Arbeitswissenschaft und Psychotechnik in Russland
 9783486754001, 9783486753998

Table of contents :
Zur Einführung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Zentrale Arbeltsinstltut in Moskau
3. Die Taylorbewegung in Ruβland
4. Die erste allrussische Konferenz für Initiativen der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und Betriebsführung vom 20.—27. Januar 1921
5. Die psychotechnische Bewegung
6. Die Tätigkeit der Arbeitsinstitute
7. Der gegenwärtige Stand der W. A. 0. außerhalb der Institute
8. Schluß
9. BEILAGEN
10. Literatur

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ARBEITSWISSENSCHAFT UND PSyCHOTECHNIK IN

RUSSLAND

VON

DR. FRANCISKA BAUMGARTEN

MIT 9 ABBILDUNGEN IM TEXT

MÜNCHEN UND BERLIN 1924 DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG

Alle Rechte, auch das der Übersetzung, vorbehalten. Copyright 1924 by R. Oldenbourg, Manchen und Berlin.

Zur Einführung. Die

vorliegende Schrift wurde auf Veranlassung

Mitarbeiters

des

Internationalen

Arbeitsbureaus

in

eines Genf

verfaßt, und sollte zuerst in französischer Sprache in der Serie J. (Enseignement) der Schriften des B. I. T. veröffentlicht werden. Aus äußeren Gründen konnte diese Veröffentlichung dort nicht erfolgen und erscheint daher zuerst in Deutschland. B e r l i n , Februar 1924. Die

Verfasserin.

Inhaltsverzeichnis. Seite

1. Einleitung

7

2. Das zentrale Arbeitsinstitut in Moskau a) Die Ideologie Gastews b) Tätigkeit des Instituts. c) Die Opposition gegen Gastew

12 12 18 31

3. Die Taylorbewegung

37

4. Die erste allrussische Konferenz der Initiativen der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und Betriebsfohrung vom 20.—27. Januar 1921

47

5. Die psycHotechnische Bewegung

58

6. Die I. II. III.

71 85 98

Tätigkeit der Arbeitsinstitute in Petrograd . Kazan ( Charkow

'.

7. Der gegenwärtige Stand der W. A. O. außerhalb der wissenschaftlichen Institute a) Die Zeitliga b) „Der nene Mensch" 8. Schluß 9. Beilagen (o. Literatur

105 109 113 119 222 142

1. Einleitung. Als in Rußland die bolschewistische Revolution ausbrach, und die Arbeitspflicht für jeden Bürger proklamiert wurde, war natürlich vorauszusehen, daß das Problem der Arbeit, das sich als soziales und politisches in den Vordergrund des russischen Lebens drängte, auch das lebhafte Interesse der Wissenschaftler erwecken würde. Die Blockade, die um Rußland geschaffen wurde, ließ aber kein Zeichen seiner rein geistigen Tätigkeit nach Westeuropa dringen, und man wußte hier deshalb nicht, ob und was eigentlich dort auf dem Gebiete der Arbeitswissenschaft geleistet wurde. Erst Anfang 1922 gelangten über die östliche Grenze vereinzelte Broschüren, dann auch Exemplare einer russischen Zeitschrift „Die Arbeitsorganisation", Monatsschrift des Zentralarbeitsinstituts in Moskau, zu uns. Auf Wunsch der Redaktion dieser Zeitschrift wurden die ersten drei Nummern der Zeitschrift durch Vermittlung der. wissenschaftlich-technischen Abteilung des Obersten Wirtschaftsrates in Berlin an verschiedene Arbeitsinstitute Europas und Amerikas versandt, und überall erregten sie großes Erstaunen. Existiert denn in Moskau ein Arbeitsinstitut? Seit wann? Von wem geleitet? Was leistet es? Die stattlichen Bände, die in einer für die Mehrzahl der Europäer unbekannten Sprache verfaßt sind, konnten den Fragenden keine Antwort geben. Und so soll nun diesem allgemeinen Interesse hier entsprochen und eine Darstellung der zur Zeit in Rußland geleisteten Arbeit auf dem Gebiete der Arbeitswissenschaft und Psychötechnik versucht werden.

8 Eine solche Darstellung, die nicht aus eigener Anschauung schöpft, sondern auf Grund der zur Zeit zur Verfügung stehenden Literatur schildert, kann kein allzu getreues Bild, weder von dem absoluten noch von dem relativen Wert des Geschaffenen und Geleisteten geben. Letzteres schon deshalb nicht, weil man die Ergebnisse, die im Druck festgelegt sind, nicht nach der darauf verwendeten Zeit, Mühe, Energie und Ausdauer einschätzen kann, denn diese Faktoren lassen sich nur aus unmittelbarer Anschauung kennen lernen. Eines muß uns doch immer lebendig vor Augen stehen: daß die russischen Kollegen anfangs nicht nur unter mangelhaften Lebensbedingungen (Ernährung, Wohnung, Beleuchtung) standen, sondern auch von der Quelle der geistigen Anregungen, dem Austausch der Meinungen mit Westeuropa und von Büchern, die übe& die Fortschritte der westeuropäischen Arbeit Kunde geben, abgeschlossen waren. Die russischen Forscher waren ganz auf sich selbst angewiesen und mußten alles aus sich selbst schöpfen. Das, was in ihrer Literatur zu Tage tritt, ist also das Ergebnis nicht nur ihrer Denk- und Schöpferarbeit, sondern auch ihrer Energie, ihres Willens, ihrer Zähigkeit und Ausdauer, ihrer „moralischen" Eigenschaften, ohne welche irgendeine Leistung unter besagten Umständen unmöglich gewesen wäre. Aber anderseits kann ein Bericht, der nur auf Grund von Veröffentlichungen erfolgt, die Wirklichkeit übertreffen, ein Bild von der Tätigkeit geben, das die Realität weit überragt, und er kann somit unberechtigte Erwartungen und Hoffnungen erwecken. Dies sei hier vorbemerkt, um gegebenenfalls nachträgliche Einwände vorwegzunehmen. Ich betrachte das, was jetzt in Rußland veröffentlicht wird, als , Dokumente" einer gewissen Zeitperiode und möchte, daß auch die folgende Darstellung n u r a l s e i n s o l c h e s D o k u m e n t betrachtet werde. Mein Bericht gründet sich auf mir zur Zeit zur Verfügung stehende Veröffentlichungen, die zwar nicht vollständig sind, aber die wichtigsten Erscheinungen umfassen. Ihr Verzeichnis ist am Ende der vorliegenden Arbeit angegeben.

9 Nach den Angaben im Heft I der „Arbeitsorganisation" beschäftigten sich bereits im Jahre 1 9 2 1 in Rußland etwa i 0 Stellen mit der wissenschaftlichen Erforschung der Arbeit, nach den allerletzten Angaben der Zeitschrift „Wremja" (Die Zeit) sind es gegenwärtig 60 Stellen. Wir werden hier von ihnen nur nur die folgenden nennen: N a m e n der S t e l l e n : 1. In Armawir: Gesellschaft zur Untersuchung der Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation. 2. Charkow: Allukrainisches Arbeitsinstitut (Leiter Dunajewskij). 3. K a s a n : Institut for wissenschaftliche Arbeitsorganisation. 4. Kiew: Sektion der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation bei dem Polytechnischen Institut in Kiew. 5. Moskàu: Das Zentralbureau der Industrieorganisation bei der Hauptverwaltung der Kriegsindustrie. 6. Moskau „Cnort": Ständige Beratung für wissenschaftliche Organisation der Arbeit im Transportwesen und Verbesserung und Vereinfachung der- Apparate des Volkskommissariats der Verkehrsmittel (Leiter Kerzencew). 7. Moskau: Zentralinstitut der Organisatoren des Kommissariats für Volksaufklärung. 8. Moskau: Laboratorium für industrielle Psychotechnik beim Volkskommissariat der Arbeit.

Aufgabe: Die experimentelle Untersuchung der Prinzipien der Arbeitsorganisation. Das Problem der Berufsauslese. Wj^yi^yhaftiirii» Organisation der Arbeit und der Produktion. Untersuchung der Organisation der Arbeit und der Betriebe. Rationalisierung der Leitung und der Produktion in den kriegsindustriellen Betrieben. Wissenschaftliche Organisation der Arbeit im Transportwesen.

Vorbereitung der Organisatoren far Volksaufkl&ruqg. Wissenschaftliche und praktische Untersuchung der Probleme der Berufseignung und Berufsberatung.

10 N a m t a der St«llea: 9. -Moskau: Das zentral-technische normalisierende Bureau „Gonza". 10. Moskau: Zentrales Arbeitsinstitut (Cit.). 1 1 . Odessa: Sektion der Abteilung für W. A. O beim Klub.^ 13. P e t r o g r a d : Psychotechnische Abteilung bei der wissenschaftlich - technisch pädagogischen Vereinigung. 13. P e t r o g r a d : Leitung der wissenschaftlich-ökonomischen Organisation der Leistung der Oktober-Eisenbahn. 14. P e t r o g r a d : Die sozial-technische Fakultät des Petrograder Technologischen Instituts. 15. P e t r o g r a d : Zentrales Arbeits-Laboratorium (Leiter Bechterew).

Aufgabe: Rationelle Normalisierung der Arbeit auf wissenschaftlichtechnischen Grundlagen. Wissenschaftliche Organisation der Arbeit and der Leitung. Wissensch. Arbeitsorganisation.

Psychotechnik.

Hebung der Leistung auf der Eisenbahn.

Vorbereitung der Techniker auf dem Gebiete des Arbeitsschutzes und Verbesserung der sanitären Bedingungen der Arbeitenden. Untersuchung der arbeitenden Persönlichkeit und der Arbeitsbedingungen.

16. P e t r o g r a d : 'Wissenschaftlich-konsultative Sektion der Abteilung des Arbeitsschutzes der nordwestlichen Gouvernements.

Praktische und wissenschaftliche Probleme . des Arbeitsschutzes in arbeitsschädlichen Betriebes.

17. P e t r o g r a d : Bureau der -wissenschaftlichen Arbeitsorganisation bei der nordwestlichen Kriegsindustrie.

Rationalisierung auf den der Gesellschaft unterstellten Betrieben.

18. R o s t o w a. Don: Bureau für Normalisierung, für Arbeitspropaganda der Aufgaben der W. A. O. und Rationalisierung

W. A. O.

11 Namen der Stellen: 19. S a r a t o w : Kabinett nnd Laboratorium für wissenschaftliche Arbeitsorganisasation. 20. T a g a n r o g : Institut für wissenschaftliche Organisation der Betriebe im DonBecken nnd im Südosten. 21. T i f l i s : Vereinigung far W. A. O. 2?. Woroneï: 1 ) Rat für wissenschaftliche Untersuchung der südöstlichen Eisenbahn.

Auf gäbe: Vorbereitung dar Arbeiter ttr Betriebe und Ausarbeitung der Untersuchungsmethoden. Ausarbeitung der rationellen Methoden far wirtschaftliche Organisation der Betriebe. Untersuchung, Ausarbeitung u. eine planmäßige Durchführung der Prinzipien der W. A. O. Die wissenschaftliche Arbeitsorganisation der südöstlichen Eisenbahn.

E s ist zu bezweifeln, ob alle diese Stellen (von den hier nicht genannten nicht zu sprechen) wirklich tätig sind (nicht über die Tätigkeit aller liegen Berichte vor), aber schon die Gründung so zahlreicher Stellen beweist, wie groß eben das Bestreben ist, den Problemen der Arbeit in ihrer mannigfachen Gestaltung näherzukommen. V o y den Instituten entwickeln eine rege Tätigkeit besonders: 1 . Das Zentralarbeitsinstitat in Moskau. 2. Das Institut für Gehirnforschung in Petrograd. 3 . Das Arbeitsinstitut in Charkow. 4. Das Institut für wissenschaftliche Arbeitsorganisation in Kasan. Wir werden den Arbeiten, die sich um diese Institute zentrieren, besondere Aufmerksamkeit schenken. *) Um die Übertragung der russischen Namen aus dem russischen Alphabet ins lateinische übersichtlich zu gestalten und ihre möglichst große Annäherung an das Original zu behalten, habe ich mich einer Transkription bedient, die in der Staatsbibliothek in Berlin für diesen Zweck gebräuchlich ist. Demnach sind die Laute: 6 = tsch ä = sch t = sch (eigentlich franz. g) S£ = schtsch z = s.

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2. Das Zentrale Arbeltsinstltut fn Moskau, a) Die Ideologie Gastews. Das Zentralarbeitsinstitut in Moskau führt seinen Namen nicht, weil es sämtliche Arbeiten oder Institute dieser Art in sich zentralisiert, sondern weil es eine zentrale Stellung unter den russischen Instituten dieser Art einnimmt. Dieses Institut (russisch gekürzt C. I. T. [Centralnyj Institut Truda] genannt), wurde auf Grund eines Beschlusses des Präsidiums des Zentralrates der Gewerkschaften vom 27. August 1920 gegründet. Wie wir in einem Bericht seines Leiters A. K. G a s t e w s über die Entstehung des Institutes lesen, gab es anfangs für das Institut nicht nur kein Haus, sondern sogar kein Zimmer. Man mußte, wie Robinson, sämtliche Fragen lösen, angefangen mit der Anschaffung von Bleistiften bis zur Aufstellung des Planes der Arbeiten, die für ganz Rußland gelten sollten. Tatsächlich hat jeder Schlüssel große Reisen verursacht, jeder Tisch erforderte Gesuche und Laufereien. Unter solchen Bedingungen — sagt Gastew weiter — durfte man bei der Gründung eines Institutes nur mit ganz außergewöhnliche^ Menschen rechnen. Es ergab sich, daß sich in Moskau für die Fragen der Arbeitsorganisation eine, wie er sagt, „wahnsinnig große" Anzahl Menschen interessierte : Professoren, Ingenieure, Nationalökonomen, Ärzte, Psychologen, Politiker, eine große Masse von Arbeitern. Dank den unermüdlichen, zähen Bemühungen des Institutsleiters und seiner Mitarbeiter ist es gelungen, im Laufe eines Jahres eine Anstalt zu gründen, die sowohl über stattliche Räume, als auch über eine umfangreiche Bibliothek und Apparatur verfügt, und die im stände ist, eine eigene Zweimonatsschrift und eine Reihe Monographien, größtenteils Übersetzungen zu veröffentlichen. Als programmatisch für die Arbeit des Moskauer Zentralarbeitsinstitutes kann der Leitartikel von A. Gastew „Unsere Wege" in der Monatsschrift „ D i e A r b e i t s o r g a n i s a t i o n " gelten, aus welchem wir hier folgenden Passus über die Umstände, unter welchen in Rußland die Arbeitswissenschaft entstand anführen:

13 „Die Vorgänge dieser Jahre haben uns Ober die Grenzen des Alltaglichen gedrängt. Jetzt müssen gewichtige Faktoren wirksam werden: starmische Ideen, außergewöhnlich starke Willensimpulse. Viel zu viel wurde vernichtet, vernichtet bis zum Wahnsinn, so daß jeder Zusammenhang mit der Vergangenheit verwischt wurde, aber noch mehr wurde begonnen, und zwar mit offener Naivität und Glauben. Man muß dies alles ohne Widerspruch, als ein emotionales-politisches Manifest der Zeit hinnehmen, und sich dem Strudel dieser Epoche überlassen, deren allgemeine Grundlage der mutige Rationalismus sein m u ß 1 ) . . . . Wir leben in einer Epoche des Zusammensturzes der Kultur, in einer Epoche der sozialen Umlagerungen und der gewaltsamen Verschiebung der Erbschaft der Jahrhunderte. Die Massen, die durch Jahrtausende gefesselt waren, wachsen unter dem Zeichen der Paradoxe: denn während ihr unmittelbares, kulturelles Niveau niedrig ist, glauben sie dicht an der Scheide der Geschichte zu stehen; ihre Psychologie ist Wachsen, sie harren der großen bestimmenden Gesten, sie träumen von großen Menschen, die Fahrer sind, sie erwarten das Nahen gigantischer, technischer Mächte. Während Europa und Amerika das Althergebrachte hüten, sprudelt in Osteuropa eine unvergleichliche Lebenslust, ein grenzenloser Glaube an den Fortschritt. Das Land riesiger Flüsse, zügelloser Orkane, unendlicher Steppen, das von Pilgern und Suchern bevölkert ist, wird einen eigentümlichen Patriotismus gebären und mutige Männer für Wagnisse, Taten' und Werke ins Leben rufen. Wir fühlen schon das Kommen dieser Menschen, ihre ersten Kolonnen ordnen sich bereits.... Wir werden Teilnehmer der neuen Bataillone sein, und unser Institnt will ihr erstes Wahrzeichen werden*)."

Es ist nun verständlich, daß Gastew im Hinblick auf die durch politische Umwälzung erfolgte Zerrüttung aller Gebiete des russischen Lebens die Neugestaltung, die Organisation als solche besonders hoch schätzt, und sie als einen großen Wert an sich betrachtet. „Die wissenschaftliche Arbeitsorganisation — sagt er an einer Stelle — ist keine rein intuitive menschliche Entdeckung, sondern eine Schlußfolgerung, sie ist eine Formel der Bewegung, die uns die Mechanismen offenbaren. Die Gruppen der Maschinen und der Betriebe erziehen uns erst durch ihre maschinelle Kombination." Und an einer anderen Stelle behauptet er: „Die Technik geht in Verwaltung über. Verwalten heißt umstellen; Organisation ist eine Lehre von Umstellungen im Zeitenraum. Eine durchdachte streng wissenschaftliche Umstellung, ist eine wissenschaftliche Organisation der Verwaltung."8) *) 1. c. S. 10. *) 1. c. S. 17. *) G a s t e w : Die wissenschaftliche Organisation