loos erläuterte.32 Der Schlafraum in der oberen Etage konnte in zwei oder drei Abteile unterteilt werden, um die Eltern von den Kindern sowie die Mädchen von den Jungen zu trennen. Er hatte wohlweislich eine niedrige Decke und einen schlichten Holzlatten-Fußboden,

Adolf Loos, Plan einer Ecktype, 1918

Anmerkungen Seite 95 und 96

Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky: Haus mit einer Mauer

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„Haus mit einer Mauer“ Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky entwickelten verschiedene Haustypen für ebenes oder abschüssiges Gelände, mit oder ohne Keller; sie entwarfen eine „Standardtype“ und eine „Ecktype“ mit Nord-Süd- und Ost-West-Ausrichtung. Für wenig Geld konnten die Arbeiter bei der Genossenschaft die Hauspläne mit Bauanleitungen für die Türen, Fenster und Dachanschlüsse erwerben. Für den Bau dieser Arbeiterhäuser entwarf Loos ein Selbstbau-System, „das keine andere Kunstfertigkeit verlangt als die, einen Nagel eintreiben zu können“.35 Seiner patentierten Bauart „Haus mit einer Mauer“ liegt die Idee zugrunde, das Tragsystem umzukehren: Nicht mehr die Fassaden übernehmen die tragende Funktion, sondern die Seitenwände. Werden die Häuser in Reihe gebaut, muss ein Hausbauer nur noch eine tragende Seitenwand errichten, da die andere vom Nachbarn gebaut wird. Die beiden Fassaden auf der Straßen- und Gartenseite sind nichttragend ausgebildet (daher ohne Fundament) und können aus einer doppelten Holzverkleidung bestehen, die wegen des Hohlraums zwischen den zwei Lagen eine minimale Isolierung durch die Luftschicht gewährleistet (wie beim amerikanischen Haus jener Zeit). Anschließend werden die Öffnungen ausgeschnitten und die Fenster und Türen eingesetzt; deren Rahmen dienen ebenfalls als Träger für die Latten der Holzverkleidung, die die Bewohner:innen selbst festnageln. Die Bauanleitung für die Häuser ist einfach und auf das Wesentliche beschränkt.

Adolf Loos, Bauart „Haus mit einer Mauer“, 1921

Die Häuser werden nicht mit staatlichen Mitteln finanziert, sonum die Bau- und Heizkosten niedrig zu halten, denn die Ritzen

dern mit den Ersparnissen, die der Betreffende durch den

zwischen den Latten begünstigten das Aufsteigen der warmen

Verkauf der Erzeugnisse aus dem eigenen Garten erzielt. Der

Luft. Außerdem: „Die heizung der oberen räume wird so be-

Staat trägt allerdings mit dem „Nucleus eines Hauses“ bei,36

werkstelligt, daß knapp vor dem schlafengehen die türen ins

der entsprechend den Gewinnen aus dem Wochenverkauf

obere stockwerk geöffnet werden und die wärme jetzt in diese

sukzessive um Bauelemente ergänzt wird, bis das Haus fertig-

räume hineinzieht, was ja in jeder mietwohnung vor dem

gestellt ist. Den „Nucleus eines Hauses“ erhalten die Arbeiter

schlafengehen gemacht wird.“ Damit die Besitzer nicht auf

nicht gegen Geld (das sie nicht haben), sondern gegen

den Gedanken kamen, einen Raum unterzuvermieten, optierte

3 000 Arbeitsstunden, die sie in den Bau der Gemeinschafts-

Loos statt für das angelsächsische Modell mit einem Zimmer-

bereiche der Genossenschaftssiedlung einbringen.

zugang vom Eingang aus für ein Betreten des Hauses über das

Für die Siedlung Friedensstadt, die auf einem bewaldeten Ge-

Wohnzimmer, wie in bürgerlichen Häusern üblich: „Wenn aber

lände gebaut wurde, das 1918 Kriegsversehrte besetzt hatten,

ein mieter durch den gemeinschaftlichen wohnraum gehen

entwarf Loos ein „Gesellschaftshaus“ mit großzügigen Außen-

müßte, ist die entscheidung über eine vermietung für den be-

bereichen, die um einen Teich angeordnet waren, sowie einem

sitzer nicht zweifelhaft. Er will keinen fremden in seinem zimmer

Wasserturm und einer Schule in der Nähe. 1921 eröffnete die

haben“, argumentierte er in seinem sozialreformerischen Elan.

Sozialreformerin Eugenie Schwarzwald im Gesellschaftshaus

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eine karitative „Gemeinschafts- und Ausspeisungsküche“, die

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Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 96

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Bedürftige mit Essen versorgte. Vor allem Frauen und Kinder

angriffen verschont geblieben, sondern dank seiner Neutralität

wirkten am Bau der Arbeitersiedlungen mit. In einer Reportage

und seines Bankenwesens auch ökonomisch weniger in Mitleiden-

über das Wien der Nachkriegszeit beschrieb die amerikanische

schaft gezogen worden. Dazu kam, dass das Genossenschafts-

Schriftstellerin Solita Solano voller Verwunderung das große

wesen hier weit entwickelt war und bessere Lebensbedingungen

Ausmaß der Bautätigkeit, die deshalb nur gemeinschaftlich er-

für die Bevölkerung bot. Auch Meyers Gartenstadt beruhte auf

folgen konnte: „Deswegen arbeiten Tausende von Frauen und

dem Prinzip der Agrargenossenschaft. Wie Adolf Loos ließ sich

Kinder unermüdlich auf den Baustellen verschiedener Siedlun-

der junge Architekt von Howards Idealen leiten, formulierte sie

gen am Stadtrand von Wien und verdienen sich so ihr zukünfti-

jedoch anders. Er verfasste eine Art poetisches Manifest für

ges Zuhause: Sie brennen Ziegelsteine, graben Fundamente

die Siedlungsgenossenschaften, die bessere Lebensbedingun-

aus, sieben Sand durch und rühren Mörtel an. Samstags und

gen für die Bevölkerung, die sich somit gesellschaftlich, wirt-

sonntags kommen die Männer dazu und arbeiten vom Mor-

schaftlich und politisch selbst organisieren kann, gewährleisten.

gengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit.“ So wurden

Meyer war zutiefst überzeugt, dass diese Form der Emanzipa-

zwischen 1920 und 1923 an die 3000 Häuser in rund 40 Arbei-

tion in Krisenzeiten eine Notwendigkeit sei.

tersiedlungen gebaut, bevor die Gemeinde die Errichtung von

Worin bestand Entschleunigung für ihn, und was verstand er

Arbeiterwohnungen in Form mehrstöckiger „Stadtinseln“ vor-

unter „Fortschritt“? Meyer war entschlossen, die Dynamik des

schrieb, den berühmten Wahrzeichen des „Roten Wien“.

Kapitalismus, die auf Gewinn und Bodenspekulation ausge-

Zusammenfassend kann man sagen, dass die kollektive Arbeit

richtet ist, einzudämmen, denn in seinen Augen konnte es

des Selbstbaus, die vereinfachte Haus-Bauweise, die Optimie-

keine Form des Fortschritts im Kapitalismus geben. Aus diesem

rung des Lebensraums und des Gartens die vier Hauptmerkmale

Grund wollte er eine neue Gesellschaft aufbauen, die auf ge-

der Wiener Arbeiter-„Gartenstädte“ sind. Diese sind weitaus

nossenschaftlichen Prinzipien basierte. Sein Manifest, seine

minimalistischer als die von Hannes Meyer in der Schweiz oder

Bauten und Bildungsprojekte für den Genossenschaftsverband

die von Bruno Taut in Deutschland, die damals über viel mehr

begründeten eine Ästhetik, die auf der Idee des Teilens als einer

Mittel verfügten. Angesichts der sozialen Notlage entwickelten

vor allem kollektiven und politischen Erfahrung beruht. Für ihn

Loos und Schütte-Lihotzky ein Wohnmodell, das angemessen

ist in diesem Teilen alles inbegriffen: die soziale Erfahrung, die

auf die Krise reagierte. Indem sie sich dem herkömmlichen

„Aufteilung des Sinnlichen“ (um die Formulierung von Rancière

bürgerlichen Haustyp ihrer Zeit widersetzten, der von der

aufzugreifen) als ästhetische und räumliche Erfahrung, bis hin

wirtschaftlichen Realität und den wahren Bedürfnissen der

zur Bauweise, in der die Idee des Kollektivs sich in der Standar-

Arbeiterschaft sehr weit entfernt war, versuchten sie eine

disierung, die einen „einheitlichen Geist der Siedler“38 schafft,

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neue Kulturform und ein neues Fortschrittsverständnis einzuführen, die stark von der angelsächsischen Moderne inspiriert waren. Den Blick in die Zukunft gerichtet, plädierten sie – wie Benjamins Engel – für ein Innehalten in der Gegenwart, um auf den Trümmern der Vergangenheit eine „neue Welt“ aus dem Nichts oder dem Fast-Nichts aufzubauen.

Hannes Meyer: Siedlung Freidorf, Muttenz, 1919 – 1924 Die Gartenstadt „Siedlung Freidorf“ am Stadtrand von Basel wurde vom Schweizer Architekten Hannes Meyer (1884–1954) unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit entworfen, wobei die Lage in der Schweiz weniger besorgniserregend war als anderswo, denn das Land war nicht nur von Bomben-

Anmerkungen Seite 96

Hannes Meyer, Postkarte „Herzliche Glückwünsche aus dem Freidorf“

Hannes Meyer: Siedlung Freidorf

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gewonnene Kapital in gemeinnützige Wohnprojekte zu investieren, um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern. Ein Leben voller Engagement So wird im Jahr 1919 der damals 30-jährige Hannes Meyer vom Vorstand des Genossenschaftsverbands VSK Bernhard Jäggi (1869–1944) beauftragt, im Basler Vorort Muttenz eine agrargenossenschaftliche Gartenstadt zu bauen. Bei dem Wettbewerb hatte Meyer und nicht sein erfahrener älterer Siedlung Freidorf, Karneval

Kollege Hans Bernoulli39 den Zuschlag erhalten, auch wegen

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manifestiert. Wie setzte Meyer sein Programm der Reduktion

seiner Begeisterung für die Genossenschaftsbewegung, die für

und Standardisierung ins Werk? Wie weit wollte er dabei

ein derartiges Projekt von entscheidender Bedeutung war.

gehen? Welcher Platz blieb dem Einzelnen im kollektiven und

Meyer, ein gelernter Maurer und Zeichner, hatte während seiner

standardisierten Kosmos von Freidorf? Wie hoffte Meyer die

Lehrjahre im Büro von Emil Schaudt in Berlin gearbeitet und

Menschen dort zu „gemeinschaftlichem Handeln“ anzuregen?

dort an der Planung der Gartenstadt Falkenberg mitgewirkt.

Und welche Rolle spielte die Ästhetik in diesem Bestreben?

Er lernte Adolf Damaschke kennen, den Mitinitiator des

Wie das österreichische Siedlungsprojekt von Adolf Loos und

Deutschen Bundes für Bodenreform (gegr. 1898), und begeis-

Margarete Schütte-Lihotzky entstand auch das von Hannes

terte sich für diese Bewegung, welche die damalige auf Groß-

Meyer im Kontext einer schweren Wirtschaftskrise, die die Schweiz

grundbesitz beruhende Landverteilung infrage stellte. Der

während des Ersten Weltkriegs erlebte und unter der vor allem

Bund praktizierte eine „Bodenreform“ nach genossenschaftli-

die Arbeiterschaft zu leiden hatte. Hunger, Armut und schlechte

chem Vorbild und orientierte sich dabei an Howards Garten-

Arbeitsbedingungen führten im November 1918 landesweit zu

stadt-Modell. Die Mieten sollten die Kosten decken, ohne

einem Generalstreik, an dem sich 250 000 Menschen beteilig-

Gewinne abzuwerfen, um jedwede Spekulation zu vermeiden.

ten und der von der Armee gewaltsam beendet wurde. Diese

Damit wurden für die Bewohnerschaft lebenslang niedrige

Ereignisse drohten den sozialen Frieden zu gefährden. Es muss-

Mieten garantiert. Das System basierte auf dem Genossen-

ten Lösungen her, um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu

schaftsprinzip, das alle Bewohner:innen sowohl im Hinblick auf

verbessern, insbesondere was Ernährung und Wohnraum be-

das Grundeigentum als auch im Hinblick auf die Verwaltung

traf. Im Krieg hatte der Verband Schweizerischer Konsumverein

und Instandhaltung der Gebäude einbezog. Meyer kam auch

(VSK), in dem damals rund 12 000 Konsumvereine zusammen-

mit der Freiland-Bewegung in Berührung (deren Wegbereiter

geschlossen waren, die ihre eigenen Geschäfte betrieben

der Ökonom Henry George und später der Sozialreformer

(Vorläufer der Coop), aufgrund gestiegener Mitgliederzahlen

Silvio Gesell waren), die eine friedliche Enteignung der Groß-

(die Produkte waren für Mitglieder viel billiger) seine Umsätze

grundbesitzer zugunsten der Allgemeinheit befürwortete. Ihr Für-

verdreifachen können. Nach dem Generalstreik zwang

sprecher in der Schweiz war Friedrich Schär, der eine Professur in

eine neue Steuergesetzgebung den Verband dazu, das

Berlin innehatte und von 1892 bis 1903 dem VSK vorstand.40

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Unter dem Einfluss der Theorien der Reformbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Ländern entstand und ihrerseits von englischen Vorbildern (dem Arts and Crafts Movement und der Garden-City von Howard) angeregt wurde, ging Meyer für ein Jahr nach England, um die Gartenstädte, deren Sozialstruktur und insbesondere die Genossenschaftsbewegungen zu studieren. Er interessierte sich auch für das Theater und Aufführungspraktiken. 1913 gründete er sein eigenes Büro in Basel, doch wegen seiner Einberufung konnte er diese Tätigkeit nicht fortsetzen. Ab 1916 arbeitete Meyer im Atelier Metzendorfs in München an drei Gartenstädten mit (Margarethenhöhe, Hüttenau, Breitenborn), danach entwarf er im Rahmen seiner Tätigkeit für den KruppKonzern die Arbeitersiedlung Kiel-Gaarden und deren vollständig standardisiertes Bausystem. Bei dieser Gelegenheit studierte er die genossenschaftlichen Maßnahmen des Konzerns, darunter das System der Konsum-Läden, die Werkzeitung, Filmvorführungen zu Aufklärungszwecken, Ausstellungen zu Lehr-

Hannes Meyer, Vogelschau der Siedlung Freidorf

zwecken und Bibliotheken. All diese sehr prägenden Erfahrungen flossen später in Meyers Projekte ein. Die Standardisierung

„Der Mensch soll wieder mit der Natur in Berührung

spielte dabei eine Schlüsselrolle, denn dadurch konnten Kosten

gebracht werden“

eingespart, aber auch ein „einheitlicher Geist der Siedler“

So lautete einer der Grundgedanken von Bernhard Jäggi,42 um

41

geschaffen werden.

die Wohnungskrise zu bewältigen, denn im überbevölkerten

Für die Arbeit an der Siedlung Freidorf ließ sich Meyer für ein

Basel waren die Wohnungen winzig und in schlechtem Zustand.

paar Jahre in seiner Geburtsstadt Basel nieder, bis er 1927 an

Sein Leben lang engagierte er sich zusammen mit seiner Ehefrau

das Dessauer Bauhaus berufen wurde. Das Siedlungsprojekt

Pauline in zahlreichen Genossenschaftsprojekten – Läden,

beschäftigte ihn intensiv: Er musste nicht nur die Pläne erstellen,

Bildungsprogramme, Kinderheime43 – und setzte sich für den

die Bauleitung machen und für den Fortgang der Baustelle

Bau von Wohnraum ein. Von der Reformpädagogik Pestalozzis

Sorge tragen, was in Anbetracht der wiederholten Streiks und

und Zschokkes inspiriert, die auf der Dreiteilung „Kopf, Herz,

des Materialmangels eine schwierige Aufgabe war, sondern

Hand“ basiert, aber auch vom utopischen Sozialismus eines

sich auch um die genossenschaftlichen Belange kümmern, ins-

Robert Owen, strebte Jäggi „sozialen Frieden, den Sieg des

besondere den Aufbau einer freiwilligen Selbstverwaltung der

Humanismus in einer künftigen vollgenossenschaftlichen Ge-

Bewohner:innen und die Ausarbeitung verschiedener kollek-

sellschaft auf privatwirtschaftlicher Basis“ an.44

tiver Programme. Sein Einsatz ging aber noch weit darüber hi-

Die Siedlung Freidorf war das Musterprojekt eines „dörflich-

naus, denn er ließ sich mit Frau und Kindern (wie der Initiator

genossenschaftlichen Sozialismus“45 und verstand sich als

Jäggi) in der Siedlung nieder. So brachte er sich voll und ganz

Gegenmodell zur kapitalistischen Wirtschaft. Ideengeber für

in die alltägliche Gestaltung dieser experimentellen Lebens-

die neue Lebensform waren die bereits erwähnten Henry George

form ein.

und Silvio Gesell. Letzterer entwickelte in seinem Buch Die natürliche Wirtschaftsordnung (1916) das Wirtschaftsmodell „Freiland und Freigeld“, das vorsah, den Boden in öffentliches Eigentum zu überführen und ein Pachtsystem zugunsten der Allgemeinheit zu lancieren.46 Das Freigeld ist ein stabiles (nicht der Inflation unterworfenes) Zahlungsmittel, das jedoch an

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Hannes Meyer: Siedlung Freidorf

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Wert verliert, wenn es nicht im Umlauf ist (um Spekulation zu verhindern). Diese Maßnahme zielte auf ein sozialeres Wirtschaftssystem ab und bildete das Fundament der Siedlungsgenossenschaft Freidorf, deren Name sich davon ableitete. Um nicht der Inflation unterworfen zu sein, hatte Freidorf eine eigene Währung, mit der die Bewohnerschaft in den kooperativen Läden einkaufen konnten, die im Genossenschaftshaus untergebracht waren. Die Gartenstadt wurde vollständig vom Verband Schweizerischer Konsumverein (VSK) finanziert. Ihm gehörten zum damaligen Zeitpunkt 360 000 konsumierende Familien an, die mittelbar 7,5 Millionen Schweizer Franken47 „zum Befreiungsversuch eines Volkstrupps, Vortrupp einer neuen Gesinnung, aus heutiger Wirtschaft und Stadt“ beisteuerten, wie Meyer 1920 in seinem Präsentationstext zur Siedlung Freidorf schreibt, der 1925 nach deren Einweihung in der Schweizer Zeitschrift Das Werk erschien.48 Der Architekt war von dieser stark kollektiven Bewegung, die Menschen aller Couleur in sich vereinte, begeistert: „Man denke: 150 Familien ergreifen gleichzeitig die Stadtflucht. 620 Menschen geschieden in Geld, Geschlecht, Glauben, Güte, Gaben, Geist und Gottheit, geeint im Willen zur Lebensgemeinschaft. 620 Menschen beschliessen hinfort Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Vorschläge zur Gestaltung der Siedlergärten

ein gemeinsames Leben in gemeinsamem Hause auf gemeinsamer Erde. So begann der Auszug ,aufs Land‘.“49 Das Genossenschaftsprojekt hatte auch eine betont pädagogische Ausrichtung, denn die Menschen sollten zur Selbstverwaltung erzogen werden. Die lebhaften Diskussionen zwischen den Mitgliedern der Genossenschaft und ihren Vorstehern waren Teil des Experiments, wie aus den Notizen des Architekten hervorgeht, der unmittelbar in die Auseinandersetzungen involviert war. Meyers Zeichnung mit dem Titel „Herzliche Glückwünsche aus dem Freidorf“ auf einer Grußkarte zeigt, wie sehr das Siedlungsprojekt mit einer paradiesischen Vorstellung verbunden war: Die Bewohner:innen tanzen nackt wie Putti auf Wolken, die einen Kranz um den dreieckigen Grundriss der Genossenschaftssiedlung bilden. Gamben, Trompeten, Trommeln und Reigen (in Freidorf gab es einen Chor und ein Orchester sowie Feste mit Gruppentänzen) veranschaulichen auf idyllische Weise die Beschäftigungen, denen die Bewohnerschaft dieses genossenschaftlichen Garten Eden nachgehen.

Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Haustypen

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Hannes Meyer beginnt seinen Präsentationstext mit einem

zusammengefügt sind. Durch das geschickte Spiel der Ver-

durchaus polemischen Postulat:

knüpfungen ergeben sich, ausgehend von einer strikt normier-

„Seit 1920 bietet im Osten von Basel die Siedelung Freidorf

ten „Zelle“, zahlreiche Raumkombinationen: „Und jede Bauzeile

dem Flieger wie dem Volksfreund ein gleicherweise rosig

ist Sippe ohne Blutsverwandtschaft und Helferkreis treuer

schimmerndes Peilziel. Dem Erdkundigen ein neuer Ort auf

Nachbarschaft.“52

der Siegfriedkarte, dem Bourgeois rotes Nest, dem Sovjet-

Um die soziale Durchmischung zu begünstigen, werden ver-

stern nicht rot genug, dem Aestheten Kaserne, dem

schiedene Haustypen entwickelt, die unterschiedlich groß sind

Gläubigen Stätte der Religionslosigkeit, dem Eigenbrödler

und über vier bis sechs Zimmer verfügen. Jedem Haus sind

Zwangserziehungsanstalt, dem Privathändler Todschlags-

zwei (kleinere oder größere) Gärten zugeordnet: ein Ziergarten

versuch an seiner Wirtschaftsform, und dem Genossenschaf-

vor dem Haus und ein größerer Nutzgarten dahinter. Howards

ter die erste schweizerische Vollgenossenschaft und eine

Modell entsprechend (aber im Unterschied zu den Arbeiter-

cooperative Rarität Europas: Das ist die Siedelungsgenos-

siedlungen von Adolf Loos), ist die Siedlung Freidorf keiner

senschaft Freidorf.“50

bestimmten sozialen Schicht vorbehalten. Bemerkenswert ist,

Die Siedlung erstreckt sich über eine Fläche von 8,5 Hektar

dass sogar die kleinsten Häuser viel geräumiger sind als die

und besteht aus 150 Wohneinheiten, die alle – eine Glanz-

zur selben Zeit in Österreich in den Arbeitersiedlungen gebau-

leistung für die damalige Zeit – an das Stromnetz ange-

ten, was mit der wesentlich besseren finanziellen Lage der

schlossen sind. Zu jedem Haus gehört ein eigener Selbstver-

Schweizer Genossenschaften zusammenhängt. Die vier Außen-

sorgergarten, zahlreiche Grünflächen mit Obstbäumen sind

mauern der Häuser sind gemauert, jedes Haus hat zwei Stock-

für alle zugänglich. In der Mitte der Agrarsiedlung steht das

werke, einen bewohnbaren Dachboden und einen Keller –

Genossenschaftshaus (1922/1923). Unter seinem Dach befinden

purer Luxus verglichen mit dem Wiener Standard jener Zeit.

sich eine Schule, ein Genossenschaftsladen „Co-op“, eine

Außerdem wird der Selbstbau nicht in Erwägung gezogen

Bibliothek, mehrere Seminarräume und ein großer Gemeinde-

(oder gefordert, wie in Wien).

saal für Feste, Sport-, Musik- und andere Veranstaltungen.

Der Garten ist ein wichtiges Thema für Meyer, allerdings sind

Meyer bedient sich der Metapher der Zelle und der Bienen-

die Vorschriften viel freizügiger als in der von Loos entworfenen

wabe aus der Biologie, um die neuartige gesellschaftliche

Arbeitersiedlung: In Freidorf können sogar „Kopfmenschen“

und bauliche Organisationsform zu beschreiben, deren

einen Garten haben. Jeder darf pflanzen, was er will (diese

Losung „Einfachheit, Gleichheit, Wahrhaftigkeit“ lautet: „… so ist Freidorfs Bauanlage […] Verkörperung dieses Versuches einer Lebensgemeinschaft von 150 Familien im bienenwabenähnlichen Zellenbau einer Siedelung. Derart entspricht strenger Satzung innern Aufbaues straffe Gliederung des Aeussern, Einhelligkeit der Siedler die Einheitsform der Häuser, die Gleichartigkeit und Gleichfarbigkeit der Hausblöcke und der Gleichklang der Hausteile. Denn die Stützen der Gemeinschaft wurden zu Säulen des Bauwerkes: Einfachheit, Gleichheit, Wahrhaftigkeit.“51 Die „Zelle“ bildet das Grundelement einer Reihenhaus-Anlage, die einem dreieckigen Schachbrettmuster ähnelt, wo die Straßen abwechselnd von Häusern und Nutzgärten gesäumt werden, sodass sich Verbindungs- und Düngerwege ablösen. In dieses Raster fügt Meyer 150 Häuser ein, die spiegelbildlich zu beiden Seiten der Gassen angeordnet sind und entweder zu Blöcken aus zwei Häusern oder zu Reihen aus vier, acht oder 14 Häusern

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Siedlung Freidorf, Genossenschaftshaus, 1924, Fotograf: Theodor Hoffmann

Hannes Meyer: Siedlung Freidorf

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Siedlung Freidorf, Eingangshalle und Eingang des Genossenschaftshauses, 1924, Fotograf: Theodor Hoffmann

Freiheit gibt es bei Loos nicht, der genaue Pläne für die Nutz-

norm aller 1350 Zimmertüren. Mit Normaltyp der 150 Bade-

gärten vorlegt). Allerdings unterliegt vor allem der Vorgarten

wannen, 150 Zentralöfen, 150 Elektroherde, 150 Wasch-

in Freidorf der sozialen Kontrolle und wird, da er den Blicken

herde, 150 Elektroboiler. Mit Normalzimmerlänge, Normal-

der anderen ausgesetzt ist, gehegt und gepflegt: „Unschwer

zimmerhöhe, Normaltreppentritt, Normalglaslaube und

erkennt der Menschenkundige an dessen Einteilung Siedlers

Normalgartenhaus. Mit genormter Dachneigung, genormtem

Gartenkunde und Charakter, und linkisch und praktisch, und

Dachgesims, genormtem Abfallrohr, genormter Abortgrube.

kraus und klar.“53 (Es sei daran erinnert, dass in der Wiener Arbei-

Mit der Norm von Glockentaster, Ladenbeschlag, Haustür-

tersiedlung die Kontrolle der Bewirtschaftung durch die Genos-

schloss, Fensterolive . . . und wo des Siedlers Sonderwunsch

senschaftsverwaltung ausgeübt wurde, wobei hier nicht der

genormte Ausführung durchbrach, ging von ihm bezahltes

Charakter der Bewohner:innen beurteilt wurde, sondern deren

Ding unentschädigt ins Eigentum Aller; Vergesellschaftung

Fähigkeit, Lebensmittel zu erzeugen – ein im Wesentlichen

des Luxus!“54

produktorientierter Ansatz.)

Diese Beschreibung macht deutlich, dass alles durchgeplant und standardisiert war, um die Kosten zu senken und die Bau-

Standardisierung

weise zu vereinheitlichen, aber auch, um die individuellen

Aus Meyers Texten spricht eine geradezu obsessive Begeiste-

Wünsche der Bewohnerschaft in Schranken zu halten.

rung für durchgehende Standardisierung, angefangen bei der

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Baustruktur bis zum kleinsten Detail. Jeder Sonderwunsch wird

Ästhetik

danach beurteilt, inwieweit er den Standards der Siedlung

Wie von Bernhard Jäggi gefordert, sollten die Häuser von ihrer

Freidorf entspricht oder nicht:

Ästhetik her der „jurassischen Bauweise“ entsprechen, erklärt

„Ein Zellenbau. Typisiert, normalisiert, standardisiert, elektri-

Meyer,55 da bei den Bewohner:innen eine abstraktere Architektur,

fiziert. Mit viererlei Fenstern und viererlei Türen. Mit einziger

deren Schlichtheit sie mit der Bauweise von Mietskasernen

Scheibennorm aller 1742 Fenster und mit einziger Füllungs-

verbinden würden, nicht gut angekommen wäre. Dabei ist

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 96

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festzustellen, dass trotz der Standardisierung aller Bauelemente

Freigeld gründet, und das in einer Zeit, in der alles zusammen-

die Anlage sehr klassisch gehalten ist, in Anlehnung an die Vil-

zubrechen scheint.

len von Andrea Palladio, den Meyer sehr bewunderte. So gestaltet er die gemeinschaftlichen Außenbereiche und Häuser

Vier Raumbilder

anhand der Kompositions- und Proportionsregeln, die er bei

Mit ebenso großer Sorgfalt richtet Meyer seine Aufmerksamkeit

Palladio ausgemacht hat. Der Brunnen mit dem Obelisken bei-

auf die kollektiven Außenbereiche, für die er spezifische Rund-

spielsweise bildet den exakten Mittelpunkt des Dorfplatzes mit

wege und Plätze vorsieht. Die Raumproportionen und Ausbli-

seinen harmonischen Proportionen.

cke, die sie den Spaziergänger:innen bieten, sind für ihn

Das Herzstück der Gartenstadt ist das in der zweiten Bauphase

wesentliche Bestandteile des Gesamtgefüges. Er entwirft vier

errichtete Genossenschaftshaus. Einige Details, wie die halbrunde Außentreppe der Eingangstür, die ein Rundfenster schmückt, erinnern an den Meisterarchitekten der Renaissance. Es ist eine klassische (fast postmoderne) Handschrift, die von der aristokratischen Villa auf eine kollektive Einrichtung übertragen worden ist. Abgesehen von diesen Details, die dem Genossenschaftshaus ein tempelartiges Aussehen verleihen, sticht das Gebäude hauptsächlich durch den Größenunterschied und die eher vertikalen Proportionen heraus, obwohl es sich von seiner Materialität und Architektursprache kaum von den Wohnhäusern unterscheidet: „Aussen und innen bleibt er ein fügsam Bauwesen dem Einheitsgesetze der Siedelung, und nur das verdoppelte Mass aller Dinge kennzeichnet den öffentlichen Bau. Der Mensch wird klein, betritt er den Tempel der Gemeinschaft. ln seiner Sicht schwant auch dem Laien das alles beherrschende Modul seines Spiels von Raum, Fläche, Öffnung

Siedlung Freidorf, Zentraler Platz mit Denkstein und Obelisk, 1919, Fotograf: Theodor Hoffmann

und Profil. lm lnnern ist Schönheitsgesetz die Folge von Grundformen des Raumes; sie geht von wagrecht zu senkrecht, von breit zu hoch, von eng zu weit, und ihr antwortet der Wandfarben Dreiklang mit Weiss – Kobalt – Zinnober.“56 Das Tempelartige ist auch im Innern deutlich zu spüren, was auf die Proportionen und die zwischen Horizontalität und Vertikalität changierende Ausrichtung zurückzuführen ist. Auch das Licht trägt zu dieser Wirkung bei, vor allem jenes, das sich durch das Rundfenster in den Flur ergießt und die Menschen in das obere Stockwerk lockt, wo sich der große Saal, die Bibliothek und die Seminar- und Versammlungsräume befinden. Die besondere Atmosphäre dieses „Tempels der Gemeinschaft“, der der Selbstverwaltung, der Kultur und dem Feiern geweiht ist, berührt die Bewohner:innen und trägt somit zur Entstehung eines Gefühls der Resonanz mit der im Entstehen begriffenen „neuen Welt“ kooperativen Miteinanders bei, die auf dem heterotopischen Prinzip von Freiland und

Anmerkungen Seite 96

Siedlung Freidorf, Brunnen mit Obelisk und Wohnhof, umgeben von Häusern mit eigenem Nutzgarten, 1919, Fotograf: Theodor Hoffmann

Hannes Meyer: Siedlung Freidorf

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„Raumbilder“, die den Bewohner:innen beim Gang durch die

Etwa fiele Schranke von Familie zu Familie, – jetzt herkömm-

Gartenstadt jeweils eine andere Stimmung vermitteln: „Prome-

lich-respektvoll verehrt, – so fiele mit dieser alle Einrichtung

nade“,57 „Spielwiese“, „Wohnhöfe“ und „stiller Platz“. Meyer

der Trennung, es fielen Gartenzäune und Scheidemauern.

richtet die Außenbereiche wie Innenräume ein, in denen die

Es entstünden gemeinsam bewirtschaftete Gartenfelder,

Bänke, Bäume und Blumen das Mobiliar bilden.

Fernheizwerk, Zentralboileranlage, Zentralküche.“61

So beschreibt er den „Wohnhof“ als einen „lange[n] Saal mit

Sollte sich die Gesellschaft grundlegend in diese Richtung ver-

vierzig Türen. Saalverhältnis 1 : 4, in Metern 25 × 100“ – ganz

ändern, so Meyers spekulativ-idealistische Schlussfolgerung,

so, als wäre er ein großer Ballsaal, zu dem hin sich viele Türen

wäre die Stadt anders angelegt und organisiert: „Etwa fiele

öffnen, nämlich die der Einfamilienhäuser. Dieses Prinzip der

geistige Bindung zum Krimskrams soeben durchlebter Stadt-

Umkehrung von innen und außen macht deutlich, dass die

kultur, fiele anmassender Maßstab von Haus und Hausteil des

Priorität auf dem kollektiven „Saal“ im Außenbereich liegt,

Kleinhauses, fiele Begriff der ,Strasse‘, der ,Symmetrie‘, des

dem Meyer dieselbe Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Pro-

,Details‘. Es entstünde in unsymmetrisch-gebrochener Haltung

portionen, Bepflanzung und Farbgebung widmet wie allen

eine mit einzig berechtigtem Respekt vor Hygiene und Rendite

anderen Bereichen auch.

aufgebaute Siedelungsform, als garten- und bautechnische

In seiner Beschreibung des Raumbilds „Der stille Platz“ macht sich

Wohnmaschinerie ein Sonnenanfang, und zugleich ein Träger

Meyer ein Vergnügen daraus, die Pflanzen zu personifizieren:

unmenschlicher Schönheit und Reinheit.“62 Dieser Wunsch

58

„Vier Platanen, persische Flüchtlinge, lauschen im Viereck

nach Asymmetrie, Gebrochenheit und Ungleichgewicht konnte

dem Plätscherbrunnen. […] Die Kammer der Irisköniginnen.

in der Siedlung Freidorf nicht umgesetzt werden, nahm aber in

Im Juni erscheinen sie allem Volke: zuerst Iris missouriensis,

Meyers späteren Projekten konkrete Gestalt an.

lanzettblättrig, spitz und spitzig, gewählt, gequält und unnahbar, ganz Amerikanerin. Hernach Maory King, gedrungen, braun und gelb, naturwüchsig und exotisch, wie eine

und der sozialen Wohlfahrtspflege: Die „Vitrine Co-op“ als

Tahitanerin von Gauguin. Zuletzt Madame Chereau, kobalt-

Modell einer runden Stadt und das „Theater Co-op“ als

blau gerändert, kultiviert, parfümiert, Französin von Rasse

Lehrstück

und von Auftreten.“

Hannes Meyer kämpfte für eine grundlegende Erneuerung

59

Auf diese Weise erzeugt Meyer eine zwischen vernunftge-

von Architektur, Gesellschaft und Kunst. Ihn interessierte, wie

leitetem Rationalismus und expressionistischer Lyrik changie-

die Ideen des Kooperativen in der Bevölkerung verbreitet

rende Atmosphäre, in der Menschen, Pflanzen, Technik und

werden konnten. Ausstellungen und Gebärdenspiel waren in

Architektur zu einer Einheit verschmelzen. Hier bei seinem

seinen Augen gute Formate, um seine Überzeugungen zu

ersten Projekt wird bereits die Idee des „Gesamtkunstwerks“

vermitteln, da diese didaktischen Mittel alle Menschen, unab-

greifbar, die Meyer wenig später in seinem Aufsatz „Die neue

hängig von Bildungsstand und Sprache, unmittelbar berühren

Welt“ (1926) darlegen wird.

können. Für den Stand der VSK auf der Exposition Internatio-

Der Architekt beschließt seinen Präsentationstext mit einem

nale de la Coopération et des Œuvres Sociales (E.I.C.O.S.; In-

Rückblick auf die Hintergründe des Siedlungsprojekts, das sich

ternationale Ausstellung des Genossenschaftswesens und der

vom Stil und seiner Symbolik her in eine lange humanistische

sozialen Wohlfahrtspflege), die 1924 in Gent (Belgien) statt-

Tradition einreiht, sowie auf dessen starker kollektiver

fand, entwarf er eine außergewöhnliche Installation. Statt dem

Dimension: „So ist Freidorf, Kind ungeklärter Zeit und vielver-

üblichen Ausstellungsformat mit ausufernden Produktpräsen-

schränkter Verhältnisse, durchaus Kompromiss; sozial zwi-

tationen, Modellen und langweiligen Statistiken zu folgen bzw.

schen Einzelmensch und Gemeinschaft, formal zwischen Stadt

sich folkloristischer Stereotypen wie Chalet, Schokolade und

und Land.“ Meyers Bestrebungen gehen allerdings noch

Kühen zu bedienen, wollte Meyer die Besucher:innen mit

einen Schritt weiter, was die kollektive Organisation mit allen

einer Art „absolutem Theater“ konfrontieren „mit dem Ziel:

daraus resultierenden baulichen Konsequenzen betrifft:

Menschenseelen durch das Schau-Spiel von Körper, Licht,

60

„Reinere Gemeinschaftsbindung ruft reinerer Siedelungsform.

80

Internationale Ausstellung des Genossenschaftswesens

Zurück zur Ländlichkeit

Farbe, Geräusch und Bewegung zu erschüttern.“63

Anmerkungen Seite 96

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 81

Hannes Meyer, Vitrine Co-op, E.I.C.O.S., 1924, Fotograf: Theodor Hoffmann

Hannes Meyer, Theater Co-op: Der Traum, Gebärdenspiel, 1924, Fotograf: Theodor Hoffmann65

Für die Ausstellung entwarf der Architekt einen rundum roten

Querschnitte durch genossenschaftliche Umwelt, als Schaustück

Saal: roter Fußboden, rote Decke, rote Wände, rote Sessel.

ohne Anfang und Ende, ohne Steigerung zum Spielschluss, ohne

In der Saalmitte stand ein riesiger Glasschaukasten mit über-

Pathos, moralinfrei und sonder Apotheose, nur Zustandsschil-

dimensionierten Co-op-Artikeln, deren Präsentation einer spie-

derung schweizerischen Gemeinschaftslebens.“66 In den Szenen

lerischen Logik sonderbarer Produktionsketten folgt: in frei

erschien die Genossenschaft als rettende Instanz für das Volk

gekrümmter Linie angeordnet, dann wieder wie zu Wohntürmen

und ermöglichte ihm, sich zu ernähren, die Schulden zu tilgen

gestapelt. Diese Anordnung erzeugt mit Bedacht eine Mehr-

und sich vom Elend zu befreien. Mit seinem Schaustück wollte

deutigkeit zwischen den Maßstäben der Konsumgüter und des

Meyer die Menschen aufrütteln, damit sie ihr Schicksal selbst in

Stadtentwicklungsplans, denn Co-op hat keinen Maßstab und

die Hand nehmen, sich mobilisieren und der Genossenschaft

umfasst alles, von der Alltagsware bis zum kollektiven Wohnen.

beitreten, um bessere Produkte billiger einzukaufen, zu günsti-

Der Aufbau dieses stadtähnlichen Gebildes folgte allerdings

geren Mieten in hochwertigeren Wohnungen zu leben, sich

einer anderen Logik als die Städte, die üblicherweise um ein

nach reformpädagogischen Prinzipien zu bilden und innerhalb

Straßennetz herum angelegt sind. Die Struktur ist hier nicht

dieser Strukturen aktiv an ihrer Selbstbestimmung mitzuwirken.

linear, sondern zyklisch und symbolisiert die fortwährende Erneuerung des Produktionsprozesses. Meyer beschrieb die

„Die neue Welt“ und die Gemeinschaftsseele

Ausstellungsgestaltung wie folgt:

Eine wichtige Rolle für den Aufbau der neuen kollektiven

„In der Saalmitte ein übergrosser Glasschaukasten: signalrotes

Gesellschaft spielt die Kunst. In seinem Aufsatz „Die neue

Aquarium der Co-op-Artikel genossenschaftlicher Produktion.

Welt“67 aus dem Jahr 1926 strebt Meyer die Verwurzelung

Am Saalende über Rechtecksausschnitt der Bühne und musik-

der Kunst in der neuen Gesellschaft an, die auf kooperativen

dosenhaftem Phonopavillon in signalroten Lettern:

Prinzipien beruht: „Kooperation beherrscht alle Welt. Die

LE THEATRE CO-OP.“64

Gemeinschaft beherrscht das Einzelwesen“, äußert er in

Das Bühnenbild für dieses Theater entwarf Meyer zusammen

einem radikaleren Ton.68 Folglich ist das „neue Kunstwerk

mit dem Genfer Schauspieler Jean Bard. Zwei Pantomimen

[…] ein kollektives Werk und für alle bestimmt“.69 Bei diesem

(das Ehepaar Bard) wurden engagiert, um für die gesamte

kollektiven Kunstbegriff drängt sich die Frage der Standardi-

Ausstellungsdauer ein Lehrstück aufzuführen: 100 Aufführungen

sierung aus idealistischer Sicht erneut auf: „Das sicherste

für 15 000 Besucher:innen. Die von Meyer ausgemachten vier

Kennzeichen wahrer Gemeinschaft ist die Befriedigung

„Kernfragen der Arbeit, Familie, Kleidung, Handel“ wurden in

gleicher Bedürfnisse mit gleichen Mitteln. Das Ergebnis

kleinen mimischen Szenen thematisiert: „So entstanden vier

solcher Kollektivforderung ist das STANDARDPRODUKT.“70

Anmerkungen Seite 96

Hannes Meyer: Siedlung Freidorf

81

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 82

Meyer schwärmt für die Wissenschaften und die neuen Tech-

Ob natürliches Milieu oder künstliche Umgebung, Bühnenbild,

nologien, die eine Standardisierung der Produkte ermöglichen,

Architektur oder Objektdesign: Stimmungen sind das, was die

und stellt fest, dass die Grenzen zwischen Mathematik, Kunst

Dinge entstehen lässt und dem Lebewesen das Gefühl gibt, zu

und Musik immer mehr verschwimmen. Er setzt sich aktiv für

existieren.“73

die Entwicklung einer neuen Kunst ein und stellt die Dimension

Dieser theoretische Ansatz nimmt im Werk von Hannes Meyer

der Wahrnehmung der herkömmlichen Kunst infrage, die aus

konkrete Gestalt an: durch die Erzeugung starker Stimmungen,

seiner Sicht der Vergangenheit angehört:

kraft derer sich die Bewohner:innen (oder Zuschauer:innen)

„Die Kunst der gefühlten Nachahmung ist in Abrüstung

von einer neuen Lebensform angezogen fühlen, die sie für das

begriffen. Die Kunst wird Erfindung und beherrschte Wirk-

Kollektiv sensibilisiert und ihr Handlungsvermögen anregt.

lichkeit. Die Kunst wird Realität. Und die Persönlichkeit?

Die neue Siedlung Freidorf, die fernab von der Stadt inmitten

Das Gemüt?? Die Seele??? Wir plädieren für die reine Schei-

von Feldern gebaut wurde, musste ästhetisiert werden, um ein

dung. Diese Drei seien in ihre ureigensten Reservate verwie-

kollektives Experimentum Mundi sein zu können. Die Sublimie-

sen: Liebestrieb, Naturgenuß, Umgang mit Menschen.“71

rung bestand in der Schaffung eines Gesamtkunstwerks, das

Wenn die Persönlichkeit auf die Libido, der Geist auf den Natur-

alles einschloss, alle Bereiche abdeckte: die Ästhetik der Archi-

genuss und die Seele auf den menschlichen Umgang reduziert

tektur und der Landschaftselemente, die Erfahrung genossen-

wird, hat die individuelle Wahrnehmung der Welt, die auf

schaftlichen Lebens, Bildung und didaktisches Theater – die

„Einfühlung“ basiert (der Begriff bildete sich im 19. Jahrhundert

Schlüsselfaktoren von Meyers Programm. Gemeinschaftliches

heraus und bezeichnet das Vermögen, sich in einen anderen

Handeln ist ein integraler Bestandteil dieses Konzepts vom

Menschen oder in ein Objekt zu versetzen ) keine Gültigkeit

neuen Menschen.

mehr. Statt von einem auf individueller Anschauung beruhen-

Meyer sieht vor allem die politische Dimension der Ästhetik im

den, einigenden Gefühl erfasst zu werden, würden wir vollends

Sinne Rancières, der Kunst und Architektur in erster Linie als

von der Kraft kollektiver Erfahrung mitgerissen. Das individuelle

„Formen der Einschreibung des Sinns der Gemeinschaft“ be-

Prinzip der Einfühlung würde somit von einem kollektiven

greift, die festlegen, „wie Werke oder künstlerische Auffüh-

Prinzip des Mitgefühls abgelöst, das mit dem Begriff der

rungen ,Politik‘ machen“.74 Durch ihre Zugehörigkeit zum

Solidarität assoziiert werden kann. Die Seele des Einzelnen träte

genossenschaftlichen Kollektiv haben die Bewohner:innen das

zugunsten einer Gemeinschaftsseele zurück. Mithin würde der

Gefühl zu existieren. Dieses Gefühl wird durch Architektur und

Begriff der Standardisierung ganzheitlich alles umfassen, von

Kunst auf ganzheitliche Weise verstärkt. Der „ästhetische Zu-

der Seele bis zum Gebäude und zum kleinsten Baudetail.

stand“, in den wir kraftvoll versetzt werden, „ist der Augen-

72

blick, in dem eine spezifische Menschheit gebildet wird“,

82

Ästhetik und das Gefühl zu existieren

schreibt Rancière mit Betonung auf dem schöpferischen

Bei Hannes Meyer verbinden sich beide eingangs dargelegten

Potenzial von Ästhetik.75 Die Architekten der Moderne wussten

Definitionen von Ästhetik. Er möchte die seelische Erfahrung,

um dieses Potenzial und versuchten es im Zuge ihres Kampfes

die von einer individuellen in eine kollektive übergeht, „ästhe-

für bessere Lebensbedingungen durch das Gesamtkunstwerk

tisieren“, und zwar in der ursprünglichen Bedeutung von Äs-

auszuschöpfen.

thetik als Lebenserfahrung. Damit nähert er sich der Definition

1926, nach Fertigstellung der Siedlung Freidorf, ging Meyer in

Gernot Böhmes an, für den die Aisthetik eine Wissenschaft der

seinen sozialen Bestrebungen noch einen Schritt weiter, indem

sinnlichen Erfahrung ist, die weder in der Eigenschaft eines

er sich dem Funktionalismus annäherte, und nahm eine radika-

Objekts noch im Zustand eines Subjekts gründet, sondern in

lere Haltung ein: „Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer

der Anwesenheit „eines zwischen Subjekt und Objekt befindli-

Prozeß, und der zweckmäßigen Funktion eines Hauses wider-

chen Etwas“, das Böhme „Stimmung“ nennt: „Indem er dem

spricht je und je die künstlerische Komposition.“76 Damit stellt

Zwischenraum, in dem die affektive Erfahrung eine beachtliche

er die Funktion ganz klar über die künstlerische Komposition,

Rolle spielt, den gebührenden Stellenwert einräumt, wird das

die immer intuitiv ist. „Idealerweise und elementar gestaltet,

Verhältnis von Objekt und Subjekt grundlegend umgestaltet.

wird unser Wohnhaus eine Wohnmaschinerie“, schließt er in

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 96 und 97

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 83

Anspielung auf das Buch Vers une architecture (1923) von

namens „Rote Bauhausbrigade“, die am Stadtumbau Moskaus

Le Corbusier, dessen Ansatz ihn begeistert und in seiner

und im Rahmen des Fünfjahresplans des Sowjetregimes am

Architektursprache immer stärker zum Ausdruck kommt.77 Sein

Bau mehrerer neuer Städte beteiligt war, darunter Birobidschan,

Wunsch nach Asymmetrie, Gebrochenheit und Ungleichgewicht

Verwaltungszentrum der Jüdischen Autonomen Oblast, in

(den er in der Siedlung Freidorf noch nicht umsetzen konnte)

Sibirien nahe der Grenze zu China. Als die stalinistischen Säu-

wird im nächsten Wettbewerbsentwurf aus dem Jahr 1926

berungsaktionen immer bedrohlicher wurden, kehrte Meyer

(zusammen mit Hans Wittmer und der Bauabteilung am

1936 in die Schweiz zurück, allerdings ohne seine Lebensge-

Dessauer Bauhaus) für eine Schule in Basel (Peterschule; er

fährtin Margarete Mengel, die als deutsche Staatsbürgerin

bekam den Zuschlag nicht) überdeutlich, wo eine riesige ein-

kein Visum bekam und 1938 standrechtlich erschossen wurde,

seitige Auskragung einen Platz überragt. Die Darstellungs-

und auch ohne den gemeinsamen Sohn, der in einem staatli-

weise, die Architektursprache und die strukturellen Errungen-

chen Erziehungsheim überlebte.80 Drei Jahre später folgte

schaften sind vom russischen Konstruktivismus und vom Funk-

Meyer einem Ruf der mexikanischen Regierung und wurde

tionalismus inspiriert, wonach die Form der Gebäude deren

Direktor des neu gegründeten Städtebauinstituts. 1943 war er

Nutzung unmittelbar widerspiegeln sollte. Die Zeit der von

an der Veröffentlichung eines „Schwarzbuchs über den Nazi-

Palladio angeregten Wohnhäuser ist vorbei und wird von der

terror in Europa“ – El libro negro del terror nazi en Europa.

funktionellen Architektur abgelöst. Die Standardisierung, die

Testimonios de escritores y artistas de 16 naciones – beteiligt,

in der Siedlung Freidorf bereits systematisch umgesetzt wurde,

das ein von deutschsprachigen Antifaschisten gegründeter

wird nun zum Kernkonzept der Moderne – vom Stuhl bis zur

Exilverlag herausbrachte.

Gemeinschaftsseele.

Meyer war zeit seines Lebens sehr engagiert, angefangen bei der Siedlung Freidorf, wo er lebte und ein Ideal umzusetzen

Eine andere Form des Fortschritts

suchte, dem er anschließend am Bauhaus und in der Sowjet-

Meyer war ein Anhänger des technischen Fortschritts, der eine

union mehr Geltung verschaffen wollte, bis hin zu seinen

Standardisierung der Bauweise ermöglichte. Gleichzeitig war

Versuchen in Mexiko, trotz aller politischen Kämpfe mit

er jedoch sehr skeptisch, welche Richtung der Fortschrittsge-

Nationalisten und Trotzkisten die Weichen für den modernen

danke im Hinblick auf die Gesellschaft und die Politik einge-

Städtebau zu stellen. Seine Ideen verdichteten sich schließlich

nommen hatte. Angezogen von der Lebensreformbewegung

in anderer Form am Ende seines Lebens, kurz vor seiner Rück-

und dem genossenschaftlichen System, die mit dem Garten-

kehr in die Schweiz, wo er 1954 starb: in den Publikationen

stadt-Modell verbunden waren, widmete er sich in seiner

eines Verlags, den er von 1942 bis zu seiner Abreise 1949

Arbeit der Gestaltung einer Zukunft, die eine andere Form

leitete, La Estampa Méxicana der Künstlervereinigung Taller

sozialen, kulturellen, künstlerischen und architektonischen

de Gráfica Popular („Werkstatt für populäre Grafik“), die

Fortschritts versprach. Meyer wirkte mit seinen eigenen

mit politischen Grafiken gegen den Faschismus kämpfte.

Mitteln – Architektur und Vermittlung – am Aufbau eines gesellschaftlichen Gegenmodells mit. Aufgrund seines Anspruchs, das Bauen als Gesamtkunstwerk zu verstehen, und seines engagierten Fortschrittsbegriffs wurde Hannes Meyer 1927 von Walter Gropius als Lehrkraft an

Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung, 1920/1933

das Dessauer Bauhaus berufen und richtete dieses in seiner

Der Deutsche Bruno Taut (1880–1938) vervollständigt nun das

Eigenschaft als Direktor von 1928 bis 1930 stärker auf bauliche

Architekten-Trio, das sich nach dem Ersten Weltkrieg um eine

und soziale Belange aus. Unter dem wachsenden Einfluss der

Neubestimmung und Aktualisierung des Howard-Modells

Nationalsozialisten in der Stadt Dessau wurde Meyer 1930

bemühte. Besonders interessant an Taut ist hier, dass seine

„wegen kommunistischer Umtriebe“78 fristlos entlassen. Er

Gartenstädte auf gesellschaftlichen und ästhetischen Visionen

ging nach Moskau und gründete dort mit sieben seiner ehe-

beruhten, die als Reaktion auf den Krieg entstanden, eines

maligen Studentinnen und Studenten79 eine Arbeitsgruppe

Krieges, der für Taut die Zerschlagung aller Hoffnungen auf

Anmerkungen Seite 97

Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung

83

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 84

die (Wieder-)Verwurzelung des Menschen in der Natur durch eine generalisierte „Läuterung“. Die Folge dieses Strebens nach radikaler Erneuerung war, dass Taut, der überladene Baustile wie den Jugendstil ablehnte, sich der japanischen Architektur mit ihrer ergreifenden Schlichtheit und ihren Naturformen zuwandte, die ihm als Vorbild dienten. Der Architekt Theodor Fischer, der Taut in seinem Büro in Stuttgart einstellte, erkannte schnell die Talente des jungen Mannes und vertraute ihm Aufträge an. So konnte er 1909 sein eigenes Architekturbüro eröffnen (zusammen mit Franz Hoffmann). Nach dem Neubau einer Mietshausgruppe in Berlin-Neukölln wurde Taut zum beratenden Architekten der Deutschen Gartenstadtgesellschaft (gegr. 1902) berufen. 1913 erhielt er den Auftrag, die Bauleitung für eine Gartensiedlung in Magdeburg zu übernehmen, außerdem sollte er den Lageplan für die neue Berliner Arbeitersiedlung „Gartenstadt Falkenberg“ erstellen. In beiden Fällen verwendete er intenBruno Taut, Blatt 17: „Das Baugebiet vom Monte Ceneroso gesehen“, aus: Alpine Architektur, 1919

sive Farben, was damals völlig unüblich war.81 Auch bei seinem berühmten „Glashaus“ für die Kölner Werkbundausstellung 1914 gab es Farben, die je nach Wetterlage und Tageszeit

den Fortschritt der Menschheit bedeutete. In seiner Verzweif-

changierten und auf den spiegelnden Facetten der Kuppel

lung zog er sich in eine Fantasiewelt zurück und zeichnete

vielfarbige rotierende Lichtstrahlen ins Innere projizierten – wie

utopische Entwürfe für ein friedliches Europa, das auf neuen

ein Kaleidoskop, das einer hypnotisierenden Maschine gleich

gemeinschaftlichen Prinzipien aufbaute – und setzte damit die

das Zeitgefühl aufhebt.

reale Raum-Zeit außer Kraft. Welche Ästhetik hat er bemüht,

84

um diese neue Welt zu skizzieren, und auf welche Weise diente

In den Kriegsjahren nehmen Utopien Gestalt an

sie ihm, als die Zeit reif war, als Ausgangspunkt für den Aufbau

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stürzte Bruno Taut in

einer besseren Welt? Was entstand aus Tauts raumzeitlichen

tiefe Verzweiflung. Er ließ sich gehen und verwahrloste

Fantasiewelten, und auf welche Weise ist er dann, als er sie in

zunehmend, um der Einberufung zu entgehen. Statt an die

die Realität übertragen konnte, die Frage der notwendigen

Front zu gehen, übernahm er die Bauleitung eines Wohn-

Reduktion angegangen?

komplexes für die Arbeiter einer Pulverfabrik. Je länger der

Bruno Taut wurde 1880 in eine verarmte bürgerliche Familie in

Krieg andauerte und je weniger Aufträge er hatte, desto

Königsberg (heute Kaliningrad) geboren. Er machte eine Aus-

mehr plagten ihn Suizidgedanken. Er tauchte ab in eine Fan-

bildung an der örtlichen Baugewerkschule und arbeitete in

tasiewelt und in das Studium von Sakralbauten – Domen,

den Sommerferien als Maurer (wie Meyer und Loos). In Berlin

Tempeln, Pagoden – und dachte über den Sinn der Welt nach.

lernte er im Büro von Bruno Möhring, wo er sich Architektur-

Auf seinen Streifzügen durch Raum und Zeit konnte er Abstand

kenntnisse aneignete, Anhänger der Lebensreformbewegung

gewinnen und die architektonischen Eigenschaften dieser Bau-

kennen. Wie Hannes Meyer begeisterte sich Taut für deren

werke auf eine friedfertige Welt übertragen, die nicht mehr auf

fortschrittliche Ideen zum Aufbau einer befreiten Gesellschaft.

religiösen, sondern auf neuen gemeinschaftlichen und sozialen

Die vielfältige Reformbewegung prangerte die menschen-

Prinzipien gründete. Dome verwandelten sich so in „Volkspa-

feindlichen Folgen der Industrialisierung, die Ausbeutung der

läste“. Von 1916 bis 1917 zeichnete Bruno Taut Die Stadt-

Arbeiter, die Armut, die Übervölkerung der Städte und die

krone 82, Ansichten einer Idealstadt, in der seine sozialreforme-

damit zusammenhängenden Krankheiten an und propagierte

rischen Ideen verwirklicht würden. So krönen anstelle der Dome

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 97

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 85

Bruno Taut, Blatt 1, „Nun blüht unsere Erde auf“, aus: Die Auflösung der Städte, 1920

Bruno Taut, Blatt 23, „Die grosse Kirche“, aus: Die Auflösung der Städte, 1920

kristalline Stahl-Glas-Bauten, die der Kultur und der Kunst

Hölderlin und Paul Scheerbart entnommen sind.

geweiht sind, die Stadt und werden zu Friedenssymbolen.

Diese drei Bücher, die Taut heimlich verfasste und zeichnete

Ab 1917 spann Taut seine utopischen Ideen mit Alpine Archi-

(als Pazifist lief er Gefahr, des Landesverrats beschuldigt zu

tektur fort, indem er dem Krieg eine andere Welt entgegen-

werden), wurden erst nach dem Krieg in der Weimarer Republik

setzte, die harmonischer, schillernder, farbiger war und die er

veröffentlicht. Sie sind als Antikriegsmanifeste anzusehen. Die

in die Alpen verlegte; überdies fügte er poetische Texte voller

Stadtkrone hat er übrigens „dem Friedfertigen“ gewidmet.

83

kosmischer Anspielungen in die Zeichnungen ein. In beiden 84

Werken reihen sich verschiedene Maßstäbe aneinander, von

„Die Stadtkrone“

der Architektur über den Bebauungsplan und dem Landschafts-

Wichtige Inspirationsquellen für Bruno Taut waren der Anarchis-

projekt bis hin zu den Sternen. Taut, der ein wichtiger Protago-

mus und der von Michail Bakunin theoretisierte „freiheitliche

nist des deutschen Expressionismus war, übertrug die Vision

Sozialismus“. Er interessierte sich besonders für die Schriften

einer utopischen Gegenwelt auf den Kristall.

von Pjotr Kropotkin und Gustav Landauer. Letzterer hatte eine

In seinem dritten Werk, Die Auflösung der Städte 85, mit Texten

romantischere, geradezu mystische Version des freiheitlichen

und Zeichnungen, die ebenfalls im Laufe der langen Kriegs-

Sozialismus entwickelt und deutete die Idee der „Menschen-

jahre entstanden, gibt Taut einen Einblick in die Quellen, die

gemeinschaft“ als eine harmonische und fruchtbare Symbiose

sein Denken befruchtet haben. Die 30 vorangestellten Zeich-

von Geist und Volk.86 Die Vorstellung eines Sozialismus, an

nungen zeigen eine Stadt, die sich allmählich auflöst, um Platz

dem die ganze Gesellschaft teilhat, war prägend für Taut, der

für utopische kristallförmige, kubische und organische Bau-

in Die Stadtkrone darauf Bezug nahm. Hier ist auch Erich

werke zu machen, die am Ende durch den unendlichen Kosmos

Baron, ein weiterer wichtiger politischer Ideengeber für den

schweben. Daran schließt sich eine Sammlung von Texten und

Architekten während des Ersten Weltkriegs, mit einem Beitrag

Zitaten an, die unter anderem Werken von Pjotr Kropotkin,

vertreten, wo zu lesen ist: „Aus der Fülle des Herzens zur geis-

Lew Tolstoi, Friedrich Engels, Karl Marx, Gustav Landauer,

tigen Alldurchdringung zu gelangen, ist das idealistische Ziel

Ernst Fuhrmann, Erich Baron, Friedrich Nietzsche, Friedrich

des romantisch-visionären Sozialismus.“87 Dieser ist, wie Taut

Anmerkungen Seite 97

Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung

85

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 86

an anderer Stelle erläutert, ein „Sozialismus im unpolitischen,

Goldene Sterne sind’s!

überpolitischen Sinne“. Taut schwebte eine soziale, offene

Der Erdball ist ganz weiß – ganz mit weißem Schnee

Struktur vor, die einer neuen Stadtform mit neuen Stätten der

umhüllt – mit leuchtendem Schnee!

Begegnung und Geselligkeit bedurfte. So überragt als Ersatz

Sternklare Winternacht auf den Höhen und im Tal!

für den Dom der alten Städte in seinen Zeichnungen in Die

Die tote Erde dreht sich immer langsamer.

Stadtkrone ein Kristallpalast das Stadtzentrum:

Doch im sammetschwarzen Himmel wird’s lebendig.“90

88

„Vom Licht der Sonne durchströmt thront das Kristallhaus

Auf diese apokalyptische Einleitung folgt eine fantastische

wie ein glitzernder Diamant über allem, der als Zeichen der

Vision: Die Erzengel öffnen ihre Rucksäcke und holen glit-

höchsten Heiterkeit, des reinsten Seelenfriedens in der

zernde Paläste hervor, die mit ihren prächtigen Farben die

Sonne funkelt.“

schneebedeckte Erde beleuchten. Der Himmel wird immer

89

Diese ausgefallene, mystisch angehauchte Sprache ist vom

schwärzer und auch die Sterne verblassen, da die Erde zur

romantischen Sozialismus Landauers und der Theosophie in-

Lichtquelle wird. Ein neues Leben ringt sich durch, das ewige

spiriert und geradezu charakteristisch für einen Teil der dama-

Leben; die Toten steigen aus ihren Gräbern und sehen sich

ligen deutschen Lebensreformbewegung.

erstaunt an. Voller Rührung fallen sie sich um den Hals. „Ja! Ja! Wer hätte nicht gern ein neues Leben begonnen!“, rufen sie

86

Paul Scheerbart: „DAS NEUE LEBEN. Architektonische

aus, und „Die Erde dreht sich schneller.“91 Nachdem Scheerbart

Apokalypse“

eine Entschleunigung vorgenommen hat („Die tote Erde dreht

Aber letztlich waren die fantastischen Visionen des deutschen

sich immer langsamer“), um die Apokalypse und das Weltende

Dichters Paul Scheerbart (1863 –1915) die wichtigste Inspirati-

anzudeuten, setzt wieder eine Beschleunigung ein, um das

onsquelle Tauts. In Die Stadtkrone gibt ein Text des Dichters

Erscheinen des erträumten neuen Lebens zu veranschaulichen,

den Auftakt („Das neue Leben. Architektonische Apokalypse“)

wo alles in einem wilden Durcheinander herumwirbelt:

und beschließt ein anderer mit dem Titel „Der tote Palast.

„Die Auferstandenen steigen die goldenen Stufen zu den

Ein Architektentraum“ den Band. Beide sind Auszüge aus dem

Schlössern und Domen empor. Es wimmelt man so!

Roman Immer mutig!, den Scheerbart 1902 veröffentlichte.

Alle Sprachen der Erde wirbeln durcheinander, daß es

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Apokalypse noch eine

mächtig durch den ganzen Himmel brummt und die Glocken

spekulative düstere Vision, ein Gedankenspiel, um sich eine neue

nicht mehr zu hören sind.“92

Welt zu erträumen, doch mit dem Ersten Weltkrieg wurde sie

Die Menschen gehen in die Kristallpaläste und werden von

zur bitteren Realität. In diesem Kontext, wo alle Hoffnungen

den Erzengeln empfangen. Doch im Innern dieser Juwele der

auf eine bessere Menschheit sich zerschlagen hatten, bekam

Baukunst denken sie nur ans Essen:

Scheerbarts Text eine ganz andere Bedeutung. Wir wollen ihn

„Marmor und Rubine, Gold und Silber, bunte Lampen und

uns etwas genauer ansehen, denn er veranschaulicht eindrück-

bunte Wände, entzückend gegliederte Kuppeln, ein bißchen

lich die Verbindung zwischen Fiktion und Architektur:

Sammet und Seide, mächtige Granitsäulen, glitzernde Glas-

„DAS NEUE LEBEN

grotten und ähnliche Sachen gibt’s ja in unüberschaubarer

Architektonische Apokalypse

Menge – doch von Hammelbraten, Schneckensalat und

Langsam dreht sich der alte Erdball um die alte Sonne, die

Feuerwein keine Spur!

nicht mehr glüht und strahlt wie einst.

,Engel, wo bleibt das Abendbrot?‘“93

Dunkelviolett scheint die alte Sonne, so daß es nie mehr

Daraufhin öffnen die Engel die Türen im Palast, doch zu ihrer

Tag wird – auf Erden niemals mehr.

größten Enttäuschung erblicken die Menschen keinen Speise-

Stille Nacht ist überall.

saal, sondern sehen sich mit ihrem alten Leben konfrontiert,

Es ist sehr sehr still.

das ihnen in diesem prächtigen Rahmen seltsam vorkommt, ja

Der Himmel ist schwarz wie schwarzer Sammet.

„so unappetitlich wie schmutzige Wäsche“. Scheerbart teilt

Die Sterne aber funkeln so hell wie sonst – wohl noch

die Menschen dann in „gute“, die mit allem zufrieden sind,

heller, da sie größer sind.

und „böse“, die sich immer nur vergnügen wollen. Als Letztere

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 97

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 87

von der „prunkvolle[n] Traumwelt eurer Wunderpaläste“ nichts wissen wollen, die ihnen die Erzengel schenken, werden sie wieder dem Tod anheimgegeben: „,Na, wenn euch der Selbstbetrug nicht paßt‘, donnern die Engel los, ,so könnt ihr ja wieder in eure Gräber zurück. Eure kannibalische Dummheit soll uns das neue Leben, das wir euch in dieser Glanzwelt darboten, nicht verleiden!‘“94 Die „guten Menschen aber, die schon dankbar sind, wenn sie bloß in einer glanzseligen Traumwelt leben können“, lachen und wollen nicht mehr. So endet die apokalyptische Geschichte genauso, wie sie begonnen hat: „Die unbeschreiblich großen Engel stecken die festlich erleuchteten Paläste wieder in ihren Rucksack, ziehen ihre Handschuhe an, nehmen ihre Dome in den Arm – und flattern davon. Bald dreht sich der ganze Erdball so langsam wie vorhin – wie ein großer Schneeball, den Kinder rollen, wenn sie einen Schneemann bauen. Die violette Sonne glüht in der Ferne wie eine Ampel, der das Öl ausgeht. Die goldenen Sterne funkeln im tiefschwarzen Sammethimmel – wie glückliche Strahlburgen. Und die Nacht ist so still – so grabesstill!“95 Die Geschichte ist nicht nur moralisch, sondern auch ironisch. Sie verspricht denen, die bereit sind, Opfer zu bringen, ein glanzvolles Leben – eine Vorstellung, die sich auf einigen Blättern von Tauts Buch Alpine Architektur wiederfindet. Scheerbart stellt die Ästhetik über die Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Genuss – als müsste man sich die Architektur und das besondere ästhetische Vergnügen, das sie bereitet, durch tugendhaftes Verhalten verdienen. Unsere Einstellung, so die Moral der Geschichte, bestimmt über unser Vermögen, Ästhetik zu genießen und glücklich zu sein. Das ist die zentrale Botschaft von Scheerbarts apokalyptischer Erzählung, die unterscheidet zwischen den Glücklichen, die sich an der Architektur erfreuen können, und den Unglücklichen, die ihrer eigenen Dummheit wegen dem Tod wieder anheimgegeben werden.

Bruno Taut, „Stadtsilhouette“, „Stadtschema“, Plan und Silhouette, aus: Die Stadtkrone, 1919

Bruno Taut: „Das Chaos“ Auf die Erzählung Scheerbarts folgt eine Reihe von Zeichnun-

als einzige Gebäude nicht den Kriterien des Nutzens unterwor-

gen und Fotografien von Städten aus der ganzen Welt, die

fen sind und deren Schönheit auf die übrige Stadt ausstrahlt.

von Domen und anderen religiösen Bauwerken wie Tempeln

Damit stellt er sich dem Trend seiner Epoche entgegen, in der

oder Pagoden „gekrönt“ werden. Daran schließen sich Refle-

diese Unterscheidung immer mehr verschwimmt. Es folgen

xionen über die Rolle der Architektur an, wobei Taut zwischen

Überlegungen über die „alte Stadt“ und im Anschluss daran

Architektur für den Alltag und Sakralbauten unterscheidet, die

ein Kapitel über das „Chaos“ als Folge des ungezügelten

Anmerkungen Seite 97

Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung

87

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Bruno Taut, „Perspektivische Ansicht“, aus: Die Stadtkrone, 1919

Wachstums der Städte, womit Taut Scheerbarts apokalyptische

der den Bau von Plätzen im italienischen Stil für dringend

Botschaft auf den Stadtraum überträgt. Taut missbilligt dieses

geboten hielt. Den modernen Städtebau lehnte er ab,98 da die

gesichtslose und der Bodenspekulation geschuldete Wachs-

Monumente oft abgesondert und auf Sichtachsen ausgerichtet

tum, insbesondere den rein profitorientierten Bau von Arbeiter-

würden, die „nach außen gebogen“ seien, wie er es aus-

silos, die wegen ihrer Dichte und Überbelegung „Mietskasernen“

drückte, und bevorzugte mittelalterliche Stadtanlagen, wo die

genannt werden und in Berlin ganz besonders menschenun-

Plätze nach innen gebogen und umhüllend seien, da das Auge

würdig sind. Er will aufzeigen, dass die Hässlichkeit dieser

auf diese Weise wie in einem Theater den gesamten Raum

Bauten die Trostlosigkeit des Daseins widerspiegelt:

erfassen könne. „Die Konzentration der Effekte aufgrund der

„Die wildesten Mietskasernenviertel, ja jedes einzelne

Menge an Dingen, die diese ,grossartige[n]‘ Interieurs ,unter

Haus steht danach immer, wie häßlich es auch sein mag,

freiem Himmel‘99 schmücken, erzeugt letztlich den Eindruck

in Harmonie zu dem Leben, das sich in ihm abspielt.

der Fülle für das Auge“, so die Analyse von Paolo Amaldi,

Und käme nun ein Gott und stellte plötzlich das herrlichste

„ja einer überbordenden Fülle, die zur Bewegung einlädt.“100

Viertel hin, so würde sich nach und nach auch das Leben in

Es sind turbinenartige Gebilde ohne stabilisierende Achsen,

solchen neuen Häusern nach ihnen richten. Aber es gehörte

in denen die Straßen von der Leere des Platzes eingefangen

wirklich ein Gott dazu. Die wenigen Menschen, die die

werden, wodurch der Effekt visueller Intensität entsteht. Doch

Trostlosigkeit und Häßlichkeit dieses materialistischen

die Stadtentwicklung unterliegt nun Gesetzen, die den Hygie-

Daseins empfanden, konnten nur langsam schürfen und,

nevorschriften Rechnung tragen. Demgegenüber hebt Taut

von einzelnen Teilgesichtspunkten ausgehend, nach einer

die Vorzüge der Gartenstadt mit ihrem Garten- und Ackerbau,

Neuordnung der Dinge suchen.“

den vielen Grünflächen und dem Ausschluss der Bodenspeku-

96

Aus diesen Zeilen spricht Tauts Wunsch, in größerem Maßstab

lation hervor. Im folgenden Kapitel „Rumpf ohne Kopf“ beklagt

und auf radikalere Weise eine neue, würdevollere und schönere

er allerdings, dass die neuen Städte im Unterschied zu den

Stadt zu erbauen. Er möchte kollektive und gemeinschaftliche

Alten keinen Kopf hätten, da die öffentlichen Bauten „zersplit-

Orte schaffen, die in der Nachfolge der gotischen Dome von

tert“ seien, um für jedermann leicht erreichbar zu sein, und die

Karl Friedrich Schinkel und Caspar David Friedrich eine neue

Staatsbauten nur noch Verwaltungsaufgaben wahrnehmen

Identität stiften97 und auf die Landschaft ausstrahlen: Stätten

würden und dadurch ihre Repräsentationsfunktion verloren

der geistigen, sozialen und materiellen „Verdichtung“.

hätten. „[W]ir müssen nach einem anderen Kopf für den Rumpf suchen“, lautet sein Fazit,101 und er legt einen Grundriss vor,

88

„Die neue Stadt“

der dem Muster der Gartenstadt folgt und eine ganz eigene

Im nächsten Kapitel „Die neue Stadt“ fasst Taut die Stadtbau-

Raumgliederung aufweist.

theorien seiner Zeit zusammen und beginnt mit Camillo Sitte,

Taut entwirft eine kreisförmige Stadt, die sich über einen Hügel

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 97

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erstreckt und nach außen durch einen Baumkranz abgegrenzt ist. Der Grundriss folgt ähnlichen geometrischen Prinzipien wie die Grundrisse der asiatischen Tempel, die Taut im ersten Teil seines Buches abgebildet hat. An der höchsten Stelle im Zentrum stehen die Verwaltungsgebäude und werden von einem Opernhaus, einem Theater und zwei unterschiedlich großen Stadthallen flankiert. Die Bibliothek ist nah am Zentrum, während die Kirchen sich über das umliegende Wohngebiet aus Reihenhäusern und Gärten verteilen. Die Stadt ist wie Howards Gartenstadt an das Eisenbahnnetz angeschlossen, allerdings führen hier die gekrümmten Bahntrassen durch das Stadtrund hindurch und umschließen eine Industriezone. Auch Parkanlagen schieben sich wie Keile in das Rund der kegelförmigen Stadt und schaffen eine Verbindung zwischen innen und außen, wobei die größte bis zum Mittelpunkt reicht. „Gebt eine Fahne“ – Plädoyer für einen universellen Sozialismus Im folgenden Kapitel „Gebt eine Fahne“, dem wohl politischsten im Buch, erklärt Taut: „Es muß auch heute [in der neuen Stadt] wie beim alten Stadtbilde sein, daß das Höchste, die Krone, sich im religiösen Bauwerk verkörpert.“102 Andererseits beobachtet er, dass die Kirchen in den Gartenstädten verstreut

Bruno Taut, Blatt 10: „Schnee Gletscher Glas“, aus: Alpine Architektur, 1919

und klein sind und „keine überragende Bedeutung finden. Auch die Gottesidee zerfließt, wie die neue Stadt selbst.“103

Was hat es schließlich auf sich, dieses oder jenes Häuschen

Es ist, als wäre in diesen zerfließenden Städten nichts mehr

oder Gebäude hübsch zu machen, wenn wir nicht das große

von Bedeutung, stellt er enttäuscht fest. Also macht sich Taut

Element kennen, das alle kleinen Wässerchen speist!“105

angesichts dieses Schwebezustands, in dem es keine Religion

Der Architekt sollte sich der Bedeutung seiner gesellschaftlichen

und keine echten Kirchen mehr gibt, auf die Suche nach neuen

Rolle bewusst werden, die bei Taut eine demiurgische Dimen-

Inhalten und Symbolen für die Gesellschaft und schlägt eine

sion hat: „Der Architekt muß sich auf seinen hohen, priesterhaft

Art universellen Sozialismus vor, der sowohl makrokosmisch als

herrlichen, göttlichen Beruf besinnen und den Schatz zu heben

auch mikrokosmisch ist:

suchen, der in der Tiefe des Menschengemüts ruht“, schreibt

„Der Sozialismus im unpolitischen, überpolitischen Sinne, fern

er vollmundig.106 Dazu bedarf es eines neuen Ideals, betont er

von jeder Herrschaftsform als die einfache schlichte Bezie-

trotz seiner Verzweiflung darüber, die Welt zusammenbrechen

hung der Menschen zu einander, schreitet über die Kluft der

zu sehen. Also versucht er neue Perspektiven aufzutun, indem

sich befehdenden Stände und Nationen hinweg und verbin-

er sich eine mögliche Erneuerung ausmalt: „Ein glückbringendes,

det den Menschen mit dem Menschen. – Wenn etwas heute

baugewordenes Ideal soll wieder erstehen und alle zum

die Stadt bekrönen kann, so ist es zunächst der Ausdruck

Bewußtsein führen, daß sie Glieder einer großen Architektur

dieses Gedankens.“104

sind, wie es einst war.“107 Schwankend zwischen Nostalgie und

Bei diesem Aufbau einer sozialistischen Welt, die auf Koopera-

Utopie, erträumt sich Taut diese neue Welt, in der das Erschei-

tion und Frieden gründet, spielt der Architekt eine Schlüsselrolle:

nen der Farbe einem Heilsversprechen gleichkommt:

„Dies wird der Architekt gestalten müssen, will er sich nicht

„Dann blüht endlich wieder die Farbe auf, die farbige

selbst überflüssig machen und will er wissen, wofür er lebt.

Architektur, die heute nur von wenigen ersehnt wird.

Anmerkungen Seite 97

Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung

89

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Bruno Taut, Hufeisensiedlung in Britz, 1927, Luftaufnahme, 2017

Die Skala der reinen ungebrochenen Farben ergießt sich

von Scheerbarts fantastischer Fiktion („Langsam dreht sich

wieder über unsere Häuser und erlöst sie von ihrem toten

der alte Erdball um die alte Sonne“), entwirft er eine Welt,

Grau-in-Grau. Und die Liebe zum Glanz erwacht: der Architekt

deren Zeitlichkeit sich durch Langsamkeit auszeichnet. An-

scheut nun nicht mehr das Blanke und Glänzende: Er weiß

hand der Fiktion kann er die Welt auf Abstand halten, um sie

es nun zu verwerten und kann von seiner neuen Warte aus,

aus der Ferne zu betrachten, weit weg genug, um träumen zu

fern vom alten Vorurteil, alles und jedes zu neuer Wirkung

können. Dank der Fantasie flüchtet er sich in eine fiktive Welt,

verteilen.“

die sich, in besseren Tagen, aus der Asche der alten erheben

108

Diese Zeilen erinnern an die glänzenden Kristallpaläste, die

wird. Raum und Zeit werden relativ und verselbstständigen

Scheerbarts Erzengel aus ihrem Rucksack holen, doch Taut

sich, losgelöst von der realen und noch apokalyptischen Welt.

verteilt nun die Farben auf alle Gebäude, vom einfachen

90

Wohnhaus bis zum Volkspalast – als könnte dieser neue

Eine nach innen gewandte, strahlende Gartenstadt

Farbkosmos die Zeit genauso anhalten wie das hypnotisie-

Diese Verschränkung von kosmischer Träumerei und gesell-

rende Kaleidoskop seines Glashauses, um eine verzauberte

schaftlicher Erneuerung ist charakteristisch für den deutschen

Welt zu erschaffen.

Expressionismus und hallt im nachfolgenden Werk des Archi-

Taut entschleunigt die Zeit, indem er mit ihr spielt. Ausgehend

tekten nach, der sich nach dem Krieg mit Leib und Seele dem

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 97

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Aufbau der erträumten neuen Welt verschreibt. Nach der

anderen, eher geradlinigen Gebäude strahlen in vielen Farben

Novemberrevolution von 1918 ruft Taut zusammen mit anderen

rund um diese ikonische „starke Form“ – eine Art abgeflachte

engagierten Architekten und Künstlern den „Arbeitsrat für

„Stadtkrone“, ein Volkspalast unter freiem Himmel, allerdings

Kunst“ ins Leben und wird dessen erster Sprecher. Ansinnen

ohne funkelnde Glaskuppel.

der sozialistischen Gruppierung ist, Kunst und Architektur der

Der Schweizer Theoretiker Martin Steinmann hat den Begriff

breiten Masse zugänglich zu machen (statt nur einer Minderheit

„forme forte“ („starke Form“) geprägt und versteht darunter

von Ästheten).

„Körper, durch deren Einfachheit die Form, das Material, die

109

Im Rahmen der Projekte des sozialen Wohnungsbaus, die Taut in den 1920er Jahren in Berlin realisiert,

110

entwickeln sich

Farbe eine grosse Bedeutung bekommen, und zwar abseits aller Verweise auf andere Bauten“.112 Das sind mit anderen

seine sozialen und ästhetischen Visionen immer weiter und

Worten Gebäude oder urbane Formen, die keine kulturellen

nehmen auch konkrete Gestalt an, obwohl das expressionisti-

Werte transportieren, sondern „ihre eigene Bedeutung sind“

sche Vokabular von der Wirklichkeit eingeholt wird und einer

und die „ihren Sinn in Beziehung zu grundlegenden Gesetzen

größeren Schlichtheit weichen muss. Farbe ist das einzige

der Wahrnehmung finden“.113 Das ermöglicht „eine unvermit-

Mittel, das ein gewisses Extra bieten kann, ohne die Baukos-

telte Erfahrung der Dinge“.114 Und genau diese Erfahrung gibt

ten zu erhöhen. So bestehen die Wohnhäuser in Tauts Garten-

es in Tauts Siedlungsprojekt. Es ist eine räumliche und zu-

städten nicht aus geometrisch angeordneten weißen oder

gleich gesellschaftliche Erfahrung, ermöglicht durch eine

lichtdurchlässigen Baukörpern, wie dies einige Bauhaus-Archi-

Form, die seinen expressionistischen Kristallpalast-Visionen

tekten anregen, sondern sind farblich gestaltet und organi-

entsprungen ist.

scher angeordnet. Die Dimension der Landschaft, der große Sorgfalt entgegengebracht wird, bettet die Architektur in ein besonderes Naturverständnis ein. Anders als beim Wiener

Die raumzeitlichen Handlungsmodi der „Rückkehr zur Ländlichkeit“

„Wohnhof“ entwirft Taut keine mehrstöckigen Wohnblöcke, sondern mit Bedacht niedrig gehaltene Gebäude (gemäß

Die vorgestellten Beispiele veranschaulichen, wie in Krisenzei-

den Prinzipien der Gartenstadt und der Arbeitersiedlung)

ten ein neues Verhältnis von Mensch und Natur ersonnen wird,

mit direktem Zugang zu großzügigen Grünflächen, wo die

um eine andersartige Gemeinschaft zu schaffen, die auf den

Bewohner:innen sich erholen und zusammenkommen, aber

Prinzipien genossenschaftlichen Handelns aufbaut. Eine solche

auch Nutzgärten anlegen können. Gemeinschaftliche und

kollektive Utopie bedarf entsprechender Stadt- und Baufor-

soziale Aspekte verbinden sich mit der Erfüllung von Grund-

men. Die krönenden Kristallbauten Tauts spiegeln die Idee

bedürfnissen.

einer vereinten menschlichen Gemeinschaft wider, die sich

Die Hufeisensiedlung

111

, die Taut mit Martin Wagner entwirft

auch in Hannes Meyers Manifest für die Genossenschaftsbe-

und die zwischen 1925 in Britz am südlichen Stadtrand von

wegung wiederfindet. Ziel dieser Vorhaben ist die Schaffung

Berlin erbaut wird, besteht aus 1285 Wohneinheiten für circa

„neuer Welten“, die alle Aspekte des Lebens erfassen. Tauts

4000 Einwohner und erstreckt sich auf einem 37 Hektar großen

Schriften und Zeichnungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs

Areal. Das Ensemble verfügt über ausreichend Freifläche,

zeugen von diesem Streben nach einer Vereinigung des Men-

damit die Bewohner Gärten anlegen und so zu ihrer Selbstver-

schen mit der Natur, der Erde, dem Himmel, dem Mond und

sorgung beitragen. Das Besondere daran ist die hufeisenför-

den Sternen – ein politisches, gesellschaftliches und ästhetisches

mige Anordnung der Gebäude in der Mitte des Wohnquartiers,

Ideal in einem. Dieses Beispiel führt uns vor Augen, dass die

wodurch eine weiträumige Gemeinschaftsfläche entsteht. Der

Konstruktion eines Imaginären auch ein erster Schritt jenseits

künstliche Teich im Zentrum ist von einem Gemeinschaftspark

aller Träumerei sein kann, um zu gegebener Zeit in der Welt

umgeben, den eine Baumreihe von den Nutzgärten trennt.

zu handeln.

Hier findet sich die räumliche Umhüllung von Sittes Städte-

Um der Formlosigkeit der Industriestadt entgegenzuwirken, die

bautheorie wieder, mit einem dynamischen Turbineneffekt, der

einer hochspekulativen kapitalistischen Dynamik ohne abseh-

gleichzeitig konzentrierend und zerstreuend wirkt. Denn die

bares Ende unterliegt, entwerfen die Architekten differenzierte

Anmerkungen Seite 97

Die raumzeitlichen Handlungsmodi der „Rückkehr zur Ländlichkeit“

91

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und durch „starke Formen“ gegliederte Stadträume. Ihr Ziel ist

den, der die Gegenwart und jegliche Zukunftsperspektive ver-

es, neuartige Orte zu schaffen, in denen sämtliche Bereiche

nichtet hatte, und begab sich in eine Fantasiewelt, die weder

mit kollektiven Werten verbunden sind, die einen kooperativen

Raum noch Zeit kennt. Er ließ die Kriegszeit gleichsam anhalten,

Gemeinschaftsgeist hervorbringen. In diesem idealistischen

indem er eine Stadt der Zukunft entwarf, die in besseren Zeiten

Bestreben laufen Gesellschaftsprogramm, Raumgestaltung

gebaut werden sollte.

und Ästhetik zusammen und erzeugen gleichsam einen holisti-

Nach dem Krieg versuchten Bruno Taut, Adolf Loos und Hannes

schen Kosmos. Howard entwarf eine kreisförmige Idealstadt, in

Meyer, den kapitalistischen Fortschrittsbegriff in eine sozialere,

der jeder Ring seine eigene programmatische und räumliche

menschenfreundlichere Richtung zu lenken. Der Zusammen-

Charakteristik besaß. Taut betonte und erweiterte dieses Prinzip

bruch der Wirtschaft in der Nachkriegszeit und die Massen-

durch die „Stadtkrone“, einen großen zentralen Platz, mit dem

armut brachten sie dazu, eine auf das Wesentliche reduzierte

die Gemeinschaft ein pulsierendes Herz erhielt. Mit seinen

Architektur zu entwerfen. Dieses Moment der Entschleunigung

Kristallpalästen, die dem „Rumpf der zerstreuten Stadt“ einen

eröffnete die Möglichkeit, ein neues Gesellschafts- und Archi-

Kopf gaben, und seinem hufeisenförmigen Platz im Zentrum

tekturmodell zu entwickeln.

der Arbeitersiedlung entstanden nach innen gewandte, endli-

Die gemeinschaftlichen Aktivitäten – in den Gartenstädten

che Räume, die gleichzeitig auf symbolische Weise ins Unend-

sind sie allgegenwärtig und finden weitestgehend im Freien

liche ausstrahlen.

und in Berührung mit der Natur statt – sind ein wirksames

Auch Meyer akzentuierte die Gemeinschaftsbereiche in der

Mittel, um die gewohnte Lebensweise, die von der Fabrikar-

Siedlung Freidorf, man denke an die halbrunde Eingangs-

beit diktiert wird, zu entschleunigen, insofern sie einen klaren

treppe zum Genossenschaftshaus oder an den Brunnen auf

Bruch markieren und den Bezug der Menschen zu Raum und

dem großen zentralen Platz mit dem Obelisken, der die sym-

Zeit verändern. Dieses Moment der Entschleunigung gibt

bolische Mitte des Gemeinschaftsbereichs markiert. Loos wie-

Menschen die Möglichkeit, anderen und letztlich auch sich

derum verlegte die Gemeinschaftsbereiche an die schönsten

selbst zu begegnen. Die Treffen im Genossenschaftshaus für

Stellen der Landschaft.

eine kulturelle Aktivität und das Anlegen des eigenen Gartens

Bei allen Entwürfen liegt der Schwerpunkt auf den gemein-

sind die ersten Schritte auf dem Weg der Auflehnung gegen

schaftlichen Außenbereichen, die mit größter Sorgfalt gestaltet

die Dynamik der Ausbeutung und für die Emanzipation der

sind. Mit ihren Architektur- und Landschaftsstrategien versuchten

Arbeiterschaft. Die von Loos aufgestellte Regel, dass man erst

die drei Architekten, der Undifferenziertheit und Gleichförmig-

beweisen müsste, imstande zu sein, einen Garten über einen

keit des urbanen Raums dadurch entgegenzuwirken, dass sie

Jahreszyklus hinweg zu bewirtschaften, bevor man sein Haus

den Genossenschaftsvorhaben starke Raumqualitäten verliehen,

selbst bauen durfte, machte die Bedingungen dieser Emanzi-

die die Bewohner:innen zu vereinen vermochten. In jeder dieser

pation deutlich: Der Mensch muss für seine Ernährung und

neuen „Parallelwelten“ wurde gemeinschaftliches Handeln zum

Unterkunft selbst sorgen können und dürfen.

Vehikel eines anderen Fortschrittsverständnisses. Im Anschluss an die Analyse dieser Architekturprojekte drängen

Reduktion/Sublimierung:

sich zwei Feststellungen auf.

Die „Rückkehr zur Ländlichkeit“ impliziert eine Reduktion, die mit dem Verzicht auf die Dinge einhergeht, die das Stadtleben

92

Entschleunigung:

ausmachen; diese Reduktion versuchen die Architekten dadurch

Deutlich wird bei allen Beispielen der gemeinsame Wunsch

zu sublimieren, dass der neue „Naturzustand“ auf eine höhere

nach Entschleunigung als Reaktion auf die durch Industriali-

Ebene gehoben wird. Alle untersuchten Beispiele weisen diesen

sierung, Kapitalismus und Bodenspekulation verursachte

doppelten Mechanismus der Reduktion/Sublimierung auf, auch

Beschleunigung. So legte Howard, um gegen die unmenschli-

wenn er jedes Mal anders vonstatten geht.

chen Lebensbedingungen anzukämpfen, ein Gegenmodell in

In seinem Gartenstadt-Entwurf sublimiert Ebenezer Howard

ländlichem Gebiet vor, das eine eigene Raum-Zeit hat. Taut

das Land durch Kultur. Sein Bauprogramm sieht eine Biblio-

wiederum wollte die zerstörerische Dynamik des Krieges been-

thek, ein Theater, einen Konzertsaal usw. vor, damit die

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 97

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Stadtbewohner:innen die mit dem Umzug in eine autarke Ge-

bildlich dargelegt hat: Der Engel versucht vergeblich, sein

meinschaft vor den Toren der Stadt verbundene Reduktion der

Treiben abzubremsen, um dort innezuhalten, wo der unkon-

kulturellen Aktivitäten verkraften können.

trollierbare Sturm einen Trümmerhaufen hinterlassen hat, der

Bei Adolf Loos wird die Reduktion des Hauses auf eine einzige

„vor ihm zum Himmel wächst“. Benjamin entwirft ein apoka-

Mauer durch den Garten sublimiert. Der Akt des Gärtnerns ist

lyptisches Spiel mit der Zeit, das sich in der Geschichte von

fundamental wichtig für das psychische Gleichgewicht der Ar-

Paul Scheerbart wiederfindet: Die Toten werden von riesigen

beiter, weil er, so Loos, die Produktionskräfte (Fabrik) und die

Erzengeln zum Leben erweckt, die Kristallpaläste auf der Erde

Zerstörungskräfte (Ernte) ausgleicht – die entscheidende Voraus-

abstellen, damit die Menschen darin lustwandeln und die

setzung, um eine Form der Resonanz wiederzufinden.

Schönheit entdecken. Der Schlüsselmoment, die winzige

Getrieben von dem Wunsch nach Gleichheit und Einheitlichkeit,

Chance, die die Menschen nicht zu ergreifen wissen, ist der

versucht Hannes Meyer die individuelle Vielheit auf ein „Stan-

Augenblick der Erkenntnis, einer nicht mehr göttlichen, sondern

dardprodukt“ zu reduzieren, einschließlich der „menschlichen

ästhetischen Offenbarung. In beiden Geschichten scheint

Seele“, die viel zu lange zulasten des Gemeinschaftsgeistes

Handeln unmöglich: Benjamins Engel vermag die Trümmer

hochgehalten wurde. Der Sublimierungsmodus dieser Reduk-

nicht wieder aufzurichten, da der Sturm ihn nolens volens fort-

tion des Individuums auf eine „Gemeinschaftsseele“ besteht

treibt, und bei Scheerbart kehren die Menschen in den Tod

darin, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das alle Aspekte des

zurück, da sie die rettende Hand der ihnen dargebotenen

Daseins erfasst, von der Erfahrung des kooperativen Gemein-

Schönheit nicht zu greifen wussten. In diesem Sinne ist die

schaftslebens über die urbane Architektur der Siedlung Freidorf

Architektur ein ästhetisches Programm, das die apokalyptische

bis hin zum didaktischen Theater Co-op.

Welt sublimiert, um Erneuerung herbeizuführen. Entschleuni-

Bruno Taut wiederum begreift die Reduktion auf das Wesentliche

gung eröffnet die Möglichkeit, zu sehen und zu handeln, ohne

(in gesellschaftlicher und geistiger Hinsicht) als Chance für die

vom Sturm des Fortschritts mitgerissen zu werden. Sie stellt

Entstehung eines kollektiven Bewusstseins, das den Weg zum

eine Form des ästhetischen und gesellschaftlichen Wider-

Frieden und zum Aufbau einer besseren Gesellschaft ebnet,

stands dar, der uns in die Lage versetzt, auf eine andere

die nicht mehr auf Religion gründet, sondern auf einem univer-

Weise die Welt zu bewohnen.

sellen Sozialismus. Reduktion ist hier die Bedingung schlechthin

Angesichts des drohenden Klimawandels und aller Folgen

zur Erreichung dieses höheren Ziels. Die Sublimierung besteht

sind die „Rückkehr zur Ländlichkeit“ und die dringend gebo-

in einem ästhetischen Akt, einer prismatischen Kristallarchitek-

tene größere Resilienz der Gesellschaft im Kontext von Über-

tur, die uns einen Einblick in die mögliche Welt geben soll, die

legungen zum Stadt-Land-Verhältnis wieder hochaktuell.

„den Menschen mit dem Menschen [verbindet]“.

Doch dafür gilt es Szenarien zu entwickeln, die die ökologi-

115

Für den Akt der Sublimierung, der im Kontext einer drastischen

sche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Dimension zusam-

Reduktion notwendig war, stützte sich Howard auf die Kultur,

mendenken, wenn wir uns einer „glücklichen Genügsamkeit“

Loos auf die Gartenernte und Meyer auf die Standardisierung,

annähern wollen, um einen Ausdruck von Pierre Rabhi aufzu-

während Taut sein Augenmerk auf die Ästhetik legte, die für

greifen.116 Wie bei den untersuchten Beispielen wird es nicht

ihn eine einigende Kraft in sich birgt, die den Aufbau einer

nur um die Befriedigung von Grundbedürfnissen gehen,

friedvollen und solidarischen Gesellschaft ermöglicht. Jeder

sondern auch um ein Nachdenken über gesellschaftliche, kul-

dieser Architekten reagierte auf seine Weise und mit seinen

turelle, ästhetische und geistige Belange als Quellen der

eigenen Mitteln auf die Gegenwart und schuf eine spezifische

Freude und Sinnhaftigkeit. Mithin beschließen wir dieses

Ästhetik. Aber trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze teilten alle

Kapitel, ohne Beispiele aus der Gegenwart anführen zu kön-

Genannten die Skepsis gegenüber der Dynamik des Kapitalis-

nen, die all diese Aspekte abdecken.

mus und legten einen anderen Weg zur Kultur und damit ein

Gleichwohl ist in jüngster Zeit ein verstärktes Interesse am

anderes Verständnis von Fortschritt nahe.

Ländlichen festzustellen, sogar von einem international so

Kommen wir kurz zu Walter Benjamin und seiner Kritik des

renommierten Architekten wie Rem Koolhaas, der sich bis

Fortschritts zurück, die er mit dem „Engel der Geschichte“

dato hauptsächlich mit dem Stadtraum beschäftigt hat.

Anmerkungen Seite 97

Die raumzeitlichen Handlungsmodi der „Rückkehr zur Ländlichkeit“

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Das 2020 von ihm herausgegebene Begleitbuch Countryside. A Report zur Ausstellung Countryside. The Future im Guggenheim Museum in New York präsentiert einen umfassenden Bericht über die ländlichen Regionen und ihre Veränderungen und zeichnet am Schluss eine optimistische Zukunftsvision, in der sich die geschützten Landstriche und die automatisierte Nahrungsmittelproduktion die Waage halten. Im Katalog der Ausstellung Taking the Country’s Side, die 2019 auf der Architekturtriennale in Lissabon gezeigt wurde, untersucht Sébastien Marot die Folgen der industriellen Landwirtschaft für den Lebensraum. Thematisiert wird auch die Verwundbarkeit der Großstädte angesichts der ökologischen Krise, insbesondere im Hinblick auf die Autonomie in der Nahrungsmittelversorgung, und es werden vier Zukunftsszenarien zum Stadt-Land-Verhältnis entwickelt. In diesem Zusammenhang sind unter anderen zwei Studien rund um das Thema „ökologischer Wandel“ zu nennen: die 2018 von der Fondation Braillard Architectes lancierte Umfrage „Visionen für die Großregion Genf“ und die 2020 vom Département für Raumplanung des Ministeriums für Energie und Raumplanung des Großherzogtums Luxemburg lancierte Zukunftsstudie „Luxembourg in Transition – Visions territoriales pour le futur décarboné et résilient de la région fonctionnelle luxembourgeoise“. Sie entwickeln verschiedene Szenarien für Großregionen zum Verhältnis zwischen den städtischen Magneten und dem Hinterland, wobei der Fokus auf der Neuordnung der grenzüberschreitenden Gebiete und dem ländlichen Raum liegt, was bisher kaum erforscht wurde. Im kleineren Maßstab erfahren immer mehr Bauprojekte im ländlichen Raum mit großer architektonischer Qualität eine konkrete Umsetzung, darunter auch solche, die sich als Gegenreaktion auf die Großstädte, diese Hochburgen des Kapitalismus und der Globalisierung, verstehen. In ihrem jeweiligen Rahmen bewirken sie durchaus kleinere Veränderungen, doch was bislang nicht auf der Tagesordnung steht, sind großangelegte Projekte von hoher Durchschlagskraft in gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher, genossenschaftlicher und ästhetischer Hinsicht (wie die hier vorgestellten Beispiele), ebenso wenig wie die effiziente Vernetzung der neuen ländlichen Städte117 nach dem Vorbild von Howards Gartenstädten. Möge dieser Mangel uns zu neuartigen Ideen und Narrativen inspirieren – in Praxis, Forschung und Lehre.

94

Zurück zur Ländlichkeit

Anmerkungen Seite 97

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Anmerkungen

Entfernung von der Arbeit. Hohe Mieten und

sollte zu einem niedrigen Preis erworben

Preise. Überlange Arbeitszeiten. Slums. Heer

werden; es gehört der Stadtgemeinde und

von Arbeitslosen. Nebel & Rauch. Verdorbene

wird von vier Personen treuhänderisch verwal-

1 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur

Luft. Mietskasernen“. Die Stadt hat aber auch

tet. Alle Bodenrenten sind an die Verwalter zu

Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin 1989

Vorteile: „Gesellschaftliche Gelegenheiten.

zahlen, die „nach den nötigen Abzügen für

(hier 12. Aufl. 2022), 363.

Vergnügungsstätten. Hohe Löhne. Gut be-

Zinsen und Amortisationsfonds“ den Über-

2 Leibniz, De rerum originatione radicali (1697),

leuchtete Straßen“. Rechts im Diagramm sind

schuss an die Stadtgemeinde aushändigen.

in: Opera philosophica, hg. von Johann

die Schattenseiten des Landlebens aufgelistet:

Diese verwendet den Überschuss „zur Schaf-

Eduard Erdmann, Berlin 1840, 150 (zit. nach

„Mangelndes Gesellschaftsleben. Hände ohne

fung und Instandhaltung aller öffentlichen

Koselleck, ebd., 362).

Arbeit. Brachliegendes Land. Niedrige Löhne.

Anlagen wie Straßen, Schulen, Parks usw.“

3 Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge (1794),

Mangelnde Kanalisation. Mangel an Vergnü-

(ebd., 59f.)

in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von

gungen. Kein Gemeinsinn. Notwendigkeit von

21 Ebd., Siebentes Kapitel, 104.

der Königlich Preußischen Akademie der

Reformen. Überfüllte Wohnungen. Verlassene

22 Ebd., Achtes Kapitel, 109: „Wie dieses

Wissenschaften, Berlin/Leipzig 1912, 325 – 339,

Dörfer“; dieses hat aber auch Vorteile:

umfassendere [Gartenstadt-]Experiment der

hier 332.

„Schönheit der Natur. Wald. Wiese. Lange

Nation zu einem neuen Bodenrecht, das dem

4 Walter Benjamin, Über den Begriff der

Tage [weil es mehr Sonne gibt als in den

allgemeinen Rechtsempfinden entspricht, und

Geschichte (1940), in: Gesammelte Schriften,

dunklen Städten]. Gute Luft. Reichlich Wasser.

zu vernünftigen Anschauungen über Städte-

Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann

Heller Sonnenschein. Niedrige Mieten.“

bau verhelfen soll, so sind die verschiedenen

Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980,

11 Ebd.

promunizipalen Unternehmungen der Garten-

Kap. IX, 697f. (Hervorh. im Original).

12 Ebd., Achtes Kapitel, 109. Nach dem Vor-

stadt dazu bestimmt, die Wohlfahrt und

5 Ebd., Kap. XIII, 701.

bild der Post und der Sparkasse müsste auch

Weiterentwicklung dieses Gemeinwesens zu

6 Ebd., Kap. XI, 699.

das Bankinstitut „nicht so sehr den Gewinn

fördern.“

7 Ebd.: „Zu dem korrumpierten Begriff von

seiner Gründer als die Wohlfahrt der Allge-

23 Adolf Loos, Regeln für die Siedlung (Hand-

Arbeit gehört als sein Komplement die Natur,

meinheit anstreben. Eine derartige Bank

schrift, 1920), in: Die Potemkinsche Stadt.

welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat,

könnte statutengemäß festsetzen, daß der

Verschollene Schriften 1897–1933, hg. von

‚gratis da ist‘.“(Hervorh. im Original)

ganze Reingewinn oder die Summe, die eine

Adolf Opel, Wien 1983, 178.

8 Ebd.: „Nach Fourier sollte die wohlbeschaf-

bestimmte Dividende übersteigt, in die Stadt-

24 Adolf Loos, Die moderne Siedlung (1926),

fene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben,

schatulle fließt und daß der Stadtverwaltung

in: Sämtliche Schriften, Bd. 1: Ins Leere

daß vier Monde die irdische Nacht erleuchte-

das Recht zusteht, die Verwaltung der Bank

gesprochen: 1897–1900. Trotzdem. 1900 –1930,

ten, daß das Eis sich von den Polen zurückzie-

ganz in ihre Hand zu nehmen von dem Augen-

hg. von Franz Glück, Wien/München 1962,

hen, daß das Meerwasser nicht mehr salzig

blick an, wo sie von ihrer Nützlichkeit und der

402– 428, hier 406.

schmecke und die Raubtiere in den Dienst des

Gesundheit ihrer wirtschaftlichen Prinzipien

25 Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage

Menschen träten. Das alles illustriert eine

überzeugt ist.“

(1872), in: Karl Marx, Friedrich Engels – Werke,

Arbeit, die, weit entfernt die Natur auszubeu-

13 Ebd., Neuntes Kapitel, 116.

Bd. 21, 5. Aufl. (unveränd. Nachdruck der 1.

ten, von den Schöpfungen sie zu entbinden

14 Ebd., Erstes Kapitel, 64.

Aufl. 1962), Berlin/DDR 1975, 325–334, hier 330

imstande ist, die als mögliche in ihrem Schoße

15 Ebd., Siebentes Kapitel, 104.

26 Ebd., 332.

schlummern.“

16 Ebd., Neuntes Kapitel, 117; die Sozialisten

27 Elsie Altmann-Loos, Lina Loos, Claire Loos,

9 Martin Steinmann, La forme forte. Für eine

befürworten ein absolutes staatliches

Adolf Loos – der Mensch, hg. von Adolf Opel,

Architektur diesseits von Zeichen, in: Ders.,

Monopol.

Wien 2002, 222.

Forme Forte. Schriften/Ecrits 1972 – 2002, hg.

17 Ebd., Elftes Kapitel, 124. Vgl. Thomas

28 Vgl. Loos 1983 (Regeln für die Siedlung), 179.

von Jacques Lucan und Bruno Marchand,

Spence, The Real Rights of Man (Pamphlet,

29 Ebd., 178.

Basel/Boston/Berlin 2003, 189 – 208, hier 197.

1775) und The Nationalization of the Land

30 Margarete Schütte-Lihotzky, Warum ich

10 Ebenezer Howard, Gartenstädte von

(1775 und 1782), dt. Das Gemeineigentum am

Architektin wurde, hg. von Karin Zogmayer,

morgen. Das Buch und seine Geschichte, hg.

Boden, a. d. Engl. von Fritz von Eichmann,

Salzburg 2004, 28.

von Julius Posener, Basel, Gütersloh/Berlin

Leipzig 1904.

31 Loos 1962 (Die moderne siedlung), 415;

2015, 57 [Einträge im Diagramm ohne dt.

18 Howard 2015, Zehntes Kapitel, 125.

[ihn]: den Engländer. Loos bezieht sich hier auf

Übers.]. Als Nachteile der Stadt führt Howard

19 Ebd.

die englische Wohnkultur mit dem Kamin im

im Diagramm u. a. auf: „Ausschluss der Natur.

20 Ebd., Erstes Kapitel, 59f.: Das Gelände

Wohnzimmer.

Anmerkungen zu Seite 64 – 71

95

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 96

96

32 Ebd., 411f.

51 Ebd., 49.

Ablauf der Stücke vorgegeben, deren didak-

33 Ebd., 420.

52 Ebd.

tischer und pädagogischer Charakter ein

34 Ebd.

53 Ebd.: „Ein Zellenbau mit einem grossen

Beispiel aus der Traumszene verdeutlicht:

35 Loos 1983 (Regeln für die Siedlung), 179.

Garten. Roter Reiz in grüner Ruhe. Steinernes

„Der Traum. ,Einer armseligen Familie erscheint

36 Ebd.

Freundschaftsband läuft seine Mauer ringsum

im Traumgesicht die wahre Genossenschaft.‘

37 Solita Solano, Vienna – A Capital Without

von Kopfbau zu Kopfbau. Grünes Schutzband

Elend! Eine Mutter und zwei Kinder schlafen.

a Nation, in: National Geographic Magazine,

folgen ihr windwärts die Kirschbäume. Wo

Eine Kaffeekanne schwankt im Raum. Herab-

Vol. XLIII, Nr. 1, Januar 1923, Washington

längs der Autostrasse Freidorfs Kleinwelt das

kunft einer schwarzen Spinne. Entsetzen der

D. C., 77–102, hier 83 – 86.

Getriebe grosser Welt berührt, legt sich als

Mutter. Sie ohrfeigt die Kinder. – Auftreten

38 Hannes Meyer, Bauen und Gesellschaft.

Grüngürtel die Promenade zwischen Strassen-

des Vaters. Die Spinne flieht. Stille und Erwar-

Schriften, Briefe, Projekte, hg. von Lena

staub und Wohnbezirk. Mit Ligusterhecke,

tung. Aus einem Papier wickelt der Vater

Meyer-Bergner, Dresden 1980, Kap. „Die

Grasnarbe und Nussbaumallee erkämpft sie

einen Brotlaib. Das Papier ist ein Co-op-Plakat.

Siedlung Freidorf“, 14.

dem Staudenreich ihrer 2000 winterharten

Der Vater heftet es an die Wand. Erregung

39 Bernoulli, der sich ebenfalls für den

Blumen, vegetative Vertreter aller Erdteile,

der Familie. — Schlummer. Schlaf. Schnarcheln.

Genossenschaftswohnbau einsetzte, machte

eine blühwillige Existenz. Der Genossenschaft

Stöhnen. Das Traumbild: Die Co-op-Packungen

sich wenig später mit seinem Einsatz für die

Vorbehalt gilt alle Kultur von Hochstamm-Nutz-

steigen herab: Würste, Waren, Wickelkind,

Bodenreform in Genf (zusammen mit Maurice

bäumen, hingegen bleibt Anlage des Kleingar-

gauckeln und entschwinden. Das Bild der

Braillard) einen Namen.

tens dem Siedler völlig anheimgestellt.“

Zukunft steigt auf, riesengross. Die Hand der

40 Meyer 1980, 10 –14.

54 Ebd.

Rückvergütung kommt herab, gold-beladen.

41 Ebd., 14.

55 Meyer 1980, 11.

Gierig greifen Mutter und Vater danach: der

42 Zit. nach Lukas Gruntz, 100 Jahre Siedlung

56 Meyer 1925, 50.

Spuk zerfällt. Die Familie erwacht. Am Phono-

Freidorf: Pioniergeist an der „äussersten Ge-

57 Ebd., 50f.: „Die Promenade: Vorhalle

graph: Zopfenberger Mazurka. — Peer Gynt

schmacksgrenze“, veröffentlicht am 5.1.2019

eigentlich, daher die Eile. Alles läuft zur Tiefe;

Suite: Anitras Tanz. Tanz in den Hallen des

von Architekturbasel:

perspektivisch zu verstehen: Holzmaste, Tele-

Bergkönigs. — Gruss aus Nottwil.“ (ebd., 331)

https://architekturbasel.ch/100-jahre-siedlung-

phondrähte, Wallnussbäume, Gartenmauern,

66 Ebd., 331.

freidorf-pioniergeist-an-der-aeussersten-ge

Ligusterhecken, torfbraunes Zickzack der

67 Hannes Meyer, Die neue Welt, in: Das

schmacksgrenze/ (zuletzt am 11.1.2023).

Beete, Spazierweg und darauf Leute, Kinder-

Werk, Bd. 13, 1926, 205 –224; ebenfalls in:

43 Susanne Stacher, Sublime Visionen.

wagen, Zweiräder. Dazwischen rhythmischer

Meyer 1980, 27– 32.

Architektur in den Alpen, Basel 2018, Kap. 4

Kampf der Wagrechten mit den Senkrechten,

68 Meyer 1980, 29 (Hervorh. im Original).

„Kampf um das Kind“, 136f.

der Mauern und Hecken mit den Stangen und

69 Ebd., 31 (Hervorh. im Original).

44 Meyer 1980, 7f.

Pappeln, der Nussbaumkette und Stauden-

70 Ebd., 30.

45 Zit. nach Matthias Möller, Leben in

reihe mit den Kopfbauten und Gartentoren.

71 Ebd., 32 (Hervorh. im Original).

Kooperation. Genossenschaftlicher Alltag in

Ach diese Gartenportale! Vertraulich und ver-

72 Vgl. Robert Vischer, Über das optische

der Mustersiedlung Freidorf bei Basel (1919 –

traut, halb Bärenzwinger, halb Klosterpforte.

Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik, Diss.,

1969), Frankfurt a. M./New York 2015, 11.

Mit zwei Schwarzpappeln daneben, Populus

Leipzig u. a. 1873. Vischer zufolge ist dies ein

46 Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsord-

italicus, Italiener, bei jedem Luftzuge fröstelnd

seelischer Akt, der darin besteht, wahrnehm-

nung durch Freiland und Freigeld, Selbst-

und wispernd. –“ (Hervorh. im Original).

bare äußere Phänomene mit geistigen Inhalten

verlag, Les Hauts-Geneveys, 1916.

58 Ebd., 51.

zu füllen. Theodor Lipps fügte eine künstleri-

47 In einem anderem Text von Meyer mit dem

59 Ebd.

sche Dimension hinzu: Beim Betrachten eines

Titel „Curriculum vitae“ wird die Summe von

60 Ebd.

Kunstwerks verschmilzt das Ich mit dem

8,2 Millionen Schweizer Franken genannt, in:

61 Ebd.

betrachteten Objekt und ruft ästhetisches Ver-

Meyer 1980, 11.

62 Ebd.

gnügen hervor. (Vgl. Theodor Lipps, Zur Ein-

48 Hannes Meyer, Die Siedelung Freidorf.

63 Hannes Meyer, Das Theater Co-op, in:

fühlung, in: Psychologische Untersuchungen,

Erbaut durch Hannes Meyer, Basel, in: Das

Das Werk, Bd. 11, 1924, 329– 332, hier 332

hg. von Th. Lipps, Bd. 2, Heft 2 und 3, Leipzig

Werk, Bd. 12, 1925, 39–51, hier 40:

(Hervorh. im Original).

1913, 111–491.)

http://doi.org/10.5169/seals-81644.

64 Ebd., 329.

73 Umschlagtext zu Gernot Böhme, Aisthéti-

49 Ebd., 40f.

65 Theater Co-op: Der Traum, Gebärdenspiel.

que. Pour une esthétique de l’expérience

50 Ebd., 40 (Hervorh. im Original).

Hannes Meyer hat einen Rahmen für den

sensible, Dijon 2020.

Anmerkungen zu Seite 71 – 82

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 97

74 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinn-

90 Paul Scheerbart, DAS NEUE LEBEN.

Onkel Toms Hütte, die Taut im Anschluss an

lichen. Die Politik der Kunst und ihre Parado-

Architektonische Apokalypse (1902), in: Taut

die Hufeisensiedlung entwarf.

xien, hg. von Maria Muhle, a. d. Französ. von

1919a, 10–15, hier 10.

111 Sie ist seit 2008 UNESCO-Welterbe.

Maria Muhle sowie Susanne Leeb und Jürgen

91 Ebd., 11.

112 Steinmann 2003, 197.

Link, 2., durchgesehene Aufl., Berlin 2008, 28.

92 Ebd.

113 Ebd.

75 Ebd., 40f. (Übersetzung leicht abgeändert).

93 Ebd., 12.

114 Ebd., 191.

76 Meyer 1980, 29.

94 Ebd., 13.

115 Taut 1919a, 59f.

77 Ebd.; auf Deutsch erschien das Werk Le

95 Ebd., 15.

116 Vgl. Pierre Rabhi, Glückliche Genügsam-

Corbusiers zuletzt unter dem Titel „Ausblick

96 Bruno Taut, Das Chaos, in: Taut 1919a, 54.

keit, a. d. Französ. von Dirk Höfer, Berlin 2015.

auf eine Architektur“.

97 Vgl. Stacher 2018, Kap. 2, 59. Karl Friedrich

In Anlehnung an Pierre Rabhi, der zur Entste-

78 Zit. nach Marcel Bois, Zwischen Intersozia-

Schinkel oder Caspar David Friedrich wollten

hung eines neuen ökologischen Denkens

lismus und Sozialfaschismus. Kommunistische

der deutschen Nation, die sich ab 1815 zu

beigetragen hat, indem er die notwendige

Studentenfraktionen in der Weimarer Repu-

konstituieren begann, mit dem gotischen Stil

Reduzierung des Ressourcenverbrauchs

blik, in: Andreas Schätzke, Florian Strob,

der Dome, der damals „Kristallgotik“ genannt

positiv wendete: Wird der Planet Erde mitsamt

Wolfgang Thöner (Hg.), Linke Waffe Kunst.

wurde, eine neue Identität verleihen.

aller Lebewesen, der menschlichen und nicht-

Die Kommunistische Studentenfraktion am

98 Dafür stand insbesondere Reinhard Bau-

menschlichen, geachtet, dann wird ein

Bauhaus, Basel 2022, 18 – 34, hier 18.

meister, der oberste Stadtplaner von Berlin,

Wohlbefinden, begriffen als körperlich und

79 Konrad Püschel, Béla Scheffler, Philipp

ein. Vgl. Paolo Amaldi, Architecture, Profon-

moralisch befreiende Kraft, als wahrer Wert

Tolziner, Tibor Weiner, René Mensch, Antonin

deur, Mouvement [APM], Genf 2011, 321f.

damit verbunden.

Urban und Klaus Meumann. Vgl. Magdalena

99 Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen

117 Vgl. Salomé Wackernagel, La Rurapolis

Droste, Bauhaus: 1919 –1933, Köln 2015, 96.

künstlerischen Grundsätzen, Reprint der 4. Auf-

comme formation territoriale face aux enjeux

80 Vgl. Ursula Muscheler, Das rote Bauhaus.

lage von 1909, Basel/Boston/Berlin 2002, 10.

socio-environnementaux du développement

Eine Geschichte von Hoffnung und Scheitern,

100 Amaldi 2011, 321f.

urbain, in: Cahiers thématiques, Nr. 22: Réin-

Berlin 2016, 118f. Margarete Mengel wurde

101 Bruno Taut, Rumpf ohne Kopf, in: Taut

venter le rural? Le périmétropolitain en projet,

1938 verhaftet und mit vielen anderen Auslän-

1919a, 58.

Éditions de la Maison des sciences de

der:innen ohne Prozess zum Tode verurteilt.

102 Taut 1919a, 58– 62, hier 58.

l’homme, Paris, erscheint 2023.

Der Sohn Johannes Mengel (* 4. Januar 1927)

103 Ebd.

erfuhr erst 1993 vom gewaltsamen Tod seiner

104 Ebd., 59f.

Mutter.

105 Ebd., 60.

81 Die Farbauswahl stieß auf heftige Kritik

106 Ebd.

und brachte der Genossenschaftssiedlung den

107 Ebd.

despektierlichen Beinamen „Tuschkastensied-

108 Ebd.

lung“ ein.

109 Taut war auch Mitglied der November-

82 Bruno Taut, Die Stadtkrone, mit Beiträgen

gruppe, die erklärtermaßen „radikal und revo-

von Paul Scheerbart, Erich Baron und Adolf

lutionär“ agierte. Gegründet wurde die

Behne, Jena 1919 [1919a].

Künstlervereinigung am 3. Dezember 1918 in

83 Bruno Taut, Alpine Architektur, Hagen i. W.

Berlin nach der von revolutionären Sozialisten

1919 [1919b].

angeführten Novemberrevolution. Ihre Anlie-

84 Vgl. Stacher 2018, Kap. 2, 62f., 66 – 69.

gen ähnelten denen des Arbeitsrats für Kunst.

85 Bruno Taut, Die Auflösung der Städte oder

Nach der Machtübergabe an Hitler 1933

Die Erde eine gute Wohnung oder auch: Der

musste der Verein, dem Architekt:innen und

Weg zur Alpinen Architektur, Hagen i. W. 1920.

Künstler:innen angehörten, die sich dem

86 Iain Boyd White, Bruno Taut and the Archi-

Expressionismus, der Abstraktion oder auch

tecture of Activism, Cambridge u. a. 1982, 83.

Dada verschrieben hatten, seine Arbeit

87 Erich Baron, Aufbau, in: Taut 1919a,

einstellen.

99 –111, hier 104.

110 Von 1924 bis 1931 wurden in Berlin mehr

88 Taut 1919a, 59f.

als 140 000 Sozialwohnungen gebaut; neue

89 Ebd., 69.

Siedlungen entstanden, darunter die Siedlung

Anmerkungen zu Seite 82 – 94

97

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 98

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 99

Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, Paris, 1975, Fotograf: Harry Gruyaert

3Schaffen durch Zerstören Beschleunigung als Mittel zum Zweck Zeit: Beschleunigung Psychologie: Destruktionstrieb und Sublimierung Modus Operandi: Herbeiführung des Niedergangs, um Erneuerung in Gang zu setzen

Der Handlungsmodus, den dieses Kapitel nun beleuchtet,

und die Zeit beschleunigen. Gleichwohl kann der Destruktions-

beruht auf einem Akt der Zerstörung. Dabei kann es unter-

trieb über den Umweg der Sublimierung in produktive und

schwellig durchaus konstruktive Ambitionen geben, da Zer-

künstlerische Tätigkeiten umgewandelt werden. Wie Freud

störung auch neue Horizonte zu eröffnen vermag; dafür muss

unterstreicht: „Am meisten erreicht man, wenn man den Lust-

aber erst eine „Grundreinigung“ erfolgen. Daher wird es hier

gewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit

um Geschichte gehen und die Vorstellung vom „reinen Tisch

genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem

machen“, die Nietzsche häufiger bemühte, sowie um Fortschritt

dann wenig anhaben. Die Befriedigung solcher Art, wie die

und Entropie, um Beschleunigung und ihre ökonomischen,

Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner

ökologischen, urbanen und sozialen Folgen.

Phantasiegebilde […] haben eine besondere Qualität.“1 Nicht

Aus psychologischer Sicht ist die Triebkraft des schöpferischen

nur Künstler:innen, auch Architekt:innen vermögen sich die-

Handelns hier der Todestrieb (oder Destruktionstrieb), den

ses schöpferischen Elans in Momenten realer und zugleich

Freud in der Folge der Traumata des Ersten Weltkriegs theo-

ontologischer Krisen zu bedienen, um einem sich ihnen als

retisierte und der im Gegensatz zum Lebenstrieb mit Auflösung

unabänderlich darbietenden „Schicksal“ zu entrinnen. Dieses

verbunden ist: Er will zerschlagen, vernichten, zerstören und

Schicksal gilt es zu verändern: Der Vorgang der Beschleunigung

das Lebendige in seinen anorganischen Zustand zurückführen

zielt auf das schnellere Eintreten des Niedergangs ab, gefolgt

und zielt dabei in erster Linie auf das Subjekt selbst ab. Mit

von einem Akt der Sublimierung, der die Zeit aufhebt, um ein

diesem Auflösungsprozess ist zugleich ein fortwährender

radikal neues Feld potenzieller Möglichkeiten zu eröffnen.

Kampf zwischen Eros und Thanatos verbunden. Der Destruk-

Diese psychologische Dynamik liegt allen Projekten zugrunde,

tionstrieb, der einem Wiederholungszwang unterliegt, gewinnt

die in diesem Kapitel vorgestellt werden und deren Schaffens-

die Oberhand über das Lustprinzip, da er innere Spannungen

modus auf einem zerstörerischen Vorgehen beruht. Getrieben

abbaut. Um sie schnellstmöglich zu lindern, will man zerstören –

vom Wunsch nach Beschleunigung, haben manche Architekten

Anmerkungen Seite 131

Beschleunigung als Mittel zum Zweck

99

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 100

andere Räume und Zeitlichkeiten zu erschaffen versucht, ent-

Bruch mit der Geschichte und Tabula rasa

weder um eine „neue Welt“ zu entwerfen (die radikal moder-

Der Zerstörungsakt stellt das Verhältnis zur Geschichte grund-

ner, gerechter, hygienischer, sinnlicher usw. sein sollte) oder

sätzlich infrage. Nietzsche zufolge hat das sehnsüchtige

um das Alte auszulöschen – manchmal ohne eine bestimmte

Bewusstsein des Vergangenen eine lähmende Wirkung: „zu

Zukunftsperspektive vor Augen zu haben. „Schaffen durch

allem Handeln gehört Vergessen“,2 damit es Wandel geben

Zerstören“ beschreibt diesen doppelten Vorgang der Zerstö-

kann:

rung und Sublimierung in der Architektur (und in der Kunst).

„[e]s giebt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wieder-

Genaugenommen handelt es sich, je nach Fall, um eine

käuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu

Schöpfung, die proaktiv durch einen Zerstörungsakt oder re-

Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun

aktiv im Anschluss an eine erlittene Zerstörung erfolgt, indem

ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur. Um diesen

eine prospektive oder eine aperspektivische (perspektivlose,

Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der

nihilistische) Haltung eingenommen wird. Bei der Analyse der

das Vergangene vergessen werden muss, wenn es nicht

Beispiele wird es darum gehen, auf diese feinen Unterschiede

zum Todtengräber des Gegenwärtigen werden soll, müsste

zu achten, da sie jeweils nicht nur einen eigenen Zeitablauf,

man genau wissen, wie gross die plastische Kraft eines

sondern auch eine jeweils andere psychologische Disposition

Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine jene

implizieren. Diese auf psychischen Reaktionen beruhenden

Kraft, aus der sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergan-

zeitlichen Eingriffe können sich in unterschiedlichen ästheti-

genes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben,

schen Haltungen niederschlagen, die in Momenten der Insta-

Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene

bilität und an Kipppunkten in Erscheinung treten. Worin

Formen aus sich nachzuformen.“3

bestehen die von Architekten vorgenommenen Zerstörungs-

Für den Philosophen der deutschen Romantik ist die Fähigkeit

akte, welches sind die Sublimierungsmodi und wie lautet ihre

zu vergessen befreiend, gleichzeitig unterstreicht er, wie

symbolische Botschaft an die Gesellschaft? Welche Ziele ver-

wichtig es ist, sich im richtigen Augenblick erinnern zu können,

folgen sie und welche Ästhetik bringen sie hervor? Welcher

denn „das Unhistorische und das Historische ist gleicher-

Natur sind die Beschleunigungsstrategien und welche Aus-

maassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes

wirkungen haben sie auf Stadt, Gesellschaft und Umwelt?

und einer Cultur nöthig“.4 Um von der Geschichte nicht zermalmt zu werden, sondern fortwährende Erneuerung zu ge-

Nietzsches Dionysos: „reinen Tisch machen“

währleisten, die ihrerseits in die Geschichte eingeht, plädiert Nietzsche dafür, dass jeder Mensch seinen eigenen Horizont,

100

Der Zerstörungsakt kann mit einem dionysischen Ritual

seine eigene Weltanschauung erschaffen sollte, die Voraus-

einhergehen, da dieser mit allem Apollinischen (Schönheit,

setzung, damit „der Mensch zum Menschen [wird]“.5 Auf

Harmonie, Beständigkeit) aufräumt. Umwälzungen und der

diese Weise führt er einen neuen Ansatz ein, der es dem In-

Verlust von Bezugspunkten ermöglichen eine tiefergehende

dividuum ermöglicht, frei zu denken und zu handeln – und

Befreiung, indem sie mit der alten Welt reinen Tisch machen,

also auch mit der Geschichte zu brechen, wann immer es ihm

der Conditio sine qua non für Erneuerung: Man muss sich

beliebt, um ein neues Kapitel aufzuschlagen.

des Vergangenen entledigen, um handeln zu können.

Seine romantisch-dionysische Vorstellung, „aus dem Nichts

Diese Haltung wird von der Figur des Dionysos verkörpert,

Werte zu erschaffen“,6 kommt in der Wendung „reinen Tisch

die Nietzsche mit einem Bruch mit der Geschichte assoziiert,

machen“ zum Ausdruck, die in mehreren seiner Schriften auf-

wobei der schöpferische Handlungsmodus in der Tabula

taucht. In Ecce Homo erklärt Nietzsche: „Und warum sollte

rasa besteht. Die Überlegungen des Philosophen sind

ich nicht bis ans Ende gehn? Ich liebe es, reinen Tisch zu

hier von besonderem Interesse, da er einen Schlüssel

machen.“7 Das ist eine mögliche Weise, die Gedanken zu

zum Verständnis dieses sonderbaren Zerstörungsmodus

befreien, um etwas erschaffen zu können. Diese Vorstellung

liefert, der letztlich die Bedingung schlechthin für jede

wird in seinem Werk Die Genealogie der Moral verinnerlicht

radikale Schöpfung zu sein scheint.

und mit dem Bewusstsein verbunden, der Stille einen Raum

Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 131

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 101

zu geben, damit Unerwartetes zum Vorschein komme: „Die

an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste

Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen;

Gewissens-Collision, an eine Entscheidung, heraufbe

[…] ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins,

schworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert,

damit wieder Platz wird für Neues.“

geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin

8

In solchen Momenten der Schwebe, des Vergessens und des

Dynamit.“13

Bruchs mit der historischen Zeit bieten sich unversehens

Nietzsche, der alle Werte umwertete, war überzeugt: „Wir

Schöpfungsakte dar. Bei der Frage nach den Beweggründen

werden die Zeitrechnung verändern, ich schwöre es ihnen

eines solchen Vorgangs des Schaffens-durch-Zerstören unter-

zu.“14 Ziemlich kühn stellte er die christliche Zeitrechnung in

scheidet Nietzsche zwischen Nihilisten, die vom „Hass des

Abrede, hatte aber gleichzeitig „schreckliche Angst davor,

Missrathenen“ getrieben sind (eine Haltung, die er entschie-

dass man mich eines Tages heiligspricht […]. Ich will kein

den ablehnt), und der dionysischen Lust, die ihn fasziniert:

Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst.“15 Doch seine Nach-

die gepeinigte Seele des Philosophen oder Künstlers, der in

folger sollten anders entscheiden. Seine Schriften, insbeson-

seinem zutiefst romantischen Erkenntnisstreben fortwährend

dere der dionysische Begriff des Übermenschen, wurden ins

sich selbst sucht.

Gegenteilige umgedeutet (unterm Strich blieb nur der „Wille

Die dunkle und tragische Seite der Schaffenskraft verdichtet

zur Macht“ übrig), weit entfernt vom Streben des Selbst nach

sich im Lachen „jenes dionysischen Unholds […], der

Transzendenz, das für ihn mit einer Emanzipation des Denkens

9

Zarathustra heisst“ und in dessen taumelndem Tanz im

einherging.

Sturm. Das Lachen und der Tanz des Propheten, die Nietzsche

Nietzsches Plädoyer für den befreienden „reinen Tisch“

schildert, sind die symbolischen Vorboten einer Welt, die sich

machte Schule und fand über die Philosophie hinaus Eingang

auflöst, um sich in „der ganzen wundervollen Ungewissheit

in die Praxis, vor allem in Architektur und Städtebau. Fasziniert

und Vieldeutigkeit des Daseins“,11 wie Nietzsche begeistert

von der Figur des Architekten, projizierte Nietzsche ein be-

formuliert, neu zusammenzusetzen. Das Lachen resultiert aus

stimmtes Handlungsvermögen in sie hinein: „hier ist es der

der kritischen Distanzierung von der Gesellschaft und ist eine

grosse Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch

plötzliche Reaktion auf die Bewusstwerdung unseres In-der-

des grossen Willens, der zur Kunst verlangt.“ Für ihn war

Welt-seins in Abweichung zur Gesellschaft. Diese Art der

Architektur „eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald

Distanzierung haben wir beim Monte Verità gesehen (Kap. 1),

überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das

wo der von jeglichen Konventionen befreite Tanz die gel-

höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum

tende Moral zerrüttet. Nietzsche führt ins Feld, dass es eine

Ausdruck, was grossen Stil hat.“16 Kein Wunder, dass diese

absolute Wahrheit nicht gibt und dass jeder Mensch seinen

Faszination sich auf manche Architekturströmungen übertrug,

Weg finden muss, um der zu werden, der er ist. So wendet

verlieh Nietzsche doch dem Architekten durch den „grossen

sich Zarathustra an seine Schüler und stellt klar: „Hier redet

Willensakt“ eine einzigartige Macht als ordnende Kraft, die

kein Fanatiker, hier wird nicht ,gepredigt‘, hier wird nicht

bis dahin noch niemand so ausformuliert hatte.

10

Glauben verlangt“12 – und fordert sie auf, sich selbst zu folgen. Lachen, Tanzen, Ungewissheit, Vergessen, zersprungene Formen und „reinen Tisch machen“ sind die Modi Operandi eines zerstörerischen Schaffens, das zugunsten einer künstle-

Marinetti und Sant’Elia: Die Manifeste des Futurismus, 1909/1914

rischen Suche mit der Geschichte bricht. Wie ein Ende 1888,

In Italien setzte die Nietzsche-Rezeption zunächst im literari-

kurz vor seinem Zusammenbruch, verfasstes Manuskript

schen Bereich mit D’Annunzio ein, bekam aber 1908 mit

deutlich macht (posthum 1908 in Ecce Homo publiziert),

Mussolinis Aufsatz über die „Philosophie der Stärke“17 als

wusste Nietzsche durchaus, welchen Sprengstoff sein Werk

Antwort auf einen Vortrag des Abgeordneten Treves über

beinhaltete:

Nietzsches Buch Der Wille zur Macht (1901 postum von

„Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen

Nietzsches Schwester herausgebracht, die seine Schriften

Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, –

nach Belieben zusammenstellte und veränderte18) eine eminent

Anmerkungen Seite 131

Marinetti und Sant’Elia: Die Manifeste des Futurismus

101

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politische Dimension. Mussolini, damals noch Radikalsozialist,

Schöpfer eine leidenschaftliche Rückkehr zum Heidentum

rückte die systemverneinende Seite und die antideutschen

und zur Mythologie voraus.“21 Im Gegensatz dazu wollten die

Akzente der Philosophie Nietzsches in den Mittelpunkt und

Futuristen nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern

nahm eine rein kriegerische Deutung vom Übermenschen

mit einem Sprung über die Gegenwart hinweg sich in eine

vor, mit der er die Erschaffung eines neuen Menschen unter

Zukunft der Hochgeschwindigkeit katapultieren, allerdings

evolutionär-darwinistischen Vorzeichen verband, wie Fran-

ohne konkretes Ziel. Das bildhafte Prinzip der Tabula rasa

cesca Belviso hervorhebt. Mussolinis Übermensch, dessen

und die Sprengkraft des Denkens von Nietzsche hatten zwar

Devise „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!“ lautete,19 war dazu

unleugbare Spuren hinterlassen, ebenso wie der literarische

berufen, eine neue Welt zu errichten, indem er mit allen alten

Stil des Philosophen, doch seine Ideen wurden, da für andere

Werten reinen Tisch machte.

Zwecke missbraucht, verzerrt rezipiert.

Nietzsches Ideen, die auf dem Bruch mit der Geschichte und

Marinetti eröffnete sein Manifest mit einigen in freier Versform

der Tabula rasa gründen, beeinflussten in weitem Maße den

verfassten Zeilen, in denen seine Begeisterung für die

Futurismus, der die Kunst und die Architektur revolutionierte.

Beschleunigung der Industrialisierung zum Ausdruck kommt.

Diese Strömung, deren Modus Operandi in der Verherrlichung

Selbst Industrieabfälle umgibt eine himmlische Aura:

und Ästhetisierung von maschineller Geschwindigkeit und

„Da, das Antlitz vom guten Fabrikschlamm bedeckt – diesem

zerstörerischer Kraft bestand, wollte den Bruch mit der Gegen-

Gemisch aus Metallschlacke, nutzlosem Schweiß und himmli-

wart und der Vergangenheit gewaltsam herbeiführen – ein

schem Ruß – zerbeult und mit verbundenen Armen“, schreibt

Gestus mit dionysischen Zügen, der letztlich mit Nietzsches

er poetisch am Ende seines Prologs, der mit einem seltsam

Definition dieses Attributs nicht mehr viel gemein hatte. Der

gebieterischen Appell schließt: „diktierten wir unseren ersten

Futurismus, der den Krieg als ultimatives disruptives System

Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde.“22 In den

verherrlichte, wurde von einer Gruppe junger Dichter ins

folgenden elf Punkten des Manifests ist die kriegerische

Leben gerufen, von denen der älteste gerade einmal 30 Jahre

Ästhetisierung der Maschine allgegenwärtig, wie jener

alt war: Filippo Tommaso Marinetti, Verfasser des Gründungs-

berühmte Satz beispielhaft zeigt: „ein aufheulendes Auto,

manifestes des Futurismus, das am 20. Februar 1909 mit dem

das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike

Titel „Le Futurisme“ auf der Titelseite der französischen Tages-

von Samothrake“.23 Der junge Rebell strebt den Bruch mit

zeitung Le Figaro erschien. Der junge Schriftsteller, Künstler

der Kultur einer in der Vergangenheit wurzelnden Gesellschaft

und Jurist, der in Paris durch die strenge Schule der Jesuiten

an, die er für rückständig und erstarrt hält, und greift ihre

gegangen war, gegen die er sich zeit seines Lebens empörte,

Stätten und Symbole an, namentlich die Bibliotheken und

war zweifellos auch von Nietzsches Werk beeinflusst, das er

Museen:

über Autoren wie Georges Sorel und Mario Morasso rezipierte –

„Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten

von Letzterem ließ er sich in seinem ersten Manifest zu einem

Fingern kommen! Hier! Da sind sie! … Drauf! Legt Feuer

Vergleich des Automobils mit der Nike von Samothrake inspi-

an die Regale der Bibliotheken! … Leitet den Lauf der

rieren. Morasso war es, so Belviso, der den Bogen von der

Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! … Oh,

literarischen Rezeption zur politischen Ausschlachtung der

welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen

Philosophie Nietzsches schlug. Marinetti hingegen legte

Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen! … Ergreift

Wert darauf, seine künstlerische und geistige Unabhängigkeit

die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder,

vom deutschen Philosophen hochzuhalten, und distanzierte

reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“24

sich insbesondere von der unwiederbringlichen Rückwärtsge-

Diese radikale und betont ikonoklastische Geste ist allerdings

wandtheit des „Passatisten“ : „In unserem Kampf gegen die

nicht modern im emanzipatorischen Sinne des Wortes, ganz

schulmeisterliche Leidenschaft für die Vergangenheit lehnen

im Gegenteil. Sie richtet sich nicht nur gegen die Kulturein-

wir auf das Entschiedenste das Ideal und die Lehre Nietz-

richtungen, sondern auch gegen die neuen Bewegungen für

sches ab. […] Sein Übermensch, das Erzeugnis des philoso-

die Frauenemanzipation, die seinerzeit aufkamen: „Wir wollen

phischen Kultes der griechischen Tragödie, setzt bei seinem

die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art

20

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Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 131

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zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und

von dem im alten Europa von der Buchkultur durchdrungenen

gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und

fundamental unterscheidet. Er preist die archaische Lebensart,

Eigennutz beruht.“25 Von heroischer Männlichkeit besessen,

die auf Urinstinkten beruht und von der abendländischen

verherrlicht das Manifest Gefahr, Mut, Kühnheit und Aufleh-

Moral weit entfernt ist (ebenso wie von der Philosophie eines

nung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Salto mortale, die Ohr-

Rudofsky, der sich wirklich, ohne Männlichkeits- und Kriegs-

feige und den Faustschlag, die Geschwindigkeit26 und vor

fantasien, für ferne Kulturen interessierte und daraus Lehren

allem den Krieg, „diese einzige Hygiene der Welt – den Milita-

zog, um eine andere Kulturform zu entwerfen).

rismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes“.27 Die Futuristen streben einen Bruch mit der Geschichte und der Kultur an, indem sie die Vergangenheit, ja sogar Raum und Zeit auslöschen – zugunsten der „ewigen Geschwindigkeit“ des großen Absoluten: „8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! … Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.“28 Der Moment des Stillstands, in dem Raum und Zeit dem rebellischen Willen nach radikaler Erneuerung nicht standhalten, ist für unsere Analyse besonders interessant, da das Raum-ZeitGefüge ersetzt wird durch eine „ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit“, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennt und sich weder historisch noch räumlich einordnen lässt; sie besitzt eine Eigendynamik und ist ohne Ziel. Insofern ist sie proaktiv und vollkommen aperspektivisch. Das Manifest endet angriffslustig und bemüht eine kosmische Dimension: „Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu! ...“29 Der Einfluss Nietzsches scheint im Vorwort von Marinettis erstem Roman Mafarka der Futurist (1909) durch, dessen poetischer Tonfall an die Vorrede Nietzsches in So sprach Zarathustra (1885) erinnert: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!“30 Marinetti wendet sich an seine Kollegen mit den Worten: „Brandstifter, große Dichter! Futuristen, meine Brüder!“ Das klingt ähnlich gebieterisch wie seine „wie Hammerschläge“31 formulierten Ideen und verleiht dem Text einen explosiven Charakter, der von der „Sprengkraft“ Nietzsches inspiriert ist. In seinem Roman setzt Marinetti einen mechanischen, geflügelten Übermenschen in Szene, ein futuristisch-männliches Ideal, verkörpert vom Afrikaner Mafarka, dessen Geist sich

Anmerkungen Seite 131

Antonio Sant’Elia, Elektrizitätswerk (aus der Serie „La Città Nuova“), 1914, schwarze Tusche und Gouache auf Papier

Marinetti und Sant’Elia: Die Manifeste des Futurismus

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Die Kriegsbegeisterung, Angriffslust und Radikalität der

von 1914, in der eine Architektur unterbreitet wird, die (im

Bewegung des Futurismus sprach viele junge Männer an, die

Unterschied zur Schule Wagners) auf Ornamente und dekora-

sich in Kunst und Architektur betätigten: Die Geschwindigkeit

tive Bildwerke verzichtet – zugunsten einer schlichten Formen-

und Mechanisierung erschienen ihnen als befreiende Kraft in

sprache, deren radikale „Nacktheit“ von der Industrieästhetik

einem Land, das eine schwere Wirtschafts-, Gesellschafts-

und den Hochhäusern von New York angeregt war. Seine

und Identitätskrise durchmachte, in dem Armut und Analpha-

Bauten setzen sich aus schrägen Baukörpern zusammen und

betismus allgegenwärtig waren und Zukunftsperspektiven

sind häufig in Untersicht wiedergegeben, was die Fluchtlinien

fehlten. Der Futurist war „der wahrhaft neue Barbar, der eins

übersteigert und den Gebäuden eine größere Dynamik verleiht.

wird mit der Maschine und sich im Getriebe der Moderne in

Wie Paolo Amaldi zu Recht festgestellt hat, ergibt sich aus

ein Rädchen verwandelt“.

dieser Darstellungsweise eine Reihe an Implikationen für die

32

Wahrnehmung: „Obwohl Sant’Elias Vorliebe für Massivität

Manifest „Die futuristische Architektur“ von Antonio Sant’Elia, 1914

der von Marinetti dargelegten Theorie der vollständigen Auflösung des Bauwerks in der Stadt entgegenstand, sagt die Untersicht viel über den ideologischen und kulturellen Status

Am 11. Juli 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs,

aus, den er dem modernen Betrachter zuweisen wollte. In

veröffentlichte Antonio Sant’Elia das Manifest „Die futuristi-

der Tat verstärkt er diese Wirkung des Einfügens und Eintau-

sche Architektur“ aus einem ähnlichen Antrieb heraus wie

chens in die unmittelbaren Wahrnehmungsgegebenheiten,

Marinetti, allerdings bezogen auf die Architektur und ihren

indem er die Unmöglichkeit sanktioniert, in den Genuss einer

formalen Ausdruck. Dieses neue Manifest zeugt davon, wie

kühl-analytischen Gesamtansicht zu kommen, im Gegensatz

bedeutend der Futurismus als künstlerische und politische

zu den Axonometrien eines Alberto Sartoris beispielsweise.

Bewegung inzwischen geworden war. Der 1888 in Como ge-

Oder zu den Bildern, die einige Jahre später Le Corbusiers

borene Sant’Elia ging zum Studium nach Mailand, wo er eine

Entwurf der Drei-Millionen-Stadt beigegeben waren: einer

dynamische, faszinierende Stadt entdeckte, die sich gerade

auf totalisierenden Ansichten basierenden Formalstruktur.“36

in einen Industriestandort verwandelte und einen starken Kon-

In dem nun folgenden Architekturporträt werden wir auf diesen

trast zum übrigen Italien aufwies – wie auch zum Lehrplan der

Unterschied zu Le Corbusier zurückkommen, der sein Ideal-

Accademia di Brera, auf dem frühere Baustile und Dekorationen

modell als abstraktes, von oben herab umzusetzendes System

standen. Die Lektüre des Buches Die Wagnerschule (1902)

begriff, während Sant’Elia, der ebenfalls reproduzierbare

machte ihn mit der modernen Architektur von Otto Wagner

Systeme und Typen entwarf, den Betrachter oft in die Position

vertraut, der damals Professor in Wien war, und insbesondere

des Eintauchenden, der den Blick nach oben gerichtet hält,

mit dem Werk von Joseph Maria Olbrich, der einen großen

versetzte, um der neuen Architektur einen monumentalen

Einfluss auf ihn ausübte, wie seine frühen Zeichnungen zeigen.

und heroischen Status zu verleihen.

Sant’Elia gehörte der avantgardistischen Gruppe Nuove

Die „Città Nuova“ von Sant’Elia besteht aus riesigen hybriden

Tendenze an, die sich selbst als „gemäßigter rechter Flügel“

Bauwerken, die für den Land- und Luftverkehr bestimmt sind:

des Futurismus bezeichnete. Er hatte sich 1914 der Bewe-

Sowohl der „Bahnhof für Flugzeuge und Eisenbahnen mit

gung angeschlossen, in der sein Freund, der Maler Mario

Seilbahnen und Außenliften auf drei Straßenebenen“ als

Chiattone, aktiv mitwirkte. Für ihre Ausstellung Nuove

auch das „Elektrizitätswerk“ wurden zu Wahrzeichen der Mo-

33

Tendenze in Mailand verfasste er einen Text (bekannt unter

derne, die von den Futuristen zu symbolträchtigen Ikonen

dem Titel „Messaggio“), der kurz darauf zu einem Manifest

erhoben wurden, da sie die Mobilität durch Maschinen und

verarbeitet wurde, vermutlich unter Mitwirkung von Ugo

die „Fee Elektrizität“37 als die wahren Triebkräfte der zukünf-

Nebbia, Mario Buggelli und Marinetti.35

tigen Welt ansahen.

Zu den gut 300 Zeichnungen, die Sant’Elia anfertigte (Ent-

Im Fahrwasser der Futuristen, doch ohne deren martialischen

würfe, Skizzen, Baudetails und u. a. eine Serie mit dem Titel

und nihilistischen Ton anzuschlagen, wollte Sant’Elia die Bau-

„Dinamismi architettonici“), zählt die Serie „La Città Nuova“

kunst durch einen radikalen Bruch mit der Geschichte neu

34

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Schaffen durch Zerstören

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erfinden, wie der fünfte Punkt seines Manifests Die futuristische Architektur verdeutlicht: „[UND PROKLAMIERE] 5. daß wir, die wir materiell und geistig künstlich sind, unsere Inspiration in den Elementen der völlig neuen mechanischen Welt finden müssen, die wir geschaffen haben und deren schönster Ausdruck, vollkommenste Synthese und wirksamste Ergänzung die Architektur sein muß, genau wie die Antike ihre Kunstinspiration aus den Naturelementen zog; […].“38 Er träumte von einer dynamischen Elastizität, die er schrägen und elliptischen Linien sowie neuen Baumaterialien zuschrieb, um die alte statische Architektur zu ersetzen. Nicht mehr die Natur war seine Inspirationsquelle, sondern die menschengemachte Mechanik: „UND PROKLAMIERE: 1. daß die futuristische Architektur die Architektur der Berechnung, der verwegenen Kühnheit und der Einfachheit ist; die Architektur des Eisenbetons, des Eisens, des Glases, des Kunststoffs, der Textilfaser und aller jener Ersatzstoffe für Holz, Stein und Ziegel, mit denen man die größte Elastizität und Leichtigkeit erreichen kann; […].“39 In den Städten seiner Wünsche, wie er es ausdrückte, ist die Zeitlichkeit ebenso flüchtig wie in Marinettis Manifest. Es gibt weder Vergangenheit noch Zukunft, vielmehr eine sich fortwährend erneuernde, ewige Gegenwart: „8. […] DIE HÄUSER WERDEN KURZLEBIGER SEIN. JEDE GENERATION WIRD SICH IHRE EIGENE STADT BAUEN MÜSSEN. Diese ständige Erneuerung der architektonischen Umwelt wird zum Sieg des FUTURISMUS beitragen, der sich bereits mit den BEFREITEN WORTEN, DEM BILDNE-

Antonio Sant’Elia, Bahnhof für Flugzeuge und Eisenbahnen mit Seilbahnen und Außenliften auf drei Straßenebenen, 1914, Perspektivansicht, schwarze Tusche auf Papier

RISCHEN DYNAMISMUS, DER MUSIK OHNE QUADRATUR UND DER KUNST DER GERÄUSCHE durchgesetzt hat und

der alten Welt geht, unterbreitet Sant’Elia als Architekt eine

für den wir pausenlos gegen die passatistische Feigheit

neue Ästhetik, die der neuen Welt entspricht, welche sich die

kämpfen.“

Futuristen ausmalen und der er in seinen Zeichnungen aus

40

Wie Marinetti verdrehte Sant’Elia die Dinge, indem er sich

der Serie „La Città Nuova“ Ausdruck verleiht. Er will einen

auf die richtige Seite schlug: Nicht die futuristische Haltung

Bruch mit der historischen Kontinuität vollziehen, um in einer

war angriffslustig, wenn sie sich bereits mit Worten und ihrem

proaktiven und prospektiven Weise eine „völlig neue mecha-

„bildnerischen Dynamismus“ durchsetzte, sondern die Feig-

nische Welt“ zu erschaffen.

heit der Ewiggestrigen, die zurückblicken und sich auf die Geschichte stützen, statt sich in die Zukunft zu projizieren.

Die politische Dimension des Futurismus

In seinen Aussagen ist das Prinzip vom „reinen Tisch ma-

Der junge Architekt, der für Marinettis Manifest schwärmte,

chen“ und der fortwährenden Erneuerung allgegenwärtig.

war Sozialist und Anhänger der Irredenta, einer 1866

Während es in Marinettis Manifest eher um die Zerstörung

entstandenen politischen Bewegung, die den Anschluss aller

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Marinetti und Sant’Elia: Die Manifeste des Futurismus

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italienischsprachigen Gebiete einschließlich jener in Öster-

Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben

reich-Ungarn (Triest und Dalmatien) erstrebte (und die später

läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der

vom Faschismus einverleibt wurden). Als die italienische

Faschismus betreibt.“44

Armee im Frühjahr 1915 in den Krieg gegen die Habsburger

Die Futuristen entwickelten eine akzelerationistische Vision

geschickt wurde, schloss sich Sant’Elia zusammen mit

mit zerstörerischen Zügen und stellten sich gleichzeitig eine

Marinetti, Umberto Boccioni und Luigi Russolo dem Freiwilli-

neue mechanisierte Welt vor. Das „Schaffen durch Zerstören“

genbataillon der Fahrrad- und Autofahrer an. Ein Jahr später

erfolgt hier durch einen gewaltsamen radikalen Bruch mit der

wurde der 28-Jährige während der Achten Isonzoschlacht

Geschichte und der Kultur und katapultiert den mechanisierten

von einer Kugel tödlich getroffen. In seinem kurzen Leben

Uomo nuovo als Symbol einer modernen, industrialisierten

hatte Sant’Elia dennoch einem dichten, vielversprechenden

Italianità in eine andere Raumzeit, die von Geschwindigkeit,

Werk Gestalt verliehen.

der Mechanisierung der Welt und vom Krieg als ultimativem

Auch Marinetti war Irredentist. In seiner Jugend hatte er der

Heilmittel bestimmt wird. In Marinettis Weltbild existieren

sozialistischen Bewegung nahegestanden, wurde später

Raum und Zeit nicht mehr, alles löst sich in der Geschwindig-

Anarchist, wandte sich 1910 wieder davon ab und unterstützte

keit auf. Die proaktive Haltung der Futuristen, die alles zer-

den Libyenkrieg gegen das Osmanische Reich. Er schloss

stören wollten, um den Lauf der Dinge zu beschleunigen und

sich den „Fasci italiani di combattimento“ (der ersten faschis-

vorwärtszutreiben, war zutiefst nihilistisch und aperspektivisch,

tischen Partei Europas) kurz nach ihrer Gründung im März

in den Zeichnungen von Sant’Elia jedoch fand sie ihren

1919 an und fand sich Seite an Seite mit dem Futuristen

Ausdruck in einer prospektiven Vision der avantgardistischen

Mario Carli und dem Agitator Benito Mussolini wieder. Letzte-

Stadt mit futuristischer Ästhetik, die die Bewegung der Mo-

rer berief ihn 1929 an die neue Akademie der Künste. 1938

derne nachhaltig beeinflussen sollte.

schrieb Marinetti einen Text, in dem er den Kolonialkrieg, den Italien gegen Äthiopien führte, verherrlichte und ästhetisierte: „Seit siebenundzwanzig Jahren erheben wir Futuristen uns

Le Corbusier: Plan Voisin de Paris, 1925

dagegen, daß der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird … Demgemäß stellen wir fest: … Der Krieg ist schön, weil

Wie wir gesehen haben, wurde die Ästhetik der Maschine

er […] die erträumte Metallisierung des menschlichen

durch den Futurismus hervorgebracht, der nihilistische und

Körpers inauguriert. […] Der Krieg ist schön, weil er neue

destruktive Tendenzen zusammenfügte. Auch der nach dem

Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen

Ersten Weltkrieg entstandene Funktionalismus war tendenziell

Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden

auf Zerstörung ausgerichtet, denn er machte reinen Tisch mit

Dörfern und vieles andere schafft …“

den existierenden Bau- und Stadtformen, allerdings mit dem

41

Diese Ästhetisierung des Krieges (den Marinetti bereits 1909

Ziel, eine bessere Welt zu schaffen. Sein Schwerpunkt lag auf

in seinem ersten Manifest als „diese einzige Hygiene der

dem Aufbau einer Welt, die fluider, gesünder und sozialer

Welt“42 beschrieben hatte) geht bis zur totalen Zerstörung.

sein sollte, wobei die Zerstörung nur ein Mittel war, um neue

Marinettis zynische Devise „Fiat ars, pereat mundus“ –

Stadttypen auf der Grundlage eines schematisierten Städte-

„Kunst soll entstehen, und gehe die Welt darüber zugrunde“ –

baus zu entwickeln. Im Plan Voisin de Paris, dem Großprojekt

stellt die Kunst ins Zentrum der Apokalypse. Daher der kritische

für eine „strahlende“ Moderne von Le Corbusier (1887–1956),

Kommentar Walter Benjamins aus dem Jahr 1936: „,Fiat ars –

finden sich die ästhetischen und programmatischen Prinzi-

pereat mundus‘ sagt der Faschismus und erwar-tet die künst-

pien der „Città Nuova“ von Sant’Elia wieder, insbesondere

lerische Befriedigung der von der Technik erwarteten Sinnes-

der mehrere Nutzungen vereinende Bahnhof und die Raum-

wahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Das ist

organisation der modernen Stadt mit Straßen auf mehreren

offenbar die Vollendung des l’art pour l’art.“ Benjamin zufolge,

Ebenen – auch wenn sich Gestaltung und Diskurs erheblich

der diese Haltung widerwärtig fand, hatte die Selbstentfrem-

voneinander unterscheiden.

dung der Menschheit „jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene

Die Argumente, die die Bewegung der Moderne vorbrachte,

43

106

Schaffen durch Zerstören

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betrafen vor allem die Hygiene, die Verbesserung der sozialen

aus dem Jahr 1935, der den Abriss der im 19. Jahrhundert

Bedingungen und die funktionelle Optimierung der Städte,

rund um das historische Zentrum errichteten Wohnviertel zu-

die als zu dicht bevölkert, zu verschmutzt, zu unhygienisch

gunsten einer neuen grünen Stadt mit bandförmigen Häuser-

und seit dem Aufkommen des Automobils als zu verstopft

zeilen vorschlug. In politischer Hinsicht nahm er somit einen

galten. Modellprojekte zur Neugestaltung der Städte waren

noch radikaleren Standpunkt ein als Le Corbusier, da er im

zwar nichts Neues. Man denke – ungeachtet solcher aus der

Zuge einer grundlegenden „Bodenreform“ den Grundbesitz

Zeit vor dem 19. Jahrhundert – etwa an den Plan Cerdà in

abschaffen und Wohnkooperativen aufbauen wollte. Besonders

Barcelona (1841), an die Bandstadt von Soria y Mata (1882),

auffallend an dem utopischen Projekt „Ville contemporaine

an die Gartenstadt von Ebenezer Howard (1898) oder an die

de trois millions d’habitants“, das Le Corbusier 1922 in

Studie „Die Großstadt“ von Otto Wagner (1911), von der

abstracto entwarf, ist die Tatsache, dass er sie nicht in der

sich Sant’Elia inspirieren ließ. Doch der Krieg markierte eine

Peripherie errichtet sehen wollte (wie Howard es für seine

tiefe Zäsur und beschleunigte den Wunsch nach Erneuerung,

Gartenstadt vorschlug, um genügend Platz zu haben), sondern

da die Paradigmen der alten Welt plötzlich obsolet erschienen.

mitten im Zentrum von Paris – eine Entscheidung, die diesem

Der Bruch mit der Geschichte und der befreiende Gestus der

Projekt-Manifest einer „strahlenden“ Moderne der Architektur

Tabula rasa schienen notwendig, um radikale Veränderungen

eine brutale, zerstörerische Dimension verlieh.

zu erwirken, die geeignet wären, die historische europäische

Für Le Corbusier, der Nietzsche gelesen hatte und dessen

Stadt (deren Stadtgefüge aus längst vergangenen Epochen

Idee des Bruchs mit der Geschichte sehr reizvoll fand,46 war

stammte) aus der Krise der Moderne herauszuführen. Im

Paris „der Sitz der Traditionen“ und „die stete Abfolge von

Mittelpunkt dieser Vision stand das aufkommende Automobil,

Seiten, von neu aufgeschlagenen Kapiteln“,47 daher schlug

das nicht nur als berückendes Sinnbild der maschinellen

er vor, die Traditionen umzustürzen und ein neues Kapitel zu

Moderne eine Schlüsselrolle spielte, sondern auch als Zerstö-

eröffnen, das alle anderen ausradieren würde. Nach den

rungsfaktor der Städte, die sich für den Autoverkehr als

mehrfachen Umgestaltungen über die Jahrhunderte hinweg

ungeeignet erwiesen.

und insbesondere nach jenen des Stadtplaners Haussmann

Le Corbusiers Plan Voisin de Paris aus dem Jahr 1925 ist

im 19. Jahrhundert, deren Effizienz Le Corbusier bewunderte,

zweifellos das radikalste Beispiel für ein Stadtplanungskonzept,

sollte Paris nach seinem Dafürhalten einen noch radikaleren

das ohne jeden Kompromiss reinen Tisch mit der historischen

Umbau in Angriff nehmen. Le Corbusier zeichnete ein düste-

Stadt macht. Anführen ließe sich in diesem Zusammenhang

res Bild vom Zustand der Städte: „Die Zentren schwellen an,

auch der Masterplan für die Stadt Genf von Maurice Braillard

breiten sich aus. Man strömt herbei, man preßt sich zusam-

45

men, man arbeitet, man kämpft, und manch einer findet sich hier nur ein, um an der unbarmherzigen Flamme zu verbrennen.“48 Um dem entgegenzuwirken, unterbreitete der gerade einmal 35-Jährige im Jahr 1922 vier Postulate, die später in seinem Buch Urbanisme (1925; dt. Städtebau) veröffentlicht wurden: „1. Entlastung des verstopften Städtezentrums, um den Verkehrsansprüchen zu genügen. 2. Steigerung der Bevölkerungsdichte, um die von der Geschäftswelt verlangte Begegnung zu verwirklichen. 3. Steigerung der Verkehrsmittel, das heißt, vollständige Umwandlung des augenblicklichen Begriffs der Straße, die sich vor dem neuen Phänomen der modernen Transportmittel als wirkungslos herausgestellt hat: Untergrundbahnen, Le Corbusier, Plan Voisin de Paris, 1925, Modellfoto

Anmerkungen Seite 131 und 132

Autos, Straßenbahnen, Flugzeuge.

Le Corbusier: Plan Voisin de Paris

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der den Auftrag sogleich so zurechtbog, dass sich sein Umfang um ein Vielfaches vergrößerte: „Wir machten etwas anderes: Wir machten die Studie einer ,Stadt der Gegenwart für 3 Millionen Bewohner‘.“ Die Studie, in deren Zentrum ein großformatiges Diorama mit hundert Quadratmetern Entwurfsfläche stand, wurde auf einem über 27 Meter langen Ausstellungsstand gezeigt.50 Le Corbusier schwärmte für diesen Entwurf, der sich radikal von der traditionellen Stadt entfernte: „Durch diese Studie drangen wir in die wundersame Welt der dicht bevorstehenden Gewissheiten. Die Analyse führte in neue Dimensionen, zu neuen Maßstäben, und die Synthese zu einem urbanen Organismus, der so anders war als alles, was man kennt, dass es kaum möglich ist, sich ein Bild davon zu machen.“51 Tatsächlich brachte diese Schwierigkeit dem Architekten viel Kritik ein und er stieß auf heftigen Widerstand. „Alle erdenkLe Corbusier, Plan Voisin de Paris, 1925, Modellfoto

lichen, leidenschaftlichen Diskussionen sind auf diese Studie gefolgt und nehmen jeden Tag noch weiter zu: ,Sie arbeiten

4. Vergrößerung der Grünflächen als einziges Mittel zur

für den Mond!‘“, warfen ihm seine Gegner vor, worauf er in

Sicherung genügender Hygiene und der für die ange-

triumphierend-distanziertem Ton mit rationalen Argumenten

spannte Arbeit, wie sie der neue Rhythmus der Geschäfte

antwortete: „Bis jetzt hat kein technisches Argument die

verlangt, notwendigen Ruhe.“49

rationellen Vorschläge dieses Projekts wirksam entkräften

In Le Corbusiers Vorstellung war die Stadt so beschaffen,

können.“52 Le Corbusier weckte auch das Interesse politischer

dass man sie mit hoher Geschwindigkeit durchqueren und

Organisationen, insbesondere von rechts- und linksaußen.

von einem erhöhten Standpunkt aus sehen konnte: Sie be-

In einem Brief vom 15. Mai 1930 an seine Mutter prahlte

stand aus Wolkenkratzern, die schwindelerregende Aussichten boten, wurde von einer Autobahn durchquert und mitten im Zentrum landeten Flugzeuge. Die Beschleunigung war das Schlüsselelement des Entwurfs, der in erster Linie auf die Geschwindigkeit setzte, die durch den technischen Fortschritt ermöglicht wurde. Eine „Stadt der Gegenwart für 3 Millionen Bewohner“ Le Corbusiers Plan einer „Stadt der Gegenwart für 3 Millionen Bewohner“ entstand im Zusammenhang mit einem Auftrag des Leiters der Stadtplanungssektion auf dem Herbstsalon in Paris, Marcel Temporal, dem für die Ausstellung von 1922 ein kleiner dekorativer Entwurf vorschwebte. „Urbane Kunst, das ist die Boutique, ein schmiedeeisernes Ladenschild, ein Haustor oder ein Straßenbrunnen, alles was unsere Augen auf der Straße sehen. Machen Sie uns doch einen schönen Brunnen oder etwas Derartiges!“, teilte er Le Corbusier mit,

108

Schaffen durch Zerstören

Le Corbusier, Plan de Paris, 1937, Fotocollage

Anmerkungen Seite 132

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er damit, er würde rund um seine Ideen „Gruppierungen kristallisieren, die vorwärtskommen wollen. Von links und von rechts werde ich einverleibt, hier von Kommunisten, dort von Faschisten, hier von Royalisten, dort von internationalen Organisationen.“53 Tatsächlich wurde er sowohl von der Kommunistischen Partei als auch von faschistischen Bünden eingeladen, um seinen Stadtentwurf vorzustellen, dessen Radikalität und Hochschätzung der modernen Technik diese Leute begeistert aufnahmen. Le Corbusier räumte dem Automobil einen zentralen Platz ein

Le Corbusier, Plan de Paris, große West-Ost-Achse, 1937, Zeichnung

und entwarf seine neue Hauptstadt nach dessen Maßgabe. Daher versuchte der Architekt,

zu machen, das dem Plan entsprechend nicht mehr schädlich

die Magnaten der Autoindustrie davon zu überzeugen, die

wäre noch für die Verstopfung der Stadt verantwortlich ge-

Fortführung seiner Stadtstudie zu finanzieren, um den vorerst

macht werden könnte, sondern im Gegenteil durch eine der

utopischen Entwurf an die Stadt Paris anzupassen. Er argumen-

motorisierten Fortbewegung gewidmeten Planung die Stadt

tierte dabei wie folgt:

der Zukunft vorteilhaft gestalten würde.

„Das Automobil hat die Großstadt getötet. Das Automobil muß die Großstadt retten.

Plan Voisin de Paris

Wollen Sie Paris einen Plan […] schenken […], der keinen

Der Plan Voisin veranschaulicht den radikalen Eingriff, den eine

anderen Zweck hat, als […] [die] Schaffung von städtischen

Umsetzung des abstrakten Entwurfs einer „Stadt der Gegen-

Organen, die sich den durch die Maschine von Grund aus

wart mit 3 Millionen Einwohnern“ für das historische Zentrum

umgewandelten Lebensbedingungen anpassen?“

von Paris bedeutet. Wie eine riesige über die Stadt gelegte

54

Während Peugeot, Michelin und Citroën ablehnten, erklärte

„geometrische Platte“56 erstreckt sich die neue Stadt an der

sich Gabriel Voisin ohne zu zögern bereit, das Projekt mit

Rive Droite von der Rue Vieille du Temple bis zur Avenue de

25 000 alten Francs zu unterstützen (das entspricht von der

Wagram und von der Seine bis zur Gare de l’Est. Alle Gebäude

Kaufkraft her heute in etwa dem gleichen Betrag in Euro),

sind dem Erdboden gleichgemacht, mit Ausnahme einiger

allerdings unter der Bedingung, dass der Stadtplan seinen

Wahrzeichen wie Louvre, Palais Royal oder Place Vendôme

Namen tragen sollte.55 Vor dem Krieg hatte der Flugzeug-

sowie einiger privater Stadtpalais aus dem 17. und 18. Jahrhun-

bauer Doppeldecker hergestellt, während des Krieges Bom-

dert. Die Viertel Le Marais und Les Halles müssen dem neuen

benflugzeuge, danach wandte er sich dem Automobilbau zu,

Geschäftsviertel mit den Wolkenkratzern weichen.

dem eine glänzende Zukunft bevorstand.

Wie eine Fotocollage zeigt, wollte Le Corbusier in einer späte-

Der Entwurf für die Innenstadt von Paris wurde 1925 unter

ren Studie auch die Île de la Cité einbeziehen: Die weiß ge-

dem Namen Plan Voisin auf der Pariser Internationalen Aus-

färbelten Zonen sollten der Nord-Süd-Autobahn weichen,

stellung für dekorative Kunst und Kunstgewerbe gezeigt –

was den Abriss zahlreicher Haussmann-Gebäude bedeutete.

eine wunderbare Gelegenheit, um Werbung für das Automobil

Einzig Notre-Dame, die Conciergerie, Sainte-Chapelle und

Anmerkungen Seite 132

Le Corbusier: Plan Voisin de Paris

109

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 110

Le Corbusier, Plan Voisin de Paris, 1925, Zeichnung

110

Le Corbusier, Plan de Paris, 1937, Modellfoto: Lucien Hervé

am rechten Seine-Ufer die beiden Theater an der Place du

wusste. Darum sollten die volkstümlichen Quartiere gemäß

Châtelet und das Hôtel de Ville blieben verschont – als isolierte

den Lehren des Funktionalismus und der Hygiene niederge-

Bauwerke gleichsam im luftleeren Raum schwebend.

rissen und ein neues Stadtgefüge geschaffen werden, das

Doch die weißen Zonen erstreckten sich weit über die Ränder

einen gesünderen und moderneren Wohnraum bot. Auf

des Entwurfs für das rechte Seine-Ufer bis hin zur Rive

Einwände im Hinblick auf die Kosten eines solchen Vorhabens

Gauche und betrafen den Großteil des Quartier Latin, das

antwortete Le Corbusier mit dem unschlagbaren Argument,

wie Les Halles und Le Marais als „ungesundes Stadtviertel“

dass die projektierte Nachverdichtung dem Staatssäckel

galt.

zugute käme:

Bleibt anzumerken, dass die Stadtmitte von Paris damals

„Die Doktrin des modernen Städtebaus verkündet: Urbani-

ziemlich heruntergekommen und überwiegend von Klein-

sieren heißt valorisieren. Urbanisieren heißt nicht Geld

händlern und Arbeiterfamilien bewohnt war, die in rußge-

ausgeben, sondern Geld verdienen, Geld machen. Das

schwärzten alten Gebäuden zusammengedrängt lebten. Das

Zentrum der Großstädte bedeutet einen gewaltigen

enge Gassengewirr begünstigte die Ausbreitung der Tuber-

Bodenwert, der vervielfacht werden kann, weil die moderne

kulose und anderer Krankheiten: „Die Maschine, die wir be-

Technik nun anstelle von 6 Geschossen 60 Geschosse

wohnen, ist hingegen ein tuberkulöses altes Nest. […] Man

möglich macht. […] Das Zentrum von Paris, das heute vom

zerstört allerorten die Familie, und man demoralisiert die

Tod bedroht ist, vom Exodus, ist in Wirklichkeit eine

Menschen, indem man sie wie Sklaven an unzeitgemäß ge-

Diamantenmine. Das Zentrum von Paris muss, einem

wordene Dinge kettet“, stellte Le Corbusier fest.57 Wer wohl-

biologischen und geografischen Phänomen gleich, über

habend war, floh aus der Stadt und ließ sich entlang der

sich selbst wiederaufgebaut werden.“59

Straße nach Saint-Germain-en-Laye nieder. Nach Ansicht des

Als Ersatz für die alten Quartiere entwarf Le Corbusier eine

Architekten kapitulierten die Pariser Behörden angesichts der

Neustadt mit einem großen unterirdischen Bahnhof in der

Herausforderungen, die die beengten Wohnverhältnisse und

Mitte zwischen Geschäfts- und Wohnvierteln, der als moderner

unhygienischen Zustände in der Hauptstadt mit sich brachten.

intermodaler Hub mit einem Flugplatz auf dem Dach angelegt

Das Stadtzentrum aufzugeben, war für ihn Verrat: „Das Zentrum

war (später musste er die Idee eines Flugplatzes aus Sicher-

von Paris seinem Schicksal zu überlassen, bedeutet, vor dem

heitsbedenken aufgeben):

Feind zu desertieren.“58 Diese Haltung kam ihm umso ab-

„Der Bahnhof kann nur im Zentrum der Stadt liegen. Dies

surder vor, als Stadtkerne a priori die höchsten Bodenwerte

ist sein einziger Platz; es gibt keinen Grund, ihm einen

aufwiesen, wenn man sie den neuen Bedürfnissen anzupassen

anderen anzuweisen. […]

Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 132

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 111

Der Bahnhof ist eine Baulichkeit vor allem unter der Erde.

gegeneinander versetzt angeordnet sind und jeweils im Un-

Sein Dach, das sich zwei Etagenhöhen über dem natürlichen

tergeschoss über eine Metrostation verfügen. Die Büroge-

Stadtboden erhebt, ergibt den Flughafen für Lufttaxis. Der

bäude, „riesige Kristallmassen […] – höher als irgendein

Hafen für Lufttaxis […] muß vermittels einer Gürtelbahn mit

Gebäude der Welt“, erfüllten den Architekten mit einer Be-

den Untergrundbahnen, den Vorortebahnen, den Provinz-

geisterung, die mitunter schwärmerische und futuristische

bahnen und der großen Durchgangsbahn in unmittelbarer

Züge annahm: „Kristall, das im azurnen Blau schillert und

Verbindung stehen“.

unter dem grauen Winterhimmel leuchtet – Kristall, das

60

Die Mobilität spielte eine Schlüsselrolle in der für drei Millionen

schwerelos in der Luft zu schweben scheint, das am Abend

Einwohner geplanten Stadt, die durch die neuen die Verkehrs-

funkelt und glitzert – elektrischer Zauber.“65

ströme lenkenden Verkehrsachsen eine Umstrukturierung erfuhr:

Zwischen den Wolkenkratzern öffnet sich eine weite, 2400 × 1 500

„Der Verkehr läßt sich einteilen – leichter als alles andere.

Meter große Fläche (insgesamt 3,64 Mio. m2) mit Parks, Gärten

Heute ist der Verkehr nicht eingeteilt, – Dynamit in den

und begrünten Hügeln, die durch die Verwertung des

Hochöfen der Korridorstraßen geschleudert. Der Fußgänger

Erdaushubs für die Fundamente der Türme eine Art künstliche

ist zum Tode verurteilt. Und trotzdem: der Verkehr läuft

Topografie bilden. Aus der grünen Masse ragen punktuell

nicht mehr.“

Denkmale früherer Epochen heraus, losgelöst von ihrem

61

Die vom Architekten vorgeschlagene Lösung lässt sich in

historischen Kontext – „mit Sand bestreute Alleen führen zu

wenigen Worten zusammenfassen: „Nord–Süd, Ost–West,

ihnen“,66 sodass sie wie überdimensionales Spielzeug in einem

die große Durchgangsbahn für Blitzfahrzeuge“.62 Die Auto-

großen Sandkasten anmuten. Rampen führen zu einer langen,

drome oder Autobahn besteht aus aufgeständerten, 40 oder

von Straßencafés gesäumten Promenade, von wo aus – dem

60 Meter breiten Fahrbahnen mit Einbahnverkehr, jeweils

neuen städtischen Boden, der die Altstadt überragt – sich eine

zwei nebeneinander (also 80 bis 120 Meter breit) und mit

Aussicht bietet, die „tausend Meter nach vorne flieht“,67 in

Abfahrten über Rampen in Abständen von 400 Metern.

eine endlose Weite. Das Wesen der Stadt und die Art und

So konnte man die Stadt „mit der allergrößten Geschwindig-

Weise, sie zu bewohnen, haben sich vollkommen verändert:

keit“ durchqueren, um schnell die Vororte zu erreichen,

„Das Zentrum der City muß in die Höhe gebaut werden.

„ohne durch eine Kreuzung aufgehalten zu werden“. Diese 63

Vorstellung spiegelt die Begeisterung des Architekten für Geschwindigkeit und moderne Technik wider. Konkret plante Le Corbusier, die Hauptachse parallel zur Route Triomphale zu bauen, „die wirklich große Fahrbahn“,64 die die Wohnvororte im Westen mit dem Industrieviertel im Osten verbinden sollte. In Nord-Süd-Richtung ersetzte er den heutigen Boulevard de Sébastopol durch die zweite Durchfahrtsstraße, die sich zu zwei riesigen Plätzen aufweitet, welche das Zentrum des neuen Geschäftsviertels bilden. Alle Straßen und Wege befinden sich über dem Boden auf unterschiedlichen Ebenen, um zu verhindern, dass sich die Verkehrsströme kreuzen, und sind durch Auf- und Abfahrtsrampen miteinander vernetzt. Damals war die Trennung der Verkehrsströme, um sich unabhängig voneinander zu Fuß oder mit dem Auto bewegen zu können, eine absolute Neuheit. Die Kreuzung der Hauptachsen wird von 18 Hochhaustürmen flankiert, die jeweils 200 Meter hoch sind (60 Geschosse), einen kreuzförmigen Grundriss haben, im Abstand von 400 Metern

Anmerkungen Seite 132

Le Corbusier, Ville Radieuse, 1930, Modellfoto

Le Corbusier: Plan Voisin de Paris

111

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 112

Sportanlagen, Geschäfte, Kindergärten und Schulen sowie Arztpraxen untergebracht.69 Der Grüngürtel um Paris (jenseits der Verbindungsstraße, den Boulevards des Maréchaux) dient als „Stadtlunge“, ist aber auch als Landreserve im Hinblick auf eine zukünftige Stadtentwicklung gedacht (obwohl sie dann den Zweck der Lunge gefährden würde). Dieser Gürtel muss im Gemeindeeigentum sein, betont Le Corbusier, damit die Gemeinde frei darüber verfügen kann und Bodenspekulation unterbunden wird. Um den Grüngürtel herum befinden sich Gartenstädte für zwei Millionen Einwohner. Le Corbusier, Pavillon de l’Esprit Nouveau, 1925

112

Die Wohnbauten in der City dürfen nicht an ,Korridorstraßen‘

„Um der Bestie die Spitze zu bieten“: Baukunst oder

voller Lärm und Staub und um finstere Höfe herum errichtet

Revolution

werden. Die Stadtwohnung kann ohne Hof und abseits der

Durch diesen radikalen Entwurf würde das „dumpfe, ver-

Straßen gebaut werden, mit Fenstern, die auf ausgedehnte

schlossene, erdrückende“ alte Paris den „jahrhundertealten

Parks blicken.“68

Gewohnheiten“ entrissen und als moderne Großstadt, „Phä-

Diese Wohnhäuser, die im nördlichen Teil des Geschäftsviertels

nomen einer unbedingt notwendigen Ordnung“ wiederauf-

abseits der neuen großen Durchfahrtsstraßen im Grünen

gebaut,70 verkündete der Architekt voller Überzeugung. Eine

stehen, bilden offene „Blocks in Zahnschnittform“ und „ge-

derartige Umgestaltung, die auf dem Tabula-rasa-Prinzip

schlossene Wohnblöcke“, deren Größe und Abstand vonein-

gründet, als ultimative modernistische Utopie anvisieren zu

ander so bemessen ist, dass sie ausreichend Licht und Luft

können, setzte eine abstrakte Vision voraus, die sich von der

für eine Million Einwohner bieten. Dieser neue Immeuble-

Realität der Stadt und ihrer Bewohner:innen, aber auch von

Villas oder „Villa-Block“ genannte Gebäudetyp stellt ein

der Geschichte vollkommen losgelöst hatte:

absolutes Novum dar, besteht er doch aus vier übereinander

„Vorgehend, wie der Praktiker in seinem Laboratorium zu

gestapelten doppelgeschossigen Wohneinheiten mit Terrassen

verfahren pflegt, habe ich die Spezialfälle geflohen: Ich

sowie zwei Attikageschossen darüber, deren Aneinanderreihung

habe sämtliche Zufälligkeiten ausgemerzt; ich habe mir ein

riesige, mit „Villen“ gefüllte „Regale“ bildet: zahnschnittför-

ideales Terrain gewählt. Das Ziel war ja nicht, mit Zuständen

mige Appartementblöcke mit zehn Geschossen. Auf dem

schon bestehender Gegebenheiten fertigzuwerden, sondern

Dach sind eine 1 000 Meter lange Sprintbahn und ein Solarium

durch Konstruktion eines Theoriegebäudes von äußerster

geplant. Nur zwölf Prozent des Bodens sind überbaut, da

Strenge vorzudringen zur Formulierung der Grundprinzipien

die Wohneinheiten (mit 2 700 Bewohner:innen pro Gebäude)

für den modernen Städtebau. Diese Grundprinzipien können,

auf Betonpfeilern ruhen, damit die gesamte Bodenfläche

wenn sie nicht bloße Erdichtungen sind, das Knochengerüst

den Fußgängern zugute kommt. In den Erdgeschossen sind

bilden für jedes städtebauliches System der Gegenwart.

Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 132

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 113

Sie werden die Regel sein, nach der das Spiel gespielt

allerdings stand ihm kein Politiker zur Seite, der solche

werden kann.“

Tabula-rasa-Maßnahmen durchsetzen konnte. Daher: „Wir

71

Diese „Spielregel“ lässt sich beliebig anwenden, als fielen in

bräuchten einen Mann mit eiserner Hand, der den Auftrag hat,

dieser modernistischen Utopie die kulturellen Unterschiede

die Lösung für die Stadtfrage anzuweisen. – Einen Mann, aus-

sowie die morphologischen und topografischen Besonder-

gestattet mit weitestgehenden Vollmachten, einen Colbert.

heiten nicht ins Gewicht, ob „Paris, London, Berlin, New York

Wir fordern einen Colbert!“76 So einen eisern durchgreifen-

oder den winzigsten Flecken“, so Le Corbusier. Von der Not-

den Mann gab es 1925 in Frankreich nicht. Mussolini, für den

wendigkeit überzeugt, alles zu meistern, verkündete er in

Le Corbusier eine große Bewunderung hegte und bei dem er

kämpferischem Tonfall: „wird man ihm als Meister gegen-

sich um einen Termin bemühte, um seine Stadtentwürfe vor-

überstehen, […] wird man der Schlacht, die sich entspinnen

zustellen, hatte kein Interesse an ihm.

will, eine entscheidende Wendung geben. Denn eine Großstadt von heute städtebaulich gestalten zu wollen, heißt eine

Der Pavillon de l’Esprit Nouveau, 1925: eine Kostprobe

fürchterliche Schlacht liefern.“

des Plan Voisin de Paris

Der Größe seines Entwurfs stellte der Architekt die Dürftig-

Um sein Projekt voranzutreiben, stellte Le Corbusier eine

keit der Projekte und Maßnahmen der Stadtbehörden gegen-

Inszenierung auf die Beine, die zeigen sollte, was modernes

über (Schutzleute, Lärm- und Leuchtsignale, Fußgängerbrücken

Bauen für ihn bedeutete, wobei er alle Maßstäbe in gleich

über die Straßen, rollende Steige unter den Straßen, Garten-

radikaler Weise behandelte – von der Wohnzelle über den

städte, Streichung von Straßenbahnlinien usw.), die hier und

Röhrenstuhl bis zur Stadt. Sein Pavillon de l’Esprit Nouveau,

da Kleinigkeiten zu verbessern suchten, „um der Bestie die

der für die Internationale Kunstgewerbeausstellung in Paris

Spitze zu bieten“. Vergebens: „Die BESTIE, die Großstadt, ist

1925 entworfen und vom Autobauer Gabriel Voisin und vom

sehr viel stärker als alles dies. Sie braucht nur zu erwachen.

Industriellen Henry Frugès kofinanziert wurde, ist der Prototyp

Was wird man morgen erfinden?“

einer Wohneinheit, der Immeuble-Villas des Plan Voisin. Die

Eine Sorge, die auch in der berühmten Aussage „Baukunst

neuen übereinander gestapelten und nebeneinander gestellten

oder Revolution“ zum Ausdruck kommt, die er 1923 in seinem

Wohneinheiten bestehen jeweils aus einem standardisierten

72

Buch Vers une architecture formuliert, um auf die Notwen-

Minimalraum mit integrierter moderner „Ausrüstung“ (also

digkeit hinzuweisen, dass entsprechend den Herausforde-

keinen Möbeln im herkömmlichen Sinne). Auch bei diesem

rungen der modernen Epoche gebaut werden müsse.

das Interieur betreffenden Maßstab ist ein radikaler Bruch mit

73

Le Corbusier zufolge geht es um „die Wiederherstellung des heute gestörten Gleichgewichts“, denn: „Das Räderwerk der Gesellschaft ist ernstlich gestört, es schwankt zwischen einem Aufschwung von historischer Bedeutung und einer Katastrophe.“74 Nach dieser bedrohlichen Feststellung liefert der Architekt seine Wunderlösung für die Stadt. Sie besteht in einem radikalen Kurswechsel, der auf einer kraftvollen Programmatik basiert: abreißen, um eine neue Stadt mit hoher Dichte zu bauen (die drei- bis viermal so hoch ist als in den historischen europäischen Städten). Le Corbusier hatte die Bedeutung des Stadtzentrums und seines Bodenwerts sehr wohl erkannt, als er feststellte: „es gibt also im Zentrum der Großstädte eine Diamantenmine, die der Staat ab sofort ausbeuten könnte, wenn eine adäquate Gesetzgebung greifen, ein Programm existieren und eine vernünftige Lehre dieses Programm inspirieren würde“,75 Le Corbusier, Pavillon de l’Esprit Nouveau, 1925 Anmerkungen Seite 132

Le Corbusier: Pavillon de l’Esprit Nouveau

113

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 114

der Geschichte und den Nutzungen festzustellen:

geführt, eine Rotunde, wo sich ihnen zwei große Dioramen

„Ein neuer Begriff hat das Wort Mobiliar ersetzt: dieser

von 100 Quadratmetern darboten: das eine die Dreimillionen-

Ausdruck verkörperte in jeder Beziehung lange Tradition

stadt, das andere der Plan Voisin de Paris. An den Wänden

und Vergangenheit. Das neue Wort wird Ausrüstung eines

„gründliche Studien von Wolkenkratzern, Wohnkolonien in

Hauses sein. […] Die Studien an Stühlen und Tischen führten

Zahnschnittform, zellenartige Siedlungen und eine Menge

zu vollkommen neuen Ergebnissen und zu völlig anderer

neuer Architekturtypen, konsequente Ergebnisse von Gedan-

Anordnung nicht formeller oder kunstgewerblicher Art,

ken, die auf die Zukunft gerichtet sind“,78 resümierten

sondern funktioneller Natur; die strenge Etikette ist im

Le Corbusier und Pierre Jeanneret in ihrer Autobiografie und

Lauf der Entwicklung der Sitten gefallen; man darf sich

ließen dabei nicht unerwähnt, dass der Pavillon auf Anordnung

heute auf sehr viele Arten setzen und diesen verschiedenen

der Baudirektion der Ausstellung, die „dem Unternehmen in

Sitzweisen müssen die neuen Stuhlformen entsprechen,

der feindseligsten Weise begegnete“,79 hinter einem sechs

die ohne Schwierigkeit aus Metallröhren oder Blechen

Meter hohen Palisadenzaun versteckt wurde, um das Werk

hergestellt werden können. […] Im Verlaufe von Vorträgen

den Blicken der Besucher:innen zu entziehen – bis der Minis-

[…] gelangte man […] zu einem neuen System häuslicher

ter für Bildung und Kunst, Anatole de Monzie, der die Aus-

Organisation.“

stellung eröffnete, diesen wieder entfernen ließ. So wurde

77

Diese Neuorganisation des häuslichen Wohnens betraf alle

die „strahlende“ Moderne aufgrund der ihr (wie dem Denken

Bereiche, angefangen mit der Körperhaltung über die Wohn-

Nietzsches) zugeschriebenen Sprengkraft erst einmal diskret

form bis hin zur Stadtstruktur. Schritt für Schritt entdeckten

verhüllt, bis sie dann doch zum Ausbruch kam und die gelten-

die Besucher:innen das ganzheitliche Programm in all seinen

den Kulturmodelle außer Kraft setzte.

Maßstäben: Erst lernten sie den Prototyp der villa von außen

Le Corbusier unternahm mehrere Anläufe, um für seinen Plan

und innen kennen, dann wurden sie in den Anbau des Pavillons

Voisin zu werben. 1930 arbeitete er zusammen mit dem jungen Filmemacher Pierre Chenal an drei Kurzfilmen über moderne Architektur, in denen er sein Städtebauprojekt erläuterte. Er stellte es in den Architekturzeitschriften L’Architecture d’aujourd’hui und Bâtir vor, wobei er dessen Vorzüge als „grünes Projekt“ mit Aufnahmen üppiger Natur hervorhob, die in deutlichem Kontrast zu der von ihm beschriebenen Beengtheit und Gesundheitsschädlichkeit der Pariser Gassen standen. 1938 drehte Jean Epstein den Dokumentarfilm Les Bâtisseurs, in dem Le Corbusier anhand zahlreicher Skizzen und eines großen Modells des Plan de Paris – er hatte es angefertigt mit dem Ziel, „eine Reihe fotografischer Dokumente anzufertigen, die ein Gefühl der Wirklichkeit vermittelten“80 – eine Lektion in Stadtplanung erteilte. Die Präsentation ihres Projekts auf der Pariser Weltausstellung 1937 im Pavillon des Temps Nouveaux bot Le Corbusier und Pierre Jeanneret „die Gelegenheit, der Öffentlichkeit und der Obrigkeit den Abschluss von 20 Jahren Studien zu unterbreiten. Die Studie legt die aufeinander folgenden Etappen vor, von denen die erste gleich morgen beginnen kann. […] Wie es scheint, hat die Stunde der allgemeinen

Le Corbusier, Automobil „Delage, 1921“, Kap. „Die Augen, die nicht sehen“ aus: Vers une architecture, 1923

114

Schaffen durch Zerstören

Umgestaltung der Städte geschlagen: Es ist das Programm schlechthin in der gegenwärtigen Epoche.“81

Anmerkungen Seite 132

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Krise, Beschleunigung und Fortschritt

noch Sklave der Technik, anstatt sich ihrer zu bedienen: „Wie dumm steht der Mensch nach Atem ringend und

Die Futuristen und Le Corbusier teilten die gleiche Faszina-

keuchend vor diesem Werkzeug, mit dem er nichts anzu-

tion für die Maschine, die neue Technik und die Idee der

fangen weiß. Der Fortschritt scheint ihm gleichermaßen

Tabula rasa. Der Erste Weltkrieg hatte sich als Beschleuniger

hassens- wie lobenswert; sein Geist ist ein einziges Chaos.

von technologischen Innovationen und industriellen Produkti-

Der Mensch fühlt sich dabei aber eher als Sklave einer

onsmethoden erwiesen. 1923 stimmte Le Corbusier in seinem

Zwangslage und hat gar nicht das Gefühl einer Befreiung,

Buch Vers une architecture ein Loblied auf diese Form der

Erleichterung oder gar Verbesserung seines Loses.“84

Beschleunigung an in der Hoffnung, dass sie auch in der

Die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber den neuen techni-

Architektur Anwendung finden würde:

schen Werkzeugen und den Auswirkungen der Mechanisierung

„Der Krieg hat die Schläfer wachgerüttelt. Man sprach vom

geht mit einem Krisengefühl einher:

Taylorsystem. Man wandte es an. Die Unternehmer kauften

„Eine schwere Zeit der Krise, vor allem moralischer Krise.

wohldurchdachte, ausdauernd und rasch arbeitende

Um die Krise zu überwinden, muß man die geistige

Maschinen. Werden die Bauplätze demnächst Fabriken

Voraussetzung dafür schaffen, die Vorgänge zu begreifen

werden? Man spricht von Häusern, die man an einem Tag

und die neuen Werkzeuge zu gebrauchen. Wenn dieses

aus flüssigem Beton gießt, ähnlich wie man Flaschen füllt.

arme menschliche Wesen [la bête humaine, das menschliche

Und nachdem der Faden nun einmal eingefädelt ist, nach

Tier] sich in sein neues Joch geschickt hat und erfährt,

dem man so viele Kanonen, Flugzeuge, Lastwagen, Eisen-

welche Art von Leistung von nun an von ihm verlangt wird,

bahnwagen fabrikmäßig herstellt, sagt man sich: Könnte

dann wird es auch erkennen, daß sich die Dinge verändert

man nicht schließlich auch Häuser fabrikmäßig produzieren?

haben, daß sie sich verbessert haben.“85

Das wäre eine voll und ganz der Zeit entsprechende

So herablassend und moralisierend der Tonfall dieses Textes

Einstellung.“

ist (einen Tonfall, den wir noch zugespitzter aus der Feder von

82

Le Corbusier sah im technischen Fortschritt eine Chance für

Sant’Elia kennen, der von der „Feigheit der Ewiggestrigen“

eine radikale Veränderung der Bau- und Wohnweise im klei-

spricht), er kann als Appell an die Menschen verstanden werden,

nen wie im großen Maßstab, vom Stuhl bis zur Stadt. Die

sich der Technik zu bemächtigen und sie sich dienstbar zu ma-

Maschine diente ihm als strukturgebende Inspirationsquelle

chen, um dadurch eine neue Freiheit zu erlangen. Für Le Cor-

für diese Rundumerneuerung. Im Begleittext zur berühmten

busier und seine Anhänger kam es nicht infrage, das Automobil

Abbildung mit dem Titel „Augen, die nicht sehen …“ in seinem

zu verbannen, auch wenn es die Städte lebensfeindlich machte.

Buch erläutert er:

Stattdessen zogen sie es vor, die Form der Stadt selbst zu

„Würde das Problem des Wohnens und der Wohnung so

verändern, damit sie den Anforderungen der Fahrzeuge best-

gut durchstudiert wie das Fahrgestell eines Autos, dann

möglich entsprach. Sie forderten, dass sich die Stadt an-

erlebte man rasch eine Wandlung und Verbesserung unserer

passte, und nicht, wie heute, das Auto. Die Verbreitung des

Häuser. Wenn die Häuser wie die Fahrgestelle serienmäßig

Automobils bot für die Architekten die Gelegenheit, die

von der Industrie hergestellt würden, dann sähe man sehr

Lebensweise der Bewohner:innen grundlegend zu verändern.

bald überraschende Formen, aber gesunde, vertretbare,

Maschine und Technik gelten als Werkzeuge schlechthin der

auftauchen und die entsprechende Ästhetik würde sich mit

Beschleunigung des Fortschritts. Diese Dynamik sollte der

erstaunlicher Präzision ebenso bald formulieren.“

Mensch verstärken, so Le Corbusier, statt sie auszubremsen,

83

Die ästhetischen Prototypen dieses Paradigmenwechsels prä-

indem er nostalgisch auf eine vergangene Epoche zurück-

sentierte er insbesondere im Pavillon de l’Esprit Nouveau,

blickt, die nur noch ein Abklatsch ist und außerstande, die

wo das integrierte Mobiliar, der „Villen-Block“ und der Plan

Herausforderungen und Krisen der Moderne zu bewältigen.

Voisin ein großes Ganzes bildeten – ein ganzheitliches Mani-

Das Vordringen der Technik in alle Bereiche scheint ihm bei

fest der Moderne. Allerdings hätte die Menschheit seiner

diesem Prozess wesentlich zu sein. Die Maschine ist Symbol

Meinung nach das Problem noch nicht erfasst und sei immer

der Beschleunigung. Sie spricht aber nicht nur die Vernunft

Anmerkungen Seite 132

Krise, Beschleunigung und Fortschritt

115

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 116

an, sondern auch die Sinne: Als greifbares Ding erregt sie die

„Der Reisende, der im Flugzeug ankommt, vielleicht aus

Affekte; sie beschert neue Erfahrungen; sie vermag zu rühren.

Konstantinopel, vielleicht aus Peking, sieht plötzlich in dem

Le Corbusiers träumerische und lyrische Beschwörung der

Liniengewirre der Flüsse und Wälder diese klare Spur erschei-

strahlenden Stadt lässt futuristische Anklänge erkennen:

nen, die ihm die leuchtende Stadt der Menschen ankündet:

„Es ist Nacht. Wie ein Meteorenschwarm in den Sommer-

Diese Planung, die das Eigentum eines Menschenhirnes

Aequinoktien zeichnen die Autos Feuerzeichen der

ist.“89 Le Corbusier beendete mit demiurgischen Worten über

Autostraße entlang. Zweihundert Meter darüber, auf den

die Ordnung, die der Mensch der Natur zu geben vermag, seinen

Dachgärten der Wolkenkratzer (wirkliche Gärten […]),

Artikel „Une ville contemporaine“, dabei schlug er einen

breitet das elektrische Licht ruhige Freude aus. Die Nacht

schwärmerisch-futuristischen Ton an und verpasste nebenbei

darüber.“

dem Futurismus noch einen kleinen Seitenhieb:

86

Die Maschine ist hier weit mehr als ein rationales und funktio-

„In der Dämmerung flammen die gläsernen Wolkenkratzer

nales Werk: Sie wird zu einem Instrument der Projektion des

auf. Das ist kein gefährlicher Futurismus, kein literarischer

Menschen in eine neue Welt, die sich aus ihr heraus konstitu-

Dynamit, dem Zuschauer mit Gebrüll ins Gesicht geschleu-

iert. Waren für Nietzsche das Denken und die Kunst die

dert. Es ist ein Schauspiel, organisiert durch die Architektur

Triebfedern der radikalen Fortentwicklung unserer Kultur, so

mit den Mitteln der Plastik, die das Spiel der Formen unter

ist für Le Corbusier die Maschine der Katalysator der kommen-

dem Lichte ist.90

den Kultur, wie er in prophetischem Ton in Vers une architecture

Das ist der wahre Futurismus – wirkungsvoll, weil er bereit

verkündet:

ist, schon morgen eine neue Stadt zu errichten und eine neue

„[…] eine neue Epoche löst eine sterbende ab. Die

Lebensweise zu schaffen.Le Corbusier, der sich selbst „L’In-

Maschinentechnik, neu in der Geschichte der Menschheit,

transigeant“ nannte, der Unnachgiebige,91 dieser „wilde gute

hat einen neuen Geist erweckt. Jedes Zeitalter erschafft

freie Sturmgeist“, wie es bei Nietzsche heißt,92 machte gerne

sich seine eigene Baukunst, die reines Abbild ihres Denk-

reinen Tisch, um wie der schöpferische Dionysos „zerbrochene

systems ist.“87

Formen aus sich nachzuformen“. Diese zyklische Vorstellung

Auf die ontologische Krise der Moderne im Spannungsfeld

von einer ewigen Wiederkunft des Gleichen findet sich bei Le

zwischen der segensreichen und gleichzeitig unheilbringen-

Corbusier in dessen Wunsch wieder, ein neues Kapitel aufzu-

den Industrialisierung gibt Le Corbusier eine klare Antwort,

schlagen. Die Begeisterung für das Prinzip vom ewigen

indem er die Maschine zum Mythos macht. Seit den Futuris-

Schaffen und Zerstören, das sich jählings von der Geschichte

ten ist die Maschine zur Ikone der Moderne avanciert: unan-

befreit, nimmt freilich eine ganz andere Dimension an, wenn

tastbar und makellos, leuchtend, faszinierend, elektrisierend

es von der Philosophie auf den Städtebau und von der Roman-

und verführerisch, zukunftsträchtig. Sie wird zum Leitbild für

tik auf die Zeit zwischen den Weltkriegen übertragen wird –

die neue Stadt, für neues Wohnen, für einen neuen Körper

eine beklemmend konkrete Dimension in Bezug auf die ge-

und sogar ein neues Empfinden.

baute und soziale Wirklichkeit. Das Tabula-rasa-Prinzip löscht in einem Handstreich die histo-

Tabula rasa: wenn der Entwurf weiter geht als die

rische Zeit aus und zielt auf die Zukunft ab. Le Corbusier

Philosophie

suchte die Zeit zu beschleunigen, um den neuen Menschen

„Und warum sollte ich nicht bis ans Ende gehn? Ich liebe es,

in die Zukunft zu katapultieren; er wollte die „schwere Zeit

reinen Tisch zu machen“, verkündete Nietzsche eine Generation

der Krise, vor allem moralischer Krise“93 überwinden, indem

früher aus einem Antrieb heraus, der sich auch bei Le Corbusier

er die proaktive Zerstörung als Hebel einsetzte. „Baukunst

findet. Nicht aus bloßem nihilistischem Vergnügen, sondern um

oder Revolution“ lautet dann die Losung, um der durch das

eine neue Ästhetik zu schaffen, die betört durch „[r]iesige,

ernstlich gestörte „Räderwerk der Gesellschaft“94 verursach-

aber strahlende Prismen“, wie er mit Blick auf die Wolken-

ten Katastrophe zuvorzukommen. Es gilt, zur „Wiederherstel-

kratzer der Ville Radieuse euphorisch formulierte. Nicht min-

lung des heute gestörten Gleichgewichts“95 die alte Stadt zu

der begeisterte ihn die ordnende Kraft des Architekten:

zerstören, um eine neue Welt aufzubauen, die alles einschließt.

88

116

Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 132

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Die Architektur dient somit als Mittel, um Resonanz herzustellen; dabei sind Tabula rasa und Geschichtstilgung die Grundlage für diese Haltung der Erneuerung.

Gordon Matta-Clark: Anarchitektur und Conical Intersect, 1975 Die Arbeit von Gordon Matta-Clark (1943–1978) bietet einen

Export eines allgemeingültigen Entwurfs

guten Ansatzpunkt, um die Visionen der Ville Radieuse in ein

Nach zahlreichen Reisen ins europäische Ausland, nach Russ-

anderes Licht zu rücken und die Kehrseite der Politik

land und Südamerika war Le Corbusier erst recht davon über-

der Tabula rasa aufzudecken. Matta-Clark, der weit weniger

zeugt, dass die bestehenden „sehr beengten“ Städte

„strahlend“ war als sein älterer Kollege Le Corbusier, ist in

umgestaltet werden mussten, und entwickelte städtebauliche

der Architektur- und Kunstwelt mit seiner auf Destruktion

Visionen für Buenos Aires, Montevideo, São Paulo, Rio de

statt Konstruktion ausgerichteten Vorgehensweise zweifellos

Janeiro, Algier, Barcelona, Stockholm, Antwerpen u. a., die

eine der herausragenden ikonischen Figuren der Entropie.

alle auf seinem Konzept der Ville Radieuse basierten, das

Vor dem Hintergrund der massiven Abrisse, die im Namen

er 1930 in Fortsetzung seiner Stadtstudien skizziert hatte:

der Modernisierung in den Städten vorgenommen wurden,

„Heute kann der Öffentlichkeit oder den Entscheidungsträgern

war die apokalyptische Dimension in seinem Werk allgegen-

eine richtiggehende Städtebaulehre vorgelegt werden, die

wärtig. Dieses Vorgehen thematisierte und ritualisierte er,

dem gewaltigen Reformbedarf in allen Städten und auf allen

indem er selbst in vom Verschwinden bedrohte Häuser ein-

Kontinenten Rechnung trägt.“

griff und dadurch den Akt der Zerstörung in ein Kunstwerk

96

Le Corbusiers erstes städtebauliches Projekt, der Entwurf für

verwandelte. Hier gilt es nun vor allem an den krisenhaften

eine Umgestaltung von Paris, wurde, obwohl der Architekt

Kontext zu erinnern, in dem seine Projekte entstanden. Die

es verschiedenen Regierungen einschließlich dem Vichy-

Idee des „Schaffens durch Zerstören“ bekommt dann eine

Regime unterbreitete, nicht verwirklicht. Sogar nach dem

ganz andere Bedeutung als bei dem „Meister der Moderne“.

Krieg versuchte er noch André Malraux davon zu überzeugen, doch der entschied sich, bei aller Hochachtung für

New York ruiniert und als Ruine. Entropie und Ende des

Le Corbusier, für eine behutsamere Variante, die eine Sanie-

Fortschritts

rung des Stadtzentrums vorsah. Unabhängig davon, dass sich

New York war Anfang der 1970er Jahre so gut wie bankrott

die vollständige Zerstörung eines historischen Stadtkerns aus

(die erste Ölkrise von 1973 hatte zu einer schweren Rezession

vielerlei Gründen als schwierig erwies, ließen sich zahlreiche

geführt) und befand sich in einer politisch prekären Lage, da

Anhänger des Funktionalismus vom Entwurf der Ville Radieuse

der Vietnamkrieg damals sehr unpopulär war und der Water-

anregen. Man denke an Niemeyer und die neue brasiliani-

gate-Skandal das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber

sche Hauptstadt Brasilia, die in der geografischen Mitte des

den Entscheidungsträgern weiter geschürt hatte. Der „urban

Landes buchstäblich aus dem Nichts erschaffen wurde, oder

blight“ (Stadtverfall) und die Stagflation (das gleichzeitige

auch an den Schule machenden „urbanisme de dalle“ (mit

Auftreten von wirtschaftlicher Stagnation und Inflation) hatten

strikter Trennung der Funktionen auf verschiedenen Ebenen),

New York an einen Kipppunkt gebracht. Zu den düsteren

der in vielen Städten zur Anwendung kam, die zwecks Moder-

Zukunftsaussichten kamen eine große soziale Krise und eine

nisierung ihres Zentrums Schnellstraßen bauten, wie das

Identitätskrise hinzu, da nach der Ermordung von Martin

Hochhausviertel La Défense, die „voies sur berge express“

Luther King im Jahr 1968 Rassenunruhen ausbrachen und in

(Uferschnellstraßen) und die in den 1960er und 1970er Jahren

einigen Stadtteilen kriegsartige Zustände herrschten. Die

gebauten Vorstädte von Paris und auch weltweit, insbesondere

weiße Middleclass floh aus den Innenbezirken und ließ sich

in New York, belegen.

am Stadtrand oder auf dem Land nieder und überließ so den Ärmsten das Zentrum. Um einen Ausweg aus dem urbanen Chaos zu finden und der stringenten Vision einer „strahlenden Stadt“ ein Stück näherzukommen, ließ der oberste Stadtplaner von New York,

Anmerkungen Seite 132

Gordon Matta-Clark: Anarchitektur und Conical Intersect

117

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stellte. Dieser Umschwung schlug sich auch in der ästhetischen Haltung nieder. Während Le Corbusier für die Zerstörung unhygienischer Wohnviertel und den Bau moderner Städte plädierte, kämpfte Matta-Clark, der in New York seit seiner Kindheit die Vernichtung ganzer Wohnviertel persönlich miterlebt hatte, zeit seines Lebens gegen diese Maßnahmen. „Anarchitecture“98 – so auch der Name einer Künstlergruppe, die sich um Matta-Clark bildete99 – war die Antwort auf Le Corbusiers Ansatz: Indem die Anarchitektur das subversive und anarchische Vorgehen von Architektur für sich bean-

Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, Paris,1975, Fotograf: Harry Gruyaert

spruchte, stellte sie sich mit Robert Moses, Stadtautobahnen bauen, die das durch die

„Towards anarchitecture“ Le Corbusiers Vers une architecture

exponentiell gestiegene Anzahl an Automobilen verursachte

(engl. Towards an architecture, was sich als Wortspiel anbie-

Verkehrschaos abmildern sollten, damit die nunmehr an den

tet) diametral entgegen. Matta-Clark propagierte nicht wie

Stadträndern wohnende Schicht der Bessergestellten leichter

Le Corbusier Ordnung, Universalität und Fortschritt, sondern

in die Innenstadt gelangen konnte. Die neue Infrastruktur

Chaos, Originalität und Rebellion gegen das, was seinerzeit

entstand auf dem bestehenden Stadtgefüge, das Moses als

als Fortschritt galt. Auf Le Corbusiers mantraartig wiederholte

„Slums“ disqualifizierte, und so wurden ganze Stadtteile, ins-

Aufforderung „Denkt an die Aufgaben der Baukunst!“,

besondere alte Arbeiter- und Handwerkerviertel, abgerissen,

antwortete Matta-Clark mit einer schlichten Verneinung: „Die

um Wohntürme mit Sozialwohnungen zu errichten.

Anarchitektur versucht nicht, Probleme zu lösen.“100 Vielmehr

Dieser turbulente Kontext löste heftige Reaktionen in der

erkundet sie, wie schon das Wort nahelegt, die schöpferischen

Kunstszene aus und führte zu einem Paradigmenwechsel, wie

Spannungen, die durch den Gegensatz der apollinischen

der Schweizer Architekturtheoretiker Philip Ursprung unter-

und dionysischen Kräfte entstehen, wie James Attlee betont:

streicht: „Der Trend verlagerte sich von Harold Rosenbergs

Architektur ist Anarchie. Mit anderen Worten eine

,Tradition des Neuen’ zu Smithsons Idee der Entropie, weg

Anti-Architektur, die auf Nicht-Konstruktion, Nicht-Planung

vom linearen Fortschritt zur Idee des Recycelns. Andy Warhol

gründet und auf die Zerstörung der Architektur selbst

hatte 1964 in Empire die sublime Schönheit des Monopol-

hinausläuft. Damit nimmt diese Position, die als Reaktion auf

kapitalismus beschworen.“ Hier kündigte sich das Ende

die urbane Katastrophe entstand, selbst katastrophenartige

vom Zeitalter des auf der Idee eines unbegrenzten Wachs-

Züge an.

tums beruhenden Fortschritts durch einen Paradigmenwechsel

Die Vernichtung der Arbeiter- und Industrieviertel hatten bei

an: Ordnung wurde durch einen kritischen Entropie-Begriff

Matta-Clark nicht nur Betroffenheit ausgelöst, sondern ihn

ersetzt, der die chaotische Transformation, Unvorhersagbarkeit,

auch politisch empört, sodass er beschloss, gegen die Städte-

Desorganisation und den Zusammenbruch in den Vordergrund

baupolitik von Robert Moses anzukämpfen. Er versuchte, die

97

118

Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 132

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 119

von den Behörden nahezu aufgegebenen Viertel, deren Be-

apokalyptischen Kontext und verwandelte sie in Kunstwerke.

wohner:innen ihrerseits vor Abriss und Zerstörung flohen, mit

Solche dionysischen Handlungen lindern Spannungen, nach-

neuem urbanem und sozialem Leben zu erfüllen. Er initiierte

dem sie im Vorfeld maximal gesteigert wurden. Die daraus

Rituale in Form von Straßenfesten mit Graffiti-Aktionen, an

resultierende Lust kann als Urquelle des Schaffens erachtet

denen er die Bewohnerschaft teilhaben ließ, die mit einem

werden.103

auf dem Bürgersteig gegrillten Schwein am Spieß belohnt

Die Aisthetik, das heißt die Wahrnehmungserfahrungen

wurden. Matta-Clark war ein Mann der Straße, der Aktion

und das Teilen dieser Erfahrungen, gab ihm das Gefühl, zu

und der Rebellion. In einer riesigen, verlassenen Lagerhalle

existieren. Gordon Matta-Clark nahm eine Haltung ein, die

nahm er auf einem Holzbrett Platz, das an einem Stahlträger

dem Fortschrittsgedanken diametral entgegenstand. Sein

befestigt war. Mit einer Motorsäge schnitt der junge Mann,

Credo „Completion through Collapse“ beinhaltete eine

der eine Bärennatur hatte, ein leicht abgeschrägtes, linsen-

ästhetische Strategie, die sonderbar entropische, im Destruk-

förmiges großes Loch in die Blechwand, das im dunklen

tionsmodus geschaffene „Tempel“ hervorbrachte: ein in der

Hallenraum wie eine Sonnenfinsternis aussah. Wie im Pariser

Mitte zerteiltes Haus, dessen Hälften umzukippen drohen

Panthéon drang das Licht durch eine einzige Öffnung in die

(Splitting), ausgehöhlte Gebäude, die wie implodiert

weiträumige, leere Gewerbehalle und verlieh ihr etwas Poeti-

aussahen (Conical Intersect), oder eine durchlöcherte

sches und Magisches, ein krasser Gegensatz angesichts der

Lagerhalle, die sich durch das plötzlich einfallende Licht in

apokalyptischen Zerstörung rundherum. Die Aktion fand

einen „Pantheon“ zu verwandeln scheint (Day’s End). Man

1975 statt und bekam den poetischen Titel Day’s End. Sie

kann Matta-Clarks Aktionen als „sakralisierende Akte“

gab den Auftakt zu weiteren Cuttings, die Matta-Clark wenig

begreifen, bei denen nicht das Zepter die Grenzen des Bau-

später unter der Bezeichnung Conical Intersect in Paris vor-

körpers vorgibt (wie bei den Auguren, die den Standort des

nehmen sollte, als das Quartier des Halles abgerissen wurde,

Tempels festlegten), sondern die Motorsäge, die ihm

wovon Le Corbusier immer geträumt hatte.

dadurch einen anderen Status verleiht, den eines Kunstwerks

Mit seinen proaktiven Destruktionen, die er vor dem geplanten

mit einer eigenen Zeitlichkeit. Diese zerschnittenen, „von der

Abriss durchführte, beschleunigte Matta-Clark die Zeit. Er nahm

Welt abgetrennten Tempel“ laden uns zum Nachdenken

Gebäude in Besitz, die der Zerstörung anheimgegeben waren,

über ebendiese Welt und die sie beherrschende Dynamik

um sie vor dem Abriss ein letztes Mal zu beseelen. Wie von

ein, was letztlich das Wesen der Kunst ausmacht. Im Gegen-

einem dionysischen Ritual besessen (ein Film belegt dies

101

),

satz zu Le Corbusiers „geometrischer Platte“ sind

schnitt er konische Teile aus Wänden und Holzböden, bis

Matta-Clarks „Tempel“ ihrem Wesen nach entropisch.

durch die durchlöcherten alten Gebäude – wie durch das

Die Idee der Entropie – der regellosen, nicht vorhersagba-

Auge eines Zyklopen – die Baustelle des zukünftigen Centre

ren, chaotischen Umwandlung – verdrängt die ordnungs-

Pompidou mit dem riesigen, vollkommen weißen Knochen-

basierte Städtebaulehre der Ville Radieuse und markiert,

gerüst zu erblicken war. Es war wie ein Schwanengesang auf

indem der Fortschrittsgedanke aufgegeben wird, den

das Innenleben und die gelebte Geschichte der 300-jährigen

Übergang zur Postmoderne.

Gebäude, die nun solchermaßen freigelegt (mit angeschnittenen Tapeten und Fliesen) sich ein letztes Mal in die Zeit und in

Was sich in den Ansätzen von Matta-Clark, Le Corbusier und

das kollektive Gedächtnis einschreiben konnten, bevor sie

Sant’Elia, die je eigene raumzeitliche Fiktionen geschaffen

endgültig verschwanden.

haben, herauskristallisiert (wenn auch auf unterschiedliche

In Matta-Clarks Werk ist eine doppelte Dynamik zu erkennen,

Weise), hat Jacques Rancière brillant auf den Punkt gebracht:

die einerseits auf einem Zerstörungswillen beruht, verbunden

das Reale muss fiktionalisiert werden, „damit es gedacht wer-

mit einer zutiefst aperspektivischen Haltung im nihilistischen

den kann“,104 aber auch kritisiert und verändert. Ihre Projekte

Sinne. Andererseits wird sein starker Wunsch deutlich, diesen

haben allen Unterschieden zum Trotz ein gemeinsames Ziel:

Wiederholungszwang (nach dem Prinzip der „ewigen Wieder-

die Geschichte und die Zeit auf den Kopf zu stellen, um

kehr des Gleichen“102) durch Sublimierung umzuwandeln:

unser In-der-Welt-sein zu hinterfragen. Der Modus der Be-

Durch das Zerschneiden der Gebäude löste er sie aus ihrem

schleunigung scheint die effizienteste Strategie zu sein, um

Anmerkungen Seite 132 und 133

Gordon Matta-Clark: Anarchitektur und Conical Intersect

119

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 120

so schnell wie möglich zum „Nullpunkt“ zu gelangen – durch

Blick auf die Probleme der heutigen Welt mit den Wirtschafts-

ein befreiendes radikales Aufräumen, das einen fiktionalen

und Politiktheorien beschäftigen, in denen das Konzept der

Raum eröffnet, in dem alles möglich wird, zum Guten wie

„schöpferischen Zerstörung“ eine entscheidende Rolle spielt,

zum Schlechten.

insbesondere für unsere Gegenwart, in der die Ideen des Akzelerationismus ein Comeback erleben. Wie sich herausge-

Akzelerationismus

stellt hat, haben die sozioökonomischen und politischen Theorien und Dynamiken nämlich starke Auswirkungen auf

Inzwischen ist die von Futurismus und Moderne ersehnte Be-

unsere Städte, deren Architektur und Bewohnerschaft.

schleunigung, die sich an Begriffen wie „neue Technologien“ oder „fortwährende Erneuerung“ festmacht, zu einer furcht-

Schumpeters Begriff der „schöpferischen Zerstörung“

bar konkreten Wirklichkeit geworden, da sich ihre exponen-

Karl Marx prägte den Begriff „schöpferische Zerstörung“

tielle Dynamik nunmehr unserer Kontrolle entzieht, mit

Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der For-

verheerenden Folgen für die Menschheit und den Planeten.

mulierung der kommunistischen Theorie.105 Der Begriff gründet

So werden wir uns im letzten Abschnitt dieses Kapitels mit

in der Tatsache, dass der Kapitalismus frühere Wirtschaftsordnungen zerstört und umordnet, indem er den vorhandenen Reichtum entwertet (durch Krieg oder durch periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrisen), um Platz für die Schaffung neuen Reichtums zu machen. Dieses Konzept wurde von dem deutschen Soziologen Werner Sombart, der sich offen zum Einfluss Nietzsches auf seine Theorie bekannte, in Krieg und Kapitalismus (1913) aufgegriffen,106 später auch von dem österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter, der ab 1927 an der Harvard University lehrte, wobei er in Abwendung von der marxistischen (kritischen) Analyse eine ultraliberale Deutung vornahm. Schumpeter, der eine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung formulierte, definierte Wachstum als einen unaufhörlichen schöpferischen Prozess der Zerstörung und Umstrukturierung wirtschaftlicher Aktivitäten. „Der fun-

Highland Park Plant Model-T, Fordwerke, um 1920

damentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält“, so Schumpeter, „kommt von den neuen Konsumgütern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden“,107 um fremde oder einheimische Märkte zu eröffnen. „Dieser Prozeß einer industriellen Mutation […], der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozeß der ,schöpferischen Zerstörung‘ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muß auch jedes kapitalistische Gebilde leben.“108 Krisen sind nicht bloß Aussetzer der Wirtschaftsmaschinerie, sie sind der Logik des Kapitalismus inhärent. Schumpeters Theorie zufolge sind sie heilsam und für den wirtschaftlichen

Aufgegebene Fabrikhalle in Detroit, 2014, Fotograf: Quentin Mourier

120

Schaffen durch Zerstören

Fortschritt notwendig, da sie an bewährten Positionen rütteln

Anmerkungen Seite 133

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 121

und die Suche nach neuen Ideen befördern. Eine Behinde-

und die Moderne in eine Logik der Flucht nach vorn ein-

rung des Innovationsflusses würde den Boden für eine Rezes-

schreibt, vertritt die Idee, dass der einzuschlagende Weg in

sionsphase bereiten, auf die eine Krise folgt.

Krisenzeiten nicht Widerstand, Ablehnung oder ein Rückgriff

Diese Wirtschaftslogik, die auf mehr oder weniger geregelte

auf frühere Epochen sein kann, sondern darin besteht, ausge-

Weise unsere Welt regiert und auf einem fortwährenden

hend von den Bedingungen des Hier und Heute vorwärtszu-

Schaffens- und Zerstörungsprozess basiert, der Wirtschafts-

kommen und die unsere Realität beherrschende Dynamik

wachstum garantiert (und bei Bedarf mit industriellen Umwäl-

zu verstärken, indem das, was als Nächstes kommen könnte,

zungen und Standortverlagerungen einhergeht), hat bei jeder

beschleunigt eintreten wird.

Fabrikschließung verheerende Folgen für Gesellschaft, Stadt

Im Jahr 2013 veröffentlichten Nick Srnicek und Alex Williams,

und Umwelt auf globaler Ebene. Die Globalisierung hat den

beide damals junge Doktoranden an der London School of

Wettbewerb drastisch verschärft, auch zwischen den Produk-

Economics und an der University of East London, ein Manifest

tionsstandorten. Die Vernichtung lokaler Arbeitsplätze, die

mit dem Titel #ACCELERATE MANIFESTO for an Accelera-

durch neue Arbeitsplätze am anderen Ende der Welt ersetzt

tionist Politics. Dieses #Beschleunigungsmanifest für eine

werden, ist fester Bestandteil dieses Systems.

akzelerationistische Politik, das in mehrere Sprachen über-

In der globalen Beschleunigungsdynamik schrumpfen die

setzt wurde und rasch große Verbreitung fand, löste heftige

Vektoren von Raum und Zeit zusammen. Durch die Entwick-

Kontroversen aus, da die marxistisch geprägten Autoren die

lung der Verkehrs- und Kommunikationsnetzwerke ist die

Ansätze des Degrowth oder Postwachstums zum Aufbau

ganze Welt in unmittelbare Reichweite gerückt. Das Resultat

einer postkapitalistischen Welt ablehnten.109 Ihr Projekt einer

der Schwankungen des Marktes sind postindustrielle Ruinen –

„alternativen Moderne“ erteilt dem „entschleunigenden

Detroit ist ein beredtes Beispiel dafür –, die uns die verhee-

Primitivismus“ eine Absage, der ihrer Ansicht nach keine

renden Folgen vor Augen führen, die eine ultraliberale, aus-

Zukunft bietet, weil seine von Lokalismus gespeiste Politik

schließlich auf Gewinnmaximierung ausgerichtete

nur zu einer allmählichen Fragmentierung führe, „zur perma-

Wirtschaftspolitik in einer globalisierten Welt auf eine Indus-

nenten Krise und zum weltweiten ökologischen Zusammen-

triestadt haben kann, wenn die Produktion aus Kostengründen

bruch“.110 Stattdessen fordern sie die Umweltbewegung auf,

an einen anderen Ort verlagert wird. Übrigens hat Henry

den Kapitalismus, den technologischen Fortschritt und die

Ford (1863 –1947) Schumpeter zur Beschreibung des Vorzeige-

Automatisierung der Produktivkräfte zu beschleunigen, um

Unternehmers inspiriert.

ein anderes „radikales Projekt der Moderne, Emanzipation

Abgesehen von der Schaffung von Kapital hat die Schumpe-

und Demokratisierung im Tandem mit der technologischen

ter’sche „schöpferische Zerstörung“ letztlich nur zu sozialem und ökologischem Chaos geführt. Weit entfernt vom Glamour des „Vorzeige-Unternehmers“ der 1920er Jahre, der Verkörperung einer sonderbaren Fortschrittsvision, die vom Prinzip der permanenten Zerstörung bestimmt war, veranlasst uns diese Beschleunigungsdynamik mit ihren verheerenden Auswirkungen auf globaler Ebene heute zum Nachdenken, wie wir eine andere Beziehung zur Umwelt und zur Gesellschaft aufbauen können. #ACCELERATE MANIFESTO von Nick Srnicek und Alex Williams Der Akzelerationismus, der sich heute Bahn bricht, schlägt freilich einen anderen Weg ein. Die wirtschaftliche, politische und philosophische Denkrichtung, die sich wie der Futurismus

Anmerkungen Seite 133

Smart City, Taipei, Taiwan, 2018, DIGITIMES

Akzelerationismus

121

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 122

OMA, Ole Scheeren, Maha Nakhon, Bangkok, 2016, Fotograf: Srirath Somsawat

neuen sozialen, politischen, organisatorischen und ökonomi-

Entwicklung jenseits der vom neoliberalen Kapitalismus gesetzten Grenzen“ zu entwerfen.

122

111

Im Unterschied zur neo-

schen Vision.116 Es sei an der Zeit, gegen den „Zusammen-

liberalen akzelerationistischen Politik im Wortsinne Schumpeters

bruch der Idee der Zukunft“ zu kämpfen, der „symptomatisch

ist ihr Ziel der Aufbau „eine[r] Moderne der Abstraktion,

[ist] für den rückschrittlichen Zustand unserer Zeit“.117

Komplexität, Globalität und Technologie“,112 um „zu einer

Interessanterweise räumen Srnicek und Williams der Techno-

Vollendung des aufklärerischen Projekts von Selbstkritik und

logie einen wichtigen Platz ein, die uns durch Automatisierung

Selbstbeherrschung statt seiner Auslöschung“ beizutragen.

von der Arbeit befreien soll. Diese Vision habe Keynes schon

113

Ihr Manifest beginnt mit einer apokalyptischen Beschreibung

in den 1930er Jahren in seinem Essay „The Economic Possi-

der heutigen Welt:

bilities for our Grandchildren“ skizziert. Allerdings müsse

„1. Am Beginn des zweiten Jahrzehnts des einundzwan-

heute, angesichts der Tatsache, dass „die Arbeit nach und

zigsten Jahrhunderts sieht sich die globale Zivilisation mit

nach in jeden Aspekt des sozialen Getriebes gedrungen

einer ganz neuen Art der Katastrophe konfrontiert. Die

ist“,118 eine andere Beziehung zur Technologie entwickelt

bevorstehenden Apokalypsen machen die Normen und

werden, indem alle Möglichkeiten zur Verbesserung unserer

Organisationsstrukturen unserer Politik, die in der Geburt

Lebensbedingungen ausgelotet und die Technologie in den

der Nationalstaaten, dem Aufstieg des Kapitalismus und

Dienst der realen Bedürfnisse des Menschen (und nicht der

einem zwanzigsten Jahrhundert der beispiellosen Kriege

Erzeugung von Kapital) gestellt würde. Darüber hinaus

geprägt worden sind, zu einem Witz.“

schwebt den Autoren „eine Ausbreitung über die Grenzen

114

In der Überzeugung, dass die heutige Politik die „sich immer

der Erde […] hinaus“119 in neue Sphären vor, die mithilfe der

weiter beschleunigenden Katastrophen“115 nicht aufhalten kann,

neuen Technologien erforscht werden sollen – eine Vision

unterstreichen die Autoren die Notwendigkeit einer radikal

also, die sich in ihr Projekt einer „alternativen Moderne“ einfügt:

Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 133

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 123

„Schließlich wird nur eine postkapitalistische Gesellschaft,

Tatsächlich finden sich in dieser Vision die utopischen und

ermöglicht durch eine akzelerationistische Politik, je in der

dystopischen Träumereien des 20. Jahrhunderts wieder, ins-

Lage sein, das Versprechen der Raumfahrtprogramme des

besondere die des mechanischen Menschen der Futuristen,

mittleren zwanzigsten Jahrhunderts einzulösen – als

doch das Ziel ist ein anderes. Sahen die Futuristen in der

Verschiebung über eine Welt der minimalen technischen

Technik und vor allem im Krieg ein ultimatives, weil in seiner

Upgrades hinaus zu allumfassendem Wandel. Hin zu einer

Radikalität befreiendes Heilmittel (daher ihre starke Anziehungs-

Zeit der kollektiven Selbstbeherrschung und der wirklich

kraft für den Faschismus), so stellen sich die Philosophen der

fremden Zukunft, die sie mit sich bringt und möglich

London School gegen die rechtsgerichteten (rechtsliberalen

macht.“

und neofaschistischen) Bewegungen des Akzelerationismus

120

Die politischen Philosophen versuchen sich an einer Wieder-

und streben eine demokratischere Gesellschaft an, allerdings

aneignung der Ideale von Universalismus, Fortschritt, Technik,

von ganz eigenwilliger Ausprägung. Diese Gesellschaft

Humanismus, Vernunft und Emanzipation und heben die

würde durch eine seltsam anmutende Kombination beherrscht:

Bedeutung kollektiver Reflexion hervor. So beenden sie ihr

dem „PLAN“ (einer mächtigen vertikalen, wiewohl vom Kollektiv

Manifest mit einem zukunftsgerichteten Ausblick, der an das

effizient kontrollierten Instanz, mit deren Hilfe die Komplexität

Imaginäre appelliert: „Der Akzelerationismus strebt nach

der Welt und ihrer Umweltprobleme bewältigt werden könnten)

einer moderneren Zukunft – einer anderen Moderne, die der

und der „improvisierte[n] Ordnung des NETZWERKS“123,

Neoliberalismus von Natur aus nicht hervorbringen kann. Die

einer vernetzten Struktur aus horizontalen Gruppierungen:

Zukunft muss noch einmal aufgeknackt werden – und unsere

„Wir erklären, dass nur eine prometheische Politik der

Horizonte werden frei für die unbegrenzten Möglichkeiten

größtmöglichen Beherrschung der Gesellschaft und ihrer

des Außen.“

Umwelt in der Lage ist, mit globalen Problemen fertig zu

121

werden und die Oberhand über das Kapital zu erlangen. Beunruhigende oder zukunftsweisende Träumereien?

Diese Beherrschung muss unterschieden werden von der,

Die Faszination für die neuen Technologien als Wegbereiter

die die Denker der ursprünglichen Aufklärung so geliebt

einer neuen Zukunft erinnert an das Manifest des Futurismus.

haben.“124

Der Unterschied zwischen diesen beiden Manifesten, die

Dieses abstrakte Argument ist zwar zulässig, aber auch be-

im Abstand von fast hundert Jahren verfasst wurden, besteht

unruhigend, wenn man sich ausmalt, welche Folgen eine wie

allerdings darin, dass der italienische Futurismus die Technik

auch immer geartete „mächtige vertikale Instanz“ auf die

als Rettung begriff, sie verherrlichte und ästhetisierte und

Gesellschaft haben kann. Das weckt Erinnerungen an den

zum Selbstzweck erhob, während Srnicek und Williams sie

Faschismus, aber auch Ängste vor einer schon einmal dage-

eher als Werkzeug zum Aufbau einer postkapitalistischen

wesenen prometheischen Politik.

Welt betrachten, die besser, sozialer und demokratischer sein soll. Beiden gemeinsam ist die Faszination für eine

Ästhetik des Akzelerationismus

technologische Fantasterei, die einem erlaubt, sich über eine vernunftgeleitete, entzauberte Welt zu erheben:

Wie wir gesehen haben, inspirierte das Manifest des Futuris-

„Diese Bewegung über unsere derzeitigen Schranken

mus aus der Feder des jungen Dichters Marinetti einige

hinweg muss mehr beinhalten als nur den Kampf für eine

Jahre später Sant’Elia zu seinem Manifest Die futuristische

rationalere globale Gesellschaft. Sie muss, so glauben wir,

Architektur, mit dem er die Architektur einer futuristischen

auch die Bergung der Träume beinhalten, die so viele von

Gesellschaft in einen ästhetischen Rahmen fasste. Das

der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Anbeginn

#Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik

der neoliberalen Ära in ihren Bann geschlagen haben,

wurde hingegen von politischen Philosophen verfasst. Wie

Träume vom Streben des Homo sapiens nach Ausbreitung

sieht also hier eine Übertragung in den Kontext der Ästhetik,

über die Grenzen der Erde und seiner unmittelbaren kör-

Kunst, Architektur und Stadt aus? Wie machen sich Künst-

perlichen Form hinaus.“122

ler:innen und Architekt:innen das Science-Fiction-artige Konzept

Anmerkungen Seite 133

Ästhetik des Akzelerationismus

123

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 124

einer postkapitalistischen Welt zu eigen, um den Stellenwert

die Kundschaft ein nie dagewesenes Erlebnis mit Gänsehaut-

der Technik und ihr Verhältnis zur menschlichen Gesellschaft

momenten bereithält – getreu der Devise des „Immer mehr“.

völlig neu zu denken? Was hat es mit der akzelerationistischen

Die akzelerationistische Dynamik manifestiert sich sinnbildlich

Gesellschaft auf sich?

in der sich nach oben windenden Spiralform mit den heraus-

Einen Eindruck davon im architektonischen Bereich können

gebrochenen Teilen, wie bei Bruegels halb verfallenem Turm

uns Projekte von Wolkenkratzern vermitteln, die überall in

zu Babel. Diese prometheische Ikone des Kapitalismus hat

Asien oder auch anderswo gebaut werden. Immer schneller,

eine doppelte Bedeutung: Sie verweist nicht nur auf einen

immer höher, immer komplexer, immer verdichteter, immer

grenzenlosen Fortschritt (nach dem Motto „Alles ist mög-

schwindelerregender und reicher an einzigartigen Erlebnis-

lich“), sie scheint auch dessen Niedergang anzukündigen. Ein

sen – eine Architektur des „immer mehr“, eine Architektur,

entropisch anmutender Wolkenkratzer also, der dennoch

die die Dynamik der Stadt und der Wahrnehmung beschleu-

symbolträchtig für eine Welt steht, die (noch) dem Diktat der

nigt, eine Architektur der ikonischen Bilder, die im Internet

Beschleunigung unterliegt.

um die Welt gehen, eine Architektur, die zur Nachahmung anregt, um das Vorbild zu übertreffen. Es ist eine Architektur,

Smart City / Cyber City

die reinen Tisch macht mit dem bestehenden Stadtgefüge,

124

wie alle großen Vorhaben der Immobilienbranche (immer

Auf Stadtebene liegt dem Entwicklungskonzept der Smart

wieder werden die Wohnviertel der ärmsten Bewohner:innen

City (oder Cyber City) das Prinzip der Beschleunigung zu-

abgerissen), um Platz zu schaffen für die Stadt der Zukunft.

grunde. Im Unterschied zur Green City, die auf Entschleuni-

Die von multinationalen Unternehmen errichteten symbolträch-

gung setzt und daher dem vorangegangenen Kapitel

tigen Bauwerke verleihen diesem exponentiellen Vorgang

zugeordnet werden könnte, zielt die Smart City durch die

eine „Aura des Verlangens“ – eines Verlangens nach Über-

Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien,

bietung hinsichtlich Höhe, Geschwindigkeit und Hightech.

die auf der Sammlung von Metadaten beruhen, auf eine

Insofern ist diese hochgradig proaktive Architektur eine akzele-

komplett durchdigitalisierte Stadt ab, mit dem Ziel, die Qua-

rationistische Architektur, wobei ihr allerdings jegliche soziale

lität der städtischen Dienstleistungen, die Verkehrsströme

Dimension fehlt. In dieser Dynamik gibt es keine Vergangen-

und die Governance zu verbessern sowie das Ressourcenma-

heit mehr; alles findet sich in einer Gegenwart, die sich fort-

nagement und die Risikoprävention zu optimieren. Dieses

laufend erneuert und auf immer kühner werdende Zukunfts-

Konzept der hypervernetzten „Cyber City“ aus digitalen

horizonte zusteuert, wie Sant’Elia sich dies ein Jahrhundert

Gemeinschaften setzt sich weltweit immer mehr durch – auf

zuvor gewünscht hatte.„Ich glaube, es ist wieder Zeit für Uto-

unterschiedlichen Levels von künstlicher Intelligenz. 2018

pien. Wir haben so lange im Gegenteil gelebt, dass es Zeit

startete Taiwan ein Smart-City-Projekt mit dem Ziel einer

ist, wieder mutiger zu sein und darüber nachzudenken, wie

landesweiten Vernetzung im Bereich der Steuerung, des

Dinge auch ganz anders sein könnten“, so Ole Scheeren,

Transports, des Gesundheitswesens, der Ausbildung und der

125

ehemaliger Partner bei OMA und Erbauer des Maha Nakhon

Landwirtschaft, wobei autonome fahrerlose Luftfahrzeuge

Tower („Metropole“ auf Thailändisch) in Bangkok. Der 2016

(Drohnen) für Krisenprävention und -management eingesetzt

eröffnete, 77 Stockwerke hohe Glasturm scheint zu bröckeln,

werden, um Überschwemmungen, Brände oder die Ausbreitung

wie wenn ein Flugzeug es gerammt hätte und einige „Pixel“

von Epidemien in den Griff zu bekommen.126

herausgebrochen wären. An diesen Bruchstellen ragen

Das Sammeln von Daten birgt jedoch (neben möglichen Ver-

Luxus-Wohneinheiten in chaotischer Weise vor. Die spiralför-

letzungen des Datenschutzes und der Privatsphäre) die Gefahr

mig versetzten, würfelförmigen Elemente bilden Terrassen, die

der Abhängigkeit von einem digitalen Metasystem, das im

zum Teil frei in der Luft hängen, sodass schwindelerregende

Krisenfall zusammenbrechen kann – ausgelöst durch eine

Außenbereiche in mehreren hundert Metern Höhe entste-

Naturkatastrophe, Krieg oder einen Stromausfall (den ge-

hen. Als Krönung verfügt der Turm über einen höchst exklu-

fürchteten Blackout), was wirklich bedrohlich sein kann, wie

siven rooftop mit einem überhängenden Glasboden, der für

wir beim Krieg in der Ukraine gesehen haben, wenn ein Land

Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 133

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 125

zum Spielball geopolitischer Interessen wird. Sobald Städte

History128 (der Titel verweist auf ein fiktionales Spiel mit der

von Metadaten abhängig sind, die ihr „smartes“ Funktionie-

historischen Vergangenheit und der Zukunft) soll nur einen

ren regeln sollen, sind sie letztlich viel weniger resilient als

Vorgeschmack geben auf ein geplantes Werk, das sich aus-

vorher.

schließlich mit dem Thema „Masterplanet“ befasst. In Anbetracht der Klimanotlage hätten die Architekten, so Ingels, ein

Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet, ab 2020

Wörtchen mitzureden: „Während das Thema des Klimawandels im politischen Bewusstsein einen Höhepunkt erreicht hat, scheint es an

Das Beschleunigungsstreben, das auf KI und neue – teils rea-

konkreten Vorschlägen zu fehlen, wie das Problem auf

listische, teils fantasierte – Technologien setzt, kann noch viel

globaler Ebene angegangen werden kann. Statt der Kako-

weiter gehen. In der Nachfolge des Futurismus besteht eines

phonie von Berichten und Reden, Teilzielen und begrenzter

der Ziele des #Beschleunigungsmanifests von Srnicek und

Regulierung, die die derzeitigen Bemühungen kennzeichnen,

Williams, wie wir gesehen haben, in der „Bergung der

glauben wir, dass wir einen Masterplan für unseren ganzen

Träume […], die so viele von der Mitte des neunzehnten Jahr-

Planeten entwerfen müssen. Einen greifbaren, umsetzbaren,

hunderts bis zum Anbeginn der neoliberalen Ära in ihren Bann

durchführbaren Masterplan, pragmatisch in seinen Prinzipien,

geschlagen haben, Träume vom Streben des Homo sapiens

utopisch in seinem Anspruch. Den Masterplanet.“129

nach Ausbreitung über die Grenzen der Erde und seiner un-

Danach fragt er sich, wie wir die Erde „reorganisieren“ könnten,

mittelbaren körperlichen Form hinaus“.127 Der Architekt, der

um eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen, den Schutz

dieses Streben nach Ausbreitung am besten verkörpert, ist

der Ressourcen und die Anpassung des Menschen an den

Bjarke Ingels, Gründer der Bjarke Ingels Group (BIG). Mit

Klimawandel zu bewerkstelligen. Sein Projekt strebt „einen

seinem radikalen, utopischen Gestus ist er nicht weit vom

CO2-neutralen Planeten Erde“ an und stellt sich dabei „den

#Beschleunigungsmanifest und der Bewegung des Futuris-

primären Herausforderungen hinsichtlich Energie, Transport,

mus entfernt. Wir wollen nun bei dieser auch jenseits der

Industrie, Biodiversität, Ressourcen, Umweltverschmutzung,

Architekturszene weit verbreiteten Vision verweilen, um sie

Wasser, Ernährung und der guten Lebensbedingungen für

in eine kritische Perspektive zu rücken.

eine Welt mit bis zu zehn Milliarden Menschen“ – eine demo-

Der dänische Architekt, der weltweit für seine radikalen

grafische Maximalannahme, um die Challenge für seine globale

Großprojekte bekannt ist (allein der Name seines Büros – BIG

Utopie noch größer erscheinen zu lassen. Für die Erstellung

– kündet von diesem Streben nach Größe), beschäftigt sich

des „Masterplanet“ stellt BIG eine Gruppe von Fachleuten

derzeit mit der Ausarbeitung eines Projekts, das alle üblichen

aus verschiedenen Disziplinen zusammen, zu der neben

Maßstäbe sprengt: Diesmal hat er aber weder Kolossalbau-

Landschaftsarchitekten, Stadtplanerinnen und Ingenieuren

ten noch ganze Stadtviertel im Sinn, sondern einen „Master-

auch Energieexpertinnen gehören. Ziel des Projekts sei es,

plan“. Unter „Masterplan“ versteht man in der Regel ein

„einen Überblick darüber zu geben, was jetzt nötig wäre, um

Planungsdokument, in dem problemlösungsorientierte Leitlinien

den Nettoausstoß von Treibhausgasen zu stoppen, und eine

für einen Ballungsraum oder einen Stadtteil festgelegt sind.

Vorstellung davon zu bekommen, was das ultimative Ziel

BIG hingegen will einen solchen für den gesamten Planeten

einer zu 100 Prozent nachhaltigen menschlichen Präsenz auf

erstellen! Ingels nennt ihn „Masterplanet“: ein Wortspiel mit

der Erde für praktische Folgen hat“.130 Ein sehr ehrgeiziges

einer Prise Humor – oder ist es doch Größenwahn mit einem

Vorhaben und ein a priori absolut notwendiges Ziel, doch wie

Anflug von Zynismus ob der Unmöglichkeit der Realisierung?

ist das in einer äußerst heterogenen und alles andere als ge-

Doch Ingels scheint nicht zu scherzen. Er wird nicht müde,

einten Welt zu erreichen?

seine Projekte in Vorträgen und Publikationen vorzustellen,

Die von Ingels auf pragmatische und pauschalisierende

und träumt sogar von einer TV-Dokuserie, angelehnt an

Weise angekündigte Methode besteht zunächst darin, „die

Carl Sagans Fernsehserie Unser Kosmos. Sein 2020 bei Ta-

Probleme und Möglichkeiten zu identifizieren, nach möglichen

schen erschienener Band Formgiving. An Architectural Future

technologischen Lösungen zu suchen, mehrere Optionen der

Anmerkungen Seite 133

Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet

125

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 126

Intervention zu erforschen und zu bewerten, die Mittel und

nimmt diese Utopie jedoch sehr bald dystopische Züge an:

den Umfang der Arbeit zu quantifizieren“. Zu diesem analyti-

Neben dem offensichtlichen und nicht zu vernachlässigenden

schen Teil, der auf den neuesten wissenschaftlichen Erkennt-

Problem einer Governance, die im globalen Maßstab poten-

nissen und umfangreichen, global gesammelten Daten

ziell totalitär ist, stellt sich die Frage nach der Kompetenz.

beruht, kommt die viel heiklere politische Dimension der

Obwohl BIG bei diesen hochkomplexen Thematiken mit

Governance hinzu: Es sind „die grundlegenden Implikationen

Fachleuten zusammenarbeitet, drängt sich die Frage der

der Planung zu klären, die Auswirkungen zu visualisieren“.

Synthese und der Methode auf. Billy Fleming, Direktor des

131

Dabei werden die Implikationen und Konsequenzen einer

McHarg Center an der University of Pennsylvania und Klima-

solchen universellen Planung, die per definitionem top-down

aktivist, hält „das zentrale Ziel des Masterplanet – einen ein-

ist, weder problematisiert noch differenziert. Zum Schluss

heitlichen Plan für einen nachhaltigen Planeten zu erstellen –

nimmt Ingels eine für Architekten, die mit Großprojekten

für keine schlechte Sache“, aber hinsichtlich der Governance

vertraut sind, typische projektorientierte, praktische Haltung

für utopisch, vor allem aber sei die Vision begrenzt und drohe

ein – „die für die Realisierung erforderlichen Schritte [sind]

die Vorstellungswelt der Menschen einzuengen.134 Wie lassen

aufzuschlüsseln“ –, ohne die organisatorische und finanzielle

sich der wissenschaftliche Charakter einer Analyse und ihre

Dimension zu vergessen: „ein Phasen- und Finanzierungsmo-

Objektivität gewährleisten, wenn sie in den Händen eines

dell vorzuschlagen“.132 „Masterplanet“ versteht sich also als

Kommunikationsgenies liegen, der sie nur allzu schnell in ein

ein erweiterter Masterplan, der realistischerweise, wie bei

„Projekt“ verwandelt, das seinerseits spekulativ und fiktiv ist

einem ganz gewöhnlichen Projekt, „Budgets, Flächentabellen,

und Gefahr läuft, ein Bild der Zukunft vorzuzeichnen, von

Systempläne und Strategien der schrittweisen Umsetzung“

dem man sich nur schwer wird wieder lösen können?

enthält.

Wie Ingels unterstreicht, brauche es jedoch gerade Architekten,

133

In ihrer konkreten Dimension als schlüsselfertiges Projekt

um möglichen Lösungen Gestalt zu verleihen und ein Handeln anzustoßen. Der Beitrag von BIG wäre in einem ersten Schritt, die Phänomene, die die Welt bestimmen, darzustellen und zu bündeln und hiernach die Erkenntnisse mit grafischen Mitteln, die Architekten und Data-Liebhaber wie er perfekt beherrschten, zu vermitteln und zu popularisieren. In einem zweiten Schritt wolle er die Realisierung des „Projekts“ ungeachtet dessen Maßlosigkeit in Angriff nehmen. In seiner Leidenschaft für die Kraft der Architektur versucht Ingels, wie jeder Utopist, das Unmögliche zu denken: „Architektur ist die Kunst und die Wissenschaft, Fiktion in die Wirklichkeit zu übersetzen. Was sich verändert hat, sind die Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, um unsere Ideen zu verwirklichen. Wir Architekten sind nicht nur auf unsere Vorstellungskraft, unsere technischen Fertigkeiten und unsere Erfindungsgabe angewiesen, sondern auch auf unsere Fähigkeit, andere anzuleiten und zu befähigen, das zu bauen, was wir erdacht haben.“135 In diesen Zeilen schimmert die Haltung des Architekten als Demiurg durch, der die Welt retten will, indem er sie nach neuen Paradigmen (um)gestaltet, die nur er wahrzunehmen und umzusetzen vermag. Doch um weitreichende

BIG, „Masterplanet”, aus: Formgiving, 2020

126

Schaffen durch Zerstören

Veränderungen wie die Reduzierung des CO2 - Ausstoßes zu

Anmerkungen Seite 133

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 127

bewirken, gilt es, wie Ingels betont, die makroterritoriale

der Umsetzung von Großprojekten hingewiesen und die An-

Ebene in den Blick zu nehmen und den Fokus sehr viel weiter

sicht vertreten, dass eine mächtige vertikale Instanz vonnöten

zu fassen: „Wenn man ein Haus baut, kann man einige Dinge

sei, und Le Corbusier forderte seinerzeit einen Colbert. Doch

tun – ein paar Sonnenkollektoren auf dem Dach anbringen

weder Ingels noch Le Corbusier, beides Architekten mit einer

und so weiter –, aber die meisten dieser Maßnahmen sind

ausgeprägten Hybris, sehen und sahen in der Kritik an der

nicht besonders effektiv.“136 Plant man hingegen eine

Maßlosigkeit der gestellten Aufgabe und den daraus resultie-

Siedlung oder einen Stadtteil, können bestimmte Synergien

renden Governance-Problemen ein Hindernis für die Umset-

in Gang gesetzt werden, indem man das Regenwasser groß-

zung von Entwürfen großen Ausmaßes. Denn selbst bei der

flächig auffängt oder sich den unterschiedlichen Energie-

Erstellung eines Masterplans für ein Stadtviertel sei, so In-

verbrauch von Wohnhäusern, die Energie in der Regel zum

gels, die Aufgabe so groß, dass man sie am Anfang gar nicht

Heizen brauchen, und Gewerbegebäuden, die tagsüber

überblicken könne: „Aber bei jeder Präsentation nähert man

Energie für die Klimaanlage brauchen, zunutze macht.

sich weiter an, bekommt viel Feedback, und dann ändert

„Man kann alle möglichen Dinge in Angriff nehmen. Und

man ihn, bis alle Kästchen angekreuzt sind […]. Auch wenn er

jedes Mal, wenn der Maßstab höher gesetzt wird, kann man

zu Beginn komplex und umfangreich erschien, schafft man es

mehr tun.“

am Ende doch“, sagt er mit einer gehörigen Portion Optimis-

137

Daher der globale Anspruch seines Projekts. So kommt er auf

mus und einer fast zynischen Distanziertheit.142

die Idee, die Stromnetze weltweit zu verbinden, um das Pro-

Angesichts der Komplexität der gegenwärtigen Probleme

blem der zeitweiligen Unterbrechungen zu lösen – Instabilitä-

wie „Klimawandel, steigender Meeresspiegel, Plastikmüll-

ten, die auf die für erneuerbare Energien typischen

strudel so groß wie ganze Länder“,143 setzt Ingels auf künstli-

Wärme-Kälte-Schwankungen (Nacht/Tag, Sommer/Winter)

che Intelligenz und deren Analysefähigkeit: „Die unermüdli-

zurückzuführen sind, und somit deren Verbreitung verhin-

che Rechenleistung, die geduldige Durchführung zahlloser

dern. BIG und seinen Experten zufolge würde dieses Problem, trotz der durch die Länge der Stromtrassen entstehenden Verluste, durch die Vernetzung gelöst.138 Doch wie lassen sich die Energieflüsse auf globaler Ebene steuern, wenn Staaten Kriege um die Energiehoheit und andere geopolitische und wirtschaftliche Ziele führen? Dieser utopische Ansatz einer „neuen Welt“ stecke, wiewohl er naiv sei, voller Hybris, so Elizabeth Yeampierre, Direktorin der Umweltorganisation Uprose.139 Sie erinnert daran, dass „Aktivisten für Klimagerechtigkeit, die fordern, dass das Klimahandeln nicht nur die Emissionen, sondern auch die systemischen Ungleichheiten angehen sollte, nicht nur Ingels’ Recht zur Erstellung eines Plans für den gesamten Planeten infrage stellen, sondern auch seine Befähigung dazu“.140 Ihre Kritik richtet sich auch gegen die Maßlosigkeit des Projekts: „Selbst in einer Welt, in der die Covid -19-Pandemie unser Verständnis davon verändert hat, was im Hinblick auf kollektive Antworten auf eine globale Herausforderung möglich ist, ist es nahezu unmöglich sich vorzustellen, dass ein einziger Klimaplan von den Industrien, den Regierungen und den Gemeinden auf der ganzen Welt ernsthaft angenommen wird.“141 Bereits Srnicek und Williams haben auf das Governance-Problem bei

Anmerkungen Seite 133

BIG, „Moon – City of New Hope“, aus: Formgiving, 2020

Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet

127

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 128

Experimente und der sofortige Zugriff auf das gesamte Welt-

von (blinder?) Begeisterung für den Entwicklungs- und Be-

wissen machen KI zu einem mächtigen Verbündeten für ana-

schleunigungsgedanken erfüllt – vollkommen linear vorstellt

lytische Experimente.“ Sie sei sogar „imstande, intuitiv

und in einen riesigen Zeitrahmen einbettet, der vom Urknall

Möglichkeiten zu erkennen, die dem menschlichen Designer

bis zur Gegenwart reicht. „Die Entwicklung des Denkens ist

einfach zu weit voraus sind, um sie zu ergründen. Wenn wir

eine Reise von den Anfängen der biologischen Intelligenz bis

über die Grenzen unserer Vorstellungskraft hinausgehen wol-

zur künstlichen Intelligenz. Wir glauben, dass künstliche Intel-

len, müssen wir uns mit künstlich intelligenten Designern ver-

ligenz im kreativen Prozess unweigerlich zum Einsatz kommen

bünden.“144 In der Zusammenführung beider Intelligenzen –

wird, wodurch das menschliche Element [sic!] immer wichtiger

von Mensch und Maschine – sieht er das ideale Werkzeug,

wird.“147 In dieser anthropozentrischen Sichtweise kommt

um die Herausforderungen einer Zukunft, die es noch zu er-

eine prometheische, ja demiurgische Haltung zum Ausdruck,

finden gilt, zu meistern. Mit gleichsam futuristischer Begeis-

die vielleicht zu Zeiten der Begründer der Moderne noch

terung ruft er aus: „Die Symbiose von Mensch und Maschine

denkbar war, inzwischen aber längst nicht mehr kritiklos hin-

ist das Stärkste. Der Architekt wird mithilfe der KI – wie der

genommen wird.

Großmeister – über beispiellose Kräfte verfügen, um zu gestal-

Das Problem des Maßstabs und der Abstraktionsgrad sind

ten.“

145

Das ist die futuristische Mensch-Maschine des 21. Jahr-

wahrscheinlich nur einige der Gründe (neben kommerziellen

hunderts, freilich nicht mehr um die Mechanik der Maschinen

Überlegungen und der Werbung in eigener Sache) dafür,

erweitert, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts fantasiert, son-

dass Ingels in Formgiving auch Bauprojekte seines Büros auf-

dern um eine künstliche Intelligenz, die weit über die Grenzen

nimmt, die realistischer und daher auch einfacher zu begreifen

des Wahrnehmbaren hinausgeht.

sind, wie zum Beispiel eine Plastik-Recyclinganlage,148

Unerschrocken und bedenkenlos plädiert Ingels für die Zu-

schwimmende Städte für Gemeinden, die vom steigenden

sammenführung etlicher Wissensgebiete, die wie „Künstliche

Meeresspiegel betroffen sind, oder eine für Toyota erbaute

Intelligenz, Erweiterte Realität, Urbaner Metabolismus, Lang-

hypervernetzte Smart City (Toyota Woven City), die auf dem

lebigkeit, Robot Enhancement und interplanetarische [sic!]

innovativen Prinzip der autonomen Mobilität mit einem auto-

Migration“

146

als Werkzeuge und Allheilmittel zur Bewältigung

matischen Liefersystem basiert. Diese und viele andere Pro-

der großen Herausforderungen dienen sollen. Die neuen

jekte, die man im Band Formgiving entdecken kann, sind nur

Technologien sind für ihn ein Mittel, um auf dem Weg des

ein Vorgeschmack auf die Gesamtvision des Masterplanet.

Fortschritts vorwärtszukommen, den er sich in Formgiving –

Doch wer soll diese Bauten finanzieren, wer wird auf diesen Inseln oder in diesen Städten leben? Und wer wird sich das überhaupt leisten können? Dem Kapitel „Masterplanet“ sind zwei Projekte vorangestellt, die an den Expansionsdrang des #Beschleunigungsmanifests erinnern, da sie außerhalb des Planeten angesiedelt sind: Moon – City of New Hope und Science City Mars. Ersteres, das sich in einem

NASA, menschliches Landungssystem mit Besatzung auf einem Mondkrater mit der Erde am Horizont, virtuelles Schaubild, 2019, © NASA/Moon to Mars

128

Schaffen durch Zerstören

Mond-Wohnprojekt mit dem Titel „Olympus“ konkretisiert,

Anmerkungen Seite 133

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 129

ist von der auf Robotik-Bautechnologien spezialisierten Firma

und sieht, was er daraus lernen kann, um zu den weltweiten

ICON Build in Zusammenarbeit mit SEArch+ und der NASA

Bemühungen beizutragen“.153

entwickelt worden. Ihm liegt die „Vision eines langfristigen

Blättert man nun die letzte Seite des Kapitels „Masterplanet“

menschlichen Außenpostens“ für „den Handel im Rahmen

mit seinen großartigen, mehr oder weniger ernst gemeinten

der Erd- und Weltraumsatelliten, für Wissenschaft, Quanten-

Vorsätzen um, stößt man unvermittelt auf das Kapitel „LEGO“

informatik, Bergbau und Tourismus“ zugrunde.149 Über dieses

mit Projekten von BIG, die in ein Miniaturformat übertragen

kolonialistische Programm hinaus sind die physikalischen

sind – ein gelinde gesagt grotesker Kontrast. Ingels vollzieht

Eigenschaften der Mondoberfläche im Hinblick auf eine

einen abrupten Sprung in die Kindheit und wechselt plötzlich

potenziell bewohnbare Umgebung interessant, denn „insbe-

den Maßstab, um in eine vollends beherrschbare Traumwelt

sondere die sehr geringe Schwerkraft und die monatlich

abzutauchen, die des Konstruktionsspielzeugs. Mit diesem

wiederkehrenden Tageszyklen“ bieten laut Ingels „die Mög-

erstaunlich banalen Ausklang bietet er selbst uns einen

lichkeit, die Art und Weise, wie wir arbeiten, spielen, leben

Schlüssel zum Verständnis. Nachdem er sich an die großen

und wachsen, auf dem Mond neu zu denken“.150 Das zweite

Herausforderungen gewagt hat, vor denen die Menschheit

Projekt Science City Mars ist der Prototyp einer „nachhaltigen

als Ganzes steht, sagt uns Ingels nun, dass alles Fiktion ist,

Stadt“ [sic!], der derzeit in Dubai entwickelt wird, um die

dass das Spiel eine Erkundung der Fantasiegebilde ermög-

Bautechnologien für eine künftige Marsbesiedlung zu

licht, die nötig sind, um von einer anderen Welt zu träumen:

erforschen, wobei die gleichen Technologien genutzt werden

„Was wir an LEGO lieben, ist, dass es kein Spielzeug ist, son-

wie auf dem Mond: „Bauroboter, Ausschachtung, 3D-Druck

dern ein Werkzeug – ein Werkzeug, das Kinder befähigt, ihre

und aufblasbare Membranen“.

151

Das Ziel ist, zunächst auf

der Erde einen Campus für Bildung und Technik, Wissenschaft und Landwirtschaft „in Verbindung mit der interplane-

eigene Welt zu erschaffen und diese Welt spielend zu bewohnen.“154 Dann zieht er eine Parallele zum Architekten: „Und genau das ist formgiving. Als menschliche Lebewesen

taren Entwicklung und Besiedelung“ zu bauen, um „Erfahrun-

haben wir die Macht – die Werkzeuge – der Zukunft, in der

gen auf den Gebieten Klimakontrolle, Sicherheit, Qualität

wir leben wollen, eine Form zu geben. Und wir vermögen

oder Konstruktion sowie der Resilienz der von Menschenhand

zu hören, zu sehen und zu lernen, wie das Leben unsere

geschaffenen Ökosysteme zu sammeln, die von unschätzbarem

Absichten immer übertrifft, um neue Wege zu entdecken

Wert sein werden, wenn wir endlich zum Mars gehen“, erläu-

und zu erkunden, wie wir mit der Welt, die wir geschaffen

tert BIG.

haben, zusammenleben können. Wenn Arbeit die Welt in

Endlich? Es fällt schwer, diesen akzelerationistischen Bestre-

Gang hält, dann lässt das Spiel sie über sich selbst hinaus

bungen zu folgen. Als müsste die Erde auf die Eigenschaften

wachsen.“155

152

des Mondes oder des Mars neidisch sein! Diese Projekte

Ingels sieht in der Figur des Architekten den Schöpfer einer

liegen ganz auf der Linie der größenwahnsinnigen Fantasien

neuen Welt, der frei genug ist, um sich über die reale Welt

von Multimilliardären wie Jeff Bezos (Gründer von Amazon)

hinwegzusetzen und sich von der Wirklichkeit freizumachen,

mit seinen Weltraumkolonien und mehr noch Elon Musk

indem er, wie ein Kind, seine grenzenlose Traumwelt erkundet.

(Gründer von Tesla und SpaceX), der von einem „Terrafor-

War also alles am Ende nur ein Kinderspiel?

ming“ des Mars träumt, der künstlichen Veränderung seiner

In diesem fiktionalen Prozess, den er „narrative design“ nennt,

Atmosphäre, um ihn bewohnbar zu machen, wenn die Erde

spielt Ingels mit der Zeit und zitiert den amerikanischen Science-

es nicht mehr ist.

Fiction-Autor William Gibson, der die Bewegung des Cyber-

In dem Band Formgiving folgt das Kapitel „Masterplanet“

punk einläutete: „Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich

auf diese beängstigenden utopischen Projekte. Mit unerhörtem

verteilt.“156 Genau darin liegt das Problem: Eines der größten

Optimismus und Selbstvertrauen hofft Ingels darauf, dass

Bedenken gegenüber dieser globalen Utopie besteht gerade

„in ein paar Jahren […] ein neuer Premierminister oder CEO

in der Frage der gerechten Verteilung, insbesondere des

den Masterplanet aus der Schublade zieht, wenn er ein

Reichtums und des Zugangs zur eminent „smarten“ Welt,

Klimaproblem angehen will, das in seine Zuständigkeit fällt,

von der Ingels träumt, gesteuert von jener künstlichen

Anmerkungen Seite 133

Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet

129

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 130

Intelligenz, die er als Allheilmittel für alle Probleme ansieht.

Formen der Natur – von den lebenden Organismen bis zu ihren

In einer solchen Cyberwelt droht das akzelerationistische

Lebensräumen – bedeutende Komponenten der Stadtform

Prinzip vom „Schaffen durch Zerstören“ eine Eigendynamik

und Teile der grünen Infrastruktur sind“.157 Während die

zu entwickeln, die nur verheerende Folgen haben kann.

Smart City sich dem Futurismus, der Moderne und den Akze-

Schaffen durch Zerstören – ein wiederkehrendes Hirngespinst, doch zu welchem Zweck?

lerationstheorien anschließt, verschreibt sich die Green City der Tradition der Gartenstadt und der „Rückkehr zur Ländlichkeit“, allerdings mitten in der Stadt. An der Frage der Be- oder Entschleunigung scheiden sich die Erneuerungs-

Die destruktive Dynamik, von der die Futuristen träumten in

konzepte.

ihrem Bestreben, reinen Tisch mit der Geschichte zu machen,

Die dem „Schaffen durch Zerstören“ innewohnende Be-

die auch bei Le Corbusier für die Entstehung der Ville Ra-

schleunigungsdynamik, die allen in diesem Kapitel präsen-

dieuse von zentraler Bedeutung war und nicht zuletzt von

tierten Beispielen eigen ist, katapultiert uns – im Modus eines

Schumpeter als schöpferische Kraft des Wirtschaftskapitalis-

Futurismus, der dem „schneller, höher, weiter“ gehorcht und

mus, der auf ständiger Erneuerung beruht, verteidigt wurde –

in einer Atmosphäre zwischen Beklemmung und Faszination

diese Dynamik hat sich inzwischen, mit verheerenden Folgen,

an Erhabenheit grenzt – in eine Zukunft ohne Bezugspunkte.

überall auf der Welt durchgesetzt. Die vom #Beschleuni-

Sind Vergangenheit und sogar Gegenwart einmal ausgelöscht,

gungsmanifest und von BIG propagierte zeitgenössische

braucht der ausschließlich nach vorn gerichtete Blick Fiktionen,

Beschleunigung, die sich auf einer globalen Hyper-Governance

die in die Zukunft projizieren, in eine ungewisse Zukunft zwar,

zur Bewältigung der Klima- und Umweltkrise stützt, ist eine

aber voller Versprechungen, die umso verlockender scheinen,

utopische Vision, die auf neuen Technologien aufbaut. Da sie

je vager sie sind. Allerdings kann die Beschleunigungsdynamik

letztlich auf die Wunschvorstellung der Expansion auf andere

wie bei Science-Fiction-Erzählungen leicht von der Utopie in

Planeten als Prothesen der völlig erschöpften Erde hinausläuft,

die Dystopie umschlagen.

dürfte sie, zumal auf diesem Niveau futuristischer Naivität,

Erstaunlicherweise findet das Phänomen der Beschleunigung

zumindest für die allermeisten Menschen Science-Fiction

heutzutage großen Anklang in der Architektur und Stadtpla-

bleiben.

nung. Umgekehrt ließ sich jedoch kein adäquates aktuelles

Angesichts des Beschleunigungsprozesses – sei er utopisch

Beispiel für Entschleunigung finden, das allen wesentlichen

oder real –, zu dem unser Planet verdammt zu sein scheint,

Aspekten (gesellschaftlichen, kulturellen, städtebaulichen,

erzwingt der dringende ökologische Wandel eine Gegendy-

architektonischen, ästhetischen und geistigen) gerecht wird

namik der Verlangsamung des Konsumrausches und der Ein-

und an die historischen Vorbilder (siehe Kap. „Zurück zur

dämmung der weltweiten Verstädterung, im Zuge derer

Ländlichkeit“) anknüpfen kann. Hat die Beschleunigungs-

Agrarflächen in exponentiellem Ausmaß vereinnahmt werden,

dynamik die Welt schon so weit erfasst, dass es auch wegen

um sie in bebaute Gebiete umzuwandeln. Die Frage der Ent-

der globalen wirtschaftlichen und finanziellen Interdependenz

schleunigung stellt sich im Spannungsfeld zwischen einer

schwierig geworden ist, eine Gegenströmung in Erwägung

zunehmend verheerenden Realität und dem Bewusstwerden

zu ziehen, die stark genug ist, um sich dem Strudel der fort-

der klimatischen, ökologischen und sozialen Dringlichkeit.

dauernden schöpferischen Zerstörung zu entziehen? Diese

Man könnte sogar behaupten, dass alle Positionierungen sich

Herausforderung gilt es anzupacken.

angesichts der ökologischen Krise irgendwo zwischen diesen beiden Polen bewegen: Entweder man strebt Beschleunigung und Hochtechnologie in Verbindung mit künstlicher Intelligenz oder Entschleunigung und ein Minuswachstum als Heilmittel an. Die Konzepte der „Smart City“ und der „Green City“ verkörpern diese beiden Haltungen. Die Green City wird definiert als „Stadt ,im Gleichgewicht mit der Natur‘, in der alle

130

Schaffen durch Zerstören

Anmerkungen Seite 133

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 131

Anmerkungen

Unzeitgemässen“, 118f. (Hervorh. im Original).

32 Ebd., 25.

17 Benito Mussolini, La filosofia della forza

33 Viviana Birolli, Antonio Sant’Elia et La Città

(postille alla conferenza dell’on. Treves), in:

Nuova: représenter la ville moderne, in: Livrai-

1 Vgl. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der

Il Pensiero romagnolo, Nr. 48, 49 und 50 vom

sons de l’histoire de l’architecture [online],

Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften,

29.11., 6.12. und 13. 12.1908. Zit. nach Enzo

32/2016, hochgeladen am 31.12.2018:

5. Aufl., Frankfurt a. M. 2009, Kap. II, 46.

Santarelli, Scritti politici di Benito Mussolini,

http://journals.openedition.org/lha/641; DOI:

2 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrach-

Mailand 1979, 99–109.

https://doi.org/10.4000/lha.641 (zuletzt am

tungen, in: Kritische Studienausgabe (KSA) in

18 Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht.

23.11.2020).

15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino

1884/1888. Versuch einer Umwerthung aller

34 Sie wurde vom 20. Mai bis 10. Juni 1914 im

Montinari, Neuausg., München 1999, KSA 1,

Werthe, Leipzig 1906. Nietzsches Schwester

Kunstverein Famiglia Artistica gezeigt;

157–510, hier 250.

brachte sein Werk an sich und verwendete die

https://exhibitions.univie.ac.at/exhibition/688

3 Ebd., 250f. (Hervorh. im Original).

Reste des Projekts Der Antichrist sowie den

(zuletzt am 25.4. 2023).

4 Ebd., 252 (Hervorh. im Original).

Titel Der Wille zur Macht, die Nietzsche ver-

35 Siehe Birolli. Par. 21.

5 Ebd., 253.

worfen hatte, für das vermeintliche „Haupt-

36 Paolo Amaldi, Architecture, Profondeur,

6 Gerhard Krüger, La philosophie à l’époque

werk“ des Philosophen, das sehr erfolgreich

Mouvement, Genf 2011, 348.

du romantisme, in: Archives de Philosophie,

war, obwohl es sich um einen fingierten

37 Vgl. Birolli 2018, 16.

74 (1), 2011, 83–99, hier 23: https://www.cairn.

Sammelband handelte.

38 Antonio Sant’Elia, Die futuristische

info/revue-archives-de-philosophie-2011-1-

19 „Nulla è vero, tutto è permesso!“, Benito

Architektur (1914), in: Asholt/Fähnders (Hg.),

page-83.htm (zuletzt am 22.2.2023).

Mussolini in: Francesca Belviso, Brève généa-

1995, 84– 87, hier 86.

7 Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, in: KSA 6,

logie du nietzscheisme futuriste. Le surhomme

39 Ebd.

255–374, hier Kap. „Der Fall Wagner“, 362.

de Marinetti, entre approche politique et

40 Ebd., 87 (Hervorh. im Original).

8 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der

quête esthétique, in: Cahiers de la SIES, Nr. 2,

41 Filippo Tommaso Marinetti, zit. nach

Moral, in: KSA 5, 245 – 412, hier Zweite Ab-

2018: Le futurisme italien, entre l’art et la

Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter

handlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“

politique, 20–31, hier 23.

seiner technischen Reproduzierbarkeit

und Verwandtes, o. S. [291].

20 Filippo Tommaso Marinetti, Contro i

(1935/1936), Frankfurt a. M. 1963, Nachwort,

9 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissen-

professori (1910), in: Ders., Futurismo e

43. Als Quelle von „Marinettis Manifest zum

schaft, in: KSA 3, 343 – 651, hier Fünftes Buch,

fascismo, Foligno 1924, 28 (Mussolini gewidmet):

äthiopischen Kolonialkrieg“ (ebd.) erwähnt

Kap. „Was ist Romantik?“, 621.

„Er ist ein Passatist, der kühn über die Gipfel

Benjamin „La Stampa Torino“. Der Text erschien

10 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der

der thessalischen Berge schreitet, die Füße

1935 unter dem Titel „Estetica Futurista della

Tragödie, in: KSA 1, 9–156, hier 22 (Hervorh.

unglücklicherweise in langen griechischen

Guerra“ in der Turiner Monatszeitschrift Stile

im Original).

Texten verfangen.“

Futurista, Rivista Mensile.

11 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in:

21 Ebd.

42 Marinetti 1995, Punkt 9, 5.

KSA 3, 343 – 651, hier Erstes Buch, 2. Kap.

22 Filippo Tommaso Marinetti, Gründung und

43 In Anlehnung an den Wahlspruch der

„Das intellektuale Gewissen“, 373.

Manifest des Futurismus, in: Wolfgang

Juristen „Fiat iustitia et pereat mundus“ – „Es

12 Nietzsche im Vorwort zu Ecce homo, KSA

Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Manifeste und

herrsche Gerechtigkeit, möge auch die Welt

6, 260 (Hervorh. im Original).

Proklamationen der europäischen Avantgarde

darüber zugrunde gehen“. Vgl. Susanne

13 Nietzsche, Ecce Homo, KSA 6, Kap.

(1909–1938), Stuttgart/Weimar 1995, 3– 7, hier

Stacher, Sublime Visionen. Architektur in den

„Warum ich ein Schicksal bin“, o. S. [365]

4 (Hervorh. im Original).

Alpen, Basel 2018, Kap. 4, 130.

(Hervorh. im Original).

23 Ebd., Punkt 4, 5 (Hervorh. im Original).

44 Benjamin 1963, o. S. [44] (Hervorh. im

14 In einem Brief an Helen Zimmermann vom

24 Ebd., 6.

Original).

8.12.1888 bezieht sich Nietzsche auf sein Werk

25 Ebd., Punkt 10, 5.

45 Dazu zählen der Wiederaufbau Londons

„Der Antichrist“, das 1896 veröffentlicht wird;

26 Ebd., Punkt 3, 5.

nach dem Großbrand im Jahr 1666, der von

in: Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe

27 Ebd., Punkt 9, 5.

Noto auf Sizilien nach dem zerstörerischen

in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und

28 Ebd., Punkt 8, 5.

Erdbeben von 1693 oder der Lissabons nach

Mazzino Montinari, Berlin u. a. 1986, Bd. 8, 512.

29 Ebd., 7.

der Katastrophe von 1755.

15 Ebd.

30 Nietzsche, So sprach Zarathustra, in:

46 Vgl. François Warin, Le Corbusier et l’esprit

16 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung,

KSA 4, o. S. [11].

du temps, in: Revue de métaphysique et de

in: KSA 6, 55–161, hier Kap. „Streifzüge eines

31 Belviso 2018, 26.

morale, Nr. 4, 1970, 439 –451: http://allegresa

Anmerkungen zu Seite 99 –107

131

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 132

132

ber.e-monsite.com/pages/esthetique/le-cor

69 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre

92 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4,

busier-et-l-esprit-du-temps.html#_ftn21 (zu-

complète, Bd. 3, 46f.

Kap. „Vom höheren Menschen“ 20, 367.

letzt am 27.2. 2023).

70 Le Corbusier, zit. nach Jean-Baptiste

93 Le Corbusier 1982, 203.

47 Le Corbusier, Destin de Paris (1941), Paris

Michel, Paris: ce dont rêvait Le Corbusier pour

94 Vgl. ebd., 202.

1987, 11.

la rive droite, veröffentlicht am 18.7.2016

95 Ebd.

48 Le Corbusier, Städtebau, übers. u. hg. von

https://www.geo.fr/voyage/paris-plan-voisin-

96 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre

Hans Hildebrandt, 2. Aufl. (Faksimile-Wieder-

ce-dont-revait-le-corbusier-pour-la-rive-droite-

complète, Bd. 3, 31.

gabe der 1. Aufl. 1929), Stuttgart 1979, 78f.

161992 (aufgerufen am 18.3. 2023).

97 Vgl. Philip Ursprung, Die Kunst der Gegen-

49 Ebd., 87 (Hervorh. im Original).

71 Le Corbusier 1979, 134.

wart: 1960 bis heute, 4., überarb. Aufl.,

50 Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Ville

72 Alle Zitate dieses Absatzes in ebd.

München 2019, 39.

contemporaine de trois millions d’habitants,

(Hervorh. im Original).

98 Den Begriff prägte Robin Evans 1970 in

o. J. (1922), in: Œuvre complète, hg. von Willy

73 Le Corbusier 1982, 202 (Hervorh. im Origi-

seinem Essay „Towards Anarchitecture“ als

Boesiger und Oscar Stonorov, 13. Aufl., Zürich

nal). Auch: „Baukunst oder Demoralisierung,

Antwort auf Le Corbusiers Manifest.

1991, Bd. 1: 1910 –1929, 34 –39, hier 34.

Demoralisierung und Revolution“ (ebd., 206).

99 Ihr gehörten Laurie Anderson, Tina

51 Ebd.

74 Ebd. (Hervorh. im Original).

Girouard, Suzanne Harris, Jene Highstein,

52 Ebd.

75 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre

Bernard Kirschenbaum, Richard Landry,

53 Le Corbusier in einem Brief an seine

complète, Bd. 1, 111.

Gordon Matta-Clark und Richard Nonas an.

Mutter vom 15. Mai 1930; zit. nach François

76 Ebd. Diese Vorstellung eines energischen

100 Zit. nach James Attlee, Towards Anarchi-

Chaslin, Un Corbusier, Paris 2015, 101.

Durchgreifens findet sich in dem 1939 erschie-

tecture: Gordon Matta-Clark and Le Corbusier,

54 Le Corbusier 1979, o. S. [233], Anm. 1.

nenen Sammelband Pleins pouvoirs von Jean

in: Tate Papers, Nr. 7, Spring 2007:

55 Chaslin 2015, 100.

Giraudoux wieder, wie François Chaslin erläu-

https://www.tate.org.uk/research/tate-pa

56 Vgl. ebd.

tert (Chaslin 2015, 174). Das zweite Kapitel des

pers/07/towards-anarchitecture-gordon-matta-

57 Le Corbusier, 1922, Ausblick auf eine

Bandes lässt rassistische und antisemitische

clark-and-le-corbusier (zuletzt am 14.3.2023).

Architektur, übers. von Hans Hildebrandt, neu

Tendenzen erkennen. 1939 wurde Giraudoux

101 Gordon Matta-Clark, Conical Intersect,

überarb. von Eva Gärtner, Braunschweig/Wies-

von der Regierung Daladier zum „Commissaire

16-mm-Stummfilm in Farbe, Ort: Paris, Rue

baden 1982, 206.

général à l’information“ ernannt, eine Art Pro-

Beaubourg, realisiert im Rahmen der Biennale

58 Le Corbusier und Pierre Jeanneret, „Plan

paganda-Minister, und war 1940 Präsident des

von Paris 1975, Kamera: Bruno de Witt, Ton:

Voisin“ de Paris, 1925, in: Œuvre complète,

„Conseil supérieur de l’information“, bevor er

Nicolas Petit Jean, Verleih: Light Cone, Samm-

Bd. 1: 1910 –1929, 109–121, hier 111.

im Januar 1941 in Ruhestand ging.

lung Centre Pompidou Nr. AM 1994-F1271.

59 Ebd.

77 Ebd., 105 (Hervorh. im Original).

102 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips

60 Le Corbusier 1979, 138 (Hervorh. im

78 Ebd.

(1920), in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt

Original).

79 Ebd.

a. M. 1940, 4– 69, hier 21.

61 Ebd., 137.

80 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre

103 Ebd., 22. Wie in der Theoretischen Rah-

62 Ebd., 139.

complète, Bd. 3, 31.

mung dargelegt, stellte Freud die Hypothese

63 Ebd., 137.

81 Ebd., 46.

auf, „daß es im Seelenleben einen Wiederho-

64 Le Corbusier, Hinweis auf einem Plan, FLC,

82 Le Corbusier 1982, 171.

lungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip

Nr. 29751.

83 Ebd., 105.

hinaussetzt“. Er war der Ansicht, dass das

65 Le Corbusier, 1929 – Feststellungen zu

84 Ebd., 203.

Lustprinzip und der Destruktionstrieb parado-

Architektur und Städtebau, hg. von Ulrich

85 Ebd. (Hervorh. im Original).

xerweise keinen Widerspruch darstellen, da

Conrads und Peter Neitzke, 2. Aufl., unveränd.

86 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre

die Selbstzerstörung eine Möglichkeit ist,

Nachdr., Gütersloh u. a. 2001 (EA 1964), 184.

complète, Bd. 1, 121.

innere Spannungen abzubauen, und das

66 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre

87 Le Corbusier 1982, 77.

Streben nach Lust manchmal nichts anderes ist

complète, Bd. 1, 114.

88 Le Corbusier 1979, 144.

als das Ende eines Schmerzes. „Wiederholungs-

67 Le Corbusier und Pierre Jeanneret,

89 Ebd., 144.

zwang und direkte lustvolle Triebbefriedigung

„Le plan de Paris 1937“, in: Œuvre complète,

90 Ebd.

scheinen sich dabei zu intimer Gemeinsam-

Bd. 3: 1934 –1938, 46f., hier 46.

91 Am Ende des Textes über den Plan Voisin;

keit zu verschränken.“ Gleichwohl kann der

68 Le Corbusier 1979, 136 (Hervorh. im

vgl. Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre com-

Destruktionstrieb über den Umweg der

Original).

plète, Bd. 1, 115.

Sublimierung in produktive und künstlerische

Anmerkungen zu Seite 107 –119

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 133

Tätigkeiten umgewandelt werden.

am 16.3. 2023), Punkt 03.23.

142 Ebd.

104 Jacques Rancière, Die Aufteilung des

111 Williams/Srnicek 2014.

143 BIG 2020, Kap. „Big Leap“, 586.

Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Para-

112 Srnicek/Williams 2013, Punkt 03.1.

144 Ebd., Kap. „Thinking“, 20.

doxien, hg. von Maria Muhle, a. d. Französ.

113 Ebd., Punkt 03.22.

145 Ebd.

von Maria Muhle sowie Susanne Leeb und

114 Ebd., Punkt 01.1.

146 Ebd., Kap. „Big Leap“, 586.

Jürgen Link, 2., durchgesehene Aufl., Berlin

115 Ebd., Punkt 01.3.

147 Ebd., Kap. „Thinking“, 20.

2008, 61.

116 Ebd., Punkt 01.6.

148 Nach dem Vorbild der Müllverbrennungs-

105 Karl Marx führte den Begriff 1848 im

117 Ebd., Punkt 03.24.

anlage Amager Bakke in Kopenhagen (erbaut

Kommunistischen Manifest und erneut 1867 in

118 Ebd., Punkt 03.2.

2013 bis 2017), einem beliebten Ausflugsziel,

Das Kapital ein. Er bringt zum Ausdruck, dass

119 Ebd., Punkt 03.22.

da sie auf dem Dach über eine Skipiste verfügt.

eine neue Wirtschaftsordnung die alte ablöst,

120 Ebd.

149 BIG 2020, Kap. „Moon – City of New

so, wie der Kapitalismus die feudale Produkti-

121 Ebd., Punkt 03.24.

Hope“, 592.

onsweise abgelöst hat.

122 Ebd., Punkt 03.22.

150 Ebd.

106 Vgl. Hugo Reinert, Erik Reinert, Creative

123 Ebd., Punkt 03.14.

151 Ebd., Kap. „Science City Mars“, 612.

Destruction in Economics: Nietzsche, Sombart,

124 Ebd., Punkt 03.21.

152 Ebd.

Schumpeter, in: The European Heritage in

125 Ole Scheeren: Die Realität der Möglich-

153 Nugent 2020.

Economics and the Social Sciences, 11.9.2006:

keiten, Jeanette Kunsmann und Stephan

154 BIG 2020, Kap. „Play“, 674.

https://www.researchgate.net/publication/226

Burkoff im Gespräch mit Ole Scheeren, in:

155 Ebd.

027214_Creative_Destruction_in_Economics_

baunetz interior|design, 22. 5. 2018:

156 Ebd. Der Begriff „Cyberspace“ spielt in

Nietzsche_Sombart_Schumpeter/ (zuletzt am

https://www.baunetz-id.de/menschen/ole-

seinem ursprünglichen Kontext darauf an,

16.5. 2023).

scheeren-die-realitaet-der-moeglichkeiten-

dass bestimmte Dinge, die für Menschen in

107 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus,

18401257 (zuletzt am 16.3.2023).

der Zukunft zum Alltag gehören werden,

Sozialismus und Demokratie, übers. von

126 Smart City Taiwan: https://www.twsmart-

schon heute für einige existieren. Die meisten

Susanne Preiswerk u. a., 7., erw. Aufl., Tübin-

city.org.tw/en (zuletzt am 6. 4.2023).

Veränderungen werden, zumindest kurz- oder

gen/Basel 1993, 137.

127 Srnicek/Williams 2013, Punkt 03. 22.

mittelfristig, lediglich darin bestehen, dass

108 Ebd., 137f. (Hervorh. im Original).

128 BIG, Formgiving. An Architectural Future

Dinge, die heute ein Nischendasein führen

109 Alex Williams und Nick Srnicek: „Nous

History, Köln 2020.

oder eine untergeordnete Rolle spielen, eine

avons perdu le fil du futur“, in: Libération,

129 Ebd., Kap. „Masterplanet“, 632.

große Verbreitung erfahren.

17.10.2014, Interview mit Marie Lechner:

130 Ebd.

157 Vgl. Jürgen Breuste, The Green City:

https://www.liberation.fr/france/2014/10/17/no

131 Ebd.

General Concept, in: Jürgen Breuste, Martina

us-avons-perdu-le-fil-du-futur_1124088 (zuletzt

132 Ebd.

Artmann, Cristian Ioja, Salman Qureshi (Hg.),

am 16.3. 2023): „Reinen Tisch zu machen ist

133 Ciara Nugent, The Climate is Breaking

Making Green Cities. Concepts, Challenges

eine attraktive und romantische Option, aber

Down. Architect Bjarke Ingels Has a Masterplan

and Practice, Cham 2020, 1–15, hier 3.

sie wirft ernsthafte Probleme auf und scheint

for That, in: Time.com, 21.10. 2020:

eine unmögliche Aufgabe zu sein.

https://time.com/collection/great-reset/

Die Infrastrukturen des Kapitalismus – von der

5900743/bjarke-ingels-climate-change-archi

Logistik bis zum Finanzwesen –, seine Pro-

tecture/ (zuletzt am 20. 3. 2023).

duktions- und Vertriebssysteme bilden unsere

134 Ebd.

materielle Grundlage. Selbst im Falle einer

135 BIG 2020, Kap. „Making“, 8.

totalen Zerstörung wäre das Ergebnis nicht

136 Nugent 2020.

eine progressive sozialistische Politik, sondern

137 Ebd.

Chaos, Tod und Elend.“

138 Bjarke Ingels, Masterplanet by BIG, Vortrag

110 Nick Srnicek und Alex Williams, #Be-

an der Columbia University (GSAPP), 4.5. 2020:

schleunigungsmanifest für eine akzelerationis-

https://readingoffice.com/masterplanet-by-

tische Politik (2013), übers. von Samir Sellami

big/ (zuletzt am 21.3.2023).

und Frederik Tidén, online: https://www.desig

139 Nugent 2020.

ning-history.world/beschleunigungsmanifest-

140 Ebd.

fuer-eine-akzelerationistische-politik/ (zuletzt

141 Ebd.

Anmerkungen zu Seite 119 –130

133

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 134

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 135

Robert Delaunay und Felix Aublet, Innenausstattung der kegelstumpfförmigen Halle des Palais de l’Air, realisiert von der Association Art et Lumière, Architekten: Audoul, Hartwig, Gerodias, Exposition Internationale des Arts et Techniques, Paris, 1937; im Vordergrund: verschiedene Flugzeugmotoren; Fotograf: Henri Baranger

4

Wiederverzauberung der Welt Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft

Zeit: Aufhebung der Zeit Psychologie: Lebenstrieb und Verdrängung Modus Operandi: Einklammerung der Krise zwecks Projizierung in die Nachkrisenzeit

Nach einer Krise oder einer großen Katastrophe, wie sie ein

erachtete Vorstellungen abweist und vom Bewusstsein fernhält.

Krieg darstellen kann, drängt sich die Frage der Identität und

Es sei auch an das Postulat „zu allem Handeln gehört Verges-

der Kultur als Seele einer Gesellschaft geradezu zwingend

sen“ von Nietzsche erinnert,2 der damit auf die lähmende

auf. Wie lässt sich in einer Gesellschaft nach einer Krise oder

Wirkung des Wissens um die Vergangenheit verwies; mithin

einem Konflikt unser kollektives „Sein“ wiederaufbauen, wie

sollten wir uns des Geschichtssinns und der Erinnerung entle-

können die Sehnsüchte nach einem besseren Leben in Frieden,

digen, wenn Letztere uns zu schaden beginnt, lautete die

in Resonanz mit der Gesellschaft und im Gleichgewicht mit

Schlussfolgerung des Philosophen noch vor Freud und dessen

der Umwelt erfüllt werden? Die Antworten fallen den jeweiligen

Theorie der Verdrängung. In diesem Kapitel steht also nicht

Herausforderungen und Bedürfnissen einer Epoche entspre-

das „reinen Tisch machen“ im Fokus, sondern die „Verdrän-

chend unterschiedlich aus.

gung“ als psychische Abwehrstrategie gegen den durch

Der Wunsch nach einer Wiederverzauberung der Welt während

große Krisen ausgelösten Destruktionstrieb, wodurch der

oder nach einer Krise gehorcht einer von den Lebenstrieben

Lebenstrieb wieder die Oberhand gewinnen kann. Welche

befeuerten Dynamik der Selbsterhaltung, Selbstliebe und

Werkzeuge haben Architekt:innen zur Hand, um die Vision

Nächstenliebe, die Freud „Eros“ oder „Libido“ nennt. Es ist

einer besseren Welt zu entwerfen? Inwieweit können Architek-

der Versuch, das Zersprengte wieder zusammenzufügen,

turprojekte eine politische Dimension haben und konkret auf

indem der Destruktions- und Spaltungstrieb neutralisiert wird.

unser Leben einwirken?

Der vereinigende Lebenstrieb kann mit Verdrängung einher-

Der Vorgang der „Wiederverzauberung der Welt“ weist eine

gehen, deren Wesen Freud zufolge „nur in der Abweisung

doppelte Zeitdimension auf und besteht zunächst aus einer

und Fernhaltung vom Bewußten besteht“.1 Verdrängung ist

Aufhebung der Zeit, um sich dem Hier und Jetzt zu entziehen,

die priorisierte Form der Triebabwehr und ein Vorgang, bei dem

und anschließend aus einer Projektion in eine bessere Zukunft.

das Subjekt als unangenehme und als mit dem Ich unvereinbar

Wie schlägt sich diese zeitliche Doppelbewegung bei den

Anmerkungen Seite 166

Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft

135

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 136

Architekt:innen und in deren Werken nieder? Welche – insbe-

vorlegten, beherbergt das Mundaneum die fünf traditionellen

sondere ästhetischen – Werte transportieren Letztere?

Institutionen der geistigen Arbeit: Bibliothek, Museum, Wis-

Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen Kultur und Gesellschaft.

senschaftliche Gesellschaft, Universität und Institut internatio-

Dabei wird untersucht, wie die Weitergabe von Wissen, Ideen

naler Vereine. Am Anfang seiner Ausführungen geht Otlet auf

und moralischen Werten etwa nach dem Zusammenbruch

die Problematik der Globalisierung ein und unterstreicht die

einer Gesellschaft vorgenommen wird. Wie können Bücher,

zunehmende wechselseitige Abhängigkeit der Gemeinschaf-

Kunst, Kommunikation und kultureller Austausch gefördert

ten, Völker und Nationalitäten – eine Interdependenz, die der

werden, um einen erneuten Zusammenbruch, einen neuerlichen

Krieg deutlich vor Augen geführt hat. Dann zieht er eine Bilanz

Krieg zu verhindern? Wie kann ferner die Emanzipation der

der Zerstörungen: „An Menschen: 7 Millionen Tote und ebenso

Arbeiterklasse ermöglicht oder eine Dynamik des partizipato-

viele Verwundete; an Sachen: Verwüstung und Vernichtung von

rischen Lernens durch den Entwurf von „Palästen“, die der

Gütern im Wert von 1500 Milliarden Goldfranken. Die Welt

Kultur geweiht sind, in Gang gesetzt werden? Was versteht

wurde nicht nur erschöpft, sondern auch zutiefst zerrüttet zu-

man dann unter „Kultur“? Welche neue Gesellschaft soll

rückgelassen. […] Der Völkerbund – ein weiterer Beweis der

errichtet werden? Die zweifache Handlung im Vorgang der

Interdependenz – ist kraft eines regelrechten soziologischen

Wiederverzauberung zielt auf einen solchen Gesellschaftsent-

Determinismus eine logische Folge des Krieges.“3

wurf: Durch Fernhalten entzieht man sich dem Hier und Jetzt

Otlet erläutert das Projekt also zunächst im globalen Maßstab

und die Zeit wird aufgehoben; außerhalb der Zeit gelingt es

der Menschheit, danach geht er auf die apokalyptische Zer-

schließlich, sich in einen Nachkrisenraum zu projizieren, dem

störung der Menschheit durch den Krieg ein und richtet das

man einen neuen Zauber zu verleihen versucht.

Augenmerk zum Schluss auf die Erneuerung, die in der Schaf-

Paul Otlet und Le Corbusier: Weltmuseum und Museum mit unbegrenztem Wachstum, 1928/1939

fung einer internationalen, überstaatlichen Organisation als

Mundaneum Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entwickelte der Universaldenker Paul Otlet zum Gedenken an das Ende des Krieges und zur Feier der Gründung des Völkerbundes in Genf, dessen Aufgabe die Aufrechterhaltung der Eintracht unter den Nationen sein sollte, die Pläne für eine „Cité Mondiale“, eine Weltstätte unter dem Namen Mundaneum. Der belgische Philosoph, Begründer der modernen Dokumentationswissenschaft, Sozialist und überzeugte Pazifist war schon vor dem Krieg in Vereinigungen aktiv gewesen, die sich für den Frieden und für Kulturbelange einsetzten. Otlet ging von der Idee aus, dass profunde Kenntnisse über die Kulturen aller Länder und die Schaffung einer gemeinsamen, allen Menschen zugänglichen Sprache des Wissens einen Beitrag auf dem Weg zum Frieden leisten könnten. Er wandte sich daraufhin an Le Corbusier, der ein Konzept entwickeln sollte, das seinen Ideen Gestalt verlieh. Laut Präsentationsbroschüre, die Otlet und Le Corbusier 1928

136

Wiederverzauberung der Welt

Le Corbusier, Weltbibliothek im Mundaneum von Genf, Pläne und Schnitt, 1928

Anmerkungen Seite 166

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 137

Garantin für den Frieden besteht. Die Globalisierung und Interdependenz, die Otlet feststellt, veranlassen ihn zum Entwurf eines transkulturellen Bildungsprojekts, das ein Tempel für Kultur und Geist im globalen Maßstab sein soll. Für die Etablierung einer gemeinsamen Sprache: die Weltbibliothek Das Mundaneum ist als Plattform konzipiert, welche die internationalen Vereinigungen empfangen soll, deren Ziel „die Regulierung, Vereinheitlichung, Standardisierung, Terminologie und eine gemeinsame Sprache“ ist,4 den Prämissen für eine globale Verständigung, um einen neuen Weltkonflikt zu verhindern. Der Philosoph, der für seine umfangreiche Sammlung von Büchern, Zeitungen, Bildern und Postkarten bekannt war, träumte von einem ehrgeizigen Projekt, um Wissensträger aus der ganzen Welt mithilfe der seinerzeit völlig neuen Informationstechnik des Mikrofilms, der auf Leinwand projiziert werden konnte, zugänglich zu machen. Sein visionäres Vorhaben bestand in der Einrichtung einer Weltbibliothek, die als „gemein-

Paul Otlet, Mondothèque, Arbeitstisch mit integrierter Projektionstafel für das Mundaneum, 1930

sames Zentrum“ dienen und möglichst alle Sammlungen einer Universalbibliothek unter einem Dach vereinen sollte, also nicht nur Bücher, sondern allerlei Arten von Trägern: „Musikalien, Fotografien, Drucke, Kinofilme, Grammophonplatten usw.“ – auch sie in den Lesesälen auf Leinwänden zugänglich. Otlet entwickelte ein ausgeklügeltes Karteikartensystem und plante, einen internationalen Verleih einzurichten: „Der Nutzen eines Weltdokumentationszentrums sollte nicht nur für die Gegenwart bedacht werden, sondern auch für die Zukunft. Die Herrscher, Fürsten und Liebhaber konnten kaum ahnen, als sie in den vergangenen Jahrhunderten ,ihre Bibliotheken‘ einrichteten, dass daraus die großen Buch-Institutionen unseres Jahrhunderts hervorgehen würden. Was wissen wir schon davon, was in fünfzig oder hundert Jahren aus einem großen Weltmagazin hervorgehen wird? Wir können das nicht im Detail beantworten, aber wir vertrauen darauf, dass die Zukunft ein fruchtbarer Boden sein wird.“5

Paul Otlet, Schrank im Mundaneum, Fotograf: Stefaan Van der Biest, 2016

Die Bibliotheksklassifikation, die Otlet erfand, ist zum Standard geworden und wird noch heute verwendet, gleiches

der Klassifikation und des Teilens von Wissen einzurichten,

gilt für die internationale Vernetzung der Bibliotheken. Lange

kann Otlet als einer der Vordenker des Internets und vor

vor dem Internetzeitalter erkannte der utopische Visionär

allem von Wikipedia angesehen werden. Die Etablierung

die Notwendigkeit, ein Netzwerk für den Datenaustausch

einer gemeinsamen Sprache für die Völkerverständigung lässt

zu schaffen. Mit seinem Bestreben, ein universelles System

an den legendären Turmbau zu Babel denken: Nach den

Anmerkungen Seite 166

Paul Otlet und Le Corbusier: Mundaneum, Weltbibliothek

137

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Ziel ist „die systematische Demonstration der ganzen Wirklichkeit an einem Punkt“, nämlich in einem „Weltmuseum, das ein Museum der Enzyklopädie und der Synthese ist, angelegt als Instrument der Wissenschaft, des Studiums und der Kultur, damit bei allen Menschen, allein durch das von ihm gebotene Schauspiel, die großen und erhabenen Eindrücke wieder erweckt werden, die eine Entdeckung des weiten Universums, in dem wir uns bewegen, auslösen kann.“8 Für die Umsetzung dieser hehren Le Corbusier, Mundaneum in Genf, 1928, Perspektive Rechts: Genfer See, links: Mundaneum mit Weltmuseum in Pyramidenform, Bibliothek, Forschungsinstitut, Haus der Vereinigungen, Universität, Sportanlagen usw.

Ziele der weitläufigen „Weltstätte“ entwarf Le Corbusier eine archetypische Anlage, die

Wirren und Schrecken des Krieges wollte Otlet einen neuen

von einer babylonischen Tempelstadt inspiriert war. Die ge-

Turm errichten, in der Hoffnung, wieder zu einer gemeinsa-

samte Komposition basiert auf Rechtecken des Goldenen

men Sprache zu finden.

Schnitts, „sodass eine große Einheitlichkeit und harmonische Proportionen herrschen“,9 so der Architekt in seinem Präsen-

Das Weltmuseum

tationstext. Er schreibt das Bauwerk in eine absolute Geome-

Otlets Weltmuseum ist als Herzstück des Mundaneums dazu

trie ein, damit die vier Ecken „ganz genau die vier Himmels-

bestimmt, „eine Demonstration des gegenwärtigen Zustands

richtungen anzeigen“.10 Das Gelände hat seinen höchsten

der Welt, [und] ihres komplexen Mechanismus […] zu sein.

Punkt am Standort des Weltmuseums.

Der umfangreiche Weltinhalt wird nach den drei Kategorien

Den Höhepunkt der Komposition bildet das Weltmuseum, für

Werk, Zeit und Ort in drei entsprechenden Reihen von Abtei-

das Le Corbusier eine siebenstöckige, quadratische Zikkurrat

lungen präsentiert und erläutert.“6 Diese programmatische

vorschlägt, die in den Himmel aufragt – eine Art Turm zu

Idee ist maßgeblich für die Raumplanung, denn sie erfordert

Babel, der von den Rekonstruktionszeichnungen des Sargon-

eine besondere Anordnung: Anders als die in den Museen

Palastes in Chorsabad von Perrot und Chipiez inspiriert ist.

übliche wird sie von der Zeitachse bestimmt, die sich räumlich

Mit dem Unterschied, dass Le Corbusiers Stufenpyramide

in der Architektur niederschlägt. Dazu sei angemerkt, dass dem

durch eine Reihe von Pfeilern über den Boden gehoben wird,

Philosophen kein Museum im eigentlichen Sinne vorschwebte,

die den Blick bis zu den Bergen freigeben und eine Schwebe-

sondern eher ein Idearium und ein Useum: „Vom alten Muse-

wirkung erzeugen. Diese Losgelöstheit vom Boden bringt die

umskonzept werden wir lediglich die Idee des Zeigens und

gewohnte Wahrnehmung ins Wanken und verleiht der arche-

des beständigen Zugangs für alle beibehalten.“ Im Unterschied

typischen Form eine Leichtigkeit und seltsam moderne Er-

zum herkömmlichen Museum geht es hier nicht darum, zu

scheinung, was durch die Materialität – statt Ziegel, Stein

bewahren, sondern darum, zu erklären, um das Vermitteln von

oder sogar Beton werden Glas und Stahl verwendet – noch

Zusammenhängen – auch dies eine bahnbrechende Idee.

verstärkt wird. Um die erste Stufe der Zikkurrat herum erstreckt

Otlets Useum ist der Nutzung gewidmet und sein ehrgeiziges

sich eine dünne Überdachung auf Pfosten, die sich zu beiden

7

138

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 166

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 139

Le Corbusier, Weltmuseum im Mundaneum von Genf, 1928, Perspektive

Seiten des Pyramidenkorpus hinaus verlängert und so einen

Wie dieses Exposee durch eine unmittelbare Visualisierung

Platz für den Empfang der Besucher:innen bildet.

synchronisieren? Denn sie wird erst wirklich ergreifend und

Die Pyramide ist über eine Außenrampe und über einen

nützlich sein, wenn sie unmittelbar erfolgt.“11

Schrägaufzug zugänglich, der die Besucher:innen nach oben

Dafür unterteilt Le Corbusier die Ausstellungsflächen in drei

befördert; von dort gelangen sie ins Innere des Museums,

Bereiche (Werk, Zeit, Ort), die den Raum und die Form der

wo sich ihnen ein Blick über alle Stockwerke eröffnet, die sich

Präsentation der Menschheitsgeschichte gliedern:

spiralförmig um ein großes Atrium anordnen. Le Corbusier

„Drei Hauptschiffe erstrecken sich parallel nebeneinander,

gestaltet den Innenraum entsprechend den drei von Otlet ersonnenen Kategorien Werk, Zeit und Ort und knüpft an den erhabenen Tonfall von dessen Kernaussage an („damit bei allen Menschen […] die großen und erhabenen Eindrücke wieder erweckt werden, die eine Entdeckung des weiten Universums, in dem wir uns bewegen, auslösen kann“), indem er mitbedenkt, was die Besucher:innen in einem solchen Gebäude empfinden mögen: „Und jetzt, nach der kollektiven Tätigkeit, nach der guten oder schlechten Organisation, ist der Mensch allein im Angesicht des Universums. Der Mensch in der Zeit und am Ort. Die Werke des Menschen werden exakt in die Zeit ihrer Erschaffung und an die Orte ihrer Entstehung zurück versetzt. Das Werk. Die Zeit. Der Ort.

Anmerkungen Seite 166

Le Corbusier, Organisationsschema Weltmuseum, Mundaneum in Genf, Zeichnung, 1928

Paul Otlet und Le Corbusier: Mundaneum, Weltmuseum

139

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 140

Seite an Seite, ohne Wände, die sie voneinander trennen.

Jahre später. Die Weltkarte wächst, verändert sich, zittert

In einem der Schiffe des Menschen Werk, das die Tradition,

wie eine in Zeitlupe gefilmte Blüte. Was für eine Lehre!“13

die ehrfürchtige Erinnerung oder die Archäologie uns her-

Für die räumliche Umsetzung dieses Programms sieht

gebracht haben; im angrenzenden Schiff alle Dokumente,

Le Corbusier vor, das Mittelschiff – die Zeitachse – auf einem

welche die Zeit, die Geschichte zum betreffenden Zeitpunkt

niedrigeren Niveau zu halten als die benachbarten Abteilungen

festhalten werden, visualisiert durch Grafiken, überlieferte

und an den Seiten zu verglasen, um das einfallende zenitale

Bilder, wissenschaftliche Rekonstruktionen usw. Und direkt

Licht in den Ausstellungsraum zu leiten. Ganz unten in

daneben das dritte Schiff mit allem, was uns die Orte, ihre

der Pyramide befindet sich in der Mitte ein runder Raum,

unterschiedlichen Bedingungen, ihre natürlichen oder

den Le Corbusier in feierlichen und geheimnisvollen Tönen

künstlichen Erzeugnisse usw. zeigen werden.“

beschreibt:

12

Für die Spiralform spricht die beeindruckende Menge an

„Aber ganz unten, am Boden, erkennt er [der Besucher],

Dokumenten, die im Lauf der Geschichte immer zahlreicher

von einem fernen Licht angestrahlt, auf bloßer Erde eine

werden. Der Rundgang beginnt mit der Vorgeschichte an der

kreisförmige Einfriedung, eine hohe glatte Mauer um etwas

Spitze der Pyramide, wo die Spirale eng zusammengerollt ist,

herum: Es ist das Sacrarium. […] Er betritt den runden,

während sich beim Abstieg Zeit und Form immer weiter ent-

glatten und stillen Raum, den er von oben erblickt hat, und

falten. Die Spirale wird allmählich breiter und bietet immer

findet darin die Figuren der großen Eingeweihten, die bei

mehr Platz für jüngere und besser dokumentierte Epochen.

ihrem Erscheinen in Stein gemeißelt wurden von der Hand

Das räumliche Prinzip der dreischiffigen Anordnung ist innova-

derer, die sie anbeteten, und die die Menschheit im Verlauf

tiv, denn es gewährleistet eine ununterbrochene, fließende

ihres Weges mit ihrer ganzen mystischen Kraft und ihrem

räumliche Kontinuität.

Bedürfnis nach Erhebung, Selbstverleugnung und Selbst-

Le Corbusier ist begeistert von diesem Konzept der Struktu-

losigkeit aufgeladen hat. Große und unbestreitbare Momente

rierung von Geschichte und von der dynamischen Art und

der Menschheitsgeschichte.“14

Weise, sie auf ein räumliches Prinzip zu übertragen, denn die

Im Sacrarium – im Angesicht der berühmten Persönlichkeiten

Geschichte ist, wie auch die Auffassung davon, nie statisch,

der Geschichte – scheint die Zeit stillzustehen. Nicht mehr die

sondern immer im Wandel begriffen:

Kirche vermittelt ein derart zeitloses Gefühl von Größe, son-

„Alles ist miteinander verknüpft; jede wahnsinnige, egoisti-

dern ein profaner, der Universalkultur geweihter Raum, dessen

sche, waghalsige oder selbstlose Tat hat Folgen; diese

Aufgabe es ist, uns Menschen in die große Geschichte einzu-

zeitigen sich sofort oder erst hundert oder zweihundert

schreiben.

Le Corbusier, Skizze der Eingangshalle des „Musée esthétique“, Februar 1936

140

Wiederverzauberung der Welt

Le Corbusier, Modellfoto des Museums mit unbegrenztem Wachstum, 1939, Fotograf: Lucien Hervé

Anmerkungen Seite 166

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Dem Weltmuseum stellt Le Corbusier die Weltbibliothek zur

nach dem Siegeszug des Internets, errichtete der belgische

Seite, die im Gegensatz zum Museum nichts Tempelartiges

Staat in Mons ein Mundaneum, in dem die Sammlung Paul

hat. Sie gleicht einer gigantischen funktionalen (und funktio-

Otlets untergebracht ist und das die visionären Vordenker des

nalistischen) Maschine, die ein großes internationales Archiv

Internets würdigt.

aus Karteikarten-, Mikrofiche-, Akten-, Dokumenten- und Büchersammlungen sowie mehrere Lesesäle in den oberen Stockwer-

Museum mit unbegrenztem Wachstum

ken beherbergt. Aufzüge in Glasschächten und eine große geschwungene Rampe für die Besucher:innen verleihen dem

Die Kultur und die Menschheitsgeschichte in den Mittelpunkt

Gebäude die Merkmale eines hochmodernen Nutzbaus. Beide

eines Museumsprojekts zu stellen, eröffnet zugleich die Mög-

Bauten, das Weltmuseum in babylonisch anmutender Zikkurat-

lichkeit, Krisen, Kriege und Katastrophen in einen größeren

Gestalt und die Weltbibliothek in Maschinen-Gestalt, sind räum-

zeitlichen Zusammenhang zu stellen. Das verändert die Zeit-

liche Verkörperungen der utopischen Ideen Otlets, die humani-

wahrnehmung, und so scheint die Gegenwart angesichts der

stisch, universalistisch und futuristisch in einem sind.

großen Geschichte wie aufgehoben zu sein.

Das Mundaneum in Genf wurde nie realisiert, aber immerhin

Nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich ein solcher notwendi-

konnte Paul Otlet zusammen mit Henri La Fontaine (mit dem

ger Moment des Stillstands der Zeit ein, und es wurden neue

er 1895 das Office International de Bibliographie gegründet

Narrative ersonnen, die auf dem gesellschaftlichen, techni-

hatte) 1920 in Brüssel einen Raum einrichten, in dem eine

schen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt gründeten

Kurzpräsentation des Weltmuseums und der Weltbibliothek

mit dem Ziel, Frieden zwischen den Völkern zu stiften.

gezeigt wurde. Ihr Museum wurde allerdings 1934 geschlossen.

Le Corbusiers Musée à croissance illimitée oder „Museum mit

Otlet beteiligte sich daraufhin an der Eröffnung des Munda-

unbegrenztem Wachstum“ ist eine Weiterentwicklung des

neum Institute in Den Haag, das sein Freund Otto Neurath ins

Weltmuseums. Es spiegelt den Wunsch nach unbegrenzter Er-

15

Leben gerufen hatte – der österreichische Philosoph, Sozio-

weiterbarkeit wider, deren Voraussetzung eine friedliche und

loge und Ökonom war der Begründer des Gesellschafts- und

in vollem Wachstum begriffene Welt ist – ein idealistischer

Wirtschaftsmuseums in Wien und floh nach dem „Anschluss“

Wunsch, der trotz des sich anbahnenden Krieges als Versuch

1938 ins Exil nach Holland. Zwei Jahre später, als die Deutschen

einer Wiederverzauberung der Welt zu werten ist. Le Corbu-

in die Niederlande einmarschierten, wurde auch dieses Insti-

sier war fasziniert vom Raumprinzip des Weltmuseums und

tut geschlossen. Otlet verfiel während des Zweiten Weltkriegs

dessen Spiralform, die mit der Idee einer universellen Kultur

in Depression und Wahnsinn und starb 1944. Im Jahr 1998,

verbunden ist. Die Frage der – im Prinzip unbegrenzten –

Le Corbusier, Modellfotos des Museums mit unbegrenztem Wachstum, 1939, Fotograf: Lucien Hervé

Anmerkungen Seite 166

Le Corbusier, Modellfotos des Museums mit unbegrenztem Wachstum, 1939, Fotograf: Lucien Hervé

Le Corbusier: Museum mit unbegrenztem Wachstum

141

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Erweiterbarkeit eines solchen Museums (wie sollte man der Anhäufung von Wissen und Erkenntnissen Einhalt gebieten können?) spornte ihn dazu an, diesen räumlichen Archetypus weiterzuentwickeln. Für die Weltfachausstellung Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne 1937 in Paris entwirft er den Prototyp eines „Museums mit unbegrenztem Wachstum“ als flache Spiralform, um spätere Erweiterungen zu ermöglichen: „Die modernen Zeiten brachten bisher das Problem des Wachstums (oder der Erweiterung) von Gebäuden mit sich, ohne echte Lösungen zu erhalten.“16 Er dachte sich eine endlose, räumlich wie baulich exponentiell wachsende Architektur aus, ähnlich einem Schneckengehäuse oder der Fibonaccifolge, und verband sie mit dem Goldenen Schnitt, wie eine seiner Skizzen zeigt. Das Museum mit einer anfänglichen Seitenlänge von 25 oder 50 Metern basiert auf denselben Gliederungsprinzipien wie das Weltmuseum, nur dass die flache Spiralform hier als unvollendetes Fragment gedacht ist und – anders als bei der starren Pyramidenform – nachträgliche Erweiterungen ermögLe Corbusier, Skizze für das Museum mit unbegrenztem Wachstum, 1939

licht. Ein Modellfoto zeigt eine Reihe von genormten Trägern, die in Erwartung einer Vergrößerung aus dem Gebäude herausragen, wodurch dann später die Außenfassade in eine Innenwand umgewandelt wird. Am Boden lagern vorgefertigte Balken und können jederzeit montiert werden. Aus Kostengründen plante Le Corbusier eine vollständige Standardisierung der Bauteile: „Ein Pfosten, ein Balken, ein Deckenelement, ein Element für die Tagesbeleuchtung, ein Element für die Nachtbeleuchtung. Das Ganze wird durch Verhältnisse des Goldenen Schnitts geregelt, die einfache, harmonische, unbegrenzte Kombinationen gewährleisten.“17 Obwohl beliebig erweiterbar, ist die sich um sich selbst windende Spirale vor allem ein Archetypus, eine Stilfigur des endlosen Wachstums, aber auch der Beschleunigung. Insofern hat diese Form schon fast etwas Barockes: „Von Bramante bis Borromini“, so Arnaldo Bruschi, „ist die Komposition eine Struktur unter Spannung, auf der einerseits die Zentrifugalkraft der Leere im Inneren und andererseits die Zentripetalkraft der raumumhüllenden Masse lastet.“18 Und für Paolo Portoghesi gleicht der barocke Raum auf der Wahrnehmungsebene einem „konzentrischen rotierenden Feld, das die Wand-

Le Corbusier, Skizze des Organisationsprinzips des „Musée esthétique“ für die Weltfachausstellung Arts et Techniques 1937 in Paris, 1936

142

Wiederverzauberung der Welt

flächen krümmt“.19 Die Spiralform und das Spiel mit den konvexen und konkaven Formen sind aber nicht nur in barocken Innenräumen zu finden, sondern auch außen wie bei der

Anmerkungen Seite 166

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Universitätskirche Sant’Ivo alla Sapienza in Rom, wo Borromini die Turmspitze als sich emporwindende Spirale gestaltete,

Die Pariser Weltausstellung Arts et Techniques von 1937 als Heilmittel gegen die Krise

um das universelle Wissen zu symbolisieren. Nicht nur, dass Le Corbusiers Museum diesem Muster des rotierenden Span-

Le Corbusiers Museumsprojekt kann nicht losgelöst vom

nungsfeldes folgt, das zentrifugal und zentripetal zugleich ist,

damaligen Kontext der internationalen Krisen von Wirtschaft

hier spielt die symbolische Dimension einer universellen Kultur

und Politik betrachtet werden. Mussolini kam 1922 in Italien

ebenfalls eine Schlüsselrolle.

an die Macht, Hitler 1933 in Deutschland; 1934 führte

Genau wie das Weltmuseum ruht die quadratische Spiralform des Museums mit unbegrenztem Wachstum auf Pfeilern und hebt sich vom Boden ab. Der Zugang erfolgt von unten, wobei die von zenitalem Licht erhellte Eingangshalle sich in der Mitte befindet, eine „wahre Ehrenhalle, die für einige Meisterwerke bestimmt ist“,20 deren Raumgliederung der ihrer Vorgängerin ähnelt. Hier startet der spiralförmige Rundgang, der sich im Wesentlichen durch ein in der Decke abgesenktes Lichtband auszeichnet, dessen seitliche Verglasungen Tageslicht in den Raum strömen lassen. Die Zeit wird durch dieses architektonische Element symbolisiert und räumlich erfahrbar; es leitet den Besucher auf seinem Rundgang von der Frühgeschichte bis in die Gegenwart und wird so zur treibenden Kraft seiner Erfahrung. Um den Eindruck eines Labyrinths zu vermeiden, sieht Le Corbusier Orientierungspunkte vor: große Öffnungen in alle vier Himmelsrichtungen, um den

Postkarte Exposition Internationale Paris 1937 mit dem sowjetischen Pavillon (rechts) und dem deutschen Pavillon gegenüber

Rundgang verkürzen oder verlassen, einen Blick nach draußen werfen oder sogar hinaus in den Garten gehen zu können, dies über breite überdachte Fußgängerbrücken, die auch als Wetterschutz für diejenigen dienen, die das Museum betreten oder verlassen. So bietet dieses Gebäude trotz seiner einschränkenden Form genügend Flexibilität, damit die Besucher:innen ihren eigenen Rundgang zusammenstellen und die Museumsgestalter die Ausstellungsräume mit beweglichen Wänden beliebig verändern können. Hier setzt sich die Rationalität gegen den barocken Rausch durch, der Besucher kann das „konzentrische rotierende Feld“ verlassen und sich der räumlichen Spannung zwischen zentrifugaler Leere und zentripetaler Masse entziehen. Letztere wird durch große Öffnungen durchbrochen, die kartesische Achsen einführen und so den Besucher:innen wieder Orientierungspunkte geben, die in diesen turbulenten Zeiten dringend nötig sind.

Robert Delaunay und Félix Aublet, Innenausstattung der kegelstumpfförmigen Halle des Palais de l’Air, 1937

Anmerkungen Seite 166

Pariser Weltausstellung 1937

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Dollfuß den austrofaschistischen Ständestaat ein, der bis zum

Für den Palais de l’Air entwarfen Robert Delaunay und Felix

„Anschluss“ Österreichs durch Hitlerdeutschland bestand.

Aublet eine monumentale schwebende Spirale, die einen

Der Putsch im Juli 1936 gegen die Volksfrontregierung in

kreiselnden Rundgang um ein herabhängendes Flugzeug

Spanien stürzte das Land in einen blutigen Bürgerkrieg und

bot und durch ihre freie Formgebung und farbenfrohe

mündete in die Franco-Diktatur. Russland erlebte in den

Erscheinung bestach. Darauf bedacht, arbeitslose Künstler:innen

1930er Jahren die großen stalinistischen Säuberungen mit

wieder in Lohn und Brot zu bringen, hatte die von ihnen vor-

Millionen von Toten und Deportierten.

geschlagene Rauminstallation so riesige Ausmaße, dass sie

Vor diesem Hintergrund des Zusammenbruchs der Demokra-

nur von einem Künstlerkollektiv verwirklicht werden konnte

tien und großer politischer Spannungen, zu denen nach dem

(„Art et Lumière“ wurde eigens dafür gegründet).

Börsenkrach von 1929 noch die Weltwirtschaftskrise hinzukam,

Nicht weit davon entfernt standen zwei Pavillons an der Haupt-

beschloss die französische Regierung unter Doumergue (per

achse vom Eiffelturm zum Palais de Trocadéro: der deutsche,

Gesetz vom 6. Juli 1934), eine internationale Ausstellung in

ein Entwurf von Hitlers Lieblingsarchitekten Albert Speer, ein

Paris auszurichten und Edmond Labbé mit der Leitung zu be-

turmartiger Bau aus monumentalen Säulen im neoklassizisti-

trauen. Das (recht utopische) Ziel war, den Frieden zwischen

schen Stil, auf dem der Adler mit dem Hakenkreuz thronte,

den Nationen zu fördern und durch die Schaffung von Arbeits-

und gegenüber der sowjetische, ein ebenso imposanter,

plätzen die Wirtschaft der Hauptstadt anzukurbeln.21 Labbé

gleichwohl kleinerer, dafür aber dynamischerer Bau mit zu-

wollte zeigen, dass Kunst und Technik keine gegensätzlichen

oberst zwei den Himmel stürmenden heroischen Figuren, der

Felder sind, und forderte, dass das Schöne und das Nützliche

Monumentalskulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin von Vera

„untrennbar miteinander verbunden“ sein sollten. Mit diesem

Muchina im Stil des Sozialistischen Realismus.

22

Anspruch wollte er zwei von der Krise betroffenen Branchen neuen Schwung verleihen: der Welt der Kunst, die stark von

Statt des „Museums mit unbegrenztem Wachstum“ der

Arbeitslosigkeit betroffen war, und der Welt der Technik und

Pavillon des Temps Nouveaux

der Fabriken mit einer so schlecht bezahlten Arbeiterklasse,

Für die Weltausstellung von 1937 hoffte Le Corbusier den Pro-

dass ein Überleben kaum möglich war.

totyp seines „Museums mit unbegrenztem Wachstum“ an der

Die Regierung Doumergue hielt nur neun Monate, vom

Porte d’Italie bauen zu können. Hier sollte das „Zentrum für

9. Februar bis zum 8. November 1934. Nach der Bildung und

zeitgenössische Ästhetik“ unterkommen, nach der Weltaus-

dem Sturz von vier weiteren Regierungen beschlossen die

stellung das „Autonome Museum für Moderne Kunst“ – an

linken Parteien, sich angesichts der Bedrohung durch Hitler-

diesem oder an einem anderem Standort, hatte doch sein Bau

Deutschland und mit Blick auf eine Stabilisierung der Innen-

den Vorteil, demontierbar zu sein. Doch letztlich verhinderten

politik zu einer neuen Koalition zusammenzuschließen, die

finanzielle Gründe die Realisierung: „Da die zu investierende

unter dem Namen „Front populaire“ die Wahlen vom 26. April

Summe für ein dauerhaftes Gebäude mit 25.000 m2 bebauter

und 3. Mai 1936 gewann. Léon Blum, der neue Premierminister,

Fläche 2,5 Millionen betrug, wurde sie im Oktober 1936

hielt an dem Ausstellungsprojekt fest, allerdings änderte sich

abgelehnt.“24 Darüber hinaus schlug Le Corbusier den Bau

die Auswahl der Künstler grundlegend zugunsten von Vertre-

einer dauerhaften Wohneinheit für die Weltausstellung vor,

ter:innen der Avantgarde. Robert Mallet-Stevens wurde mit

um Geldverschwendung zu vermeiden und langfristig die

dem Entwurf des Pavillon de la Lumière beauftragt, einem

Lebensbedingungen der Stadtbewohner:innen zu verbessern,

symbolträchtigen Gebäude mit einem Leuchtturm und einer

doch auch dieses Vorhaben kam aus Kostengründen nicht zu-

großen geschwungenen Fassade, die, ausgestattet mit einer

stande.Schließlich wurde Le Corbusier mit einem weitaus

Leinwand, nächtliche Projektionen zum Leben erweckten. Im

kostengünstigeren temporären Ausstellungspavillon beauf-

Innern wurden allerlei Innovationen in Verbindung mit elektri-

tragt, dem Pavillon des Temps Nouveaux. Das Ergebnis war

schem Licht präsentiert, und auf einer Fläche von 600 Quadrat-

ein avantgardistisches Konstrukt, zum einen wegen seiner

metern schmiegte sich das riesige Fresko La Fée Électricité

flexiblen Materialität (er bestand vollständig aus auf gespann-

von Raoul Dufy an die gekrümmten Wände des Pavillons.

ten Stahlseilen montierten Tuchbahnen), zum anderen wegen

23

144

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 166

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Le Corbusier, Pavillon des Temps Nouveaux, Weltfachausstellung Arts et Techniques, Paris, 1937, Fotograf: Albin Salaün; „DIE GROSSEN EUROPÄISCHEN INDUSTRIEZONEN, DIE FRIEDEN SCHAFFEN“ (rechts); im Hintergrund Stadtentwürfe für die Ville Radieuse

der Art und Weise, wie politische Inhalte (die sich mit denen

gebauten Projekte wie die „Strahlende Stadt“ und die

der neuen Volksfrontregierung deckten) anhand von Collagen

„Wohneinheit“ präsentierte. Bespielt wurde der Innenraum

präsentiert wurden. Während der 1925 ausgestellte Pavillon

durch riesige Collagen, die nicht nur seine Entwürfe zeigten,

de l’Esprit Nouveau auf ästhetische und funktionalistische

sondern auch Fotografien von Sporttreibenden direkt neben

Erneuerung gesetzt hatte, richtete der Pavillon des Temps

Aufnahmen von Waffen, die überschrieben waren mit: „KA-

Nouveaux das Augenmerk darauf, wie dringlich der Aufbau

NONEN, MUNITION? NEIN DANKE, WOHNUNGEN BITTE!

einer friedlichen Gesellschaft war.

Frankreich gibt jedes Jahr 12 Milliarden für Rüstung aus.“

Fassen wir nun den politischen Inhalt kurz zusammen, denn er

An einer anderen Wand gab der Architekt die Forderungen

liefert uns den Schlüssel zum Verständnis des Kontextes, aus

der CIAM wieder: „WOHNEN, ERHOLEN, ARBEITEN,

dem heraus Le Corbusier sein „Museum mit unbegrenztem

BEFÖRDERN“, und: „IM SINNE DES ALLGEMEINWOHLS –

Wachstum“ entwickelte.

DAS LAND AUSSTATTEN“. Le Corbusier bezog Stellung

Angesichts der weltweiten politischen und sozialen Unruhen

gegen den Krieg und setzte sich unmissverständlich für eine

nahm Le Corbusier eine entschieden optimistische Haltung

Verbesserung der Lebensbedingungen ein. Architektur und

ein und hob die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verbes-

Städtebau erschienen als die große Herausforderung der

serung der Lebensbedingungen hervor: „DIE WELT IST

„maschinistischen“ Welt auf dem Weg zum Fortschritt, wie

NICHT AM ENDE – WEDER EUROPA NOCH DIE USA,

die Wandbeschriftungen belegen:

WEDER ASIEN NOCH SÜDAMERIKA GEHEN UNTER – DIE

„Hoffnung der maschinistischen Zivilisation: die Wohnung.

WELT LEBT WIEDER AUF!“ Dieser Satz prangte an einer

Willst du lieber Krieg führen?

Wand des Pavillons, in dem er seine visionären, noch nicht

Auslöschen … oder ausstatten …“25

Anmerkungen Seite 166

Pariser Weltausstellung 1937

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dem Ende des Ersten Weltkriegs bekräftigt hatte, ließen sich der Fortschrittsgedanke und die Bedeutung der Kultur für den Aufbau einer friedlichen Gesellschaft sowohl symbolisch als auch räumlich besonders überzeugend durch dieses durchaus optimistische, sich stetig weiterentwickelnde Dispositiv verkörpern, ganz so, als ob nichts eine solche expansive Dynamik aufhalten könnte. Vor dem Hintergrund des drohenden Krieges wurde eine konkrete Umsetzung allerdings immer unwahrscheinlicher. Aber Le Corbusier gab nicht auf und stellte sein Projekt verschiedentlich vor, darunter Salomon Guggenheim für ein neues Museum in London (1938/1939) und Theodor Ahrenberg für dessen Sammlung moderner Kunst in Hollywood (1939) oder den Städten Philippeville in Algerien (Juni 1939; heute Skikda) und Grenoble (Juli 1939); selbst der Kriegsausbruch konnte ihn nicht aufhalten (Hitler war am 12. März 1938 in Österreich einmarschiert und hatte sich am 16. März 1939 Böhmen und Mähren einverleibt). Paradoxerweise wurde das räumliche Prinzip dieses Kulturtempels im Vorfeld des Krieges dadurch interessant, dass es wie eine geschlossene Box konzipiert und somit nicht als Museum erkennbar war; in den damaligen unsicheren Zeiten wurde dieser Aspekt als Vorteil gesehen, da die Kunstwerke dadurch geschützt wären. Schließlich wurde das Konzept nach dem Zweiten Weltkrieg am anderen Ende der Welt von einem japanischen Sammler westlicher Kunst wiederaufgegriffen, der sich an Le Corbusier wandte. Im Jahr 1955 eröffnete das Nationalmuseum für westliche Kunst in Tokio seine Tore: Seine Raumanordnung ähnelte der des „Museums mit unbegrenztem Wachstum“, das Le Corbusier für die Weltausstellung 1937 in Paris Le Corbusier, Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, 1955; oben: Eingang, unten: Innengalerie mit spiralförmigem zenitalem Lichtband, Fotograf: Olivier Martin-Gambier

entworfen hatte. Auch wenn die „Timeline“ hinsichtlich des Museumsinhalts zweitrangig geworden war (vom „Tempel der Universalkultur“, der Paul Otlet ursprünglich vorschwebte und

In Anbetracht der drohenden Kriegsgefahr wurden die

der dem Gesetz des Chronos unterworfen war, ist nichts mehr

Strahlende Stadt und die Wohneinheit als dringende Notwen-

übrig), erzeugte das Lichtband an der Decke dennoch einen

digkeit dargestellt, mit der klaren und unmissverständlichen

spiralförmig sich entfaltenden raumzeitlichen Rundgang,

Botschaft, dass die Staaten statt in den Rüstungswettlauf in

während die in alle vier Himmelsrichtungen sich bietenden

bessere Lebensbedingungen (wie die Schaffung von neuem

Ausblicke auf die Außenwelt die Besucher:innen wieder in die

Wohnraum) investieren sollten und dass es fundamental wichtig

Jetztzeit holten.

sei, die Technik in den Dienst der Menschheit zu stellen. Obwohl auf der Weltausstellung statt des Museums mit

Technik und Fortschritt – ein Paradigmenwechsel

unbegrenztem Wachstum der kostengünstige Pavillon des

146

Temps Nouveaux gezeigt wurde, warb Le Corbusier weiterhin

Die Werte des Weltfriedens, des Austauschs und der Völker-

für sein visionäres Projekt. Denn wie schon Paul Otlet nach

verständigung, die für Paul Otlets Entwurf eines Weltmuseums

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 166

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maßgeblich gewesen waren, wandelte Le Corbusier in der Zwischenkriegszeit in ein Symbol für Wachstum um, für das der Frieden nur noch eine Prämisse und nicht mehr das eigentliche Ziel war. Die Form des potenziell endlos erweiterbaren Museums drückte die Idee eines kontinuierlich beschleunigten Fortschritts aus und nahm in einer von Kriegen und politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen erschütterten Welt eine entschieden optimistische Haltung ein. Daher trotzte dieses modernistische Sinnbild für Wachstum selbst noch bei Kriegsausbruch der sich abzeichnenden globalen Katastrophe und unterbreitete der Gesellschaft weiterhin das Narrativ des linearen, unerschütterlichen Fortschritts. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden menschlicher und technischer Fortschritt noch zusammen gedacht; wie der Historiker François Hartog formuliert: „Die Menschen haben sich stets als eine Gesamtheit begriffen, die ihre Welt errichtet, indem sie eine moderne Zeit schufen: die Zeit der Welt, die Zeit der Universalgeschichte.“26 Paul Otlets ambitioniertes Projekt für den Bau eines Weltmuseums und einer Weltbibliothek, die alles Wissen in sich vereinen, ist dafür ein perfektes Beispiel. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem Paradigmenwechsel, den Hartog folgendermaßen zusammenfasst: „Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts lebten unsere Gesellschaften mit der Perspektive eines stetig zunehmenden und beschleunigten Fortschritts. Die Zerrüttung dieser Perspektive erfolgte insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Technologischer Fortschritt und Fortschritt der Menschheit konnten nicht mehr zusammen gedacht werden. Sie haben sich endgültig voneinander entkoppelt. Auf diesem eingeschlagenen Weg verschwindet der Fortschritt allmählich, während die

Le Corbusier, Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, 1955, Hauptraum mit zenitalem Tageslicht, Fotograf: O. Martin-Gambier

Technologie nicht stehen bleibt und die Innovation an seine Stelle setzt.“27

dem Menschen höchstens die Demütigung beibringe, nichts

Die Begeisterung für die Maschine und die Technik, die in den

zu sein als ein kleines Rad in der gewaltigen Maschine des

Äußerungen Le Corbusiers und vieler anderer Anhänger der

Massenmordes. […] Der Krieg in seiner unbeirrbar mörderischen

Bewegung der Moderne zum Ausdruck kommt, wurde durch

Willkür wurde zum Symbol für den ‚großen Gleichmacher‘ Tod

den Zweiten Weltkrieg mehr als gedämpft, denn Technologie

und damit zum wahren Vater einer neuen Weltordnung.“28

war vor allem zum Sinnbild der Zerstörung der Menschheit ge-

Allerdings sollte die Entstehung neuer Technologien dem

worden. Hannah Arendt reflektierte diesen Bruch und stellte

Fortschrittsbegriff einen neuen Glanz verleihen, wofür das

fest, dass der Krieg im Maschinenzeitalter „die ritterlichen Tu-

Wort Innovation steht. Nach dem Wiederaufbau, bei dem

genden von Tapferkeit, Ehre und Männlichkeit [nicht gut] er-

die Städte in hohem Tempo nach Maßgabe der von den

zeugen könne“, von denen die Futuristen träumten, sondern

Anhängern der Moderne gepriesenen rationalistischen Prinzi-

„daß er vielmehr außer der Erfahrung absoluter Zerstörung

pien umgestaltet wurden, wich die Begeisterung für den

Anmerkungen Seite 166

Technik und Fortschritt

147

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Funktionalismus und die Standardisierung einer Faszination

heutigen Bibliotheken, die zu erwartenden Fortschritte in der

für die Kybernetik, die eine physische und psychische Erwei-

Informationsspeicherung und -abfrage sowie die weiter

terung des Menschen versprach.29 Die Maschine und die

oben vorgeschlagenen symbiotischen Funktionen zusam-

Technologie nahmen eine andere Gestalt und Bedeutung an

menführt […]. […] ein Netz solcher Zentren, die untereinander

und eröffneten ein weites Feld für neue Forschungen und Fik-

durch Breitband-Kommunikationskanäle verbunden sind.“31

tionen. An die Stelle des erträumten „Maschinenmenschen“

Allerdings stellte für Licklider die vernetzte Bibliothek (die für

der Futuristen trat der „Computermensch“.

Paul Otlet Teil eines großen Friedensprojekts war) nur eine von vielen möglichen Nutzungen dar, darunter in naher Zukunft

Kybernetik und „Computermensch“

auch militärische. Im Oktober 1962 wurde er zum Direktor

Die Kybernetik begeisterte die Architektur- und Kunstwelt.

der Abteilung für Informationsverarbeitung der Defense

Die Wissenschaft, die sich mit den Informationsmechanismen

Advanced Research Projects Agency ernannt, die dem

komplexer Systeme beschäftigt, wurde von dem Mathematiker

US-Verteidigungsministerium unterstand, und stellte ein infor-

Norbert Wiener begründet, der eine Theorie der sowohl bei

melles Team zusammen, das die Informatik-Forschung voran-

Tieren als auch in Maschinen bedeutsamen Steuerung und

treiben sollte. So wurde einmal mehr die Anwendung einer

Kommunikation entwickeln wollte. 1948 veröffentlichte er sein

vielversprechenden neuen Technologie, die ursprünglich dazu

Buch Cybernetics or Control and Communication in the Animal

gedacht war, die menschlichen Fähigkeiten zur Wissenspro-

and the Machine, das die Sozialwissenschaften stark inspirieren

duktion zu optimieren, auf die Entwicklung militärischer Werk-

sollte, insbesondere die Palo Alto School, eine Denk- und

zeuge ausgerichtet.

Forschungsschule mit Schwerpunkt Psychologie sowie Infor-

Die Erfindung der Computertechnologie hat aber auch

mations- und Kommunikationswissenschaften. Mit dem Auf-

Architekt:innen, Künstler:innen und Forschende der Technik-

kommen der ersten Computer zeichnete sich auch eine neue

und Sozialwissenschaften stark inspiriert. Diese stellten sich

Art der Beziehung ab: die Interaktion zwischen Mensch und

eine Welt vor, in der Computer der Menschheit eine neue

Maschine. In seinem Artikel „Man-Computer Symbiosis“

Form der Freiheit bescheren würden.

(März 1960) unterbreitete J. C. R. Licklider, der Vordenker eines globalen Computer-Netzwerks, die Idee einer Symbiose zwischen Mensch und Computer: „Die Mensch-Computer-Symbiose ist eine Unterklasse der Mensch-Maschine-Systeme. Es gibt viele Mensch-

148

Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace, 1961 – 1965

Maschine-Systeme. Derzeit gibt es jedoch noch keine

Der von dem jungen britischen Architekten Cedric Price und

Mensch-Computer-Symbiosen. […] Es besteht die Hoffnung,

der Theaterregisseurin Joan Littlewood entworfene Fun Palace

dass schon in ein paar Jahren das menschliche Gehirn und

ist ein einschlägiges Beispiel für den Glauben an einen durch

die Computermaschinen eng miteinander verknüpft sein

Computer ermöglichten Fortschritt. In Großbritannien, das

werden und die daraus resultierende Partnerschaft in einer

sich in der Nachkriegszeit nur langsam von einer schweren

Art denken wird, wie kein menschliches Gehirn je gedacht

Krise erholte und wo man alle Hoffnungen auf die Etablierung

hat, und Daten auf eine Weise verarbeiten wird, an die die

einer Konsumgesellschaft setzte, engagierten sich Littlewood

uns heute bekannten informationsverarbeitenden Maschinen

und Price auf dem Gebiet der Kultur. Ihr politisches Anliegen

nicht heranreichen.“

war, durch Kultur zur Verbesserung der Lebensbedingungen,

30

Aus Gründen der Effizienz und der Wirtschaftlichkeit sollte die

zur Bildung und vor allem zur Emanzipation der Arbeiterschaft

(sehr teure) Nutzung des Computers auf viele Nutzer verteilt

beizutragen, die in ihren Augen nicht nur als bloße Konsu-

werden, so Licklider. Und was die konkrete Anwendung betrifft,

mentenmasse betrachtet werden sollte. Price und Littlewood

so stellte er sich das Prinzip einer vernetzten Bibliothek vor:

entwickelten einen alternativen Vorschlag, um die Arbeiter:innen

„Es erscheint angemessen, sich in zehn oder 15 Jahren

vor der ontologischen Krise zu schützen, die der Konsumge-

ein ,Denkzentrum‘ vorzustellen, das die Funktionen der

sellschaft innewohnt.

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 166

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Der Kontext der Krise

geflossen und die Ausfuhren eingebrochen waren. 1945 ge-

Diese betont zukunftsgerichtete Zeit beschreibt François

wann Clement Attlee,35 der Vorsitzende der Labour-Partei, zur

Hartog als eine Zeit des Wiederaufbaus und der Modernisie-

allgemeinen Überraschung die Wahlen mit einem umfangrei-

rung, die mit einem starken wirtschaftlichen Wettbewerb zwi-

chen Sozialprogramm, das die Verstaatlichung von Unterneh-

schen den europäischen Ländern einherging, dies „vor dem

men, den Aufbau eines kostenlosen Gesundheitssystems und

Hintergrund des Kalten Krieges und eines immer schnelleren

Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und Schulen vor-

Rüstungswettlaufs“; sie wurde daher „,strahlende Zukunft‘

sah. Als Churchill und die Conservative Party 1951 die Regierung

im Sozialismus, ,Wirtschaftswunder’ in Deutschland und

übernahmen, setzten sie die von den Sozialisten initiierte

,Trente Glorieuses‘ in Frankreich genannt“. Diese Zukunfts-

Sozialpolitik in weiten Teilen fort.

ausrichtung wurde bald vom „Präsentismus“ als neuer Zeit-

Durch den Marshallplan wurde die britische Wirtschaft zwar

ordnung abgelöst: „Doch nach und nach verlor die Zukunft

angekurbelt, allerdings hinkte die industrielle, technische und

immer mehr Boden zugunsten der Gegenwart, die immer

soziale Entwicklung jener von Ländern wie Frankreich,

mehr Raum einnehmen sollte, bis sie ihn, wonach es seit kur-

Deutschland oder Japan hinterher. Die Lebensmittel blieben

zem aussieht, ganz einnehmen würde.“

über viele Jahre weiter rationiert und der Lebensstandard er-

32

33

34

Nach dem Krieg erlebte Großbritannien eine schwere wirt-

reichte erst in den 1950er Jahren das Vorkriegsniveau. Die

schaftliche und soziale Krise. Der Staat war bankrott, nachdem

Einsicht setzte sich durch, dass Großbritannien sich seine

im Verlauf des Krieges mehr als 50 Prozent des BIP in Rüstung

Kolonien nicht mehr leisten konnte, die übrigens nach und nach die Unabhängigkeit erlangten. Zur Förderung einer neuen britischen Identität, die statt auf dem internationalen Handel nunmehr auf der inländischen Industrie beruhte, wurde 1951 das Festival of Britain organisiert, um britische Beiträge zu Wissenschaft, Technologie, Design, Architektur und Kunst einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Dafür wurde die Dockside South Bank an der Themse in ein Ausstellungsgelände umgewandelt. Hier erhob sich, gleichsam durch das All schwebend wie ein riesiges Raumschiff, die 91 Meter hohe Skulptur Skylon als Wahrzeichen und Ikone einer modernen Welt, symbolisiert durch eine neue Technologie, die Leichtigkeit und Dynamik zugleich ausstrahlte. Diese architektonische Skulptur – ein Entwurf der Architekten Hidalgo Moya und Philip Powell sowie des noch jungen Bauingenieurs Frank Newby (1926 –2001) – wies eine innovative Struktur aus Stäben und Seilen auf, ein „Tensegrity“ genanntes stabiles Stabwerk, das zu jener Zeit von Richard Buckminster Fuller entwickelt wurde und auf dem Gleichgewicht der Spannungskräfte beruhte. Einige Jahre später wurde Newby von Price beauftragt, die Voliere Snowdon Aviary für den Londoner Zoo zu entwerfen und dann auch am visionären Fun Palace mitzuwirken. Bei all diesen ikonischen und durch ihre innovativen Technologien bestechenden Projekten ging es darum, die Welt wiederzuverzaubern und nach der großen Krise neue Perspektiven zu eröffnen.

Der Skylon-Turm auf dem Festival of Britain, 1951, Fotograf: Bernard William Lee

Anmerkungen Seite 166

Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace

149

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Joan Littlewood, Theaterfrau

großer Beliebtheit. Als MacColl und Littlewood 1940 eine

Das utopische Projekt Fun Palace nahm seinen Anfang 1962

chaplineske Parodie inszenierten, in der sie Chamberlains

nach der Begegnung des Architekten Cedric Price (1934 –

Appeasement-Politik gegenüber Hitler kritisierten, landeten

2003) mit der um 20 Jahre älteren, damals schon bekannten

sie für kurze Zeit im Gefängnis und wurden (vorübergehend)

Schauspielerin und Regisseurin Joan Littlewood (1914 –2002),

von der BBC ausgeschlossen.

die von dem Wunsch getrieben war, ein Theater für die Ärmsten

150

der Armen zu gründen. Als uneheliche Tochter einer Frau, die

Eine Alternative zur Konsumgesellschaft

ihr Leben lang als Hausangestellte arbeiten sollte, wuchs Joan

Nach dem Krieg, mit dem Aufkommen der Konsumgesell-

bei den Großeltern in einem Arbeiterviertel im Osten Lon-

schaft, äußerte Littlewood klar und deutlich ihre Ablehnung

dons auf. Von klein auf hatte sie politisch engagierte Men-

gegenüber den Maßnahmen der englischen Regierung

schen um sich, die von Arbeitsbedingungen, Recht,

zwecks angeblicher „Erziehung“ der Arbeiterklasse: Sie sollte

Gewerkschaften und Streiks redeten. Als junge Frau trat sie

von „inakzeptablen Arten der Freizeitgestaltung (Verbrechen,

der Kommunistischen Partei bei. Sie bemühte sich um ein Sti-

Alkohol, politische Revolution)“ abgehalten und stattdessen

pendium für eine Schauspielschule, bekam es, verließ aber

hin zu für die Gesellschaft profitableren Praktiken und Freizeit-

die Schule gleich wieder, weil sie sie zu elitär fand, ging dann

aktivitäten wie Bildung oder Konsum gelenkt werden, wie der

nach Frankreich und kehrte 1934 nach London zurück. Ihr

Artikel „The Terrible Challenge of Leisure“ in der Zeitschrift

Leben lang sollte sie sich für die Förderung eines Volksthea-

New Statesman (1963) zusammenfasste.36 Die Arbeiter auf

ters einsetzen. Ihre Schauspielkarriere begann bei der BBC.

Personen zu reduzieren, die umerzogen werden sollten, oder

Hier lernte sie Ewan MacColl kennen, der auch Kommunist

auf bloße Konsumenten, war für Littlewood nicht hinnehmbar,

war und 1931 die Red Megaphones, eine kleine Straßenthea-

denn es lenkte von den eigentlichen gesellschaftlichen

tertruppe, gegründet hatte, die Mitglied der Worker’s Theatre

Herausforderungen ab. Sie lehnte sogar die Unterscheidung

Movement (WTM) war und in den Arbeitervierteln Agitprop

zwischen Arbeit und Freizeit ab:

betrieb. Unzufrieden mit den unsicheren und unhygienischen

„Die Automatisierung kommt. Immer mehr Maschinen

Verhältnissen, die auf den Straßen von East London herrsch-

erledigen unsere Arbeit. Es wird noch mehr Zeit übrig,

ten, und ständig von der Polizei schikaniert, gründete Mac-

noch mehr menschliche Energie ungenutzt bleiben. Das

Coll zusammen mit Littlewood eine neue Theatergruppe

Problem, das sich uns stellt, ist weitaus größer als das der

namens Theatre of Action, die diesmal inhäusig auftrat. Sie

,vermehrten Freizeit‘, von der unsere Politiker sprechen.

schöpften aus dem Theater von Brecht, Meyerhold, Appia

Damit wird die Zukunft unterschätzt. Fakt ist, je mehr die

und Laban und versuchten die neuen Methoden auf den eng-

Maschinen die Knochenarbeit übernehmen, desto unerheb-

lischen Arbeiterkontext zu übertragen. Der Erfolg ließ nicht

licher werden die Begriffe Arbeit und Freizeit. Die Unter-

lange auf sich warten und sie wurden die bekannteste Volks-

scheidung zwischen ihnen löst sich auf. Es ist uns ein

theatertruppe des Landes. Doch aus Sicht der Kommunisti-

Bedürfnis, und wir haben das Recht dazu, uns unseres

schen Partei waren sie viel zu experimentell und man warf

Lebens in seiner Gesamtheit zu erfreuen. Wir müssen jetzt

ihnen vor, für die Arbeiterklasse zu abstrakt und unverständ-

damit beginnen, herauszufinden, wie wir das tun können.“37

lich zu sein. Die Partei wies sie an, sich an die von Moskau

Die technische Entwicklung bot für Littlewood eine einmalige

vorgegebene Linie zu halten und sich dem Kontrollorgan der

Gelegenheit, um die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse

Agitprop-Abteilung unterzuordnen, andernfalls würden sie

zu verändern: „,Arbeit‘ und ,Freizeit‘ überschneiden sich

aus der Partei ausgeschlossen. Frei im Geist, wie sie waren,

und verschmelzen: Das Leben wird zu einem Ganzen“, ist in

und wenig geneigt, sich einem solchen Diktat zu fügen,

einer ihrer Notizen zu lesen.38 Sie schlug die Schaffung einer

optierten sie für Letzteres und gründeten 1936, diesmal ohne

dynamischen Kulturstätte vor, die der Kreativität und Bildung

Subventionen, eine neue Theatergruppe namens Theatre

gewidmet war und für Emanzipation und Demokratisierung

Union. Da ihr Theater durchwegs auf das Zeitgeschehen und

stand. Damit blieb sie dem treu, was sie sich schon als Schau-

die Probleme der Arbeiterklasse einging, erfreute es sich bald

spieldebütantin vom Theater erträumt hatte:

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 166

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„Ein Ort, der sich mit den Jahreszeiten verändert, an

Bau zeitloser Denkmäler beschränken dürfe, sondern sich

dem alles Wissen verfügbar ist und neue Entdeckungen

dem Umfeld der Mitbürger in der Gegenwart und in naher

verständlich gemacht werden. Es war ein Ort, an dem

Zukunft anpassen müsse.

man spielen, lernen und tun konnte, was man wollte.“

39

Price trat in die Fußstapfen seines Vaters und schlug eine

Der Fun Palace ist das Ergebnis dieses Vorhabens und dieser

Karriere als Architekt ein. 1956, noch als Student, lernte er den

Vision: ein Haus, unter dessen Dach alle möglichen Aktivitäten

Bauingenieur Frank Newby und den Architekturkritiker Reyner

stattfinden würden, natürlich Theater, aber auch Musik, Tanz,

Banham kennen, sowie drei Jahre später Richard Buckminster

Kreativworkshops, Diskussionen, Vorträge usw., allerdings

Fuller, mit dem er zeit seines Lebens im Austausch bleiben

ohne ein genau festgelegtes Programm, sodass sich dieses

und zusammenarbeiten sollte. Er unterrichtete an der Londo-

ständig weiterentwickeln konnte. 1962 lernte Littlewood Ce-

ner Architekturschule Architectural Association (1958 – 1964)

dric Price auf einer Party kennen und stellte ihm ihr Konzept

und eröffnete 1960, mit gerade einmal 26 Jahren, sein eigenes

eines wahren „Volkstheaters“ vor („a true ,people’s theatre‘“).

Büro. Seine Architekturprinzipien gründeten auf einer sozialen

Es sei ein Ort, an dem „jeder lernen und spielen kann; wo es

Vision und folgten einem rationalen Ansatz auf genossen-

alle Arten von Unterhaltung gibt, von klassisch bis improvi-

schaftlicher Basis zur Verbesserung der Lebensbedingungen,

siert, von künstlerisch bis wissenschaftlich; wo man sich mit

bei dem Stil- und Formfragen nicht ins Gewicht fielen.

Malerei oder Ton beschäftigen, an wissenschaftlichen Vorträgen und Vorführungen teilnehmen, streiten, prahlen oder die

Einflüsse: Der Computer als prothetisches Hilfsmittel für

Welt an sich vorbeiziehen lassen kann. Er sollte an einem

den menschlichen Körper

Fluss liegen. Wir brauchen Ebbe und Flut, um am Puls der

In Prices Studienzeit fiel ein einschneidendes Ereignis: die

Zeit zu bleiben.“ Daraufhin forderte sie den jungen Architek-

Ausstellung Man, Machine and Motion, die das Institute of

ten auf, seinen architektonischen Beitrag zu leisten. Er sollte

Contemporary Arts (ICA) 1955 in London zeigte. Damals

versuchen, einen Ort zu entwerfen, der die veränderlichen

erkannte er, dass Architektur dank des Computers als ein

Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten kongenial verband. Price

Prozess begriffen werden konnte, der sich kontinuierlich

stellte sich ohne zu zögern der ehrgeizigen Herausforderung.

weiterentwickelt. In der Ausstellung wurden Maschinen als

40

prothetische Hilfsmittel präsentiert, mittels derer sich die Cedric Price, Architekt

Fähigkeiten des menschlichen Körpers vervielfältigen ließen:

Cedric Price wurde 1934 in Stone, Staffordshire, geboren und

„Die Geräte, die der Mensch herstellt, um seine physischen

wuchs in einer vom Kohlebergbau und der Keramikherstel-

Möglichkeiten zu erweitern, gehören zu den ältesten und

lung geprägten Industrieregion auf. Sein Vater, ein gebürtiger

den neuesten Dingen, die wir von ihm kennen. [...] Die

Ire, war Soldat bei der Royal Navy, ehe er ins Architekturfach

Beziehung zwischen Mensch und Maschine gleicht einem

wechselte. Seine Mutter kam aus dem Großbürgertum der

Bund. Beide wirken zusammen wie ein einziges Wesen.“42

Keramikindustrie. Während des Zweiten Weltkriegs lebte sie

Wie Stanley Mathews herausstellt, weihte die Ausstellung

mit ihren beiden Kindern in Dorset an der Südküste Englands,

Price in Systeme und Prozesse ein, die jenseits der traditionel-

bis ihr Haus von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde.

len statischen Architektur dynamische Alternativen für die

Der Familie blieb nur ein Häuschen auf dem Land, wo Cedric

menschliche Umgebung bereitstellen.43

seine Kindheit verbrachte, allerdings ohne zur Schule zu gehen,

Prägend war auch der 1956 von Andrew Booth am ICA gehal-

denn die war zu weit entfernt und das Auto seiner Eltern von

tene Vortrag mit dem Titel „The Second Industrial Revolution“,

der Armee beschlagnahmt.41 Durch das politische Engage-

in dem er die Auswirkungen der neuen Informatiktechnologie

ment seines Vaters und seines Onkels Jack in der sozialisti-

darlegte. Und dann war noch ein drittes Kunstereignis für den

schen Bewegung wuchs Price in einem familiären Umfeld auf,

architektonischen Ansatz von Cedric Price entscheidend:

das ihm schon früh ein Bewusstsein für soziale Ungleichheit

Exhibition (1956) von Richard Hamilton, Victor Pasmore und

vermittelte – ein politisches Bewusstsein, das ihn später zu

Lawrence Alloway. Diese Künstler stützten sich auf die von

der Aussage veranlasste, dass Architektur sich nicht auf den

dem Mathematiker und Physiker John von Neumann entwickelte

Anmerkungen Seite 166

Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace

151

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Spieltheorie, um die Parameter einer mit den Mitteln der Im-

führen. Wendet man die neuen Technologien nämlich auf ein

provisation entworfenen Rauminstallation zu bestimmen:

räumliches Dispositiv an, dann interagieren sie mit den Men-

„Die Galerie ähnelt einem Tennisplatz oder dem Hickelkasten

schen anhand der Codes, die der Spieltheorie und der Kyber-

des Himmel-und-Hölle-Spiels, wo besondere Regeln gelten.

netik entlehnt sind, und ermöglichen es dynamischen

Das Spiel ist eine bestimmte Ordnungsform, die Standards

Systemen, ohne vorherbestimmte Finalität sich selbst zu

und freie Improvisation zugleich enthält.“44

regulieren. Räume wären somit instabil und unvorhersagbar,

Die Spieltheorie fand auch bei der Entwicklung der logischen

in ständigem Wandel begriffen und würden sich an ein sich

Codes von Computern, also den zukünftigen Computerpro-

fortwährend weiterentwickelndes Programm anpassen.48 Mit

grammen, Anwendung. Wie John von Neumann 1958 in seinem

seinem psychologischen und biologischen Ansatz war für Pask

Buch Computer and Brain schrieb:

die entscheidende Frage der Kybernetik die der Organisation

„Der englische Logiker A. M. Turing zeigte 1937 (und

komplexer biologischer, sozialer und mechanischer Systeme.

verschiedene Rechenmaschinenexperten haben seine

Sein besonderes Interesse galt der bilateralen Interaktion

Gedanken auf mannigfaltige Art in die Praxis umgesetzt),

zwischen zwei Entitäten: „Architektur ist nur als menschliche

daß es möglich ist, Befehlssysteme für eine Rechenma-

Umgebung sinnvoll. Sie interagiert fortwährend mit ihren

schine zu entwickeln, die sie veranlassen, sich wie eine

Bewohner:innen, indem sie ihnen einerseits dient und anderer-

bestimmte andere Rechenmaschine zu verhalten.“45

seits ihr Verhalten kontrolliert.“49 Daher könne die Architektur

Der Code der Computersprache ermöglichte also die Vernet-

mithilfe von Computern das menschliche Verhalten beeinflus-

zung zwischen verschiedenen Maschinen und anderen ange-

sen und umgekehrt. Pask versuchte, durch die ununterbrochene

schlossenen Apparaten. Zusätzlich beeinflusst wurden Prices

Interaktion zwischen Mensch und sich wandelndem Raum das

zukünftige Entwürfe, zu denen auch der Fun Palace gehörte,

Gefühl von Freude und Glück zu stimulieren.

durch einen Vortrag über Kybernetik mit dem Titel „Art and

Bei der Konzipierung des Fun Palace waren der Traum von

Communication Theory“, den Ross Ashby 1960 im ICA hielt.

einer Symbiose zwischen Mensch und Computer und die

In Anlehnung an die kybernetischen Forschungen von Nor-

neuen gesellschaftlichen Fragen, die mit dieser technologi-

bert Wiener, der eine neue Theorie über das Verhalten insta-

schen Innovation aufkamen, sowie der auf der Spieltheorie

biler Systeme formulierte, richtete Ashby das Augenmerk auf

und der Improvisation basierende spielerische Ansatz allesamt

die Tatsache, dass die Maschinen der ersten Industriellen

entscheidend. Cedric Price war davon überzeugt, dass

Revolution einfache Funktionen gehabt hätten, dagegen sei

Gebäude nicht für die Ewigkeit gemacht sind, sondern sich in

„die Lage heute eine völlig andere, da die Erfindung des Uni-

der Interaktion mit dem Publikum ständig weiterentwickeln

versalcomputers schlicht bedeutet, dass es heute Maschinen

müssen. Für ihn war die Zeit die vierte Dimension, die bei der

gibt, die buchstäblich alles können“. Diese Öffnung durch

Planung eines Gebäudes berücksichtigt werden sollte, und

die neuen Technologien stimulierte die Kreativität der Archi-

die Aufgabe des Architekten, Veränderungen zu antizipieren,

tekt:innen, die sich nunmehr eine andere Weise ausdenken

um sie in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.

46

konnten, die Welt zu bewohnen. Der Indeterminismus Gordon Pask, Kybernetiker

Ein weiterer grundlegender Begriff für den Fun Palace war der

Im Jahr 1963 kontaktierten Price und Littlewood den „Alt-

„Indeterminismus“. Er wurde von dem Physiker Werner

meister der romantischen Kybernetiker“ Gordon Pask und

Heisenberg und dem Philosophen Karl Popper theoretisch

fragten ihn, ob er Interesse hätte, mit ihnen am Fun Palace zu

gefasst und inspirierte zahlreiche Forschende in verschiedenen

arbeiten. Pask war von ihrem Projekt begeistert, bot es ihm

Bereichen wie Psychologie oder Sozialwissenschaften, aber

doch die Möglichkeit, nicht nur seine „Conversation Theory“

auch Kybernetik, Stadtplanung und Architektur. In seinem be-

zu erproben, sondern auch seine „Interactions of Actors

rühmten Aufsatz „Wolken und Uhren“, der 1956 in dem Band

Theory“, die einen kybernetischen und dialektischen Rahmen

The Open Universe. An Argument for Indeterminism erschien,50

lieferte, der erklärte, wie Interaktionen zur Wissenskonstruktion

behauptet Popper im Rückgriff auf den Indeterminismus der

47

152

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 166 und 167

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 153

Quantenphysik, dass man sich die a priori unvorhersehbaren

das Vergnügen von der Musik, insbesondere vom Gesang in

Wolken als hochkomplexe Uhrwerke vorgestellt habe, wo

Begleitung eines großen Orchesters, herrührt und stets mit einer

doch in Wirklichkeit die Uhren Wolken seien, anscheinend

kritischen Reflexion über die Gesellschaft sowie einer moralischen

wohlgeordnet, aber kaum vorhersehbar, wenn man sie als

Botschaft einhergeht. Fun war für sie untrennbar mit emanzipa-

Wolken von Molekülen betrachtet. Er übertrug den Indetermi-

torischem Denken und Freiheit verknüpft – fundamentalen Zielen,

nismus-Begriff auch auf die sozialen Bedingungen und zeigte

die nach ihrem Dafürhalten nur allzu oft vernachlässigt wurden:

auf, dass es einen Platz für menschliche Freiheit, Kreativität

„Die wichtigsten Aspekte menschlicher Entwicklung werden

und Verantwortung gibt und sich diese dem Determinismus

von den Stadtplanern immer noch missachtet, und das

entziehen, der die Zukunft mit einer gewissen Genauigkeit

Problem der Linderung des Elends, der Verzweiflung und

vorherzusagen vorgibt. Vermittels zahlreicher Wissenschaft-

der Stumpfheit der Menschen ist so akut, dass jeder qualifi-

ler fand das Konzept des Indeterminismus auch Eingang in

zierte Lehrer, Kybernetiker und Künstler für den Kampf

der Architektur: als Idee von der Flexibilität nicht vorherbe-

gegen die Dumpfheit rekrutiert werden muss […].“52

51

stimmter Räume, wie sie Littlewood, Price, Pask und Newby

Littlewood und Price verwendeten die Begriffe „Freizeit“ und

sowie alle anderen Mitglieder des Projektteams sich vorstellten.

„Lernen“ synonym, denn ihr Konzept des Fun Palace war mit einer konstruktiven Nutzung der freien Zeit verbunden. Doch

Fun Palace

wie sollte diese freie Zeit gestaltet werden? Mit welchen Praktiken und Nutzungen? Die Mitglieder des Projektteams hatten

Was ist „fun“?

entsprechend ihren jeweiligen Interessen eine eigene Vorstel-

Joan Littlewood verband mit dem englischen Wort „fun“ für

lung davon. Gordon Pask etwa erwähnte in einer Notiz des

„Spaß, Vergnügen“ nicht die müßigen Freizeitvergnügungen,

Kybernetik-Komitees das „Happening“ als mögliche Nutzung

sondern orientierte sich vielmehr am Brecht’schen Theater, wo

und Anwendungsweise der Kybernetik:

Cedric Price, Innenperspektive des Fun Palace, um 1966 Anmerkungen Seite 167

Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace

153

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 154

„Am anderen Ende nehmen wir als Paradigma das

110 Meter breit und circa 80 Meter hoch. Im Erdgeschoss ist

,Happening‘, eine Art amerikanische Party. Im Prinzip sollte

sie als vollkommen offene und von allen Seiten zugängliche

das ,Happening‘ einen Input an neuartigen und mannigfaltigen

Halle konzipiert. Sie kann den jeweiligen Aktivitäten beliebig

Ereignissen geben, deren Fortgang vom Feedback der

angepasst und immer wieder umgewandelt werden. Dafür

Partyteilnehmer reguliert wird.“

sorgt ein System von Kränen auf Schienen, das auf dem Dach

53

Als Anwendungsmöglichkeit nannte er „spezifische Kunstfor-

installiert ist und von einem Computer, der die mechanische

men der Kybernetik“, die im Fun Palace in Interaktion mit

Umplatzierung der beweglichen Teile ausführt, gesteuert wird.

konventionelleren Freizeitorten wie Bars und Restaurants ent-

Diese Umplatzierung wird durch die Bewegungen der anwe-

wickelt und ausgestellt werden könnten. Die Frage, wie Glück

senden Personen im Raum ausgelöst, auf die die Computer,

hervorzubringen sei, schien ihm von fundamentaler Bedeutung:

die laut Spieltheorie untereinander interagieren, reagieren wie

„Da geht es insbesondere um philosophische und theoreti-

die Spieler. Abgesehen von einigen festen Bauteilen wie Trep-

sche Fragen und Prinzipien, die für die Bestimmung dessen,

pen, Aufzügen und Schächten, die in einer Reihe von mächti-

was mutmaßlich Glück hervorruft, bedeutend sind, und

gen Pfeilern eingebaut sind – die ihrerseits in einem

darum, welche Rolle die Organisation im Hinblick auf die

Doppelraster, das Newby „tartan pattern“ nennt, angeordnet

Freizeitgestaltung in einer automatisierten Gesellschaft

sind –, ist alles andere beweglich: Die Rolltreppen sind

spielen soll.“54

schwenkbar, um je nach Nutzung und Programm Platz zu

Er fragte sich, bis zu welchem Grad der Fun Palace als selbst-

schaffen; die Fußgängerbrücken und Plattformen sind ebenso

organisiertes System gedacht werden konnte, in dem eine

beweglich wie das Mobiliar, insbesondere die Tribünen, die

Reihe von Einrichtungen sich „in einer ihnen inhärenten regu-

von zwei Kränen umgesetzt werden, deren Aktionsradius bis

lierten Weise“ entwickelte. Für Pask wäre diese Entwicklung

in den letzten Winkel der Halle reicht, da sie das Gebäude

ein Zeichen des Erfolgs. Glück, Freizeit und die Selbstorgani-

der Länge nach durchqueren können. Die Rauminstallationen

sation des Systems durch computergesteuerte Kybernetik

in den Seitenflügeln (Kinosäle, Werkräume, Tagungsräume

waren mithin die Schlüsselfaktoren des Fun Palace.

usw.) können beliebig verändert, umgebaut und ausgetauscht

55

werden. Das Dach besteht aus einer an beweglichen Seilen Das architektonische Konzept

montierten Plane und die Halle wird mit großen Gebläsen

Für Cedric Price boten die Kybernetik und insbesondere die

klimatisiert. Die Schöpfer des Fun Palace entwickeln aber

Begriffe der „Zirkularität“ und des „Feedbacks“ (Rückkopp-

nicht nur ein raumklimatisches Konzept, sondern auch ein

lung) eine großartige Möglichkeit, die Nutzer aktiv in die Ar-

atmosphärisches: Die Luft wird zur Herstellung von Nebel-

chitektur einzubeziehen. Das architektonische Konzept des

dunst genutzt, um Lichtstrahlen sichtbar zu machen und

Fun Palace basiert auf einer großen leeren Box, in der allerlei

besondere Stimmungen zu erzeugen. Es ist eine gigantische

Aktivitäten Aufnahme finden können. Price beschrieb diese

Maschinerie, die sich fortwährend neu konfiguriert und von

Halle bzw. das Exoskelett als „anti-building“:

Computern, die mit dem Publikum interagieren, gesteuert

56

„Seine Form und Struktur ähneln denen einer großen

wird – ein Dispositiv, das den Traum der Symbiose von Mensch

Werft, in der abgegrenzte Bereiche wie Theater, Kinos,

und Computer veranschaulicht und greifbar macht.

Restaurants, Werkstätten und Versammlungsräume kombiniert, versetzt, neu angeordnet und fortwährend ausgemustert

Schwierige Implementierung in der realen Welt

werden können. Seine mechanisch gesteuerten Umwelt-

Die Standortfrage war für das ehrgeizige und hochkomplexe

kontrollen sind derart, dass er [der Fun Palace] in einem

Projekt ganz zentral. Joan Littlewood und Cedric Price waren

verseuchten Industriegebiet stehen kann, das für Vergnü-

davon überzeugt, dass das Gebäude nicht in der Nähe der

gungsstätten konventionelleren Typs ungeeignet ist.“

Theater in den wohlhabenden Vierteln von West London,

57

Die besagte Box ist eine Stahlkonstruktion (und dank der

sondern in den Arbeitervierteln von East London implemen-

jüngsten Erfindung der intumeszierenden Farbe brand-

tiert werden sollte:

geschützt); sie hat eine Länge von circa 238 Metern, ist

154

Wiederverzauberung der Welt

„Die Tatsache, dass derartige Vergnügungen in den armse-

Anmerkungen Seite 167

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 155

ligen Gebieten der Londoner Slums geschehen, weist auf das

später (1971) von Richard Rogers und Renzo Piano entworfen

immense Vergnügungspotenzial einer Gegend hin, die wahl-

wurde und mit seinen 166 × 60 × 42 Metern fast halb so groß

loses Schlendern und alle möglichen Aktivitäten fördert.“58

ist wie der Fun Palace.

Bei einem Spaziergang entlang der Themse im Londoner East End entdeckte Littlewood das Gelände einer großen

Eine Zeitmaschine des Werdens

verlassenen Fabrik am Ufer der Isle of Dogs – Glengall Wharf

Der Fun Palace ist als „Zeitmaschine“ anzusehen, die mehrere

und fand, dass es der ideale Standort für den Fun Palace war.

Zeitlichkeiten gleichzeitig anbietet: Sobald man die Räumlich-

Das Areal gehörte der Stadt und wurde vom Gardens Com-

keiten betritt, wird man in eine Binnenwelt hineingezogen, in

mittee verwaltet. Littlewood und Price beschlossen, auch um

der sich die räumlichen und zeitlichen Konstellationen fort-

bei einer Kontaktaufnahme ihre Chancen zu erhöhen, ihr Pro-

während verändern. Das „Zepter“ von Price und Littlewood

jekt zuerst der Öffentlichkeit zu präsentieren; sie machten auf

(um die Metapher von Catherine Malabou aufzugreifen)

der Grundlage eines großen Modells einen Film mit schönen

schneidet diesen „Kulturtempel“ von der übrigen Welt und

Ansichten vor schwarzem Hintergrund, der in der BBC gezeigt

damit auch von der Echtzeit ab. Die Aufhebung von Raum

wurde. So erfuhren viele Menschen übers Fernsehen von dem

und Zeit erlaubt die Schaffung eines verzauberten Binnenkos-

visionären Projekt und die Presse griff die Sache auf. Der

mos, in dem alles möglich wird und sich ständig verändert.

Fun Palace wurde über Nacht berühmt. Die Reaktionen waren

Man findet sich in einer Art dynamisierendem „Katalysator“

durchwegs positiv, da das Gebäude Freizeit- und Lernzwe-

wieder, der Glück bereitet und das Individuum dadurch,

cken dienen sollte, was eine gute Antwort auf die Probleme

dass ihm sein Veränderungspotenzial bewusst gemacht wird,

der damaligen Zeit zu sein schien. Daraufhin nahm Littlewood

in einen emanzipierten Bürger verwandelt.

Kontakt zum Gardens Committee auf und trug ihrer beider

Karl Poppers Indeterminismus und die von ihm aufgezeigte

Wunsch vor, den Fun Palace auf der Isle of Dogs zu bauen.

Möglichkeit für die menschliche Freiheit, Kreativität und Ver-

Unterdessen protestierte ein Zusammenschluss von Anwoh-

antwortung, dem Determinismus zu entgehen, finden hier

ner:innen gegen das Vorhaben, weil sie fürchteten, dass der

ihren Niederschlag in einer Architektur, die über Computer

Fun Palace massenhaft dubiose Leute anziehen würde. Littlewood

mit den Bewohner:innen interagiert, ohne dass dabei die

entgegnete ihnen in einer engagierten und flammenden Rede:

menschlichen Handlungen und die entsprechenden räumli-

„Die Volksbildung ist rückläufig, gleiches gilt für die

chen Konfigurationen vorhersehbar wären. Indeterminismus,

staatliche Planung. Wir können es uns nicht leisten,

Unvorhersehbarkeit und Kybernetik werden auf diese Weise

menschliche Talente zu vergeuden. In jedem Kind steckt

zu neuen Paradigmen der Kultur und des Fortschritts, die der

unentdecktes Talent. Wir müssen unsere Prioritäten richtig

Emanzipation der Menschen zugrunde liegen.

setzen.“

Innerhalb dieser imaginären Struktur erscheint die Mensch-

59

Littlewood vermochte die Anwohner:innen zu überzeugen:

Computer-Symbiose als ein Wunschtraum, der der Technolo-

Sie verstanden, dass dieses Gebäude auch eine Chance für

gie die Macht verleiht, zum kollektiven und individuellen

sie darstellte. Leider fiel die Antwort des Komitees negativ

Glück beizutragen. Das Raumgefüge beruht auf Instabilität,

aus und auch die Suche nach einem neuen Standort blieb er-

erzeugt durch bewegliche Elemente und Leuchtkörper, die

folglos. Gleichzeitig versuchten Littlewood und Price, öffentli-

sich entsprechend den Bewegungen der Nutzer:innen verän-

che und private Sponsoren zu finden, um das nötige Geld für

dern. Das „Wohnen“ in der Begriffsdefinition von Martin

ihr Vorhaben aufzutreiben. Doch es war zu kostspielig, zu am-

Heidegger im phänomenologischen Sinn des In-der-Welt-

bitioniert und im Hinblick auf die Planung zu ungenau, um die

seins (Bauen, Wohnen, Denken, 1951) ist nur noch ein Vor-

Behörden zu überzeugen, und so wurde der Fun Palace im

kommnis in Raum und Zeit, das je nach Situation variiert und

Endeffekt nie realisiert. Mit seinen großen sozialen und tech-

sich verändert. An einem solchen dionysischen Kultur- und

nologischen Ambitionen ist er zwar eine Utopie geblieben,

Wissensschauplatz ist Impermanenz das Schlüsselwort.

diente aber als Inspirationsquelle für andere Bauwerke,

„Lernen, um zu werden“ könnte die symbolische Botschaft

namentlich das Centre Pompidou in Paris, das sechs Jahre

des Fun Palace lauten.

Anmerkungen Seite 167

Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace

155

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 156

Vernetzung: Vom Global Village zu architektonischen Phantasmagorien Das Aufkommen der Informatik hat auch Sozialwissenschaftler, Schriftstellerinnen, Künstler und Architektinnen dazu animiert, phantasmagorische Vorstellungswelten zu entwickeln, wobei die Möglichkeit einer computervernetzten Menschheit nicht nur neue Perspektiven eröffnete, sondern auch neue Ängste schürte. Diese beiden Aspekte finden sich auch im Buch The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man von Marshall McLuhan aus dem Jahr 1962. McLuhan setzte sich kritisch mit dem Beginn des Computerzeitalters auseinander und prägte den Begriff „Global Village“. Er ahnte voraus, dass die „Massenmedien“ die Welt in ein „globales Dorf“ verwandeln würden. Die „Gutenberg-Galaxis“ vereint, wie in Paul Otlets (ebenso vorausschauendem) Projekt, alle verzeichneten menschlichen Kunstwerke und Wissensbestände in sich – in einer Welt, die zu einem riesigen Computer geworden wäre: „Statt sich auf eine riesige alexandrinische Bibliothek hinzubewegen, ist die Welt ein Computer geworden, ein elektronisches Gehirn, wie wir das in einem kindischen Zukunftsroman lesen können. Und so wie unsere Sinne sich

Carl Andre, Essay On Sculpture For E. C. Goossen, 1964, Schreibmaschinenschrift auf Papier, 28 × 21 cm, aus: Carl Andre, Things in Their Elements, London 2011

nach außen begeben haben, so dringt der Große Bruder in

156

uns ein. Folglich werden wir, wenn wir uns dieser Dynamik

entschließt, diese visuelle Technik durch eine elektrische

nicht bewußt sind, schlagartig in eine Phase panischer

Technik einzuschränken, wird auch der Individualismus

Schrecken hineingeraten, was genau zu unserer kleinen, von

eingeschränkt.“61

Stammestrommeln widerhallenden Welt, zu unserer völligen

McLuhan unterstrich die Bedeutung des Übergangs von der

Interdependenz und aufgezwungenen Koexistenz paßt. […]

mündlichen Überlieferung zur schriftlichen, die durch die

Der Terror ist in jeder oralen Gesellschaft der Normalzustand,

Schrift segmentiert und homogenisiert worden sei, während

denn in ihr wirkt allzeit alles auf alles ein. […] In unserem

die neue elektrische Kultur eine Rückkehr zur Stammeskultur

langen Bemühen, für das Abendland wieder eine Einheit

mit sich bringe, die der oralen Kultur ähnle. Unsere „neue

des Empfindens, des Denkens und Fühlens zurückzuerlangen,

elektrische Zivilisation“ stelle „unser Leben wieder auf die

sind wir ebensowenig darauf gefaßt gewesen, die sich aus

Basis einer neuen Stammeskultur“, schrieb er zu Beginn des

einer solchen Einheit ergebende Stammeskultur anzunehmen,

Informatikzeitalters in der Überzeugung, dass die Technologie

wie wir auf die Fragmentierung der menschlichen Psyche

das Selbstverständnis des Menschen tiefgreifend verändern

durch die Buchdruckkultur vorbereitet waren.“60

würde, sowohl individuell als auch kollektiv.62 Die Geschichte

McLuhan stellte die These auf, dass der Buchdruck (im Unter-

hat ihm Recht gegeben.

schied zur Manuskriptkultur) den Menschen individualisiert

Die Rückkehr zur Stammeskultur ist in gewisser Weise eine

bzw. „entkollektiviert“ habe:

Rückkehr zum Archaischen. Die Faszination für das Archaische

„Der Buchdruck bildet die Endphase der Alphabet-Kultur,

findet sich bei David Greene, dem Mitbegründer der britischen

die den Menschen in erster Linie aus dem Stammesverband

Architektengruppe Archigram, ebenso wieder wie bei den

gerissen oder entkollektiviert hat. […] Der Buchdruck ist die

amerikanischen Minimalisten mit ihren rätselhaften, stummen

Technik des Individualismus. Wenn nun die Menschheit sich

Gegenständen, die wie aus vorgeschichtlichen Zeiten zu

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 167

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 157

stammen scheinen, als die Schrift noch nicht erfunden war. Die Auflösung der Sprache im Sinne herkömmlicher Sprachformen vollzog bereits Kurt Schwitters mit seiner Ursonate (1922 –1932) nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs, wobei Raketengeräusche die Satzstrukturen zerstören. Nach dem darauffolgenden Krieg setzte gegen Ende der 1950er Jahre die Wiener Gruppe (Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener) diese auflösend-neukomponierende experimentelle Tendenz mit Lautgedichten, Atemgedichten, Partituren und bildhaften „Topologien der Sprache“ (Konrad Bayer) fort – so, als ob nach einer schweren Katastrophe

Hans Hollein, Mobiles Büro, 1969, Installation, Foto und Film: Hans Hollein beim Zwischenstopp mit Reißbrett und Telefon am Flugfeld Aspern bei Wien

die Sprache selbst erst wieder neu erfunden werden müsste. Carl Andre, den der Besuch

dass die Zeichnung seines Hauses bald fertig sei. Der Kurzfilm

von Stonehenge 1954 tief beeindruckt hatte, schuf Anfang

Mobiles Büro feierte eine Erfindung, die uns dank des Telefons,

der 1960er Jahre Schriftbilder, in denen er die Sprache, völlig

das Hollein sich hellsichtig als drahtloses, mobiles Gerät vor-

sinnentleert, auf Wortgebilde reduzierte (…cockcockcock…)

stellte, von räumlichen Zwängen befreit. Allein die Vorstellung

und sie zu Rechtecken oder anderen geometrischen Figuren

einer Vernetzung des gesamten Globus und einer Mobilität

anordnete. Die Form gewann die Oberhand über den Inhalt,

ohne Einschränkungen stellte schon damals die Kultur- und

die geschriebene Sprache verschwand in abstrakten Figuren.

Weltsicht auf den Kopf.

Seine massiven, dunklen Skulpturen, auch aus unbehandeltem Holz, scheinen mehr der oralen, altüberlieferten und tribalistischen Tradition verbunden zu sein als der Schrifttradition. Schon lange vor dem Internet war die Vorstellung einer Ver-

Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug, 1969

netzung der ganzen Welt, einer generalisierten Zusammenschaltung aller Erdbewohner:innen ein Traum, der viele

Ungefähr zur selben Zeit, als Cedric Price den Fun Palace ent-

Künstler:innen und Architekt:innen inspirierte, die über neue

warf, machte sich eine Gruppe junger Londoner Architekten

Wege nachdachten, die Erde zu bewohnen, beispielsweise in

daran, in Abkehr von der funktionalistischen Nachkriegsarchi-

mobilen und ultravernetzten Kapseln. 1969 erfand Hans Hollein

tektur des Wiederaufbaus eine andere Art des Bauens zu er-

ein ephemeres, aufblasbares, mobiles Büro, das überall aufge-

finden, die die Welt ein Stück weit wiederverzaubern könnte.

stellt und beliebig umgestellt werden konnte. Er ließ sich filmen,

Aus der Popkultur kommend, versuchten sie die Kriegszeit

wie er in einer Blase auf dem Boden sitzt, ein Zeichenbrett auf

und die darauf folgenden Krisenjahre mit ihren Erzählungen

den Knien; im Hintergrund sind Sportflugzeuge zu sehen. Als

und Architekturfantasien schnellstmöglich zu vergessen. Die

sein Telefon klingelt, hebt er ab und erklärt seinem Kunden,

Jugend hatte damals nur einen Wunsch: sich schleunigst von

Anmerkungen Seite 167

Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug

157

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 158

der grauen Eintönigkeit zu befreien und eine andere Welt der

Städte aus, die monumentalen und unheimlichen Maschinen

kollektiven Freude und der wesentlichen Erfahrungen zu

glichen oder, im Gegenteil, als leichte und kurzlebige Gebilde

schaffen – mit anderen Worten eine dionysische und schran-

von schwebenden Ballons getragen wurden. Mithilfe von Dia-

kenlose Welt, angetrieben von ständiger Bewegung und er-

grammen, Zeichnungen und Comicstrips skizzierten sie eine

füllter Augenblicklichkeit.

Welt, die die Realität hinterfragt, und loteten die Grenzen des

Ihre geradezu bilderstürmerische Zeitschrift Archigram brach

Möglichen und Vorstellbaren in einer nahen oder fernen Zu-

mit der herrschenden architektonischen Kultur und den übli-

kunft aus. Sie trieben ein Spiel mit Raum und Zeit, in dem der

chen Darstellungsweisen, vor allem aber mit der Bedeutung

Mensch, die Stadt, die Kultur und die Gesellschaft auf den

von Architektur an sich, die zu einer Art Spiel, Comic, Spaß,

Kopf gestellt und neu gedacht wurden, ein Spiel, in dem uns

zu einer spekulativen und proaktiven Erzählung wurde.

nolens volens alle Orientierungspunkte verloren gegangen

„Archigram befreit sich vom ,Bedürfnis-Menschen‘ der CIAM-

waren.

Kongresse, vom Kultur- und Beziehungsmenschen von

Wie bei allen fiktionalen Erzählungen bestand das wichtigste

TEAM X, um ein fiktionales Wesen zu umreißen, das sich sein

Instrument und die Vorgehensweise von Archigram in einer

persönliches Theater erfindet“, schreibt Alain Guiheux. In

Manipulierung von Raum und Zeit. Im Werk der Architekten-

ihrem „persönlichen Theater“ spielte Archigram vielfältige,

gruppe finden sich zwei Erzählstränge, die sich um die Stadt

mal erschreckende, mal berückende Fiktionen immer wieder

einerseits und um die Natur andererseits drehen, wobei deren

durch. So dachte sich die Gruppe beispielsweise mobile

gemeinsamer Nenner die neuen Technologien und die

63

David Greene, Logplug und Rokplug, 1969, Ausstellung Archigram, Kunsthalle Wien, 1994

158

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 167

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 159

Unbeständigkeit sind. Daraus ergeben sich neuartige Interak-

denen lenkbare Ballons schweben, an denen Zelte hängen.

tionen zwischen Mensch und Umwelt, die das Verhältnis zur

Eine technische Infrastruktur aus Gerüsten, Kränen und Robo-

Stadt und zur Natur grundlegend infrage stellen. Kulturelle

tern gewährleistet den Betrieb der temporären Anlage. Die

und ontologische Krisen begünstigen eine Neuerfindung der

ephemere Stadt – eine Hochburg der festlichen und zauber-

Welt und der Gesellschaft. Hier öffnet der Traum von einer

haften Kultur – erzeugt ein Event und verschwindet dann so-

Mensch-Computer-Symbiose ein vielstufiges fiktionales Feld –

fort wieder. Architektur beschränkt sich auf einen Akt in der

von der Megastruktur bis zum menschlichen Körper.

Gegenwart, nichts ist mehr von Dauer, weder örtlich noch zeitlich. Als Vorbote des Internetzeitalters stützt sich die ima-

Visionen einer flüchtigen Stadt, Plug-in City

ginäre Stadt auf ein Netzwerk der Informationsströme, verbin-

und Instant City

det lokale Gemeinschaften zeitweise mit der Metropole und

Die Mitglieder von Archigram – Peter Cook, Warren Chalk,

führt so die über das Territorium verstreuten urbanisierten

Ron Herron, Dennis Crompton, Michael Webb und David

Fragmente zusammen. Die Stadt wird also nicht mehr als eine

Greene – hatten ihr Domizil in der Londoner Architectural

Ansammlung von Gebäuden, die sich über einen langen Zeit-

Association. Sie griffen nicht nur einige Themen von Cedric

raum hinweg gebildet hat, betrachtet, sondern als ein Gewebe

Price und dessen Fun Palace auf, sondern holten sich auch

aus endlos ineinander verwobenen Ereignissen, die die Mög-

Anregungen beim Raumstadtkonzept „La Ville spatiale“ (1959)

lichkeiten der Selbstbefreiung und des Überlebens verbessern

von Yona Friedman, der Megastrukturen mit integrierten

sollen. Eine Art Fun Palace im territorialen Maßstab.

Wohnzellen entwarf, die gleichsam über Stadt und Land schweben, um die Bodenfläche frei zu lassen. In ihrer Zeitschrift

Zeit, Abwesenheit und Tarnung: David Greene und die

befassten sie sich mit Fragen der Mobilität, Unbeständigkeit

durch Rokplug und Logplug erweiterte Natur (1969)

und Freude. Mit Plug-in City (erschienen 1964 im 5. Heft von

Stark von McLuhan angeregt, interessierte sich Archigram

Archigram) entwickelten sie eine um 45 Grad geneigte Mega-

auch für die Natur, da sie durch die neuen Technologien in

struktur, bestehend aus mobilen Wohneinheiten, Infrastruktur

einen neuen Lebensraum verwandelt werden konnte. Nach-

für die Bewohnerschaft, aus integrierten Zugangsstraßen und

dem die ersten Projekte den Fokus auf Wegwerfbarkeit, Ob-

einem Monorail-Transportsystem. Der bilderstürmerische Ent-

soleszenz und consumability (die Tendenz der Architektur, sich

wurf versprach eine endlose Wandelbarkeit, um Obsoleszenz

selbst zu verbrauchen) gelegt hatten, brachte nun David

zu vermeiden: Jedes Einzelteil konnte, ähnlich wie beim Fun

Greene, der „Poet“ der Gruppe, eine autarke ökologische

Palace, nach dem Prinzip des fortlaufenden Um- und Neuauf-

Dimension ein. Seine Visionen führten in eine archaische und

baus mithilfe von Kränen bewegt werden, die an der Spitze

zugleich hochtechnologische Vorstellungswelt, indem er die

des Bauwerks montiert waren. Peter Cook entwickelte dieses

Zukunft und die Vergangenheit gleichermaßen heraufbe-

Prinzip fort und erweiterte es um ein Bildungsprogramm na-

schwor, um die Welt neu zu verzaubern. Greene fragte sich,

mens Plug-in University Node (1965). Dennis Crompton wie-

wie die Architektur des „elektronischen Menschen“ aussehen

derum interessierte sich besonders für die Kette der sich mit

könnte, den McLuhan in seinem Buch Die Gutenberg-Galaxis

der Zeit verändernden Tätigkeiten und schuf 1964 die Com-

beschreibt. Im Gardeners Notebook (erschienen 1969 im

puter City, eine von Computern gesteuerte Stadt mit einem

8. Heft von Archigram), einer Reflexion über die Natur und

U-Bahn-Netz.

die „Maschine, die in der Natur ihren Platz findet“, sinniert er

Die Frage der Zeit- und Ortsgebundenheit wurde von Peter

über die Flüchtigkeit der Orte:

Cook in Instant City (1965) bearbeitet, einem urbanen Szenario,

„Ein flüchtiger Ort, bleibend vielleicht nur in der Erinnerung.

bei dem neue Kommunikations-, Informations-, Bildungs- und

Eine Architektur, die nur in Abhängigkeit von der Zeit existiert.

Freizeiträume kurzfristig über eine bestehende Stadt gelegt

Es ist seltsam, daß die Zeit in den letzten Jahren eine so

werden. Diese Stadt bietet eine audiovisuelle Umgebung aus

bedeutende Rolle in allen Künsten gespielt hat, mit Aus-

Worten und Bildern, die auf Leinwände projiziert werden, au-

nahme der Architektur (abgesehen von verbalen und

ßerdem mobile Objekte wie Kapseln und Wohnmobile, über

oberflächlichen Auseinandersetzungen mit ,Bewegung‘ und

Anmerkungen Seite 167

Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug

159

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 160

,Kommunikation‘). Vielleicht haben die Architekten schon

und einen raschen Bewuchs mit Moos, Flechten oder Pilzen

immer gewußt, daß sie sich, wenn sie sich auf die Dimension

begünstigt.“69 So begegnen wir wieder der Vorstellung einer

Zeit einlassen, selbst ums Geschäft bringen.“64

Mensch-Computer-Symbiose, allerdings mit einer anderen

Eine seiner berühmtesten Erfindungen ist der Living Pod

Ästhetik. Diese bezieht sich nicht mehr auf eine mechanische

(1967), eine vollkommen autarke Kapsel, die mittels Projektio-

und betont ikonische Megastruktur, sondern impliziert das

nen auf die Innenwände von der Außenwelt abgeschnitten ist.

Verschwinden der Architektur an sich, die nur noch „erweiterte“

Noch näher am Körper ist eine Art aufblasbares Bett von Mi-

Natur ist.

chael Webb, das sich in eine den Körper umhüllende, auf

Daran anschließend beschreibt Greene die technische Vor-

zwei, drei oder vier Personen erweiterbare Blase verwandeln

richtung in der Art einer Gebrauchsanleitung, als stünde sie

kann (Cushicle, 1966); später entwirft er einen elektronischen

bereits in einem Katalog zum Verkauf:

Anzug, ähnlich dem der Kosmonauten, der sich an andere

„Dieses Diagramm erklärt die Funktionsweise eines

Personen andocken lässt, um zu mehreren eine körperliche

typischen Simulations-Baumstamms. Die Fixierdichtung für

Einheit zu bilden, und aus dem man je nach Bedarf aus- oder

die Steine und Stämme ist standardisiert und austauschbar.

wieder einsteigen kann (Suitaloon, 1968).

1. Zugangsdeckel

Greene entwarf auch ein Fahrzeug, das als fahrbares Haus

2. Kaltwasseranschluss

nutzbar war, so dass mehrere Wohnwagen, insbesondere bei

3. Ausgang der Kabel-Dienste: Wechsel- und Gleichstrom,

Verkehrsstaus, eine potenzielle Stadt bilden könnten. Aller-

Telefon, Anschluss für internationale Informationen,

dings: „Das wichtigste Problem beim mobilen Wohnen ist na-

Anschluss für Bildung und Erziehung

türlich die Energiequelle. Solange kein wirklich brauchbares

4. Kreditkarten-Steckplatz

System vorhanden ist, wird man auf Batterien und Gasfla-

5. Buchse

schen ausweichen müssen“, stellte er im Gardeners Notebook

6. Dienstleistungs-Messgerät und Kontrollsystem

in einer erläuternden Notiz zur Vorrichtung Rokplug und Log-

7. Abnehmbarer Deckel

plug (1969) fest.65 So schlug er ein System für alle Arten mobi-

8. Sender des Plugfind-Ortungssignals

ler Architekturen vor, um das Problem der Versorgung zu

9. Versorgungskabel

lösen: „Zum Aufladen braucht man eine Anschlußmöglichkeit

Vorgehensweise für die Verwendung von Logplug und

[…]. Und genau dafür gibt es die Rokplugs und Logplugs.“66

Rokplug: Zugangsdeckel 1 anheben. Standardstecker der

Diese sind täuschend echte Nachbildungen von Baumstäm-

mobilen Einheit in die Buchse 5 stecken. Verriegelungsvor-

men und Gesteinsbrocken, in denen „die Steckdosen für

richtung sichern. Kreditkarte in den Steckplatz 4 einfügen.

nicht- oder halbautonome Wohncontainer“ verborgen sind.

160

67

Gewünschte Dienstleistung auf dem Display neben dem

Die Hightech-Installation tarnt sich als Teil der Natur, eine

Steckplatz auswählen. Öffnungsschalter betätigen. Alle

Entscheidung, die Greene mit einem ästhetischen Argument

Kosten werden über Ihre Kreditkartennummer abgerechnet,

begründete: „Sie wären vom echten Objekt nicht zu unter-

diese Kosten werden auf Ihrem Log-Find-Gerät angezeigt,

scheiden und würden somit in jeder Umgebung einen hohen

wenn Sie die gelbe Taste drücken.“70

Versorgungsgrad bieten, ohne die natürliche Schönheit zu be-

Es ist bemerkenswert, dass Greene die neuesten Technologien

einträchtigen (was bedeutet, dass das Dorf zu existieren auf-

einbezieht, wie zum Beispiel die Kreditkarte, die zu einer ge-

hört, wenn keine Hardware angeschlossen ist).“68

wissen Autonomie beiträgt. Automatisierung, Netzwerkan-

Dieses Narrativ basiert auf der Vergänglichkeit: Ein Ort als sol-

schlüsse und sanitäre Einrichtungen könnten seiner Meinung

cher existiert nur, wenn die mobilen Wohneinheiten an das

nach „jede natürliche Umgebung mit einem hohen Maß an

Versorgungssystem angeschlossen sind. Damit die Technik

Service ausstatten“.71 Die Art von gut getarnten und daher

mit der Natur verschmelzen kann, stellt sich Greene eine die

praktisch unsichtbaren Anschlüssen begeisterte ihn, weil diese

künstlichen Objekte überwuchernde Natur vor: „Alle Vorrich-

ein nomadisches und freieres Leben ermöglichten. Dabei

tungen bekommen eine mit eingelagerten Sporen versehene

dachte Greene, der Logik des Ephemeren folgend, sogar an

Oberflächenausführung, die für jeden Standort geeignet ist

den Müll, der komplett „elektrostatisch behandelt werden

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 167

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 161

und dessen Asche entweder in den Wind gestreut oder in Sä-

Greene entfaltete die entropische Utopie einer toten Stadt

cken im Innern der Stämme oder Steine deponiert“ würde.

und einer expandierenden Vorstadt, die ihrerseits dem Verfall

72

Bleibt die Frage, wie die in der Natur verstreute und wegen

anheimgegeben ist. In seiner Erzählung ist der Untergang die

ihrer Tarnung nur schwer als solche erkennbare Versorgungs-

Bedingung an sich für die Rückkehr zur Natur (die er „Garten“

infrastruktur lokalisiert werden könnte. Greenes Antwort darauf

nennt), den ultimativen Traum der ursprünglichen wilderness,

ist wieder eine technische: Die künstlichen Gesteinsbrocken

in der Netzwerke, Computer und Kybernetik eine entschei-

und Baumstämme geben elektronische Signale ab, sodass

dende Rolle spielen. Er war davon überzeugt, dass die mo-

Reisende sie in einem Umkreis von 1,5 km mithilfe einer

dernen Nomaden ausgeklügelte Dienstleistungen benötigten,

Plugfind-Leuchte am Armaturenbrett ihres mit einem radio-

und stellte sich sogar eine durch Roboter unterstützte Land-

ähnlichen Empfangsgerät ausgestatteten Fahrzeugs orten

schaft vor (The Bottery).

könnten.

„Marshall McLuhan hat gesagt, daß man die Erde heute als

Greene dachte auch darüber nach, wer die potenziellen Inte-

eine Skulptur in der Galaxis ansehen kann“,76 schreibt er und

ressenten für diese Art von Vorrichtungen sein könnten, „die

beendet seinen Text, McLuhans Ideen aufgreifend, mit einem

als bewegliche Markierungen Räume auf dem Rasen abgren-

Hinweis auf die Ureinwohner: „Ihre Technologie war primitiv,

zen“. Er stellte sich alle Arten von Gemeinschaften und viel-

ihre Lebensform aber ganzheitlich, erfüllt von ewig gültigen

fältige Nutzungen vor. Er sprach von Arbeitsplätzen, Schulen,

Sagen und Geschichten.

Universitäten, Bibliotheken und Theatern, die sich „herbeizau-

Sie lebt mit und in ihrer Umgebung, nicht parasitär von ihr.“77

bern“ ließen, „ohne jede Einengung durch ein Gebäude. Sie

Durch dieses Wiederanknüpfen an den Urzustand kann er die

formen sich ganz einfach, wenn sie erwünscht sind“. In seiner

Architektur, die er sich als etwas Mobiles und Fließendes

Erzählung malte sich Greene den Untergang unserer Welt und

wünscht, neu denken und die neuen Technologien mit Träu-

die Entstehung einer fabelhaften neuen Welt aus, in der Tech-

men und Mythen in Beziehung setzen:

73

74

nik, Mensch und Natur eins werden:

„Unsere Architektur dagegen ist nichts anderes als das

„Ganz London oder New York könnte erscheinen auf den

Überbleibsel eines alten Traums, mit ihr wollten wir uns

baumbestandenen Plätzen, in den Wüsten, auf den blühenden

sicher auf der Oberfläche dieses Planeten verankern. Wenn

Wiesen der ganzen Welt.

doch diese Anker Räder hätten oder man sie mit irgendeiner

Im Augenblick müssen wir noch warten, bis die Mausoleen

gleitenden Substanz unterfüllen könnte. Dann bestände

aus Stahl und Beton in unseren Städten verwelken und die

unsere Verankerung auf der Erde aus Software, aus Liedern,

Vorstädte anfangen werden zu blühen. Danach werden

Träumen und Märchen. Trennt Euch von der Hardware, von

auch diese vergehen, und vielleicht wird die Welt irgend-

der Verankerung auf dem Boden der Erde. Der elektrifizierte

wann wieder zum Garten. Und das genau ist der Traum,

Ureinwohner führt zur gestundeten Architektur.“78

und wir sollten einander nicht darin bestärken, weiterzu-

Dieser „elektrifizierte Ureinwohner“ entspräche mithin einem

bauen, sondern darin, dieses unsichtbare Netzwerk in den

durch die Technologie erweiterten Urzustand – das reine

Lüften enger zu flechten … Lesen Sie ein paar Zeilen aus

Fantasiegebilde einer neuen Lebensform, basierend auf einer

diesem unglaublichen Gedicht – denn Gnade und Liebe

nicht dauerhaften Architektur, die Michael Webb zufolge „die

kommt aus den Maschinen:

Zugangsknoten zum Garten Eden“ bietet. Archigram speku-

Ich liebe es, (jetzt gleich bitte!)

lierte über die „möglichen Einflüsse, die ein Arsenal winzigster

mir einen kybernetischen Wald vorzustellen,

elektronischer Hardware auf unser Leben haben kann“,79 mit-

mit Nadelbäumen und Elektronika,

hilfe derer die Menschen sich in eine ultramobile „walking

wo das Wild friedfertig grast

architecture“ verwandeln könnten.

zwischen allerlei Computern

Die „Wiederverzauberung der Welt“ durch den Traum von

als ob es Blumen wären

einer Natur, die dank der neuen Technologien wieder zum

mit gesponnenen Blüten

Paradies geworden ist, böte den Komfort von Städten inmitten

Der Realist“75

der Natur und eine ungeahnte Freiheit. Das solchermaßen in

Anmerkungen Seite 167

Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug

161

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 162

den Urzustand zurückversetzte Kulturgebäude ließe uns vielleicht wiederfinden, was wir verloren haben: Träume, Lieder und Mythen, die Greene wie Programme und Netzwerke als

Ryue Nishizawa und Rei Naito: Teshima Art Museum, 2010

notwendige „Software“ bezeichnet.

Einer zyklischen Bewegung folgend, möchte ich wie das erste

Diese Erzählung setzt die Zeit außer Kraft und eröffnet eine

Kapitel auch das letzte Kapitel dieses Buches mit einem Ausblick

urzuständliche Zukunft, die von der Netzwerktechnologie ver-

auf ein Architekturprojekt im heutigen Japan beschließen:

zaubert wird. Die Stadt ist nicht mehr die Hochburg der Kultur,

dem Teshima Art Museum auf der Insel Teshima, das vom

sondern die erweiterte Natur und ihre Potenziale. Der archaische

Architekten Ryūe Nishizawa (Partner von Kazuyo Sejima der

und „elektrifizierte Ureinwohner“ wird zur Fantasiegestalt

SAANA-Gruppe) und der Künstlerin Rei Naito entworfen

eines neuen ökologisch-technoiden Zeitalters.

wurde. Durch seine extrem reduzierte Form und Funktion

In der von Archigram imaginierten Welt gibt es keinen Tempel

führt dieses Bauwerk die Phänomene der Natur und der ver-

und kein Zepter mehr, um einen Raum abzutrennen, wie dies

gehenden Zeit deutlich vor Augen. Es markiert eine Rückkehr

beim Schöpfungsakt eines jeden Bauwerks der Fall ist. Hier

zum Archaischen, insofern es auf so gut wie alles Artifizielle

ist das Zepter des Architekten ein digitales System, das die

verzichtet. Es ist ein Museum, in dem die Bedeutung des

Wildnis in bewohnbares Land verwandelt und auf diese Weise

Kunstwerks darin besteht, uns die Zeit spüren zu lassen, ein

durch die Technologie nach dem Vorbild der realen eine er-

Museum, in dem allein die natürlichen Elemente und der

weiterte Natur erschafft. Die Teilung, die überdauert, ist eine

Raum selbst Empfindungen erzeugen.

von der Zeit strukturierte: in starke Zeiten, wenn die Menschen

Die Frage der Kultur und ihres Zeitbezugs wird hier anders

vernetzt sind, wobei die Orte nur in diesem Moment existieren,

gestellt. Für den japanischen Kunstkritiker Noi Sawaragi, der

und in schwache Zeiten, während derer die Orte fast vollständig verschwinden (die kleinen Infrastrukturen, die selbst unsichtbar sind, ausgenommen). Es ist im Wesentlichen die Zeit, die diese Orte existieren lässt. Diese vorausahnende Utopie der Augenblicklichkeit und der elektronischen Vernetzung, die die Natur überall bewohnbar macht und sie mit der übrigen Welt vollends verbindet, ist Wirklichkeit geworden. Der „elektrifizierte Ureinwohner“ hat den gesamten Planeten mit seinen allgegenwärtigen Netzwerken erobert, die es ihm ermöglichen, Raum und Zeit, die Natur und sogar den Kosmos zu beherrschen – solange die ökologischen Folgen dieser totalen Kontrolle, die in der Regel mit einer profitorientierten Ausbeutung der Ressourcen bis zu deren Erschöpfung einhergeht, nicht auf ihn zurückfallen. Die optimistischen Visionen der Wiederverzauberung, die den „Computermenschen“ in einer ultimativen Osmose mit der Technologie sahen, um die Kultur inmitten der Natur zu fördern, stellen heute ein Szenario dar, das Gefahr läuft, sich in eine Dystopie zu verwandeln.

Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito, Werk: Matrix, 2010, Fotograf: Noboru Morikawa

162

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 167

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 163

die neue Welle japanischer Museen, die keine Kunst im herkömmlichen Sinne ausstellen, kommentiert, ist „das [traditionelle] Kunstmuseum ein mit einer Zeitkapsel vergleichbarer Ort, der, entsprechend dem hypothetischen Ziel eines Jüngsten Gerichts am Ende der Zeiten, die Kunst erfolgreich von der realen Welt abkoppelt“.80 Im Gegensatz zu diesem statischen Kunstwerk-Begriff zieht das Teshima Art Museum Kunst als Phänomen des Lebendigen in Betracht, das sich fortwährend wandelt. Kunst ist hier ein Werkzeug, um natürliche Phänomene wie Wolken, Licht, Schatten, Wasser, Wind, Laub und Insekten sichtbar und spürbar zu machen. Das Besuchserlebnis beginnt mit der Wanderung auf einem gewundenen Weg, der durch eine zauberhafte Landschaft führt, die früher sich selbst überlassen war. Das Gelände rund um das Museum wurde nach dem Erwerb durch die Stiftung Fukutake von Bauern und Freiwilligen aus der Umgebung neu

Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito, Werk: Matrix, 2010, Fotograf: Noboru Morikawa

bestellt (Reisanbau), um die wirtschaftliche und soziale Aktivität auf der Insel wiederzubeleben. Der Besucher erblickt zu-

ließe sich das Bauwerk den „Zeitobjekten“ im Sinne Husserls

nächst von einem erhöhten Standpunkt aus das wie ein

zuordnen, der darunter Objekte verstand, „die nicht nur Ein-

Tropfen in der grünen Landschaft liegende Museum, umrundet

heiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich

dann einen kleinen Hügel mit Blick auf das Meer und gelangt

enthalten“.81 Der mährisch-deutsche Philosoph nimmt den

schließlich zum Eingang des Museums. Der Museumsbau be-

Klang als Beispiel, der ein Dahinfließen bezeichnet und zu-

steht aus einer sehr flachen, asymmetrischen Betonschale mit

gleich die Einheit einer Dauer ist. Wenn wir einen Ton verneh-

zwei großen Öffnungen, die den Blick in den Himmel und auf

men, werden wir uns des Jetzt bewusst. „Die Wahrnehmung

die Landschaft freigeben. An der schmalsten Stelle des Tropfens

selbst ist aber […] im beständigen Fluß des Bewußtseins und

befindet sich der Eingang in Form einer schlichten, abgerun-

selbst ein beständiger Fluß: immerfort wandelt sich das Wahr-

deten Auffaltung der Betonschale, was eine Art Trichter er-

nehmungs-Jetzt in das sich anschließende Bewußtsein des

gibt, der den Besucher ins Innere saugt. Das Gebäude hat

Soeben-Vergangenen, und zugleich leuchtet ein neues Jetzt

nichts Statisches an sich, eher ähnelt es einer organischen

auf usw.“82 Dieser „Bewusstseinsstrom“ lässt uns das Verge-

Haut, die atmet, und gleicht mehr einem Lebewesen, etwas

hen einer Dauer wahrnehmen. Neben dem Klang wäre auch

Beseeltem. Das Einzige, was man im Innern zu sehen bekommt,

die Wahrnehmung sich bildender Wassertropfen, eines Wind-

sind herabbaumelnde Baumwollfäden, die vom Wind bewegt

hauchs oder wandernder Schatten zu nennen, die uns Raum

werden, flache Kieselsteine und vereinzelte weiße Murmeln,

und Zeit sowie unsere eigene Existenz bewusst machen: Die

die am Boden liegen, sowie rieselnde Wassertropfen an der

(auf der Wahrnehmung basierende) „natürliche[n] Einstellung“

glatten Oberfläche der Betonschale, die durch die Boden-

ermöglicht es also, „daß ich bewußtseinsmäßig als mir ge-

feuchtigkeit entstehen. Der Hauptakteur in diesem Museum

genüber eine daseiende Dingwelt vorfinde, daß ich mir in

ist die Zeit. Es macht den Luftzug sichtbar, der die fast un-

dieser Welt einen Leib zuschreibe und nun mich selbst ihr

sichtbaren Fäden in Bewegung setzt, das Entstehen von Wasser

einordnen kann. Offenbar ist diese letzte Quelle die sinnliche

sowie die Schatten, die mit der Sonne wandern. Die Inszenie-

Erfahrung“, schrieb Husserl zu Beginn des 20. Jahrhunderts

rung der Zeitlichkeit und der Entstehung der Dinge versetzt

und lieferte uns damit einen möglichen Schlüssel zum

uns in die Lage, uns selbst in Raum und Zeit zu verorten.

Verständnis des Museums auf Teshima.83

Mithin vermittelt das Museum eine rein phänomenologische

Kunst auf die Wahrnehmung der Natur zu reduzieren, ist eine

Erfahrung, die auf der Wahrnehmung von Zeit basiert. Damit

mögliche Weise, unser In-der-Welt-sein neu zu verzaubern,

Anmerkungen Seite 167

Ryūe Nishizawa und Rei Naito: Teshima Art Museum

163

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 164

Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum und Bauplan, Künstlerin: Rei Naito, Matrix, Fotograf: Ken'ichi Suzuki, 2010

indem wir uns wieder verankern in dem, was uns wirklich

Der Animismus begreift den Menschen als Teil einer ganzheit-

„wesentlich“ erscheint. Die Besucher:innen vernehmen dann

lichen Welt. Das Bewusstsein für den beispiellosen ökologischen

ein Werk, das den Gegensatz zwischen Natur und Künstlichkeit

Fußabdruck der Menschen und die Zerbrechlichkeit des Sys-

überwindet, als phänomenologische Erfahrung, die Sarawagi

tems Erde können als Hauptgründe für den Bau von Projekten

als „vollkommen neue Auffassung von Kunst“ beschreibt:

wie dem Teshima Art Museum im gegenwärtigen Kontext an-

Kunst und Natur „werden behutsam ineinander gebettet […],

gesehen werden. Sie zielen im Wesentlichen darauf ab, dass

in ein größeres zirkulierendes Ganzes einge-gliedert, wo sie

wir uns in dem Bewusstsein, Teil eines großen Ganzen zu sein,

einen ,Ort‘ schaffen, an dem die Grenze zwischen Kunstwerk

wieder in der Natur und in der Welt verankern.

und dem Akt des Erlebens des Kunstwerks verschwimmt“.

84

Die Künstlerin Rei Naito faszinieren Genesen.85 Sie wurde 1961 in Hiroshima geboren und zeit ihres Lebens mit dem

Wie gestaltet sich der zeitliche Eingriff zur „Wiederverzauberung der Welt“?

Tod konfrontiert, der wie ein unsichtbares Gespenst über ihrer

164

Heimatstadt schwebt,86 und so fragt sie sich, „ob es Segen

Zum Schluss dieses Kapitels ist festzuhalten, dass die hier vor-

oder Fluch ist, auf der Welt zu sein“. Dieses Nachdenken über

gestellten „Tempel“ oder „Katalysatoren“ von Kultur allesamt

das Dasein ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt: „In

„Instrumente zur Aufhebung von Zeit“ sind. Die Maschinen,

Japan sind Philosophie und Religion eng verflochten: Man ist

Kapseln und Blasen erzeugen eine andere Zeitlichkeit und

dankbar für das Leben, fürchtet die Natur, ehrt den Tod. Man

verändern die Wahrnehmung von Raum und Zeit, um die Welt

lebt und liebt bedingungslos.“87 So ist denn auch die existen-

und die Gesellschaft zu hinterfragen und ihnen einen neuen

tielle und ursprüngliche Beziehung zur Natur und zum Leben-

Zauber zu verleihen.

digen in Naitos Werk sehr prägend.

Paul Otlets visionäres und optimistisches Vorhaben, mit einem

Wiederverzauberung der Welt

Anmerkungen Seite 167

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 165

Weltmuseum als chronologisch aufgebautem Kulturtempel

der Zeit auszusetzen und das Bewusstsein für die Fragilität

am Weltfrieden mitzuwirken, zerschlug sich mit dem Ausbruch

der Erde zu schärfen. Es versammelt keine Werke im her-

des Zweiten Weltkriegs. Die geltenden kulturellen Werte wurden

kömmlichen Sinn mehr, verkörpert auch nicht mehr die Idee

infrage gestellt und der einzige Ausweg aus der darauffolgen-

des einenden Wachstums, sondern bietet schlicht die Insze-

den ontologischen Krise war die Errichtung einer neuen Gesell-

nierung einer Genese, die erst durch die Aufhebung der

schaft, die auf veränderten Paradigmen beruhte.

Jetztzeit wahrgenommen wird.

Der Fun Palace verkörpert diesen Wunsch nach Erneuerung

Das Museum auf Teshima spiegelt einen Paradigmenwechsel

im Zeichen der Freude: Freude am Lernen, an der Selbstbe-

wider, der auf der Erkenntnis beruht, dass die Spuren und

stimmung, am Sich-Weiterbilden, am gemeinsamen Feiern.

Schäden, die wir im Namen des Fortschritts auf der Erde hin-

Die für alle zugängliche Bildungsmaschine – eine richtigge-

terlassen haben, unauslöschlich und nicht wiedergutzumachen

hende Heterotopie in der Stadt – setzt die Wahrnehmung der

sind; dass sie die Ursache für die Umwelt- und Klimakrise sind

Jetztzeit außer Kraft und katapultiert uns, indem wir unsere

und schwerwiegende soziale Folgen haben, deren Ausmaß

gewohnten Bezugspunkte verlieren, in eine Art Riesenflipper,

wir nicht wirklich ermessen können. Angesichts der unver-

der von mannigfaltigen Zeitlichkeiten bestimmt wird.

gleichlichen, lähmenden Angst, die uns das einflößt, versu-

Dieser dionysische Impuls findet sich auch bei der Architek-

chen wir die Zeit „aufzuheben“, um uns dem Hier und Jetzt

tengruppe Archigram wieder, die Stadt und Natur neu erfin-

zu entziehen. So vermögen wir uns Klarheit über unser In-der-

den wollte. Ihre bilderstürmerischen Entwürfe, die auf eine

Welt-sein zu verschaffen, sowohl individuell als auch kollek-

Grunderneuerung der Kultur abzielten und im Übrigen nie

tiv – eine Bewusstwerdung, die alles umfasst, Menschen,

realisiert wurden, beruhen auf der Augenblicklichkeit und

Tiere, Pflanzen und Dinge. Das Archaische, das am Anfang

Flüchtigkeit als Schlüsselfaktoren. Die Natur wird – anstelle

und am Ende dieses Buches steht, bringt somit Erzählungen

der Schulen und städtischen Museen – als idealer Ort für die

und Urerfahrungen hervor, die die Gegenwart und die Zukunft

Vermittlung von Kultur erachtet. Der in Rokplug und Logplug

grundsätzlich infrage stellen.

als perfekte symbiotische Entität präsentierte „Computer

Über unsere Bewusstwerdung hinaus kann die arché, verstan-

mensch“ kann dank einer neuen, traumhaften Mobilität, unter

den als „sprudelnde Quelle und Ressource in einem“ (Chris

deren Vorzeichen der Raum durch die Zeit bestimmt wird, in

Younès), auch als wirksames Instrument dienen, um unsere

Osmose mit der Natur und der Welt leben, eine Vision, die

Weltbeziehung auf dem Weg zu einer „glücklichen Mäßi-

durch die Gestalt des „elektrifizierten Ureinwohners“ verkör-

gung“ zu erneuern. Denn wenn wir uns mit Introspektion zu-

pert wird.

frieden geben, dürfte sich die Welt wohl kaum verändern!

Auch das Teshima Art Museum feiert, wenngleich auf andere

Diese aktive, transformative Dimension erklärt die heutigen

Weise, die Rückkehr zu einem „verzauberten“ Archaismus, bei

archaischen Tendenzen, die in der Architektur und in der

dem allein die Naturphänomene wichtig sind. An diesem Ort

Ästhetik allgemein zu beobachten sind – verstanden in ihrem

der aufgehobenen Zeit haben Kultur, Technologie und Fort-

ontologischen Sinn als Art und Weise, eine spezifische Bezie-

schritt keine Bleibe mehr. Gleichzeitig eröffnet diese Art von

hung zur Welt herzustellen. Wir müssen uns also der Rolle der

Husserl’scher epochē einen essentiellen Freiraum, um eine

Architekt:innen bei der Wiederverzauberung der krisenge-

neue Weltbeziehung herzustellen.

schüttelten Welt bewusst sein, ohne darüber in demiurgische

Wenn wir das Museum mit unbegrenztem Wachstum mit dem

Maßlosigkeit oder in eine passive Haltung zu verfallen.

Teshima Art Museum vergleichen, ist festzustellen, dass sich

Schauen, horchen, wahrnehmen und sich die Dinge bewusst

der Fortschrittsgedanke grundlegend verändert hat. Fast ein

machen, um die krisenhafte Welt zu reparieren, das ist es, was

Jahrhundert später ist das „Museumsmanifest“, wenn man es

wir heute als Ziel der Grunderneuerung einer Kultur erachten

so nennen kann, keine offene Spirale mehr, die die einschlägi-

können, die ein anderes Verhältnis zur Natur unterhält.

gen Werke der Weltkulturen endlos aufnehmen kann in der Hoffnung, den Krieg zu bannen, sondern eine gleichsam leere Schale, deren alleiniger Zweck es ist, die Naturphänomene

Ryūe Nishizawa und Rei Naito: Teshima Art Museum

165

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Anmerkungen

166

20 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre com-

einer Pille entsteht. Sein berühmter Satz „Alles

plète, Bd. 4, 16.

ist Architektur“ bezieht auch diese psychische

21 Vgl. Pascal Guillot, Faire de l’Exposition de

Dimension der Raumwahrnehmung mit ein.

1 Sigmund Freud, Die Verdrängung (1915), in:

1937 une occasion de révolution urbanistique:

30 J. C. R. Licklider, Man-Computer Symbiosis,

Sigmund Freud-Studienausgabe, hg. von

Morizet et le rêve du „Grand Paris“, in:

in: IRE Transactions on Human Factors in

Alexander Mitscherlich u. a., Bd. 3: Psychologie

Cahiers d’histoire. Revue d’histoire critique,

Electronics, Bd. HFE -1, März 1960, 4–11, on-

des Unbewußten, Frankfurt a. M. 1982, 103 –

Nr. 135, 2017, 53– 69: https://journals.openedi

line unter: http://groups.csail.mit.edu/medg/

118, hier 108 (Hervorh. im Original).

tion.org/chrhc/5904 (zuletzt aufgerufen am

people/psz/Licklider.html (zuletzt aufgerufen

2 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrach-

14.4. 2023).

am 14.4. 2023).

tungen, in: Kritische Studienausgabe (KSA) in

22 Vortrag „Arts et Techniques dans la vie

31 Ebd.

15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino

moderne“ von Edmond Labbé, (1937), zit.

32 François Hartog, Régimes d’historicité:

Montinari, Neuausg., München 1999, KSA 1,

nach Évelyne Cohen, Paris dans l’imaginaire

Présentisme et expériences du temps (2003),

157–510, hier 250.

national de l’entre-deux-guerres, Paris 1999,

Paris 2012, 150.

3 Paul Otlet und Le Corbusier, Mundaneum,

134.

33 Ebd.

Publikation Nr. 128 der Union des Associations

23 Amédée Ozenfant, Notes d’un touriste à

34 Ebd.

Internationales, Brüssel 1928, 2.

l’Exposition, in: Cahiers d’art, Nr. 8/10:

35 Clement Attlee war von 1935 bis 1955

4 Ebd., 12. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg

Souvenirs de l’Exposition 1937, 1937, 241–247.

Vorsitzender der Labour Party und von 1945

setzten sich verschiedene internationale Ver-

24 Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Œuvre

bis 1951 Premierminister des Vereinigten

einigungen mit Blick auf den Weltfrieden für

complète, hg. von Max Bill, Zürich 1964, Bd. 3:

Königreichs.

eine Vereinheitlichung der Wissenschaftssprache

1934–1938, 153.

36 Vgl. Art. The Terrible Challenge of Leisure,

und die Zugänglichkeit von Wissen ein. Otlet

25 Le Corbusier und P. Jeanneret, Des Canons,

in: New Statesman, Nr. 66, 23. August 1963, 1,

selbst war in mehreren Vereinigungen aktiv.

des munitions? Merci! Des logis… s.v.p.,

zit. nach Stanley Mathews, From Agit-Prop to

5 Ebd., 13.

Boulogne-sur-Seine 1938, 5 und 8f.

Free Space. The Architecture of Cedric Price,

6 Ebd., 7f. (Hervorh. im Original).

26 François Hartog, Confinés, déconfinés,

London 2006, 69.

7 Ebd., 10.

reconfinés: que faire de notre incertitude?,

37 Joan Littlewood, Entwurf für das Pamphlet

8 Ebd.

Radiosendung von France Culture: L’Invité(e)

zum Fun Palace, 1964, Archives Cedric Price,

9 Ebd., 32.

des Matins, Moderator: Guillaume Erner,

CCA Montreal, zit. nach Mathews 2006, 70.

10 Ebd., 30.

28.9.2020: https://www.radiofrance.fr/france-

38 Joan Littlewood, Notizen, 18. Februar 1964,

11 Ebd., 36.

culture/podcasts/l-invite-e-des-matins/confi

Archives Cedric Price, zit. nach Mathews 2006,

12 Ebd.

nes-deconfines-reconfines-que-faire-de-notre-

70.

13 Ebd., 36f.

incertitude-avec-francois-hartog-et-frederic-

39 Joan Littlewood, Joan’s Book. The

14 Ebd., 38f.

worms-5412638 (zuletzt aufgerufen am

Autobiography of Joan Littlewood, London

15 Im Gebäude der heutigen Königlichen

14.4.2023).

2016, 62.

Museen für Kunst und Geschichte im Parc du

27 Ebd.

40 Ebd., 446.

Cinquantenaire.

28 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge

41 Mathews 2006, 21f.

16 Le Corbusier und Pierre Jeanneret, 1939:

totaler Herrschaft, von der Verf. aus dem

42 Man, Machine and Motion, Institute of

Musée à Croissance illimitée (Plan établi pour

Amerikan. übertr. u. neubearb. Ausg.,

Contemporary Arts (ICA), London 1955, zit.

la ville de Philippeville, Afrique du Nord), in:

Frankfurt a. M. 1962, 493.

nach Mathews 2006, 30.

Œuvre complète, hg. von Willy Boesiger und

29 In diesem Zusammenhang könnte der

43 Ebd.

Oscar Stonorov, Zürich 1966, Bd. 4: 1938–1946,

Cyborg (1960, Cyberorganismus) erwähnt

44 An Exhibit: Richard Hamilton, Victor

16–21, hier 16.

werden, der für die Raumfahrt entwickelt

Pasmore, Lawrence Alloway, 13. bis 24. August

17 Ebd.

wurde und den menschlichen Organismus mit-

1957, ICA, London 1957, zit. nach Mathews

18 Arnaldo Bruschi über Donato Bramante,

hilfe der Technologie und Chemie erweitern

2006, 31.

zit. nach Paolo Amaldi, Architecture, Profon-

konnte. Hans Hollein griff diese Dimension mit

45 John von Neumann, Die Rechenmaschine

deur, Mouvement, Genf 2011, 411.

seiner „Architekturpille“, einem Element des

und das Gehirn, a. d. Engl. übers. von Char-

19 Paolo Portoghesi über Francesco

Non-physical Environmental Control Kit (1967),

lotte und Heinz Gumin, 6. Aufl., München

Borromini, zit. nach Amaldi 2011, 411 (Hervorh.

auf und öffnete das Feld der Architektur für

1991, 68f. (Hervorh. im Original).

im Original).

den psychischen Raum, der durch die Einnahme

46 Ross Ashby, Art and Communication

Anmerkungen zu Seite 135 –152

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 167

Theory, Vortrag am ICA, London, 7. April 1960,

engl. Original [A.d.Ü.]).

ICA Archives, zit. nach Mathews 2006, 31.

68 Ebd. (Text in Abb., übersetzt aus dem

47 Ebd., zit. nach Mathews 2006, 74.

engl. Original [A.d.Ü.]).

48 Gordon Pask, An approach to Cybernetics,

69 Ebd. (Text in Abb., übersetzt aus dem engl.

New York 1961, 11, zit. nach Mathews 2006, 75.

Original [A.d.Ü.]).

49 Gordon Pask, The Architectural Relevance

70 Ebd., 111 (Hervorh. im Original; Text in

of Cybernetics, zit. nach Mathews 2006, 75.

Abb., übersetzt aus dem engl. Original

50 Karl R. Popper, Das offene Universum.

[A.d.Ü.]).

Ein Argument für den Indeterminismus,

71 Peter Greene, Notizen zum Querschnitt

Gesammelte Werke, Bd. 8, hg. von William W.

von Rokplug, Logplug, 22. 9.1969.

Bartley, a. d. Engl. übers. von Eva Schiffer,

72 Greene, in: Cook 1991, 111.

Tübingen 2001, 21f.

73 Ebd., 110.

51 Ebd.

74 Ebd.

52 Joan Littlewood, Notizen, 1964, zit. nach

75 Ebd. (Hervorh. im Original); das Gedicht

Mathews 2006, 69.

„It’s all watched over“ von Richard Brautigan

53 Gordon Pask, Cybernetics Committee’s

aus dem Jahr 1967 ist dem Band Machines of

introductory document, circulation list, and

Loving Grace entnommen.

basic plans for Fun Palace Project, um 1963–

76 Ebd., 113.

65, Archive CCA, Fun Palace Project, 1961–85,

77 Ebd., 118.

hier insb. 1961–74, online unter:

78 Ebd.

https://www.cca.qc.ca/fr/recherche/details/coll

79 Ebd., 119.

ection/object/400832 (zuletzt aufgerufen am

80 Noi Sawaragi, in: Naoshima Note, Juni

26.4. 2023).

2010; Auszüge unter:

54 Ebd. (Hervorh. im Original).

https://www.ogijima.fr/guide-des-oeuvres-art-

55 Ebd.

setouchi/teshima/teshima-art-museum/

56 Cedric Price, um 1963, Archives CCA, vgl.

(zuletzt aufgerufen am 30. 5. 2023).

Mathews 2006, 73.

81 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phäno-

57 Cedric Price, Memorandum, 1964, Archives

menologie des inneren Zeitbewusstseins

CCA, zit. nach Mathews 2006, 73.

(1928), hg. von Martin Heidegger, Tübingen

58 Cedric Price, Anfang 1963, Archives CCA,

1980, 18.

zit. nach Mathews 2006, 73.

82 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen

59 Zit. nach Mathews 2006, 92.

Phänomenologie und phänomenologischen

60 Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis.

Philosophie I: Allgemeine Einführung in die

Die Entstehung des typographischen Men-

reine Phänomenologie, Grafrath 2020, §41.

schen, a. d. Amerikan. übers. von Max Nänny,

Der reelle Bestand der Wahrnehmung und ihr

Neuausg., Hamburg 2011, 42f.

transzendentes Objekt, 111.

61 Ebd., 206f.

83 Ebd., § 39 „Bewußtsein und natürlich

62 Ebd., 41.

Wirklichkeit“, 107.

63 Alain Guiheux, Fast histoire, in: Ders. (Hg.),

84 Sawaragi 2010.

Archigram, Ausst.-Kat., Paris, Centre Georges

85 Rei Nato in einem Gespräch mit Judith

Pompidou, 29.6.– 29.8.1994, Paris 1994, 9–12,

Benhamou-Huet, hochgeladen am 29.1. 2017:

hier 10.

https://www.youtube.com/watch?v=MVQbAG

64 David Greene, Aus dem Notizbuch des

Te7E0 (zuletzt aufgerufen am 14.4. 2023).

Gärtners, in: Peter Cook u. a. (Hg.), Archigram,

86 Ebd.

Basel u. a. 1991, Kap. 12, 110–119, hier 112.

87 Ebd.

65 Ebd., 111. 66 Ebd., 110. 67 Ebd., 111 (Text in Abb., übersetzt aus dem

Anmerkungen zu Seite 152 –164

167

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 168

Giorgio de Chirico, Das böse Genie eines Königs, 1914/1915, Öl auf Leinwand

168

Ein Fazit mit Aussicht

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 169

Ein Fazit mit Aussicht

oft einen Paradigmenwechsel beinhalten. Mithin erschaffen Architekt:innen neue Narrative, indem sie sich auf andere Epochen zurückbesinnen, sich andere Lebens- und Gesell-

Dieser Streifzug durch die Architekturgeschichte unter dem

schaftsformen ausmalen, andere Ziele skizzieren und neue

Blickwinkel der Krise hat gezeigt, dass die Reaktionen der

symbolische Botschaften übermitteln.

Architekt:innen, wie auch immer sie ausfielen, durchwegs in

Die Geschichte der Architektur in Krisenzeiten zeigt, wie stark

einer Neugestaltung des raumzeitlichen Verhältnisses zur

sich die Hoffnungen, die in Fortschritt, Wachstum und Technik

Welt bestanden haben. In Zeiten des Orientierungsverlusts

gesetzt wurden, im Laufe der Zeit gewandelt haben. Andere

versuchen sie durch eine Neuaufteilung und -anordnung von

Werte traten in den Vordergrund, insbesondere die einer

Raum und Zeit wieder die Oberhand zu gewinnen. Erinnern

gerechteren Gesellschaft mit einer größeren Resonanz und

wir uns daran, dass das lateinische Wort tempus für „Zeit“

Naturverbundenheit.

auch „Zeiteinteilung“ bedeutet, und dass tempus und templum (die etymologisch die gleiche Wurzel haben) auf

Die vier Figuren, die für die Strukturierung der vorliegenden

eine Zerteilung verweisen, eine bestimmte Art, „einen Raum

Analyse definiert wurden, stellen ein Instrument der Kontrak-

und eine Zeitspanne in einem Sakralisierungsvorgang von der

tion und Dilatation der Raumzeit dar; sie stehen jeweils für

natürlichen Welt zu trennen“.1 Entsprechend zerteilen die

einen spezifischen Handlungsmodus, der in der Architektur

Architekt:innen mit ihrem „Zepter“ Raum und Zeit und ver-

zum Tragen kommt. Die dargelegten Beispiele veranschaulichen

setzen uns in eine andere Raumzeit; sie erschaffen „Tempel“,

die Mechanismen raumzeitlicher Verfahren, bilden ein breites

die ihre eigene Raumordnung, Zeitlichkeit und Daseinsbe-

Spektrum ästhetischer Handlungsweisen ab und zeigen Mög-

rechtigung haben und uns letztendlich ermöglichen, mit der

lichkeiten auf, wie in Krisenzeiten agiert, reagiert und entworfen

Welt in Resonanz zu treten, das heißt, uns weiterzuentwickeln,

werden kann. Denn es gibt nicht nur eine mögliche Handlung

zu emanzipieren, in Würde zusammenzuleben und handelnde

und ästhetische Antwort. Es kann keine Universallehre geben.

Wesen zu sein. Sie unterbreiten raumzeitliche Fiktionen,

Uns steht, im Gegenteil, eine große Palette an Möglichkeiten

Gegenwelten und „Gegenzeiten“ und eröffnen damit neue

zur Verfügung, was letztlich eine Ermutigung darstellt, die ei-

Horizonte.

genen Begabungen zu entfalten, um zu handeln.

Bei der Analyse der in Krisenzeiten entstandenen Ästhetik

Fassen wir nun die Inhalte der vier Figuren zusammen, um zu

und Schriften von Architekt:innen lag der Schwerpunkt auf

erkennen, welche Handlungsstrategien Architekt:innen ange-

ihren (emotionalen) Beweggründen und Zielen, ihrem Ver-

wandt haben und anwenden, um die Jetztzeit so zu manipu-

hältnis zu Fortschritt und Technik sowie auf ihrer Mitwirkung

lieren wie De Chirico seine Uhren, um sich ihr weitestgehend

bei der Schaffung neuer Werte. Dabei ging es insbesondere

entziehen zu können und uns neue Wege in eine bessere

um das Ausmaß ihrer raumzeitlichen Eingriffe, um ihre ästhe-

Zukunft zu weisen.

tischen Ausdrucksformen und die zentrale Bedeutung des Rituals darin, wobei ein besonderes Augenmerk auf der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Ideen lag.

Archaismus

So war festzustellen, dass Projekte, die in Kippmomenten aus einem starken Drang heraus entstehen – oftmals unter Bedin-

Das „Uhrwerk“ des Archaismus ist überaus seltsam: Es macht

gungen der Eile und Dringlichkeit, der Entbehrungen, der

einen Sprung rückwärts und konfrontiert uns mit einer früheren

Angst oder eines Schockzustands –, sowohl materiell als auch

Epoche oder Urzeit, setzt uns aber gleichzeitig der Zukunft

formal eine radikale Reduktion erfahren. Der offenkundige

aus. Man muss das Archaische in dieser doppelten, sowohl

ikonische Rang, der diesen Vorhaben zukommt, macht deutlich,

retrospektiven als auch prospektiven Dynamik begreifen.

dass ontologische Krisen wirkmächtige Entwürfe hervorbringen,

Der Blick zurück ermöglicht ein grundsätzliches Hinterfragen

die unsere Weltbeziehung grundsätzlich infrage stellen und

der Gegenwart, da alles auf null gesetzt wird. Nachdem die

Anmerkungen Seite 176

169

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Zeit eine Weile angehalten wurde, beginnt die Uhr wieder zu

Zurück zur Ländlichkeit

ticken, diesmal jedoch in ihrem eigenen Takt. Diese Verschiebung, bezogen auf die verlangsamte oder beschleunigte

Das Uhrwerk der „Rückkehr zur Ländlichkeit“ verlangsamt die

Zeit, enthebt uns der Gegenwart, damit wir uns eine neue

Zeit zugunsten einer Lebensweise, die gesünder, autonomer,

Weltbeziehung vorstellen können.

kollektiver und mit der fruchtbaren Natur enger verbunden

Durch den Rekurs auf das Archaische und den damit verbun-

ist. Der Ausdruck schlechthin dieses Strebens ist die Garten-

denen Sprung in Raum und Zeit versuchen Architekt:innen,

stadt, die außerhalb der Städte neue „Tempel“ der Gesellschaft

die Jetztzeit zu verändern, wobei sie sich einerseits auf die

mit einer eigenen Zeit- und Raumordnung schafft. Nach dem

Arché (den Anfang oder das Urprinzip der Welt) und anderer-

Vorbild von Ebenezer Howard sind die Gartenstädte miteinan-

seits auf den Archetypus (die Urform) als Gestaltungsprinzip

der verbunden und bilden ein weitläufiges Netz mit eigener

berufen, um eine neue Zukunft zu eröffnen. Diese raumzeitli-

genossenschaftlicher Kreislaufwirtschaft; sie verwalten sich

chen Verfahrensweisen führen gegenläufige Dynamiken ein,

selbst und stellen Kerngebilde der Gesellschaft dar, die auf

wie die Verwendung ägyptischer Ornamente nach der Fran-

regionaler, nationaler und sogar internationaler Ebene ausge-

zösischen Revolution oder Durands „Temple à la Liberté“ mit

baut werden können.

seiner neuen rasterhaften Formensprache zeigen. Davon

Nach dem Ersten Weltkrieg passten Adolf Loos, Margarete

zeugen auch das Werk Architektur ohne Architekten und die

Schütte-Lihotzky, Hannes Meyer und Bruno Taut die flächen-

Reaktivierung natürlicher Nutzungen durch Bernard Rudofsky,

mäßig großzügig angelegte Gartenstadt von Howard den

der sich nach einer Kultur zurücksehnte, die vom Faschismus

damaligen Krisenbedingungen an und reduzierten den

zerschlagen worden war; oder das Manifest Absolute Archi-

Lebensraum auf das absolute Minimum. Reduktion bedeutet

tektur und die stark ritualisierten archaischen Traumwelten

Verzicht, daher wurde das neue „Landleben“ durch Sublimie-

von Hans Hollein, der sich zur Hochzeit des funktionalistischen

rung in „höhere Sphären“ gehoben, wo der Gemeinschaft,

Wiederaufbaus der Nachkriegszeit auf Aztekentempel und

Selbstverwaltung, Kunst, Ästhetik und Kultur eine zentrale

Weltraumraketen besann; und schließlich das bewusst elemen-

Bedeutung zukommt. In allen untersuchten Beispielen führt

tar gehaltene, höhlenartige Restaurant von Junya Ishigami,

dieser doppelte Mechanismus der Reduktion/Sublimierung,

der die heute immer stärker bedrohte Natur sakralisiert. All

unabhängig von der jeweiligen Ausdrucksform, zur Entstehung

diese Projekte können als Akte der Auflehnung gegen eine

einer „starken Form“, die neue kollektive Orte zur Förderung

krisengeschüttelte Welt gesehen werden, mit der in Resonanz

des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit hervorbringt.

zu treten scheinbar unmöglich geworden ist. Mithin ersinnen

Howard entwarf eine kreisförmige Stadt aus Ringen mit je ei-

die Architekt:innen für ihre Werke eine neue Formensprache

gener programmatischer und räumlicher Charakteristik. Taut

und Ästhetik, um sich die Welt wieder zu eigen zu machen –

erweiterte dieses Prinzip um eine „Stadtkrone“ als Herzstück

ist doch die Sprache die Bedingung schlechthin, um eine

der menschlichen Gemeinschaft. Seine Kristallpaläste geben

Welt zu denken.

dem „Rumpf“ der zerstreuten Stadt einen Kopf, zeitigen end-

Der Sprung in Raum und Zeit, den der Rekurs auf den Arche-

liche, umgrenzte Räume und strahlen symbolisch bis zu den

typus möglich macht, führt eine neue Zeitlichkeit ein und

Sternen. Meyer betonte das Kollektive in seiner Siedlung

stellt auch einen anderen Bezug zur Zukunft her. Der Arche-

Freidorf, wo ein Obelisk die symbolische Mitte als Gemein-

typus als leere Vorform öffnet dann einen imaginären Raum,

schaftsort markiert. Sie alle haben mit diesen Architektur- und

um eine „Gegenwelt“ zu denken: Die Gegenwart wird aufge-

Landschaftsstrategien versucht, der beängstigenden Form-

hoben, und das Eintauchen in eine weit zurückliegende Epo-

losigkeit der ausufernden kapitalistischen Industriestadt ent-

che bildet die Voraussetzung für eine neue Zukunftsvision.

gegenzuwirken. Indem sie einen neuen „Kosmos“ schufen,

Hollein hat es auf den Punkt gebracht: „Die Architektur von

der dem Kollektiv geweiht war und alle Facetten des Lebens

Heute gibt es noch nicht.“ In solchen Momenten der Suspen-

vereinte (das Arbeiten, Wohnen, Sich-Weiterbilden, Debat-

dierung muss sogar die Gegenwart neu bestimmt werden.

tieren usw.), wurde das gemeinschaftliche Handeln zum wichtigsten Vehikel eines anderen Fortschrittsverständnisses.

170

Ein Fazit mit Aussicht

Anmerkungen Seite 176

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Starke Form, Reduktion/Sublimierung und Entschleunigung

Geschichte reinen Tisch machen, die er für überholt und

sind mithin die wichtigsten Hebel für den Aufbau einer

statisch hielt („Zeit und Raum sind gestern gestorben“3).

„neuen Welt“, in der Stadt und Natur eine Einheit bilden.

Auch Le Corbusiers Äußerungen zeugen von einer großen

Eine reaktive Haltung (gegenüber Wirtschafts-, Gesellschafts-

Begeisterung für die Maschine und die Technik, die er wie

und Gesundheitskrisen) verbindet sich mit einer dezidiert

Marinetti beschönigte und gleichsam heiligsprach, wobei er

prospektiven Vision, die von dem Wunsch getragen ist, eine

sich vom Futurismus distanzierte. Er setzte Zeit mit Beschleuni-

bessere Welt zu schaffen.

gung gleich, sein „Tempel“ war die Ville Radieuse. Er suchte die Zeit proaktiv zu beschleunigen, um den motorisierten Neuen Menschen mit den Mitteln der Zerstörung aus der

Schaffen durch Zerstören

Krise (dem urbanen und gesellschaftlichen Chaos) heraus in eine „strahlende“ Zukunft zu führen. Matta-Clark wiederum

Das Uhrwerk des „Schaffens durch Zerstören“ gehorcht dem

wandte sich gegen den Funktionalismus mit seinen verheeren-

Zerstörungstrieb, beschleunigt die Zeit und treibt uns gewalt-

den Folgen für die Innenstädte, die das Prinzip der Tabula

sam in eine orientierungslose Zukunft. Die futuristische Ob-

rasa mit voller Wucht zu spüren bekamen, und formulierte

session setzt sich über die Vergangenheit und die Gegenwart

mit seiner Anarchitektur das Gegenmanifest zu Le Corbusiers

hinweg und nimmt in schillernden Fiktionen Gestalt an, die

Vers une architecture. Sein Credo „Completion through

auf vielerlei Weise auszulöschen versprechen, was im Lauf

Collapse“ ist als ästhetische Strategie zu verstehen, die Fra-

der Geschichte geschaffen wurde. „Das Verlangen nach Zer-

gilität und gelebte Geschichte von zum Abriss freigegebenen

störung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen,

Gebäuden schonungslos offenzulegen. Heutzutage sehen

zukunftsschwangeren Kraft sein“, stellte Nietzsche Ende des

einige Anhänger des Akzelerationismus den einzigen Ausweg

19. Jahrhunderts fast schon in Vorahnung dessen fest, was

aus der Klimakrise in einer forcierten Beschleunigung der

bald Wirklichkeit werden und schreckliche Ausmaße annehmen

weltbeherrschenden Dynamik der „schöpferischen Zerstörung“

sollte.2

(Joseph Schumpeter) und einer anschließenden Neuausrich-

„Schaffen durch Zerstören“ ist eine ikonische Figur aufgrund

tung der technologischen Innovationen auf das Überleben

der ihr inhärenten Gewalt, die als notwendig erachtet wird,

des Planeten. So träumt Bjarke Ingels von einem Masterplan

um einen radikalen Wechsel herbeizuführen, der sich in der

für die ganze Welt, den er „Masterplanet“ nennt, und zieht

Regel im Bild der „Tabula rasa“ äußert. Beflügelt von einer

sogar für den Fall, dass die Erde nicht mehr bewohnbar sein

akzelerationistischen, progressiven oder entropischen Vision,

sollte, dessen Ausweitung auf andere Planeten in Betracht.

nehmen sich die Architekt:innen eine Neuaufteilung von

An diesen vier Projekten, die zu unterschiedlichen Zeiten

Raum und Zeit vor, wobei sie zunächst mit allem Alten aufräu-

(jeweils im Abstand von rund einer Generation) entstanden

men, um Neues schaffen zu können. Diese Neuaufteilung

sind, ist deutlich geworden, wie Architekten in Krisenzeiten

von Raum und Zeit zeitigt eine spezifische Ästhetik, in der

den Modus der Zerstörung sowie deren Sublimierung mit

das Ritual eine Schlüsselrolle spielt. Manche Vorgehensweisen

ästhetischen Mitteln angewandt haben, um neue Werte und

folgen einem dionysischen Muster, andere führen ein Ritual

Symbole zu etablieren. Zwar vermitteln ihre raumzeitlichen

ein (das auch dem Prinzip der Tabula rasa und der Neuord-

Entscheidungen unterschiedliche, bisweilen gegensätzliche

nung gehorcht), wieder andere bemühen Endzeitszenarien,

Botschaften zu Fortschritt, Technik und Gesellschaft, doch

dabei ist allen gemeinsam, dass sie einen radikalen Bruch mit

letztlich zielen sie alle auf einen Umsturz der Geschichte

der sie umgebenden Welt vollziehen.

zwecks Neugestaltung der Welt – mit Ausnahme von

Eine proaktive Variante dieses Zerstörungsdrangs findet sich

Matta-Clark, der diese Art von Erneuerungsprozess kritisch

vor dem Ersten Weltkrieg in den Schriften der Futuristen wieder,

sieht. Eine Haltung, die auf der Zerstörung als Schaffensprinzip

die voller Sprengkraft waren. Filippo Tommaso Marinetti, ein

beruht, ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, da sie un-

glühender Verfechter von Technik, Maschine und Moderne,

versehens von der Utopie in die Dystopie umschlagen kann –

wollte nicht nur mit Raum und Zeit, sondern auch mit der

mit verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt.

Anmerkungen Seite 176

171

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Wiederverzauberung der Welt

verschwinden zugunsten einer Bewusstwerdung der Zeit als einziger Schaffensquelle.

Das Uhrwerk der „Wiederverzauberung der Welt“, eines

Die Rückbesinnung auf das Wesentliche öffnet den Weg für

optimistischen Ansatzes, der auf einer Verdrängung der Krise

Urerfahrungen, die die Gegenwart und Zukunft radikal infrage

und auf dem Eros (dem Lebenstrieb als vereinigender Kraft)

stellen. Dieses Kapitel markiert in Abwendung vom Konzept

beruht, versetzt uns in eine Zukunft, die glücklich zu sein ver-

des grenzenlosen Wachstums, das die ökologische Krise zu

spricht. Seine Komplexität hat damit zu tun, dass zwei zeitli-

verantworten hat, den Übergang zu einer dezidiert archaischen

che Eingriffe erfolgen, nämlich zunächst eine Aufhebung der

Haltung, die in Opposition zur Kultur auf dem Glauben an

Zeit, um sich dem Hier und Jetzt zu entziehen, und anschlie-

die Natur gründet. Die dargelegten Beispiele zeugen alle

ßend eine Projektion in eine bessere Zukunft. Das Abstand-

von einem proaktiven optimistischen Drang, den ein vereini-

nehmen setzt die Zeit außer Kraft; außerhalb von Zeit und

gender Lebenstrieb befeuert. Es sind Versuche, die Krise zu

Raum kann man sich in einen Nach-Krisen-Zustand versetzen

überwinden und der Welt einen neuen Zauber zu verleihen.

und diesem Zauber verleihen. Der Wunsch nach einer Wiederverzauberung der Welt wird bei dem von Paul Otlet vorangetriebenen Vorhaben des

Entwerfen von „Gegenzeiten“ und „Gegenräumen“

Mundaneum mit einem Weltmuseum deutlich. Nach dem

172

Ersten Weltkrieg wollte er mit einem Kulturprojekt, das eine

Die in diesem Buch vorgestellten Beispiele verfolgen unter-

einigende Wirkung haben sollte, zu einem dauerhaften Welt-

schiedliche ästhetische Strategien, um in Krisenzeiten eine

frieden beitragen. Das darauf aufbauende Museum mit

Gegendynamik zu erzeugen. Die Einführung von contretemps

unbegrenztem Wachstum, das Le Corbusier entwarf, verriet,

– „Gegenzeiten“ und contre-espaces – „Gegenräumen“ ist

allen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen zum

wesentlich, um aus den eingeschlagenen Wegen auszubrechen,

Trotz, eine positive Grundhaltung gegenüber Wachstum und

sie sind die Prämissen für eine – zwangsläufig – radikal andere

Fortschritt, allerdings zerschlugen sich seine Visionen mit

Zukunft. Das französische Wort contretemps ist ein „Ereignis,

Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Alle geltenden Werte –

ein Umstand, der den Erwartungen zuwiderläuft. Ein widriger

Fortschritt, Moral, Kultur, Technik – wurden jetzt grundsätzlich

Umstand“, ist im Wörterbuch Le Robert zu lesen;4 in der

infrage gestellt. Als der Krieg vorüber war, wollte man eine

Musik bezeichnet er eine Verzögerung,5 auf die eine kurze

„neue Welt“ aufbauen und brauchte dafür neue Paradigmen.

Stille folgt. Bietet dieser „widrige Umstand“, diese „Verzöge-

Das Streben nach einer Wiederverzauberung der Welt erhielt

rung“, dieser kurze Augenblick der Schwebe nicht die einma-

später eine Fortsetzung mit dem Projekt Fun Palace von Joan

lige Gelegenheit – den zu ergreifenden Kairos –, eine

Littlewood und Cedric Price, einer Stätte der Bildung, Eman-

Abzweigung zu nehmen, um einen Übergang einzuleiten,

zipation und Festlichkeit. In diesem dionysischen Tempel nie

einen Neustart?

endender Bewegung zelebrieren Mensch und Maschine

In diesen Kippmomenten wird die Zeit gleichsam in der

einen neuen Bund, der sich dank der Entwicklung der Kyber-

Schwebe gehalten, ähnlich wie in den metaphysischen Bildern

netik als Symbiose versteht. Die Begeisterung für die auf-

De Chiricos, wo die auf den Uhren angegebene Stunde mit

kommenden digitalen Technologien zeigt sich auch in den

der Tageszeit, die die Schatten suggerieren, nicht überein-

utopischen Entwürfen der Gruppe Archigram, die von einer

stimmen kann. Die surrealistische Diskrepanz zwischen ange-

Neuordnung der Welt träumte, in der durch Rückgriff auf das

zeigter und wahrgenommener Zeit löst leichtes Unbehagen

Archaische (Rokplug und Logplug) der „Computermensch“

aus und erzeugt diesen Schwebezustand. Diese Art von Ver-

in einer urzeitlichen Osmose mit der Natur leben würde. Das

schiebung entsteht auch, wenn Architekt:innen Erzählungen

Archaische kehrt in anderer Form im Teshima Art Museum

von anderen Welten außerhalb der realen Zeit und des realen

des Architekten Ryūe Nishizawa und der Künstlerin Rei Naito

Raums unterbreiten, um aus einer ontologischen Krise, die

wieder, die die bezaubernden Naturphänomene in den Mittel-

handlungsunfähig macht, herauszuführen. Wir sind von diesem

punkt ihres Kunstwerks stellen. Kultur, Technik und Fortschritt

Schwebezustand ergriffen; wir lassen uns bereitwillig in diese

Ein Fazit mit Aussicht

Anmerkungen Seite 176

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Erzählungen hineinziehen, die offen sind für neue Perspektiven,

zwischen Kultur und Natur:8 Sie sind „wirklich wie die Natur,

reale wie fiktive, umsetzbare wie visionäre. Oszillierend zwi-

erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft, exis-

schen Wirklichkeit und Traum, Engagement und Weltflucht,

tentiell wie das Sein“.9 Sie bahnen und bilden Netze, sie

zeigen die teilweise realisierten Vorhaben, dass ein Entwurf

„sind kollektiv, denn sie verbinden uns miteinander, […].

und seine Erzählung die Erwartungen an die Zukunft tatsäch-

Sie sind instabil und riskant, existentiell und nie seinsverges-

lich verändern können.

sen.“10 Filipe Pais prägte später den Begriff der „Superobjekte“, die durch ihr Dasein auf ihre Umgebung einwirken

Handelnde Objekte

können. Pais und seine Gruppe GOR (Groupe des Objets

Aufgrund ihres bilderstürmerischen Charakters haben die ge-

Révolutionnaires) betrachten sie als revolutionäre Objekte, „die

genzeitlichen Vorhaben auch einen Rückkopplungseffekt auf

keine ,Neuheit‘ bezeichnen, sondern radikales politisches

die Gesellschaft: Indem sie eine Gegendynamik erzeugen,

Handeln“. Diese Objekte „heben die etablierten Prinzipien

hinterfragen sie den Raum der „realen Welt“ durch ihr Einwir-

aus den Angeln und kämpfen darum, die Werte unserer

ken auf den Faktor Zeit. Man kann sie daher als „manipulierte“

Gesellschaft zu verändern“.11 Sie sind mehr als bloße Objekte

Uhrwerke deuten, die die Raumzeit kontrahieren oder aus-

und sind in der Lage, zu agieren, indem sie eine Wirkung

dehnen. Mit anderen Worten als Objekte, die an den Grund-

erzielen, die weit über einen abstrakten oder psychischen

festen der „realen“ Zeit rütteln, ähnlich wie in dem Bild La

Vorgang hinausgeht – sie „handeln“12 also in einem politischen,

Persistance de la mémoire von Salvador Dalí aus dem Jahr

kollektiven und transformativen Sinne.

1931, wo vier weiche, gleichsam zerfließende Uhren jeweils

Obwohl unsere architektonischen Objekte das Ergebnis

eine andere Uhrzeit anzeigen: Die phantasmagorischen Objekte

menschlichen Wollens sind, ist diese Vorstellung vom Quasi-

lösen Raum und Zeit auf, durch diese Suspension verzerren

Objekt als Hybrid für uns interessant, denn auf die Architektur

sie die Sicht auf die reale Zeit. Sie vermitteln sogar eine

übertragen eröffnet sie eine sinnliche, relationale, kollektive

„psychotische“ Weltsicht, wobei Freud zufolge die Wahrneh-

und politische Dimension, die dem Objekt selbst innewohnt

mungsverzerrung als Abwehrmechanismus gegen Angst dient.

und auf die Psyche und die Gesellschaft einwirkt, indem sie

Ein reales Ereignis (eine historische Krise) fungiert also als

unser In-der-Welt-sein hinterfragt und verändert.

Auslöser, weckt zunächst starke Emotionen, die uns zum Nachdenken zwingen, und setzt uns dann in Bewegung; wir tauchen in die Krise ein und nutzen sie, um „agierende

Fortschritt – aber welcher?

Objekte“ zu schaffen, die ihrerseits an den Grundfesten der Realität rütteln. Diese agierenden Objekte sind zugleich

Der Fortschrittsgedanke wird heute grundsätzlich infrage ge-

Anzeiger und Auslöser von Krisen. Sie sind vergleichbar mit

stellt. Im entfesselten Wettlauf zwischen Fortschritt und Moral

José Saramagos revolutionären Quasi-Objekten, die, ausge-

hat schließlich, was Kant nicht begeistern dürfte, der Fortschritt

stattet mit einem Bewusstsein und einem Willen, auf die Welt

den Sieg davongetragen, mit allen Folgen, die dieser Triumph

einwirken und sich von der anthropozentrischen Daseinsform

für das ökologische Gleichgewicht der Erde und ihrer Bewoh-

befreien. Wie Saramago treffend im Zusammenhang mit der

ner:innen haben kann.

Arbeit des Schriftstellers feststellt: „Ich denke, es ist unmög-

In puncto Macht der Moral viel skeptischer als Kant, rief Walter

lich, nicht realistisch zu sein, […], aber manchmal kann man

Benjamin zwischen den Weltkriegen den Engel der Geschichte

die Realität realer machen und die Präsenz des Realen in das

auf den Plan, der den Sturm des Fortschritts einzudämmen

Fantastische einführen.“6 Für Michel Serres ist das Quasi-

versucht und gegen seinen Willen in die Zukunft getrieben wird;

Objekt beziehungsstiftend und schafft Bindungen zwischen

vergeblich möchte er die Trümmer, die im Laufe der Geschichte

Objekt und Mensch, ist also ein „Quasi-Wir“. Bruno Latour

hinterlassen wurden, wieder aufrichten. Dieses Bild hat nichts

greift den Begriff in Wir sind nie modern gewesen auf und

von seiner Aktualität verloren: „Wo eine Kette von Begeben-

versteht darunter vollkommen hybride Objekte der Subjektivi-

heiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe,

tät, eine menschliche und zugleich nichtmenschliche Entität

die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft […].“13

7

Anmerkungen Seite 176

173

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Auch Claude Lévi-Strauss hat eine Dynamik wahrgenommen,

wird: „[…] nach hundert Jahren Sozialismus, der sich mit

die auf ihr Ende zusteuert. In Traurige Tropen (1955) ist zu

einer Umverteilung der ,Wohltaten‘ der Wirtschaft begnügt

lesen: „Die Welt hat ohne den Menschen begonnen, und sie

hat, [ist es] vielleicht an der Zeit, einen Sozialismus zu erfinden,

wird ohne ihn enden.“ Skeptisch angesichts der durch den

der die Produktion als solche infrage stellt. Denn ungerecht

Menschen verursachten unwiderruflichen Veränderungen auf

geht es nicht nur bei der Umverteilung der Früchte des Fort-

der Erde, erscheint ihm dieser „selbst als eine Maschine […],

schritts zu, sondern auch in der Art und Weise, wie der Planet

die […] eine in höchstem Maße organisierte Materie in einen

fruchtbar gemacht wird. Das bedeutet nicht, dass wir uns be-

Zustand der Trägheit jagt, die immer größer und eines Tages

schneiden oder nur noch von Luft und Liebe leben, sondern

endgültig sein wird. Seitdem der Mensch begonnen hat, zu

dass wir lernen, jedes einzelne Segment dieses berüchtigten,

atmen und sich zu ernähren, seit der Entdeckung des Feuers

angeblich unumkehrbaren Systems auszusondern, jede einzelne

bis zur Erfindung atomarer und thermonuklearer Verrichtun-

der angeblich unverzichtbaren Verbindungen zu hinterfragen

gen, hat er […] nichts anderes getan, als unbekümmert Milli-

und Schritt für Schritt zu prüfen, was wünschenswert ist und

arden von Strukturen zu zerstören, um sie in einen Zustand

was nicht mehr.“18 Die suspendierende Dimension der Krise,

zu versetzen, in dem sie sich nicht mehr integrieren lassen.“

die ihn mitten im Corona-Lockdown zu diesen Gedanken

So kommt er zu dem Schluss: „Statt Anthropologie sollte es

animiert hat, ist bedenkenswert und kann Ansporn zu einer

,Entropologie‘ heißen, der Name einer Disziplin, die sich

Neujustierung sein. Es sei daran erinnert, dass Krisis ursprüng-

damit beschäftigt, den Prozeß der Desintegration in seinen

lich „Urteil“ bedeutete: der Vorgang oder das Vermögen, zu

ausgeprägtesten Erscheinungsformen zu untersuchen.“14

unterscheiden, Dinge zu trennen, eine Entscheidung zu treffen.

Seitdem hat diese Dynamik nichts als verheerende Folgen gezeitigt.

An Höhe gewinnen und landen

„Die Zukunft hat sich verdunkelt und ein neues Zeitalter ist

An Höhe gewinnen und einen Schritt zur Seite tun (wie

aufgetaucht, das schnell als Anthropozän bezeichnet wurde,

Benjamins Engel), ist essentiell, um den zerstörerischen

[…] in dem die menschliche Spezies zur wichtigsten Kraft ge-

Prozess zu erkennen. Nur unter dieser Bedingung können wir

worden ist: zu einer geologischen Kraft“, stellt François Hartog

Traumwelten erfinden und allen pessimistischen Visionen zum

fest. Und er fragt sich: „Was wird […] aus den alten Weisen,

Trotz „neue Welten“ errichten – wie die Erzengel von Paul

Chronos zu erfassen, welche neuen Strategien müssten for-

Scheerbart, die während der apokalyptischen Verlangsamung

muliert werden, um mit dieser unermesslichen und bedrohli-

der Erde ihre Rucksäcke öffnen und glitzernde Paläste hervor-

chen Zukunft fertig zu werden, während wir immer noch im

holen. Der erste Schritt besteht also darin, Abstand zu gewin-

mehr oder weniger straff geschnürten Korsett der flüchtigen

nen, um sehen und sichtbar machen zu können; der zweite,

und beengenden Zeit des von mir sogenannten Präsentismus

die bestehenden Dynamiken aufmerksam zu beobachten, um

stecken?“ – wir also im Wesentlichen in einer allmächtigen

entscheiden zu können, „was wünschenswert ist und was

Gegenwart leben, ohne historische Perspektiven und Zu-

nicht mehr“; und der letzte und schwierigste (man denke an

kunftsvisionen.16 Hartog schlägt daher vor, „die lange Dauer

die griechischen Tragödien, in denen jeder Versuch, richtig

wieder einzubeziehen in die Art und Weise, wie wir unsere

zu handeln, zum Scheitern verurteilt ist), den Kairos oder

Beziehung zur Welt und zu den anderen in Betracht ziehen,

rechten Augenblick zu ergreifen, den einzig möglichen Zeit-

eine lange Dauer, die die Perspektive des Fortschritts [...]

punkt, um noch rechtzeitig eine Gegendynamik zu erzeugen.

noch nicht in Beschlag genommen hat. Diese lange Dauer

Hier entfaltet der günstige Augenblick sein ganzes Potenzial

muss fast jeden Morgen neu geschaffen werden.“17

und ist das Verständnis des untrennbaren Trios Chronos,

Im selben Bemühen um eine Wiedereinführung der langen

Kairos und Krisis, wie Hartog dargelegt hat,19 entscheidend.

Dauer fordert uns Bruno Latour auf, die Produktion von Kon-

Denn nur wer ein Handeln als nie dagewesene, günstige,

sumgütern mit Blick auf den Schutz der Umwelt gründlich zu

einzigartige Gelegenheit begriffen hat, kann sich – nachdem

hinterfragen, einer Umwelt, die im Namen des Fortschritts –

die Gegenzeit als Gegenstrategie erkundet wurde – wieder in

den es ebenfalls neu zu definieren gilt – immer weiter zerstört

die Gegenwart – Chronos – begeben. Nach dem Umweg der

15

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Ein Fazit mit Aussicht

Anmerkungen Seite 176

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und sorgfältig prüft, „was wünschenswert ist und was nicht

Gegenzeit und der dadurch ermöglichten, für das Denken und Handeln notwendigen Verschiebung, ist eine Landung

20

mehr“,23 können wir die besten Narrative für die Zukunft

in der hiesigen Zeit und der hiesigen Welt (da es keine andere

bebauter Räume erfinden.

gibt) essentiell, will man dem Handeln Veränderungspotenzial

Angesichts der nie dagewesenen Herausforderungen kommen

zuschreiben.

der Architektur und der Stadtplanung eine wichtige Rolle zu,

Um angesichts der kommenden Krisen nicht dem Nihilismus

gilt es doch: die Nutzung, Herkunft und Wiederverwendung

zu verfallen, sollten wir einen analytischen und kritischen

der Ressourcen und Materialien, aber auch die Bauweisen zu

Blick auf historische und zeitgenössische Beispiele werfen

überdenken; eine Architektursprache auf der Grundlage lokaler,

und vor allem auf kreative Weise neue Strategien entwickeln,

biologisch und geologisch erneuerbarer Ressourcen wieder-

die Alternativen zur gegenwärtigen Dynamik aufzeigen. In

zufinden; die Frage des Bodenrechts, unsere Lebensweise,

dem Bestreben, eine neue Beziehung zu dieser Welt zu denken,

das Verhältnis zur Gemeinschaft, die Gestaltung der individu-

die sich unaufhaltsam und in rasendem Tempo verändert,

ellen und kollektiven Räume neu zu durchdenken; die Ener-

muss das Verhältnis zwischen Raum und Zeit grundlegend

gie- und Materialflüsse in ihrer intrinsischen Interdependenz

überdacht werden. Die Dynamik, der die Welt bis heute un-

und im Hinblick auf ihre perspektivische CO2-Neutralität zu

terliegt – der Sturm des Fortschritts, um das Bild aufzugrei-

bedenken; die Stadt-Land-Beziehungen neu zu gestalten;

fen, das der Engel der Geschichte von Walter Benjamin

Gegendynamiken zu entwickeln, um das exponentielle

verwendet –, hat uns unaufhaltsam in eine Zukunft getrieben,

Wachstum der Städte einzudämmen; unser Verhältnis zur

die in eine Katastrophe zu münden droht. Wir können ange-

Natur, zur Landschaft und zur Umwelt radikal zu infrage zu

sichts des Beschleunigungsprozesses, der eine zerstörerische

stellen und dafür die Beziehung des Menschen zu anderen

Dynamik angenommen hat, nicht passiv bleiben. Es tut not,

Lebewesen, menschlichen wie nichtmenschlichen, zu prüfen;

über die Zeitordnung und die Zeitlichkeiten nachzudenken,

die Entstehung eines Gefühls der Resonanz im ganzheitlichen

die den Lauf der Dinge bestimmen, um Gegendynamiken zu

Sinn zu fördern.

entwickeln, die resilienter und inklusiver sind, und Mittel und

Demnach hätten Architektinnen und Architekten die Aufgabe,

Wege zu erkunden, um in eine größere Resonanz mit der

die Trümmerberge, die der Sturm des Fortschritts hinterlassen

Welt zu treten.

hat, zu reparieren und Letzteren auf neue Horizonte auszu-

Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, dass neue

richten. Immer in dem Versuch, zu bestimmen, was dieser

Ideen, Projekte, Modelle und Fiktionen entstehen, denn „das

„Fortschritt“ ist – eine andere Form davon.

Ende aller Dinge“ ist ganz sicher nicht schon morgen zu erwarten! Statt in Panik zu geraten oder dem Nihilismus zu verfallen, fordert Pierre-Henri Castel uns auf, die Gegenwart und die nahe Zukunft zu nutzen, wie man sprichwörtlich den Tag pflückt. Erinnern wir uns an seine treffende Losung: „Es steht uns nicht mehr viel Zeit zur Verfügung, um glücklich zu sein. So präsentiert sich das Morgen oder Übermorgen als die einzige Gelegenheit, die uns bleibt, um zu verwirklichen, was uns am Herzen liegt.“21 Wir brauchen Visionen, und zwar solche, die dem Handeln förderlich sind. Wenn die Zeit ihren Flug unterbricht oder, wie Bruno Latour mitten im Lockdown gesagt hat, wenn „alles zum Erliegen kommt, dann kann alles infrage gestellt, in eine andere Richtung gelenkt, ausgesondert, sortiert, endgültig unterbrochen oder, im Gegenteil, beschleunigt werden“.22 Mit einer solchen Haltung, die das „berüchtigte, angeblich unumkehrbare System“ hinterfragt

Anmerkungen Seite 176

175

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 176

Anmerkungen

176

9 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen.

232020, Kap. XL „Besuch im Kyong“, 411.

Versuch einer symmetrischen Anthropologie,

15 François Hartog, Chronos – L’Occident aux

a. d. Französ. übers. von Gustav Roßler,

prises avec le Temps, Paris 2020, Umschlag-

1 Catherine Malabou, Le temps. Notions

Frankfurt a. M. 2008, 122: „[…], so sind die

Rückseite.

Philosophiques, Paris 1996, 7f.

Quasi-Objekte, denen die Modernen zur Aus-

16 Ebd.

2 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissen-

breitung verholfen haben, und so sollten wir

17 François Hartog, Confinés, déconfinés,

schaft, in: Kritische Studienausgabe (KSA) in

ihnen auch nachgehen, indem wir einfach

reconfinés: que faire de notre incertitude?,

15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino

wieder werden, was wir nie aufgehört haben

Radiosendung von France Culture: L’Invité(e)

Montinari, Neuausg., München 1999, KSA 3,

zu sein: nichtmodern.“

des Matins, Moderator: Frédéric Worms,

343–651, hier 621 (Hervorh. im Original).

10 Ebd., 120f.: „Von den Quasi-Objekten oder

28.9.2020, https://www.radiofrance.fr/france-

3 Filippo Tommaso Marinetti, Gründung und

Quasi-Subjekten werden wir einfach sagen,

culture/podcasts/l-invite-e-des-matins/confi

Manifest des Futurismus, in: Wolfgang Asholt/

daß sie Netze bilden oder bahnen. Sie sind

nes-deconfines-reconfines-que-faire-de-notre-

Walter Fähnders (Hg.), Manifeste und Prokla-

real, sehr real, und wir Menschen haben sie

incertitude-avec-francois-hartog-et-frederic-

mationen der europäischen Avantgarde

nicht gemacht. Aber sie sind kollektiv, denn sie

worms-5412638 (zuletzt aufgerufen am

(1909 –1938), Stuttgart/Weimar 1995, 3 – 7, hier

verbinden uns miteinander, weil sie durch

11.6.2023)

5 (Punkt 8), denn: „Wir leben bereits im Abso-

unsere Hände gehen und gerade durch ihre

18 Bruno Latour, Imaginer les gestes-barrières

luten, denn wir haben schon die ewige, allge-

Zirkulation unseren sozialen Zusammenhalt

contre le retour à la production d’avant-crise,

genwärtige Geschwindigkeit erschaffen.“

definieren. Dennoch sind sie diskursiv, erzählt,

in: AOC, 30.3.2020, online: http://www.bruno-

4 Stichwort „contretemps“ im Wörterbuch

historisch, leidenschaftlich und von Aktanten

latour.fr/fr/node/849 (zuletzt aufgerufen am

„Le Robert“:

mit autonomen Formen bevölkert. Sie sind

13.6.2023); dort findet sich auch eine deutsche

https://dictionnaire.lerobert.com/definition/co

instabil und riskant, existentiell und nie seins-

Übersetzung, aus der hier mit Änderungen

ntretemps (zuletzt aufgerufen am 14.4.2023).

vergessen.“

zitiert wird [A.d.Ü].

5 Siehe Musiklexikon online:

11 Filipe Pais, Julie Brugier und Olivain Porry,

19 Hartog 2020, 22–27.

https://musikwissenschaften.de/lexikon/v/ver

Manifeste du GOR (Groupe des objets révolu-

20 In Anlehnung an Bruno Latours Buch mit

zoegerung/ (zuletzt aufgerufen am 6.6.2023).

tionnaires), Punkt 1, in: Filipe Pais, Le retour

dem Titel Où atterrir? („Wo landen?“), das auf

Contretemps steht im Deutschen auch für

des objets, quasi-objets et super-objets, Vor-

Deutsch unter dem Titel Das terrestrische

„Kontrapunkt“ (lat. contrapunctus, von

trag, Cycle „Quasi Objets/Objecto Quase“,

Manifest erschienen ist.

punctus contra punctum, „Note gegen

20. März 2018 in der Fondation Calouste

21 Pierre-Henri Castel, Pollution, inondations,

Note“), wobei zu einer Melodie eine Gegen-

Gulbenkian, Paris: https://academia.edu/re

contaminations: comment vivre avec la peur?,

stimme hinzugefügt wird, die versetzt zum

source/work/40197907 (zuletzt aufgerufen am

Radiosendung von France Culture: L’Invité(e)

Rhythmus der Hauptstimme verläuft, auch

14.4.2023). Als Beispiel nennen sie auf der

des Matins, Moderator: Guillaume Erner,

„Synkope“ genannt (griech.): Zusammen-

Straße liegen gebliebene Gegenstände, die

28.10.2019: https://www.franceculture.fr/emis

ziehung der Taktglieder.

auf Überfluss und vorprogrammierte Obsoles-

sions/linvite-des-matins/pollution-inondations-

6 Rencontre avec José Saramago:

zenz hinweisen.

contaminations-comment-vivre-avec-la-peur

„Les romanciers font une sorte d’inventaire“,

12 „Handeln“ im Sinne Henri Bergsons, der

(zuletzt aufgerufen am 14. 4.2023).

in: Le Monde, 11.11.1988.

unterstrich: „Die Spekulation ist ein Luxus,

22 Latour 2020 (Übersetzung geändert

7 Vgl. Michel Serres, Genèse, Paris 1982, 198.

während das Handeln eine Notwendigkeit ist.“

[A.d.Ü]).

8 Vgl. Michel Serres, Éclaircissements: cinq

Vgl. Henri Bergson, L’Évolution créatrice

23 Ebd. (Übersetzung geändert [A.d.Ü]).

entretiens avec Bruno Latour, Paris 1992, 160.

(1907); dt. Schöpferische Evolution, neu a. d.

Serres führt den Ball als Beispiel an: „Einem

Französ. übers. von Margarethe Drewsen,

Quasi-Objekt gleich, ist der Ball das eigentliche

Hamburg 2013, 58.

Subjekt des Spiels; er funktioniert wie ein

13 Walter Benjamin, Über den Begriff der

Beziehungsmarker in dem fließenden Kollektiv

Geschichte (1940), in: Gesammelte Schriften,

um ihn herum. Dieselbe Analyse träfe auch auf

Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann

das Individuum zu.“ Diese Objekttypen seien

Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, Kap.

„weder natürlich noch menschengemacht“, so

IX, 697f. (Hervorh. im Original).

Latour mit Blick auf die globale Erwärmung,

14 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a. d.

die Ozonschicht usw. (ebd.).

Französ. übers. von Eva Moldenhauer, Berlin

Anmerkungen zu Seite 169 –175

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 177

Andere Zeiten, andere Räume

einführte, als er nach seinem Rückzug aus der Welt den Orden der Regularen gründete, war ein Machwerk des Widerstands angesichts der dunklen Stunden Italiens, zu einem Zeitpunkt, als sich in diesem Gebiet die Relikte des Römischen

Paolo Amaldi

Reichs mit dem Papsttum und den Ostrogoten überlagerten. Dieses Buch hat verdeutlicht, dass eine bessere Welt oft die-

Die Klöster entstanden also in einer Zeit, in der die Kriegs-

jenige ist, die als Gegenpol zur herrschenden Realität aufge-

truppen unentwegt wüteten. Die Städte wurden geplündert,

baut wird. Das 1516 von Thomas More verfasste Werk Utopia

die Felder nicht bestellt und die Menschen verhungerten in

fiel zwar mit der Entdeckung der Neuen Welt durch Christoph

Italien. In einer solchen Katastrophensituation rissen jegliche

Kolumbus zusammen, der das Gelobte Land erreicht zu

Bande, die die Gesellschaft zusammenhielten. Zu jener Zeit

haben meinte, dennoch war dieses Buch keine fantastische

hatte Benedikt eine stabile Gemeinschaft von Menschen aus

Darstellung eines unbekannten Landes, sondern vielmehr

unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten aufgebaut:

eine Erzählung, die versucht, eine bestimmte Vorstellung von

Barbaren aus dem Arianismus, Menschen aus gutem Hause,

Gesellschaft hervorzubringen; oder, um es mit André Lalandes

Arme und Außenseiter, die sich alle an die Regeln eines

Worten auszudrücken, „ein Bild, das in Form einer konkreten

strengen, aber nicht zwanghaften Gemeinschaftslebens

und detaillierten Beschreibung eine Idee darstellt“,1 die auf

hielten. Die Einführung dieses stillen und arbeitsamen Lebens

die schreienden Ungleichheiten im damaligen England ant-

in Montecassino diente dazu, Wälder zu roden, Mauern zu

wortete. More begann somit im ersten Kapitel ein erschrecken-

errichten, Flüsse zu begradigen und die umliegenden Ge-

des Bild der Gesellschaft seiner Zeit und ihrer Widersprüche zu

biete fruchtbar zu machen.4 Mitten im herrschenden Chaos

skizzieren, während er im darauffolgenden Kapitel, das die

bauten die Klöster langsam und allmählich – man könnte

räumlichen und zeitlichen Dispositive erläutert, die Realität

sagen fast lautlos – zerstörte Gebiete wieder auf und struktu-

vollkommen auf den Kopf stellt. Utopia ist eine Enklave, die

rierten sie neu, wobei sie gleichzeitig das schriftliche und

sich in jeder Hinsicht der Gesellschaftsordnung ihrer Zeit

mündliche Erbe der bedrohten lateinischen Sprache aufrecht-

widersetzt und daher „eine Art Fremdkörper innerhalb des

erhielten. Angesichts des Aufruhrs der Außenwelt schuf

Sozialen“ ist, dessen Werte sie umkehrt. So schrieb More

Benedikt wohlgeordnete Räume und Lebensformen, geprägt

den glücklichen Bewohner:innen seiner Städte ein geregeltes

von repetitiven Ritualen, die die Erinnerung wahrten.

Leben zu, wie in einem Kloster mit immer wiederkehrenden

Diese Beschreibung des klösterlichen Lebens zeigt auf, dass

Ritualen und identischen Tagesabläufen – und das zu einer

der Akt des Bauens, der von bestimmten Idealen oder einem

Zeit, als Heinrich VIII. beschloss, eben diese Institutionen zu

Prinzip der Hoffnung getragen wird, oft auf einer zeitlichen

zerstören und ihre Schätze zu plündern. Gemäß Max Weber

und räumlichen Gegenwelt zur Realität beruht.

2

strukturierten diese gemeinschaftlichen Orte nicht nur die Arbeit, sondern vor allem auch die Zeit. Das Klosterleben

Im weiteren Sinne besteht die These von Susanne Stacher in

wickelt den Tagesablauf in geordneter Weise ab, ohne jegli-

der Aussage, dass Architektur in Krisenzeiten nicht als bloßer

chen Unterbruch oder unvorhergesehene Ereignisse, und

Ausdruck des Widerstands gewisser tiefliegender Gesell-

verräumlicht gleichzeitig diese Aufteilung in einer zirkulären

schaftsstrukturen gegen das Chaos verstanden werden kann,

Form. Bis zur gregorianischen Reform war der territoriale

sondern vielmehr als ein bewusstes Projekt, das darauf

Einfluss so mancher Mönchsgemeinschaften dermaßen stark,

abzielt, der als erratisch und sinnlos empfundenen Realität

dass sie als regelrechte Schutzzonen dienten, die sich der

durch die Errichtung einer strukturierenden Neuordnung

Autorität der Bischöfe entzogen.

entgegenzuwirken. Wir sprechen hier also von aktiven und

3

Bekanntlich hat sich dieses Lebensmodell angesichts der

engagierten Reaktionen auf Ereignisse, die als sinnlos wahr-

chaotischen Ereignisse, die das Hochmittelalter geprägt

genommen werden, als „Katastrophe“ – im Sinne René Thoms

hatten, gefestigt und seine Daseinsberechtigung gefunden.

–, nämlich als Ausdruck der Instabilität eines Systems.5

Die Regula Benedicti, die Benedikt von Nursia im 6. Jahrhundert

Zu den chaotischen Perioden ferner Epochen hat die Moderne,

Anmerkungen Seite 180

Andere Zeiten, andere Räume

177

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 178

deren Beginn im 18. Jahrhundert anzusiedeln ist, ein ausge-

Augen, die Thomas Carlyle zu der entsetzten Bemerkung in-

prägtes Bewusstsein für die Beschleunigung der sich die im

spiriert hatten: „Wer will behaupten, dass nicht das Ende von

Gange befindlichen Prozesse hinzugefügt. Reinhart Koselleck

Vielem [der Welt] gekommen ist?“12  Die Französische Revo-

umreißt die Konturen dieses Bewusstseins einer historischen

lution war aber, trotz des apokalyptischen Anscheins, die

und sozialen Beschleunigung, die nicht zuletzt an das Motiv

Durchsetzung der Thesen der Aufklärung, die mit der zusam-

der Katastrophe in Hubert Roberts Gemälden erinnert. Dieser

menbrechenden alten Ordnung kollidierten. Man kann also

stellte Monumente und Bauwerke, die seinerzeit im Zuge der

sagen, dass die Beschleunigung durch den Fortschritt, den

Umgestaltung der Stadt Paris zerstört wurden, in Trümmern

die Philosophen der Aufklärung zum Hebel der Moderne

dar und malte sich dabei sogar die zukünftigen Ruinen der

gemacht hatten, auf spektakuläre Weise einen Höhepunkt in

Galerie des Louvre aus. Peter Conrad stellt fest, dass es „in

diesen revolutionären Ereignissen erreichte, die zuallererst

der Moderne [...] um die Beschleunigung der Zeit [geht]“8 –

das Recht, die Religion, die Wirtschaft und die Sitten um-

ein Phänomen, das Nietzsche mit einer neuen Form der Bar-

gekrempelt hatten.13 Michaël Fœssel zeigt in Nach dem Ende

barei assoziierte: „Bei der ungeheuren Beschleunigung des

der Welt. Kritik der apokalyptischen Vernunft,14 wie dieser

Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches

Stillstand der Zeit, den Kant hinter der Hektik der revolutio-

Sehen und Urtheilen gewöhnt. [...] Diese Bewegtheit wird so

nären Ereignisse wähnte, mit der Bekräftigung des Absoluten

groß, dass die höhere Kultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen

zusammenfiel – den Prinzipien der Aufklärung und der

kann. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine

Befreiung der Vernunft von jeglicher Begrenzung durch das

neue Barbarei aus.“9

Sinnliche.

Die Auswirkungen dieser Beschleunigung sind heutzutage

Der Wendepunkt ist also der das „Ende der [Sinnenwelt]“

besorgniserregend. Wir stehen vor einer Endzeit, die von

und den „Anfang der [intelligiblen Welt]“15 darstellt. Interes-

Wissenschaftlern aller Couleur angekündigt wird, die uns vor

santerweise nimmt dieser Austritt aus der Zeit im Text des

der Sinnlosigkeit des Konsumwahns und seines ökologischen

Philosophen die Form einer Versteinerung, eines Stillstands

Fußabdrucks warnen. Der Fortschritt wirkt also paradoxer-

an. Die von Kant verwendete Metapher ist jedoch sehr auf-

weise als Akzelerator für klimatische und soziale Krisen

schlussreich, und es ist wichtig, sich mit ihr näher zu befas-

und weckt in uns ein Gefühl der „Dringlichkeit“ (urgence) –

sen. Denn in diesem Augenblick beginnt etwas Neues, das

ein Begriff, der zum ersten Mal 1798 nach dem Sturz des

allerdings keine zeitliche Nachfolge einläutet, da es nicht von

royalistischen Regimes im Wörterbuch der Académie

Dauer ist. „Die Bewohner der anderen Welt [...] werden

française auftaucht.10

daher so vorgestellt, wie sie [...] immer dasselbe Lied, ihr Hal-

In seinem nach der Französischen Revolution verfassten

lelujah, anstimmen“,16 dem 10. Buch der Offenbarung fol-

Essay Das Ende aller Dinge11 versuchte Immanuel Kant, sich

gend. Diese Kreislaufhaftigkeit, die Kant als Ausdruck des

dieses Ende in hypothetischer Weise vorzustellen, d. h. sich

„gänzliche[n] Mangel[s] alles Wechsels in ihrem Zustande“17

eine Welt auszumalen, in die wir stürzen würden, wenn ein

definiert, lässt uns in ein neues Bezugssystem eintreten, eine

„Ende aller Zeiten“ eingetreten wäre. Er zitierte eine Passage

Art in Schwebe befindlicher Gegenwart. Diese Tendenz zum

aus dem Buch der Offenbarung, in der ein Engel, der „auf

Stillstand wäre sozusagen der Fluchtpunkt der Beschleuni-

dem Meer und auf der Erde steht“ und seine rechte Hand

gung, die mit der Emanzipation des Menschen von einem

zum Himmel erhebt, „und zu dem schwört, der in alle Ewig-

Glauben an das Jenseits beginnt.

keit lebt [...]: Von nun an wird es keine Zeit mehr geben“.

Als der Historiker Emil Kaufmann im Jahr 1933, also inmitten

Wie Susanne Stacher betont, möchte uns Kant darauf auf-

des aufkommenden Nationalsozialismus, die Architektur von

merksam machen, dass die Apokalypse weniger das Ende

Claude-Nicolas Ledoux wiederentdeckte, assoziierte er sie

der Welt und deren Untergang bezeichnet, sondern vielmehr

mit dem Ausdruck einer tektonischen Kraft, die Moral, Vernunft

ihren Neuanfang, ihre Neuinitialisierung.

und konstruktive Authentizität vereint. Die „revolutionäre

In diesem Essay, der seinen drei Kritiken folgte, hatte der

Architektur“, die der österreichische Historiker in seinem

deutsche Philosoph zweifellos die Massaker des Terrors vor

Pamphlet Von Ledoux bis Le Corbusier, Ursprung und

6

7

178

Paolo Amaldi

Anmerkungen Seite 180

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 179

Entwicklung der autonomen Architektur bis ins kleinste Detail

Trägheit, kurz gesagt als „Epiphänomene“ der „Petrifizierung“23

beschreibt, geht von folgender Beobachtung aus: „Kant ähn-

wirken, die manchmal mit einer zurückhaltenden und abwar-

lich war auch Ledoux tief davon durchdrungen, dass die

tenden Haltung gegenüber der Gesellschaft zusammenfallen.

neuen Gedanken Umsturz bedeuten.“ Kaufmann sprach

Seit dem Aufkommen der Globalisierung erleben wir somit

von einer neuen Ära der Architektur der Vernunft, die das

eine Renaissance der politischen Räume der „Enclosures“

Ende der barocken

und der „Commons“.24 In Frankreich nehmen die „Territoires

Besessenheit markiert, die sich auszeichnet durch die Anei-

en lutte“ (von der lokalen Bevölkerung besetzte Gebiete, die

nanderreihung von Einzelteilen, durch den Anthropomorphis-

sich gegen öffentliche, als „nutzlos“ erachtete Großprojekte

mus der Architektur, durch plastischen Zusammenhalt, durch

wehren) die Form von ephemeren Bauten und Aktivitäten an,

die Prinzipien der Hierarchie und der Inszenierung. Wenn er

die, weit entfernt von jeder überhöhten utopischen Zielset-

das Ende der „Heteronomie“ in der Architektur preist, dann

zung, versuchen, den Alltag wieder zu verzaubern.

18

ist es um das Aufkommen der Individualität der Komponenten hervorzuheben, anknüpfend an das Bild des „guten Wilden“ von Rousseau, der zwar isoliert aber dennoch mit einem großen Ganzen verbunden ist: „In bemerkenswerter Parallele zur allgemein-geschichtlichen Entwicklung tritt an Stelle des Verbandes das Pavillonsystem, das von da ab herrschend wurde – die freie Vereinigung selbständiger Existenzen.“19 Will man diese puristische Tendenz, die Kaufmanns Buch durchdringt und in der Architektur von Claude-Nicolas Ledoux, Jean-Nicolas-Louis Durand oder Louis-Ambroise Dubut zum Ausdruck kommt, charakterisieren, dann ist es das Ende jeglicher Fortschrittlichkeit in der architektonischen Erfahrung zugunsten einer Unbeweglichkeit, aber auch zugunsten einer Form der Stille, die zum Beispiel den Entwurf des „Hauses des Friedens“ von Ledoux kennzeichnet, deren Kubus als „Symbol der Gerechtigkeit und Beständigkeit“20 verstanden werden kann. Wie Ledoux betonte, „ermüdet alles, was nicht unentbehrlich ist, die Augen und schadet dem Denken“.21 Diese revolutionäre Architektur versteht sich somit als metaphysische Antwort, die die Zeit aufhebt, indem sie die Vorherrschaft der Vernunft über die Empfindung und die Wahrnehmung zur Schau stellt. Eine Entkörperlichung, die dem Pathos keinen Raum lässt und die mechanistische Architektur des frühen 20. Jahrhunderts einleitet. Zwischen der ad infinitum skandierten Zeit des klösterlichen Raums und der entschleunigten Zeit, bis sie schließlich in einer „fulminanten Immobilität“22 (um den Begriff von Paul Virilio zu verwenden) erstarrt, spielen sich in den Dispositiven der Moderne verschiedene Widerstandsformen der Architektur ab. Wie Hartmut Rosa bemerkt und wie dieses Buch aufzeigt, können sie als Kräfte der Entschleunigung, der Bremsung, der

Anmerkungen Seite 180

Paolo Amaldi Professor an der École nationale supérieure d’architecture Paris-Val de Seine Übersetzung: Susanne Stacher

Andere Zeiten, andere Räume

179

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 180

Anmerkungen

vor der Französischen Revolution: „Alles ist Revolution in dieser Welt” (tout est révolution dans ce monde). Siehe: Louis Sébastien

1 André Lalande, „Utopie“ in: Vocabulaire

Mercier, L’An 2440. Rêve s’il en fut jamais,

technique et critique de la philosophie, PUF,

London 1772, 328.

1997, Bd. 2, 1179.

14 Michael Foessel, Nach dem Ende der Welt.

2 Fredric Jameson, Archéologie du futur, le

Kritik der apokalyptischen Vernunft, a. d.

désir nommé utopie (2005), Max Milo Editions,

Französ. von Brita Pohl, Wien/Berlin 2019.

Paris 2007, 47.

15 Kant 1923, 333.

3 Florian Mazel, L’évêque et le territoire,

16 Kant 1923, 334f.

l’invention médiévale de l’espace, Editions du

17 Kant 1923, 335.

Seuil, Paris 2016, 227f.

18 Emil Kaufmann, Von Ledoux bis Le Corbusier,

4 Jean Décarreaux, Les moines et la civilisation,

Ursprung und Entwicklung der autonomen

Artaud, Paris, 1962, 206–230 (Die Mönche und

Architektur (1933), Stuttgart 1985, 12.

die abendländische Zivilisation (1962),

19 Ebd., 16.

Wiesbaden 1964).

20 Ebd., 32.

5 René Thom, Stabilité structurelle et morpho-

21 Claude-Nicolas Ledoux, L’Architecture

génèse, Interédition, Paris 1977.

considérée sous le rapport de l'art, des

6 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft:

moeurs et de la législation, 1804, 70.

Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin

22 Paul Virilio, L’inertie polaire, Paris 1990.

1989 (12. Aufl. 2022).

23 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Verän-

7 André Corboz, Peinture militante et archi-

derung der Zeitstrukturen in der Moderne,

tecture révolutionnaire, A propos du thème du

Frankfurt/Berlin 2005.

tunnel chez Hubert Robert, Birkhäuser, Basel

24 Naomi Klein, Reclaiming the Commons, in:

1978, 44f.

The Left Review, 9, Mai – Juni 2001.

8 Peter Conrad, Modern Times and Modern Places. How Life and Art were Transformed in a Century of Revolution, Alfred A. Knopf, New York 1999, 9. 9 Friedrich Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches, Leipzig 1886, Bd. 1, § 282. „Klagelied“, 255 und § 285. „Die moderne Unruhe“, 257. 10 Wörterbuch der Académie française, 5. Aufl., Paris, 1798, Bd. 2, 708: „Eigenschaft des Dringlichen. Erwartete Dringlichkeit eines Falles. Dringlichkeit eines Bedürfnisses. Man hat den Zustand einer Notsituation, einer Dringlichkeit erklärt, d. h., es ist der Augenblick gekommen, etwas anzuordnen.“ 11 Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge (1794), in: Kant’s gesammelte Schriften, Berlin 1923, Bd. 8, 325 –339. 12 Thomas Carlyle, Die Französische Revolution (1837), a. d. Englischen von P. Feddersen, Bd. 2, Leipzig 1889, Kap. 5 „Könige und Emigranten“. 13 Louis Sébastien Mercier schrieb 15 Jahre

180

Anmerkungen zu Seite 177–179

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 181

Angesichts eines „Endes aller Zeiten“

schwellige Zeitlichkeit, die als axiomatisch angesehen wurde.

Dialektik zwischen der kurzen Zeit der Technik und den

die zunächst geltend gemacht und schließlich implizit wurde.

langen Zyklen der Natur

Kant hatte den nicht-begrifflichen Status der Zeit dargelegt –

Die Begriffe Renaissance, Moderne oder Postmoderne verweisen auf die Verankerung in einer ursprünglichen Zeitlichkeit,

„eine reine Anschauungsform“ –, die er als ontologische Philippe Potié

ästhetische Gegebenheit klassifizierte. Was aber geschieht, wenn sich diese auflöst? Susanne Stacher stellt in ihrer Arbeit

Susanne Stachers Buch entsteht in einer Zeit, in der sich ein

die Perspektive der Überwindung der „Krise“ ins Zentrum,

tiefgreifender Wandel in der architektonischen Kultur vollzieht.

um die Werkzeuge einer „Wiederverzauberung“ zu schmieden,

Als Verantwortlicher für den Geschichtsunterricht an der École

die für den Akt des Entwerfens notwendig ist.

nationale supérieure d’architecture de Versailles konnte ich

Architektur als Ausdruck einer Zeitlichkeit und nicht nur als

den plötzlichen Zusammenbruch eines Sockels von Referen-

Ausdruck einer Räumlichkeit zu verstehen, ist nicht einfach.

zen feststellen, die ich für unumstößlich betrachtet hatte.

Die erste Tatsache, die sich bei der Betrachtung der aktuellen

Es scheint, als ob das Korpus, das sich seit der Renaissance

Situation aufdrängt, ist der Wandel, den das „ökologische“

langsam sedimentiert hatte und die wichtigsten Werke

Denken herbeiführt, welches eine weitaus größere Zeitlichkeit

des Abendlandes – von Brunelleschi bis Le Corbusier – in

eröffnet. Aus der säkularen Zeit, die die zivilisatorische Zeit

einer Gesamtheit vereinte, plötzlich seine Beständigkeit

einer neu interpretierten Antike und einer avantgardistischen

verloren hat.

Moderne war, wird eine millenaristische Zeit, die von der

Aufgrund der ökologischen Krise hat sich das Interesse vom

Natur geprägt ist. Von einer prometheischen Vision kehren

Gebäude auf dessen Kontext verlagert. So hat gewissermaßen

wir zur Landschaft zurück, die von Gaia und Persephone

die Geografie die Geschichte verdrängt, und die Landschaft

gezeichnet ist. Susanne Stachers Perspektive entfaltet sich

das Gebäude, was den Historiker etwas ratlos zurücklässt.

in dieser Zeitlichkeit, von der sie einige der Meilensteine be-

Wir sind heutzutage Zeugen einer Veränderung der „Ordnun-

schreibt, die es ermöglichen, ihren Widerhall zu erfassen. Die

gen der Geschichtlichkeit“, um den von François Hartog

Kapitel ihres Buches bieten unumgängliche Orientierungs-

geprägten Begriff aufzugreifen, wodurch so manche Gewiss-

punkte auf dem Weg zur Rekonstruktion einer notwendigen

heiten infrage gestellt werden. Dazu gehört auch die des

Fiktion, einer erlösenden Utopie.

architektonischen Entwurfs. Es ist in der Tat schwierig, sich in etwas hineinzuprojizieren, wenn die Geschichte, auf die sich

Ich möchte einen letzten Markierungspunkt hinzufügen. Mir

unsere Gewissheiten stützen, entschwindet. Zum großen

scheint es nützlich zu sein, die kurze Zeit der Technik und die

Erstaunen der Geschichtsprofessoren gesellt sich die Klage

langen Zyklen der Natur neu in ein dialektisches Verhältnis zu

derjenigen, die für den Projektunterricht verantwortlich sind,

setzen. Wenn man auf die Lehre von Claude Lévi-Strauss und

denn sie stehen entwaffnet vor einer Generation, die im

das Fundamentalpaar Natur/Kultur zurückgreift, kann man

Bauen einen Ökozid sieht, dessen Symbol der Beton und die

tatsächlich in unserem architektonischen Erbe dualistische

Rückkehr zu Lehm und Holz die rettenden Ikonen sind.

Mechanismen wiederentdecken, die immer noch gültig sind.

Diese tiefgreifende Wandlung fordert dazu auf, unsere kultu-

Bei näherer Betrachtung unserer Geschichte wurden die langen

relle Basis drastisch zu überdenken und nach dem schwächsten

naturalistischen Zeiten nie ganz verdrängt. Oden an die Natur

Glied im System zu suchen. In Anlehnung an die Arbeit von

punktieren auf leisen Sohlen die Fortschritte der Architektur;

Susanne Stacher werde ich die Hypothese aufgreifen, dass

insbesondere sind es Dekorationen und Gärten, die diesen

wir unser Fachgebiet in Bezug auf die Zeit hinterfragen müssen.

Dialog untermalen. Die Epochen, die der prometheischen

Ich gehöre zu einer Generation, für die Architektur eine Wis-

Rationalität radikal den Vorzug geben, sind jedoch nicht sehr

senschaft der Räumlichkeit war, die man in all ihren Aspekten

zahlreich. Der französische Klassizismus, der den Garten

deklinierte. Das Primat des Raumes verdeckte eine unter-

seinen strengen Regeln unterwarf, markiert einen Höhepunkt.

Angesichts eines „Endes aller Zeiten“

181

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 182

Aber offensichtlich ist der Dualismus mit den naturalistischen

Konflikt zwischen Kontemplation und Aktion, Natur und Kultur,

Zeiten am wenigsten vernehmbar in der ersten asketischen

langer zyklischer Zeit des Lebendigen und kurzer Zeit der

Moderne, die jegliches Dekor verbannte. Gabriel Guevrekians

technischen Effizienz. Erstaunlicherweise, dank eines inneren

kubistischer Garten (1925) der Villa Noailles von Robert

psychischen Mechanismus, verbindet das Denken diese

Mallet-Stevens symbolisiert diese prometheische Vorherrschaft

ideellen Gegensätze dann mit ästhetischen Ausdrucksformen,

über die Natur.

die Farbe/Weiß, Kurve/Gerade, Ornament/Glattflächigkeit,

Aber diese Momente bleiben ziemlich begrenzt, im Gegenzug

Variation/Einheit usw. miteinander vereinen.

kann man sogar eine naturalistische Präsenz in einem der em-

Will man diese Hypothese aufgreifen, lassen sich viele der

blematischsten Werke des freien Plans finden. Mies van der

offen gebliebenen Paradoxa ansatzweise klären. So wird ver-

Rohes Barcelona-Pavillon, dessen aufgelöste Wände aneinander

ständlich, wie nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs die

vorbeizugleiten scheinen, stellt seine Abstraktion in einem

puristischen und optimistischen Akzente von Le Corbusier

kraftvollen Dialog mit einer Materialität zur Schau, wobei die

aus den 1920er Jahren dem Expressionismus von Ronchamp

zentrale Wand aus orangefarbenem Onyx eine tektonische

wichen. Auf ähnliche Weise wird der Dualismus in Le Corbusiers

Verwurzelung geltend macht. Die Zeitlichkeit der Erde, die in

meisterhafter Architektur des Klosters La Tourette deutlich,

der Maserung des Steins in Erscheinung tritt, bildet einen

wo der brutalistische Block der Kirche mit der gebogenen

Rahmen für die Andeutung der zyklischen Rhythmen des

Wand der Kapelle kontrastiert, während die standardisierten

Lebendigen, während die Statue Morgen von Georg Kolbe

Zellen auf der Hauptfassade des Gebäudes den Takt zu

den Blick einfängt.

schlagen scheinen, um die von Xenakis komponierten melo-

Ich war zweifellos von der rationalistischen Überinterpretation,

dischen Linien der Stützen zur Geltung zu bringen.

die in gewissen Kreisen der Architekturgeschichte üblich war, geblendet, so dass ich die Onyx-Wand nicht als naturalistische

Angesichts des Katastrophismus einer angekündigten

Präsenz sah (die in der Tat von ihrem Autor selbst kaum geltend

Apokalypse besteht die Verantwortung des Architekten darin,

gemacht wurde). Die Kritik, die zu sehr an einem einheitlichen

die „Enthüllung“ von „Projekt-Figuren“ vorzunehmen, deren

Denken festhält, hat es nie geschafft, diesen fast omnipräsenten

erste Umrisse Susanne Stacher skizziert und die, wie ich

ästhetischen Dualismus zu erfassen. Das Werk von Adolf Loos

glaube, in einer ästhetischen Dialektik dekliniert werden, die

ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, bei dem das radikal

die farbige Kurve mit dem Weiß der Linie konfrontiert.

strenge, weiße Äußere der Villen im Gegensatz zu den sinnlichen, haptischen und farbigen Innenräumen steht. Ich vermute, dass die langen Zyklen des Lebendigen, die einen kontemplativen Blick begünstigen, systematisch durch Farben, Kurven und Sinnlichkeit der Materialien zum Ausdruck kommen. Umgekehrt zeichnet die Rationalität, die der effizienten Zeit des Handelns und Projektierens eigen ist, automatisch Linien und Winkel auf weißem Hintergrund, egal in welcher Epoche. Der Ansatz von Kasimir Malewitsch und seiner Architektone ist beispielhaft für die Suche nach einer geläuterten rationalistischen Formensprache. Spiegelbildlich dazu bildet die Sternwarte von Erich Mendelsohn (Einsteinturm) mit ihren kurvigen Wölbungen ein gegensätzliches Narrativ, nämlich das eines Ausbruchs aus magmatischer Tiefe. Expressionismus und Modernismus stehen einander gegenüber und ergänzen sich letztendlich, um das unauslöschliche Schicksal menschlichen Denkens darzustellen, gefangen in einem ontologischen

182

Philippe Potié

Philippe Potié, Professor emeritus an der École nationale supérieure d’architecture de Versailles Übersetzung: Susanne Stacher

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Anhang

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Abbildungsverzeichnis

45 Johann Adam Meisenbach, Der Tanzkreis des Choreografen Rudolf von Laban auf den Monte Verità, um 1914, Fotografie, Archiv Monte

184

Angaben nach Seitenzahlen

Verità.

Hinweis auf die Platzierung der Abbildung mit folgendem Zeichen:

47 Bernard Rudofsky, „Bewegliche Architektur in Vietnam“, aus:

^ oben | < links | > rechts | v unten

Architektur ohne Architekten, Abb. 142, o. S.

6 Giorgio de Chirico, Die Eroberung des Philosophen, 1913/1914, Öl

welche die Deformation der Füße durch das Tragen spitzer Schuhe

auf Leinwand, Art Institute of Chicago, Reference Number 1939.405,

demonstrieren, aus: Are Clothes Modern?, Chicago 1947, S. 74.

© 2018 Artists Rights Society (ARS), New York/SIAE, Rome.

49 Bernard Rudofsky, Bernardo, Plakat, 1944, Privatsammlung, Rechte

34 Charles de Wailly, Projekt für die Umgestaltung des Pantheons

vorbehalten

in eine Pyramide, Paris, um 1797, Perspektive, Feder und Tinte, lavierte

50 Hans Hollein, Überbauung Wien, 1960, Fotomontage, Sammlung

Tinte mit Spuren von Graphit auf Papier, auf Karton montiert, 24,4 ×

Centre Pompidou, Paris, © Archiv Hans Hollein.

19,8 cm, Sammlung Canadian Centre for Architecture, Montréal,

52 Hans Hollein, Werk und Verhalten, Leben und Tod, Podium mit To-

Schenkung von Frau Marjorie Bronfman, Nr. DR1995:0061.

tenbahre und Mumie, Biennale von Venedig, 1972, © Archiv Hans Hol-

37 Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus, um 1484/1485, Tempera

lein.

auf Leinwand, 172 × 278 cm, Uffizien, Florenz, WMC.

53 Hans Hollein, Werk und Verhalten, Leben und Tod, Kultischer Renn-

38 ^ Luciano Laurana (vormals zugeschrieben), Idealstadt, um

wagen und Badezimmer, Biennale von Venedig, 1972, © Archiv Hans

48 Bernard Rudofsky, Symmetrischer Schuh und Fuß, Gipsabgüsse,

1480 –1490, Öl auf Holztafel, 68 × 235 cm, Galleria Nazionale delle

Hollein.

Marche, Urbino, WMC.

54 Hans Hollein, Doppelseite aus: Hollein/Pichler: Architektur,

38 v Architekten Legrand und Molinos, Entwurf für einen Nationalzirkus

Ausst.-Kat. Galerie nächst St. Stephan, Wien 1963.

auf der Place des Invalides in Paris, 1791, aus: Werner Szambien, Les

56 Junya Ishigami, Projekt für acht Ferienhäuser in Dali (China),

projets de l’an II, Paris 1986, S. 66.

Modell, Ausstellung Freeing Architecture, Fondation Cartier, Paris,

39 Architekt Sobre, Entwurf eines Denkmals für die Place des Victoires

2018, Foto © Susanne Stacher.

in Paris mit Hieroglyphen und Elefanten, Wettbewerbsentwurf, 1793,

57 Junya Ishigami, House & Restaurant, Yamaguchi, Japan, 2019,

aus: Werner Szambien, Les projets de l’an II, Paris 1986, S. 80.

© Yashiro Photo Office.

40 ^ < Leo von Klenze nach Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-

58 Junya Ishigami, House & Restaurant, Yamaguchi, Japan, 2019,

Thomas Thibault, Temple à l’Égalité, 1793, Perspektive, Staatliche Gra-

© Yashiro Photo Office.

phische Sammlung München, Nr. AKG1642431, aus: Werner Szambien,

62 Emil Krause, Hugo Mayer (nach dem Lageplan von Adolf Loos),

J-N-L Durand, Paris 1984, S. 86.

Siedlerarbeit, Siedlung Rosenhügel, 1921, Fotograf: Josef Derbolav

40 ^ > Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault, Temple

Machovsky, © Wien Museum, Nr. 55113, Birgit und Peter Kainz.

à l’Égalité, 1793, Grundriss, Beaux-Arts Paris, aus: Werner Szambien,

65 Paul Klee, Angelus Novus, 1920, aquarellierte Zeichnung aus Tusche

J-N-L Durand, Paris 1984, S. 87.

und Ölkreide auf vergilbter Radierung eines Luther-Porträts aus dem

40 v Jean-Nicolas-Louis Durand, „Combinaisons horisontales, de Co-

19. Jh., Israel Museum, Jerusalem, WMC.

lonnes, de Pilastres, de Murs, de Portes et de Croisées“, 1802, Tafel 2,

66 < Ebenezer Howard, „Die drei Magneten“, Diagramm der Vor- und

aus: Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique,

Nachteile von der Stadt, dem Landleben und der „Stadt in der Land-

Bd. 1, 2. Teil, Paris 1802, o.S.

schaft“, aus: Tomorrow – A peaceful Path to Real Reform, 1898, Abb. 1,

41 Jacques-Louis David, Der Schwur der Horatier, 1784, Öl auf

S. 9.

Leinwand, 330 x 425 cm, Musée du Louvre, Paris, WMC.

66 Mitte Ebenezer Howard, „Social Cities“, Vernetzung der Gartenstadt,

42 Jacques-Louis David, Die Sabinerinnen, 1799, Öl auf Leinwand,

aus: Tomorrow – A peaceful Path to Real Reform, 1898, Abb. 7, S. 130.

385 × 522 cm, Musée du Louvre, Paris, WMC.

66 > Ebenezer Howard, „Garden-City“, Diagramm der Gartenstadt

43 Jacques-Louis David, Madame Récamier, 1800, Öl auf Leinwand,

und dem umgebenden Agrarland, aus: Tomorrow – A peaceful Path to

174 × 224 cm, Musée du Louvre, Paris, WMC.

Real Reform, 1898, Abb. 2, S. 12.

44 ^ Jean-Léon Gérôme, Bonaparte vor der Sphinx, 1867/1868, Öl auf

67 Ebenezer Howard, „Ward and Centre Garden-City“, Ausschnitt des

Leinwand, 61 × 103 cm, Hearst Castle, San Simeon (USA), WMC.

Planes der Gartenstadt, aus: Tomorrow – A peaceful Path to Real Reform,

44 v Stuhl im ägyptischen Directoire-Stil, 1799/1800, Mahagoni,

1898, Abb. 3, S. 14.

Maison Jacob Frères, großes Zimmer im Doppelapartment des Prinzen,

70 < und > Emil Krause, Hugo Mayer (nach dem Lageplan von Adolf

Château de Compiègne, Réunion des Musées Nationaux-Grand Palais,

Loos), Siedlung Rosenhügel, Kleintierhof, Mai 1924, Fotograf: Josef

C.81D7.

Derbolav Machovsky, Wien Museum, Nr. 55124, Birgit und Peter Kainz.

Anhang

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 185

Emil Krause, Hugo Mayer (nach dem Lageplan von Adolf Loos), Sied-

89 Bruno Taut, Blatt 10: „Schnee Gletscher Glas“, aus: Alpine Architektur,

lung Rosenhügel, Siedlerfrauenarbeit, 1921, Fotograf: Josef

1919.

Derbolav Machovsky, Wien Museum, Nr. 55109, Birgit und Peter Kainz.

90 Bruno Taut, Hufeisensiedlung in Britz, 1927, Luftaufnahme, 2017,

71 ^ Adolf Loos, „Selbst-Versorger“: Schema für die Erschließung von

Quelle: A. Savin, WMC.

Kleinsiedlungen, 1918, Albertina, Nr. ALA17.

98 Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, 1975, Paris, Fotograf: Harry

71 v Adolf Loos, Plan einer Ecktype, 1918, Albertina, Nr. ALA409.

Gruyaert, © Magnum Photo, picturedesk.com, 19750615_PD0680.

72 Adolf Loos, Bauart „Haus mit einer Mauer“, 11. Februar 1921,

103 Antonio Sant’Elia, Elektrizitätswerk (aus der Serie „La Città Nuova“),

Albertina, Nr. ALA702.

1914, schwarze Tusche und Gouache auf Papier, 20,5 × 31 cm, Privat-

73 Hannes Meyer, Postkarte „Herzliche Glückwünsche aus dem

sammlung, Mailand, WMC.

Freidorf“, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.

105 Antonio Sant’Elia, Bahnhof für Flugzeuge und Eisenbahnen mit

74 Siedlung Freidorf, Karneval im Freidorf, undatiert, Fotograf unbe-

Seilbahnen und Außenliften auf drei Straßenebenen, 1914, Perspektiv-

kannt, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.

ansicht, schwarze Tusche auf Papier, 39 × 50 cm, Musei Civici di Como,

75 Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Lageplan, Staatsarchiv des Kantons

Palazzo Volpi, WMC.

Basel-Landschaft, PA 6438.

107 Le Corbusier, Plan Voisin von Paris, 1925, Modellfoto, Fotograf

76 ^ Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Vorschläge zur Gestaltung des

unbekannt, © FLC L2(14)52.

Siedlergärten, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.

108 < Le Corbusier, Plan Voisin von Paris, 1925, Modellfoto, Fotograf

76 v Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Haustypen, Staatsarchiv des

unbekannt, © FLC L2(14)46.

Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.

108 > Le Corbusier, Plan de Paris, 1937, Fotocollage, © FLC 29788.

77 Siedlung Freidorf, Genossenschaftshaus, 1924, Fotograf: Theodor

109 Le Corbusier, Plan de Paris, große West-Ost-Achse, 1937,

Hoffmann Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.

Zeichnung, © FLC 29751.

78 < Siedlung Freidorf, Eingangshalle des Genossenschaftshauses,

110 < Le Corbusier, Plan Voisin von Paris, 1925, Zeichnung, © FLC 30850A.

1924, Fotograf: Theodor Hoffmann, Staatsarchiv des Kantons Basel-

110 > Corbusier, Plan von Paris, 1937, Modellfoto: Lucien Hervé,

Landschaft, PA 6438.

© J. Paul Getty Trust, FLC L2(14)2.

78 > Siedlung Freidorf, Eingang des Genossenschaftshauses, 1924,

111 Le Corbusier, Ville Radieuse, 1930, Modellfoto, Fotograf unbe-

Fotograf: Theodor Hoffmann, Staatsarchiv des Kantons Basel-Land-

kannt, © FLC L3(20)71.

schaft, PA 6438.

112 und 113 Le Corbusier, Pavillon de l’Esprit Nouveau, 1925, Fotograf

79 ^ Siedlung Freidorf, Zentraler Platz mit Denkstein und Obelisk,

unbekannt, © FLC L2(13)18 und L2(13)31.

1919, Fotograf: Theodor Hoffmann, Staatsarchiv des Kantons Basel-

114 Le Corbusier, Automobil „Delage“, aus: Vers une architecture,

Landschaft, PA 6438.

1923, 2. Aufl., Paris 1925, S. 105.

79 v Siedlung Freidorf, Brunnen mit Obelisk und Wohnhof, umgeben

118 Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, 1975, Paris, Fotograf: Harry

von Häusern mit eigenem Nutzgarten, 1919, Fotograf: Theodor

Gruyaert, © Magnum Photo, picturedesk.com, 19750615_PD0680.

Hoffmann, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.

120 ^ Highland Park Plant Model-T, Fordwerke, um 1920, © 2017–2023

81 < Hannes Meyer, Vitrine Co-op, E.I.C.O.S., Fotograf: Theodor

Model T Ford Fix.

Hoffmann, 1924, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.

120 v Aufgegebene Fabrikhalle in Detroit, 2014, Fotograf: Quentin

81 > Hannes Meyer, Theater Co-op: Der Traum, Gebärdenspiel, 1924,

Mourier.

Fotograf: Theodor Hoffmann, aus: Das Werk, Bd. 11, 1924, S. 330.

121 Smart City, Taipei, Taiwan, 2018, DIGITIMES.

84 Bruno Taut, Blatt 17: „Das Baugebiet vom Monte Ceneroso

122 < und > OMA, Ole Scheeren, Maha Nakhon, Bangkok, 2016,

gesehen“, aus: Alpine Architektur, 1919.

Fotograf: © Srirath Somsawat.

85 < Bruno Taut, Blatt 1, „Nun blüht unsere Erde auf“, aus:

126 BIG, „Masterplanet”, aus: Formgiving, 2020, © BIG

Die Auflösung der Städte, 1920.

127 BIG, „Moon – City of New Hope“, aus: Formgiving, 2020, © BIG

85 > Bruno Taut, Blatt 23, „Die grosse Kirche“, aus: Die Auflösung der

128 NASA, menschliches Landungssystem mit Besatzung auf einem

Städte, 1920.

Monkrater mit der Erde am Horizont, virtuelles Schaubild, 2019,

87 ^ Bruno Taut, „Stadtsilhouette“ und „Stadtschema“, aus: Die

© NASA/Moon to Mars

Stadtkrone, 1919, Jena, S. 71.

134 Robert Delaunay und Felix Aublet, Innenausstattung der kegel-

87 v Bruno Taut, Plan und Silhouette, aus: Die Stadtkrone, 1919, Jena,

stumpfförmigen Halle des Palais de l’Air, realisiert von der Association

S. 73.

Art et Lumière, Architekten: Audoul, Hartwig, Gerodias, Exposition

88 Bruno Taut, „Perspektivische Ansicht“, aus: Die Stadtkrone, 1919,

Internationale des Arts et Techniques, Paris, 1937, Fotograf: Henri

Jena S. 74.

Baranger, © Centre Pompidou, MNAM-CCI Bibliothèque Kandinsky,

Abbildungsverzeichnis

185

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 186

Dist. RMN-Grand Palais/Fonds Robert et Sonia Delaunay, Nr. DEL49,

Fotograf: Olivier Martin-Gambier, © FLC OMG_012.

23-501309.

149 Hidalgo Moya, Philip Powell, Felix Samuely (und Frank Newby),

136 Le Corbusier, Weltbibliothek im Mundaneum von Genf, Pläne und

Skylon-Turm auf dem Festival of Britain, 1951, Fotograf: Bernard

Schnitt, 1928, © FLC.

William Lee, WMC.

137 ^ Paul Otlet, Mondothèque, Arbeitstisch mit integrierter Projektionstafel für das Mundaneum, 1930, WMC.

153 Cedric Price, Innenperspektive des Fun Palace, um 1966, Archive

137 v Paul Otlet, Schrank im Mundaneum, © Stefaan Van der Biest,

156 Carl Andre, Essay On Sculpture For E. C. Goossen, 1964, Maschin-

2016, WMC.

schrift auf Papier, 28 × 21 cm, aus: Things In Their Elements, London

138 Le Corbusier, Mundaneum in Genf, 1928, Perspektive, © FLC

2011, S. 133, © Carl Andre Archive.

Mundaneum002.

157 Hans Hollein, Mobiles Büro, 1969, Installation am Flugfeld Aspern

139 ^ Le Corbusier, Weltmuseum im Mundaneum von Genf, 1928,

bei Wien, Foto und Film, © Archiv Hans Hollein.

Perspektive, © FLC Nr. 2049_1603.

158 David Greene, Logplug und Rokplug, 1969, Ausstellung Archigram,

139 v Le Corbusier, Organisationsschema Weltmuseum, Mundaneum

Kunsthalle Wien, 1994, © Archiv Archigram.

in Genf, 1928, Zeichnung, © FLC 33513A.

162 Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito,

140 < Le Corbusier, Skizze der Eingangshalle des „Musée esthétique“,

Matrix, 2010, Fotografie: Noboru Morikawa.

Februar 1936, © FLC 00768.

163 Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito,

140 > Le Corbusier, Modellfoto des Museums mit unbegrenztem

Matrix, 2010, Fotografie: Noboru Morikawa.

Wachstum, 1939, Fotografie: Lucien Hervé, © J. Paul Getty Trust,

164 < Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito,

2002.R.41, FLC L3(20)25.

Matrix, 2010, Fotografie: Ken’ichi Suzuki.

141 < Le Corbusier, Modellfoto des Museums mit unbegrenztem

164 > Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Bauplan, 2010.

Wachstum, 1939, Fotografie: Lucien Hervé, © J. Paul Getty Trust,

168 Giorgio de Chirico, Das böse Genie eines Königs, 1914/1915, Öl

2002.R.41, FLC L3(20)31.

auf Leinwand, 61 × 50,2 cm, Museum of Modern Art, New York, WMC.

141 > Le Corbusier, Modellfoto des Museums mit unbegrenztem Wachstum, 1939, Fotografie: Lucien Hervé, © J. Paul Getty Trust, 2002.R.41, FLC L3(20)20. 142 ^ Le Corbusier, Skizze für das Museum mit unbegrenztem Wachstum, 1939, aus: Œuvre complète, Bd. 4: 1938–1946, Zürich 1966, S. 16f. 142 v Le Corbusier, Skizze des Organisationsprinzips des „Musée esthétique“ für die Weltfachausstellung Arts et Techniques 1937 in Paris, 1936, © FLC 00713. 143 ^ Postkarte Exposition Internationale Paris 1937 mit dem sowjetischen Pavillon (rechts) und dem deutschen Pavillon gegenüber, Privatkollektion der Autorin. 143 v Robert Delaunay und Felix Aublet, Innenausstattung der kegelstumpfförmigen Halle des Palais de l’Air, realisiert von der Association Art et Lumière, Architekten: Audoul, Hartwig, Gerodias, Exposition Internationale des Arts et Techniques, Paris 1937, Fotografie: Henri Baranger, © Centre Pompidou, MNAM-CCI Bibliothèque Kandinsky, Dist. RMN-Grand Palais/Fonds Robert et Sonia Delaunay, Nr. DEL49, 23-501309 145 Le Corbusier, Pavillon des Temps Nouveaux, Weltfachausstellung Arts et Techniques, Paris, 1937, Fotograf: Albin Salaün, © FLC L2(13)126. 146 Le Corbusier, Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, 1955; oben: Eingang, unten: Innengalerie mit spiralförmigem zenitalem Lichtband, Fotograf: Olivier Martin-Gambier, © FLC OMG_001 147 Le Corbusier, Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, 1955, Hauptraum mit zenitalem Tageslicht,

186

Anhang

CCA Nr. DR1995:0188:518.

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 187

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192

Anhang

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 193

Index

Bakunin, Michail 85

Chenal, Pierre 114

Bangkok 122, 124

Chiattone, Mario 104

Banham, Reyner 151

Chipiez, Charles 138

Absolutismus 38, 44

Barcelona 117

Chirico, Giorgio de 6, 168f., 172

Achleitner, Friedrich 157

Bard, Jean 81

Chronos 27, 32, 146, 174, 176

Adorno, Theodor W. 12, 17, 30

Baron, Erich 85, 97

Churchill, Winston 149

Agrargenossenschaft 73f.

Baumgarten, Siegmund Jacob 18

Cité Mondiale 136

Agrarreform 68

Bayer, Konrad 157

Città Nuova 103–106, 131

Ahrenberg, Theodor 146

Belviso, Francesca 102, 131

Colbert, Jean-Baptiste 113, 127

Aisthetik 31, 82, 96, 119

Benedikt von Nursia 177

Computermensch 147f., 162, 172

Akzelerationismus 120f., 123, 171

Benjamin, Walter 61, 64f., 73, 93, 95, 106,

Conrad, Peter 178, 180

akzelerationistisch 106, 121, 123ff., 130, 133

131, 173ff., 176

contretemps/contre-espaces 172, 176

Algier 117

Bergson, Henri 176

Cues, Nicolaus von 22, 31

Alloway, Lawrence 151, 166

Bernoulli, Hans 74, 96

Altmann-Loos, Elsie 95

Berthault, Louis-Martin 43

D’Annunzio, Gabriele 101

Amaldi, Paolo 88, 97, 104, 131, 166

Beschleunigung 7f., 10f., 15 –18, 20f., 24, 28,

Dalí, Salvador 173

Anarchitecture 118, 132

29, 68, 86, 92, 99, 102, 108, 115, 119f., 124,

Damaschke, Adolf 74

Anders, Günther 13

130, 142, 171, 178, 180

Dante 16, 37

Angst 7, 11, 13, 26, 30, 165, 169, 173

Beschleunigung(sdynamik) 121, 130

David, Jacques-Louis 41ff., 60f

Anthropozän 24, 57, 174

Bezos, Jeff 129

Delaunay, Robert 135, 143f.

Antwerpen 117

BIG (Bjarke Ingels Group) 125ff, 129f., 133

Delécluze, Étienne-Jean 60f.

Apokalypse 11, 13, 21, 24, 26, 30, 35, 106,

Birobidschan 83

Demiurg, demiurgisch 89, 116, 126, 128

178, 182

Blum, Léon 144

Dessauer Bauhaus 75, 83, 97

_ architektonische 86, 97

Boccioni, Umberto 106

Destruktion(strieb) 14ff., 28, 38f., 41f., 45,

apollinisch 20, 100, 118

Bodenreform 74, 96, 107

60, 70, 99, 117, 119, 132, 135

Appia, Adolphe 150

Böhme, Gernot 18, 31, 82, 96

Detroit 120f.

Archaismus 8, 28f, 35, 44, 55ff., 58, 165, 169

Bois, Marcel 97

Deutsche Gartenstadtgesellschaft 84

Arché 28, 35, 54, 165, 170

Booth, Andrew 151

Diderot, Denis 42

Archetypus (-typisch) 28, 35 –38, 41, 43, 47,

Borromini, Francesco 142, 166

Dietzgen, Josef 65, 95

49, 50 –55, 57ff., 60, 63, 138, 141f., 170

Botticelli, Sandro 37

dionysisch 20, 39, 46, 100ff., 116, 118ff, 155,

Archigram 156 –159, 161f., 165, 167, 172

Boullée, Étienne-Louis 40ff.

158, 165, 171ff.

Arendt, Hannah 35, 50, 60f., 65, 147, 166

Braillard, Maurice 94, 96, 107

Directoire-Stil 42, 44

Artmann, H. C. 157

Bramante, Donato 142, 166

Dissonanz 18

Ashby, Ross 152, 166

Brasilia 117

Doktrin 110

Ästhetik (ästhetisch) 7f., 12f., 16 – 20, 26ff.,

Brecht, Bert 150, 153

Doumergue, Gaston 144

31f., 35, 37f., 41– 44, 46f., 49, 56 – 59, 63, 69,

Breitenborn 75

Dubut, Louis-Ambroise 179

73f., 78, 82ff., 87, 91–94, 100, 104ff., 115f.,

Brunelleschi 181

Dufy, Raoul 144

118f, 123, 130, 135, 144, 160, 165, 169–172

Bruschi, Arnoldo 142, 166

Durand, Jean-Nicolas-Louis 40f., 43, 59,

Ästhetisierung 82, 102, 106

Büchner, Ludwig 24, 32, 137

60, 170, 179

Attali, Jacques 10, 30

Buckminster Fuller, Richard 149, 151

Attlee, Clement 149, 166

Buenos aires 117

Egli, Ernst 70 Einstein, Albert 25, 182

Attlee, James 118, 132 Aublet, Felix 135, 143f.

Carli, Mario 106

Empire-Stil 42

Auböck, Carl 61

Carlyle, Thomas 178, 180

Ende aller Dinge/Zeiten 21ff., 25f., 32, 95,

Aufhebung von Zeit 8, 16f., 28, 29, 37,

Castel, Pierre-Henri 13f., 30, 176

175, 178, 180

135, 172

Centre Pompidou 119, 155

Engels, Friedrich 70, 85, 95

Aufklärung 15, 21f., 24, 38, 42, 60, 64,

Chamberlain, Neville 150

Enthoven, Raphaël 25, 32

123, 178

Chauvier, Éric 26, 32

Entropie 99, 117ff.

Index

193

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 194

Entschleunigung 8, 28, 29, 63f., 73, 86, 92,

Gesell, Silvio 74f.

124, 130, 171, 179

Gibson, William 129

Epstein, Jean 114

Goethe, Johann Wolfgang von 25

Jäggi, Bernhard 74f., 78

Erner, Guillaume 13, 30, 166, 176

GOR (Groupe des Objets Révolutionnaires)

Jeanneret, Pierre 114, 132, 166

Eros 15, 31, 55, 99, 135, 172

173, 176

Johnson, Philip 49

Ethik 28, 39, 47f.

Green City 124, 130, 133

Jung, C. G. 35f., 38, 52, 58, 60

Euklid 37

Grenoble 146

Experimentum Mundi 63, 82

Gropius, Walter 83

Kairos 27f., 32, 172, 174

Expressionismus 86, 91, 97, 182

Gruntz, Lukas 96

Kalter Krieg 50, 55, 148

Guevrekian, Gabriel 182

Kant, Immanuel 12, 21– 26, 28, 31f., 64, 95,

Guggenheim 94, 146

173, 176, 178f., 180, 181

Fenichel, Otto 15 Feuerstein, Günther 61

Kapitalismus 45, 63f., 67, 73, 93f., 118, 120ff.,

Fiktion 8, 14, 18f., 86, 90, 119, 126, 129f., 147,

Hamilton, Richard 151, 166

124, 133

158, 169, 175, 181

Hartog, François 19, 25, 27, 32, 147f., 166,

Katastrophe 7, 10–14, 20f., 31, 49, 55, 63, 65,

Fischer, Theodor 84

174, 176, 181

113, 116, 118, 122, 124, 131, 135, 141, 147, 157,

Fleming, Billy 126

Hartwig, René 135

173, 175, 177f.

Fœssel, Michaël 11, 30, 32, 178, 180

Haus mit einer Mauer 69, 71f.

Katastrophismus 182

Ford, Henry 121

Haussmann, Georges-Eugène 107, 109

Kaufmann, Emil 178f., 180

Fortschritt 6, 7f., 10f., 13ff., 22 – 25, 28, 31,

Heidegger, Martin 12, 27, 155, 167

Keynes, John Maynard 122

41f., 48f., 50, 53, 56, 59, 64ff., 68, 73, 83f., 92f.,

Heinrich VIII. 177

Kierkegaard, Søren 13, 30

99, 108, 115, 117–121, 123f., 128, 141, 145–148,

Heisenberg, Werner 152

King, Martin Luther 117

155, 165, 169 –175, 178f., 181

Herder, Johann Gottfried 24, 32

Klee, Paul 64f.

Fourier, Joseph 65, 95

Hitchcock, Henry-Russell 49

Klenze, Leo von 40

Frank, Josef 70

Hitler, Adolf 97, 144, 146, 150

Kolbe, Georg 182

Franz, Marie-Louise von 60

Hoffmann, Franz 84

Kollaps 13, 20f., 30

Französische Revolution 22, 24ff., 38, 42ff.,

Hoffmann, Theodor 77ff., 81

Kollapsologie 11, 64

59, 170, 178, 180

Hölderlin, Friedrich 85

Kölner Werkbundausstellung 84

Freidorf 73–83, 92f., 96, 170

holistischer Kosmos 92

Kolumbus, Christoph 177

Freud, Sigmund 6, 14ff., 20, 30f., 36, 42, 53,

Hollein, Hans 33, 50– 55, 59, 61, 157, 166, 170

Konsonanz 18

55, 60f., 99, 131f., 135, 166, 173

Hollywood 14, 145

Konterrevolution 26

Fried, Michael 43, 60

Holzmeister, Clemens 51

Koolhaas, Rem 93

Friedrich, Caspar David 88, 97

Hoppen, Donald W. 61

Koselleck, Reinhart 22, 31f., 95, 178, 180

Frugès, Henry 113

Howard, Ebenezer 66–70, 73ff., 77, 83, 89,

Krause, Emil 63, 70

Fuhrmann, Ernst 85

92ff., 95, 107, 170

Krise 7f., 10f., 12, 13f., 16–19, 20f., 25 –28, 36,

Fun Palace 148ff., 152 –155, 157, 159, 165,

Hufeisensiedlung 83, 90f. 97

44f., 49ff., 55f., 64, 66, 69, 73, 91, 94, 99, 101,

166f., 172

Huizinga, Johan 48

107, 115ff., 120f., 124, 130, 135, 141, 143f., 146,

Funktionalismus 46ff., 50 – 53, 59, 82f., 106,

Hundertwasser, Friedensreich 51, 55, 61

148f., 159, 165, 169, 171–175, 178, 181

110, 117, 147, 171

Hüttenau 75

Kristallpalast 67, 86, 90 –93, 170

Futurismus, Futuristen 101–106, 115f., 120f., 123, 125, 130, 131, 147, 171, 176

194

Ishigami, Junya 55– 59, 61 170

Kropotkin, Pjotr 85 ICON Build 129

Krupp 75

Idealstadt 37f., 65, 84, 92

Kulturzustand 67

Gartenstadt 65 – 69, 73 – 76, 79, 83f., 88 – 92,

Immeuble-Villas (Villen-Block) 112f.

Kunst 12, 16–20, 27, 37, 41–46, 48, 51, 55, 59,

94, 95, 107, 112f., 130, 170

In-der-Welt-sein 12, 17, 20f., 54, 58, 101, 119,

50, 80ff., 85, 91, 97, 100ff., 104ff., 108f., 114,

Gayraud, Agnès 12, 17, 30

155, 163, 165, 173

116, 119, 123, 126, 136, 144, 146, 149, 163f., 170

Genf 94, 96, 107, 136, 138f., 141

Indeterminismus 152f., 155, 167

künstliche Intelligenz 127f.

George, Henry 74f., 96

Industrialisierung 24f., 41f., 64, 84, 102, 116

Kybernetik 147f., 152–155, 161, 172

Gerodias, Jack 135

industrielle Revolution 66, 151f.

Gérôme, Jean-Léon 44

Instant City 159

Anhang

Laban, Rudolf von 45f., 61, 150

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 195

Labbé, Edmond 144, 166

_ Alles ist Architektur 53

Morasso, Mario 102

La Estampa Méxicana 83

_ Anarchitektur 132, 171

More, Thomas 177

La Fontaine, Henri 141

_ Architektur mit Händen 51

Moses, Robert 118

Laland, André 177, 180

_ Die futuristische Architektur 104

Moya, Hidalgo 149

Lamartine, Alphonse de 24f., 32

_ Kommunistisches Manifest 133

Muchina, Vera 144

Landauer, Gustav 85f.

_ Manifest der Moderne 115

Mundaneum 136 –139, 141, 166, 172

Ländlichkeit 8, 28, 29, 45, 63f., 68, 91ff., 130,

_ Manifest des Futurismus 101–104, 106, 123,

Musée esthétique 140, 142

170 lange Dauer 174 Lapauze, Henri 60

131, 176 _ Manifest für die Genossenschaftsbewegung 91

Museum mit unbegrenztem Wachstum 136, 140–146, 165, 172 Musk, Elon 129

Larousse, Pierre 61

_ Museumsmanifest 165

Mussolini, Benito 101f., 106, 113, 131, 143

Latour, Bruno 10, 13, 30, 173ff., 176

_ terrestrisches Manifest 30, 176

Muttenz bei Basel 73f

Laurana, Luciano 38

_ Verschimmelungsmanifest 51, 61

Lebensreform(bewegung) 45f., 49, 64, 83f.,

Margarethenhöhe 75

Napoleon Bonaparte 41f., 44, 60

86

Marinetti, Filippo Tommaso 101–106, 123,

NASA 128f.

Lebenstrieb 15ff., 28, 31, 37, 63, 99, 135, 172

131, 171, 176

Nationalmuseum für westliche Kunst 146f.

Le Corbusier 53, 55, 61, 83, 97, 104, 106–119,

Marot, Sébastien 94

Naturzustand 28, 45f., 59, 63, 67, 92

127, 130, 132, 136, 138 –147, 166, 171f., 178,

Marx, Karl 45, 67, 85, 95, 120, 133

Netzwerk 137, 148, 159ff., 162

180, 181f.

Maschinenmensch 147

neue Welt 8, 28, 54, 73, 80f., 84, 86, 89, 96,

Ledoux, Claude-Nicolas 41, 178f., 180

Masterplanet 125f., 128f., 133, 171

100, 102, 116, 172

Legrand, Jacques-Guillaume 38

Materialität 7, 58, 79, 138, 144, 182

Neumann, John von 151f., 166

Leibniz, Gottfried Wilhelm 22, 31, 64, 95

Mathews, Stanley 151, 166f.

Neurath, Otto 141

Lenoir, Nicolas 60

Matta-Clark, Gordon 99, 117ff., 132

Newby, Frank 149, 151

Letchworth 69

Mayer, Hugo 63, 70

Newton, Isaac 41

Lévi-Strauss, Claude 25, 32, 174, 176, 181

Meisenbach, Johann Adam 45

New York 47, 51, 65, 94, 104, 113, 117f., 161

Licklider, J. C. R. 148, 166

Mendelsohn, Erich 182

Niemeyer, Oscar 117

Liszt, Franz 16

Mengel, Johannes 97

Nietzsche, Friedrich 18, 20, 31, 46, 85,

Littlewood, Joan 148–155, 166f., 172

Mengel, Margarete 83, 97

99–103, 107, 114, 116, 120, 131ff., 135, 166,

London 66, 69, 113, 131, 146, 149ff., 154,

Menke, Christoph 18, 31

171, 176, 178, 180

161

Mensch, René 97

Nishizawa, Ryūe 162ff., 172

Loos, Adolf 63, 69 – 74, 77f., 84, 92f., 95f.,

Mensch-Computer-Symbiose 148, 155, 159f.

Nuove Tendenze 104

170, 182

Metzendorfs Atelier 75

Loos, Claire 95

Meumann, Klaus 97

Obsoleszenz 159,176

Loos, Lina 95

Meyer, Hannes 69, 73– 84, 92f., 96f., 170

Olbrich, Joseph Maria 104

Louis-XVI-Stil 42

Meyerhold, W. E. 150

OMA 120, 124

Ludwig XIV. 38

Mies van der Rohe, Ludwig 182

ontologische Krise 7, 36, 47, 49, 50f., 56, 99,

Moderne 7, 11, 17, 20, 46f., 49, 56, 73, 82f.,

116, 148, 159, 165, 169, 172

MacColl, Ewan 150

104, 106f., 114 –117, 120f., 123, 128, 130, 147,

Otlet, Paul 136–139, 141, 146f., 156, 165,

Malabou, Catherine 28, 32, 155, 176

171, 177ff., 180, 181f.

166, 172

Malewitsch, Kasimir 182

Möhring, Bruno 84

Owen, Robert 75

Mallet-Stevens, Robert 144, 182

Molinos, Jacques 38

Malraux, André 117

Mondothèque 137

Pais, Filipe 173, 176

Manhattan 52

Montagnard 39

Palais de Compiègne 60

Manifest

Montaigne, Michel de 22, 31

Palais de l’Air 135, 143

_ #ACCELERATE MANIFESTO #Beschleuni-

Montecassino 177

Palais de Trocadero 144

gungsmanifest für eine akzelerationistische

Monte Verità 45f., 101

Palais Royal 60, 109

Politik 121ff., 125, 128, 130, 133

Montevideo 117

Palladio, Andrea 79, 83

Monzie, Anatole de 114

Pandemie 10, 127

_ Absolute Architektur 52, 61, 170

Index

195

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 196

Panthéon 35, 38, 119

Raum-Zeit 8, 16, 27, 43, 46f., 49, 50, 55, 84,

Schumpeter, Joseph 64, 120ff., 130, 133, 171

Paradigmenwechsel 41, 56, 118, 146f., 165, 169

92, 103

Schütte-Lihotzky, Margarete 69, 71–74, 95, 170

Paris 39, 42, 55, 99, 102, 106–110, 112ff.,

raumzeitlich 18f., 28, 35ff., 58, 84, 91, 119,

Schwarzwald, Eugenie 72

117ff., 132, 155

146, 169ff.

SEArch+ 129

Pariser Weltausstellung 1937 135, 142 – 146,

Recamier, Juliette 43, 45

Selbstverwaltung 75f. 79, 170

166, 178

Red Megaphones 150

Sell, Madlen 55, 61

Pascal, Blaise 9, 30

Reduktion 41f., 49, 60, 63, 71, 74, 84, 92f.,

Semper, Gottfried 53

Pask, Gordon 152ff., 167

169ff.

Seneca 20

Pasmore, Victor 151, 166

régimes d’historicité 19, 25, 32, 166

Sergent-Marceau 39, 60

Pavillon de l’Esprit Nouveau 112f., 115, 144

Reich, Wilhelm 15

Serres, Michel 173, 176

Pavillon de la Lumière 144

Religion 17, 37, 39, 44, 47, 59, 89, 93, 164, 178

Servigne, Pablo 11, 30

Pavillon des Temps Nouveaux 114, 144ff.

Renaissance 22, 37, 79, 181

Siedlerbewegung 69

Perrot, Georges 138

Resonanz 17f., 31, 37, 44f., 47, 49, 51, 55, 58f.,

Siedlung Freidorf 73 –80, 82f., 92f., 96, 170

Perugino 43

61, 63, 65, 69, 79, 93, 117, 135, 169f., 175

Siedlung Friedensstadt 72

Pestalozzi, Johann Heinrich 75

Resonanzachsen 17, 37, 44, 59

Siedlung Rosenhügel 63, 70

Philippeville (Skikda) 146

Revolution (Baukunst oder) 112f., 116, 132

Siedlungsgenossenschaft 73, 76

Piano, Renzo 155

revolutionäre Ordnung 40

Skylon 149

Pichler, Walter 51f., 54, 61

Rio de Janeiro 117

Smart (Cyber) City 121, 124, 128, 130, 133

Pierrefeu, François de 61

Ritual 8, 12, 19f., 39, 44, 46f., 51ff., 55, 57, 59,

Smithson, Robert und Alison 118

Piketty, Thomas 10, 26, 30

100, 119, 169, 171, 177

Sokrates 37

Plan Cerdà 107

Robert, Hubert 178, 180

Solano, Solita 73, 96

Plan de Paris 108ff., 132

Robespierre, Maximilien de 42, 60

Sombart, Werner 120, 133

Plan Voisin 106ff., 109f., 113ff., 132

Rogers, Richard 155

Sorel, Georges 102

Platon 37

Rosa, Hartmut 17f., 31, 37, 44, 51, 59, 60f., 69,

Soria y Mata, Arturo 107

Plug-in City 159

179, 180

Speer, Albert 144

Popper, Karl 152, 155, 167

Rosenberg, Harold 118

Spence, Thomas 68, 95

Portoghesi, Paolo 142, 166

Rosenblum, Robert 42, 60f.

Spencer, Herbert 68

Postmoderne 119, 181

Rousseau, Jean-Jacques 22, 64, 179

Spieltheorie 151f., 154

Potié, Philippe 35, 60

Rudofsky, Bernard 46– 49, 50, 59, 61, 103, 170

Spiralform 124, 140–143

Powell, Philip 149

Rudofsky, Berta 47, 61

Sprung in Raum und Zeit 28, 35, 46, 58, 170

Prachensky, Markus 51, 55, 61

Rühm, Gerhard 157

Srnicek, Nick 121ff., 125, 127, 133

Präraffaeliten 43

Russolo, Luigi 106

Stammeskultur 156 Standardisierung 74f., 78f., 81ff., 93, 137,

Präsentismus 25 Price, Cedric 148f., 151–155, 157, 159, 167, 172

Sagan, Carl 125

142, 147

Primitivismus 121

Salzburg 52

Steinmann, Martin 91, 95, 97

Psychoanalyse des Kleides 47f.

Sant’Elia, Antonio 101, 103–107, 115, 119,

Stevens, Raphaël 11, 30

Püschel, Konrad 97

123f., 131

Stockholm 117

São Paulo 117

Sublimierung 14, 16f., 28, 39, 63f., 82, 92f.,

Saramago, José 173, 176

99f., 119, 132, 170f.

Sartoris, Alberto 104

Szambien, Werner 60

Quasi-Objekt 173, 176

196

Rabhi, Pierre 93, 97

Schär, Friedrich 74

Raffael 43

Schaudt, Emil 74

Tabula rasa 28, 100ff., 107, 112f., 115ff., 171

Rainer, Arnulf 51, 55, 61

Scheerbart, Paul 85– 88, 90, 93, 97, 174

Taipei 121

Rainer, Roland 61

Scheeren, Ole 122, 124, 133

Taller de Gráfica Popular 83

Rancière, Jacques 18f., 31, 57, 61, 73, 82, 97,

Scheffler, Béla 97

Taut, Bruno 69, 73, 83 –93, 97, 170

119, 133

Schinkel, Karl Friedrich 88, 97

Temporal, Marcel 108

Räumlichkeit 16, 42, 181

Schlegel, Friedrich 25, 32

Tempus 22, 28, 169

Raumstadtkonzept 159

schöpferische Zerstörung 64, 120f., 130, 171

Ternaux, Louis Mortimer 60

Anhang

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 197

Teshima Art Museum 162 –165, 172

Wien 50, 52f., 69f., 73, 77, 15

Thanatos 15f., 55, 99

Wiener Avantgarde 52

Theater Co-op 81

Wiener Gruppe 157

Theatre of Action 150

Wiener, Norbert 148, 152

Theatre Union 150

Wiener, Oswald 157

Thermidor 22

Williams, Alex 121–125, 127, 133

Thibault, Jean-Thomas 40f.

Winckelmann, Johann 18

Thom, René 12, 30, 180

Wittmer, Hans 83

Tokio 146

Wright, Frank Lloyd 50, 61

Tolstoi, Lew 85 Tolziner, Philipp 97

Xenakis, Iannis 182

Town-Country 65f. Trédé-Boulmer, Monique 27, 32

Yeampierre, Elizabeth 127

Treves, Claudio 101, 131

Younès, Chris 35, 60, 165

Turing, Alan M. 152 Zeitkrise 25 Übergangsritus 55, 59

Zeitlichkeit 8, 16, 19, 35, 42, 68, 90, 100,

Ukraine 10, 125

105, 119, 151, 155, 163ff., 169f., 175, 181f

Universalcomputer 152

Zeitmaschine 155

Universalismus 123

Zeitobjekte 163

Universalität 118

Zerstörung 11, 13–16, 26, 71, 99f., 105f.,

Universalkultur 140

116–121, 130, 133, 136, 147, 171

Universallehre 169

Zikkurrat 138, 141

universeller Sozialismus 89, 93

Zirkularität 154

Urban, Antonin 97

Zschokke, Heinrich 75

Ureinwohner (elektrifizierte) 161f., 165

Zusammenbruch 11, 13f., 20f., 59, 118,

Ursprung, Philip 118, 132

121f., 136

Utopie/Dystopie 10, 12, 84, 89, 91, 112f., 124ff., 129f., 155, 161f., 171, 180 Verdrängung 16, 28, 135, 166, 172 Vergil 37 Ville (cité) radieuse 111, 116f., 119, 130, 171 Virilio, Paul 179, 180 Vischer, Robert 96 Vitruv 41 Voisin, Gabriel (Plan V.) 106–110, 113ff., 132 Wagner, Martin 91 Wagner, Otto 53, 104, 107 Wahrnehmung von Raum/Zeit 16, 19, 22, 27, 32, 57, 141, 163ff., 166 Wailly, Charles de 35, 38 Walking Architecture 161 Warhol, Andy 118 Weiner, Tibor 97 Weltbibliothek 136f., 140f., 147 Welwyn 69

Index

197

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 198

STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 199

Dank

Inhaltlich gesehen möchte ich mich insbesondere bei Philippe Potié, Professor emeritus der ENSA Versailles, und Paolo Amaldi, Professor an der ENSA Val-de-Seine, bedanken, die

Nach jahrelanger Arbeit, die einer intensiven Zusammenarbeit

nicht nur zwei wunderbare Gastbeiträge verfasst, sondern

bedurfte, möchte ich meinen aufrichtigen Dank an alle richten,

meine Recherchen mit anregenden Diskussionen begleitet

die mich bei diesem Werk hilfreich unterstützt haben. Zuerst

haben. Begonnen hat unsere Auseinandersetzung mit diesem

an Frau Seipenbusch-Hufschmied und Frau Holas, die sich

Thema, als wir – zusammen mit Carmela Cucuzzela, heute

für diese Publikation sehr eingesetzt haben und wunderbare

Dekanin der Fakultät für Raumplanung der Université de

Begleiterinnen waren. Dann an die Universität für angewandte

Montréal (UdeM), und Jean-Pierre Chupin, Professor an der

Kunst Wien, die die deutsche Version großzügig finanziert

UdeM und Leiter der Chaire de recherche du Canada – ein

hat, sowie an die École nationale supérieure d’architecture

Thema für ein Symposium suchten, das schließlich unter dem

de Versailles (ENSA Versailles) und unser Forschungslabor

Titel Architecture de la catastophe: Lieux et rituels de l’utopie

LéaV, die mithilfe des französischen Kulturministeriums das

et de la dystopie 2016 an der ENSA Versailles und 2018 an

Erscheinen der französischen Version finanziell ermöglicht

der UdeM stattgefunden hat. Diese Symposien haben mir

haben.

viele hilfreiche Anregungen für die Weiterentwicklung meiner

Auch für die Bilder bedanke ich mich, die von zahlreichen

Arbeit gegeben.

Institutionen, Archiven und Fotografen kostenlos oder ermäßigt

Auch dem französischen Radiosender France Culture sei

zur Verfügung gestellt wurden; ohne deren Hilfe hätte dieses

gedankt, insbesondere Les Chemins de la philosophie und

Buch wesentlich weniger Abbildungen, was dem Verständnis

Guillaume Erners Sendung l’Invité(e) des Matins, deren gela-

des Inhalts geschadet hätte. Insbesondere seien das Teshima

dene Gäste oft sehr interessante Gedanken darlegten, die

Art Museum, die Siedlungsgenossenschaft Freidorf, die

zum Weiterlesen in deren Werken anregten. Diese Sendun-

Albertina, die Fondation Le Corbusier und die Getty Founda-

gen sind für mich und viele andere leidenschaftlichen

tion, die Archive Hans Hollein und Monte Verità, die Büros

Hörer:innen beinahe wie eine zweite Universität.

Ryūe Nishizawa, Yunya Ishigmi und BIG, die Fotografen

Nicht zuletzt geht ein besonderer Dank an meine Familie, die

Yashiro Photo Office, Ken‘ichi Suzuki und Noboru Morikawa

meine langen Arbeitsphasen erduldet hat. Guy, mein Mann,

erwähnt, sowie unser lieber Doktoranden-Kollege Quentin

und meine zwei Söhne, Floris et Raphaël, die damit aufge-

Mourier, den das Attentat auf das Bataclan brutal aus dem

wachsen sind. Sie haben meine Freude an der Arbeit gespürt,

Leben gerissen hat.

die – so hoffe ich – ansteckend und anregend sein mag.

Ein speziell herzlicher Dank geht an das hochprofessionelle

Neugierige Fragen und anerkennendes Kopfnicken, wenn ich

Team, mit dem es traumhaft war zu arbeiten: François Mortier,

zu ihrem Erstaunen eine Antwort auf ihre Fragen hatte, geben

der mit Engelsgeduld meinen französischen Text – meine

mir Anlass, mich in diesem Wunschgedanken zu bestärken.

Habilitationsschrift – dermaßen überarbeitet hat, dass er

Schließlich ist es ihre Generation und diejenige meiner Studie-

nicht nur leserlich, sondern auch sehr angenehm zu lesen ist.

renden, die mit großer Wachsamkeit und Sorgfalt unsere Welt

Salomé Wackernagel, eine meiner geschätzten Doktorand:in-

in andere Bahnen werden lenken müssen, um mit Humanismus

nen, für ihre kritische Lektüre und anregenden Vorschläge.

und Kreativität eine sozialere und ökologischere „neue“ Welt

Caroline Gutberlet, die es verstand, diesen Text mit einer

aufzubauen.

dermaßen schönen Ausdrucksweise ins Deutsche zu übersetzen, dass ich große Freude hatte, meine Gedanken in meiner eigenen Muttersprache neu zu entdecken. Claudia Mazanek, die ihn kritisch lektoriert und mit viel Ausdauer druckfertig gemacht hat, und nicht zuletzt Katharina Erich, deren Grafik dem Text eine Interesse und Neugier erweckende Innengestaltung verliehen hat.

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STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 200

Biografie der Autorin Susanne Stacher ist Architektin und Architekturkritikerin. Nachdem sie ihre Karriere als Architektin in den Büros von Renzo Piano, Dominique Perrault, Morger & Degelo, Ibos & Vitart und Shigeru Ban begann, verlagerte sie ihren Schwerpunkt auf Forschung und Lehre. Als Professorin unterrichtet sie Architekturtheorie und -praxis an der École nationale supérieure d’architecture de Versailles. Ihr Forschungsgebiet liegt an der Schnittstelle von Architektur und Urbanismus, Theorie, Geschichte und Philosophie. Sie ist Autorin des Buches Sublime Visionen. Architektur in den Alpen (Birkhäuser 2018). Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf Krisen und mögliche Narrative für den Entwurf von Projekten, die eine andere Beziehung zur Welt skizzieren – ein Thema, das sie auch in der Pädagogik verfolgt.