Arbeiter, Bürger, Städte: Zur Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 9783666370151, 9783525370155, 9783647370156

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Arbeiter, Bürger, Städte: Zur Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
 9783666370151, 9783525370155, 9783647370156

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding und Hans-Ulrich Wehler (1972–2011)

Band 203

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Klaus Tenfelde

Arbeiter, Bürger, Städte Zur Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von Jürgen Kocka und Paul Nolte

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Mit 4 Abbildungen, 12 Diagrammen und 19 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-37015-5 ISBN 978-3-647-37015-6 (E-Book) Umschlagabbildung: Robert Köhler: Der Streik (1886), © bpk / Jürgen Liepe © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Inhalt Einleitung: Klaus Tenfelde als Sozialhistoriker . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Arbeitergeschichte I. Ländliches Gesinde in Preußen. Gesinderecht und Gesindestatistik 1810 bis 1861 . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich 70 III. Klassenspezifische Konsummuster im Deutschen Kaiserreich . . . . . 93 IV. Religion und Religiosität der Arbeiter im Ruhrgebiet . . . . . . . . . . 111

Stadt – Verein – Bürgertum V. Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzugs . . . . . . . . . . . 143 VI. Die Entfaltung des Vereinswesens während der Industriellen Revolution in Deutschland (1850–1873) . . . . . . . . . . 174 VII. Großstadtjugend in Deutschland vor 1914. Eine historisch-demografische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 VIII. Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 273 IX. Die Welt als Stadt? Zur Entwicklung des Stadt-Land-Gegensatzes im 20. Jahrhundert . . . . 312

Milieus, Generationen und Politik X. Historische Milieus – Erblichkeit und Konkurrenz . . . . . . . . . . . . 343 XI. Generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung bis 1933 . . . . 364 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 5 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Verzeichnis der Tabellen, Diagramme und Abbildungen I. Ländliches Gesinde in Preußen. Gesinderecht und Gesindestatistik 1810 bis 1861 Tab. 1: Gesinde in Preußen 1819 bis 1861 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Tab. 2a: Anzahl der in Preußen selbständig von Handarbeit lebenden Tagelöhner und des Gesindes 1846 bis 1855 . . . . . . . . . . 46 Tab. 2b: Anzahl der in Preußen von Handarbeit lebenden Tagelöhner und des Gesindes 1858 und 1861 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Tab. 2c: Anteil der Tagelöhner bzw. Handarbeiter und des landwirtschaftlichen Gesindes in Preußen an der männlichen bzw. weiblichen Zivilbevölkerung über 14 Jahren 1858 und 1861 in Prozent 47 Tab. 3: »Gewerbliches« bzw. landwirtschaftliches Gesinde in Preußen 1819, 1849 und 1858 nach Regierungsbezirken und Provinzen . . . . . 52 II. Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich Diagramm 1: Jüngere verheiratete Erwerbstätige (Männer) in Industrie und Handwerk 1907 in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Diagramm 2: Verheiratete Erwerbstätige nach Wirtschaftssektoren, Stellung im Beruf und Altersklassen 1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Diagramm 3: Familienstand von Arbeitern 1895 und 1907 nach ausgewählten Berufsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Diagramm 4: Familienstand von Arbeitern nach Qualifikationen (1907, ausgewählte Berufsgruppen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Diagramm 5: Durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe nach Eheschließungsjahrgängen und Berufsgruppen . . . . . . . . . . . . . . 81 Diagramm 6: Säuglingssterblichkeit nach der Stellung der Eltern in Preußen 1877–1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Diagramm 7: Säuglings- und Kindersterblichkeit in der Vorkriegszeit nach der Familiengröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 IV. Religion und Religiosität der Arbeiter im Ruhrgebiet Abb. 1: Konfessionsverteilung im Ruhrgebiet 1910 . . . . . . . . . . . . . . 115 Abb. 2: Konfessionskarten NRW 1950/1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Diagramm 1: Konfessionen im Ruhrgebiet 1950/1987 . . . . . . . . . . . . 117 Diagramm 2: Konfessionen der Zuwanderer in das Ruhrgebiet 1951 . . . 118 6 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Diagramm 3: Anteil der Katholiken an den Selbstständigen, Angestellten und Arbeitern im Bergbau und Hüttenwesen sowie an der Bevölkerung in den Großstädten des Ruhrgebiets 1907 in Prozent . . . 120 Tab. 1: Religiosität und Kirchlichkeit sozialdemokratischer und freigewerkschaftlicher Arbeiter (nach Levenstein) . . . . . . . . . . . . 125 Diagramm 4: Religionszugehörigkeit im Ruhrgebiet nach Geschlecht 1970 135 Diagramm 5: Ehen im Ruhrgebiet nach Religionszugehörigkeit 1970 . . . 136 V. Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzugs Abb. 1: Der Einzug Wilhelms I. in Berlin am 16.6.1871 . . . . . . . . . . . 164 Abb. 2: »Mai-Triumph« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 VII. Großstadtjugend in Deutschland vor 1914. Eine historisch-demografische Annäherung Tab. 1: Altersstruktur der Reichsbevölkerung nach größeren Altersgruppen 1871 bis 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Tab. 2: Altersstrukturen im Vergleich: 1880–1911 (in Promille) . . . . . . 236 Tab. 3: Altersstrukturen im Vergleich: Deutschland und Frankreich 1910/11 (in Promille) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Tab. 4: Altersstruktur der Reichsbevölkerung 1900 und 1934 (in Promille) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Tab. 5: Altersgruppen der Reichsbevölkerung 1875 nach größeren Verwaltungsbezirken (umgegliedert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Tab. 6: Altersgruppen der Reichsbevölkerung nach ausgewählten großen und mittleren Verwaltungsbezirken . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Tab. 7: Altersgruppen in Berlin und ausgewählten Provinzen Preußens 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Tab. 8: Altersgliederung der Städte und Landgemeinden im Deutschen Reich und Kreis Dortmund mit über 20.000 Einwohnern 1871 bis 1905 248 Tab. 9: Altersstruktur der deutschen Großstädte und der Reichsbevölkerung 1875 und 1885 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Tab. 10: Altersstruktur der städtischen Bevölkerungen nach Größenklassen im Deutschen Reich 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Tab. 11: Bevölkerungswachstum und Altersstruktur im Stadt- und Landkreis Recklinghausen 1875 bis 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Tab. 12: Altersstruktur ausgewählter deutscher Groß- und Industriestädte 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Tab. 13: Entwicklung der Altersstruktur in Berlin 1875 bis 1913 . . . . . . 256 Tab. 14: Altersstruktur der Bevölkerung nach Geschlechtern im Deutschen Reich und in Hamborn 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 7 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

© Ulrike Moritz

Klaus Tenfelde 1944–2011

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Einleitung: Klaus Tenfelde als Sozialhistoriker Klassische Sozialgeschichte in produktiver Weiterentwicklung – unter diesem Motto könnten Klaus Tenfeldes Aufsätze stehen, die in diesem Band der »Kri­ tischen Studien zur Geschichtswissenschaft« versammelt sind. Der Autor hat sie, auf Einladung der Herausgeber der Reihe, ausgewählt und für den Neudruck vorbereitet. Zur Ausformulierung der Einleitung, die die Überschrift »Sozialgeschichte als Sozialisationsgeschichte« haben und die Aufsätze aus der heutigen Sicht des Autors in ihrem Zusammenhang interpretieren sollte, kam er nicht mehr. Klaus Tenfelde verstarb, erst 67-jährig, am 1. Juli 2011. Klaus Tenfelde war der bedeutendste Historiker der deutschen Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in der Generation, die auf die Pioniere wie Werner Conze und Gerhard A. Ritter, Tenfeldes Lehrer, folgte. Wie in anderen Ländern auch, hat sich in der Bundesrepublik die Sozialgeschichte zunächst vor allem als Arbeitergeschichte etabliert. Diese fruchtbare Verknüpfung verkörperte Klaus Tenfelde wie kein anderer. Von der »Sozialgeschichte der Bergarbeiter an der Ruhr im 19. Jahrhundert« handelte sein erstes Buch, das aus der Dissertation entstand, 1977 erschien und zum Standardwerk wurde. Über den Widerstand gegen und die Anpassung an den Nationalsozialismus in der oberbayerischen Bergarbeiterstadt Penzberg habilitierte er sich 1981.1 Die Geschichte der Bergarbeiter verlor der gelernte Bergmann Tenfelde nie aus den Augen, doch erweiterte sich sein Blick früh auf größere Zusammenhänge, so etwa auf die Geschichte der »Arbeiter im Kaiserreich«, die er 1992, zusammen mit Gerhard A. Ritter, in einem sozialgeschichtlichen Grundlagenwerk umfassend b ­ ehandelte.2 Die Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung, vor allem der sozialdemokratischen, ist im Zentrum seines Interesses geblieben. Ihr gehörte, auch politisch, seine allerdings nie unkritische Loyalität, die sein wissenschaftliches Interesse an diesen Themen mitmotivierte, seinen Blick schärfte, aber seine für die wissenschaftliche Analyse unabdingbare Objektivität nicht beeinträchtigte. Das Bild, das Tenfelde von der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewegung in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zeichnete, war ungemein nüchtern. Der Autor hielt sich gleich weit entfernt von unkritischer Verklärung 1 Tenfelde, Klaus, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19.  Jahrhundert, Bonn 1977 (und weitere Auflagen); ders., Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900–1945, München 1982 (zuerst in: Martin Broszat u. a. (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. IV, München 1981, S. 1–382). 2 Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992.

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aus missverstandener Solidarität wie von wohlfeiler Kritik aus dem Blickwinkel des nachträglich alles besser wissenden Historikers oder vom Podest des prinzipienfesten Theoretikers herab, der vergangene Wirklichkeit selbstsicher am Maßstab seiner Normen misst. Tenfeldes Urteil über die »kleinen Leute« vergangener Zeiten und ihre Bewegungen, ihre Bestrebungen, Niederlagen und Erfolge war vom Bemühen um historische Gerechtigkeit geprägt, und das hieß nicht zuletzt: von größter empirischer Genauigkeit und Quellenkenntnis, aber auch von der Einsicht in die drückende Last der beengenden Verhältnisse, unter denen sie lebten und agierten – und Respekt vor den großen Hoffnungen, die sie dennoch entwickelten und den Leistungen, die sie dennoch erbrachten. Tenfelde verband Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte, wobei ihm ein teils an Marx, teils an Max Weber orientierter klassenhistorischer Ansatz half, dem er nahestand, auch wenn er ihn theoretisch kaum explizierte und später zugunsten des Milieubegriffs relativierte. Zentral war für ihn immer die Frage nach Interessen und Interessenkonflikten, aber auch nach klassen-, gruppen- und milieuspezifischen Erfahrungen und Erwartungen, nach der die Milieus verbindenden Kommunikation, geteilten Symbolen und praktizierter Kultur, auch und gerade im Streit mit dem klassenpolitischen Gegenüber, den Unternehmern und den Regierenden. Über Petitionen und Streiks, Vereine und Gewerkschaften, Arbeiterparteien und Staat hat Tenfelde maßgebend geschrieben, doch sehr früh auch über die Religiosität der Arbeiter. Wenn internationale Konferenzen und Sammelbände über den Stand der labor history in den verschiedenen Ländern berichten sollten, dann war es wahrscheinlich, dass Klaus Tenfelde gebeten wurde, den deutschen Fall zu übernehmen.3 Die Aufsätze, die der Autor für diesen Querschnitt durch sein Werk aus­ gesucht hat, resümieren allerdings seine Erkenntnisse zur Geschichte der Bergarbeiter, der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung in Deutschland nur zum kleinen Teil. Vielmehr führen sie eindrucksvoll vor, wie es Klaus Tenfelde von Anfang an, also seit den späten 1970er Jahren gelungen ist, von der Arbeiter­ geschichte ausgehend und sie nicht aus dem Blick verlierend, sich immer neue Fragestellungen und Themengebiete zu erschließen. Er nahm dabei Anstöße aus der internationalen Sozialgeschichte und aus der Kritik an ihr – etwa an ihrer anfangs allzu struktur- und prozessgeschichtlichen, allzu sozialökonomischen Orientierung – auf und trug damit, so kraftvoll wie eigenständig und originell, zur Weiterentwicklung der Sozialgeschichte bei. Dies vor allem dokumentieren die Aufsätze dieses Sammelbandes. Sie zeigen zugleich, wie früh und wie sehr Tenfeldes Verständnis von labor history über die sie anfangs definierenden Themen – wie Geschichte der Arbeitsverhältnisse, der Interessen, Streiks und Arbeiterorganisationen – hinausdrängten, hinein in die Geschichte der Lebensverhältnisse, der sozialen Ungleichheit, des Familienlebens und der Geschlechterbeziehungen, der Urbanisierung und der Kultur. Sie be­legen schließ3 Vgl. z. B. Tenfelde, Klaus, Germany, in: Joan Allen u. a. (Hg.), Histories of Labour. National and International Perspectives, Pontypool (The Merlin Press) 2010, S. 262–289.

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lich, dass es möglich ist, große Bereiche der Gesellschaftsgeschichte des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts von der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte her zu erschließen und zu interpretieren. Eben dies ist Klaus Tenfelde in seinen großen Aufsätzen gelungen. In den dreieinhalb Jahrzehnten seines wissenschaftlichen Wirkens hat Klaus Tenfelde das Spektrum seiner Themen und Zugangsweisen unablässig erweitert. Aber beliebig ist er dabei nie geworden, denn die Dynamik seines Werkes lag oft in der Konsequenz seines ursprünglichen und zentralen Interesses. Das gilt schon für den bahnbrechenden Aufsatz über das ländliche Gesinde in Preußen, der sozialökonomische Existenz und soziokulturelle Lebenswelt einer oft vergessenen Formation der Unterschichten im Übergang zur Moderne minutiös rekonstruierte. »Recht« und »Statistik«, die der Untertitel bescheiden ankündigte, bildeten nur die Hintergrundfolie der subtilen Annäherung an eine soziale Gruppe, die von den zuvor erschlossenen Bergarbeitern an der Ruhr auf den ersten Blick denkbar weit entfernt war: Die Szenerie verlagerte sich vom äußersten Westen Preußens in den Osten, von den werdenden Großstädten in die bald hinterherhinkenden ländlichen Provinzen, und nicht zuletzt: von den selbstbewusst und gut organisiert auftretenden Bergarbeitern zum heterogenen Gesinde, dem Standes- und Klassenbewusstsein fehlte, und politische Durchschlagskraft wie in der Arbeiterbewegung erst recht. Und doch liest man in dieser Pionierstudie einen Subtext der Parallelität zu Tenfeldes Promotionsschrift mit. Nicht nur erinnert er an die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« in den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, an die weite Spanne der lohnarbeitenden Existenzen. In seinem Übergangscharakter zwischen »Stand« und »Klasse« war das ländliche Gesinde den Bergarbeitern gar nicht so fern, und deshalb auch in der markanten Prägung sozialökonomischer Ungleichheit durch spezifische Rechtsverhältnisse und Rechtstraditionen. Schließlich blieb auch der Bergbau immer ein Stück weit Urproduktion, primärer Sektor, und solche komplizierte Mischungsverhältnisse interessierten Klaus Tenfelde besonders, auch wenn er sich später viel mit der klassischen Industriearbeit in den Fabrikhallen, bei Krupp4 und anderswo, beschäftigte. Schon der erste Teil dieses Bandes, der Arbeitergeschichte gewidmet, dokumentiert Veränderungen, das immer wieder neugierige Aufnehmen von Themen, die gewiss oft im geschichtswissenschaftlichen »Zug der Zeit« lagen, aber die Tenfelde auf die ihm eigene Weise originell prägte. Die Perspektive verschob sich zunehmend vom Arbeitsplatz in die persönlichen Lebensverhältnisse, in private Lebensführung und kollektive Weltdeutung. Hinter dem Bergmann, dem männlichen Idealtyp des Industriearbeiters überhaupt, stand (wie schon beim ländlichen Gesinde)  eine komplexe Welt der Geschlechter- und Familien­ordnung. Arbeiter produzierten nicht nur, sondern etablierten im späteren 19. Jahrhundert auch Muster einer Konsumökonomie, die sie als Teil ihrer 4 Tenfelde, Klaus (Hg.), Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994.

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Klassenidentität erfuhren. In den letzten Jahren wandte sich Klaus Tenfelde der wiederentdeckten Geschichte von Religion und Religiosität zu und spiegelte sie in »seine« Arbeiterschaft im Ruhrgebiet, auch um damit bewusst einen Akzent zu setzen gegen manche bildungsbürgerlichen oder traditionalistischen Neigung dieser Forschungsrichtung. Dennoch erweiterte sich das Interesse, besonders seit den 1980er Jahren, zugleich von der Arbeiter- in die Bürgertumsgeschichte. Zwei »Brücken« dieser Verschiebung dokumentiert dieser Band: Einerseits war das für Tenfelde die Geschichte von Vereinswesen und Assoziation, die ihn von den Arbeiterassoziationen und Gewerkschaften in die bürgerliche Selbstorganisation des industriellen Zeitalters führte. Das Bürgerliche interessierte, ja faszinierte Klaus Tenfelde auf besondere Weise, und man kann wohl sagen: auch persönlich und biographisch auf eine doppelte Weise. Es galt ihm als die Gegenwelt der Arbeiter, der Malocher, denen er nach Herkunft und Selbstverständnis immer eng verbunden blieb: Manchem Kollegen, der aus bildungsbürgerlichem Elternhaus stammte, blieben seine ironischen Kommentare nicht erspart, bei denen sich in den eigenen Stolz vielleicht auch bisweilen ein wenig Neid auf diejenigen, denen ihrer Herkunft nach manches leichter gefallen war, mischte. So erkundete Tenfelde diese Gegenwelt auch wissenschaftlich immer zugleich als eine Leitwelt, als mächtigen Sog einer Verbürgerlichung, in der er angesichts der noch selbst erfahrenen bedrückenden materiellen Verhältnisse des Proletariats niemals einen »Verrat« an den Klasseninteressen gesehen hätte. Im Spannungsfeld von Biographie, eigener wissenschaftlicher Neugier und der allmählichen Verschiebung von Fachinteressen muss man zumal Klaus ­Tenfeldes »Adventus«-Aufsatz lesen, seine zuerst in der »Historischen Zeitschrift« gedruckte Münchner Antrittsvorlesung von 1981. Nachdem er seinem Lehrer Gerhard A. Ritter mit dessen Berufung von Münster nach München als Assistent gefolgt war, und sich in der Habilitionsschrift dem oberbayerischen Bergarbeitermilieu Penzbergs (zugleich Tenfeldes damaliger Wohnort) zu­gewandt hatte, spürt man in der Antrittsvorlesung den mächtigen Antrieb, sich dem Münchner Milieu zu beweisen: mit einer zeitlich weit ausgreifenden Perspektive bis in das frühe Mittelalter (und entsprechenden lateinischen Zitaten!), mit der Wendung von den Ärmsten der Gesellschaft zu den Herrschern; und vor allem mit der souveränen Demonstration, nicht nur auf der Klaviatur der Sozialgeschichte, sondern auch der Politik- und Kulturgeschichte, einschließlich der Geschichtsmächtigkeit ihrer ästhetischen Dimensionen, spielen zu können  – schließlich war dies, Anfang der 1980er Jahre, auch das München Thomas Nipperdeys. Über eine bloße Nachahmung führte Tenfeldes Studie zum Festzug dennoch weit hinaus. Sie liest sich, heute mehr denn je, als eine Pionierstudie jener neuen »Kulturgeschichte der Politik«, die Repräsentation, Zeremonie und Ritual in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt hat. Die zweite Brücke von der Arbeiter- in die Bürgertumsgeschichte bildete sein Interesse an Stadtgeschichte und Urbanisierung, an der Stadt als modernem Lebens- und Erfahrungsraum. Schon als Privatdozent, zu Beginn der 12 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

1980er  Jahre, hatte er eine Vorlesung zur Geschichte der Urbanisierung im Repertoire, die einen weiten Bogen von den demographischen Grundlagen über Erfahrungsmuster bis zur literarischen und ästhetischen Verarbeitung der neuen Metropolen schlug.5 Ein lange geplantes Buch zu diesem Thema ist leider nie fertig geschrieben worden. In der Großstadt entfaltete sich für Tenfelde paradigmatisch die moderne Lebenswelt, und doch waren es wieder die Übergangszonen, die komplizierten Mischungen, denen sein besonderes Interesse galt: der »defizienten Urbanisierung« des Ruhrgebiets, das er schon in seiner Dissertation ausführlich als besondere Siedlungslandschaft würdigte, ebenso wie den Mischformen stadt-ländlicher Existenz im späteren 20.  Jahrhundert, die den scharfen Stadt-Land-Gegensatz des klassischen industriellen Zeitalters teilweise wieder aufzulösen begannen und die »Welt als Stadt« definierten. Damit ist eine weitere Dynamik in Klaus Tenfeldes Werk angesprochen: der Zug vom 19. ins 20. Jahrhundert, der die Proportionen in der Neueren und Neuesten Geschichte besonders in Deutschland während der letzten zwei Jahrzehnte massiv verschoben hat. Dem klassischen Industriezeitalter ist Tenfelde in vielen Projekten zwar treu geblieben, aber er ist jenem Trend des Faches auch gern gefolgt, bis in die Entwicklungen der jüngsten Zeit, des späten 20. Jahrhunderts, hinein. Dabei hat ihn das nachindustrielle Schicksal des Ruhrgebiets seit den 1970er Jahren wissenschaftlich, politisch und persönlich besonders umgetrieben, dessen Gegenwart er wie kein zweiter in der gebrochenen Kontinuität des Industriezeitalters vor Augen führen konnte. So sind, bei aller produktiven Erschließung wissenschaftlichen Neulands, Grundmotive und Konstanten in den Arbeiten Klaus Tenfeldes unübersehbar. Man findet sie nicht nur in Themen, zu denen er über die Jahrzehnte immer wieder zurückkehrte, sondern gerade auch in einem besonderen Zugriff auf die Sozialgeschichte. An dessen Anfang stand weniger die theorieförmige Selbstvergewisserung, sondern die empirische Vergewisserung über die Fundamentalien sozialer Strukturen in der Vergangenheit. Tenfeldes Ausgangspunkt, wenn er sich einem neuen Gegenstand zuwandte, waren immer wieder die Zahlen der preußischen und der Reichsstatistik, wie das in diesem Band der »Gesinde«-Aufsatz und die Annäherung an die »Großstadtjugend« des Kaiserreichs besonders schön zeigen. Erst musste die demographische Materialität der Geschichte erschlossen werden: das war ihm, eher als die Marxschen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die Basis der Sozialgeschichte, aber eine Basis eben doch. Demographie faszinierte ihn überhaupt; über Gebürtigkeit, Reproduktionsraten und Sterblichkeit sprach er gerne und fließend. Soziale Wirklichkeit konstituiert sich in den demographischen Schnittstellen und Phasen des Lebens: Geburt und Sozialisation, Familiengründung und Beruf, Alter und Tod. Er prägte 5 WS 1983/84 an der Universität Bielefeld (Lehrstuhlvertretung Hans-Ulrich Wehler). – Vgl. auch: Hardtwig, Wolfgang u. Tenfelde, Klaus (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich, München 1990.

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eigene Begriffe, mit denen er demographische Phänomene aus ihrer schein­ baren Statik befreite, sie dynamisierte und damit historisierte: die »kumulative Verjugendlichung« einer Gesellschaft; ihre »Verberuflichung« in der klassischen Industriemoderne, ihre zunehmende (und dann, seit den 1970er Jahren, wieder abnehmende)  Familienförmigkeit oder »Familiarisierung«. Die demographische Statistik bot ihm den Schlüssel dazu. Aber Klaus Tenfelde erschloß darin und dahinter Facetten von Lebenswelt und Erfahrung, in einer soziokulturellen, auf Statistik fußenden und zugleich über sie hinausgehenden Tiefenhermeneutik, deren Meister er jedenfalls in Deutschland war. Man muss erst einmal darauf kommen, die Arbeiterfamilie als eine »Sterbegemeinschaft« zu charakterisieren.6 Innerhalb der (west-) deutschen Sozialgeschichte stand Tenfelde deshalb wie kein zweiter in der Nähe zur französischen Geschichtsschreibung der »Annales«: Demographie und Mentalitäten; Mentalitäten aus Demographie. Eine große Theorie brauchte es dafür nicht unbedingt, wohl aber einen klaren – methodisch distanzierten, insofern auch: »kalten« – analytischen Blick. Deshalb formulierte er, der sich wie kaum ein anderer den alltäglichen Lebensverhältnissen, der »Lebensbewältigung« der Unterschichten zuwenden konnte, im Streit um die Alltagsgeschichte seine »Schwierigkeiten mit dem Alltag«.7 Vor diesem Hintergrund suchte Klaus Tenfelde seit den 1990er Jahren die Einheit seiner Sozialgeschichtsschreibung zunehmend mit den Begriffen des »Milieus«, der »Generation« und, vor allem, der »Sozialisation« zu fassen. Ein Teil davon spiegelt sich im dritten Teil dieses Bandes. Damit versuchte er sein Grundmotiv einer dynamischen Reproduktion der Gesellschaft zu unter­ streichen: Soziale Formationen bilden und verändern sich im Lebenszyklus; soziale Kollektive werden aus Individuen »gemacht«, und sind doch mehr als die Summe individueller Biographien. Zugleich hob Tenfelde damit jene Verzahnung von Struktur und Erfahrung hervor, die seine Sozialgeschichte auszeichnet. Generationen sind demographisch präformiert und werden historisch wirkmächtig doch erst als Erfahrungs- und Deutungsgemeinschaften. Statt des Milieubegriffs hätte er sich gewiss auch eines kulturgeschichtlich erweiterten Klassenbegriffs bedienen können (vor dem er im übrigen auch keine Scheu hatte). Doch schien ihm das »Milieu«, neben den nachgerade klassischen Aspekten der deutschen politischen Kulturgeschichte, wohl die konkrete Verwurzelung der Lebensverhältnisse und ihre räumliche Situierung besser zum Ausdruck zu bringen. Sozialgeschichte als Sozialisationsgeschichte: das wäre dann keineswegs eine Geschichte von Erziehungs- und Bildungsprozessen, sondern eine Sozialgeschichte von Lebenserfahrungen im generationellen Wandel, die aus materiellen Strukturen aufsteigen und sich, bei aller Flüssigkeit, auch wieder zu Strukturen verdichten können. 6 Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich (in diesem Band, Nr. II, S. 86. 7 Tenfelde, Klaus, Schwierigkeiten mit dem Alltag, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg.  10, 1984, S. 376–394 (nicht in diesem Band).

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Die hier ausgewählten Aufsätze können nicht beanspruchen, das gesamte Interessenspektrum Tenfeldes auszuleuchten. Beispielsweise hat Tenfelde sehr viel mehr zur Politikgeschichte geschrieben als in der Auswahl deutlich wird.8 Auch dokumentiert diese nicht, wie sehr er sich seit der Übernahme des sozialgeschichtlichen Lehrstuhls an der Ruhr-Universität Bochum 1995 und dann mit der Leitung des dortigen, von ihm gestalteten Hauses der Geschichte des Ruhrgebiets (einschließlich des Instituts und des Archivs für soziale Bewegungen) mit Forschung, Publikationen und zivilgesellschaftlicher Arbeit für das Ruhrgebiet und seine regionale Identität engagierte, »die in der gemeinsamen montanindustriellen Vergangenheit wurzelt, aber ausgerichtet auf die Gegenwart«, so Dieter Langewiesche in seinem Nachruf auf Klaus Tenfelde.9 Trotzdem dokumentieren die ausgewählten Aufsätze, wie vielfältig und dynamisch Tenfeldes Forschungsinteressen waren. Sie lassen aber auch erkennen, was sie  – neben ihrem thematischen Zusammenhang  – methodisch-theoretisch zusammenhielt, nämlich ihre entschieden sozialgeschichtliche Orientierung: So sehr auch politische Dimensionen, wirtschaftliche Gegebenheiten und kulturelle Phänomene einbezogen und berücksichtigt werden, so eindeutig stehen soziale Prozesse und Strukturen, soziale Handlungen und Formationen im Vordergrund der Argumentation. Der Autor widmet sich zwar konsequent der Rekonstruktion und Interpretation von Wahrnehmungen, Erfahrungen, Diskursen und Handlungen, zugleich aber nimmt er ernst, dass Wahrnehmungen, Erfahrungen, Diskurse und Handlungen Bedingungen und Folgen haben, die im Denk- und Gefühlshorizont der damals wahrnehmenden, Erfahrungen machenden, kommunizierenden und handelnden Menschen nicht notwendig präsent waren. Damit hängt zusammen, dass zwar die Biographien einzelner Menschen, einzelne Handlungen und Ereignisse nicht vernachlässigt werden, aber die Geschichte sozialer Felder, Prozesse und Strukturen als prägende, begrenzende und ermöglichende Bedingungen des Erfahrens, Denkens, Wollens und Handelns eindeutig im Vordergrund steht, darunter vor allem die sich verändernden Muster sozialer Ungleichheit und die Geschichte von Abhängigkeit, Konflikt, Herrschaft und Protest. Sozialhistorisch ist schließlich die Argumentations- und Darstellungsform: Neben Wie-Fragen werden Warum-Fragen häufig gestellt und möglichst beantwortet. Zwar wird auf narrative Darstellungs­formen nicht verzichtet. Doch stehen systematisch-analytische Argumentationen im Vordergrund. Die Feststellung von Größenverhältnissen und Häufigkeiten ist wichtig. Das Buch ist reich an Tabellen, wenngleich es kein Beispiel für die ohnehin sehr 8 Klaus Tenfelde hatte auch den Wiederabdruck seines Aufsatzes »Bismarck und die Sozialdemokratie« geplant. Dies ist aus Platzgründen unterblieben. Er findet sich in: Lothar Gall (Hg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001, S. 111–135. 9 In: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 37, 2011, S. 649–656, hier S. 654. Klaus Tenfeldes umfangreiches Schriftenverzeichnis ist zugänglich über die Homepage des Bochumer »Hauses der Geschichte der Ruhrgebiets«: www.isb.ruhr-uni-bochum.de/mitarbeiter/tenfelde/index. html.de [05.02.2012].

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aus der Mode gekommene quantitative Geschichtsschreibung darstellt, sondern primär qualitativ argumentiert. So sehr Klaus Tenfelde in Forschung und Darstellung auf die unterschiedlichsten Wirklichkeitsbereiche einging, so sehr blieb er im Kern ein Sozialhistoriker. Das Buch war als Querschnitt durch das bisherige Lebenswerk eines weiterhin aktiven, produktiven, einflussreichen und maßgebenden Sozialhistorikers geplant. Nun erscheint es post mortem und dient zugleich dem Gedenken an Klaus Tenfelde, den viel zu früh verstorbenen Historiker, Kollegen, Förderer und Freund. Berlin, im Februar 2012

Jürgen Kocka, Paul Nolte

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Arbeitergeschichte

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I. Ländliches Gesinde in Preußen Gesinderecht und Gesindestatistik 1810 bis 1861

1. Zur Sozialgeschichte der ländlichen Unterschichten »Indem ich von der Rohigkeit des Gesindes rede, so ist es, ohne Erinnern, gewiß, daß ich den größten Teil dieser Art Leute betrachte. Denn einer oder der andere vernünftige, gesittete und ehrliebende Bediente hebt dieses allgemeine Übel bei weitem nicht auf. Ebenso ist es auch begreiflich, daß ich hier durch das rohe Wesen des Gesindes nichts anderes als dessen Mangel an Erkenntnis und Ausübung der Pflichten und guten Sitten verstehe. Derjenige heißt überhaupt roh in einer Sache, welcher davon gar keine Erkenntnis hat. Redet man nun von der Rohigkeit des Gesindes, so setzt man dadurch ihre schlechte und gänzlich mangelhafte Erkenntnis von den nötigsten und bekanntesten Pflichten voraus, weil sich die Begriffe desselben ohnedies nicht weiter als auf die gemeinsten Handlungen in der menschlichen Gesellschaft erstrecken dürfen.«

Klagen wie diese1 über die Unzuverlässigkeit, Faulheit, Verlogenheit und den diebischen Eigennutz vor allem des häuslichen, aber auch des ländlichen Gesindes begleiten die umfangreiche, weit zurückreichende Gattung der hausväterlichen Gesindeliteratur als ein gleichermaßen Motive und Wirkungs­absichten dieses Schrifttums umschreibender Topos. Meist ist es die Empörung der Stände über »Mutwillen, Frevel, Halsstarrigkeit, Ungehorsam und Bosheit des Gesindes, wie auch der Hirten und Schäfer«,2 die den Landesherrn immer wieder zum Erlass neuer Gesindeordnungen und – mit der Zeit zunehmender – Einschränkungen von Freiheit und Freizügigkeit des Gesindes veranlasst; »Klagen und Spott über des Gesindes Tücke«3 erscheinen in den Lehrgedichten und der unterhaltenden Literatur seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, und um die Wende zum 19. Jahrhundert ist man mancherorts von den »Rohheiten, Untugenden, Unbilligkeiten und vielen anderen moralisch empörenden Dingen« unter dem Gesinde so überzeugt, dass angesichts der Alternative, den landwirtschaftlichen Betrieb mit Gesindepersonen oder dienstpflichtigen Vollbauern und Lassiten 1 Krünitz, Johann Georg, Das Gesindewesen nach Grundsätzen der Ökonomie und der Polizeywissenschaft abgehandelt, Berlin 1779, S. 26. 2 Vorstellungen der Stände der Mittel-, Ucker- und Neumark zum Landtag 1620, zit. nach Lennhoff, Ernst, Das ländliche Gesindewesen in der Kurmark Brandenburg vom 16.  bis 19. Jahrhundert, Breslau 1906, S. 4. 3 Könnecke, Otto, Rechtsgeschichte des Gesindes in West- und Süddeutschland, Marburg 1912, ND Frankfurt 1970, S. XXXIII.

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wahrzunehmen, letzteren der Vorzug gegeben wird.4 In den älteren Lexika wird das Gesinde seinem Diminutiv »Gesindel« nahe gestellt, werden Belege über die verächtliche Bedeutung von »Gesinde« oder »Gesindel« in Fülle versammelt5 oder Empfehlungen über grundlegende Vorsichtsmaßregeln bei der Anmietung von Gesinde erteilt.6 Noch in den 1870er Jahren heißt es, der Diebstahl sei leider im ländlichen »Arbeiterstande etwas so Selbstverständliches, die Lüge etwas so Gewöhnliches, daß man annehmen kann, die Mütter halten ihre Kinder eher zur Unehrlichkeit und zur Lüge als zur Redlichkeit und Wahrheit an«.7 Es liegt auf der Hand, was – die Beispiele lassen sich beliebig vermehren8 – von solcherart Räsonnement zu halten ist: Dies war die Literatur der Herrschaften, der Mieter und Dienstherren von Gesinde, und so verband sich allzu offenkundig mit den wirtschaftlichen Interessen das moralische Verdikt, so urteilte im ständisch festgefügten Gesellschaftssystem der Privilegierte über den Diener, die Herrschaft über das Volk. Wenn denn die »durch die Jahrhunderte ziemlich gleichbleibenden Klagen über die dienende Bevölkerung« stets der Wahrheit entsprochen haben sollten, dann müssten Gesinde und Dienstboten »vor vielleicht tausend Jahren wahre Engel gewesen und jetzt zu wahren Teufeln geworden sein«, heißt es sarkastisch in einer Schrift des Freiherrn von der Goltz von 1873.9 Tatsächlich verdeutlichen die umfängliche, moralisierende Gesindeliteratur vergangener Jahrhunderte, die zahllosen rechtlichen Interventionen der städtischen und ländlichen, der regionalen und zentralen Obrigkeiten in das Dienstverhältnis und nicht zuletzt der Umfang der Gesindehaltung in den städtischen Herrschaften und auf dem Lande vielmehr, welche außerordent­ liche Rolle der Dienstvertrag zwischen Herrschaft und Gesinde für die geregelte Hauswirtschaft und ländliche Produktion in der alteuropäischen Gesellschaft gespielt hat. Dieses Dienstverhältnis zeigte trotz ähnlicher Grundzüge so zahlreiche landschaftlich-territoriale Abweichungen und Verschiedenheiten, schuf und spiegelte eine derartige Fülle unterschiedlicher Funktionen, Gewohnheiten 4 Einige Gedanken über die Hofdienste, in: Annalen des Ackerbaues, Jg. 4, 1808, Bd. 8, S. 408– 420, S. 415. Die Argumentation versteht sich vor dem Hintergrund drohender Ablösung der Hofdienste, deren Ersetzung durch Gesinde diskutiert wurde. 5 »Gesind, Gesinde« sowie »Gesindel«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. IV, 1, 2, 1897, Sp. 4108–4114. 6 »Gesinde, Brödlinge, Dienst-Boten, Ehehalten«, in: Zedlers Universal-Lexikon, Bd. 10, 1735, Sp. 1282 ff. Vgl. im Übrigen den rechtsgeschichtlich bedeutenden Artikel von Emminghaus, B[ernhard], Gesinde, Gesindezwang, in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und der Künste, Bd. I, 64, Leipzig 1857, S. 236–266. 7 V. d. Goltz, Theodor Frhr. (Hg.), Die Verhandlungen der Berliner Conferenz ländlicher Arbeitgeber, Danzig 1872, S. 31; vgl. ebd., S. 72. 8 Zahlreiche Hinweise auf die ältere Gesindeliteratur verdankt die Forschung den Studien von Rolf Engelsing; vgl. z. B.: Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert, in: ders., Zur Sozial­ geschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Göttingen 1973, S. 180–224, S. 210 f.; sowie die unten in Anm. 19 genannten Titel. 9 V. d. Goltz, Theodor Frhr., Die sociale Bedeutung des Gesindewesens. Zwei Vorträge, Danzig 1873, S. 21; kritisch auch Lennhoff, S. 58–62.

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und Rechtsgebräuche, dass eine zusammenfassende und systematisierende Betrachtung seiner Entstehung, Entwicklung und Veränderung unter den Impulsen der Frühindustrialisierung wenn nicht unmöglich, so doch angesichts der weitgehenden Vernachlässigung des Gegenstands in der neueren Forschung vorläufig unerreichbar erscheint. Für die historische Betrachtung empfiehlt sich vielmehr einstweilen eine regionale und chronologische, auf Kernbereiche konzentrierte Beschränkung der Fragestellungen, wie dies auch in den wenigen neueren Untersuchungen10 zum Ausdruck kommt. Hierzu sollen die folgenden Ausführungen unter Nutzung der rechtlichen und statistischen Überlieferungen sowie der älteren gesindegeschichtlichen Literatur beitragen. Ein recht weitläufiges wissenschaftliches Schrifttum zur Gesindegeschichte hat sich zunehmend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfalten können. Impulse zu solcherart Studien sind von der gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufblühenden agrarwissenschaftlichen Literatur und von den sozialkritischen Traktaten im Umfeld der Diskussionen um Pauperismus und soziale Frage, vor allem aber von der mit Studien wie jenen von Georg Friedrich Knapp über die »Bauernbefreiung«11 vor­angetriebenen agrargeschichtlichen Literatur über die Wurzeln, den Verlauf und die Folgen der Agrarreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgegangen. Von den zeitgenössischen Erscheinungen der sozialen Not auf dem Lande, der Landflucht und den ländlichen Herrschaftsverhältnissen fasziniert oder auch abgeschreckt, widmeten sich nach der Jahrhundertmitte zahlreiche Autoren den ländlichen Umschichtungsprozessen im Gefolge von Bauern­befreiung, Ablösung der Dienstpflichten und Gemeinheitsteilung sowie den damit verbundenen Spezialfragen wie jener nach dem Ursprung der Landarbeiter und, nicht zuletzt, der Geschichte des ländlichen Gesindes.12 Noch in 10 Vgl. Anm.  16, 17, sowie für Bayern, wo die Gesindehaltung stets besonders hoch war (s. Anm. 105): Schnorbus, Axel, Die ländlichen Unterschichten in der bayerischen Gesellschaft am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Jg. 30, 1967, S. 824–852; Hartinger, Walter, Bayerisches Dienstbotenleben auf dem Land vom 16. bis 18. Jahrhundert, ebd., Jg. 38, 1975, S. 598–638; Haushofer, Heinz, Ländliche Dienstboten in Altbayern, in: ZAA, Jg. 23, 1975, S. 47–51. 11 Knapp, Georg Friedrich, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens, 2 Teile in 1 Bd., Leipzig 1887; s. Schissler, Hanna, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847, Göttingen 1978. 12 Zu den bedeutendsten Studien gehören: Kollmann, Paul, Geschichte und Statistik des Gesindewesens in Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Jg.  10, 1868, S. 237–301; Kähler, Wilhelm, Gesindewesen und Gesinderecht in Deutschland, Jena 1896; zum Gesinderecht bes. Könnecke; zur regionalen Gesindegeschichte neben Lennhoff bes. Wuttke, Robert, Gesindeordnungen und Gesindezwangsdienst in Sachsen bis zum Jahre 1835. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie, Leipzig 1893; Platzer, Hanns, Geschichte der ländlichen Arbeiterverhältnisse in Bayern, München 1904; Süskind, Siegfried, Das Gesinderecht der Provinz Hessen-Nassau, Marburg 1908; s. ferner Ludwig, Franz, Die Ge­ sindevermittlung in Deutschland, Tübingen 1903; Morgenstern, Hugo, Gesindewesen und Gesinderecht in Osterreich, Wien 1902.

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jüngerer Zeit zeigt sich die seit Knapp durch Diskussionen wie jene um Gutsoder Grundherrschaft und deren Formen befruchtete agrargeschichtliche Literatur von der Vorgeschichte und den Folgen der Agrarreformen stark angezogen; das Gesinde als die im sozialen Umschichtungsprozess der Landbevölkerung bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts vielleicht stabilste Erwerbsgruppe findet hierin jedoch oft nur noch am Rande Berücksichtigung.13 Wiederum der sozialen Not auf dem Lande, mit gewissem Recht vor allem in den preußischen Ostprovinzen, verbunden waren die seit den 1890er Jahren wiederholten Enqueten bürgerlich-konfessioneller Sozialreformer über die Lage der ländlichen Arbeiter,14 die zu den bedeutenden Leistungen der statistisch-beschreibenden Sozialkritik in Deutschland gehören, jedoch der geschichtlichen Entwicklung gegenwärtiger Zustände lediglich im Prinzip, nicht im Detail gewidmet sind. Sie gehören indessen zum argumentativen Hintergrund der insbesondere durch Initiativen der Sozialdemokratie entfesselten, in Ausmaß und Wucht sowohl das unterschwellige Schuldbewusstsein der einen als auch die anhaltend reformfeindliche Ignoranz der anderen spiegelnden Debatten seit 1896 um die fortgeltenden Bestimmungen des reaktionären Gesinderechts in der Öffentlichkeit, im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus.15 Nachdem schon in den ersten Tagen der Revolution 1918 mit dem Ärgernis der Preußischen Gesindeordnung aufgeräumt worden war, mehr jedoch infolge der weiterhin abnehmenden Bedeutung abhängig in der Landwirtschaft Beschäftigter im Erwerbsleben, verminderte sich das wissenschaftliche Interesse an der ländlichen Arbeiterfrage. Vor allem in der volkskundlichen Literatur 13 Vgl. etwa Lütge, Friedrich, Die mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung, Stuttgart 19572, S. 216–238; weniger ausführlich Buchholz, Ernst Wolfgang, Ländliche Bevölkerung an der Schwelle des Industriezeitalters. Der Raum Braunschweig als Beispiel, Stuttgart 1966, S. 73 f.; Sakai, Eihachiro, Der kurhessische Bauer im 19. Jahrhundert und die Grundlastenablösung, Melsungen 1967; Harnisch, Hartmut, Die Herrschaft Boitzenburg. Untersuchungen zur Entwicklung der sozialökonomischen Struktur ländlicher Gebiete in der Mark Brandenburg vom 14.  bis zum 19.  Jahrhundert, Weimar 1968, S.  225–233; Mager, Friedrich, Geschichte des Bauerntums und der Bodenkultur im Lande Mecklenburg, Berlin [DDR] 1955, S. 387–389, 481–483; Boelcke, Willi, Bauer und Gutsherr in der Oberlausitz. Ein Beitrag zur Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsgeschichte der ostelbischen Gutsherrschaft, Bautzen 1957, S.  111–116, 193–195; sehr knapp auch Wolfgang v. Hippel in seinem eindrucksvollen Werk: Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, 2 Bde., Boppard a. Rh. 1977, Bd. 1, S. 73. 14 Bes. Weber, Max, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, dargestellt auf Grund der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebungen, Leipzig 1892; ders. (Hg.), Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands in Einzeldarstellungen nach Erhebungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses, Tübingen 1899. 15 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Mannheim 1906 sowie Bericht über die 4. Frauenkonferenz, Berlin 1906, S. 414–440; aus der neueren Literatur s. z. B. Puhle, Hans-Jürgen, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914), Bonn-Bad Godesberg 19752, S. 187 f.; Flemming, Jens, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890–1925, Bonn 1978, S. 53–61.

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ist die Beschäftigung mit den Daseinsformen auch der ländlichen Unterschichten als bedeutende Forschungsrichtung in jüngerer Zeit aufgelebt; hier sind einige bemerkenswerte, längst von jener Verklärung ländlicher Lebensformen in den älteren Traditionen der Disziplin entfernte Studien gerade zur Gesindegeschichte und -volkskunde entstanden,16 mit denen die eigentliche historische und agrargeschichtliche Forschung auf diesem Gebiet deutlich überholt worden ist. Auch die bedeutendste jüngere Untersuchung zur Gesindegeschichte, Siegmund Musiats Studie »Zur Lebensweise des landwirtschaftlichen Gesindes in der Oberlausitz«,17 zeigt sich in der Darstellung der sozioökonomischen Entwicklungsbedingungen, der rechtlichen und sozialen Lage sowie in den ausführlichen Kapiteln über Wohnung und Beköstigung sowohl historischen als auch volkskundlichen Fragestellungen verpflichtet. In der neueren Sozial- wie in der Agrargeschichte erweist sich die Gesinde­ geschichte wie überhaupt die Geschichte der ländlichen Unterschichten als einer der großen »weißen Flecken«.18 Gäbe es nicht die weiträumigen, materialgesättigten Studien von Rolf Engelsing zur Geschichte des häuslichen Gesindes19 sowie eine Reihe von neueren, wiederum den ländlichen Umschichtungsprozessen sowie insbesondere der Frühgeschichte der ländlichen Lohnarbeiterschaft gewidmeten Studien von DDR-Agrarhistorikern,20 so bliebe alle Kenntnis vom Gesinde auf dem Lande auf die durchweg wertvollen Untersuchungen bereits 16 Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg, Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts auf Grund der Mannhardtbefragung in Deutschland von 1865, Marburg 1965; Sauermann, Dietmar, (Hg.), Knechte und Mägde in Westfalen um 1900, Münster 1972; Grießmair, Johannes, Knecht und Magd in Südtirol, dargestellt am Beispiel der bäuerlichen Dienstboten im Pustertal, Innsbruck 1970; Ilisch, Peter, Zum Leben von Knechten und Mägden in vorindustrieller Zelt, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 22, 1976, S. 255–265; sowie bes. Matter, Max, Landwirtschaftliche Dienstboten im Rheinland nach der AVD-Umfrage zur alten bäuerlichen Arbeit. Erster Arbeitsbericht, ebd., S.  34– 50, und den Forschungsbericht von Kramer, Karl-S., Gutsherrschaft und Volksleben, ebd., S. 16–33; s. auch ders., Einiges über die Lage des Gesindes in einem ostholsteinischen Gutsbezirk, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 70, 1974, S. 20–38. 17 Musiat, Siegmund, Zur Lebensweise des landwirtschaftlichen Gesindes in der Oberlausitz, Bautzen 1964; vgl. ders., Die Beköstigung des landwirtschaftlichen Gesindes durch bäuerliche Agrarkapitalisten und Großbauern im Kamenzer Südosten und Bautzener Nordosten (etwa 1900 bis 1914), in: Lětopis, Reihe C, Jg. 5, 1959/60, S. 3–37. 18 Vgl. die Diskussion bei Flemming, S. 1–4. 19 Vgl. Anm.  8 sowie: Engelsing, Rolf, Das häusliche Personal in der Epoche der Industrialisierung, in: ders., Sozialgeschichte, S.  225–261; ders., Einkommen der Dienstboten in Deutschland zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Jg. 2, 1973, S. 11–65; ders., Das Vermögen der Dienstboten in Deutschland zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert, ebd., Jg. 3, 1974, S. 227–256; ders., Der Arbeitsmarkt der Dienstboten im 17., 18. und 19. Jahrhundert, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Wirtschafts­ politik und Arbeitsmarkt. Bericht über die 4. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Wien 1971, München 1974, S. 159–237. 20 Vgl. bes. den Bericht von Held, Wieland, Ländliche Lohnarbeit im 15. und 16. Jahrhundert unter besonderer Beachtung Thüringens, in: JbWG, 1978/I, S. 171–189.

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des 19. Jahrhunderts beschränkt. Noch die wichtigsten Hinweise finden sich in der jüngeren, auch regionalen Frühindustrialisierungsforschung, die freilich ihrerseits viel Kraft auf die gewiss bedeutungsvolle Frage nach dem Umfang der Handwerker- und Fabrikarbeiterschaft und den Grundlinien ihrer Entwicklung verwandt hat. Auch die Arbeiterbewegungsforschung sieht sich, soweit sozial­ geschichtliche Betrachtungsweisen Eingang gefunden haben,21 notorisch diesen Problemen verpflichtet, während der Landarbeiterfrage, jenen Schichten also, die auf mittlere Sicht – bis hin zur oft behandelten Agrardebatte in der Sozial­ demokratie, bis zu den ersten gewerkschaftlichen Organisationsansätzen nach der Jahrhundertwende  – keine aktive Rolle in der Arbeiterbewegung gespielt haben, allenfalls am Rande Aufmerksamkeit zuteil wird.22 Landarbeiterproteste, ländliche Unruhen und Bauernrevolten, wie sie in der Revolution 1848/49 verschiedentlich, etwa in Schlesien und Südwestdeutschland, von großer Bedeutung gewesen sind,23 werden zwar gemeinhin zu den Wurzeln und frühen Erscheinungsformen der modernen Arbeiterbewegung gezählt, haben als solche jedoch bisher kaum systematische Behandlung erfahren. Auch für die zweite Jahrhunderthälfte wird der Landarbeiter- und Gesindeprotest vielleicht gelegentlich allzu gering geschätzt.24 Allemal sollte die Frage nach der interessenverbundenen Organisierbarkeit proletarischer Schichten künftig vermehrt auch aus der Sicht der anscheinend nicht Organisierbaren, aus den Daseinsbedingungen und Milieus jener der Arbeiterbewegung lange Zeit fernstehenden Gruppen und Schichten beantwortet werden. In diesem Zusammenhang wird sich die Forschung zunehmend25 auch den vorindustriellen Protestbewegungen unter Handwerkern, Tagelöhnern und ländlicher Bevölkerung,26 darunter Bauern mir geringem Besitzrecht und Besitzlose wie das Gesinde, zu widmen haben. 21 Vgl. Tenfelde, Klaus, Wege zur Sozialgeschichte der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung. Regional- und lokalgeschichtliche Forschungen (1945–1975) zur deutschen Arbeiterbewegung bis 1914, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Die moderne deutsche Geschichte in der internationalen Forschung 1945–1975, Göttingen 1978, S. 197–255. 22 Zu den bedeutenden Ausnahmen gehört Regling, Heinz Volkmar, Die Anfänge des Sozialismus in Schleswig-Holstein, Neumünster 1965, s. S. 55 ff. 23 Vgl. den Überblick von Franz, Günther, Die agrarische Bewegung im Jahre 1848, in: ZAA, Jg. 7, 1959, S. 176–193. 24 Zu Gesindestreiks 1872, 1882 und 1887 knapp: Musiat, S. 55; s. Schaaf, Fritz, Der Kampf der deutschen Arbeiterbewegung um die Landarbeiter und werktätigen Bauern 1848–1890, Berlin [DDR] 1962, S. 156–168. 25 Vgl. den nützlichen Überblick von Schultz, Helga, Zur Vorgeschichte des Proletariats in der Epoche des Übergangs zum Kapitalismus, in: BGA, Jg. 20, 1978, S. 34–45. 26 Die schlesischen Agrarunruhen haben bereits in der in vielerlei Hinsicht vorbildlichen Unter­suchung von Ziekursch, Johannes, Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung, Breslau 1915, ausführliche Berücksichtigung erfahren; vgl. bes. für die Zeit seit 1848 die Quellensammlung von Hübner, Hans u. Kathe, Heinz (Hg.), Lage und Kampf der Landarbeiter im ostelbischen Preußen (Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Novemberrevolution 1918/19), 2 Bde., Berlin [DDR] 1977, Lizenzausg. Vaduz 1977.

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Darüber hinaus wären von einer weiter in das 18. Jahrhundert zurückreichenden Sozialgeschichte27 Fragen wie jene nach dem Zusammenhang von demografischer Entwicklung und Zunahme der Schicht der Besitzlosen, Landarmen und Lohnabhängigen, nach dem Wandel ländlicher Arbeitsprozesse in der Abkehr von der jahrhundertealten Dreifelderwirtschaft, in der Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion und der Entwicklung der Agrartechnik, nach den Veränderungen in der ländlichen Familienstruktur und der ländlichen Mobilität zu beantworten. Ob das Gesinde als die bis zu den Agrarreformen bedeutendste Schicht besitzloser Erwerbstätiger auf dem Lande tatsächlich den von den eingangs zitierten Beobachtern bestärkten Ruf verdient, ob nicht vielmehr abschätzige, seit Langem gängige Rollenerwartungen insbesondere über das städtische häusliche Gesinde leichtfertig, überheblich und jedenfalls ohne Rücksicht auf die verhaltensdeterminierenden Faktoren im Alltag der Knechte und Mägde auf die gesamte Erwerbsgruppe übertragen wurden, diese Frage wird nur unter detaillierter Kenntnis der rechtlichen und sozialen Lage, der Verhaltensspielräume und Mentalitäten unter den nahezu überall zu den niedersten Schichten der ständischen Gesellschaft gezählten Dienenden zu klären sein.

2. Landwirtschaftliches Gesinde: Begriff und Geschichte Ländliches Gesinde lässt sich in der Übergangsphase zur industriellen Gesellschaft vor allem durch drei Merkmale bestimmen: durch seine ausschließ­liche oder mindestens überwiegende Beschäftigung gegen Entgelt im landwirtschaftlichen Produktionsprozess, durch den Vertragscharakter dieses stetigen, d. h. vor allem saisonunabhängigen Beschäftigungsverhältnisses und durch die Aufnahme in den Familienverband des Dienstherrn.28 Schaut man genauer hin, so 27 Vgl. den sehr knappen Überblick von Rubner, Heinrich, Deutsche Unterschichten im 18.  Jahrhundert, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, Jg. 1, 1974, S. 49–59. 28 Zum Gesindebegriff vgl. u. a. Krünitz, S. 5, die in Anm. 5 f. genannten Quellen sowie Hertz, Gustav, Die Rechtsverhältnisse des freien Gesindes nach den deutschen Rechtsquellen des Mittelalters, Breslau 1879, S. 4 f., wo ganz auf das Vertragsverhältnis (Vertragsschluss freier Personen auf bestimmte Zeit für Dienstleistungen gegen Entlohnung in Geld oder/und Naturalien) sowie auf die unbegrenzte, »volle Hingabe der Arbeitskraft« gezielt wird; ferner Süskind, S. 13 f.; Lennhoff, S. 32 f.; Kähler, S. 128–135; Musiat, S. 44. In dem Artikel »Gesinde«, in: Staatslexikon der Görresgesellschaft, Bd.  2, Freiburg i. B. 19093, Sp.  608, erscheint statt der Aufnahme in den Familienverband bereits »die unentgeltliche Gewährung von Wohnung und Kost« als Bestimmungsmerkmal; von hausherrlicher Gewalt wird erst später gesprochen. Hedemann, Justus Wilhelm, Die Fürsorge des Gutsherrn für sein Gesinde (Brandenburgisch-Preußische Geschichte), in: Festgabe für Felix Dahn zu seinem fünfzigjährigen Doktorjubiläum, I. Teil: Deutsche Rechtsgeschichte, Breslau 1905, S. 165– 221, spricht S. 170 von einer »Mischung öffentlichrechtlicher Autorität mit privatrechtlicher ­Nebenordnung« durch die Gesindeordnung von 1810.

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zeigen alle drei Bestimmungsmerkmale Randzonen und Unschärfen. Schäfer und Hirten, Beschäftigte in ländlichen Gewerbebetrieben oder niedere gutsherrschaftliche Aufsichtspersonen wurden mal hinzugezählt, mal ausgeschlossen; die Beschäftigungsart konnte im saisonalen Rhythmus zwischen Vieh- und Feldarbeit, Waldarbeit oder Tätigkeit in Haus und Hof, zu Dreschen und Spinnen schwanken, und vielfach wurde häusliches Gesinde nebenbei zu länd­lichen, ländliches Gesinde – seltener – zu häuslichen Arbeiten herangezogen. Die Aufnahme in den herrschaftlichen Familienverband war auf den adligen Gutsherrschaften längst zur Fiktion erstarrt, blieb indessen in den klein- und mittelbäuerlichen Betrieben erhalten und wurde allenfalls in größeren bäuerlichen Landwirtschaften, wo die Betriebsorganisation weiter gehende Arbeitsteilung erzwang und zunehmender Wohlstand städtische Lebensformen auch in bäuerlichen Haushalten einziehen ließ, auf Restformen wie das tägliche oder gar nur wöchentliche gemeinsame Mahl bei getrenntem Wohnen und Schlafen zurückgedrängt. Vor allem in rechtlicher Hinsicht lässt sich eine vergleichsweise reinliche Trennung zwischen Gesindedienst und anderen ländlichen und gewerblichen Beschäftigungsformen durchführen, wobei zu beachten ist, dass gemeinhin in den jüngeren Gesindeordnungen nicht prinzipiell zwischen häuslichem Gesinde zur, wie es in der Sprache der Zeit hieß, »persönlichen Bequemlichkeit der Herrschaft« auf der einen und landwirtschaftlichem Gesinde auf der anderen Seite unterschieden wurde.29 Einzig in der Benennung der ersteren als »Dienstboten« scheint sich mit der Zeit wenigstens sprachlich ein Unterscheidungsmerkmal durchgesetzt zu haben. Nächst dem Bergrecht gehört das Gesinderecht zu den ältesten Arbeitsrechten, und beide verbindet der Gedanke der Arbeitskräftebeschaffung oder besser der Bereitstellung und Sicherung von geeigneten Arbeitskräften in ausreichender Zahl  – sei es durch ständische Privilegierung aufgrund regalrechtlicher Ordnungskompetenz der Landes- als Bergherrn im fiskalischen Interesse, sei es mit Hilfe rigider, gelegentlich drakonischer Eingriffe in den Arbeitsmarkt unter scharfer Beschränkung der Frei­ zügigkeit ländlicher Arbeitskräfte im Interesse der adligen Herrschaften. Auch die Ähnlichkeit der jeweiligen Rechtsgrundsätze über Bergreviere, Städte und 29 Anders beispielsweise in Österreich, wo sich die Trennung gegen Ende des 18.  Jahrhunderts einbürgerte; vgl. Stekl, Hannes, Hausrechtliche Abhängigkeit in der industriellen Gesellschaft. Das häusliche Personal vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, in: Wiener Geschichts­ blätter, Jg.  30, 1975, S.  301–313. In früherer Zeit stellte sich eine Unterscheidung schon durch die Rechtsetzung der Ratsversammlungen innerhalb der Weichbilder ihrer Städte ein; später konnte, wie 1718 in Berlin, vor allem durch die Gesindenot in den Residenzstädten der Erlass eigener Gesindeordnungen für häusliche Dienstboten erforderlich werden. Vgl. Consentius, Ernst, Die Dienstbotenfrage im alten Berlin, in: PJ, Bd. 126, 1906, S. 111– 127. Auch nach Erlass der Gesindeordnung von 1810 wurden gelegentlich Bestrebungen zur erneuten Sonderung von häuslichem und ländlichem Gesinde laut; vgl. Koppe, Das ländliche Ge­sindewesen, Berlin 1850, S.  13 f. Zu Abgrenzungsproblemen s. ferner Engelsing, S. 229.

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Agrarlandschaften hinweg bei allen Unterschieden im Detail verbindet Bergund Gesinderecht, doch hat sich im – meist jüngeren – Gesinderecht gegenüber der bergrechtlichen Zentralität frühzeitig die Zergliederung der Verordnungskompetenzen im Zuge wachsender Eigenständigkeit der Recht setzenden Instanzen niedergeschlagen. Entstehung und frühe Geschichte des Gesindewesens sind in der agrarhistorischen Literatur nicht völlig geklärt. Dass die häuslichen und gewerblichen Bedürfnisse des aufblühenden Stadtbürgertums im Spätmittelalter gesindeähn­ liche Dienstleistungen entstehen ließen, die bald neben den Zunft­verfassungen eigene Rechtsgestalt annahmen, steht außer Zweifel.30 Nicht so ein­deutig liegen die Verhältnisse in der ländlichen Arbeitsverfassung: Hier wird die Ausbreitung des Gesindedienstes gewöhnlich aus den »Bedürfnissen des landwirtschaftlichen Betriebes«31 vor dem Hintergrund des Wandels der Agrarverfassung vor allem im 16. Jahrhundert erklärt.32 Der Adel zog sich, in seinen Funktionen in Kriegsdienst und Heeresverfassung geschwächt, auf seine Güter zurück; infolge von Seuchen und Kriegsverlusten wüst gewordenes Bauernland wurde, gelegentlich widerrechtlich, der Gutswirtschaft eingegliedert. Die Rittergüter wuchsen und mit ihnen der ländliche Arbeitskräftebedarf. Der Arbeitermangel vor allem im östlichen Deutschland veranlasste zur Vermehrung der Frondienste auf der einen, zu frühen Formen befristeter Zwangsverpflichtung erbuntertäniger Bauern­k inder auf der anderen Seite. Schon früher hatten die Bauern ihre Söhne und Töchter, soweit sie nicht in der eigenen Wirtschaft gebraucht wurden, in den Dienst der Herrschaft gegeben. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts lassen sich in Sachsen, seit Anfang des 15. Jahrhunderts in der Mark Brandenburg33, Formen der Verpflichtung solcher Arbeiter zur regelmäßigen, bald mehrjährigen Dienstleistung erkennen. Vielerorts hat sich diese Verpflichtung aus einem Vormietrecht des Grundherrn entsprechend den Bedürfnissen seiner Wirtschaft entwickelt; auf diese Weise mochte man sich die kräftigsten Bauernkinder für die eigenen Dienste aussuchen, und erst nach getätigter Wahl bestand für die Zurückgebliebenen, nach abgeleisteter Dienstpflicht für das abgehende Gesinde die Möglichkeit, andernorts für besseres Entgelt in Dienst zu gehen. Der Prozess der rechtlichen Verfestigung 30 Vor allem Kollmann, S. 238 f., scheint die Entstehung des Gesindes im Zusammenhang der Stadtbildung erklären zu wollen. 31 Kähler, S. 3. 32 Vgl. zum Folgenden bes. Knapp, Bd. I, S. 37 ff. 33 Vgl. Silbermann, Josef, Gesindezwangsdienst in der Mark Brandenburg, Diss. Greifswald 1897, S. 1–18; Wuttke, S. 10 ff. sowie, im Wesentlichen nach Wuttke, Lütge, S. 221 ff.; vgl. ferner v. d. Goltz, Theodor Frhr., Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat, Jena 1893, ND Frankfurt 1968, S. 29 f.; Emminghaus, S. 263–266; Hedemann, S. 180–191; Lennhoff, S. 103–140; aus der jüngeren Literatur etwa Boelcke, S. 114–116, 195 (S. 111: »Die Vorgeschichte des Gesindezwangsdienstes ist eine Kette gewalttätiger Rechtsbrüche.«); Franz, Günther, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 19762, S. 218 f.

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dieses Vormietrechts war in Brandenburg Anfang des 16., in anderen Gegenden erst Mitte des 17. Jahrhunderts abgeschlossen; mit ihm erreichte die Gutsuntertänigkeit ihren vorläufigen Höhepunkt. In den nunmehr zunehmend erlassenen, häufig bekräftigten und veränderten Gesindeordnungen wurde der Zwangsdienst festgeschrieben und zugleich die Freizügigkeit vor allem der nach­geborenen Bauernkinder beseitigt; bald wurde ein unbedingter Gesindezwang eingeführt und mit Strafbestimmungen abgesichert; hinzu traten, besonders für das freie Gesinde, Lohntaxen, mit denen der angesichts anhaltender Gesindenot günstigen Marktsituation der Mägde und Knechte begegnet werden sollte. Diese trachteten, dem Dienstzwang zu entgehen, und so sah man sich zu scharfen Maßnahmen gegen entlaufenes Gesinde veranlasst, so entstanden stets neue Gesindeordnungen, in denen man über »Mutwillen, Frevel, Hals­starrigkeit, Ungehorsam und Bosheit« räsonierte und doch nur die eigenen wirtschaftlichen Interessen im Auge hatte.34 Das Gesinde entzog sich dem herrschaftlichen Zugriff durch Flucht über die Landesgrenzen, oder es nutzte die Gelegenheit kriegerischer Verwicklungen, wurde zum Soldaten und zur Marketenderin. Doch die Unfreiheit nahm zu;35 die Hofdienste mehrten sich, aus gemessenen werden ungemessene Dienste, und mancherorts nahm der Gesindezwangsdienst sklavische Formen an. Noch die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion gegen Ende des 18. Jahrhunderts veranlasste z. B. in Schlesien nicht etwa zur vermehrten Einstellung freien Gesindes und länd­ licher Tagelöhner, sondern zur Mehrung der Dienste, zur groben Ausbeutung des Zwangsgesindes.36 Nur auf den Domänen trat schon im 18.  Jahrhundert Erleichterung ein. Die Einführung des Gesindezwangsdienstes ist das wohl kennzeichnendste Symptom des Wandels der ländlichen Arbeitsverfassung im Übergang von der Grund- zur Gutsherrschaft. Sicher hat es innerhalb Deutschlands Gegenden gegeben, in denen der Zwangsdienst unbekannt blieb und wo dann

34 Zit. nach Hedemann, S. 181 f. An gedruckten älteren Gesindeordnungen vgl. etwa ­Danneil, F., Handwerker-, Tagelöhner- und Gesindeordnung für das Gebiet der Stifte Magdeburg, Halberstadt, Hildesheim und der Herzogtümer Braunschweig und Lüneburg. Vom 26. Juni 1445, in: Zeitschrift des Harz-Vereins, Jg.  27, 1894, S.  427–439; Über das Gesindewesen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Jg. 1, 1850, S. 179–197; ferner Könnecke, S. 526–547 sowie die in diesem Werk angegebenen Quellen. Über entlaufenes Gesinde s. u. a. Boelcke, S. 113 f., 195, sowie Lehmann, Rudolf, (Hg.), Quellen zur Lage der Privatbauern in der Niederlausitz im Zeitalter des Absolutismus, Berlin [DDR] 1957, S. 124 f., 130 f. 35 Über die »starke Reaktion« nach Ende des Dreißigjährigen Krieges s. bes. Hedemann, S. 184 ff.; s. auch Knapp, Bd. 1, S. 49 ff.; sowie Lütge, S. 239. 36 Vgl. Klotz, Ernst Emil, Die schlesische Gutsherrschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Auf Grund der friderizianischen Urbare und mit besonderer Berücksichtigung der alten Kreise Breslau und Bolkenhain-Landshut, Breslau 1972, S. 59 f.; Ziekursch, S. 38–45. Als systematischen Überblick s. bes. Henning, Friedrich-Wilhelm, Dienste und Abgaben der Bauern im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1969.

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auch die rechtliche und soziale Lage des Gesindes Lichtseiten zeigte, wo Erscheinungen wie die alljährliche »Gesindeschau« mit der Auswahl des herrschaft­ lichen Gesindes, wie die meistens zwei- bis dreijährige, oft aber auch noch längere Zwangsarbeit des Gesindes, wie die im Vergleich zum freien Gesinde miserable Entlohnung und die scharfe Einschränkung der Freizügigkeit bis hin zum Heiratskonsens und zur zwangsweisen Wiederverpflichtung nach bereits ab­geleisteter Dienstpflicht fehlten. In solchen Gegenden gab es weniger versteckten Widerstand, weniger heimliche Flucht und keinen offenen Aufruhr, wie ihn beispielsweise die sächsische Gesindeordnung von 1651 entfachte;37 gewiss hörte man hier auch weniger Klagen über Faulheit und Halsstarrigkeit des Gesindes. Dem Widerstand in vielerlei Form, den Unfreiheit, Zwang und Schikane provozieren, entsprach bald auch das abschätzige Urteil selbst Wohlmeinender, denn das System der Unterdrückung setzt seine eigenen Werte,38 und so kam es, dass das Wort vom faulen Gesinde zum gedanklichen und sprach­ lichen Topos erstarrte und sich in vielerlei Redewendungen niederschlug. Wichtiger ist freilich, dass die rechtliche und soziale Ausprägung des Gesindezwangs zu einem guten Teil noch das Gesinderecht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit­geprägt hat, wie die Strafbestimmungen über entlaufenes Gesinde oder auch die Formulierungen über seine Dienstpflichten zeigen. Auch hat der Gesindezwang ja nicht etwa mit Erlass des Oktoberedikts von 1807, den landrechtlichen Ge­sindebestimmungen und der hierauf fußenden Preußischen Gesindeordnung von 1810 mit ihrer ausstrahlenden Bedeutung auch für andere Gesinderechte automatisch sein Ende gefunden. Für die oberschlesischen Gutsbesitzer bedurfte es 1809 eines eigenen Publikandums,39 in dem das Ende aller Zwangsverpflichtung bekräftigt wurde, und in den nach 1815 hinzu gekommenen Landesteilen sowie in anderen Gegenden Deutschlands ist der Zwangsdienst erst in den 1820er und 1830er Jahren, mancherorts gar erst in der Revolution 1848/49 zumeist entschädigungslos beseitigt worden.40 Zum Gesindezwangsdienst waren nicht nur die Kinder der gutsuntertänigen Bauern, sondern auch jene der sonstigen Schutzuntertanen im Dorf verpflichtet; es wird daher nach Vollendung dieser zweifelhaften Einrichtung auf den meisten Gutswirtschaften  – auch zum Ende des 18.  Jahrhunderts gab es durchaus noch Güter, auf denen die Feld- und Hofwirtschaft ausschließlich durch die Dienste der untertänigen Bauern betrieben wurde41  – kaum noch 37 Siehe Wuttke, S. 93–95, sowie Lütge, S. 238; s. auch Lennhoff, S. 131 f. 38 Vgl. bereits Georg Hanssen in seinem bedeutenden Werk: Die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Umgestaltung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse überhaupt in den Herzogthümern Schleswig und Holstein, St. Petersburg 1861, ND Leipzig 1976, S. 28 f.: Die Leibeigenen waren »mutlos, schlaff und träge, trunkfällig, unzuverlässig, diebisch, tückisch und von gemeiner Denkungsart überhaupt. Man behandelte sie schlecht, weil sie so waren. Ob sie aber nicht so geworden waren, weil sie schlecht behandelt wurden?« 39 Vgl. Hedemann, S. 212. 40 Einzelheiten bei Emminghaus, S. 265 f.; Kollmann, S. 260. 41 Vgl. Hedemann, S. 211, sowie Schissler, S. 100.

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Arbeits­k räftemangel gegeben haben. So ist nicht verwunderlich, dass sich die Gesindehaltung im gutsherrschaftlichen Bereich vor allem im 18. Jahrhundert stark ausdehnte.42 Man beschäftigte Knechte und Mägde nun nicht mehr überwiegend im Stall und auf dem Hof, sondern zog sie auch zur Feldwirtschaft heran; später hat dann der Übergang zur Stallfütterung wie überhaupt die im 19.  Jahrhundert stark zunehmende Viehwirtschaft43 den Gesindebedarf eher noch vermehrt, während man die Feldwirtschaft mit ihrem ausgeprägt saisonalen Arbeitskräftebedarf nach Ablösung der bäuerlichen Dienstpflichten mehr und mehr durch Gutstagelöhner und Wanderarbeiter verrichten ließ. Gesinde beschäftigten vor den Reformen auch die spannfähigen gutsuntertänigen Bauern mit besserem, d. h. erblichem, Besitzrecht und vielfach sogar die in Zeitpacht stehenden Lassiten für ihre Eigenwirtschaften und für die Dienste beim Gut; insoweit mit den Agrarreformen die spannfähigen Bauern Besitzer auf wenn auch verringertem Grund und die Dienste abgelöst wurden, veränderten sich auch von dieser Seite die Kriterien für den Gesindebedarf. So wird deutlich, dass die Jahrzehnte der rechtlichen Umgestaltung der Agrarverfassung mit einem schon im 18.  Jahrhundert erkennbaren Umbruch in den Bewirtschaftungsmethoden44 zusammenfielen und dass die Umschichtungen in den Erwerbsverhältnissen der ländlichen Bevölkerung im 19.  Jahrhundert, insbesondere die Herausbildung einer eigenen Schicht selbständiger kontrakt­licher Landarbeiter neben dem Gesinde sowie der Wandel in den Grundsätzen der Gesindehaltung, nur vor dem Hintergrund beider Entwicklungen verständlich werden. Bei der »starknervigen Natur« des ostelbischen Gutsadels45 darf angenommen werden, dass sich die Verhältnisse des Gesindes in dieser Phase recht­ lichen und strukturellen Wandels nur zögernd zum Besseren entwickelten. Für den Adel waren Bauernbefreiung und Ablösung der Hofdienste und sonstigen gutsherrschaftlichen Rechte untrennbar mit der Regelung der »ländlichen Arbeiterfrage« verbunden, was konkret vor allem die Sicherung des Arbeitskräftebedarfs bedeutete. Schon E. Lennhoff hat auf den »intimen Zusammenhang zwischen Zwangsdienst und Unfreiheit« hingewiesen, der sich gerade daran erwiesen habe, dass von den Gegnern einer Aufhebung der Erbuntertänigkeit 42 Bes. v. d. Goltz, Arbeiterklasse, S. 44 f. 43 Vgl. v. Finckenstein, Hans Wolfram Graf Finck, Die Entwicklung der Landwirtschaft in Preußen und Deutschland 1800–1930, Würzburg 1960, S. 24–29; s. auch Helling, Gertrud, Berechnung vergleichbarer Indizes der Agrarproduktion entwickelter kapitalistischer Länder im 19. Jahrhundert, in: JbWG, 1968/III, S. 277–337. 44 Hierauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden; vgl. als einführenden Überblick: Klein, Ernst, Geschichte der deutschen Landwirtschaft im Industriezeitalter, Wiesbaden 1973, S.  9–26 u. ö., sowie Henning, Friedrich-Wilhelm, Die Innovationen in der deutschen Landwirtschaft im ausgehenden 18.  und im 19.  Jahrhundert, in: Frank R. Pfetsch (Red.), Innovationsforschung als multidisziplinäre Aufgabe, Göttingen 1975, S. 155–168. 45 Lennhoff, S. 138.

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»von Anfang an gewissermaßen als Korrektiv ein mehrjähriger Zwangsdienst gefordert wurde«.46 Noch wenige Wochen vor Erlass des Oktoberedikts 1807 haben ostpreußische Adlige auf das »seltsame Mittel eines erzwungenen Gesindevertrages« in einer neuen Gesindeordnung angetragen,47 wonach ein fünfjähriger Zwangsdienst des Gesindes eingerichtet worden wäre. Schon in der frühen Reformphase, während der Beratungen in den Jahren 1801 und 1802, war selbst von Reformfreunden der Erlass einer neuen Gesindeordnung zur Regelung der ländlichen Arbeitsverhältnisse als »ein notwendiges Korrelat der Befreiung« angesehen worden,48 das vor allem geeignet schien, die Fronde der Reformgegner zu besänftigen. Unverkennbar war die Gesindeordnung von 1810 daher von der Absicht getragen, die Rechtsverluste des Gutsadels mittelbar zu kompensieren und den ländlichen Arbeitsmarkt fest im Griff zu behalten. Man wird die außerordentlich restriktiven Bestimmungen des neuen Gesinderechts vor dem Hintergrund dieser Absichten deuten müssen.

3. Gesinderecht in Preußen nach 1810 Wenigstens für die preußischen Landesteile, wo bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wie andernorts eine Fülle verschiedenartiger Rechtsgewohnheiten und -bestimmungen über den Gesindedienst fortgegolten hatte und wo das Allgemeine Landrecht mit seinem Titel »Von den Rechten und Pflichten der Herrschaften und des Gesindes« nur subsidiär und in den agrarrechtlichen Bestimmungen49 Rechtskraft erlangt hatte, beendete die mit dem 8.  November 1810 verkündete Gesindeordnung50 die Vielfalt überlieferten Rechts. Durch zwi46 Ebd., S. 110. 47 Hedemann, S. 211 f.; vgl. u. a. Klein, S. 75. Boelcke, S. 279, berichtet über ähnliche Bestrebungen der Oberlausitzer Stände, durch eine neue Gesindeordnung ein »Hintertürchen« zu finden, um die Leibeigenschaft »wieder nach Bedarf hereinholen« zu können; s. auch Hübner u. Kathe, Bd. 1, S. 51–54. 48 Rumler, Marie, Die Bestrebungen zur Befreiung der Privatbauern in Preußen, 1797–1806, Kap. 5, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Jg. 36, 1924, S. 31–76, S. 43 f.; s. auch Schissler, S. 129, 131, sowie zu dieser Reformphase: Harnisch, Hartmut, Die agrarpolitischen Reformmaßnahmen der preußischen Staatsführung in dem Jahrzehnt vor 1806/07, in: JbWG, 1977/III, S. 129–153. 49 Hattenhauer, Hans, (Hg.), Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Textausgabe, Frankfurt 1970, S. 419–426. Zur landrechtlichen Agrarverfassung s. u. a. Dany, Peter, Grundeigentum und Freiheit. Liberalisierung der preußischen Agrarverfassung in der Zeit von 1794 bis 1850, jur. Diss. Kiel 1970. 50 Gesetzsammlung 1810/11, S. 101; neuerer Abdruck z. B. bei Franz, Günther, (Hg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, Darmstadt 19762, S. 359 f. (Auszüge); Gerhard, Ute, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert. Mit Dokumenten, Frankfurt 1978, S. 261–277 (vollständig mit Verordnung vom 29.9.1846 über die Einführung von Gesindebüchern); Hübner u. Ka-

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schen 1814 und 1826 ergangene Patente51 wurde die Rechtsgeltung der Gesindeordnung auf die während der französischen Herrschaft vorübergehend abgetrennten bzw. mit der territorialen Neugliederung von 1815 erworbenen Landesteile ausgedehnt. Für Neu-Vorpommern und das Fürstentum Rügen erging unter dem 11. April 1845 eine eigene, mit jener von 1810 weitgehend wortgleiche Gesindeordnung, in der in begrenztem Umfang auf örtliche Besonderheiten Rücksicht genommen wurde. Einzig die Rheinprovinz, wo nach der Franzosenzeit einstweilen die älteren lokalen und regionalen Gesindeordnungen fortgalten, erhielt am 19. August 1844 eine besondere, weitaus knappere und in einzelnen Bestimmungen liberalere Gesindeordnung, in deren Geltungsbereich mit Verordnung vom 21. September 1847 auch die bisher unter dem Gesetz von 1810 stehenden Kreise Rees und Duisburg aufgenommen wurden. Im Laufe der Zeit trat allerdings eine Reihe von Rechtsbestimmungen in anderen Gesetzen mit Bezug auf das Gesinderecht hinzu, so dass in Preußen am Vorabend des Ersten Weltkriegs immerhin 16 verschiedene Gesetze das Gesindewesen rechtsgültig betrafen – dies war freilich wenig im Vergleich mit den insgesamt 59 regionalen Gesindeordnungen, die zum selben Zeitpunkt im Deutschen Reich in Rechtskraft standen52 und von denen einige gegen Ende des Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch erlassen worden waren, viele the, Bd. 1, S. 55–76, 96–102 (Gesindeordnungen 1810 und 1845 sowie Dokumente zur Einführung von Gesindebüchern). Die Gesindeordnung ist, dem alltäglichen Bedürfnis entsprechend, recht häufig, erstmals offenbar 1825 in handlicher Form gedruckt worden; vgl. Heinze, C. Th. E. (Bearb.), Die Preußische Gesinde-Ordnung nebst den dazugehörigen Erläuterungen und späteren Verordnungen. Ein für jede Haushaltung unentbehrliches Handbüchlein, zuerst 1825, Liegnitz 18335. Neben dieser eine Reihe wichtiger zusätzlicher Erlasse und Verordnungen im Text enthaltenden Ausgabe wurde im Folgenden vor allem die reich kommentierte Synopse der Gesindeordnungen von 1810 und 1845 unter Ergänzung durch die Gesindeordnung für die Rheinprovinz von 1844 von L. Eggert zugrunde gelegt: Das heutige Gesinde-Recht in den Königlich Preußischen Staaten. Eine Zusammenstellung und Bearbeitung der verschiedenen Gesinde-Ordnungen und der dahin einschlagenden andern Gesetzesbestimmungen, Ministerial-Rescripte für Dienstherrschaften und Dienende selbst, Berlin 1851; für spätere Ergänzungen, insbes. das Gesetz über die Verletzungen der Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter von 1854, ferner: Die vollständige Gesinde-Ordnung oder Bestimmungen der Preußischen Gesetze über die Rechte und Pflichten der Herrschaft und des Gesindes nach der Gesinde-Ordnung vom 8. November 1810, dem Gesetze vom 24. April 1854, dem allgemeinen Landrechte und der Gerichts-Ordnung. Zum Gebrauche für Jedermann übersichtlich zusammengestellt und erläutert von einem praktischen Juristen, Breslau 1854. Von späteren Ausgaben s. z. B. Lindenberg, C. (Bearb.), Das Preußische Gesinderecht im Geltungsbereiche der Gesindeordnung vom 8. November 1810, Berlin 19016; weitere Hinweise bei Könnecke, S. XIV–XXIX; zu den Gesinderechten der in den Einigungskriegen annektierten Landesteile vgl. Kähler, S. 108 f. 51 Genaue Angaben bei Eggert, S. 3, Anm. 52 Vgl. Beßler, Johann Baptist, Die Streikbewegung in der deutschen Landwirtschaft unter bes. Berücksichtigung Ostelbiens und Mitteldeutschlands, Diss. Erlangen 1926, S.  3; Süskind, S. 6 f.

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der »vorsintflutlichen«53 preußischen Gesindeordnung verwandt waren54 und einige gar noch der Zeit des Gesindezwangsdienstes entstammten. In ihren Kernbestimmungen war die Preußische Gesindeordnung eine redigierte Fassung der im genannten Titel des Allgemeinen Landrechts vorgeprägten Grundsätze, die sie auf alle Gesindegruppen ausweitete. Im Mittelpunkt der Gesetzesbestimmungen stand der Dienstvertrag, der auf Seiten der Herrschaft vom männlichen Familienoberhaupt abzuschließen war; weibliche Dienstboten durften von seiner Ehefrau unter seinem Vorbehaltsrecht angestellt werden. Das vertragsschließende Gesinde musste »über seine Person frei zu schalten berechtigt sein« (§ 5), so dass der Geltungsbereich von vornherein Zwangsgesindedienste ausschloss; auch Gewerbegehilfen wurden 1820 ausdrücklich aus-, Schifferknechte hingegen 1811 eingeschlossen.55 Bei Kindern unter 14 Jahren war, wenn sie unter Gewährleistung des Schulbesuchs gesindeähnliche Dienste verrichteten, kein Dienstverhältnis nach der Gesindeordnung anzunehmen. Überhaupt erlosch auch nach der Volljährigkeit die väterliche Gewalt über Töchter, die Gesindedienst verrichteten, nicht, über Söhne nur unter bestimmten Umständen. Andererseits begab sich das verpflichtete Gesinde vollständig unter die hausherrliche Gewalt des Dienstherrn, wie vor allem die Bestimmungen über die Dienstpflichten deutlich machten. Der Dienstvertrag war tatsächlich ein auf bestimmte Zeit abgeschlossener Auslieferungsvertrag über die volle Arbeitskraft des Verpflichteten. Einer schriftlichen Form bedurfte dieser Vertrag nicht; er galt vielmehr mit der Annahme des Handgeldes, dessen Höhe der Übereinkunft überlassen war, als abgeschlossen. Auch Lohn, Kostgeld oder Beköstigung hingen allein von der freien Übereinkunft ab. Geschenke waren nicht einklagbar. Als gewöhnliche Dienstzeit wurde, falls keine besondere Verabredung getroffen worden war, für ländliches Gesinde ein Jahr zugrunde gelegt. Diese Dienstzeit verlängerte sich jeweils stillschweigend um ein weiteres Jahr, falls nicht von einer der vertragsschließenden Parteien rechtzeitig, d. h. ein Vierteljahr vor dem Ziehtermin, gekündigt wurde oder andere Gründe für die Beendigung des Dienstverhältnisses maßgeblich wurden. Zum Ziehtag des 53 Puhle, Hans-Jürgen, Die Entwicklung der Agrarfrage und die Bauernbewegung in Deutschland 1861–1914, in: Karl Otmar Frhr. v. Aretin u. Werner Conze (Hg.), Deutschland und Rußland im Zeitalter des Kapitalismus 1861–1914, Wiesbaden 1977, S. 42. 54 Vgl. etwa Gesinde-Ordnung für das Herzogthum Oldenburg und die Erbherrschaft Jever [vom 17.2.1826], o. O. u. J.; Die Schleswig-Holsteinische Gesindeordnung vom 25. Februar 1840 nebst ihren reichs- und landesgesetzlichen Ergänzungen, erläutert von W. Frormann, Kiel 1906; Überblick bei Kähler, S. 107–123, wo S. 115 stammbaumartig die Abhängigkeit von der Preußischen Gesindeordnung für mindestens 28 spätere Gesindeordnungen nachgewiesen wird; s. auch Behr, Hans-Joachim, Politisches Ständetum und landschaftliche Selbstverwaltung, Osnabrück 1970, S. 117. Zu den Auswirkungen des BGB s. u. a. Fuld, Ludwig, Das Bürgerliche Recht und das Gesinderecht, in: Archiv für öffentliches Recht, Jg. 14, 1899, S. 93–112. Einführend s. ferner Melzer, Ingetraut, Zur Regelung der Arbeitsverhältnisse in der deutschen Landwirtschaft, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der HumboldtUniversität, Gesellschaftswiss. Reihe, Jg. 17, 1968, S. 397–405. 55 Ministerialreskripte vom 24.10.1820 und 21.1.1811, Texte bei Heinze, S. 6 f.

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ländlichen Gesindes bestimmte das Gesetz landeseinheitlich den 2. April, doch sollte es während der ersten fünf Jahre nach Inkrafttreten bei den je örtlichen Gewohnheiten bleiben.56 Das Gesinde war grundsätzlich verpflichtet, alle ihm angewiesenen Arbeiten zu verrichten – auch dann, wenn es nur für bestimmte Arbeiten gemietet worden war. Es hatte sich »allen häuslichen Einrichtungen und Anordnungen der Herrschaft« zu »unterwerfen« (§ 72), durfte sich selbst in eigenen Angelegenheiten nicht ohne Vorwissen der Herrschaft entfernen und die hierzu erteilte Erlaubnis nicht überschreiten. Zu den Pflichten der Herrschaft gehörten in erster Linie, falls dies, wie üblich, Teil der Vertragsabsprache war, die Verabreichung der Kost »bis zur Sättigung« (§ 83) und die Befreiung von allen Diensten zum regelmäßigen Gottesdienstbesuch. Weiter war der Dienstherr verpflichtet – in dieser Hinsicht ging die Preußische Gesindeordnung vergleichsweise weit –,57 im Krankheitsfall für Beköstigung und Genesungskosten aufzukommen, und im Fall erlittenen Schadens bei der Erledigung gefährlicher Dienstgeschäfte galt diese Verpflichtung nach den landrechtlichen Bestimmungen über die vertragliche Dienstzeit hinaus. Lohnabzüge durften in solchen Fällen nicht vorgenommen werden. Falls sich das Gesinde außerhalb des Dienstes Krankheiten zuzog, hatte der Dienstherr subsidiär, wenn keine Verwandten vorhanden waren, für die Genesungskosten aufzukommen. Die Gesindeordnung traf weiter ausführlich Bestimmungen für den Fall des Vertragsendes durch Tod oder durch Kündigung. Für die fristlose Ent­lassung seitens der Herrschaft führte sie einen ganzen Kanon möglicher Gründe auf, darunter »ehrenrührige Nachreden«, »boshafte Verhetzung«, »Tätlichkeiten, Schimpf- und Schmähworte« gegen die Herrschaft (§ 117), beharrlichen Un­ gehorsam, »verdächtigen Umgang« mit den Kindern der Herrschaft (§ 120), Diebstahl oder Veruntreuung und Verleitung des Nebengesindes hierzu, unerlaubte Entfernung vom Haus über Nacht, leichtsinniger Umgang mit Feuer und Licht, ansteckende oder ekelhafte Krankheiten, Dienstvernachlässigung trotz wiederholter Verwarnung, Trunk oder Spiel, mangelnde Geschicklichkeit für verabredete Tätigkeiten, Gefängnisstrafen von mehr als acht Tagen, Vorlage falscher Dienstzeugnisse, schließlich bei Mägden eine eingetretene Schwangerschaft, wobei in solchem Fall jedoch die Entlassung nur nach vorgängiger Anzeige an die Obrigkeit »zur Verhütung alles Unglücks« (§ 133) statthaft war. Das Gesinde durfte seinerseits die Dienststelle nur dann verlassen, wenn es durch Misshandlungen »in Gefahr des Lebens oder der Gesundheit versetzt« worden war (§ 136) oder wenn es »mit ausschweifender und ungewöhnlicher Härte be56 Abweichende Termine wurden durch verschiedene Kabinettsordres und Verordnungen der Regierungspräsidien erlaubt; vgl. Heinze, S. 29–32, 34–36; Meitzen, August, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des Preußischen Staates, Bde. 1–4, Berlin 1868–1871, Bd. 2, S. 119, Anm.; s. auch Matter, S. 37, 46, mit weiterer Literatur. 57 Vgl. hierzu Hedemann, S.  205 f. sowie Fuld, Ludwig, Das Gesinde und die Sozialgesetz­ gebung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 65, 1895, S. 64–82, S. 66.

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handelt« wurde (§ 137), wenn es zu ungesetzlichen Handlungen verleitet wurde, bei längeren Reisen der Herrschaft über die laufende Dienstzeit hinweg, wegen unzureichender Kost oder vorenthaltenem Kostgeld sowie bei schwerer Krankheit. Unter Einhaltung der Kündigungsfristen durfte die Herrschaft das Gesinde auch dann vorzeitig entlassen, wenn ihre Vermögensumstände eine Verkleinerung der Haushaltung erzwangen; das Gesinde durfte bei Vorenthaltung des Lohns, bei öffentlicher Beschimpfung durch die Herrschaft und im Fall der Gründung »einer eigenen Wirtschaft« durch Heirat oder sonstwie (§ 147) kündigen, wenn solche Gelegenheit bei voller Dienstdauer versäumt würde. Hinzu kam die Möglichkeit zur Kündigung, falls die Arbeitskraft des Gesindes in der elterlichen Wirtschaft unentbehrlich wurde; in diesem Fall war Ersatz zu stellen. Vor allem die Bestimmungen über Dienstpflichten und Kündigung zeigen, in welchem Umfang der Versuch einer Symbiose zwischen dem Prinzip der Vertragsfreiheit auf der einen, der Erhaltung der hausherrlichen Gewalt auf der anderen Seite zu Lasten der persönlichen Rechte und Freiheiten der Dienstbaren ging. Nach der Gesindeordnung waren die Dienstverpflichteten ausdrücklich von keiner Arbeit verschont; sie hatten ihre volle Arbeitskraft ohne tageszeit­ liche Beschränkung gegen geringen Lohn, Kost und Fürsorge zu verkaufen und waren einer um­fassenden Disziplinargewalt des Hausherrn unterworfen. Die Gesindeordnung sicherte die wirtschaftlichen Interessen der Herrschaften in umfassender Weise, wie sich zum Teil an den angesichts vielfachen Missbrauchs erforderlichen Bestimmungen über die Gesindemakler, mehr jedoch an den Zwangsmöglichkeiten gegen entlaufenes oder die Dienstaufnahme verweigerndes Gesinde zeigen lässt. Solche Leute waren »durch Zwangsmittel« (§ 167) zur Erfüllung des Dienstes anzuhalten, wobei die Polizeibehörden die ihnen zu Gebote stehenden Maßnahmen zu ergreifen hatten; der Dienstbote verfiel darüber hinaus einer Geldstrafe. Andererseits war zwar eine Herrschaft, die ihr Gesinde ohne gesetzmäßigen Grund entlassen hatte oder verpflichtetes Gesinde nicht aufnehmen wollte, zur Wiederannahme oder Annahme »angehalten« (§ 160), aber »Zwangsmittel gegen die Herrschaft« fanden »überhaupt nicht statt; vielmehr zieht die beharrliche Weigerung derselben nur die Verbindlichkeit nach sich, das ohne gesetzmäßigen Grund entlassene Gesinde zu entschädigen«  – eine Entschädigung freilich, die nur dann einklagbar war, wenn der Entlassene, »sofort und ehe die Herrschaft die Stelle wieder hat besetzen können«, die Polizeibehörde um Unterstützung ersucht hatte.58 Ähnlich restriktive Bestimmungen fanden sich in der Gesindeordnung, im Verordnungswesen und in der Rechtsprechung zuhauf. Allemal wurde, so bestimmte schon der Gesetzestext (§ 27), bei Streitigkeiten über Lohnhöhe und Abschlagszahlungen der Herrschaft »auf ihren Eid geglaubt«. Hausväterliche Gewalt über Familienmitglieder und Gesinde: Das hieß im Wortsinn, dass dem Hausherrn das »Recht der häuslichen Polizei« zustand, was mittels ­Reskripts 58 Eggert, S. 53, Anm., u. S. 55, Anm.; vgl. Gesindeordnung §§ 47, 51.

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des Justizministers vom 7.  November 1812 ausdrücklich bestätigt wurde.59 Hiernach waren kleinere Diebstähle in Haushalt oder Hof als Antragsdelikte nur dann zu verfolgen, wenn der Hausherr hierauf bestand – auch dann, wenn durch den Diebstahl Gäste, Familienmitglieder oder das Nebengesinde geschädigt worden waren. Auf hausväterlichen Antrag war die Polizeibehörde verpflichtet, das Privateigentum verdächtigen Gesindes zu durchsuchen, und unter bestimmten Umständen konnte die Herrschaft diese Durchsuchung selbst vornehmen.60 Welchen Umfang die hausväterliche Disziplinargewalt annahm, wird schließlich vor allem in den Bestimmungen über das Züchtigungsrecht deutlich, die, je älter die Gesindeordnung wurde, desto stärker die öffentliche Diskussion darüber inspiriert haben. »Ausdrücke und Handlungen« der Herrschaft gegenüber dem Gesinde, »die zwischen anderen Personen als Zeichen der Geringschätzung anerkannt« waren, hatte sich das Gesinde jedenfalls gefallen zu lassen (§ 78). Auch wenn das Gesinde die Herrschaft »durch ungebührliches Betragen« zum Zorn reizte und sich infolgedessen »Scheltworten und geringen Tätlichkeiten« ausgesetzt sah, begründete dies kein Recht auf »gerichtliche Genugtuung« (§ 77); tätliche Widersetzlichkeit war nur erlaubt, wenn es an »das Leben oder die Gesundheit des Dienstboten« ging (§ 79). Nach den Bestimmungen des preußischen Strafrechts von 1851 war der Richter, falls tatsächlich einmal Klage eingereicht worden sein sollte, bei Beleidigungen sowie »leichten körperlichen Verletzungen und Misshandlungen« ermächtigt, keine oder nur eine geringe Strafe zu verhängen.61 Entschädigung war nur zu verlangen, wenn kein »grobes Verschulden« zu der Misshandlung geführt hatte. Das Züchtigungsrecht steht, wie Reinhart Koselleck eindringlich gezeigt hat,62 im Schnittpunkt von »zwei Welten«: jener der »Zwangsgewalt der Herrschaft« im ständischen Kosmos und jener der Freiheit und Unverletzlichkeit der Person in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Allgemeine Landrecht hatte ein Züchtigungsrecht sowohl in Gestalt der Herrschaft gegenüber dem untertänigen Gesinde63 als auch in der unverändert in die Gesindeordnung von 1810 ein59 Text bei Heinze, S. 48 f. 60 Vgl. ebd., S. 45 f.; Eggert, S. 28, Anm. Zur erstinstanzlichen Kompetenz der Polizeibehörden in Gesindesachen erging unter dem 17.4.1812 ein Reskript; vgl. Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 19752, S. 258. 61 Eggert, S. 29, Anm. 62 Koselleck, Exkurs S. 643–659. Vgl. ferner Hedemann, S. 214–216; Lennhoff, S. 63–70; Wuttke, S. 223 u. ö.; zur Geschichte des Gesindestrafrechts bes. Könnecke, S. 547–587. 63 Tit. 7 § 227: »Faules, unordentliches und widerspenstiges Gesinde kann die Herrschaft durch mäßige Züchtigungen zu seiner Pflicht anhalten, auch dieses Recht ihren Pächtern und Wirtschaftsbeamten übertragen.« § 228: »Eine gleiche Befugnis steht der Herrschaft in Ansehung des Gesindes der Untertanen zu, wenn dasselbe von diesen zum Hofdienst geschickt wird und sich dabei faul, unordentlich oder widerspenstig zeigt.«; Hattenhauer, S. 440.

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gegangenen, oben skizzierten Fassung in Gestalt des Hausherrn gegenüber seinen freien Dienstboten gekannt. Die weitergehenden Bestimmungen gegen das untertänige Gesinde wurden nun durch den Erlass der Gesindeordnung keineswegs aufgehoben, da letztere nur für das freie Gesinde Rechtskraft erlangte, die Dienstpflicht ehedem untertäniger Bauern jedoch auch mit dem Oktoberedikt noch nicht beendet worden war. Mithin verfiel das im Zusammenhang der Dienstpflichten überstellte Gesinde, solange keine Ablösung der Hofdienste erfolgt war, weiterhin dem Züchtigungsrecht nach Tit. 7 §§ 227–228 des Allgemeinen Landrechts, was auch, nachdem seit 1809 die »Einschränkung des Züchtigungsrechts der Gutsherrschaft noch so lange« auszusetzen war, »bis eine bessere Polizei auf dem Lande eingeführt ist«, ausdrücklich 1812 bestätigt wurde.64 Erst 1832 wurde dieses Züchtigungsrecht abgeschafft, und 1849 trat an die Stelle der körperlichen Züchtigung überall die Freiheitsstrafe65 – hiervon allerdings blieb wiederum das Züchtigungsrecht der Gesindeordnung unberührt. Dessen Formulierungen ließen nach der vorsichtigen Redaktion des Landrechts durch Svarez immerhin Tätlichkeiten der Herrschaft nur im Affekt, nicht mit Vorsatz zu; Verbalinjurien blieben jedenfalls unbestraft. Der Gedanke der Erziehung durch die hausväterliche Gewalt blieb ausschlaggebend. In leicht modifizierter Form ging das Züchtigungsrecht auch in die Gesindeordnung für den Regierungsbezirk Stralsund (Neuvorpommern und Rügen) ein; in jener von 1844 für die Rheinprovinz, in der beispielsweise die Bestimmungen über die außerdienstlichen Pflichten und fristlosen Kündigungsgründe seitens der Herrschaft weitaus knapper ausfielen, fehlte es hingegen. Im Westen der Monarchie empfand man kein Bedürfnis nach solcherart Bestimmungen; im Osten – die Weser bildete hierin die »Grenzscheide«66 – hielten jedoch die Bestrebungen der Stände auf Wiederherstellung des landrechtlichen Züchtigungsrechts oder gar Ausdehnung der Gesindeordnung und deren Strafgewalt auf die ländliche Tagelöhnerschaft an.67 Man wird, um zu einem Urteil über die Bedeutung des Züchtigungsrechts und der freiheitsbeschränkenden Kautelen der Gesindeordnung zu gelangen, neben den in Jahrhunderten gewachsenen örtlichen Gepflogenheiten und der zeitgenössischen Verbreitung und Selbstverständlichkeit körperlicher Züchtigung68 weitere, in der Polizei- und Kommunalverfassung begründete Um64 Kabinettsordre vom 7.11.1809 und Erlaß des Justizministers vom 5.12.1812. Texte bei Heinze, S. 46 f. 65 Reskripte vom 9. und 26.11.1832, Verordnung vom 3.1.1849. Vgl. Eggert, S. 30, Anm. 66 Lennhoff, S. 68, auf der Grundlage von Berichten über die Verbreitung körperlicher Züchtigung von 1795. 67 Vgl. Koselleck, S. 67, 650–652; Hübner u. Kathe, Bd. I, S. 83–92; allgemein zur Agrarpolitik des ostelbischen Adels am Beispiel der Dismembrationen und des bäuerlichen Erbrechts s. den bedeutenden Aufsatz von Harnisch, Hartmut, Probleme junkerlicher Agrarpolitik im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Univ. Rostock, Gesellschaftswissenschaftl. Reihe, Jg. 21, 1972, S. 99–117. 68 Über zeitgenössische Kritik am Züchtigungsrecht vgl. u. a. Krünitz, S. 54 f.; Koppe, S. 8 f.

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stände berücksichtigen müssen und auch den Einfluss von Kirche und Religion zugunsten einer allgemein auf Duldung, auf schicksalhafte Hinnahme unveränderlicher Untergebenheit gerichteten Mentalität69 der Dienenden nicht unterschätzen dürfen. Die erschreckendsten Nachrichten über Ausbeutung, Missachtung und Misshandlung sind wiederum aus Schlesien überliefert. Hier enthielt noch die Dorfpolizeiverordnung von 1804 »Androhungen von körperlicher Züchtigung, Halseisen, Peitschenhieben, Spießrutenlaufen, Strafarbeit, Gefängnis-, Karren-, Zuchthaus-, Festungs-, Leibes- und Lebensstrafe bis zum Strang«; Gesinde, das sich weigerte, zu jeder Tages- und Nachtstunde geforderte Arbeit zu verrichten, wurde zuerst mit 15 Peitschenhieben, im Wiederholungsfall »mit strengeren Zwangsmitteln bestraft«.70 Ziekursch, dessen Untersuchung tiefe Einblicke in die Verhältnisse zwischen Gutsherrschaft und Untertanen in Schlesien vermittelt, hat auf die außerordentlich weitgehenden Strafmittel der Gutsherren als Inhaber der Gerichtsobrigkeit hingewiesen; sie ernannten ferner die Dorfschulzen, nahmen die Polizeiaufsicht in weiten Bereichen wahr, schlugen aus ihren Kreisen den Landrat vor. Der, gegen den sich Dienstverweigerung, Widerstand, Forderungen und Beschwerden in Haus und Hof richteten, entschied darüber zugleich als Obrigkeit und in eigener Sache. Ein schwa69 Vgl. etwa die folgenden »Sittensprüche« für das Gesinde: »Dein Lob reicht über’s Grab hinaus/Wenn du lang dienst in einem Haus./Dein Herz belohnet deinen Fleiß/Und Gott im Himmel der, es weiß.« – »So folg’ ich dir, mein Gott/Laß’ meiner Herrschaft Willen/Mich gern und treu erfüllen,/Als deinen Willen, dem Gebot.« – »Wer immerdar gelebt in Treuen,/ Der mag sich des’ im Tode freuen:/Die guten Werke zieh’n vorauf/Und tun das Tor des Himmels auf«. Heidemann, S. 220, sowie Der Ratgeber für Dienstherrn und Dienstbothen oder Zusammenstellung der hauptsächlichsten gesetzlichen Bestimmungen über den DienstVertrag und die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Dienstherrschaften und Dienst­ bothen nebst einem Anhange biblischer und anderer Sittensprüche, hg. v. M. L. Wellmer, Ansbach 1821.  – Klotz, S.  69, betont die »noch sehr starke christlich-kirchliche Ideologie von der Pflicht des Untertanen zum Gehorsam«: »Nachlässigkeit, Unfleiß ist nicht nur Verletzung eines Arbeitsvertrages, sondern verstößt gegen eine auch religiös fundierte Ordnung« – »[…] die Arbeiterschaft erstirbt in Devotion […]« (S. 79). Vgl. auch v. d. Goltz, Verhandlungen, S. 21: Solange die Arbeiter »an einen lebendigen Gott glauben, werden sie auch Standesunterschiede anerkennen und einsehen, daß nicht alle Menschen reich sein können«. Aus der jüngeren Literatur s. die Bemerkungen von Schmidt, Hilde-Lore, Die soziale Lage der Landbevölkerung im 18. Jahrhundert sowie Probleme ihrer Umgestaltung, wiso. Diss., Berlin 1965, S. 59; sowie Holtz, Gottfried, Der mecklenburgische Landarbeiter und die Kirche, in: Beiträge zur deutschen Kirchengeschichte, Jg. 10, 1975/76, S. 49–76, bes. S. 61 ff. 70 Jacobi, L., Ländliche Zustände in Schlesien während des vorigen Jahrhunderts. Beiträge Zur Geschichte der Gesetzgebung und Verwaltung Friedrichs II. und seines Nachfolgers, Breslau 1884, S. 171; vgl. besonders ebd., S. 159–165; sowie über die schlesischen Zustände im 16./17. Jahrhundert: Frauenstädt, Zur Geschichte des ländlichen Gesindewesens in den preußischen Ostprovinzen, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Jg.  3, 1900, S.  871–887; s. ferner die zeitgenössischen Schilderungen von Wolff, Wilhelm u. a., Die schlesische Mil­ liarde, Berlin [DDR] 1954, sowie Bleiber, Helmut, Zwischen Reform und Revolution. Lage und Kämpfe der schlesischen Bauern und Landarbeiter im Vormärz 1840–1847, Berlin [DDR] 1966, S. 74.

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cher Trost, dass noch »dem geringsten Untertan« freistand, sich klagend an den König selbst zu wenden. Beschwerden an das Obergericht dauerten lange, versprachen wenig und änderten nichts an der vollkommenen Gehorsamsleistung bis zur Entscheidung in der Sache; kurz: »Überall Willkür und Illegalität auf der einen, Unzufriedenheit, Ungehorsam, Störrigkeit, Bosheit und Neigung zu Rotten und Tumult auf der anderen Seite«  – ein Zustand, der »den heiligen Namen Justiz schwerlich durchaus verdienen möchte«.71 Für die Wendung dieses Zustands zum Besseren waren nicht so sehr die Folgen der Reformgesetze zu Beginn des Jahrhunderts, als vielmehr die Veränderungen in der länd­ lichen Kommunal-, in der Guts- und Gerichtsverfassung von Bedeutung. Aber die gleichberechtigte Stellung der Gutsbezirke und Landgemeinden bildete sich erst zögernd heraus; in der Gerichtsverfassung bestand die Obrigkeit des Gutsherrn auch nach Bauernbefreiung und Ablösung einstweilen fort, was durch ein Publikandum vom 8. April 1809 neben anderem ausdrücklich bestätigt wurde, während in den westlichen Provinzen nach der Befreiung nur die Gerichtsrechte der Standesherren und früheren Reichsritter wieder hergestellt wurden; die Patrimonialgerichtsbarkeit entfiel erst durch ein Gesetz vom 2. Januar 1849, die gutsherrliche Polizei nach einem Interludium in den frühen 1850er Jahren erst mit Erlass der Kreisordnung vom 13. Dezember 1872.72 Polizei- und Rechtsprechung der niederen Instanz waren mindestens in den selbständigen Gutsbezirken wenn nicht notwendig parteiisch, so doch aus der Sicht der Gutsverfassung unselbständig. Für die Rechtswahrung der Dienstboten und Tagelöhner musste dies abträgliche Folgen haben. Zur Verschärfung dieses Zustands trug schließlich, wie dies in den 1850er Jahren der allgemeinen Tendenz der Innenpolitik entsprach, noch das Gesindestrafgesetz vom 24. April 1854 bei, das zwar keine Verstärkung des hausväter­ lichen Züchtigungsrechtes an sich, wohl aber auf Antrag der Herrschaft eine zusätzliche Strafmöglichkeit gegen »Gesinde, welches hartnäckigen Ungehorsam oder Widerspenstigkeit gegen die Befehle der Herrschaft oder der zu seiner Aufsicht bestellten Personen sich zu Schulden kommen läßt«, schuf.73 Immerhin durfte ein solcher Antrag nur an die Lokalpolizei gestellt werden, wenn diese nicht vom Antragsteller oder dem von ihm insoweit bestellten Stellvertreter verwaltet wurde; in solchen Fällen trat der Landrat als Vollzugsorgan an die Stelle 71 Kriegs- und Domänenrat Merckel, der spätere Oberpräsident der Provinz, am 28.7.1808, zit. nach Ziekursch, S. 121f; vgl. ebd., S. 120–129 u. ö.; Jacobi, S. 170; Klotz, S. 64 f.; Knapp, Bd. 1, S. 76 f. 72 Hierzu Genzmer, St., Entstehung und Rechtsverhältnisse der Gutsbezirke in den 7 östlichen Provinzen des Preußischen Staates, dargestellt unter Berücksichtigung der Landgemeindeordnung vom 31.  Juli 1891, Berlin 1891, S.  5–22; Harnisch, Agrarpolitik, S.  108 f.; Bleiber, S. 91–111; s. auch Mußgnug-Stürmer, Dorothee, Landgemeinde und Untertänigkeit. Zur preußischen Verfassungsentwicklung vom Erlaß des Allgemeinen Landrechts 1794 bis zum Jahre 1842, phil. Diss. Heidelberg 1971. 73 Die vollständige Gesinde-Ordnung, S. 10–12; vgl. Dietz, C., Vertragsbruch im Arbeits- und Dienstverhältnis, Berlin 1890, ND Frankfurt 1970, S. 7–16.

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der Polizei. Das Recht zur fristlosen Kündigung blieb unbenommen. Bedeutsam war, dass die Bestimmungen nicht nur das Gesinde betrafen, sondern auf Instleute, Landarbeiter, Einlieger und andere Beschäftigte ausgedehnt wurden, ferner, dass mit dem Gesetz ausdrücklich das Koalitionsverbot dieser Arbeiterkategorien bekräftigt und Kontraktbruch unter Gefängnisstrafe gestellt wurde. Von der Aufhebung der Koalitionsverbote eineinhalb Jahrzehnte später blieben Dienstboten und ländliche Arbeiter dann ausgespart. Auch wenn das Gesetz letztlich nur selten angewandt worden ist,74 brachte es doch eine Verschärfung der an sich restriktiven Arbeitsbedingungen und erfüllte zudem langjährige Forderungen von interessierter Seite nach weiteren Disziplinierungsmöglichkeiten gegen die Landarbeiterschaft. Zu ihnen zählten auch die Freizügigkeitsbeschränkungen, die die Gesindeordnung schon durch die lange Dauer ihrer Vertragsfristen besonders für ländliche Arbeiter, durch die Zwangsrückführung bei vorzeitigem Abzug, aber auch in weiteren Bestimmungen über Gesindemakler, entlaufenes Gesinde, Gesindezeugnisse, Gesindebücher, Kündigung und Ziehtermine verankerte. Schon die älteren Gesindeordnungen hatten gerade in diesem Bereich ausführliche Regelungen getroffen, so dass es gerechtfertigt ist, angesichts steten Arbeitskräftemangels im häuslichen und ländlichen Raum die Einschränkung der Freizügigkeit überhaupt als zentrales Motiv zum Erlass gesinderechtlicher Bestimmungen schon in frühester Zeit zu deuten. Noch am ehesten lagen die Regelungen über Gesindemakler (Konzessionierung, Gebühren u. a.) im Interesse auch des ländlichen Gesindes, aber weder reichten die Bestimmungen späterhin aus, die »schwarze« Gesindevermittlung wirksam zu bekämpfen, noch ließen sich bis zur Kuppelei reichende Auswüchse des Vermittlungswesens vermeiden; nur öffentliche Gesindevermittlungen wären hierzu in der Lage gewesen. Nach wie vor kam es auf den vielen, zu Beginn des Jahrhunderts noch in voller Blüte stehenden Gesindemärkten zu unehrlichen, oft auf dem Rücken der Dienst­ boten ausgetragenen Schiebereien.75 Mit den Strafbestimmungen über Mehrfachvermietungen begegnete der Gesetzgeber der verbreiteten Unsitte, sich am Ziehtag mehreren Herrschaften zu versprechen und entsprechend doppeltes oder dreifaches Handgeld zu kassieren. Ähnlichen Zielen dienten das dem abgehenden Dienstboten auszustellende Zeugnis sowie die durch Verordnung vom 29. September 1846 eingeführten Gesindedienstbücher,76 in denen fortan jede Dienstleistung einschließlich des Abgangszeugnisses, aber auch rechtskräftige Verurteilungen wegen begangener Verbrechen einzutragen waren. 74 Vgl. Wissell, Rudolf, Koalitionen und Koalitionsverbote, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 5, Jena 19234, S. 749. Das Gesetz galt nach 1864/66 nur in den alten Provinzen. In süddeutschen Gesindeordnungen waren Koalitionsverbote so gut wie unbekannt. 75 Vgl. Ludwig, S. 4–9, 29–31, 37–39; Schilderungen bei Rehbein, Franz, Das Leben eines Landarbeiters, Jena 1911, neu hg. v. Karl Winfried Schafhausen, Darmstadt 1973, S. 90 f. u. ö.; s. auch Engelsing, Arbeitsmarkt, S. 169–175. 76 Text: Eggert, S.  8 f., sowie Gerhard, S.  276 f. Zum weiteren Verordnungswesen über Annahme und Entlassung vgl. etwa Heinze, S. 16–19, 20 f. (jüdisches Gesinde) u. ö.

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Das preußische Gesinderecht, in dem eine Fülle von teils jahrhundertealten Rechtsgebräuchen festgeschrieben wurde, stellt insgesamt auch nach den Maßstäben der Zeit keine arbeitsrechtliche Neuerung oder gar einen Fortschritt dar, und diese Behauptung wird nicht etwa durch seine lange Geltungsdauer widerlegt. Wirtschafts- und rechtsgeschichtlich gesehen, sicherte die Gesindeordnung vor allem den Gutsherrschaften den nach Ablösung der Dienstpflichten durch das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 absehbaren Arbeitskräftebedarf, auch wenn man künftig mehr und mehr den Weg der Beschäftigung von Tagelöhnern beschreiten sollte. Faktisch wurden in den gesinderechtlichen Bestimmungen die untertänigen Arbeitsbeziehungen und selbst die schikanösen Ausbeutungsformen des Zwangsgesindedienstes in mancherlei Hinsicht fortgeschrieben. Der Gesindedienst behielt Zwangscharakter. Von dem älteren, auf die Gegenseitigkeit von Dienstleistung und Schutz gegründeten Patriarchalismus des Untertänigkeitsverhältnisses, wenn er denn überhaupt in den Jahrzehnten vor der Bauernbefreiung noch konkrete Bedeutung gehabt haben sollte,77 sind in der Gesindeordnung nur noch Restformen in Gestalt von Fürsorgebestimmungen im Krankheitsfall erkennbar. Die Vorstellung vom ausgewogenen Wechselbezug zwischen Rechten und Pflichten, Fürsorge und Disziplin durch die hausväterliche Gewalt, die selbst längst in einem tief greifenden, mit der Industrialisierung forcierten Auflösungsprozess begriffen war, wurde in der Gesindeordnung durch die stark überwiegenden disziplinierenden Kautelen dieses im Übrigen ganz in der hergebrachten Rechtskasuistik verharrenden Gesetzeswerks zerstört. Dies wird nirgends deutlicher als an der Realität von Freiheit, die der sogenannte »freie« Gesindevertrag bot: Er war, bei Licht besehen, nichts als die Fiktion bestenfalls eines Tages im Jahr, des Ziehtages, den sich das Stellen wechselnde Gesinde nicht zufällig mit seinen Lustbarkeiten, mit Wirtshausbesuch, Jahrmarkttreiben und Branntwein im Überfluss umgab. Natürlich wird fehlgehen, wer den Arbeitsalltag der Dienstboten allein aus seinen rechtlichen Rahmenbedingungen zu verstehen sucht78  – gerade im Gesindedienst wurde längst nicht alles für bare Münze genommen, was an sich rechtens war, und in der Wirklichkeit gerade der klein- und mittelbäuerlichen Betriebe, wo Bauer und Gesinde mit Ausnahme der arbeitsintensiven Wochen alle Arbeit gemeinsam verrichteten, bestanden die Voraussetzungen wirksamer Fürsorge und wechselseitigen Vertrauens durchaus fort. Aber das Gesinderecht, hier77 Vgl. bes. die Untersuchung von Spies, Klaus Peter, Gutsherr und Untertan in der Mittelmark Brandenburg zu Beginn der Bauernbefreiung, Tübingen 1970, die insbesondere der Frage nach dem Moment des Patriarchalismus in den gutsherrschaftlichen Arbeitsbeziehungen 1780 bis 1811 gewidmet ist und zu einem negativen Ergebnis kommt; s. auch Weber, Max, Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1924, S.  470–507, 488 f.; sowie Conze, Werner, in: Hermann Aubin u. Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 452; Engelsing, Dienstbotenlektüre, S. 189 f., 192 f.; Hartinger, S. 634–638; Matter, S. 39. 78 Vgl. die Warnung von Harnisch, Boitzenburg, S. 114.

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auf konzentriert sich unsere Kritik, schuf Möglichkeiten des Missbrauchs, legalisierte herrschaftliche Überschreitungen um den Preis weitgehender Unterwerfung und schrieb im ländlichen Milieu einen Teil der Daseinsbedingungen, Herrschafts- und Unterwerfungsformen längst vergangener Zeiten fest. So entstanden im gutsherrschaftlichen und ländlichen Bereich, ohne dass an dieser Stelle auf andere, in derselben Richtung wirkende Einflüsse und Entwicklungen eingegangen werden kann, Residuen reaktionärer Machtfülle, überlebten untaugliche Werthaltungen und Verhaltensmuster. Man muss sich den Geltungsumfang des Gesinderechts auch quantitativ vor Augen führen, um das Gewicht solcher Verhaltensmuster angemessen einzuschätzen.

4. Preußische Gesindestatistik 1800 bis 1861 Der vormärzlichen und selbst der frühneuzeitlichen Gesindestatistik ist schon in der älteren Forschung Aufmerksamkeit zuteil geworden,79 wobei sich die Überlieferung für Deutschland insgesamt und die Zeit vor etwa 1800 naturgemäß nur sehr bruchstückhaft zusammenfügen ließ, während für spätere Jahrzehnte die Reichsstatistik ab 1882 zuverlässige Anhaltspunkte bot. Im Vergleich mit anderen Staaten des Deutschen Bundes erlaubt die Erwerbsstatistik Preußens aus den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts recht detaillierte An­gaben zur Entwicklung des Gesindes und anderer Erwerbsgruppen, wobei sich die Begrenzung auf die Erhebungsjahre 1819 bis 1858/61 aus dem Charakter der Zählungen und der Art der Überlieferung ergibt. Die Daten der noch älteren Gesindestatistik von Krug80 spiegeln infolge der vom Verfasser selbst aufgewiesenen Mängel ein nur sehr lückenhaftes Bild: Demnach gab es in allen preußischen Städten und Ländern um die Wende zum 19. Jahrhundert etwa 605.000 männliche Dienstboten (Knechte, Diener, Dienstjungen), so dass auf 16  Einwohner ein Dienstbote entfiel; die Zahl der Mägde betrug 511.600, und auf 75 Einwohner waren vier weibliche Dienstboten zu rechnen. Das Verhältnis des städtischen zum ländlichen Gesinde betrug unter Ausschluss der von Krug nur geschätzten Landesteile bei den männlichen Dienstboten ungefähr 1:4,7, bei den weiblichen Dienstboten etwa 1:2,3 und insgesamt 1:3,3. Bei den städtischen Dienstboten entfielen auf zwei Knechte bzw. Diener 79 Vgl. neben den Bemerkungen in den in Anm. 82 genannten Quellen bes. Kollmann, S. 264– 277, und Kähler, S.  8–15; allgemein zur landwirtschaftlichen Statistik s. Meitzen, Bd.  1, S. 1–16; zu Meitzen s. Harnisch, Hartmut, August Meitzen und seine Bedeutung für die Agrar- und Siedlungsgeschichte, in: JbWG, 1975/I, S. 97–119. 80 Krug, Leopold, Betrachtungen über den National-Reichthum des Preußischen Staats, und über den Wohlstand seiner Bewohner, 2 Bde., Berlin 1905, Bd. 2, S. 208–212. Weitere, z. T. detaillierte Daten der Gesindestatistik der älteren Zeit sind regional überliefert; vgl. z. B. den Hinweis unter Anm. 88.

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ungefähr drei Mägde; beim ländlichen Gesinde war dieses Verhältnis annähernd umgekehrt. In der regionalen Verteilung war das ländliche Gesinde in den ostelbischen Bezirken im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil deutlich überrepräsentiert. Das Übergewicht der weiblichen Dienstboten in den Städten gehört zu den zu bestätigenden Ergebnissen auch der späteren Gesindestatistik. Zugleich wird in den Angaben von Krug ein ähnlich die weiteren Erhebungen belastendes Problem erkennbar: Die Gesindestatistik krankt an mangelnder, auf den Verwendungszweck bezogener Abgrenzung zwischen häuslichem und ländlichem Gesinde auf der einen, zwischen landwirtschaftlichem und gewerblichem im Rahmen des ländlichen Gesindes auf der anderen Seite. Häusliche Dienstboten konnten durchaus überwiegend in der Landwirtschaft beschäftigt sein, wie umgekehrt die Angaben zum ländlichen bzw. »gewerblichen« Gesinde vielfach die in den Gutshäusern »zur persönlichen Bequemlichkeit der Herrschaft« beschäftigten Dienstboten, also Diener und Lakaien, Kutscher, Jäger, Hofmeister u. a., enthalten. Unter »gewerblichem« Gesinde – dieser der Überlieferung entsprechende Begriff wird im Folgenden stets durch Anführungszeichen kenntlich gemacht – verbirgt sich in der Überlieferung ganz überwiegend das landwirtschaftliche Gesinde, jedoch lässt sich auch hier, was im Übrigen den wirk­ lichen Beschäftigungsverhältnissen entsprochen haben wird, nicht mit letzter Sicherheit nach dem Verwendungszweck zwischen solchem Gesinde, das ausschließlich oder überwiegend in der Landwirtschaft diente, und solchem, das beispielsweise in den gutsherrschaftlichen Erwerbsbetrieben angestellt war, unterscheiden. Aufgrund dieser und weiterer Probleme empfiehlt sich im Folgenden, die unterscheidbaren Gesindegruppen insgesamt auf statistischer Grundlage zu erarbeiten und anschließend auf einige interpretatorische Möglichkeiten hinzuweisen. Die Quellenlage bringt es dabei mit sich, dass bei der Berechnung von Relativzahlen sowohl, wie zeitgenössisch üblich, auf die Zivilbevölkerung über 14 Jahre als auch, seltener, auf die Gesamtbevölkerung Bezug genommen wird (Tab. 1). Diese Angaben bedürfen des nachdrücklichen Hinweises, dass die veröffentlichten Tabellen mit Sicherheit, jedoch in mit der Zeit abnehmendem Maße, Fehler in Zuordnung, Zählweise und Zusammenstellung bergen. Vor allem lässt sich der Anteil des nichtlandwirtschaftlichen, wohl vorwiegend im länd­lichen Gewerbe wie Brennereien und Zuckerrübenfabriken beschäftigten Gesindes am gesamten »gewerblichen« Gesinde erst für 1852 global mit 14,75 Prozent, für 1855 mit 17,37 Prozent und 1861 beim männlichen gewerblichen Gesinde mit 11,93 Prozent, beim weiblichen mit 12,39 Prozent, d. h. insgesamt mit 12,16 Prozent81 bestimmen. Es fällt schwer, aufgrund dieser widersprüchlichen Angaben das rein landwirtschaftliche Gesinde für die vormärzlichen Jahrzehnte festzustellen, doch dürfte eine Schätzung der Wirklichkeit nahe kommen, wonach – unter Berücksichtigung eines kleinen, überwiegend landwirtschaftlich 82

81 Aufgrund der im Jahrbuch für die amtliche Statistik 3, 1867, S. 236 mitgeteilten Zahlen.

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Tab. 1: Gesinde in Preußen 1819 bis 186182 Jahr

männliches Gesinde

weibliches Gesinde

zur Bequemlichkeit der Herrschaft

zum Betrieb der Landwirtschaft u. anderer Gewerbe

zur Bequemlichkeit der Herrschaft

zum Betrieb der Landwirtschaft u. anderer Gewerbe

(a)

(b)

(a)

(b)

1819

23.958

456.358

74.914

478.285

1822

22.819

423.175

71.475

452.013

1825

23.149

419.968

74.278

445.419

1828

22.233

417.742

78.324

442.494

1831

23.431

411.934

82.926

443.494

1834

24.897

445.249

87.294

471.331

1837

26.938

481.431

94.750

507.374

1840

29.591

515.425

106.438

542.269

1843

31.525

535.261

117.088

556.450

1846

40.505

537.628

133.018

558.716

1849

40.186

552.489

136.130

577.709

1852

45.798

539.521

147.422

557.842

1855

48.921

563.297*

152.148

571.168

1858

48.964

619.465

160.963

633.345

(38.969)

(634.092)

(214.472)

(571.284)

1861**

82 Z. T. errechnet nach Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staats 1, 1863, S. 284 f.; 2, S. 234–237, 252–255, 261. Seit 1858 sind in den Zahlen für »gewerbliches« Gesinde Dienstboten gesondert ausgewiesen, die im »Landbau als Nebenerwerb« tätig waren. Nach einer Bemerkung bei Kollmann, S. 273, wird es sich um Gesinde bei Landwirten handeln, die Landwirtschaft im Nebengewerbe betrieben; dies rechtfertigt die gleichwertige Aufnahme in die Tabelle. Zur Statistik des häuslichen Gesindes vgl. Engelsing, Personal, S. 226 f., 241 f. sowie mit zahlreichen Angaben über einzelne Städte S. 230–232 u. ö. * Drehfehler in der Vorlage: 653.297. Auch in sonstigen Berechnungen wurde die Tabelle überprüft und unter z. T. erheblichen Abweichungen von der Vorlage korrigiert. ** Ausdrücklich wurden erst 1861 die eigentlich in der Landwirtschaft beschäftigten Dienstboten »zur persönlichen Bequemlichkeit der Herrschaft« nicht in dieser, sondern

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Anteil des Gesindes in % an Zivilbevölkerung über 14 Jahre der männlichen/weiblichen Zivilbevölkerung über 14 Jahren männliches Gesinde

Gesinde insgesamt

Anteil insgesamt an der Zivil­ bevölkerung über 14 Jahren (%)

weibliches Gesinde

(a)

(b)

(a)

(b)

6.954.934

0,71

13,57

2,09

13,32

1.033.515

14,86

7.309.764

0,64

11,93

1,90

12,01

969.482

13,26

7.620.820

0,62

11,32

1,90

11,39

962.814

12,63

7.863.321

0,58

10,88

1,95

11,00

960.793

12,22

8.050.749

0,60

10,54

2,00

10,71

961.785

11,95

8.493.531

0,60

10,75

2,01

10,83

1.028.771

12,11

9.011.007

0,61

10,89

2,06

11,05

1.110.493

12,32

9.604.463

0,63

10,96

2,17

11,07

1.193.723

12,43

9.960.706

0,65

10,97

2,31

10,95

1.240.324

12,45

10.332.179

0,80

10,61

2,53

10,62

1.269.867

12,29

10.428.899

0,79

10,85

2,55

10,83

1.306.514

12,53

10.843.264

0,86

10,15

2,67

10,09

1.290.583

11,90

11.038.042

0,91

10,44

2,70

10,12

1.335.534

12,10

11.421.547

0,88

11,10

2,76

10,85

1.462.737

12,81

(0,67) (10,95)

(3,51)

(9,36)

1.458.817

12,27

11.891.776

in der Spalte für landwirtschaftliches Gesinde mitgezählt, das in dieser Tabelle, obwohl 1858 erstmals vom nichtlandwirtschaftlichen Gesinde unterschieden, mit letzterem zum »gewerblichen« Gesinde zusammengefasst wurde. Die Differenz zu den Vorjahren zeigt, dass in der Tat bisher unter den Dienstboten »zur persönlichen Bequemlichkeit« vielfach »häusliche« Dienstboten verstanden worden waren, die durchaus überwiegend in der Landwirtschaft beschäftigt sein konnten. Bei den weiblichen Dienstboten scheint dagegen das Umgekehrte der Fall gewesen zu sein. Die Zahlen sind daher mit den Vorjahren nicht im Einzelnen, jedoch insgesamt vergleichbar. Die 1861 erstmals gezählten »Kellner und Diener bei Speise- und Schankwirten« (11.358) wurden, um die Vergleichbarkeit zu erhalten, aus der Tabelle ausgeschieden. Vgl. zu 1861 auch Meitzen, Bd. 4. Berlin 1869, S. 267.

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beschäftigten Anteils am häuslichen Gesinde83 – von den Angaben für das »gewerbliche« Gesinde beider Geschlechter jeweils um 10 Prozent abzuziehen sind, um das nur landwirtschaftlichen Verwendungszwecken dienende Gesinde zu erhalten. Allemal gilt dabei, dass zwischen beiden Beschäftigungsarten schon aufgrund der saisonalen Produktionsverhältnisse, die auf großen Gütern gewiss zur Verlagerung der Beschäftigungsart auf die angegliederten Gewerbebetriebe in Zeiten geringen landwirtschaftlichen Arbeitsanfalls führten, eine allzu scharfe Trennung nicht möglich erscheint, dass also insoweit der oben definierte Begriff »gewerbliches« Gesinde die Wirklichkeit spiegelt. Interesse verdient eine Gegenüberstellung der Angaben der Gesindestatistik mit jener der (ländlichen) Tagelöhner, wie sie erstmals 1846, mit größerer Genauigkeit aber erst 1858 und 1861 möglich ist: Tab. 2a: Anzahl der in Preußen selbständig von Handarbeit lebenden Tagelöhner und des Gesindes 1846 bis 185584 Jahr

Tagelöhner

Gesinde

männlich

weiblich

gesamt

gesamt

1846

873.286

596.805

1.470.091

1.269.867

1849

934.233

679.719

1.613.952

1.306.514

1852

861.212

626.443

1.487.655

1.290.583

1855

883.563

647.115

1.530.678

1.335.534

Tab. 2b: Anzahl der in Preußen von Handarbeit lebenden Tagelöhner und des Gesindes 1858 und 1861 Jahr

Tagelöhner in der Landwirtschaft

Tagelöhner in anderen Gewerben

Tagelöhner

Gesinde

männlich

weiblich

männlich

weiblich

gesamt

gesamt

1858

436.735

401.954

789.318

565.705

2.193.712

1.462.737

1861

574.937

597.946

637.906

450.068

2.260.857

1.458.817

83 Vgl. o. Anm. 82**. 84 Aufgrund Jb. f. d. amtl. Stat. 3, 1867, S. 238, 256; Gesinde s. Tab. I,1. Entgegen der Vorlage wurden Tabellen 2 a) und b) getrennt, da die veränderte Zählweise u. a. keine Zusammenfassung erlaubt. Die ausdrücklich »vorläufigen« Angaben im Jb. f. d. amtl. Stat. 1, 1863, S. 285 weichen z. T. erheblich ab.

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Bedauerlicherweise sind in Tab. 2 a) weder die als Tagelöhner beschäftigten Familienangehörigen gezählt worden, noch wurde zwischen landwirtschaftlichen und gewerblichen Tagelöhnern unterschieden. Der erstgenannte Umstand erklärt insbesondere die starke Zunahme der Tagelöhnerzahl 1858. Der Anteil der »Tagelöhner und Handarbeiter« an der gesamten Zivilbevölkerung über 14 Jahren in Preußen wurde erstmals 1816 mit 16,29 Prozent bei den männlichen Tagelöhnern und der männlichen Zivilbevölkerung, mit 10,87 bei den weiblichen entsprechend festgestellt; er nahm bis 1846 leicht auf 17,23 bzw. 11,34 Prozent zu und betrug 1855 16,38 bzw. 11,49 Prozent (zu den folgenden Jahren: Tab. 2c). Tab. 2c: Anteil der Tagelöhner bzw. Handarbeiter und des landwirtschaftlichen Gesindes in Preußen an der männlichen bzw. weiblichen Zivilbevölkerung über 14 Jahren 1858 und 1861 in Prozent85 Jahr

Tagelöhner und Handarbeiter landwirtschaftlich

Landwirtsch. Gesinde

gewerblich

männlich

weiblich

männlich

weiblich

männlich

weiblich

1858

7,83

6,88

14,14

9,69

10,10

10,85

1860

9,93

9,80

11,02

7,38

(10,95)

(9,36)

Bei aller Vorsicht gegenüber einzelnen Angaben lassen die vorstehenden, in den Grundlinien sicher ein zutreffendes Bild spiegelnden Zahlen die folgenden Feststellungen zu: 1. Die Gesamtzahl der häuslichen und »gewerblichen« Dienstboten nahm von 1819 bis um 1830 deutlich ab, seither jedoch, bei einem leicht über 12 Prozent schwankenden Anteil an der Zivilbevölkerung über 14 Jahren, in einem ungefähr gleichbleibenden Verhältnis zur letzteren wieder zu. Diese Zunahme wurde ab etwa 1840 deutlich überwiegend vom weiblichen häuslichen Gesinde getragen, das im Vergleich zum »gewerblichen« Gesinde überproportional, im Vergleich zum raschen Wachstum der städtischen Bevölkerung dennoch unterproportional anstieg.86 Die anfänglich deutliche Abnahme des »gewerblichen« Gesindes erklärt sich insbesondere aus der Reformgesetzgebung zu Beginn des Jahrhunderts, die für die Dienstboten die Ablösung des Gesindezwangsdienstes und dessen Überführung teils in den freien Gesindedienst, teils aber auch 85 Nach Tab. I,1 sowie Jb. f. d. amtl. Stat. 3, 1867, S. 261. 86 Dies zeigt auch ein Vergleich des städtischen Gesindes 1816 und 1861 (Jb. f. d. amtl. Stat. 3, 1867, S.  235 f., 254 f.): Danach nahm trotz absolut starken Wachstums in den 25 größten Städten Preußens (Stand: 1861) das männliche Gesinde von 6,16 Prozent der männlichen Zivilbevölkerung über 14 Jahren auf 4,47 Prozent, das weibliche Gesinde entsprechend von 5,26 auf 2,10 Prozent ab. Besonders deutlich war diese Abnahme in stark wachsenden Großstädten wie Köln, Elberfeld, Düsseldorf; Berlin bildete eine Ausnahme.

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in kontraktliche Arbeit als ländliche Tagelöhner brachte.87 Während das ländliche Gesinde etwa in Ostpreußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts recht deutlich und stärker als die sonstige ländliche Bevölkerung zugenommen hatte,88 brachten die Jahre nach der Bauernbefreiung und Ablösungsgesetzgebung einen scharfen Rückgang, der sich zum Teil aus der noch zu erörternden Zunahme der Tagelöhnerbeschäftigung auf den Gütern, zum Teil  jedoch auch aus dem Abbau der Gesindehaltung bei den befreiten Bauern wegen Fortfalls der Dienstpflichten erklären wird. Der Rückgang wird besonders deutlich, zieht man das in den Details leider unvollständig überlieferte Jahr 1816 zum Vergleich mit 1819 heran:89 In diesen drei Jahren verringerte sich der Anteil des männlichen »gewerblichen« Gesindes an der männlichen Zivilbevölkerung über 14 Jahre von 14,47 auf 13,57 Prozent, noch stärker jener des weiblichen Gesindes von 15,72 auf 13,32  Prozent, und während der Anteil der männlichen Dienstboten »zur persönlichen Bequemlichkeit der Herrschaft« gleichblieb, sank jener der weiblichen Dienstboten ebenfalls im Verhältnis zur zivilen Erwerbsbevölkerung leicht ab. 2. Leider erlaubt die Tabelle für die 1850er Jahre umso weniger eindeutige Aussagen über den Entwicklungstrend, als sich die Zählweisen in diesem Zeitraum veränderten; die Verbesserung der Erhebungsmethoden schlägt sich zum Teil  (etwa Tab. 1: weibliches Gesinde 1858 und 1861) in einer Entzerrung der langjährigen Ergebnisse nieder. Obwohl sich ein ähnlich detailliertes Bild wie anlässlich der Zählungen von 1858 und 1861 bis zur reichseinheitlichen Berufsund Gewerbezählung von 1882 nicht wieder erstellen lässt, können Indizien für die Entwicklung während der 1850er Jahre, zum Teil unter Einbezug dieser letzteren und der weiteren Zählungen, doch aus den späteren Relationen gewonnen werden. Demnach nahm das landwirtschaftliche Gesinde in Preußen zwischen 1861 und 1871 deutlich von 1.058.967 auf 883.953 ab, doch entsprach diese Entwicklung dem Rückgang der landwirtschaftlichen Gesamtbevölkerung, so dass deren Gesindeanteil konstant bei 12,6  Prozent blieb.90 Die Anzahl der häus­ 87 Conze, Werner, Vom »Pöbel« zum »Proletariat«. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Wolfram Fischer u. Georg Bajor (Hg.), Die soziale Frage. Neuere Studien zur Lage der Fabrikarbeiter in den Frühphasen der Industrialisierung, Stuttgart 1967, S.  17–48, nimmt S.  30 an, dass das nach den Agrarreformen freigesetzte (Zwangs-)Gesinde »in seine Familie zurückfloss«. 88 Zahlen für 1750 und 1802 bei Klatt, Willy, Geschichtliche Entwicklung der Landarbeiterverhältnisse in Ostpreußen, wirtschafts- und sozialwiss. Diss. Frankfurt a. M. 1928, S. 17; für Schlesien s. Ziekursch, S. 408–413. 89 Vgl. Jb. f. d. amtl. Stat. 2, 1867, S. 250, sowie Harnisch, Hartmut, Die Bedeutung der kapitalistischen Agrarreform für die Herausbildung des inneren Marktes und die Industrielle Revolution in den östlichen Provinzen Preußens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: JbWG, 1977/IV, S. 63–82, 79. 90 Entsprechend nahm der Anteil des landwirtschaftlichen Gesindes an der preußischen Gesamtbevölkerung von 7,89 Prozent (1846; vgl. Anm. 105) auf 5,7 Prozent (1861) und 3,6 Prozent (1871) ab; nach Kähler, S.  13 f. Vgl. Dillwitz, Sigrid, Die Struktur der Bauernschaft

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lichen Dienstboten nahm dagegen weiterhin, jedoch nicht im selben Maße wie die städtische Bevölkerung, zu.91 Der Rückgang des landwirtschaftlichen Gesindes nicht nur im Sinne des Anteils an der Gesamtbevölkerung, sondern auch in absoluten Zahlen, scheint sich in der Statistik (Tab. 1) erstmals 1861 anzudeuten, will man nicht bereits die Ergebnisse für 1852 im selben Sinn deuten. Hierfür könnte vor allem der scharfe Einbruch der Agrarkonjunktur bis zum Beginn der 1850er Jahre bei zu­ nehmendem industriellen Arbeitskräftebedarf sprechen. Ähnlich traf, nachdem sich landwirtschaftliche Produkte Mitte der 1850er Jahre stark verteuert hatten, das Zählungsjahr 1861 wiederum in eine Phase der Preisdeflation.92 Für die frühen 1850er Jahre sind auch politische Einflüsse auf die Statistik nicht ganz auszuschließen. Die schon in den 1840er Jahren recht starke, im folgenden Jahrzehnt rasant zunehmende Auswanderung wurde zwar auch nach der Revolution überwiegend von Handwerksgesellen und sonstigen, meist städtischen Gewerbegruppen getragen: Der Anteil der »Ackerbauer und Tagelöhner« sei, so hieß es 1854 einigermaßen befriedigt, in Preußen von (1848) 46 Prozent auf (1849) 40 Prozent und (1852) 28 Prozent gefallen.93 Dies wird jedoch, berücksichtigt man die hohen Wachstumsraten der Auswanderung überhaupt, immer noch eine deutliche absolute Zunahme der ländlichen Auswanderer bedeutet haben.94 Der Mobilisierungsgrad der ländlichen Bevölkerung nahm mithin  – hierauf wird in anderem Zusammenhang noch einzugehen sein95 – in den 1850er Jahren zu. Diese Entwicklung scheint sich in einem Teilbereich bereits seit den 1871 bis 1914. Dargestellt auf der Grundlage der deutschen Reichsstatistik, in: JfG, Jg.  9, 1973, S. 47–127, S. 76–81, 110, 113–115; dies., Quellen zur sozialökonomischen Struktur der Bauern­schaft im Deutschen Reich nach 1871, in: JbWG, 1977/II, S. 237–269. 91 Zahlen bei Schulz, Selke, Die Entwicklung der Hausgehilfinnen-Organisationen in Deutschland, jur. Diss. Tübingen 1961, S. 20–22; für Österreich s. Stekl, S. 302. 92 Vgl. Spree, Reinhard, Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880, mit einem konjunkturstatistischen Anhang, Berlin 1977, S. 133–138. 93 Annalen der Landwirtschaft, Jg. 12, Bd. 23, 1854, S. 76. 94 Vgl. etwa die bei Bethke, Hans Otto, Der gewerkschaftliche und der wirtschaftsfriedliche Gedanke in den Landarbeiterberufsverbänden beider Mecklenburg. Versuch einer Er­ klärung und Beurteilung auf geschichtlicher Grundlage, Wirtschaftswiss. Diss. Rostock 1927, S.  32, für 1851 bis 1874 zusammengestellte Tabelle über die Zusammensetzung der Auswanderung aus beiden Mecklenburg bzw. Mecklenburg-Schwerin; hierzu auch Mager, S. 390–396. Tabellen über die Auswanderung aus den preußischen Ostprovinzen bei Hahn, Carl, Vergleichende Studien über die Entwicklung des Landarbeiterstandes in Mecklenburg und Preußen, math.-naturwiss. Diss. Göttingen 1927, S. 78 f., für 1844–1872; ebd., S. 79: Berufsstruktur dieser Auswanderung für 1862–1871. Demnach erreichte die Auswanderung der Dienstboten und Tagelöhner in Stadt und Land ihren Höhepunkt zwischen 1867 und 1871. Auch die Angaben bei Marschalck, Peter, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur soziologischen Theorie der Bevölkerung, Stuttgart 1973, S. 79, lassen vermuten, dass seither der Anteil der landwirtschaftlichen zugunsten der gewerblichen Arbeiter bedeutend zurückging. 95 Vgl. unten, S. 223 ff.

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1830er Jahren anzudeuten: Seither weist die Bevölkerungsstatistik der mittleren und östlichen Provinzen Preußens durchweg hohe Abstromquoten auf. Berücksichtigt man hierbei, dass auch in diesen Regionen die größeren Städte Zuzugsorte blieben,96 dann könnte diese Verschiebung mit der gleichzeitigen Zunahme des häuslichen, städtischen Gesindes zusammenhängen. Möglicherweise waren die weiblichen Dienstboten an den frühesten Formen der »Landflucht« in Gestalt von Nahwanderung in die regionalen Zentren und besonders im Hauptstadtbereich um Berlin bereits stark beteiligt. Mochte sich bisher – und sollte sich auch vorläufig weiterhin – der Wanderungsradius des ländlichen Gesindes anlässlich der Ziehtermine auf wenige Dutzend Kilometer beschränkt haben,97 so lockte doch bereits der saubere, bei der städtischen Gesindenot stets auch einträglichere Dienst im städtischen Haushalt Scharen von Mägden von den Gütern und bäuerlichen Wirtschaften in die rasch wachsenden regionalen Zentren. 3. Das Verhältnis des landwirtschaftlichen Gesindes zur »freien« landwirtschaftlichen Tagelöhner- und Handarbeiterschaft veränderte sich drastisch. Schon im 18.  Jahrhundert hatte die Schicht der Landarmen und Landlosen, aus der sich die landwirtschaftliche Tagelöhnerschaft zunehmend rekrutieren sollte, einen beträchtlichen Teil der ländlichen Bevölkerung ausgemacht. Während nun 1805 das Gesinde noch 11,6 Prozent, die Tagelöhner bzw. Handarbeiter erst 3,4 Prozent der gesamten Bevölkerung betrugen, verminderte sich der Anteil des Gesindes bis 1822 auf 8,9 Prozent, bis 1846 auf 7,9 Prozent und stand 1858 bei 8 Prozent; der Anteil der Tagelöhner, von denen gegen Ende der 1850er Jahre über drei Fünftel in der Landwirtschaft tätig waren, stieg auf 12,5 Prozent. Freie oder kontraktverpflichtete ländliche Tagelöhner hatte es mithin in geringem Umfang schon vor 1800 gegeben; dennoch bleibt richtig, dass die Land­arbeiter zum Zeitpunkt der Reformen »sozusagen noch nicht entdeckt waren«.98 Insbesondere der mit der Ablösungsgesetzgebung entstandene Ar96 Vgl. bereits Markow, Alexis, Das Wachstum der Bevölkerung und die Entwicklung der Ausund Einwanderungen, Ab- und Zuzüge in Preußen und Preußens einzelnen Provinzen, Bezirken und Kreisgruppen von 1824 bis 1885, Tübingen 1889, S. 175, 212–217. 97 Vgl. die Bemerkungen bei Kramer, Gutsherrschaft, S. 30; Engelsing, Arbeitsmarkt, S. 204 f., 226 f.; zum Begriff der Landflucht s. etwa Weippert, Georg, Strukturwandlungen im länd­ lichen Lebensbereich, in: ZAA, Jg. 3, 1955, S. 169–185, S. 170 f. 98 Knapp, Bd. 1, S. 302, vgl. ebd., S. 286; Zahlen nach Mitteilungen des Statistischen Bureaus in Berlin 1, 1848, S. 77; v. Viebahn, Georg, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschland, 2 Bde., Berlin 1858, Bd.  2, S.  274 f.; als Beispiel für den Übergang zur Tagelöhnerwirtschaft s. etwa Buchholz, S. 73; zur Entwicklung der Landlosigkeit im 18. Jahrhundert Mottek, Hans, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 2, Berlin [DDR] 1964, S. 221; Harnisch, Boitzenburg, S.  225–233; sowie bestätigend: Henning, Friedrich-Wilhelm, Die Betriebsgrößenstruktur der mitteleuropäischen Landwirtschaft im 18.  Jahrhundert und ihr Einfluss auf die ländlichen Einkommensverhältnisse, in: ZAA, Jg.  17, 1969, S.  171–193, S. 191; zur älteren Diskussion über die Entstehung der Landarbeiterschaft bes. v. d. Goltz, Arbeiterklasse, S.  62 ff.  – Die recht detaillierten, in ihrer Genauigkeit zunehmenden Erhebungen Preußens ab 1816 und im Zollvereinsgebiet ab 1846 sowie 1858/61 haben in der

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beitskräftebedarf wurde, bei vergleichsweise geringer Zunahme des ländlichen Gesindes und starker Zunahme bäuerlicher Kleinstellen,99 durch ländliche Lohnarbeiter gedeckt. Zumeist wird sich diese Entwicklung dergestalt vollzogen haben, dass jüngeres Gesinde mit der Eheschließung und selbständigen Haushaltsführung in den Gutstagelöhnerstatus übertrat. Der saisonale Spitzenbedarf an Arbeitskräften zur Aussaat- und vor allem Erntezeit wurde zunehmend auch durch Beschäftigung von Wanderarbeitern bestritten, die in diesen Wochen Spitzenverdienste erreichten, während das Gesinde ganzjährig überwiegend zur Hofarbeit, darunter vor allem die Gespannpflege und Viehhaltung, verpflichtet wurde. 4. Während beim häuslichen Gesinde seit 1819 durchweg drei bis vier Dienstmägde auf einen männlichen Dienstboten entfielen und sich dieses Verhältnis im Berichtszeitraum wenig änderte, gegenüber den Erhebungen von Krug also eine Verschiebung zugunsten der weiblichen Dienstboten eingetreten war, ist das Verhältnis der Geschlechter im gewerblichen bzw. landwirtschaftlichen Gesinde bis 1861 annähernd ausgeglichen; im Vergleich mit der Zeit um 1800 hat also auch in diesem Bereich das weibliche Gesinde an Gewicht gewonnen. Auch die landwirtschaftliche Tagelöhnerstatistik 1858/61 spiegelt ein nahezu ausgeglichenes Verhältnis der Geschlechter. Vermutlich lässt sich diese Ausgleichung in der Zusammensetzung des »gewerblichen« Gesindes nach Geschlechtern zwischen 1800 und 1819 ebenfalls im Zusammenhang der Folgen der Agrarreformen interpretieren, soweit angenommen werden darf, dass männliche Dienstboten nach Abstreifung ihrer Zwangsverpflichtung eher zur gewöhnlich mit dem Übertritt zum Tagelöhnerstatus verbundenen Hausstandsgründung neigten; auch die, allerdings sehr zögernd zunehmende, Mobilität sowie die starke Zunahme der Kleinstellen dürften zum Hintergrund dieser Entwicklung gehören. Weitergehende Fragen wie jene nach der Altersstruktur und dem Familienstand des Gesindes erlaubt die Gesindestatistik leider nicht; jedoch darf ange10

­ iteratur wiederholt zur vergleichenden Übersicht der Erwerbsbevölkerung insbes. PreuL ßens veranlasst; hin­gewiesen sei auf Neuhaus, Georg, Die berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung im Zeitalter des Kapitalismus, in: Grundriß der Sozialökonomik., IX. Abt.: Das soziale System des Kapitalismus, 1. Teil: Die gesellschaftliche Schichtung im Kapitalismus, Tübingen 1926, S. 360–505, S. 370–372; Conze, »Pöbel«, S. 30–32; Harnisch, Agrarreform, S. 79; Hardach, Gerd, Klassen und Schichten in Deutschland 1848–1970. Probleme einer historischen Strukturanalyse, in: GG, Jg. 3, 1977, S. 503–524. Für eine »nach sozialen Schichten gegliederte Berufsstatistik« der ländlichen Bevölkerung (Schissler, S. 161) finden sich Hinweise bei Meitzen, Bd. 1. S. 4 f., sowie regionale Ansätze bei Harnisch, Agrarreform, S. 69 (»Klassenstruktur«) und S. 79 (Verhältnis von Handarbeitern und Gesinde; Harnisch schätzt übereinstimmend mit Conze, S. 32, für 1846 den Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten auf 50 Prozent der statistisch erfassten Tagelöhner); s. auch Heitz, Gerhard, Die Differenzierung der Agrarstruktur am Vorabend der bürgerlichen Agrar­reformen, in: ZfG, Jg. 25, 1977, S. 910–927, sowie die folgende Anm. 99 Vgl. bes. Berthold, Rudolf, Zur Herausbildung der kapitalistischen Klassenschichtung des Dorfes in Preußen, in: ZfG, Jg. 25, 1977, S. 556–574; ferner Bleiber, S. 57–81, bes. S. 72.

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Tab. 3: »Gewerbliches« bzw. landwirtschaftliches Gesinde in Preußen 1819, 1849 und 1858 nach Regierungsbezirken und Provinzen100 »gewerbliches« Gesinde

Reg.-Bez./Provinz

1819

Gumbinnen

%-Anteil des »gewerb­ lichen« Gesindes an der landwirtschaft­lichen Bevölkerung

1849

1849

36.548

54.870

12,46

Königsberg

56.462

79.139

14,71

Danzig

24.164

29.715

13,67

Marienwerder

34.749

48.508

13,85

Preußen

151.923

212.232

13,73

Bromberg

29.343

38.965

13,39

Posen

52.085

75.309

15,64

Posen

81.428

114.274

14,79

Köslin

28.266

30.725

10,33

Stettin

32.043

35.928

11,26

Stralsund

16.608

16.402

19,64

Pommern

76.917

83.055

11,86

Berlin/Potsdam

53.045

67.880

19,00

Frankfurt

42.723

56.798

12,69

Brandenburg

95.768

124.678

15,49

Liegnitz

61.583

73.901

17,91

Breslau

83.961

95.184

17,56

Oppeln

44.563

62.054

10,92

190.107

231.139

15,17

Magdeburg

44.035

43.824

14,83

Merseburg

37.267

44.435

12,68

9.993

12.953

8,74

91.295

101.212

12,75

Schlesien

Erfurt

Sachsen

100 Zusammengestellt und errechnet aus Jb. f. d. amtl. Stat. 1, 1863, S.  284–286; 2, 1867, S. 236 f., 254 f.; vgl. für 1858 auch Kollmann, S. 283–285.

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%-Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamt­bevölkerung

Landwirt- %-Anteil des landwirt- %-Anteil der land­ wirtschaftlichen schaftliches schaftlichen Gesindes Gesinde an der landwirtschaft- Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung lichen Bevölkerung

1849

1858

1858

1858

73,4

67.174

16,36

61,2

63,5

80.450

18,18

47,2

53,7

26.734

14,83

39,7

56,4

45.882

14,08

47,8

62,2

220.240

16,20

49,5

64,0

39.047

17,35

45,1

53,7

71.548

15,87

49,1

57,1

110.595

16,36

49,1

66,3

29.596

12,00

49,2

56,7

34.620

14,20

39,1

44,6

15.999

26,10

30,2

58,4

80.215

14,54

41,5

42,2*

58.442

14,91

41,9*

52,1

53.395

11,39

50,0

37,8

111.837

13,00

36,9

44,8

67.420

15,01

47,7

46,2

88.802

16,37

43,4

58,9

66.113

11,28

54,4

49,8

222.335

14,09

48,3

42,7

43.936

14,97

39,1

47,2

44.822

12,79

43,5

42,7

11.549

7,33

44,5

44,6

100.307

12,52

42,0

* Berlin mit einer sehr geringen landwirtschaftlichten Bevölkerung ist hierin nicht berück­ sichtigt. ** Die Zahl enthält auch die landwirtschaftliche Bevölkerung von Sigmaringen.

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»gewerbliches« Gesinde

%-Anteil des »gewerb­ lichen« Gesindes an der landwirtschaft­lichen Bevölkerung

Reg.-Bez./Provinz

1819

1849

1849

Minden

27.796

25.121

9,84

Münster

43.062

44.820

15,99

Arnsberg

37.842

42.357

16,73

Westfalen

108.700

112.298

14,24

Düsseldorf

60.905

60.094

19,22

Köln

26.244

29.336

10,88

Aachen

21.726

23.072

11,64

Koblenz

16.902

20.159

5,90

Trier

12.728

18.649

5,91

Rheinland

138.505

151.310

10,52

Preußen (gesamt)

934.643

1.130.198

13,51

nommen werden, dass sich die früher eher festgefügte Beschränkung des Gesindedienstes auf die Altersgruppen zwischen 14 und um 30 Jahren nach den Agrarreformen zunehmend lockerte, ebenso wie Eheschließungen im Gesindestand jetzt häufiger wurden. Heiratsverhalten, Fruchtbarkeit und Mortalität des Gesindes und der ländlichen Unterschichten können einstweilen nur im Zusammenhang der ländlichen Bevölkerungsgeschichte überhaupt, also nicht für sich bestimmt werden.101 Auch die quantitative Abstufung der Gesindehierarchien entzieht sich jedenfalls global unserer Kenntnis. Große Bedeutung würde überdies einer auf ländliche Betriebsgrößenklassen bezogenen Gesindestatistik zukommen; hierbei gewährt die Anzahl der fremden Arbeitskräfte je land­ wirtschaftlichem Betrieb, die bis um 1875 zunehmende, seither abnehmende 101 Vgl. vor allem Harnisch, Hartmut, Bevölkerung und Wirtschaft. Über die Zusammenhänge zwischen sozialökonomischer und demographischer Entwicklung im Spätfeudalismus, in: JbWG, 1975/Il, S. 57–87, sowie allgemeiner: Quante, Peter, Die Bevölkerungsentwicklung der preußischen Ostprovinzen im 19.  und 20.  Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostforschung, Jg.  8, 1959, S.  481–499.  – Zum Durchschnittsalter des Gesindes s. an einem lokalen Beispiel: Ilisch, S. 263. Danach waren 1749 von 228 Knechten 8 Prozent, von 225 Mägden nur 4 Prozent älter als 30 Jahre. Siehe auch Engelsing, Arbeitsmarkt, S. 203; Wunderlich, Frieda, Farm Labor in Germany, Princeton 1961, S. 16.

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%-Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamt­bevölkerung 1849

Landwirt- %-Anteil des landwirt- %-Anteil der land­ wirtschaftlichen schaftliches schaftlichen Gesindes Gesinde an der landwirtschaft- Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung lichen Bevölkerung 1858

1858

1858

55,1

21.856

8,84

53,7

66,4

37.462

14,52

60,8

43,7

40.536

15,26

39,6

53,9

99.854

12,95

49,2

34,5

49.019

15,39

30,0

58,2

24.279

10,40

42,8

48,2

18.109

8,88

45,7

67,9

17.604

5,31

64,0

64,2

16.227

5,11

60,7

50,3

125.238

8,91

46,1**

51,2

1.070.621

13,38

45,4**

Tendenz zeigte, nur einen sehr ungefähren Anhaltspunkt.102 Aufgrund späterer Erhebungen103 scheint jedoch die Annahme gerechtfertigt, dass, wohl mit Aus102 Vgl. Berthold, S. 557 f., sowie Lippmann, Kurt, Die wirtschaftliche Entwicklung der Landwirtschaft und der Wandel im Bereich des Bäuerlichen, in: ZAA, Jg. 6, 1958, S. 155–176, S.  164, 170; für die 1830er Jahre s. den Hinweis bei Harnisch, Agrarpolitik, S.  106; ferner Henning, Friedrich-Wilhelm, Der Beginn der modernen Welt im agrarischen Bereich, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 97–114, bes. S. 110, 112; ders., Betriebsgrößenstruktur; Harnisch, Boitzenburg, S. 255 f.; Weippert, S. 177–182. 103 Nach den Angaben bei Hahn, S. 82 f., bestand auf den bäuerlichen Besitzungen 1907 das Personal – außer den Betriebsleitern – in Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern und Schlesien zu bis zu ca. 45 Prozent aus Gesinde, zu höchstens ca. 20 Prozent aus Tagelöhnern und zu bis fast 50 Prozent aus Wanderarbeitern; auf den Besitzungen über 100 ha war das Verhältnis zwischen Gesinde und Tagelöhnern bei einem durchweg geringeren Anteil von Wanderarbeitern ungefähr umgekehrt. Posen zeichnete sich dagegen durch einen hohen Anteil von Tagelöhnern auf den mittleren, einen hohen Gesindeanteil auf den Großgütern aus. Auch Zwahr, Hartmut, Über Agrarstruktur und bäuerliche Klassenverhältnisse in den Kreisen Bautzen und Kamenz (1882–1914), in: Lětopis, Reihe B, Jg. 8, 1961, S. 32, kann für die Amtshauptmannschaft Bautzen 1907 zeigen, dass die Gesindehaltung besonders in mittelund großbäuerlichen Betrieben zwischen 5 und 100 ha verbreitet war, während in Betrieben über 100 ha relativ weit mehr Landarbeiter beschäftigt wurden; vgl. Musiat, S. 26 f., 40.

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nahme der Provinz Posen, die Gesindehaltung in den ostelbischen Landschaften vor allem auf bäuerlichen Besitzungen zwischen 5 und 100 ha hoch, in den gutsherrschaftlichen Betrieben über 100 ha dagegen, bezogen auf die Anbaufläche, niedrig war. Leider lässt sich jedoch für die früheren Jahrzehnte das quantitative Verhältnis zwischen bäuerlicher und gutsbetrieblicher Gesindehaltung, dessen Kenntnis von Bedeutung für die Einschätzung der konkreten Wirkungen der oben geschilderten gesinderechtlichen Arbeitsverfassung wäre, nicht global klären. Weitere Erkenntnisse können hingegen aus der regionalen Auf­ fächerung des gewerblichen bzw. landwirtschaftlichen Gesindes gewonnen werden, wobei der Umstand, dass im erstgenannten bis 1855 auch nichtlandwirtschaftliche Dienstboten erfasst wurden, hier vernachlässigt werden muss. Für das Ausmaß der Gesindehaltung im landwirtschaftlichen Betrieb dürften neben örtlichen Gewohnheiten und – beispielsweise durch Stadt- oder Industrienähe beeinflussten – Arbeitsmarktverhältnissen vor allem die Betriebsgröße, die Bewirtschaftungsschwerpunkte und -methoden, das Erbrecht, die familiären Reproduktionsbedingungen (Heiratskonsens etc.) sowie die vorherrschenden oder ausschließlichen Rechtsformen der Agrarverfassung von Bedeutung sein. Naturgemäß lassen sich diese zum Teil eng miteinander verknüpften Faktoren in ihrer sich wechselseitig aufhebenden oder verstärkenden Wirkung selbst dann kaum in den aggregierten Daten der Gesindestatistik isolieren, wenn diese noch unterhalb der Ebene der Regierungsbezirke regional differenziert werden könnte. Komplizierend wirkt sich insbesondere aus, dass statistisch zwar das Gesinde vergleichsweise genau, die sonstigen Kategorien ländlicher Arbeiter dagegen nicht mit der erwünschten Präzision bestimmt werden können. In einem besonders engen Verhältnis zur Gutswirtschaft durch meistens einjährige Kontrakte, Wohnungen am Hof und Naturaliendeputate sowie geringe Viehhaltung und Gartenwirtschaft lebten beispielsweise in Schlesien die Gärtner oder Kontrakter, in Posen die Komorniks (Mietmänner), im nordostpreußischen Raum die Katenleute und Insten, die in Ostpreußen einen zweiten Mann, den Scharwerker, als Gesinde zu halten verpflichtet waren.104 In weiten Teilen Westfalens nahmen die Kötter oder Heuerlinge und Kolonen, die eine vergleichsweise große Eigenwirtschaft gegen Pacht betrieben und zur Arbeitsleistung nach Bedarf gegen geringes Entgelt verpflichtet waren, auf den Gütern und größeren Bauernhöfen eine ähnliche Stellung ein. Neben dieser kontraktlichen Landarbeit gab es überall freie Tagelöhner als Angesessene oder auch Wanderarbeiter, die sich besonders in den Erntezeiten gegen hohe Tagelöhne verdingten. In manchen Gegenden, so in Posen und zum Teil  auch in Schle104 Über Verbreitung und Bezeichnungen der kontraktlichen Gutstagelöhner in Deutschland s. Born, Martin, Die Entwicklung der deutschen Agrarlandschaft, Darmstadt 1974, S. 81– 83, 99. Zum Folgenden vgl. bes. die nach Regionen gegliederte Erörterung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse bei Meitzen, Bd. 1, S. 367–389, sowie die besonders auf »Löhnung und Lebenslage« der ländlichen Arbeiter bezogene Darstellung ebd., Bd. 2, S. 87–115, sowie bei v. Lengerke, Alexander (Hg.), Die ländliche Arbeiterfrage, Berlin 1849, mit den Ergänzungen in den Mittheilungen des statistischen Bureaus 5, 1852, S. 270–327.

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sien, war schließlich die Einstellung von verheiratetem Gesinde unter bestimmten Bedingungen üblich, wenn auch durchweg weiterhin galt, dass Knechte und Mägde unverheiratet waren. Es liegt auf der Hand, dass diese überwiegend aus örtlichen Rechtsgepflogenheiten, Gewohnheiten und Marktverhältnissen hergeleiteten Unterschiede in den Beschäftigungsarten die Gesindestatistik nachhaltig beeinflussen. Dennoch sind im groben regionalen Vergleich einige Grundzüge erkennbar. Preußen, das jedenfalls noch um 1846 nach dem in dieser Hinsicht führenden Bayern zu jenen Staaten Deutschlands gehörte, die einen besonders hohen Anteil des Gesindes an der Gesamtbevölkerung verzeichneten,105 wies innerhalb seiner Regionen ein auch in anderem Zusammenhang bereits festgestelltes scharfes Ost-West-Gefälle in der Gesindehaltung auf, das sich im Berichtszeitraum offenbar im Wesentlichen unter dem Einfluss der frühen Industrialisierung noch deutlich vergrößerte. Hierin schlagen die Unterschiede der älteren Agrar­ verfassung zu Buche. Grundsätzlich gilt, dass sich die Gesindehaltung im Vormärz in den durch Anerbenrecht und starke Verbreitung mittel- und großbäuerlichen Besitzes gekennzeichneten Gebieten auf recht hohem Niveau erhielt und in den gutsherrschaftlich geprägten Gebieten Ostelbiens, in denen zugleich der Gesindezwang besonders verbreitet gewesen war, selbst im ersten nach­ revolutionären Jahrzehnt zum Teil noch bedeutend vermehrte. Dies wird auch mit der Intensivierung der Feldwirtschaft und einer größeren Zug- und besonders Schlachtviehhaltung zusammenhängen; global lässt sich allerdings vorläufig nicht klären, in welchem Umfang der auf den Gutswirtschaften mit den Ablösungen und dabei vielfach erzielten Gebietserweiterungen angefallene höhere Arbeitskräftebedarf nicht nur durch Anstellung von Gutstagelöhnern und Wanderarbeitern, sondern auch durch wieder zunehmende Gesindehaltung ausgeglichen wurde. Vielleicht hat zu den einstweilen wachsenden Zahlen auch die Ausdehnung der Kleinstellen beigetragen; man wird ferner die Zunahme der Anbaufläche insgesamt durch die Gemeinheitsteilungen, die Kultivierung der Brachen und den Übergang zur Fruchtwechselwirtschaft zu berücksichtigen haben. Die Schicht der mittleren und größeren bäuerlichen Eigentümer hat sich mit den Agrarreformen nicht wesentlich verändert, doch hat sich ihr Gesindebedarf mit den Ablösungen verringert  – eine Entwicklung, die andererseits durch die Intensivierung der Bewirtschaftungsmethoden kompensiert werden mochte, so dass Grund zu der Annahme besteht, die Zunahme der Gesindehaltung in den nordöstlichen Provinzen im gutsherrschaftlichen Bereich zu vermuten. Wahrscheinlich haben sich auch spezielle Verhältnisse wie die Personalsituation der schon ehedem freien unadligen Kölmer und besonders die Haltung von Scharwerkern durch die ostpreußischen Gutstagelöhner in der 105 Er betrug in Preußen 7,89 Prozent und in Bayern 11,67 Prozent, in Sachsen 7,3 Prozent, Thüringen 1,96 Prozent, Baden 6,6 Prozent, Großherzogtum Hessen 5,63 Prozent, Kurhessen 5,56 Prozent, Nassau 4,52 Prozent sowie im Durchschnitt aller Zollvereinsstaaten 7,84 Prozent; nach Neuhaus, S. 370. Vgl. allgemein Rubner, S. 52 f.

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Statistik niedergeschlagen. Schließlich dürfte die Gesindehaltung gerade in den ostpreußischen Provinzen während der 1850er Jahre darüber hinaus die nunmehr verstärkt einsetzende Landflucht spiegeln, so dass die relativen Zahlen für 1858 bei annähernd gleichbleibenden absoluten Werten eher eine Abnahme der sonstigen Landarbeiterschichten spiegeln. Diese letzteren Bemerkungen werden auch für den Regierungsbezirk Bromberg und Teile Pommerns zutreffen; im Raum Stralsund blieb dagegen auch später die Wanderarbeit vergleichsweise niedrig.106 Im Regierungsbezirk Potsdam hat sich die Hauptstadtnähe deutlich in einer Verringerung des ländlichen, wohl besonders weiblichen Gesindes, das attraktivere Verhältnisse in städtischen Haushalten fand, ausgewirkt; doch dürfte hier auch bereits das männliche Gesinde die Erwerbschancen in hauptstädtischen Gewerben unter Berufswechsel genutzt haben. In Schlesien wurde die weit überdurchschnittliche Gesindehaltung im Vormärz, in der sicher auch vom Gesindezwang herrührende Wirtschaftsgewohnheiten fortwirkten, vielleicht nicht zuletzt unter dem Eindruck des Arbeitskräftebedarfs in den montanindustriellen Gewerbelandschaften Ober- und Niederschlesiens sowie durch zunehmende Beschäftigung freier und kontraktgebundener Tagelöhner abgebaut, während der Gesindeanteil an der ländlichen Bevölkerung der Provinz Sachsen kaum Veränderungen aufweist. Auch hier können jedoch Verschiebungen durch ländliche Mobilität, Heimgewerbe oder Tagelöhnerarbeit eingetreten sein, die in der Statistik als solche nicht erkennbar sind. Große Unterschiede zeigt die Entwicklung im westlichen Preußen. Im protoindustriellen Gewerbegebiet um Minden-Ravensberg nahm die an sich niedrige Gesindehaltung weiter ab, und im Münsterland, der Grafschaft Mark und den sonstigen ruhrnahen Landschaften, besonders im Regierungsbezirk Düsseldorf, wirkte sich der Sog der aufblühenden Industrieregion zwischen Ruhr und Emscher in einem deutlichen absoluten und relativen Rückgang des landwirtschaftlichen Gesindes aus.107 Das Münsterland war Anerbengebiet nach »sächsischem« Recht mit über Jahrhunderte vergleichsweise stabilen Besitz­ 106 Vgl. Breinlinger, Karl Borr, Die Landarbeiter in Pommern und Mecklenburg, 1. Teil: Die Regierungsbezirke Stettin und Stralsund, Heidelberg 1903, S. 28, 30; s. auch Knapp, Bd. 1, S. 319. 107 Zum Münsterland s., für die frühe Gesindegeschichte leider nur im Überblick, Burberg, Paul Helmuth, Wirtschaftliche und soziale Entwicklungstendenzen in Gesindebetrieben. Eine Untersuchung in ausgewählten Gemeinden des Münsterlandes, Bonn 1962, S. 9–26; zur Lage der bäuerlichen Wirtschaften auch Klocke, Josef A., Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Lage der Unterschichten in Ostwestfalen von 1830 bis 1850, phil. Diss. Bochum 1972, S.  20–39; zur Rechtsgeschichte Jürgens, Arnulf, Bäuerliche Rechtsverhältnisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Westfalen und im Östlichen Preußen, in: Westfä­lische Zeitschrift, Bd. 126/127, 1976/77, S. 91–139. Die Gesindelöhne waren in Industrienähe besonders hoch. Vgl. v. Lengerke, Reisebemerkungen, in: Annalen der Landwirtschaft, Jg. 5, Bd. 9, 1847, S. 361- 363, wo ergänzt wird, die Sittlichkeit des Gesindes sei hier »rühmenswert«, man habe »den gehörigen Grad der Schulbildung«. Zum Heuerlingswesen vgl. Hempel, Ludwig, Heuerlingswesen und crofter-system, in: ZAA, Jg. 5, 1957, bes. S. 175–177.

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verhältnissen und einer traditionellen Präferenz der nachgeborenen Bauernsöhne für den Gesindedienst; ähnliche Grundzüge trafen im linksrheinischen Regierungsbezirk Düsseldorf zu, während in der südlichen Rheinprovinz die Realteilung nach »fränkischem« Recht zur starken Parzellierung geführt hatte, so dass es an den neben der Gutswirtschaft für die Gesindehaltung wichtigen mittleren Bauernwirtschaften fehlte. In den Weinbaugebieten der Regierungsbezirke Koblenz und Trier war deshalb und wegen der besonderen Betriebsverhältnisse nur sehr wenig Gesinde anzutreffen, und dieser Zustand blieb im Berichtszeitraum auch erhalten.108 Tagelöhnerhaltung ist im Westen im Ganzen vergleichsweise gering gewesen; die älteren und jüngeren Industrielandschaften haben diesen durchweg mobileren Bevölkerungsteil rasch absorbiert. Nicht notwendig war in den stark oder doch überwiegend landwirtschaftlich geprägten Regionen die Gesindehaltung im Vormärz besonders hoch, wie Teile Pommerns und der Rheinprovinz sowie, aus dem Gegenteil, die Regierungsbezirke Düsseldorf, Arnsberg und Stralsund zeigen. Wo sich in den 1850er Jahren die ländliche Prägung der Erwerbsbevölkerung besonders deutlich verringerte, blieb die Gesindezahl durchweg auf demselben Stand, so dass der Gesindeanteil bedeutend zunehmen konnte. Dieser Umstand lässt nicht notwendig auf eine geringere Mobilität des Gesindes schließen; auf die Wanderungsbereitschaft der Knechte und Mägde wirkten sich vielmehr neben den »Pull«-Faktoren wie Stadt- oder Industrienähe vor allem die strukturellen Grundzüge des Beschäftigungsverhältnisses aus: Die Gesindeordnung, besonders ihre auf den Gesindevertrag bezogenen Regelungen und die langen Dienstfristen, waren nicht eben vom Geist der Freizügigkeit getragen. Sowohl für erbberechtigte Bauernsöhne, die, um später den elterlichen Hof zu übernehmen, gern für einige Jahre in fremde Dienste gegeben wurden, als auch für nichterbende Bauern- und Landarbeiterkinder blieb der Gesindedienst zudem auch nach den Agrarreformen eine wenngleich oft vieljährige Übergangsphase.109 Man diente von der Konfirmation bis zur Eheschließung, mit der früher oft die Übertragung einer kleineren Hofstelle im Bereich der Gutswirtschaft verbunden gewesen war, während nach den Reformen Knechte und Mägde nach der Heirat als kontraktgebundene Gutstagelöhner am Hof blieben oder sich als freie Tagelöhner niederließen. An die Stelle solcher Niederlassungen trat besonders seit der Jahrhundertmitte zunehmend die Wanderung des noch Unverheirateten in die Stadt- und Industrie­ regionen mit ihren weitaus attraktiveren Einkommensaussichten. Der Anteil verheirateten Gesindes, das am Hof lebte, hat nach den Reformen zwar offen108 Damit wird eine Vermutung von Matter, S.  42, bestätigt: vgl. auch Arnold, K. W., Über die materielle Lage der arbeitenden Klassen in den Weinbaudistrikten des Koblenzer Regierungs-Bezirkes, in: Annalen der Landwirtschaft, Jg.  8, Bd.  15, 1850, S.  107–156, S. ­111–113. 109 Die Charakterisierung des Gesindedienstes als Übergangsphase schließt nicht die Existenz »von spezifischen sozialen Gruppeneigenheiten der Lebensweise des Gesindes«, die ­Musiat, S. 44, gegen v. d. Goltz hervorhebt, aus. Siehe auch Kollmann, S. 276; Hartinger, S. 627: Bleiber, S. 72 (»Durchgangsstadium«).

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bar, mit starken örtlichen Unterschieden, leicht zugenommen, ist aber durchweg sehr niedrig geblieben.110 Auch der Gesindedienst auf Lebenszeit ist im 19. Jahrhundert offenbar häufiger geworden.

5. Bemerkungen über Lebensverhältnisse, Mobilität und Protestverhalten des landwirtschaftlichen Gesindes Das Gesinde trat den ersten Dienst gewöhnlich 14jährig zu Ostern (»Oster­ jungen«, »-mädchen«)111 an. Etwa zwei Jahre lang wurden die Jugendlichen durchweg mit leichteren Feld- oder Stallarbeiten oder Hütediensten, zu denen man gern auch Kinder heranzog, beschäftigt; hiernach rückten, wenn nicht eine Unterbrechung durch den Militärdienst eintrat, die Jungen zu Kleinknechten, die Mädchen zu Mägden – die Bezeichnungen waren von Gegend zu Gegend sehr verschieden  – auf. Die Gesindehierarchie stufte sich weiter nach Großknechten und -mägden, und auf großen Höfen war oft ein Meisterknecht mit Aufsichtspflichten angestellt.112 Gelegentlich unterschied man (niedere) Pferdesowie Pflug- und Ochsenknechte, in Westfalen etwa die Unter- und Oberenken, bei den Mägden auch Jungmägde von Kuh- oder Stallmägden, Küchenmägden und der Hauptmagd. Immer aber blieb die Hierarchie innerhalb des Gesindes erhalten. Aus Schlesien wird beispielsweise berichtet, dass die Brotverteilung nach den Gesinderängen zu erfolgen hatte.113 Gerade auf der niederen Ebene 110 Vgl. hierzu bes. Hanssen, S. 20 f.; Meitzen, Bd. 2, S. 94, 101, 105, 110; Knapp, Bd. 1, S. 23 f., 67, 76 (lassitische Bauern sind »angesiedeltes Gesinde«); v. d. Goltz, Gesindewesen, S. 14; für das Ende des 19. Jahrhunderts: Quante, S. 496; Kähler, S. 43; Engelsing, Arbeitsmarkt, S. 235: 1882 sind in Deutschland 87 Prozent der männlichen und 96 Prozent der weiblichen Dienstboten unverheiratet. 111 Vgl. Goldschmidt, S. 37. – Die folgenden kursorischen Bemerkungen zur Lage des Gesindes (bes. auf der Grundlage der in Anm. 104 genannten Darstellungen) können eine aus den Quellen gearbeitete Analyse, wie sie in dem Werk von Musiat unter volkskundlichen Schwerpunkten vorliegt, nicht entfernt ersetzen. Hier soll nur ein allgemeiner Eindruck gegeben werden; zur genaueren Untersuchung wären regionale Quellen erst noch zu er­ arbeiten (vgl. bes. Matter; Ilisch, sowie die Beiträge von Kramer). 112 Über Gesindekategorien und -hierarchien vgl. Ilisch, S. 262; Matter, S. 41–43; Engelsing, Arbeitsmarkt, S. 163–166, 176–183; Hartinger, S. 611; s. auch die wiederholten Guts- und Reisebeschreibungen in den Annalen der Landwirtschaft, z. B. Proselger, Über den Zustand der landwirtschaftlichen Verhältnisse im Graudenzer Kreis 1843, Jg. 4, Bd. 8, 1846, S. 70–77; Mentzel, Der landwirthschaftliche Betrieb im Jever Lande, Jg. 10, Bd. 20, 1852, S.  186–188; König, A., Über die landwirthschaftlichen Verhältnisse und Zustände im Kreise Memel, Jg. 6, Bd. 11. 1848, S. 407 f.; Lüdersdorff, Die landwirthschaftlichen Verhältnisse des Labiauer Kreises, Jg. 7, Bd. 13, 1849, S. 126–131; ferner Klatt, S. 16, 19. 113 Klotz, S. 68.

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mochte die ältere Tendenz zur ständischen Abschließung und Rangbildung in Unterwürfigkeit und Dünkel fortwirken.114 Naturgemäß wurde der Arbeitsalltag des ländlichen Gesindes vom saisonalen Rhythmus landwirtschaftlicher Produktion bestimmt. Man arbeitete, wie es die Tageslichtverhältnisse zuließen: im Sommer oft von 4 Uhr früh bis zum Abend, im Winter um so kürzer auf dem Felde, um abends und bei schlechter Witterung Dresch- oder Spinnarbeiten auf dem Hof zu verrichten. Stalldienste, Füttern und Melken mussten auch an Sonn- und Feiertagen durchgeführt werden. Freizeit im modernen Sinn hat es auf dem Lande kaum gegeben, wohl aber Pausenzeit, Arbeitsunterbrechung, abendliche Ruhezeit und Festzeiten im Wechsel des Kirchenjahres sowie Wochen stärkster Arbeitsanstrengung zur Aussaat- und Erntezeit oder Tage relativer Arbeitsruhe im Winter. Ländliche Arbeit erlaubte gewisse Handlungsspielräume durch eigene Zeitdispositionen; sie war andererseits Schwerarbeit und von geringer Abwechslung. Das Gesinde wohnte in mittleren bäuerlichen Wirtschaften und Vorwerken in den Hof­ gebäuden neben oder über den Stallungen. Auf den großen Gütern gab es eigene Gesindegebäude, in denen oft, so wiederum besonders in Schlesien, »durchaus traurige« Verhältnisse in hygienischer und moralischer Hinsicht herrschten.115 Man schlief dann stets in Gruppen, manchmal sogar mehrere Gesindefamilien, in einer Stube oder bestenfalls in niedrigen, dunklen Kammern. In der Beköstigung gab es starke regionale Unterschiede – Fleisch wurde jedenfalls selten, oft nur an Festtagen, in den preußischen Westprovinzen jedoch deutlich häufiger gereicht; es überwogen Mehl- und Kartoffelspeisen, und vielerorts, so einmal mehr in Schlesien, war regelmäßiger exzessiver Branntwein- und Biergenuss verbreitet.116 Auch über die Löhne des Gesindes lassen sich, sieht man von einem deutlichen Anstieg nach den Reformjahren und im Jahrzehnt nach 1850 ab, kaum allgemeine Aussagen machen. Ihre Schwankungsbreite lag um 1860 bei Knechten zwischen 20 und 60 Tlr. jährlich, bei Mägden erheblich darunter, und nahe Städte oder Industrieregionen wirkten sich stets in deutlich besseren Verhältnissen aus. Daneben wiederholte sich in den Lohnhöhen, Beköstigungsund Wohnverhältnissen das aus dem Umfang der allgemeinen Gesindehaltung 114 Vgl. die Bemerkungen von Lichtenberg, Heinz Otto, Unterhaltsame Bauernaufklärung. Ein Kapitel Volksbildungsgeschichte, Tübingen 1970, S. 31. 115 V. d. Goltz, Arbeiterfrage, S. 60–64; über die Wohnverhältnisse ländlicher Arbeiter gab es wegen des starken Anwachsens der Gruppe der Gutstagelöhner zeitgenössisch eine breite Diskussion, vgl. z. B. Graf Itzenplitz, Die angemessene Einrichtung ländlicher ArbeiterWohnungen, in: Annalen der Landwirtschaft, Jg. 11, Bd. 21, 1853, S. 408–410; Linke, Die Einrichtung und Bauart ländlicher Tagelöhner-Wohnungen betreffend, ebd., S.  91–102; aus der neueren Lit. bes. Rach, Hans-Jürgen, Bauernhaus, Landarbeiterkaten und Schnitterkaserne, Berlin [DDR] 1974; sowie Henning, Friedrich-Wilhelm, Die sachliche Umwelt der unterbäuerlichen Bevölkerung des 18. Jahrhunderts als Ausdruck ihrer sozialen Lebenslage, in: Ethnologie et Histoire, Paris 1975, S. 485–499. 116 Vgl. v. Bally, Oberschlesische Zustände, in: Annalen der Landwirtschaft, Jg. 4, Bd. 7, 1846, S. 67 f., 83.

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bekannte Ost-West-Gefälle: In den westlichen Provinzen waren die Zustände weitaus besser, gab es viel weniger Anlass zu Klagen. Im Allgemeinen dürfte das Gesinde bei aller Armut und persönlichen Unfreiheit mit Ausnahme der Hofgänger und Scharwerker überall besser als die ländliche Tagelöhnerschaft zurechtgekommen sein117  – ihm fehlten die Familiensorgen,118 es war meist der Wohnungs-, Bekleidungs- und Beköstigungsprobleme enthoben und konnte über das wenn auch sehr geringe Entgelt einigermaßen frei verfügen. Vor allem verfügte das Gesinde über die Möglichkeit, sich unzuträglichen Arbeits- und Daseinsverhältnissen und herrschaftlichem Zwang, nachdem beides allerdings mindestens ein Jahr ertragen worden war, durch Stellen­ wechsel und Abwanderung zu entziehen. Deutlich nahmen die Klagen über den Gesinde- und allgemeinen Arbeitskräftemangel auf dem Lande seit den 1850er und 1860er Jahren wieder zu. Gemessen an den nachrevolutionären Jahrzehnten, war der Mobilisierungsgrad der ländlichen Bevölkerung im Vormärz bescheiden geblieben  – trotz einer bis Ende der 1830er Jahre anhaltenden Agrarkrise, trotz deutlich erhöhter Bevölkerungsüberschüsse. Der Pauperismus auf dem Lande erfuhr einstweilen, wie bereits angedeutet, nur partielle Milderung durch Nahwanderung in städtische Zentren, seltener auch bereits in die auf­ blühenden Industrieregionen; der vormärzliche industrielle Arbeitskräftebedarf blieb punktuell, auf wenige Gebiete beschränkt und auch quantitativ vorläufig wenig bedeutend. Weitere Ursachen für die »verzögerte Abwanderung vom Lande in der Anlaufphase der industriellen Revolution«119 finden sich auf dem Lande selbst, in der relativen Isolation und geringen infrastrukturellen Durchbildung der ländlichen Erwerbsregionen, ihrer Verkehrsferne, weiträumigen Besiedlung und schwach entwickelten Kommunikation, der zurückgebliebenen Bildungssituation120 und Bedürfnisentfaltung ihrer Einwohner. Von der Phase der Agrarreform bis zur Jahrhundertmitte bestand, entgegen den Befürchtungen vieler Reformgegner, kaum Arbeitskräftemangel auf dem Lande. 117 Vgl. v. d. Goltz, Verhandlungen, S. 13, 46–49; Schissler, S. 181. 118 Hierzu Gerhard, S.  101–119, sowie jetzt: Weber-Kellermann, Ingeborg, Die Familie auf dem Lande zwischen »Bauernbefreiung« und Industrialisierung, in: ZAA, Jg.  26, 1978, S. 66–76. 119 Harnisch, Agrarreformen, S. 72; vgl. ders., Agrarpolitik, S. 109. 120 In der ersten Jahrhunderthälfte bestand das ländliche Gesinde überwiegend aus Analphabeten; vgl. Engelsing, Dienstbotenlektüre, S. 193. Dies scheint sich bis in die 1870er Jahre deutlich geändert zu haben; vgl. etwa die durchaus optimistische Einschätzung bei v. d. Goltz, Gesindewesen, S. 24. Auch wurde konstatiert, dass sich die Anforderungen mit der Veränderung in den Bewirtschaftungsformen erhöht hätten; vgl. bereits Schwarzlose, Julius, Der natürliche Zwang zur landwirthschaftlichen Erziehung, deren Aufgabe als Wissenschaft und deren Einführung in die Praxis, in: Annalen der Landwirtschaft, Jg.  14, Bd. 27, 1856, S. 432–446, S. 436: »Die träumerisch-faule Langsamkeit« früherer Jahrzehnte reiche nicht mehr »für den heutigen Umschwung der Dinge«. Bildungsmaßnahmen der Gutsherren hatte bereits Krug, S. 113–116, gefordert.

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Anders in den folgenden Jahrzehnten. Mit dem konjunkturellen Aufschwung vor allem der Montanindustrie in den 1850er Jahren machte sich der Arbeitskräftemangel auf dem Lande wieder bemerkbar;121 er hielt in den 1860er Jahren an und erreichte im Gründerboom der frühen 1870er Jahre mit der Folge deutlicher Lohnaufbesserungen122 einen ersten Höhepunkt. Gerade die Gesindehaltung war, wo sie – wie in Ostpreußen oder Mecklenburg – durch Scharwerker bzw. Hofgänger besonders ausgedehnt wurde, von dieser Entwicklung betroffen. Es überrascht nicht, dass sich mit den Klagen über »Auswanderungssucht«123 und Gesindenot einmal mehr das Nachdenken über »die in heutiger Zeit [1873] so oft behauptete wachsende Verschlechterung des Gesindes« verband,124 dass man auf Abhilfe durch Kleinstellen-Ansiedlung, durch Nutzung und Förderung des Hangs der Landarbeiter zur kleinen Garten- und Viehwirtschaft sann.125 Das ländliche Gesinde war fortan nur noch mühsam in dem während der 1850er Jahre erreichten Umfang im landwirtschaftlichen Betrieb zu halten. Es dürfte sich in dieser Zeit, bedenkt man seine wanderungsförderliche Altersstruktur und geringe familiäre Bindung, zu einer der mobilsten ländlichen Bevölkerungsschichten entwickelt haben.126 In welchem Umfang an dieser Entwicklung neben der bereits erwähnten innerberuflichen Land-Stadt-Mobilität des weiblichen Gesindes nunmehr die Fernwanderung und zwischenberufliche Mobilität des männlichen Gesindes in die städtischen und montanindustriellen Zentren teilhatte, wird nur durch detaillierte Analysen von herkunftsdifferenzierten Zuzugsstatistiken zu klären sein. Dass ein Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit und Abwanderung vom Lande bestand, ist zeitgenössisch nicht verborgen geblieben. Die Unzufriedenheit, so hieß es, nehme zu und sei »zu einer vollständigen Epidemie geworden«, die sich namentlich in der Auswanderung dokumentiere; überhaupt sei letztere »der allerempfindlichste Streik, welchen der ländliche Arbeiter machen

121 Vgl. aus den zahllosen Zeugnissen etwa Mager, S. 399 f.; Matter, S. 44; Runne, Bernhard, Die rechtliche Lage der Dienstboten im Lande Hadeln vom 16.  bis 19.  Jahrhundert, in: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern, Jg. 37, 1956, S. 69–84, S. 78 f.; v. d. Goltz, Gesinde­ wesen, S.  18 f.; Collins, E. J. T., Labour Supply and Demand in European Agriculture ­1800–1880, in: E. L. Jones u. S. J. Woolf (Hg.), Agrarian Change and Economic Development. The Historical Problems, London 1969, S. 61–94, S. 72 f. 122 Vgl. v. d. Goltz, Verhandlungen, 1872, S. 12 (z. T. gesperrt): »Bis vor kurzer Zeit haben wir unseren Arbeitern so wenig wie möglich gegeben. Jetzt werden wir in die Lage kommen, ihnen so viel wie möglich zu geben, damit wir nur die nötigsten Arbeitskräfte erhalten.« 123 Ebd., S. 15. 124 V. d. Goltz, Gesindewesen, S. 22, vgl. ebd., S. 26–28. 125 Vgl. hierzu Wysocki, Josef, Landwirtschaftlicher Nebenerwerb und soziale Sicherheit, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert, Stuttgart 1975, S. 125–139, bes. S. 127–131. 126 Auch Engelsing, Arbeitsmarkt, bemerkt S. 201, dass »in der liberalen Ära zwischen 1848 und 1876 die Fluktuation der häuslichen Dienstboten einen Höhepunkt erreichte«. Dies korrespondiert m. E. mit den Erscheinungen auf dem Lande.

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kann«.127 Man wird in der Einschätzung eines solchen Protestverhaltens vor allem berücksichtigen müssen, dass der ländliche Protest eine lange, um Jahrhunderte zurückreichende und erst 1848/49 zu einem vorläufigen Abschluss gelangende Tradition aufweist. Er hat in den gutsherrschaftlich geprägten Agrar­regionen außerordentliche Wucht und Zählebigkeit annehmen können und erreichte im östlichen Preußen einen Höhepunkt in den Jahren 1787 bis 1811;128 auch die reformauslösende Bedeutung dieses Protests ist nicht gering zu veranschlagen.129 Leider erlauben Überlieferung und Literatur, einmal abgesehen vom Forschungsstand, vielfach nicht, ausreichend zwischen bäuerlichantifeudalem Protest auf der einen, Beschwerden, Widerstand und Aufruhr von – in welcher Form auch immer – lohn- und existenzabhängigen ländlichen Arbeitern gegen Zwang und Ausbeutung auf der anderen Seite zu unterscheiden; nach Studien wie jenen E. P. Thompsons erscheint überhaupt fraglich,130 ob die Forschung mit überwiegend an modernen industriekapitalistischen Marktlagen und Protest-, sprich: Streikformen orientierten Fragen und Begriffen dem vorindustriellen ländlichen Protest und seinen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen gerecht zu werden vermag. Eine schichtspezifisch differenzierende Beurteilung des ländlichen Protestverhaltens ist allemal erforder-

127 V. d. Goltz, Verhandlungen, S. 15 f.; vgl. auch Mager, S. 395. 128 Vgl. die nützliche kartografische Erfassung im Atlas zur Geschichte, Bd. 1, Gotha 1973, S. 79 (1789–1806) und S. 89 (1848/49). Überhaupt hat sich die jüngere DDR-Forschung in besonderem Maße um die Erforschung des ländlichen spätfeudalen Protests bemüht; vgl. etwa Heitz, Gerhard, Zu den bäuerlichen Klassenkämpfen im Spätfeudalismus, in: ZfG, Jg.  23, 1975, S.  769–782; ders. u. a. (Hg.), Der Bauer im Klassenkampf. Studien zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges und der bäuerlichen Klassenkämpfe im Spätfeudalismus, Berlin [DDR] 1975; Harnisch, Hartmut, Landgemeinde, feudalherrlich-bäuerliche Klassenkämpfe und Agrarverfassung im Spätfeudalismus, in: ZfG, Jg. 26, 1978, S. 887–897; s. auch Anm. 135. Von westlicher Seite s. die eher soziologischen Erörterungen von Hobsbawm, Eric J., Peasants and Politics, in: Journal of Peasant Studies, Jg. 1, 1973/74, S. 3–22; Landsberger, Henry A. (Hg.), Rural Protest: Peasant Movements and Social Change, London 1974, S.  1–64 (Einleitung des Hg.). Zur Frage des Abebbens ländlichen Protests in Deutschland nach der Reformära s. u. a. Puhle, S. 49; Bleiber, S. 135; Reinhard, Wolfgang, Theorie und Empirie bei der Erforschung frühneuzeitlicher Volksaufstände, in: Hans Fenske u. a. (Hg.), Historia Integra. Festschrift für Erich Hassinger zum 70. Geburtstag, Berlin 1977, S. 173–200, S. 198 f. 129 Vgl. bereits Krug, S. 118: Bemühe man sich um Reformen auf dem Lande, dann habe man »keine Revolution, Aufruhr und Unruhen zu besorgen«; s. ferner bes. Harnisch, Reformmaßnahmen, S.  139 f.; sowie Bleiber, S.  155, gegen entsprechende Formulierungen von G. Franz und F. Lütge. 130 Vgl. bes. Thompson, Edward P., The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century, in: Past & Present, Bd. 50, 1971, S. 76–136; jetzt deutsch unter dem Titel: Die »sittliche Ökonomie« der englischen Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, in: Detlev Puls (Hg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt 1979, S. 13–80 (mit Kürzungen im Anm.-Teil). Zur Protestforschung im deutschen Vormärz s. GG, Jg. 3, 1977, H. 2.

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lich – man denke nur an die vermutlich weitgehend die relative Konfliktruhe auf dem Lande nach den Agrarreformen erklärende Spaltung des ländlichen Protestpotentials in der Folge der Reformen in wenigstens teilweise befriedigte (spann­f ähige mittlere und größere Bauern) und in vernachlässigte Protest­träger (klein- und unterbäuerliche Schichten; lassitische Zeitpächter und ähnliche Katego­rien, kontraktliche und freie Landarbeiter, Gesinde). Selbst von konservativer Seite131 wurde den auf den Gütern dienenden Arbeitern – hier den schlesischen Dreschgärtnern – zu Beginn des 19. Jahrhunderts sogar bescheinigt, sie hätten »ein gemeinschaftliches Bewusstsein, einen gewissen Esprit de corps, der bald schlechter, bald besser in seinen Folgen ist, je nachdem ihn schlaffe Trägheit oder Liebe zum Gewinn, durch Fleiß und Betriebsamkeit geleitet, bestimmt«.

Eine beeindruckende Schilderung solchen Gruppenverhaltens stammt von Gerhart Hauptmann:132 »Ich sah den verborgenen Kampf, der [dem Gutsbetrieb] zugrunde lag. Alle diese Gutsleute, Ochsen- und Pferdeknechte, Stallmägde, Tagelöhnerinnen und Tagelöhner, die in der Küche des Gesindehauses oder in ihren engen, halbverfallenen Katen ihre Kartoffeln kochten, verschlossen einen Ingrimm bei sich, den ihre scheinbar naturgegebene und selbstverständliche Lage, die sie nur widerwillig trugen, ihnen aufnötigte. Ich hatte heute morgen etwas davon zu fühlen bekommen und spürte ihn plötzlich überall.« »Da Knechte, Mägde, Tagelöhner und Tagelöhnerfrauen ihre Arbeit nicht freiwillig, sondern durch die Not gezwungen mit knirschendem Ingrimm verrichteten, lebten sie ja in Sklaverei. Die Sklaverei war nicht abgeschafft. Mein Bemühen, die verhaßte obere Schicht als notwendig, ja verdienstlich hinzustellen, fruchtete nichts […].«

Obwohl zwischen beiden Zeugnissen ein Abstand von mindestens zwei Generationen liegt, scheint es, als habe sich seit den Agrarreformen und der ihnen vorausgehenden Protestwelle in Schlesien und andernorts kaum etwas am Zwangscharakter gutsbetrieblicher Arbeit geändert – mit der bedeutenden Ausnahme, dass nunmehr die ehedem zur Avantgarde des Widerstands gehörende Gruppe der erbuntertänigen dienstpflichtigen Bauern aus der Widerstandsfront herausgebrochen (worden) war. Den Restgruppen musste wegen ihrer geringen überkommenen Rechte, die stets den Kristallisationskern bäuerlichen Wider131 Oeconomische Winke, vorzüglich in Hinsicht auf eine mit dem rationellen Betriebe der Oeconomie verträglichere Ablohnung der Hofegärtner, in: Annalen des Ackerbaues, Jg. 1, Bd. 1, 1805, S. 784–808, S. 798. Dass bereits 1812 Arbeitgeberkoalitionen zur Minderung des Gesindelohns auf dem Lande nachweisbar sind, zeigt Klein, S. 85. 132 Das Abenteuer meiner Jugend, Berlin 1956, S. 254, 309 f., zit. nach Schaaf, S. 152, Anm. Über »latente Formen des bäuerlichen Klassenkampfes und die Flucht« s. Leszcyńzski, Jósef, Der Klassenkampf der Oberlausitzer Bauern in den Jahren 1635–1720, Bautzen 1964, S. 52–60; s. auch Bleiber, S. 152 u. ö.

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stands gebildet hatten,133 wegen der unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Formen ihrer Abhängigkeit und aus einer Reihe weiterer Gründe gemeinsames interessenverbundenes Handeln schwerfallen. Für das Gesinde wirkte sich erschwerend seine Rechtssituation, aber auch das Selbstverständnis vom Dienstbotendasein als Übergangsphase und vor allem die wie immer ausgeprägte Bindung an die bäuerlichen Haushalte aus. Gesindeprotest hat gleichwohl stattgefunden, hat sich der überkommenen Formen der Konfliktkanalisierung bedient und sich in erster Linie in Gestalt von Beschwerden an die Ortspolizeibehörden niedergeschlagen.134 Beschwerden fruchteten freilich wenig in einem voreingenommenen oder gar im einseitigen Interesse dienstbaren Behörden­ apparat. Das typischere Kampfmittel des Landvolks waren, besonders in Spannungszeiten, Petitionen einzelner oder ganzer Bauerndörfer und deren Überreichung an höchster Stelle. Immediateingaben, wiederholte Deputationen bis vor die Stufen des Throns kennzeichnen, getragen von der »Illusion vom gerechten König«,135 den legalistischen Rahmen ständischer Konfliktregelung. Noch die umfassenden Adressenbewegungen in der Revolution 1848/49, noch die Aktionen der frühen Handwerker- und Arbeiterbewegung sind aus ähnlichem Denken entsprungen. Stand auch das Petitions- und Immediateingabenrecht jedem Untertanen zu, so waren doch die Voraussetzungen einer gerechten Funktion solcher Konfliktregelung auch im ländlichen Bereich, wenn sie denn je 133 Siehe bes. Ziekursch, S. 226 ff., zum Widerstand gegen die Feudallasten; über das Verhalten der Landbevölkerung während der französischen Besetzung und in den Befreiungskriegen s. Görlitz, Walter, Die Junker, Glücksburg 1956, S. 168, sowie Franz, Geschichte, S. 256, 263–267; als Überblick vgl. jetzt: Gerteis, Klaus, Regionale Bauernrevolten zwischen Bauernkrieg und Französischer Revolution. Eine Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Jg. 6, 1979, S. 37–62. 134 Eine entsprechende Quelle (Beschwerde einer Zwangsmagd gegen brutale Behandlung 1803) findet sich abgedruckt bei Lehmann, S. 224; s. auch Hedemann, S. 178; Frehe, Erwin, Lasten, Leiden und Widerstand märkischer Bauern im 18. Jahrhundert, in: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde, Jg. 7, 1965, S. 914–921. Ähnliche Quellen – meist handelt es sich um Protokollaufnahmen mündlich vorgetragener Beschwerden von des Lesens und Schreibens unkundigem Gesinde – sind vielfach archivalisch überliefert und harren einer systematischen Bearbeitung; vgl. z. B. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf 8906, 8907; s. auch Kramer, Lage, S. 31–36. 135 Bleiber, S. 160; über Petitionsbewegungen der Landbevölkerung s. etwa Sakai, S. ­142–148; Franz., Geschichte, S.  250–254; Hübner u. Kathe, Bd.  I, S.  81 f.; während der Revolution 1848/49 u. a. Bleiber, Helmut, Die Haltung der Parteien gegenüber der Landbevölkerung in der Wahlbewegung im Frühjahr 1848 in Schlesien, in: JbG, Jg. 7, 1972, S. 407–457, S.  409–412; ders., Zum Anteil der Landarbeiter an den Bewegungen der Dorfbevölkerung in der deutschen Revolution 1848/49, in: JbWG, 1975/IV, S.  65–81; Zeise, Roland, Bauern und Demokraten 1848/49. Zur antifeudalen Bewegung der sächsischen Landbevölkerung in der Revolution vom Sommer 1848 bis zum Vorabend des Dresdner Maiaufstandes, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, Jg. 4, 1968, S. 148–178; bes.: Hübner, Hans, Die mecklenburgischen Landarbeiter in der Revolution von 1848/49, in: BGA, Jg. 10, 1968, S. 858–875, S. 871 f.; sowie den in Anm. 23 zitierten, inzwischen veralteten Aufsatz von G. Franz.

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bestanden hatten, längst zerbröckelt: Demografische und soziale Entwicklungen stellten die Effizienz des Petitionswesens schon aus pragmatischen Gründen in Frage, das Aufkommen der verschiedensten Interessen im und am Staat durchlöcherte zunehmend die überkommenen Vorstellungen vom bonum omnium, und der tendenziell systemsprengende Charakter schon der ländlichen Massenbewegungen um die Wende zum 19. Jahrhundert hatte längst andere Aktionsformen von deutlich größerer Wirkungskraft hervorgebracht.136 Zu diesen Aktionsformen gehörten vor allem im gutsherrschaftlichen Bereich die Drohung mit Gewalt und die Gewalt selbst – individuell oder kollektiv, heimlich oder offen bis hin zum Aufruhr wider die Zwangsherrschaft. Auch das Gesinde war durchaus an solchen Auseinandersetzungen beteiligt.137 Man wird den gewalttätigen Protest ländlicher und frühindustrieller Unterschichten nicht als einen blindwütigen, irrationalen Aktionismus missverstehen dürfen. Rationalität oder deren Abwesenheit, gar Irrationalität, ist, legt man den Begriffen einen gegenwartsbezogenen und darin unveränderlichen Inhalt und Wert bei, eine dem vor- und frühindustriellen Unterschichtenverhalten unangemessene Kategorie. Diese Gewalt hatte ihre eigene Vernunft, die sich dem einem modernen Normen- und Institutionsgefüge und dessen konfliktausgleichender Funktion zugewandten Betrachter nur schwer erschließt. Sie war in einer Phase des Übergangs, des Versagens überkommener Instrumente der Konfliktregelung eine sinnvolle Auswegstrategie, weil und solange neue Formen des Konfliktausgleichs fehlten, die dem Aufkommen abhängiger, ausgebeuteter Schichten und der wachsenden Dominanz interessenverbundenen Handelns in einem sich ordnenden System auf neuer wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Grundlage entsprachen. Aber nicht nur das; Gewalt gehörte in einer Gesellschaft, in der sich das Gewaltmonopol der Obrigkeit anerkanntermaßen in Prügelstrafen und Züchtigungsrechten entlud und in der beispielsweise Erziehung durch Zwang weithin geteilte Überzeugung war, zum Alltag des Verhältnisses zwischen Untertanen und Herrschaften. Was sich an Aufklärertum während der Reformära von oben durchsetzte, stieß innerhalb von Subsystemen auf anhaltenden Widerstand. Man wird ferner berücksichtigen müssen, dass der oft genug gewalthafte Widerstand gegen Rechtseinbußen und Rechtlosigkeit aus besonders tief liegenden, zum Teil auch religiösen Überzeugungen von der Rechtlichkeit und Richtigkeit einer Ordnung legitimiert schien, in der noch der geringste Untertan im Wechselbezug von Schutz und Dienstleistung Anspruch 136 Vgl. schon v. Fallersleben, August H. Hoffmann, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1891, S. 146: »Das Beten und das Bitten ist erlaubt,/ja, und erlaubt ist alles überhaupt,/was niemals nützt den armen Untertanen.« Zit. nach Bleiber, Reform, S. 142. Zu Parallelen in der Bergarbeiterschaft s. Tenfelde, Klaus, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 397 ff.. 137 Zahlreiche Quellen (u. a. anonyme Briefe als Hauptform der Gewaltandrohung) bereits bei Ziekursch, S. 228–230 u. ö.; vgl. auch Kramer, Gutsherrschaft, S. 32; Oehr, Christian, Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung im ehemaligen Landdrosteibezirk Stade, in: Stader Jahrbuch, Jg. 66, 1976. S. 72–102, S. 80 f.

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auf eine auskömmliche Existenz hatte. Im Selbstverständnis des ländlichen Arbeiters maß sich daher das erwartete Entgelt für geleistete Dienste nicht an deren Produktivität, sondern an den Bedürfnissen der täglichen Lebenshaltung, und Einschränkungen an diesen Bedürfnissen wurden als Rechtseinbußen, als Eingriffe in das Recht auf auskömmliches Dasein begriffen. Schließlich kannte schon die naturrechtliche Staatstheorie seit dem Spätmittelalter in der Lehre vom gerechten Widerstand des Volks gegen ungerechte Herrschaft einen Notbehelf zur Selbsthilfe, gegebenenfalls durch Gewalt. Es waren nicht so sehr der Hunger und die Entbehrung, die Nötigung und Unterdrückung an sich, sondern das Bewusstsein von der Ungerechtigkeit solcher Zustände, aus dem der ländliche Protest sich nährte; es war die Durchsetzung von Rechtsillusionen138 aus der Erinnerung an eine bessere Vergangenheit, an die er sich klammerte. Dieser wie immer zu erklärende Umstand dürfte zugleich die prägnanten Unterschiede zu den weit besser erforschten gewalthaften Aktionen englischer Unterschichten im 18. Jahrhundert bezeichnen. Es wurde bereits erwähnt, dass dem ländlichen Protestpotential mit der Teilbefriedigung der spannfähigen bäuerlichen Schicht und der wenn auch überaus zögernden Entkleidung der Gutsherren von ihren patrimonialen Rechten das antifeudale Rückgrat entzogen worden war, dass die »zurückgebliebenen« Träger der Unzufriedenheit in sich scharfe, bewusstseinsspaltende, rechtliche und soziale Daseinsunterschiede aufwiesen. Man wird jedoch, ohne diese These an dieser Stelle ausreichend zu belegen, die relative Konfliktruhe auf dem Lande in der nachreformerischen Zeit und vor allem seit der Revolution 1848/49 auch aus anderen Faktoren, darunter insbesondere der rasch zunehmenden Mobi­ lität der nichtbesitzenden Landbevölkerung, zu erklären haben. Hier findet die zeitgenössische Inbezugsetzung von Unzufriedenheit und Mobilität ihre wichtigste Erklärung: Die Abwanderung vom Land in die Stadt, von der mutmaßlich schlechteren, aussichtsloseren, in die bessere, auskömmlichere Arbeitsposition und Daseinslage wirkte  – auch weil es gerade die besonders »aktiven« Altersgruppen waren, die sich zur Abwanderung entschlossen – auf die Zurück­ gebliebenen im hohen Maß konfliktpazifizierend. Der Ingrimm über erlittenen Zwang ließ sich, wie seit Jahrhunderten immer wieder, nunmehr jedoch in umfassender Weise, durch »Entlaufen« zügeln. Das Zugeständnis der Freizügigkeit im Prinzip war, bei allen Einschränkungen in Recht und Wirklichkeit, die konflikteindämmend wirkende Maßnahme. In der Wanderungsentscheidung entlud sich aufgestaute Unzufriedenheit; nicht weitere Reformen oder gar die Anerkennung von Interessen und Vertretungsrechten auch der ländlichen Unterschichten, sondern die Möglichkeit und Wahrnehmung von Statusverbesserung durch Mobilität war das Ventil, durch das der Protest nunmehr strömte, 138 Vgl. die Interpretation der Geschichte von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland bei Moore, Barrington, Injustice. Social Bases of Obedience and Revolt, New York 1978.

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das ihm seine gewalthafte Spitze nahm und ihn auf Restformen, wie sie Gerhart Hauptmann schildert, zurückdrängte.139 Die Annahme liegt nahe, dass vor allem die Landflucht hunderttausender ländlicher Arbeiter das Überleben jener reaktionären Formen ländlicher Arbeitsverfassung, für die das Gesinderecht beispielhaft steht, bis 1918 ermöglichte.

139 Zu Ergebnissen der jüngeren amerikanischen Mobilitätsforschung, die in dieselbe Richtung weisen, s. den Bericht von Kocka, Jürgen, Stadtgeschichte, Mobilität und Schichtung, in: AfS, Jg. 18, 1978, S. 546–558, hier S. 556 f.; zur Flucht als Form des Widerstandes s. auch Moore, S. 125. Angeregt durch die nordamerikanische »Frontier«-Diskussion seit F. J. Turner, hat Günter Moltmann die Ventilfunktion der deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert im Sinne eines Abbaus örtlicher Konfliktlagen in den Abzugsorten, leider jedoch ohne Bezug auf Arbeitskonflikte, betont: Nordamerikanische »Frontier« und deutsche Auswanderung  – soziale Sicherheitsventile im 19.  Jahrhundert, in: Dirk Stegmann u. a. (Hg.). Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozial­ geschichte, Bonn 1978, S. 279–296.

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II. Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich

1. Namentlich durch den von Klaus Saul und anderen 1981 veröffentlichten Dokumentenband über »Arbeiterfamilien im Kaiserreich« ist gut bekannt, in welchem Maße sich selbst namhafte Zeitgenossen ein falsches oder doch unscharfes Bild von der Arbeiterfamilie gemacht hatten.1 Die Elendsberichte und Klagen über Sittenverfall überwogen bei Weitem, und darin unterschieden sich konfessionelle oder »bürgerliche« Sozialkritiker kaum von Arbeiterführern und prominenten Sozialismus-Theoretikern. Es sind in der Regel die »wenig angemessenen Beurteilungskriterien«,2 sprich: bürgerliche Familienvorstellungen, die den Zeitgenossen als Motive ihrer harschen Kritik unterstellt werden und deren Orientierungswert auch für viele, wenn nicht die meisten Arbeiter und Arbeiterführer in der Tat kaum bestritten werden kann. Noch einflussreicher, und bis in die Urteile noch der jüngsten Forschung hinein reichend, war indessen jener Urteilsstrang, der als »theory of ›social breakdown‹ that had haunted sociology and social history« bezeichnet worden ist:3 die Vorstellung von den umfassend destabilisierenden Folgen der Industrialisierung (und Urbanisierung) für die sozialen Gefüge, die Beschwörung von Entwurzelung und Heimatlosigkeit, Zerrüttung und Verfall. Solche Ansichten ver1 Saul, Klaus u. a. (Hg.), Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871–1914, Düsseldorf 1982; als Folgebd. s. Flemming, Jens u. a. (Hg.), Fami­ lienleben im Schatten der Krise. Dokumente u. Analysen zur Sozialgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1988. 2 Saul u. a. (Hg.), S. 9; s. u. a. Bogdal, Klaus-Michael., »Schaurige Bilder«. Der Arbeiter im Blick des Bürgers am Beispiel des Naturalismus, Frankfurt a. M. 1978, S. 85 ff.; Hartinger, Walter, Schlafgänger u. Schnapstrinker. Bürgerliche Klischees vom Arbeiter u. was dahinter steckt, in: Helge Gerndt (Hg.), Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder – Selbstbilder – Identität, Fs.für Georg. R. Schroubek, München 1988, S. ­90–103. 3 Hareven, Tamara K., The History of the Family and the Complexity of Social Change, in: AHR, Jg. 96, 1991, S. 95–124, hier S. 113. Dieser Forschungsbericht entfaltet die Ursprünge, die Entwicklungen und die Vielfalt der Themen der jüngeren internationalen Familienforschung (mit deutschen Beispielen allerdings nur am Rande) und zeigt mittelbar deren starke Verankerung in der historischen Demografie und Sozial- bzw. Kulturgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Vgl. Sieder, Reinhard, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt a. M. 1987, zur Dokumentation der jüngeren dt. u. österr. Familienforschung; zur Arbeiterfamilie ebd., S. 146–211, sowie die folg. Anmerkungen.

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banden Werner Sombart und Gustav Schmoller, ebenso wie August Bebel und Albert Südekum, Robert Michels und Otto Rühle, Wilhelm Heinrich Riehl und Will-Erich Peuckert;4 sie waren einflussreich in der frühen Nachkriegs-Sozialgeschichtsschreibung, weil und soweit sich diese von der funktionalistischen Soziologie beeindruckt erwies,5 und ihre Spuren reichen bis in jüngste Forschungsbeiträge, wenn etwa ein Autor die Arbeiterfamilie im 19. Jahrhundert für »vom sozialen Abstieg verfolgt«, sie gar für ein »morbides Gebilde« hält.6 Voreilige, falsche Urteile halten sich so beharrlich, weil es weder im Rahmen der Sozialgeschichte der Familie noch im Umfeld der Arbeitergeschichte – und obwohl beide Forschungszweige in den vergangenen 40 Jahren reiche Früchte getragen haben – umfassendere Forschungsanstrengungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterfamilie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben hat. Wo die Arbeiterfamilie unvermeidlich zu behandeln ist, verblasst deshalb der Diskurs7 oder stützt sich in den Argumenten der Zeitgenossen als Kronzeugen ab.8 Als 4 Zu den Genannten s. Saul u. a. (Hg.), S. 7, 133, sowie Bebel, August, Die Frau u. der Sozialismus, Berlin 194655, S. 191; Südekum, Albert, Großstädtisches Wohnungselend, Berlin 1908, S. 73; Rühle, Otto, Das proletarische Kind, München 1911, S. 187, sowie ders., Kultur- u. Sittengeschichte des Proletariats, Bd. 2, Gießen 1977, S. 37–64; Michels, Robert, Sittlichkeil in Ziffern? Kritik der Moralstatistik, München 1928, S. 148; Riehl, Wilhelm Heinrich, Die Familie, Berlin 192513, S. 158–82; Peuckert, Will-Erich, Volkskunde des Proletariats, Bd. 1: Aufgang der proletarischen Kultur, Frankfurt a. M. 1931, S. 167 ff. (»Zerfall der Familie«). 5 Die entsprechenden Zeugnisse (E. P. Thompson, Talcott Parsons, William F. Ogburn u. a. sowie Oscar Handlin, The Uprooted, Boston 1951) bei Hareven, S. 113, Anm. 55. 6 Hoffmeister, Dieter, Arbeiterfamilienschicksale im 19. Jh. Qualitative Untersuchungen zum Zusammenhang von familiärer Unvollständigkeit, Notbehelfsökonomie u. Arbeiterbewegung, Marburg 1984, S. 17, 195. 7 Etwa Mitterauer, Michael u. Sieder, Reinhard, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, München 1977, S. 60 f. u. ö. 8 Etwa: Weber-Kellermann, Ingeborg, Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt a.M. 1974, S 127–146; s. auch dies., Die Arbeiterfamilie des 19. Jhs. zwischen Dorftradition u. Kleinbürgeridealen, in: Utz Jeggle u. a. (Hg.), Volkskultur in der Moderne. Probleme u. Perspektiven empirischer Kulturforschung, Reinbek 1986, S. 205–18; von den der Arbeiterfamilie gewidmeten Beiträgen in Mitterauer, Michael u. Sieder, Reinhard (Hg.), Historische Familienforschung, Frankfurt a. M. 1982, ist Ehmer, Josef, Familie u. Klasse. Zur Entstehung der Arbeiterfamilie in Wien, S. 300–25, weitgehend Auszug aus ders., Familien­ struktur u. Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien, Wien 1980, behandelt mithin eine sehr frühe, durch die Besonderheiten in der Entwicklung der Textilindustrie im Raum Wien gekennzeichnete Phase, während der Beitrag von Pirhofer, Gottfried u. Sieder, Reinhard, Zur Konstitution der Arbeiterfamilie im Roten Wien: Familienpolitik, Kulturreform, Alltag u. Ästhetik, S.  326–68, eben nicht die sozialgeschichtliche Konstituierung der Arbeiterfamilie berührt. In Reif, Heinz (Hg.), Die Familie in der Geschichte, Göttingen 1982, fehlt die Arbeiterfamilie gänzlich; s. Bulst, Neidhart u. a. (Hg.), Familie zwischen Tradition u. Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland u. Frankreich vom 16. bis zum 20.  Jh., Göttingen 1981, Evans, Richard J. u. Lee, William R. (Hg.), The German Family. Essays on the Social History of the Family in 19th and 20th Century Germany, London 1981; Borscheid, Peter u. Teuteberg, Hans J. (Hg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie der Geschlechts- u. Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983; in Shorter,

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ein Aspekt der Familienbildung ist das Heiratsverhalten von Arbeitern in Mobilitätsuntersuchungen ausführlicher zur Sprache gekommen;9 viele Hinweise finden sich in der Forschungsliteratur über die Geschichte der sozialen Ungleichheit »vor Krankheit und Tod«,10 und darüber hinaus sind die Arbeitermemoiren einmal mehr und gelegentlich exzessiv zur Ausleuchtung der binnenfamiliären Beziehungen zwischen den Generationen und Geschlechtern herangezogen worden, ohne dass hinreichend Klarheit über die demografischen Rahmenbedingungen der proletarischen Familienentstehung und -existenz bestand.11 Edward, Die Geburt der modernen Familie, Reinbek 1977, dienen wenige Beispiele für Arbeiterfamilien aus aller Welt zur Illustration allgemeiner familiengeschichtlicher Kernthesen (S. 263 ff.). Als Erörterung im Überblick: Mitterauer, Michael, Familie u. Arbeitswelt in historischer Sicht, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 38, 1987, S. 200–207. Weiterführend Sieder, Sozialgeschichte, sowie Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt u. Bürgergeist, München 1990, S. 43 ff.; unter erheblicher Mühe in der Erarbeitung der demografischen Grundlagen und mit der Unterscheidung von drei Familien­t ypen: der bürgerlichen, der bäuerlichen (Untertypen: Familien in den »rand- und unterbäuer­ lichen Schichten« sowie, nicht sehr überzeugend, im städtischen Handwerk und Kleinhandel) und der Arbeiterfamilie als »zweckbezogene Erwerbs-, Not- und Konsumgemeinschaft«, jedenfalls aber als »voll akzeptierte fundamentale Selbstverständlichkeit« (S. 66). 9 Kocka, Jürgen u. a., Familie u. soziale Platzierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität u. Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. u. 19. Jh., Opladen 1980; mit weiteren Hinweisen auf neuere Lit.: Schüren, Reinhard, Soziale Mobilität. Muster, Veränderungen u. Bedingungen im 19. u. 20. Jh., St. Katharinen 1989, bes. S. 174 ff.; zum Heiratsverhalten jetzt Ehmer, Josef, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, Ökonomischer Wandel. England u. Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991. Herrn Ehmer danke ich für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in das damals noch unveröff. Ms. dieser Wiener Habilitationsschrift von 1988. 10 Spree, Reinhard, Soziale Ungleichheit vor Krankheit u. Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981, sowie zahlreiche Aufsätze von Spree; Kaelble, Hartmut, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980, München 1987, S. 18 ff. (»Die europäische Familie«). 11 So bes. Hoffmeister, wo beispielsweise (S. 40, 99) behauptet wird, die nichtehelichen Kinder hätten »kontinuierlich die Masse der nichtbesitzenden familienlosen Lohnarbeiter im 19. Jahrhundert vermehrt«, ohne dass auch nur ein Seitenblick auf die durchaus umfangreiche Literatur zur Geschichte der (seit Aufhebung der Ehebeschränkungen stark rückläufigen, später wieder leicht zunehmenden) Illegitimität geworfen wird. Von exzessiver Freude am Zitieren aus Arbeitermemoiren geprägt: Seyfarth-Stubenrauch, Michael, Erziehung u. Sozialisation in Arbeiterfamilien im Zeitraum 1870 bis 1914 in Deutschland. Ein Beitrag historisch-pädagogischer Sozialisationsforschung zur Sozialgeschichte der Erziehung, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1985; differenzierter und gleichfalls stark unter sozialisationsgeschichtlichen Aspekten sowie konzentriert auf die emotionalen Beziehungen in der Arbeiterfamilie: Lerch, Edith, Kulturelle Sozialisation von Arbeitern im Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1985, u. a. S. 234–50; ferner Kuhn, Axel, Die proletarische Familie. Wie Arbeiter in ihren Lebenserinnerungen über den Ehealltag berichten, in: Heiko Haumann (Hg.), Arbeiteralltag in Stadt u. Land. Neue Wege der Geschichtsschreibung, Berlin 1982, S. 89–119; Lipp, Carola, Sexualität u. Heirat, in: Wolfgang Ruppert (Hg.), Die Arbeiter, München 1986, S. 186–89; ausführlicher: dies., Die Innenseite der Arbeiterkultur. Sexualität im Arbeitermilieu des 19. u. frühen 20. Jhs., in: Richard van Dülmen (Hg,), Arbeit, Frömmigkeit u. Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a. M. 1990, S. 214–59, vgl. die Bemerkung ebd., S. 323.

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Solche Klarheit ist auch über Oral History-Techniken nicht zu gewinnen, wiewohl die Forschung diesen Ansätzen einige besonders einfühlsame Interpretationen der Verhaltensformen in der Arbeiterfamilie verdankt.12 Ich möchte deshalb im Folgenden einige eher grundsätzliche Merkmale der demografischen Konstituierung der Arbeiterfamilie vornehmlich seit der Reichsgründung, unter verknappender Dokumentation der statistischen Quellen,13 zusammenfassen. Eine nähere Betrachtung der Entwicklung der Kinderzahlen und der Lebenserwartung der Geborenen in der Arbeiterfamilie soll zu einem Versuch, Arbeiterfamilienexistenzen grob zu typisieren, führen. Vor diesem Hintergrund können binnenfamiliäre Beziehungen und das Verhältnis der Geschlechter- zur Klassengeschichte am Beispiel der Arbeiterfamilie erörtert werden.

2. Marx hat im Kommunistischen Manifest völlig zu Recht von der »erzwungenen Familienlosigkeit der Proletarier« gesprochen14 und dabei vermutlich die rechtlichen und wirtschaftlichen Ehehemmnisse der ländlichen und klein­ städtischen Arbeitswelt eher vor der Industrialisierung im Blick gehabt. Die niedrige Verehelichtenquote der Unterschichten in vorindustrieller Zeit folgte, 12 Vgl. (eingestandenermaßen auf einer viel zu knappen Quellengrundlage) Rosenbaum, Heidi, Typen väterlichen Verhaltens. Der Vater in deutschen Arbeiterfamilien am Ausgang des Kaiserreichs u. in der Weimarer Republik, in: Zs. f. Sozialisationsforschung u. Erziehungssoziologie, Jg. 8, 1988, S. 246–63; bes. Bajohr, Stefan, Vom bitteren Los der kleinen Leute. Protokolle über den Alltag Braunschweiger Arbeiterinnen u. Arbeiter 1900 bis 1933, Köln 1984, etwa S. 82 ff. u. 130 ff.; ders., »Vater war immer ein linker Kumpel«. Braunschweiger Familien u. Arbeiterbewegung im ersten Drittel des 20.  Jhs., in: Haumann (Hg.), Arbeiteralltag, S. 120–46; ders., Uneheliche Mütter im Arbeitermilieu: Die Stadt Braunschweig 1900–1930, in: GG, Jg.  7, 1981, S.  474–506. Ferner aus dem Forschungsprojekt Mannheim/Leiden u. a. Behnken, Imbke u. a., Lebensräume von Kindern im Prozess der Modernisierung, in: Gisela Trommsdorf (Hg.), Sozialisation im Kulturvergleich, Stuttgart 1989, S.  ­197–221; viele Hinweise auf Familienerfahrungen in Wierling, Dorothee, Mädchen für alles. Arbeitstalltag u. Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin 1987, sowie (unter Konzentration auf die Zeit nach 1918 und das »sozialdemokratische Milieu« in Hamburg) Hagemann, Karen, Frauenalltag u. Männerpolitik. Alltagsleben u. gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990; dies., »Wir hatten mehr Notjahre als reichliche Jahre…« Lebenshaltung u. Hausarbeit Hamburger Arbeiterfamilien in der Weimarer Republik, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter im 20. Jh., Stuttgart 1991, S. 200–40. 13 Vgl. Kap. VII über die Arbeiterfamilie in Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, Bonn 1992, S. 537–675; für einen Teil der weiter unten abgedruckten Schaubilder finden sich die Daten sowie ausführliche Quellenangaben in dieser Ver­ öffentlichung. 14 MEW Bd. 4, S. 478.

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so lässt sich vergröbernd sagen, aus jenen Mechanismen, die sich kulturell mit dem Ziel der Kontrolle des Nahrungsspielraums verfestigt hatten: Zu Beginn des 19.  Jahrhunderts war vermutlich deutlich weniger als die Hälfte der (nach dem Lebensalter) heiratsfähigen Bevölkerung auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs verheiratet, und zwar häufig zum wiederholten Male.15 Das hohe Sterberisiko erhöhte die Anteile der Zweit- und Drittehen, die diejenigen eingehen konnten, die überhaupt bereits eine Chance zur Eheschließung gehabt hatten. Auf dem Gebiet des Deutschen Reiches bzw. dem der Bundes­ republik Deutschland nahm der Anteil derjenigen, die Eheerfahrungen hatten, also der Verheirateten zuzüglich der Verwitweten und Geschiedenen (deren Anteile man vor 1914 fast vernachlässigen kann), an der Bevölkerung im Alter von mehr als 15 Jahren von 59,9 (1871) über 62,8 (1910) auf 78,6 Prozent (1970) zu; zwischen 1871 und 1970 hat sich entsprechend der Anteil der Ledigen an diesen Heiratsfähigen beinahe halbiert, und überdies stieg die durchschnittliche Ehedauer wegen der zunehmenden Lebenserwartung ganz erheblich an: In Berlin hatten 1875/76 weniger als zwei von zehn Ehen, die durch den Tod eines Partners gelöst wurden, 30 und mehr Jahre gedauert; 1909/10 waren dies schon drei, 1975/76 (in West-Berlin) dann mehr als sechs von zehn Ehen.16 Wenn man so will, stellte sich mithin die Familienförmigkeit der Gesellschaft im Kaiserreich immer stärker, besonders rasch aber in der Zwischenkriegszeit und seit 1945 her; es gibt bekanntlich seit etwa 1970 gegenläufige Tendenzen. Die Familie stand nicht bereits »unbestritten in höchster Geltung«, aber sie gewann unverkennbar an Geltung.17 In ihrer gesellschaftsgeschicht­lichen Bedeutung kann die Entstehung einer familienförmigen Gesellschaft, über einen längeren Zeitraum gesehen, wohl kaum überschätzt werden. Auf die sich aufdrängende Frage, ob diese Entwicklung der Industrialisierung und Urbanisierung gedankt ist, kann eine Untersuchung des Familienstandes der Arbeiter im Vergleich zu Angestellten und Selbständigen nach Branchen und Sektoren mittelbar näheren Aufschluss geben.18 Bei näherem 15 Hierzu Imhof, Arthur E., Wiederverheiratung in Deutschland zwischen dem 16. u. dem Beginn des 20. Jh., in: Rudolf Lenz (Hg.), Studien zur deutschsprachigen Leichenpredigt der Frühen Neuzeit, Marburg 1981, S. 185–222. 16 Zahlenangaben nach Hubbard, William H., Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jh., München 1983, S. 72 (Angaben für 1910 korrigiert nach den von Hubbard genannten Quellen), 88. 17 Nipperdey, S. 42. N. verkennt die detailliertere Entwicklung wie auch den säkularen Trend, wenn er (S. 20) behauptet, das Verhältnis der Ledigen zu den Verheirateten etc. sei »relativ konstant« geblieben (vgl. bereits Stearns, Peter N., Arbeiterleben. Industriearbeit u. Alltag in Europa 1890–1914, Frankfurt a. M. 1980, S. 263); von einer »emphatischen Geltung« der Familie, ihrem Rang als eines »Letzten, Sinnstiftenden«, gar eines »Heiligtum[s]« (S. 42 f., 59) möchte ich, die Formen proletarischer Familienexistenz vor Augen, nicht sprechen. 18 Die folgenden Angaben nach: Vierteljahreshefte zur Statistik des Dt. Reiches, Jg. 6, 1897, H.  2, Ergänzung, S.  31, sowie: Statistik des Dt. Reichs (= SDR), Bd.  402/III, S.  438. Eine Erörterung der Eheschließungsziffer, an sich eines besonders wichtigen Indikators für Fami­lienbildung, erscheint mir entbehrlich, zumal sich die Angaben darüber nicht nach

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Hinsehen zeigt sich, dass die städtischen Unterschichten, besonders die Arbeiterklasse, an der Verbreitung familienförmiger Existenzweisen überproportional beteiligt waren und dass auch die ländlichen Unterschichten in der Zeit des Kaiserreichs zunehmend Familien bildeten. Allerdings waren im Jahre 1882 erst 30 % der Landarbeiter, aber beinahe 80 % der Bauern verheiratet. Deutlich höher, bei 38,7 %, lag bereits der Anteil der Verheirateten unter den Arbeitern in Industrie und Handwerk. Dieser Anteil nahm bis 1907 auf 44,5 %, also um 5,8 Prozentpunkte und damit deutlich stärker zu als die Verheiratetenquote der Heiratsfähigen in der gesamten Gesellschaft. Die Arbeiterexistenz wurde immer stärker eine Familienexistenz, wobei noch zu berücksichtigen wäre, dass Arbeiter im Allgemeinen eine geringere Lebenserwartung hatten und eher in das Erwerbsleben traten als bürgerliche Schichten, also einen höheren Anteil an jugendlichen Unverheirateten aufwiesen, während sie in höheren Altersgruppen, die naturgemäß einen stärkeren Anteil von Verheirateten aufwiesen, relativ schwächer vertreten waren. In der Erhöhung der Verheiratetenquote bei Arbeitern könnte eine erheb­ liche Senkung des durchschnittlichen Heiratsalters eine wichtige Rolle gespielt haben. Damit würde ein besonders zentraler Topos der zeitgenössischen Kritik, wonach Arbeiter viel zu jung und deshalb unreif, unfähig zur Familiengründung, heirateten, bestätigt werden. Richtig ist daran zunächst, dass das Heiratsalter generell im 19. Jahrhundert gesunken ist, und zwar vermutlich – globale Daten fehlen – für die Gesamtbevölkerung bei Männern von etwa 30 auf 27 Jahre, für Frauen von 28 auf 25 Jahre in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Das Heiratsalter blieb gleichwohl hoch.19 Es differenzierte sich nach unterschied­ lichen Lebenszyklen im Stadt- Land-Vergleich, es wies territoriale und, damit zusammenhängend, konfessionelle Besonderheiten auf, und die Durchsetzung der Industriearbeit wirkte dahingehend ein, dass sich das durchschnittliche Heiratsalter verringerte. Von ganz wenigen Kleingruppen mit Sondereinflüssen abgesehen, galt das jedoch für alle Schichten, und zwar für Arbeiter möglicherweise weniger als für andere Erwerbsgruppen. In allen Altersgruppen war der Anteil der Verheirateten unter den Selbständigen sehr bedeutend höher als unter Arbeitern. Will man unterstellen, dass 20- bis 25jährige »zu jung« heirateten, so traf dieses Verdikt auf die Selbständigen sehr viel mehr zu als auf Arbeiter. Für die Angestellten muss man in dieser Schichten oder Berufsbevölkerungen differenzieren lassen; vgl. bes. Harnisch, Hartmut, Bevölkerungsgeschichtliche Probleme der Industriellen Revolution in Deutschland, in: Karl Lärmer (Hg.), Studien zur Geschichte der Produktivkräfte. Deutschland zur Zeit der Industriellen Revolution, Berlin 1979, S. 267–339. 19 Vgl. Hubbard, S. 78–83; ferner Knodel, John u. Maynes, Mary J., Urban and Rural Marriage Patterns in Imperial Germany, in: Journal of Family History, Jg. 1, 1976, S. 129–68; im Übrigen Hajnal, John, European Marriage Patterns in Perspective, in: David V. Glass u. ­David E. Eversley (Hg.), Population History: Essays in Historical Demography, Chicago 1965, S. 101–43: Mitterauer u. Sieder, Patriarchat. S. 52–54; zur jüngeren Debatte Hareven, S. 100, Anm. 14.

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Diagramm 1: Jüngere verheiratete Erwerbstätige (Männer) in Industrie und Handwerk 1907 in Prozent 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

20 bis unter 25 Selbständige

25 bis unter 30 Angestellte

30 bis unter 40 Arbeiter

Quelle: SDR Bd. 203, S. 2 f.

Altersgruppe von Sonderbedingungen ausgehen; wichtig war für sie, dass Arbeiter meist erst in höherem Lebensalter in diesen Status überwechselten und dann ganz überwiegend bereits verheiratet waren. Selbst bei denjenigen, die bis zu 30 Jahre alt waren, lag der Verheiratetenanteil unter Selbständigen deutlich höher als unter Arbeitern. Noch im Jahre 1907 war die Chance von Arbeitern in der Landwirtschaft, eine Ehe einzugehen, im Vergleich zu den selbständigen Bauern sehr viel geringer. In höheren Altersklassen näherte sich die Differenz an. Man kann demnach davon ausgehen, dass die Aussicht, schneller eine Familie gründen zu können, in den Wanderungsentschlüssen zahlreicher junger Menschen ländlicher Herkunft eine wichtige Rolle gespielt hat. Im höheren Alter waren überhaupt die Differenzen nach der Stellung im Beruf nur noch gering. Wer von den Arbeitern überhaupt 50 Jahre alt wurde, war meistens ebenso verheiratet wie die Selbständigen. Durchweg ziemlich gering waren die Unterschiede der Verheiratetenanteile in allen Berufsstellungen zwischen Industrie und Handwerk bzw. Handel und Verkehr. Zu der wichtigen Frage, wer die durch diese Statistik erfassten Selbständigen waren, sollen einige Bemerkungen genügen: Es handelt sich bei den Selbständigen in Industrie und Dienstleistung nicht etwa um Angehörige freier Berufe wie Ärzte oder Rechtsanwälte. Auch selbständige Industrieunternehmer dürften sich hier nur zu marginalen Anteilen finden. Die Verehelichtenquote der Selbständigen wird vielmehr durch die handwerkliche Karriere geprägt. Es ist dabei 76 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Diagramm 2: Verheiratete Erwerbstätige nach Wirtschaftssektoren, Stellung im Beruf und Altersklassen 1907 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

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Handel und Verkehr

Quelle: SDR Bd. 203, S. 2 f.; Bd. 402/III, S. 438.

gerade dieser Umstand, der bäuerliche und handwerkliche Bevölkerungen miteinander vergleichbar macht: Das alteuropäische Muster des Heiratsverhaltens reichte bei Bauern und den meisten Handwerksberufen weit in die industriegesellschaftliche Moderne hinein.20 Wenn Handwerksgesellen sich selbständig machten und erbende Bauernsöhne den väterlichen Hof übernahmen, so verbanden sie i. d. R. diese lebensentscheidende Zäsur mit der Eheschließung, mittels derer überdies zusätzliches Kapital in die neue, selbständige Existenzweise einfließen konnte. Unter Handwerksgesellen bedeutete dies i. d. R., in einen Meisterhaushalt einzuheiraten oder mit Hilfe einer Mitgift einen Betrieb zu übernehmen oder zu gründen. Zwar nahm die Chance zur selbständigen Niederlassung für Handwerksgesellen in der Zeit des Kaiserreichs noch weiter stark ab,21 aber dies ist unerheblich im Hinblick auf die Zusammensetzung der hier erfassten Selbständigengruppen. Man kann insgesamt sagen, dass die Verbindung von Familiengründung und Beginn der selbständigen Existenzweise noch sehr fest war und im Übrigen das Urteil der Zeitgenossen über die Angemessenheit einer Familiengründung stark beeinflusst haben dürfte.

20 Vgl. besonders Ehmer, Heiratsverhalten, S. 36 ff. 21 Vgl. Lenger, Friedrich, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt a. M. 1988, S. 119 ff.

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Indessen werden die zeitgenössischen Familienkritiker die selbständigen Handwerker kaum im Blick gehabt haben, wenn sie die jugendliche Unerfahren­ heit der Eheschließenden beklagten. Sie können allerdings auch nicht die ganze Arbeiterklasse gemeint haben. Diagramm 3: Familienstand von Arbeitern 1895 und 1907 nach ausgewählten Berufsgruppen 80 70 60 50 40 30 20 10 g un ig

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Verwitwet 1895

Verheiratet 1895

Verheiratet 1907

Quelle: Statist. Jb. F. d. dt. Reich 31, 1910, S. 6–11.

Für das Jahr 1895 sind hier auch Verwitwetenanteile angegeben. Im Übrigen werden Arbeiterinnen und Arbeiter erfasst. Deshalb sind die Verwitweten­ anteile im Reinigungsgewerbe sehr hoch und in der Textilindustrie vergleichsweise hoch: Es handelt sich um Frauengewerbe, die z. T. verwitweten Arbeiterfrauen Erwerbsmöglichkeiten boten. Zur Erläuterung der unterschiedlichen Verheiratetenanteile in einzelnen Wirtschaftszweigen muss man auf einige Berufe etwas näher eingehen: Die Montanindustrie – neben den Bergleuten werden hier auch die Hüttenarbeiter erfasst – war der typische Eingangsberuf der Hochindustrialisierungsphase. Hier befand man sich 1895 zu Beginn, 1907 am Ende einer erneuten starken Zuwanderungsphase. Es entsprach dem typischen Verhalten der überwiegend aus ländlichen Regionen kommenden Zuwanderer, nach einer Übergangsphase von vielleicht zwei bis fünf Jahren mit Eheschließung ansässig zu werden. Deshalb sind die Verheiratetenanteile 1895 erheblich höher als 1907. 78 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Am meisten fällt aber auf, dass sie in beiden Jahren die Verheiratetenanteile in anderen Berufen bei Weitem übertrafen. Auch in solchen Berufen, in denen mit hohen Anteilen ehedem ländlicher oder nach wie vor starke Beziehungen zum Lande aufweisender Arbeiter zu rechnen ist, war die Verehelichtenquote hoch. Arbeiter im Bereich »Steine und Erden« waren in hohem Maße Saisonarbeiter, Arbeiter auf Großbaustellen oder sonstwie wandernde oder pendelnde Arbeiter; ihre Anzahl nahm mit dem infrastrukturellen Ausbau während der Zeit des Kaiserreichs ebenso rasch zu wie diejenige der Bauarbeiter, die gleichfalls als Maurer oder Zimmerer sehr oft auf dem Lande ansässig waren, um während der Bausaison in die Städte zu wandern. Ähnliches gilt für die der Zahl nach noch nicht sehr bedeutenden Chemiearbeiter. Man kann festhalten, dass die mit der Hochindustrialisierung am stärksten zunehmenden Gewerbe auch sehr hohe Verheiratetenanteile aufwiesen. Es handelte sich um Berufe mit hohen Fluktuationsziffern, zum großen Teil um Eingangsberufe mit niedrigerem Qualifikationsprofil. Als ein dem Umfang nach stagnierendes Gewerbe gilt die Textil­ industrie. Sie nahm, zusammen mit den Metallarbeitern, den Holzarbeitern und den Maschinenbauern, in den Verheiratetenanteilen eine mittlere Stellung ein, aber man muss den hohen Anteil an Frauenerwerbsarbeit im Textilgewerbe berücksichtigen. Im Ganzen handelte es sich um Gewerbe mit einem besseren, beim Maschinenbau sogar mit einem vergleichsweise hohen Qualifikationsprofil der Arbeiter. Allerdings war der Maschinenbau seit den 1890er Jahren überhaupt die wichtigste Wachstumsindustrie. Jedenfalls nahm die Verheiratetenquote beinahe überall mehr oder weniger deutlich zu; die wichtigste Ausnahme, die Montanindustrie, zeigt vor allem wegen konjunkturzyklischer Erscheinungen eine andere Entwicklung. Am anderen Ende der Skala, unter den Buchdruckern, herrschte schon ein Heiratsverhalten vor, das eher dem der Mittelschichten entsprach. Unqualifizierte Arbeiter wiesen in allen Altersgruppen deutlich höhere Verheiratetenanteile auf als qualifizierte, und dieser Unterschied war gerade in jüngeren Altersgruppen, zwischen 20 und 25 Jahren, besonders ausgeprägt. Dort, wo in dieser oder jener Form anhaltende ländliche Bindungen eine wichtige Rolle spielten, in der Montanindustrie und im Baugewerbe, waren die Differenzen jedoch vergleichsweise gering. Es lässt sich hiernach feststellen, dass sich die Arbeiter in ihrem Heiratsverhalten von dem überkommenen handwerklichen Eheschließungsmuster abwandten: Sie stellten den Lebenszyklus gleichsam auf den Kopf, warteten nicht mit der Eheschließung, bis sie eine bestimmte Qualifikationsstufe oder gar Nahrungssicherheit durch Selbständigkeit erreicht hatten. Hier bezeichnete die zeitgenössische Kritik einen Teil der Wahrheit, wenn man unterstellt, dass das Überkommene und insofern auch bürgerliche Familienbild von dem Vorhandensein einer »Nahrung« als der entscheidenden Voraussetzung für die Eheschließung ausging. Dieser Begriff der »Nahrung« war an existenzerhaltenden Besitz, ob ländlichen oder zünftig-handwerklichen Ursprungs, geknüpft. Es waren Traditionalisten, die so kritisierten. 79 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Diagramm 4: Familienstand von Arbeitern nach Qualifikationen (1907, ausgewählte Berufsgruppen) 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

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Hilfsarb. 30–40 J.

Quelle: SDR Bd. 203, S. 808.

3. Gerade un- und angelernte Arbeiter in den bezeichneten »heiratsfreudigen« Berufen verdienten aber durchaus überdurchschnittlich, jedenfalls mehr als qualifizierte Textil- oder auch Holzarbeiter. Sie werden zumeist sogar mehr verdient haben als jene Handwerksgesellen, die sich selbständig machten.22 In einem modernen Verständnis verfügten sie sehr wohl über eine »Nahrung«, aber was sie insofern an materiellen Voraussetzungen in die Eheschließung mitbrachten, das zerstörten sie durch die Vielzahl der Geburten. In allen erhobenen Berufen und Berufsstellungen sowie im Reichsdurchschnitt zeigt die Entwicklung der Kinderzahlen pro Ehe seit der Jahrhundertwende eine bemerkenswert übereinstimmende Entwicklung.23 22 Siehe zu den Unterschieden der Qualifikation (und zu den Problemen, sie an der zeitgenössischen Statistik nachzuweisen) sowie zu den Lohneinkommen Ritter u. Tenfelde, S. 440–50, 467–536. 23 Es sei darauf hingewiesen, dass nicht auszuschließen ist, dass in Ehen, die zwischen 1920 bis 1924 geschlossen wurden, auch nach dem Erhebungszeitpunkt (1939) noch Kinder geboren wurden.

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Diagramm 5: Durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe nach Eheschließungsjahrgängen und Berufsgruppen 7 6 5 4 3 2 1 0

er er lte ich uern eit rk tel e b a Re s w B ar ge rg nd An Be Ha

1920 bis 1924

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1910 bis 1914

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1905 bis 1909

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vor 1905

Quelle: Spree, in: Demographische Informationen 1984, S. 64 f. (n. d. Beruf des Familienvorstands, in 1939 bestehenden Ehen geborene Kinder)

Darin spiegelte sich das »revolutionäre Ereignis«24 in der Entwicklung deutscher Familien schlechthin: Binnen einer Generation ist die Anzahl der Kinder in neu geschlossenen Ehen durchschnittlich auf die Hälfte reduziert worden. Geburtenplanung ist beinahe gleichmäßig in allen Berufen und Berufsstellungen erkennbar. Vor dem Hintergrund verstreuter Angaben über die Kinderzahl vor der Jahrhundertwende kann man ferner sagen, dass diese Entwicklung durchschnittlich etwa um die Jahrhundertwende eingesetzt hat. Ursprünglich vorhandene, sehr ausgeprägte und für die Interpretation sehr wichtige Unterschiede zwischen Berufen und Berufsstellungen blieben erhalten, wurden aber abgeschliffen. In ihrer Familienplanung glichen die Buchdrucker den Angestellten ebenso wie die Bergleute den Bauern. Nach wie vor scheint die jeweils einwirkende ländliche Bindung durch Herkunft oder Berufstätigkeit die Fähigkeit zur Familienplanung entscheidend beeinflusst zu haben. Solche ländlichen Bindungen bedeuteten sehr Unterschiedliches. Man muss generell berücksichtigen, dass Industriearbeiter bis 1914 in ihrer Mehrheit eindeutig noch in kleinen und mittleren Gemeinden wohnten, während Großstädte – mit Ausnahme der Montanregionen – höhere Anteile an MittelschichtBerufen aufwiesen.25 Wenn man dies berücksichtigt, wird klarer, dass sich mit 24 Nipperdey, S. 23. 25 Besonders Mooser, Josef, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur u. Politik, Frankfurt a. M. 1984, S. 49 u. ö.

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dem Ausdruck »ländliche Bindungen« sehr unterschiedliche lebenszyklische Erfahrungsmuster verbinden. Bergleute und Hüttenarbeiter vollzogen an sich selbst in hohem Maße binnen einer Generation den Übergang vom Land in die Stadt; montanindustrielle Regionen waren jedenfalls im Saargebiet, an der Ruhr und in Oberschlesien hochgradig zersiedelt und ließen überall eine starke Neigung der Arbeiter zur ländlichen Nebenerwerbsarbeit erkennen, wenn diese nicht sogar, wie an der Saar, von Behörden stark gefördert wurde. In den neuen Chemiestädten wie Ludwigshafen konnten Chemiearbeiter, die zumeist unqualifiziert waren, den Ausbau des Nahverkehrs zum Pendlerdasein zwischen Stadt und Land nutzen. Bauarbeiter, ob gelernt oder nicht, behielten im saisonalen Rhythmus ihrer Erwerbstätigkeit ihren ländlichen Kleinbesitz, den ihre Ehefrauen während ihrer Abwesenheit bestellten. Textilarbeiter wohnten häufiger in kleineren Gemeinden, die gleichsam auf dem Entwicklungsstand der ersten Industrialisierungsphase stehen blieben, und sie verfügten dann oft über Kleinbesitz oder bestellten Pachtland. Ländliche Bindungen verbanden sich überdies mit anderen, die Fähigkeit zur Familienplanung mitbestimmenden Einflüssen, darunter einer vergleichsweise schlechten Volksschulbildung und einer niedrigeren Qualifikationsstufe, wobei auch zu berücksichtigen wäre, dass der Anteil von Katholiken unter Arbeitern umgekehrt proportional zum Bildungsgrad und Qualifikationsstatus anstieg.26 Offenkundig wurde die Fähigkeit zur Familienplanung durch ein ineinanderwirkendes Bündel von Einflussfaktoren hergestellt oder behindert, und umgekehrt definierte diese Fähigkeit die Lebenschancenunterschiede der Familien verschiedener beruflicher, qualifikatorischer und klassenmäßiger Zuordnungen sehr stark.27 Es gehört nicht viel dazu zu vermuten, dass eine ausgeprägte Fähigkeit zur Familienplanung der Arbeiterfamilie größeren Wohlstand bescheren konnte als noch die höchsten Reallohngewinne in den 1880er Jahren oder seit Mitte der 1890er Jahre. Umgekehrt waren zahlreiche Kinder eine Hauptursache des Elends. Eine, zynisch ausgedrückt, »Korrektur« hoher Ge26 Siehe Ritter u. Tenfelde, S. 749 f.; sowie Tenfelde, Klaus, Soziale Schichtung, Klassenbildung u. Konfliktlagen im Ruhrgebiet, in: Wolfgang Köllmann u. a. (Hg.), Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte u. Entwicklung, Bd. 2, Düsseldorf 1990, S. 121–217. hier S. 171. 27 Vgl. generell Knodel, John, The Decline of Fertility in Germany, 1871–1939, Princeton 1974; ferner Linse, Ulrich, Arbeiterschaft u. Geburtenentwicklung im Deutschen Kaiserreich von 1871, in: AfS, Jg.  12, 1972, S.  205–71; Neuman, Robert P., Working Class Birth Control in Wilhelmine Germany, in: Comparative Studies in Society and History, Jg. 20, 1978, S. ­408–28; Bergmann, Anna M., Von der »unbefleckten Empfängnis« zur »Rationalisierung des Geschlechtslebens«. Gedanken zur Debatte um den Geburtenrückgang vor dem Ersten Weltkrieg, in: Johanna Geyer-Kordesch u. Axel Kuhn (Hg.), Frauenkörper – Medizin – Sexualität. Auf dem Wege zu einer neuen Sexualmoral, Düsseldorf 1986, S. 127–58; auch Rubner, Heinrich, Familienplanung um 1900. Zu den Anfängen neu-malthusianischer Propaganda in Regensburg u. Augsburg, in: Verh. d. Histor. Vereins f. Regensburg u. d. Oberpfalz 120. 1980, S. 529–37; kaum weiterführend: Woycke, James, Birth Control in Germany ­1871–1933, London 1988.

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Diagramm 6: Säuglingssterblichkeit nach der Stellung der Eltern in Preußen 1877–1913 35 30 25 20 15 10 5 0

1877–1879

1889–1891

1896–1897

1904–1905

Selbständige

Beamte

Angestellte

Facharbeiter

Hilfsarbeiter

Dienstboten

1912–1913

Quelle: Spree, Strukturierte soziale Ungleichheit, S. 73.

bürtigkeit in Arbeiterfamilien lag in der dann i. d. R. gleichfalls hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit. Die leicht erklärliche Sonderstellung der Dienstmädchen interessiert an dieser Stelle nicht; es lässt sich vielmehr zeigen, was im Übrigen Reinhard Spree bereits erarbeitet hat: dass soziale Ungleichheit der Familien, gemessen an den Über­lebenschancen von Säuglingen, im Kaiserreich durchgehend noch zunahm.28 Die Kurve von den Selbständigen zu den Hilfsarbeitern flacht nicht 28 Spree, Soziale Ungleichheit, S.  49 ff. sowie 171 f., ders., Strukturierte soziale Ungleichheit im Reproduktionsbereich. Zur historischen Analyse ihrer Erscheinungsformen in Deutschland 1870–1913, in: Jürgen Bergmann u. a. (Hg.), Geschichte als politische Wissenschaft. Sozialökonomische Ansätze, Analyse politikhistorischer Phänomene, politologische Frage­stellungen in der Geschichte, Stuttgart 1979, S. 55–115; ders., Die Entwicklung der differentiellen Säuglingssterblichkeit in Deutschland seit der Mitte des 19. Jh. (ein Versuch zur Mentalitätsgeschichte), in: Arthur E. Imhof (Hg.), Mensch u. Gesundheit in der Geschichte, Husum 1980, S. 251–78; siehe auch Imhof, A. E., Unterschiedliche Säuglingssterblichkeit in Deutschland, 18. his 20. Jh. – Warum?, in: Zs. f. Bevölkerungswiss., Jg. 7, 1981, S. 343–82, sowie eher zusammenfassend ders., Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren, oder von der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zu Leben u. Sterben. Ein historischer Essay, München 1981, S. 117 ff. Ich verzichte im Folgenden auf eine Erörterung weiterer, die Säuglingssterblichkeit beeinflussender Faktoren; siehe Prinzing, Friedrich, Handbuch der medizinischen Statistik, Jena 19302, S. 405, sowie u. a. Frevert, Ute, »Fürsorgliche Belagerung«: Hygienebewegung u. Arbeiterfrauen im 19. u. 20. Jh., in: GG, Jg. 11, 1985, S. 420–46, hier S. 439 f.

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etwa ab, sondern wird ausgeprägter, und das betrifft alle Unterschiede, insbesondere jene zwischen Hilfsarbeitern und Facharbeitern sowie beider Gruppen zu Beamten und Angestellten. Erst nach 1918 sollten sich die Differenzen tenden­ziell einebnen. Diagramm 7: Säuglings- und Kindersterblichkeit in der Vorkriegszeit nach der Familiengröße 1–3 Hamborn (a) 1–3 Hamborn (b) 1–3 Oberschlesien 4–6 Hamborn (a) 4–6 Hamborn (b) 4–6 Oberschlesien 7–10 Hamborn (a) 7–10 Hamborn (b) 7–10 Oberschlesien 11 u. mehr Hamb. (a) 11 u. mehr Hamb. (b) 11 u. mehr Oberschl. Alle Fam. Hamb. (a) Alle Fam. Hamb. (b) Alle Fam. Hamb. (a) 0%

10%

20% 30%

40% 50% 60%

Überlebende Kinder

70% 80%

90% 100%

Gestorbene Kinder

Quellen: Fischer-Eckert, S. 119 ff. (a = eig. Erhebung d. Verf., b = Erheb. der Volksschule); ­Syrup, S. 205 f.

Die Arbeiter eines oberschlesischen Walzwerks, die Friedrich Syrup kurz vor Kriegsausbruch untersucht hat,29 waren beinahe alle verheiratet. Sie siedelten in den umliegenden ländlichen Bezirken und verfügten dort häufig über ländlichen Kleinbesitz als »Gärtner« oder »Häusler«; sie sprachen meist polnisch in einer Mischung mit deutschen Sprachelementen. Von insgesamt 244 Familien 29 Syrup, Friedrich, Die soziale Lage der seßhaften Arbeiterschaft eines oberschlesischen Walzwerkes, in: Auslese u. Anpassung der Arbeiterschaft in der Schuhindustrie u. in einem oberschlesischen Walzwerke, München 1915 (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik Bd. 153), S. 131–218.

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blieben acht Ehen kinderlos; die fruchtbaren Ehen brachten es im Durchschnitt auf 8,4 Kinder je Ehe, und das war eine zum Untersuchungszeitpunkt naturgemäß noch nicht endgültige Durchschnittszahl. Allerdings waren bereits 718 der insgesamt 1.992 Kinder, das sind 36 %, verstorben. Ganz ähnlich lagen die Verhältnisse in Hamborn, wo – nach zeitgenössischen Volksschulerhebungen – durchschnittlich in jeder der erhobenen Familien 7,1 Kinder geboren worden waren, wovon je Familie 2 Kinder, das sind 27,7 Prozent, verstorben waren.30 Je mehr Kinder in einer Familie geboren waren, desto mehr verstarben. In solchen Großfamilien, die mehr als zehn Niederkünfte31 erlebten, hatten die im Geburtenrang nachstehenden Kinder eine immer schlechtere Überlebenschance. Wer als elftes oder späteres Kind, unabhängig von den bereits verstorbenen, in eine montanindustrielle32 proletarische Familie hineingeboren wurde, überlebte mit einer Gewissheit von weniger als 50 Prozent. Im preußischen Westen waren die Verhältnisse immerhin deutlich besser als im Südosten, aber die Sterblichkeit nach dem Geburtenrang zeigte denselben Zusammenhang. Der Berliner Augenarzt Carl Hamburger hat um die Jahrhundertwende über einen längeren Zeitraum hinweg diejenigen Frauen, die länger als zehn Jahre verheiratet waren und wegen augenärztlicher Behandlung seine Praxis aufsuchten, nach der Anzahl ihrer ehelichen Konzeptionen befragt. Von den 1.042 Frauen kam jede durchschnittlich auf 5,7 Geburten, aber einschließlich der eingeräumten Aborte handelte es sich um 7,4 Konzeptionen.33 Auch in diesen Großfamilien verstarb mindestens ein Drittel der Säuglinge und Kinder. 30 Fischer-Eckert, Li, Die wirtschaftliche u. soziale Lage der Frauen in dem modernen Indus­ trieort Hamborn im Rheinland, Hagen 1913, Daten im Anhang. – Fallzahlen in der folgenden Grafik: Oberschlesien. Familien mit 1–3 Geborenen: 17 Familien (38 geborene, davon 6 gestorbene Kinder); 4–6: 54 (276, 86); 7–10: 105 (902, 295); 11 u. mehr: 60 (776, 328); Hamborn (a = eigene Erhebung L. Fischer-Eckert) 1–3: 128 (294, 49); 4–6: 185 (905, 233); 7–10: 127 (1.171,347); 11 u. mehr: 45 (654,227); Hamborn (b = Erhebung der Hamborner Volksschulen) 1–3: 386 (932,142); 4–6: 1.222 (6.300, 1.141); 7–10: 1.814 (14.334, 4.106); 11 u. mehr: 545 (6.775, 2.467). 31 Die Totgeborenen sind nicht erkennbar in die der Grafik zugrunde liegenden Zahlen eingegangen. Zu bedenken ist ferner, dass der spätere Geburtenrang in Großfamilien auch aus medizinischen Gründen die Überlebenschance der Säuglinge mindert. 32 Zum Vgl. Friedlander, Dow, Demographic Patterns and Socioeconomic Characteristics of the Coal Mining Populations in England and Wales in the Nineteenth Century, in: Eco­ nomic Development and Cultural Change, 22, 1973, S.  39–51; Guignet, Philippe, Mines, manu­factures et ouvriers du Valenciennois au 19e siècle, New York 1987, S.  602 ff. u. ö.; ­Haines, Michael R., Fertility and Occupation: Population Patterns in Industrialization, New York 1979; für das Ruhrgebiet ferner Köllmann, Wolfgang u. a., Bevölkerungsgeschichte, in: ders. u. a. (Hg.), Ruhrgebiet, Bd. 1, S. 111–97. Zur Überlebenswahrscheinlichkeit nach der Rangfolge der Geburt in einer Reihe von ländlichen Gemeinden s. Knodel, John E., Demographic Behavior in the Past, Cambridge 1988. 33 Hamburger, Carl, Über den Zusammenhang zwischen Konzeptionsziffer u. Kindersterblichkeit in (großstädtischen) Arbeiterkreisen, in: Zs. f. soziale Medizin, Jg. 3, 1908, S. ­121–41. Ich habe die an sich vergleichbaren Daten wegen des Einbezugs der Abortziffern nicht in die Grafik aufgenommen.

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Weil die Aborte in die Berliner Zahlen eingegangen sind, lag dort die Kindersterblichkeit sogar noch höher als in Oberschlesien; im Übrigen sagt Hamburger leider wenig über die Spezifika der von ihm erhobenen Population. Man wird davon ausgehen können, dass es sich um ältere Ehefrauen aus einem der typischen Berliner Arbeiterquartiere handelte; jedenfalls scheinen die Verhältnisse etwa dem Münchner Westend sehr ähnlich gewesen zu sein.34 Hamburger konstatierte, dass, je länger die Ehe währe, »desto größer vermutlich die Gleichgültigkeit gegen etwa noch auftretenden Nachwuchs« sei, und darin liege eine »so auffallende [Regelmäßigkeit], daß die Verallgemeinerung dieses Befundes zu einem Gesetz schwerlich gewagt erscheint.«35 Die hier untersuchten Familien erlebten im Durchschnitt zwei bis drei Todesfälle unter den eigenen Kindern, in den ganz großen Familien waren es fünf Todesfälle. Da wundert es nicht, dass die Berliner Arbeiterfrauen schon hinsichtlich des Alters der lebenden Kinder manchmal keine genauen Angaben machen konnten, »geschweige denn«, so berichtet Hamburger, »bezüglich der Toten oder gar der Fehlgeburten«; bei den oberschlesischen Arbeitern war es, so Syrup, »ausgeschlossen, […] das Lebensalter der einzelnen Kinder bei ihrem Tode zu ermitteln, dazu reichten die Erinnerungen der befragten Arbeiter nicht aus.«36 Die Arbeiterfamilie als »Erwerbs-, Zweck- und Notgemeinschaft«37 war wohl, wenn sie eine gewisse Größe erreicht hatte, auch eine Sterbegemeinschaft. Das würde noch deutlicher, könnte man das erhöhte Sterberisiko der Elterngeneration in die Betrachtung einbeziehen. Syrup berichtet, dass von den oberschlesischen Arbeitern besonders viele zum zweiten oder dritten Mal verheiratet waren. Die Geißel der Geburten ging an den Arbeiterfrauen nicht ohne Schaden vorüber, wenn dies auch zumindest im Durchschnitt durch die höhere Lebenserwartung der Frauen auch im Arbeitermilieu kompensiert wurde.38

34 S. Bleek, Stefan, Quartierbildung in der Urbanisierung. Das Münchner Westend 1890–1933, München 1991, S.  129 ff. Generell zum Städtevergleich: Laux, Hans Dieter, Dimensionen u. Determinanten der Bevölkerungsentwicklung preuß. Städte in der Periode der Hoch­ industrialisierung, in: Wilhelm Rausch (Hg), Die Städte Mitteleuropas im 20. Jh., Linz 1984, S. ­87–112, 98  ff. 35 Hamburger, Konzeptionsziffer, S. 118, 130 (z. T. gesperrt). 36 Ebd., S. 125 (z. t. gesperrt), sowie Syrup, S. 206. 37 Saul u. a. (Hg.), S. 11; vgl. das Zitat von Nipperdey, oben Anm. 8. 38 Vgl. Imhof, Arthur E., Die Übersterblichkeit verheirateter Frauen im fruchtbaren Alter. Eine Illustration der »condition féminine« im 19.  Jh., in: Zs. f. Bevölkerungswiss., Jg.  5, 1979, S. 487–510; ders., Die gewonnenen Jahre, S. 145–59, sowie Heller, Genevière u. Imhof, A. E., Körperliche Überlastung von Frauen im 19. Jh., in: A. E. Imhof (Hg.), Der Mensch u. sein Körper. Von der Antike bis heute, München 1983, S. 137–56.

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4. Die Absterbeordnung nach dem Geburtenrang in einer quantitativ bis zum Ersten Weltkrieg sehr wichtigen Großgruppe von Arbeiterfamilien erinnert an jene gewollte Gleichgültigkeit, mit der man in altbayerischen ländlichen Gegenden die Letztgeborenen »himmeln gehen« lassen mochte. Sie verbindet, wie schon die hohe Gebürtigkeit und die – hier nicht nachgewiesene – geringere Lebenserwartung der Elterngeneration, die montanindustriellen und jene Arbeiter­ familien, in denen ländliche Beziehungen auf diese oder jene Weise fortbestanden und zur Existenzerhaltung, in gewissem Umfang auch zur Krisenvorsorge beitrugen, mit klein- und unterbäuerlichen Existenzen, eine Verbindung, die im Übrigen während der demografischen Übergangsphase der Hochindustrialisierung im Lebensablauf von Hunderttausenden von Menschen sehr konkret geworden ist. Dieser familiäre Existenzmodus der (tendenziell) un- und angelernten, gering gebildeten, überwiegend katholischen, eine starke Beziehung zu ländlich-agrarischen Daseinsformen mit sich tragenden Arbeiter, der durch das Zusammenleben im segregierten großstädtischen Arbeiterquartier ebenso wie in monoindustriell geprägten, beinahe mittelstandsfreien Berg- und Hütten­ arbeiterkommunen noch in sich gestärkt wurde, kontrastierte mit jenem anderen Modus mittel- bis großstädtischer Arbeiter einer zweiten oder dritten Arbeitergeneration, die besser qualifiziert war, ihre Elementarbildung in besseren (immer mehrklassigen) städtischen Volksschulen erlernt hatte und mehrheitlich protestantisch war, aber häufig den Kirchen bereits eher fern stand. Es gab deshalb in der Zeit des Kaiserreichs, aus demografischer Sicht, nicht – so wenig wie zuvor – die historische, sozusagen klassenmäßig klar verortete Arbeiterfamilie. Die Strukturdivergenz zwischen großstädtischen Buchdruckerfamilien in Leipzig und katholischen Hüttenarbeiterfamilien in Hamborn war nach den durch die Bereitschaft zur Eheschließung, die Ungleichheit vor Krankheit und Tod und insbesondere die Geißel der Geburten und die Fähigkeit ihrer Steuerung gesetzten, durch die Individuen schwerlich zu verändernden Rahmenbedingungen größer als diejenige zwischen den Familien gut qualifizierter, relativ gebildeter Arbeiter und, sagen wir, Gymnasiallehrern. Es gehört zu den besonderen, auch politisch zu deutenden, deutschen Bedingungen der Industrialisierung und Urbanisierung, wenn trotz dieser gewaltigen Strukturdivergenz Milieubindungen insbesondere durch gemeinsame oder nahe »halboffene« Wohnbedingungen in großstädtischen Quartieren stärker blieben oder wurden. Auch deshalb wurden Respektabilitätsunterschiede innerhalb der deutschen Arbeiterklasse, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung, bis in die Zeit des Weltkriegs eher eingehegt. Man machte es sich zu einfach, wollte man die hier als Modi fami­liärer Existenz gegenübergestellten Familientypen auf einer Spanne zwischen Bürgerlichkeit und Bäuerlichkeit, Bildung und Qualifikation, protestantischer bzw. katholischer Milieubindung, städtischer bzw. ländlicher Sozialisation etc. 87 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

verorten. Richtiger ist es, von Merkmalskomplexen auszugehen, innerhalb derer einzelne Kombinationen in spezifischer Beziehung und mit potenzierender Wirkung aufeinandertrafen. Einzelne Merkmale sind darin historisch verknüpft, so die ländliche Herkunft mit der Bildung und relativen Katholizität, aber die Unfähigkeit zur Geburtenplanung konnte ebenso wirksam durch die Sozialisation im großstädtischen Arbeiterquartier begründet sein. Und nicht zuletzt begründete sich die Polarität der geschilderten Existenzmodi aus der Gleichzeitigkeit ganzer Erfahrungswelten in einer hochmobil gewordenen Industriegesellschaft. In dieser Gleichzeitigkeit verschoben sich, über einen längeren Zeitraum betrachtet, die Gewichte. Hätten die Zeitgenossen die Frage des Geburtenrückgangs nicht so sehr unter »imperialistischen« Vorzeichen und Besorgnissen debattiert,39 so wäre ihnen vermutlich deutlicher geworden, dass dies der entscheidende Weg zur bürgerlichen Domestizierung der Arbeiterklasse war: die zunehmende Familienbildung in der Arbeiterklasse unter zunehmender Familienplanung. In diesem in der Tat säkularen Prozess wurden im Kaiserreich erste wichtige, aber noch sehr ungleich verteilte Fortschritte erzielt, und diese Ungleichheit legt es nahe, den Familienmodus der ungelernt-ländlichen Arbeiter als einen Modus des Übergangs zu verstehen. In solcher Interpretation darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Familiengeschichte des späteren 19.  und des 20.  Jahrhunderts jenseits des demografischen Wandels und darüber hinaus sehr tief greifende Veränderungen zeigt – man denke nur an die Entwicklung des Familienrechts oder an jene merkwürdige Diskrepanz zwischen der Durchsetzung der Familienförmigkeit der Gesellschaft und dem Funk­tionsverlust der Familie durch arbeitsteilige Auslagerung ihrer »produktiven« und sozialen Funktionen. In gewissem Umfang war aber der Funktions­ verlust der Familie eine Bedingung für die erfolgreiche Familiarisierung der Gesellschaft.

5. Im neueren Schrifttum über die Arbeiterfamilie wird erhebliche Energie darauf verwendet, die binnenfamiliären Generationsbeziehungen und die Elternbeziehungen zu klären.40 Man wird sich damit abfinden müssen, dass ­dieses 39 Selbst bei Hamburger wie bei Syrup und Fischer-Eckert klingt in der Auseinandersetzung mit den Befunden das Argument des »vergeudeten Erziehungskapitals« (Hamburger) an. 40 Vgl. Seyfarth-Stubenrauch, Bd. 1, S. 180–216; Lerch, S. 234 ff.; Hagemann, S. 332–43, sowie die Aufsätze von Rosenbaum u. Bajohr; wichtig ferner Reck, Siegried, Arbeiter nach der Arbeit. Sozialhistorische Studie zu den Wandlungen des Arbeiteralltags, Lahn-Gießen 1977, S. 110 ff., u. Flecken, Margarete, Arbeiterkinder im 19. Jh. Eine sozialgeschichtliche Unter­ suchung ihrer Lebenswelt, Weinheim 1981, S. 63 ff. Welche dünn begründeten, aber kraft-

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quellenarme Feld41 kaum jemals zufriedenstellend ausgeleuchtet werden wird, so dass Kritik an der vorherrschenden Annahme, wonach das Familienleben generell und die Geschlechterbeziehungen im Besonderen einerseits durch die ökonomische Mangelsituation, andererseits durch »autoritär-patriarchalische Hierarchie[n]«42 selbst in eher sozialdemokratischen Arbeiterfamilien geprägt wurden, immer möglich und erwünscht bleiben wird. Zu erwähnen ist, dass »Oral History«-Interpretationen einige bemerkenswerte Zeugnisse auch über partnerschaftliches Verhalten und emotionale Zuwendung sowie über unerwartet autonomes Haushaltshandeln der Arbeiter-Ehefrauen hervorgebracht haben.43 Welche Interpretation legt eine vorwiegend demografische Analyse der Arbeiterfamilie nahe? In sehr großen Zweigenerationenfamilien potenzierte sich mit jeder weiteren Geburt – und auch mit jedem Todesfall, zu erinnern ist an die erheblichen finanziellen Kosten von Geburt und Tod – die ökonomische Mangellage. Einige Überlegungen, die sich zum einen mit der faktischen Situation der proleta­ rischen Großfamilie, zum anderen mit den in ihr fortwirkenden Traditionen verbinden, differenzieren dieses Bild. Kleiner Besitz war in ländlichen Arbeiterfamilien häufig anzutreffen, darin lag eine gewisse Vorsorge gegen die Risiken des Arbeitsmarkts und des Lebenslaufs. Die Familien blieben insofern partiell Produktionsgemeinschaften, und überkommene Geschlechterrollen wirkten fort. In ganz anderer Weise galt dies aber auch für die montanindustrielle, semiurbane Arbeiterfamilie: Ein eher archaisches Rollenverständnis von Mann und Frau blieb hier schon deshalb virulent, weil sich die Arbeitswelt des Mannes als reine Männerwelt radikal von der Familie trennte und weil es in den Bergund Hüttenarbeiterkommunen kaum andere Industrien und wenig Dienstleistungen und überdies keine ausgeprägte Mittelschicht gab, die auch gelegentliche Dienstleistungen nachgefragt hätte, weshalb außerhäusliche Erwerbsarbeit von Frauen oft geradezu unmöglich war. Damit wurde das alte arbeitsteiligpatriarchalische Rollenverständnis der Frau als Mutter und relativ autonom handelnde Haushaltsversorgerin, das diese Arbeiter unzählige Male bereits aus ihrer eigenen Sozialisation mitbrachten, strukturell fortgesetzt. Das vertiefte die voll vorgetragenen Thesen möglich sind, zeigt Soder, Martin, Hausarbeit u. Stammtisch­ sozialismus. Arbeiterfamilie u. Alltag im Deutschen Kaiserreich, Gießen 1980, etwa S. 60 f. ü. »alltägliche Gewalt« in der Arbeiterfamilie. 41 Wichtigste Quelle neben Arbeiter(führer)memoiren und Oral History ist, sieht man von einigen zeitgenössischen Diskursen in der bürgerlichen und konfessionellen Reformliteratur ab, immer noch Adolf Levensteins Umfrage: Die Arbeiterfrage. Mit bes. Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des modernen Großbetriebes u. der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter, München 1912; hierzu Beier, Klaus M., »Individuum« u. »Gemeinschaft«, Adolf Levenstein u. die Anfänge der sozialpsychologischen Umfrage in der arbeiterpsychologischen Forschung, in: Internat. wiss. Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 24, 1988, S. 157–71. 42 Hagemann, S. 339 u. ö. 43 Vgl. bes. Wierling, S. 41, 45 sowie 217 ff. u. ö.

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hier ohnehin ausgeprägte Klassenkluft, es begünstigte Endogamie, bis hin zur vollständigen klasseninternen Reproduktion.44 Hinzu kamen die typischen, oben zum Teil  erwähnten Defizite des Milieus, wie sie auch in den nach der Erwerbstätigkeit eher diversifizierten großstädtischen Arbeiterquartieren in Berlin, Hamburg oder München fortwirkten: unzulängliche Elementarbildung, hohe Mobilität, auch ethnische Sondereinflüsse, außerordentlich problematische Wohnbedingungen und anderes. Max ­Marcuse, der zahlreiche Arbeiter über ihre ehelichen sexuellen Beziehungen befragte, erfuhr von einem 27jährigen großstädtischen Facharbeiter, dieser führe »eine moderne Ehe«: »Da braucht man keine Kinder […]. Kinder kann jeder Dumme haben, aber keine Kinder haben, dazu gehört mehr!« Fatalistisch dagegen ein 35jähriger Melker: »[…] die Kinder kommen eben, da kann man ja nichts dagegen machen.«45 Bessere Bildung im Kontext städtischer Sozialisation war die entscheidende Voraussetzung, um zur Geburtenplanung fähig zu werden; die klasseninterne Bildungsdifferenz, wie sie im Kaiserreich unbeschadet der politisch noch zementierten externen Bildungsklüfte zum Bürgertum zum Teil überkommen war und zum Teil neu begründet wurde, wirkte in vielfach vermittelter Form auf das binnenfamiliäre Rollenverhalten und auf die Geschlechterbeziehungen ein. »Traditionelle« und »sozialdemokratische« Väter (und Ehemänner) nach deren Verhalten gegenüber Kindern und Ehefrauen zu unterscheiden, trifft deshalb nur einen Teil der Wirklichkeit, und es lässt sich, so ist hier gezeigt worden, nicht nur aus den materiellen Umständen der Arbeiterexistenz, sondern insbesondere aus den demografischen Bedingungen der Familienbildung besser verstehen und damit weiter differenzieren.46 Viel spricht dafür, dass im Familienmodus der un- und angelernten, stärker fluktuierenden Arbeiter schon in der Eheanbahnung die Neigungsehe, zu der wegen weit stärker verbreiteter Besitzlosigkeit und genereller Lohnabhängigkeit an sich in der Arbeiterklasse bes44 Vgl. Wierling, S. 252, sowie Murphy, Richard C., Gastarbeiter im Deutschen Reich. Polen in Bottrop 1891–1933, Wuppertal 1982, S. 115 u. ö., mit Kocka u. a., S. 370–73 u. 417 f. (Endo­ gamie unter ungelernten Arbeitern). 45 Marcuse, Max, Der eheliche Präventivverkehr, seine Verbreitung, Verursachung u. Methodik. Dargestellt u. beleuchtet an 300 Ehen, Stuttgart 1917, S. 23,26; M. stellt (S. 113 f.) mit Nachdruck fest, wie hinderlich das katholische Glaubensbekenntnis auf dem Weg zur Gewinnung der erstzitierten Ansicht war. Die Ansichten der befragten Arbeiter lassen sich im Übrigen insgesamt den durch die Zitate markierten Polen zuordnen. Vgl. auch Levenstein (etwa S. 216), über die entsprechenden Nöte eines oberschlesischen Bergarbeiter-Ehepaars. 46 Rosenbaum, S. 249ff; zusätzlich wird der Typus (?) der »kleinbürgerlichen Individualisten« abgegrenzt. Die Bezeichnung »sozialdemokratisch«, die auch durch Quellen und Ergebnisse der Arbeit von Hagemann nahegelegt wird, erscheint mir u. a. im Hinblick auf die Tatsache problematisch, dass der christlichen Arbeiterbewegung zuneigende, daher fast immer katholische Arbeiter, ganz ähnliche Bildungs- und Qualifikationsmerkmale aufwiesen. Andererseits hat schon Wettstein-Adelt, Minna, 3½ Monate Fabrikarbeiterin, München 1893, S. 45 beobachtet, nur Sozialdemokratinnen unter den Arbeiterinnen kannten »vernünftigere Kinderproduktion«.

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sere Voraussetzungen als im Bürgertum bestanden, noch eine geringere Rolle spielte. Gewiss haben sich diese Väter in die Erzieherrolle ihrer Frauen nur selten, dann aber autoritär und auch gewaltsam, eingemischt. Für beide Elternteile gab es kaum schon Erziehung im Sinne von aktiv, bewusst gestalteter Sozialisation und geistiger Bildung; es überwog die schon durch die große Kinderschar mitbedingte Neigung, die Kinder sich selbst, den Hinterhöfen und der Straße zu überlassen und allenfalls ihre Arbeitskraft so früh wie möglich zu nutzen. Die Gattenbeziehungen beschränkten sich eher auf den selbstverständlichen, alltäglichen, ordnenden wie durch die Umstände geordneten Umgang mit­ einander. Solche Familien hatten wenig Chancen, Gefühle zu zeigen und zu leben, und vermutlich war die Fähigkeit, differenziert zu empfinden, wenig eingeübt. Um so eher mochten sich stereotype Verhaltensweisen einprägen. Gern wird Arbeitern sexuelle Gewalt gegenüber ihren Ehefrauen unterstellt.47 Nach den Ergebnissen dieses Beitrags sollte künftig, angesichts der in großen Teilen der Arbeiterklasse noch sehr starken Verankerung in und anhaltenden Orientierung an ländlich-bäuerlichen Daseinsformen, die hierzu in der Forschung weit entwickelte Debatte herangezogen werden.48 Es war insgesamt nicht so sehr die Klassenzugehörigkeit an sich, die Geschlechterbeziehungen in der Arbeiterfamilie definierte. Viel wirksamer waren generelle, nicht notwendig aus der Klassenlage resultierende, mit Bildung und Konfession sowie Herkunft und ländlicher Prägung im Wesentlichen bezeichnete Dispositionen sowie die materiellen Bedingungen einer spezifischen Ausprägung der Klassenlage und schließlich jene transitorische Konfiguration, in der handarbeitende Menschen erstmals überhaupt eine Chance zur Familienbildung erhielten. Die historisch-demografische Betrachtung hilft, die latent anklägerische Botschaft vom proletarischen Patriarchat besser zu deuten. 47 Viele Hinweise in Lipp, Innenseite; s. auch Ritter u. Tenfelde, S. 623–33. 48 Für sehr wichtig halte ich Beck, Rainer, Illegitimität u. voreheliche Sexualität auf dem Land. Unterfinning, 1671–1770, in; Richard van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jh., München 1983, S. 112–50; Kaschuba, Wolfgang u. Lipp, Carola, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller u. sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. u. frühen 20. Jh., Tübingen 1982, S. 390 ff., sowie Becker, Peter, Leben u. Lieben in einem kalten Land. Sexualität im Spannungsfeld von Ökonomie u. Demographie. Das Beispiel St. Lambrecht 1600–1850, Frankfurt a. M. 1990, S. 161 ff.; s. Schulte, Regina, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen u. Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayern 1848–1910, Reinbek 1989, etwa zum »Himmeln« S.  152 ff.; sowie bes. (vornehmlich beschreibend)  Mitterauer, Michael, Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung u. Geschlechterrollen in ländlichen Gesellschaften Mitteleuropas, in: Jochen Martin u. Renate Zoepffel (Hg.), Aufgaben. Rollen u. Räume v. Frau u. Mann, 2 Bde. Freiburg 1989, Bd. 2, S. 819–914. – Eine neue Debatte um die ländlichen Ursprünge des Proletariats u. die Bedeutung der proletarischen Familienbildung wird in den Arbeiten von David Levine angeregt: Punctuated Equilibrium: The Modernization of the Proletarian Family in the Age of Ascendant Capitalism, in: International Labor and Working Class History, Jg. 39, 1991, S. 3–20; ders. (Hg.). Proletarianization and Family History, Orlando 1989 (darin bes. Ch. Tilly, S. 1=85).

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Zugleich wird man aus demografischer Sicht jenseits jener Selbstverständlichkeit, wonach der Arbeiterstatus und damit die proletarische Familienexistenz durch Lohnabhängigkeit gekennzeichnet sind, Abschied nehmen müssen von der Vorstellung, es habe einen Typus von Arbeiterfamilie gegeben. Es gab zahlreiche Variationen proletarischer Familienexistenz auf der Skala zwischen den beiden demografisch begründeten familiären Verhaltensmodi, Übergangsformen zum Teil in relativer Persistenz, aber längst auch schon Bürgerlichkeit. Jedenfalls war die Arbeiterfamilie in der Zeit des Kaiserreichs strukturell vielgestaltiger als ihr »bürgerliches« Pendant.

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III. Klassenspezifische Konsummuster im Deutschen Kaiserreich

1. Konsumgeschichte muss, wenn sie sich zur Gesellschaftsgeschichte weiten soll, mehr sein als eine Geschichte der Haushaltsrechnungen. Als eine solche ist Konsumgeschichte in Deutschland jedoch seit rund drei Jahrzehnten vermehrt betrieben worden.1 Auch im Folgenden wird eine knappe Diskussion von Hauptergebnissen der differentiellen Haushaltsforschung vornehmlich über das Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Vordergrund stehen, denn hier gibt es noch die sichersten Ergebnisse, auf deren Grundlage immerhin einige thesenartige Erörterungen des Zusammenhanges von Klassen- und Konsumgeschichte möglich sind. Einige Bemerkungen zur Überlieferung und zum Stand der Forschung über Haushalts- und Ernährungsgeschichte seien vorangestellt. Zwar ist in mehreren Forschungsprojekten, die den Haushaltsrechnungen gewidmet waren, inzwischen eine sehr beeindruckende, die Erwartungen übertreffende Überlieferung gesammelt worden, und die entsprechenden veröffent­lichten Analysen argumentieren auch in längeren Zeiträumen. Dennoch scheint, dass eine ausreichende Datenbasis erst etwa seit den 1890er Jahren und mit den beiden großen Erhebungen der Jahre 1907 und 1908 verfügbar ist.2 Es fällt deshalb schwer, auf dieser Datengrundlage langfristige Konsumentwicklungen, die nicht bloß Ernährungsverhältnisse betreffen, zu markieren. An kritischen Einwänden gegen die erwähnten Erhebungen und gegen eine allzu datengewisse Konsumgeschichte mangelt es nicht; jüngst ist in einem Aufsatz von Uwe Spiekermann angesichts der vielen Überlieferungsprobleme sogar eher wieder eine qualitative Interpretationsrichtung betont

1 Grundlegend war: Teuteberg, Hans-Jürgen., u. Wiegelmann, Günter, Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, Göttingen 1972; ferner Teuteberg, Hans-Jürgen, Die Nahrung der sozialen Unterschichten im späten 19. Jahrhundert, in: Edith Heischkel-Artelt (Hg.), Ernährung und Ernährungslehre im 19. Jahrhundert, Göttingen 1976, S. 205–287. 2 Dowe, Dieter, (Hg.; Einleitung: Jens Flemming und Peter-Christian Witt), Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im Deutschen Reiche (urspr. Berlin 1909), sowie: 320 Haushaltsrechnungen von Metallarbeitern, in einem Band, Berlin 1981 (­urspr. Stuttgart 1909).

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worden.3 Geht man außerdem zu weit in das Material hinein, kann das Differenzierungsbedürfnis, wie etwa die Einwände von Alf Lüdtke gegenüber Reinhard Spree und dessen Arbeiten deutlich gemacht haben,4 zur Aufgabe genereller Perspektiven, und damit, so Toni Pierenkemper, zur »Differenzierung ad infinitum« führen.5 Das ganze Umfeld der historisch-haushaltsdogmatischen, ökonomischen, psychologischen und besonders der sozialwissenschaftlich-soziologischen Kon­ sumforschung kann hier nicht berücksichtigt werden.6 Auch die volkskundlichen Forschungen über das Ernährungsverhalten, etwa von Günter Wiegelmann, werden nur am Rande einbezogen. Zentral sind dagegen die ausgedehnten Forschungen von Hans-Jürgen Teuteberg und seinen Mitarbeitern.7 Vor allem Teuteberg selbst hat die Determinanten der Ernährungsgeschichte, so etwa die Stadt-Land-Unterschiede, die Veränderungen der Versorgungstechnik und -organisation, die generellen und regionalen Marktentwicklungen, die Veränderungen in der Qualität der Ernährung und im allgemeinen die Kontexte von Urbanisierung und Ernährungsverhalten in reichem Detail untersucht. Das differentielle Konsumverhalten nach sozialen Schichten als Thema dieses Aufsatzes wird in Teutebergs Forschungsentwürfen zur Untersuchung des modernen Massenkonsums erstaunlicherweise nicht systematisch behandelt.8 Auf 3 Spiekermann, Uwe, Haushaltsrechnungen als Quellen der Ernährungsgeschichte. Überblick und methodischer Problemaufriß, in: Dirk Reinhardt u. a. (Hg.), Neue Wege zur Ernährungsgeschichte. Kochbücher, Haushaltsrechnungen, Konsumvereinsberichte und Auto­ biographien in der Diskussion, Frankfurt a. M. 1993, S. 51–85. 4 Lüdtke, Alf, Kommentar zum Beitrag von Reinhard Spree, in: Toni Pierenkemper (Hg.), Haushalt und Verbrauch in historischer Perspektive. Zum Wandel des privaten Verbrauchs in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1987, S. 81–89. 5 Pierenkemper, Toni, Der bürgerliche Haushalt in Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert – im Spiegel von Haushaltsrechnungen, in: Dietmar Petzina (Hg.), Zur Geschichte der Ökonomik der Privathaushalte, Berlin 1991, S. 149–185, hier S. 156. 6 Richarz, Irmintraut, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik, Göttingen 1991, S.  235 ff.; ferner: Bombach, Gottfried u. a. (Hg.), Neuere Entwicklungen in der Theorie des Konsumentenverhaltens, Tübingen 1978; die einschlägigen Beiträge im Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, z. B. Bd.  4, Stuttgart 1978, S. 513–528; Scitovsky, Tibor, Psychologie des Wohlstands. Die Bedürfnisse des Menschen und der Bedarf des Verbrauchers, Frankfurt a. M. 1989; Wiswede, Günter, Soziologie des Verbraucherverhaltens, Stuttgart 1972; Scherhorn, Gerhard, Konsum, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 11, Stuttgart 19772, S. 193–265. 7 S. oben Anm. 1 sowie besonders den Aufsatzband: Teuteberg u. Wiegelmann, Unsere täg­liche Kost. Geschichte und regionale Prägung, Münster 1986. 8 Teuteberg, Hans-Jürgen, Zum Problemfeld Urbanisierung und Ernährung im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Münster 1987, S.  1–36, S. 35: »Sicherlich gab es bei der Nahrungsversorgung weiterhin wie früher starke Ungleichheiten, die nicht nur nach Sozialschichten, sondern auch nach Region und Zeiten zu differenzieren sind.« In der Systematik, ebd., S. 31–33, werden die Veränderungen in den StadtUmland-Beziehungen, die neuen Formen des Großhandels mit Grundnahrungsmitteln und

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einige Aspekte dieser Entwicklung ist weiter unten einzugehen; die wichtigsten seien kurz bezeichnet:9 Wir befinden uns offenkundig zum Ende des Kaiserreichs in der Spätphase des Übergangs von der Natural- zur Geldwirtschaft. Alle vorliegenden, quantitativ operierenden Untersuchungen zeigen übereinstimmend, dass durchschnittlich bis zu 90 Prozent der Lebensmittelversorgung über die Märkte gedeckt wurde. Für die Arbeiter kann das aber ganz anders ausgesehen haben. Ebenfalls befinden wir uns in einer fortgeschrittenen Phase der Entfunktionalisierung der Familienhaushalte, was den Anteil der Selbstversorgung, das heißt insbesondere auch der Selbstherstellung der täglichen Kost angeht. Weniger fortgeschritten erscheint der Strukturwandel des Einzelhandels, aber eine deutliche Spezialisierung nach dem Bedarf der Konsumenten ist zu erkennen. Konzentriert man sich auf die Ernährung, dann spielen die neuen Großkaufhäuser noch kaum eine Rolle; anders sieht das bei den langlebigeren Konsumgütern aus. Fortgeschritten ist schließlich die Entregionalisierung der Märkte. Im Unterschied zur Mitte des 19. Jahrhunderts spiegeln deshalb Preisangaben für Grundnahrungsmittel mit höherer Zuverlässigkeit gesamtwirtschaftliche und -gesellschaftliche Tendenzen wider. Beispielsweise wurde die Fleischteuerung in den Vorkriegsjahren wohl überall und besonders natürlich dort gespürt, wo Fleisch inzwischen einen bedeutenden Anteil der Grundver-

Rohstoffen für die Weiterverarbeitung, die Versorgungseinrichtungen in den Städten, die Folgen der sich arbeitsteilig organisierenden Nahrungswirtschaft für die Haushalte der Individuen sowie schließlich im Allgemeinen die »politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Einflüsse auf die so beschriebene städtische Lebensmittelversorgung« als Forschungsthemen ausgebreitet. Teutebergs zentraler Beitrag über die »Nahrung der sozialen Unterschichten«, der den Weg für alle weiteren Forschungen bereitet hat, diskutiert schichtbezogene Ernährungsdifferenzen nur ganz am Rande (z. B. S. 258) und warnt vielmehr: »Alle Vorstellungen eines einheitlichen Nahrungsverhaltens und uniformer Daseinsverhältnisse greifen … historisch daneben.« Das ist gewiss richtig, blendet aber die Notwendigkeit und das Problem der Messung schicht- oder klassenbezogener Differenzen zu den Verhältnissen und Standards der jeweils anderen Schichten oder Klassen systematisch aus – man fragt sich, warum. Auch in dem Forschungsbericht von Spiekermann, Haushaltsrechnungen, erscheint die »allgemeine und bisher am stärksten beachtete Frage nach der Verbindung von Ernährungsstil und sozialem Status, die schichten-, alters-, geschlechts- und generationsspezifische Unterschiede aufzeigen sollte«, eher am Rande unter vielen (S. 85). Sie bleibt aber für eine gesellschaftsgeschichtliche Fragestellung zentral, ohne dass man die Legitimation einer Ernährungs- und Konsumgeschichte in eigenem Recht infrage stellen müsste. Dagegen diskutiert Uwe Spiekermann in dem (mir vom Verfasser freundlicherweise in Manuskriptform zur Verfügung gestellten) Aufsatz über »Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900– 1940«, Beitrag zum 2. Internationalen Kolloquium zur Kulturwissenschaft des Essens, 1994, (erschienen in: Hans-Jürgen Teuteberg [Hg.], Essen und kulturelle Identität, Berlin 1997, S. ­247–282) sehr ausführlich die Beziehung zwischen regionalen und sozialen Zuordnungen und hält die ersteren mit guten Gründen für maßgeblicher. 9 Jetzt auch die Beiträge im JbWG, Bd.  1, 1994; Montanari, Massimo, Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1993, S. 188–192.

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sorgung einnahm.10 Hinzuweisen ist ferner auf die zum Ende des Kaiserreichs fortschreitende Tendenz zur Industrialisierung der Nahrungsherstellung sowie auf die nicht nur für die Unterschichten, aber besonders für diese, immer wichtigere Tendenz zur Organisierung des Konsums durch Konsumvereine. Ich werde mich im Folgenden auf Essen und Trinken konzentrieren und die weniger entwickelte Bekleidungsgeschichte nur berühren. Die Vorstellung von Ergebnissen der Haushaltsanalyse halte ich knapp, um etwas mehr Raum für die Debatte der Beziehungen zwischen Klassen- und Konsumgeschichte zu gewinnen. Eine weitere Vorbemerkung hinsichtlich der Begriffe »Arbeiter« und »Bürger« ist beinahe obligatorisch. Mit festem Blick auf Generalisierungen muss es gestattet sein, hin und wieder dann doch von den Arbeitern und Bürgern zu sprechen. Unter den erforderlichen Differenzierungen scheinen im Hinblick auf die Konsumgeschichte diejenigen nach regionalen Ernährungsverhältnissen sowie nach Groß-, Klein- und Mittelstadt bzw. Land als bei Weitem die wichtigsten. Sie sind bedeutender als jene nach Berufsgruppen, einzelnen Berufen oder Handwerken und selbst diejenigen nach Qualifikationen. Ferner halte ich vier Haupttypen von Arbeitern für auch konsumgeschichtlich relevant: erstens den Handwerksgesellen, der vielfach noch, wenn auch deutlich abnehmend, in Kost und Logis wohnte und ledig blieb, der immer noch gewisse, wenn auch klar abnehmende Chancen zur Selbständigkeit hatte und der in solchem Fall aus der Betrachtung der Arbeiter verschwindet; zweitens den Gesellen-Arbeiter, der mit handwerklichem Hintergrund in der Industrie arbeitete, deswegen aber keineswegs notwendig Facharbeiter war; drittens den modernen Industriearbeiter, der seit den 1880er Jahren auf dem Vormarsch war und in der Regel den Status eines Angelernten hatte (die Industrielehre wurde erst im Jahrzehnt vor Kriegsausbruch wichtiger); viertens schließlich den Typus des ungelernten zuwandernden Industriearbeiters ländlicher Herkunft und die zahlreichen schwer zu erfassenden Pendlerexistenzen.11 Sehr viel schwerer fällt es bekanntlich, den Bürger in typischen Hauptgruppen zu erfassen: Das sind dann doch meist freie Professionen, Kaufleute und Unternehmer, Beamte und weitere Bildungsbürger, und die Grenze zum Kleinbürgertum erscheint insbesondere bei den Selbständigen und bei den Beamten als außerordentlich fließend. Manches spricht dafür, den Haushalt mit

10 Zur Fleischteuerung wiederum Teuteberg, Nahrung, S.  243–245; zu den politischen Folgen Beckstein, Hermann, Städtische Interessenpolitik. Organisation und Politik der Städtetage in Bayern, Preußen und dem Deutschen Reich 1896–1923, Düsseldorf 1991, S. 161 ff.; zentral: Nonn, Christoph, Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf 1996. 11 Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 273 f.; über die dort angegebene Literatur hinaus die Bielefelder Habilitationsschrift von v. Friedeburg, Robert, Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, mit ausführlichen Erörterungen über das Pendlerdasein in ländlichen Regionen um die Jahrhundertwende.

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Dienstmädchen zum Kriterium zu erheben,12 aber auch hier verschwimmen die Begrenzungen. Die Dienstmädchenhaltung war in den unteren Lagen des »Mittelstandes« eher ein Statusmerkmal, als dass sie durch die ökonomischen Spielräume des bürgerlichen Haushaltes tatsächlich ermöglicht worden wäre, was man leicht daran erkennt, dass viele Lehrer noch Dienstmädchen hielten. Gerade die Funktion als Statusmerkmal deutet jedoch darauf hin, dass der »gespaltene Konsum« im bürgerlichen Haushalt unbeschadet des verfügbaren Spielraums eine Selbstzuordnung zu einem wie immer heterogenen Bürgertum indiziert. Ich lasse die großbürgerlich-großadeligen Haushalte nach dem Beispiel Krupps13 oder mancher fürstlicher Haushalte völlig beiseite, weil die Kenntnis hier bestenfalls singulär ist14 und weil dieser Aspekt klassengeschichtlich nicht im Vordergrund stehen muss. Kulturgeschichtlich könnte er jedoch für den bürgerlichen Haushalt größere Bedeutung haben.

2. Abgesehen von Margarete Freudenthals Studie über den »Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft«15 hat differen­ tielle Haushaltsforschung eigentlich erst, mit einem Vorlauf im Bereich der Arbeiterhaushalte, im letzten Jahrzehnt eingesetzt. Über Arbeiterhaushalte gibt es inzwischen eine reiche Literatur, bürgerliche Haushalte sind erst sehr viel später, mit Ausweitung der verfügbaren empirischen Grundlagen, in den Blick gekommen. Zusätzlich muss man die allgemeine Lebensstandardforschung, also vor allem die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben sowie den Pro-KopfVerbrauch an Nahrungsmitteln in dessen längerfristiger Entwicklung, im Blick behalten.16 Viele wichtige Hinweise zur Entwicklung des differentiellen Arbei12 Wierling, Dorothee, Der bürgerliche Haushalt der Jahrhundertwende aus der Perspektive der Dienstmädchen, in: Pierenkemper (Hg.), Haushalt und Verbrauch, S. 282–303. 13 Borchardt, Knut, Der Unternehmerhaushalt als Wirtschaftsbetrieb, in: Tilmann Buddensieg (Hg.), Villa Hügel. Das Wohnhaus Krupp in Essen, Berlin 1984, S. 10–31. 14 Pierenkemper, Der bürgerliche Haushalt, S. 178 ff. 15 Freudenthal, Margarete, Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft, Frankfurt a. M. 1986 (urspr. 1934). 16 Neben vielen anderen Hinweisen Wiegand, Erich u. Zapf, Wolfgang (Hg.), Wandel der Lebensbedingungen in Deutschland. Wohlfahrtsentwicklung seit der Industrialisierung, Frankfurt a. M. 1982, darin besonders der Aufsatz von Wiegand: Die Entwicklung der Einnahmen- und Ausgabenstrukturen privater Haushalte seit der Jahrhundertwende, S. 155– 236 (dazu die scharfe Kritik bei Spiekermann, Haushaltsrechnungen, S. 73 f.); ferner etwa Zapf, Wolfgang, Die Wohlfahrtsentwicklung in Deutschland seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts, in: Werner Conze u. M. Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1985; Saalfeld, Dietrich, Bedeutungs- und Strukturwandel der Ausgaben für die Ernährung in den privaten Haushalten Deutschlands von 1800 bis 1913, in: Petzina (Hg.), S. 133–148 (die Datengrundlage

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terkonsumverhaltens vornehmlich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges findet man heute in den Untersuchungen von Reinhard Spree17 und Armin Triebel,18 wobei vor allem der letztere wiederholt auch bürgerliche Haushalte gesondert behandelt19 und dezidiert das Problem der sozialen Schichtung und sozialen Ungleichheit, wie es sich aus der Sicht des Konsums stellt, im Blick behalten hat.20 Dem bürgerlichen Haushalt hat sich dann jüngst vor allem Pierenkemper zugewendet,21 wobei gerade hier durch die jüngere Bürgertumsforschung, vor allem auch in geschlechtergeschichtlicher Hinsicht, weitere Differenzierungen möglich sind.22 Die Hauptergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: der ­Tabellen erscheint nicht immer geklärt; es handelt sich offenkundig vielfach um Schätzwerte). Besonders wichtig ist der Aufsatz von Teuteberg, Hans-Jürgen, Der Verzehr von Lebensmitteln in Deutschland pro Kopf und Jahr seit Beginn der Industrialisierung (1850– 1975). Versuch einer quantitativen Langzeitanalyse, in: Teuteberg u. Wiegelmann, Kost, S. 225–280; auch: Brinkmann, Dieter M., Wandlungen des Konsumentenverhaltens im Industrialisierungsprozeß, dargestellt am Beispiel Deutschlands in der Zeit von 1850–1960, Diss. Hamburg 1960; Rettig, Rudi, Strukturverschiebungen der privaten Konsumnachfrage in Deutschland 1850–1913 in: VSWG, Jg. 71, 1984, S. 342–356. Entgegen dem vielversprechenden Titel ganz unergiebig und vor allem konsumgeschichtlich auf stark veraltetem Kenntnisstand: Landau, Karl-Heinz, Bürgerlicher und proletarischer Konsum im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1990. Weitere Literaturhinweise finden sich in Ritter u. Tenfelde, bes. S. 491 ff. 17 Spree, Reinhard, Ökonomischer Zwang oder schichttypischer Lebensstil? Muster der Ein­ kommensaufbringung und -verwendung vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Helga Thomas u. Gert Elstermann (Hg.), Bildung und Beruf, Berlin 1986, S.  159–188; ders., Knappheit und differenzieller Konsum während des ersten Drittels des 20.  Jahrhunderts in Deutschland, in: Hansjörg Siegenthaler (Hg.), Ressourcenverknappung als Problem der Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1990, S. 171–221; ders., Klassen- und Schichtbildung im Spiegel des Konsumentenverhaltens individueller Haushalte zu Beginn des 20. Jahrhunderts – eine clusteranalytische Untersuchung, in: Pierenkemper (Hg.), Haushalt und Verbrauch, S. 56–80. 18 Triebel, Armin, Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums. Haushaltsbudgetierung bei abhängig Erwerbstätigen in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Diss. Freie Universität Berlin 1989, 2 Bde., Berlin 1991. 19 Ders., Ökonomie und Lebensgeschichte. Haushaltsführung im gehobenen Mittelstand Ende des 19. Jahrhunderts, in: Christoph Conrad u. Hans-Joachim v. Kondratowitz (Hg.), Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters, Berlin 1983, S. 273–318. 20 Ders., Soziale Unterschiede beim Konsum im Ersten Weltkrieg und danach – Bruch mit der Vergangenheit?, in: Pierenkemper (Hg.), Haushalt und Verbrauch, S. 90–122. 21 Siehe oben Anm. 5. 22 Meyer, Sibylle, Das Theater mit der Hausarbeit. Bürgerliche Repräsentation in der Familie der wilhelminischen Zeit, Frankfurt a. M. 1982; dies., Die mühsame Arbeit des demonstrativen Müßiggangs. Über häusliche Pflichten der Beamtenfrauen im Kaiserreich, in: Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983, S. 173 ff.; auch Wierling; ferner: Wakounig, Marija, Konsumverhalten des Wiener Bürgertums im 19.  und 20.  Jahrhundert, in: Jahrbuch des Vereins für die Geschichte der Stadt Wien, Jg.  44/45, 1989, S.  154–186 (über drei Wiener Haushalte

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1. Arbeiter- und Bürgerhaushalte weisen selbstverständlich starke Unterschiede auf der Einnahmeseite in deren Bezug zum Ausgabenvolumen der Haushalte auf: Arbeiterhaushalte sind existentielle Haushalte, deren Einnahmen die Ausgaben meist soeben decken, auch wenn sich in dem Jahrzehnt vor Kriegsausbruch sehr kleine Spielräume erkennen lassen. Diese Erkenntnis wird durch die Verschiebung der Ansprüche, also die generelle, unbezweifelbare Verbesserung der Lebenshaltung vornehmlich seit den 1880er Jahren, nicht beeinträchtigt. Sie gilt für alle Arbeitertypen, jedoch im Hinblick auf die Zusammensetzung des Einkommens in unterschiedlicher Weise: Ländliche und kleinstädtische Haushalte weisen ein niedrigeres Volumen und einen höheren Nebenerwerbsanteil auf. Auch scheint hier das Familieneinkommen deutlicher über dem des Haushaltsvorstands zu liegen, was darauf hinweist, dass die generationelle Differenzierung von Haushalten in der Großstadt sehr viel weiter gediehen war. Bürgerliche Haushalte hatten ein viel höheres Einnahmevolumen, das sich zu mehr als vier Fünfteln aus dem Einkommen des Mannes zusammensetzte. Pierenkemper errechnet für 327 insofern identifizierbare bürgerliche Haushalte im Gesamtzeitraum von 1859 bis 1913 ein durchschnittliches Einnahmenvolumen von über 6.200 Mark pro Jahr, was etwa dem Fünf- bis Zehnfachen eines Arbeiterhaushalts entsprochen haben dürfte. Dabei sind die Differenzen zwischen einzelnen bürgerlichen Gruppen ganz erheblich. Sie reichen für einen ersten Zeitraum bis Mitte der 1880er Jahre von den Lehrern an der unteren bürgerlichen Einkommensgrenze über die unteren Beamten und Pfarrer zu den Rentiers, Fabrikanten und Bankiers, schließlich zu den Spitzenverdienern, den höheren Beamten. In der zweiten Phase von der Mitte der 1880er Jahre bis 1913 hat sich die Reihenfolge von den unteren Beamten über die Lehrer und die Kaufleute, schließlich die höheren Beamten und an der Spitze nunmehr die Wirtschaftsbürger verschoben.23 Der Anteil der sonstigen Einkommen, die vor allem aus Vermögen bezogen wurden, lag im Gesamtzeitraum bei 11,8 Prozent und dürfte im Zeitablauf tendenziell zugenommen haben. Im Durchschnitt stand diesen Haushalten, selbstverständlich mit ganz erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Berufsgruppen, ein Anteil von mehr als einem Drittel des Einkommens zur freien Verfugung. Einkommensanteile aus hauswirtschaftlicher Selbstversorgung spielten praktisch keine Rolle mehr. Man kann von Dispositionshaushalten sprechen, in denen in starkem Maße Entscheidungen über die Verwendung erheblicher Einkommensanteile möglich ca. 1860–1940); Sarasin, Philipp, Une coutume barbare, les fonctions significantes de l’argent dans une société bourgeoise vers 1900, in: Genèse. Sciences sociales et histoire, Jg. 15, 1994, S.  84–102 (mit dem Beispiel eines großbürgerlichen Basler Haushalts 1896); ältere Arbeiten etwa aus dem Umkreis des Vereins für Sozialpolitik sind insbesondere bei Pierenkemper, Der bürgerliche Haushalt, zitiert; auch unten Anm. 31. Auf der Grundlage der Manierenbücher in geschlechtergeschichtlicher Erkenntnisabsicht: Döcker, Ulrike, Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1994, S. 119–136. 23 Pierenkemper, Der bürgerliche Haushalt, S. 164, 166.

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wurden und gefällt worden sind. Subsistenz- und Dispositionshaushalte stehen in einem krassen Gegensatz zueinander. 2. Bei der Betrachtung der festen Ausgaben fällt auf, dass die Wohnungsausgaben der Arbeiter meist zwischen 10 und 15 Prozent der Gesamteinnahmen mit steigender Tendenz im Zeitablauf sowie nach der Stadtgrößenklasse lagen; in manchen Städten wurden 20 Prozent und mehr erreicht. Die Überfüllung der großstädtischen Kleinwohnungen war chronisch, und der Mietkostenanteil der Haushaltsausgaben lag bei geringerem Einkommen durchweg höher. Die relativen Ausgabenanteile bürgerlicher Haushalte für die Wohnung waren bei den Kaufleuten etwa gleich, bei den höheren Beamten aber deutlich höher. In allen bürgerlichen Haushalten schlug ein Anteil von fast zehn Prozent für Ausgaben zu Buche, die – als »sonstige Ausgaben« klassifiziert – die Dienstbotenkosten enthalten. Pierenkemper führt die hohen Wohnungskosten vor allem der höheren Beamten auf deren gesellschaftliche Repräsentationsbedürfnisse zurück. Man sollte insbesondere berücksichtigen, dass deren Familien vermutlich in stärkerem Maße in repräsentativen Gebäuden zur Miete wohnten. In der Tat wird in diesen Ausgaben die Tendenz zum repräsentativen Konsum in den bürgerlichen Haushalten bereits deutlich. 3. Diese Tendenz wird durch die feststellbaren Ausgabenanteile von Arbeitern und Bürgern für Kultur und Bildung zum Teil bestätigt; hier liegt das Volu­ men in bürgerlichen Haushalten sehr hoch. Höhere Beamte gaben im Kaiserreich über 20 Prozent für Kultur, Bildung, Freizeit und Reisen aus; Kaufleute hingegen weniger als die Hälfte dieses Anteils. Dass es sich bei ersteren um Bildungsbürger handelt, scheint dadurch bestätigt und materiell dokumentiert. 4. Die Ausgaben für länger lebige Konsumgüter sind zum Teil, als Ausgaben für Mobiliar, in den Wohnungsausgaben enthalten. Im Übrigen werden meist die Kleidungsausgaben getrennt ausgewiesen, ohne dass man erhebliche Differenzen zwischen Arbeitern und Bürgern feststellen kann, sieht man von den Differenzen in den Volumina ab. Das heißt also, dass bürgerliche Haushalte etwa in dem Maße mehr in ihre Kleidung investierten, in dem ihr durchschnittliches Einkommen über dem von Arbeiterhaushalten lag. 5. Bei den Nahrungsausgaben lässt sich im langfristigen Zeitvergleich etwa zwischen der Mitte des 19.  Jahrhunderts und der Zeit vor Kriegsausbruch in den Arbeiterhaushalten die wesentlichste Entwicklung ausmachen. Der Ausgabenanteil für Nahrungsmittel sank von anfänglich rund 70 Prozent auf nunmehr leicht über 50  Prozent in städtischen Industriearbeiterhaushalten. Die Haushalte der eher ländlichen Arbeiter und der Ungelernten erreichten diesen Stand allerdings vor 1914 bei Weitem nicht. Zu erkennen ist auch, dass sich die Qualität der Nahrung verändert und im Ganzen verbessert hat und dass frühere Luxusgüter zum Teil verfügbar wurden. Außerdem änderte sich die Struktur der konsumierten Nahrungsmittel; so drang die Kartoffel weiter vor, das Rindfleisch wurde durch das Schweinefleisch ergänzt und zum Teil verdrängt, wobei allerdings nach wie vor die geringer wertigen Tierprodukte im Arbeiterhaushalt verzehrt wurden. Offenbar nahmen auch die Ausgaben für Milch 100 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

und Milchprodukte zu. Mehlspeisen und Brotausgaben zeigten einen insgesamt stabilen Anteil, aber dahinter konnten sich erhebliche regionale Unterschiede verbergen,24 denn weiterhin waren Mehlspeisen auf dem Lande und im Osten weit verbreitet. Nicht unerheblich war der Anteil der Ausgaben für Alkohol, der zwar stabil blieb, aber, wiederum von regionalen Trinkgewohnheiten ab­gesehen, im Ganzen einen starken Rückgang des Branntweinverzehrs zugunsten des Biers zu zeigen scheint.25 Ganz anders verhielt es sich offenbar mit den Nahrungsmittelausgaben in den bürgerlichen Haushalten. Sie scheinen im Gesamtzeitraum bei etwa einem Drittel der Gesamtausgaben zu oszillieren und zwar mit einer Tendenz zu leicht höheren Anteilen bei unteren Beamten und Lehrern, hingegen zu niedrigeren Anteilen bei den höheren Beamten.26 Der durchschnittliche bürgerliche Haushalt wurde nicht von Nahrungsmittelsorgen erschüttert. Sobald etwa das doppelte Einnahmevolumen eines Arbeiters erreicht wurde, erschien Dienstmädchenhaltung möglich, wie auch aus anderen Quellen überliefert ist.27 In relativ »ärmeren« Haushalten wurden solche Sorgen allenfalls durch den Repräsentationszwang ausgelöst, der so manche bürgerliche Familie im Grenzbereich der Einkommen zu singulär hohem Aufwand anlässlich üblicher Einladungen veranlasste und der durch eher asketische Lebensführung im Alltag ausbalanciert werden musste. Dieser Zwang zur Repräsentation lastete vor allem auf den wirtschaftenden Hausfrauen und hat in der Forschung dazu geführt, von einem »gespaltenen Konsum« bürgerlicher Haushalte zu sprechen.28 Bürgerliche Haushaltsberechnungen zeigen allerdings durchweg mindestens ausgeglichene Einnahmen und Ausgaben und in der Regel einen nicht unerheblichen Sparanteil; tatsächlich gehörten offenbar zwei Drittel der Ausgaben im bürgerlichen Haushalt zum sogenannten »Grundbedarf«, und das weitere Drittel stand für unterschiedlichste, elastische Ausgaben oder zum Sparen zur Verfügung. Dagegen war die Sparquote in 24 Hierzu mit zahlreichen Beispielen Spiekermann, Uwe, Verzehrsunterschiede. Über Genußmittel in Arbeiterhaushalten die knappen Bemerkungen bei Sandgruber, Roman, Genußmittel. Ihre reale und symbolische Bedeutung im neuzeitlichen Europa, in: JbWG, Jg.  1, 1994, S. 73–88, 80. 25 Grüttner, Michael, Alkoholkonsum in der Arbeiterschaft 1871–1939, in: Pierenkemper (Hg.), Haushalt und Verbrauch, S. 229–273; Ritter u. Tenfelde, S. 510–515 mit der weiteren Literatur. 26 Pierenkemper, Der bürgerliche Haushalt, vermerkt für die »beiden großbürgerlichen Gruppen im Kaiserreich«, die höheren Beamten und die Kaufleute, einen erstaunlichen Unterschied der Nahrungsausgaben: 30 Prozent der Gesamtausgaben für erstere, 45,9 Prozent für letztere. Dieser Unterschied, der nicht nur »etwas aus dem Rahmen fällt« (S. 167), bleibt unerklärt und verwundert um so mehr, als »Wirtschaftsbürger« seit den 1880er Jahren an die Spitze der durchschnittlichen bürgerlichen Familieneinkommen rückten. Vgl. auch die Ergebnisse von Wakounig, S. 175–181. 27 Triebel, Ökonomie, S. 293. 28 Wierling, S.  290 ff.; Pierenkemper, Der bürgerliche Haushalt, S.  170f; auch Meyer, Theater, S. 69 ff. über den Zwang zum Sparen, S. 75 über die Opfer, die die Repräsentation nach außen erzwang.

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­Arbeiterhaushalten spätestens seit den 1870er Jahren meines Erachtens rückläufig.29 Vor Kriegsausbruch waren Rücklagen nur in gut gestellten Arbeiterhaushalten möglich. 6. Die Entwicklung der Ausgaben im Lebenszyklus ist von den Haushaltsforschern weniger untersucht worden, stand aber in der Arbeiterforschung zeitweise im Vordergrund der Studien zur Entwicklung des Lebensstandards. Durch die Arbeiten von Hermann Schäfer u. a.30 ist die Diskrepanz zwischen der durch die Berufstätigkeit bedingten lebenszyklischen Einkommenskurve und der familienzyklischen Ausgabenkurve herausgearbeitet worden. Relative Ausgabenfreiheit genoss nur der ledige Arbeiter; die jungen Familien gerieten hingegen, sobald sich die Zahl der Kinder mehrte, in solche Bedrängnis, dass ein auch nur vorübergehender Ausfall des Haupteinkommens sie an den Abgrund der Armut führte. Unterstellt man eine lebensalterbedingte Leistungs- und mithin Einkommenskurve für den Haushaltsvorstand, dann liegt die Phase des höchsten erzielbaren Familieneinkommens deutlich vor der Phase des höchsten Familienbedarfs, der durch die Sozialisation der Kinder hervor­ gerufen wurde. Mit dem Absinken der Einkommenskurve in höherem Alter ging der Kostenbedarf der Familie nicht parallel. Hinzu kam das bedeutend höhere Erkrankungs- und Mortalitätsrisiko bei den Eltern. Unvorhergesehene Kosten, darunter Geburten und Sterbefälle bei den Kindern, konnten darüber hinaus katastrophale Folgen haben. Die wenigen verfügbaren Angaben zur lebenszyklischen Einkommenskurve bürgerlicher Familien weisen solche Schwankungen nicht erkennbar auf. Vielmehr konnte der Beamtenhaushalt durchweg mit gewissen Steigerungen nach dem Anciennitätsprinzip rechnen, und der Haushalt der Kaufleute scheint sich jenseits jedweden Einflusses dieser Art bewegt zu haben.31

3. Die Ergebnisse der schicht- bzw. klassendifferentiellen Haushaltsforschung sind für die Zeit bis 1914 eindeutig. Bei Bürger- und Arbeiterhaushalten stehen sich zwei prinzipiell unterschiedliche, freilich jeweils schattierte Haushaltstypen gegenüber: der Subsistenzhaushalt und der Dispositionshaushalt. Der Subsistenzhaushalt litt durchgängig unter der Ressourcenknappheit; die erkennbaren Ver29 Tenfelde, Klaus, ›… man sparte, sparte und sparte.‹ Einkommen und Auskommen von Dienstboten an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische SparkassenGeschichte, Jg. 6, 1992, S. 101–123. 30 Schäfer, Hermann, Arbeitsverdienst im Lebenszyklus. Zur Einkommensmobilität von Arbeitern, in: AfS, Jg. 21, 1981, S. 237–267; weitere Hinweise bei Ritter u. Tenfelde, S. 529–536. 31 Fürth, Henriette, Ein mittelbürgerliches Budget über einen zehnjährigen Zeitraum, Jena 1907; Meyer, Erna, Der Haushalt eines höheren Beamten in den Jahren 1880 bis 1906, München 1915; aus der jüngeren Literatur besonders Triebel, Ökonomie; Wakounig, S. 169.

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besserungen in der Lage der Arbeiter haben den prinzipiellen Unterschied in Ausgabeverhalten, Nahrungsmittelkonsum und der relativen Bedeutung von Ausgabenanteilen und Haushaltsführung nicht beeinflussen können. Bedingt durch die Ressourcenknappheit lässt sich im proletarischen Haushalt eine gewisse »Gesetzmäßigkeit« des Ausgabenverhaltens feststellen: Gemeint ist weniger die Debatte über das sogenannte Engelsche oder gar über das Schwabesche Gesetz, hier gibt es begründeten Widerspruch, als vielmehr der enge Kontext zwischen Haushaltsgröße und Klassenlage. Grundsätzlich scheint »im großen und ganzen die Klassenlage den Konsumstil zu beherrschen«, und die Haushalte verheddern sich »völlig im Kampf um das schlichte Überleben«, sobald die Einkommen unter eine stets nur ungenau bestimmbare untere Grenze rutschen.32 Neben den Einkommensunterschieden sind es mithin die Unterschiede der Haushaltsgröße, die den Konsumstil der Arbeiter stark beeinflussen. Man kann noch weiter gehen und die maßgeblichen Einflüsse auf das Konsumverhalten nicht durch die unbezweifelbaren Reallohngewinne als vielmehr durch das familiäre Reproduktionsverhalten determiniert sehen. Dieses Reproduktionsverhalten changierte auf einer Skala vom ländlichen, ungelernten und vergleichsweise jungen Arbeiter mit einer sehr großen Kinderschar zum großstädtischen, gelernten, in der zweiten Arbeitergeneration familiengründenden Arbeiter mit nicht mehr als zwei Kindern.33 Was die Dispositionshaushalte angeht, so wäre die Entwicklung der bürgerlichen Einkommen näher zu betrachten. Wir wissen viel zu wenig über die Einkommen in den freien Berufen, während die Beamteneinkommen etwas besser bekannt sind.34 Bei den Beamteneinkommen haben offenbar die unteren Einkommensgruppen relativ gewonnen, die Räteeinkommen wurden insbesondere seit der Jahrhundertwende entsprechend zurückgenommen. Es sei nicht übersehen, dass in weiten Bereichen der bürgerlichen Einkommen, etwa bei den Karrieren der Juristen bis zur Erlangung einer etatisierten Position, scharfe Engpässe herrschten, die nur durch familiäre Netzwerke bzw. väterliche Unterstützungen 32 Spree, Klassen- und Schichtbildung, S. 68. Vgl. auch den schönen Aufsatz von Führer, Karl Christian, Das Kreditinstitut der kleinen Leute: Zur Bedeutung der Pfandleihe im deutschen Kaiserreich, in: Bankhistorisches Archiv, Jg. 18, 1992, S. 3–21. Bollenbeck, Gerhard, Zur Bedeutung der Ernährung in den Arbeiter-Lebenserinnerungen, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, Jg. 14, 1985, S. 110–117, hier S. 114, betont, »wie ausführlich und häufig Essen und Trinken in verschiedenen Situationen« in den Arbeiter-Lebenserinnerungen erwähnt werden; im Gegensatz dazu spiele »die Ernährung in den bürgerlichen Memoiren und Autobiographien eine geringere Rolle«. 33 Mit der weiteren Literatur: Tenfelde, Klaus, Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich, in: GG, Jg. 18, 1992, S. 179–203, s. in diesem Band S. 70–92. 34 Kübler, Horst, Besoldung und Lebenshaltung der unmittelbaren preußischen Staatsbeamten im 19. Jahrhundert. Eine verwaltungsgeschichtliche Analyse, Nürnberg 1976; Halmen, Rainer M., »Das Berufsbeamtentum muß unter allen Umständen erhalten bleiben«. Die deutsche Beamtenbewegung zwischen Etatismus und gewerkschaftlicher Orientierung im Übergang vom Kaiserreich zur Republik, in: Internationale wiss. Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 18, 1982, S. 173–205.

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ausbalanciert werden konnten. Was hingegen die Einkommensverteilung insgesamt angeht, so hat Richard H. Tilly vor einiger Zeit auf der Grundlage der preußischen Einkommenssteuerstatistik für das ganze 19. Jahrhundert eine »deutliche Steigerung der Ungleichheit« und darüber hinaus einen Rückgang der Lohnquote konstatiert; dieses »Mehr an Ungleichheit [war] vor allem eine Folge der überproportionalen Einkommenszuwächse der reichen Kapitalbesitzer«.35 Diese Schere scheint sich insbesondere seit der Jahrhundertwende noch weiter aufgetan zu haben, was durch den Umstand unterstrichen wird, dass die Kaufleuteeinkommen der nachgewiesenen bürgerlichen Haushalte alle anderen bei Weitem überflügelten. Der Konsumstil war, soweit man Haushaltsrechnungen zur Grundlage der Betrachtung macht, eindeutig klassenbestimmt und darin begrenzt. Was die Arbeiter angeht, so wird man für die Zeit des Kaiserreichs im Allgemeinen, aber auch für die Spätzeit mit ihren vergleichsweise deutlichen Verbesserungen des Lebensstandards im Besonderen, die These eines politisch, ökonomisch und auch gesellschaftlich restringierten Konsums vertreten können. Um dies näher zu begründen, müssten die bekannten Grundzüge der Klassengesellschaft im Kaiserreich herangezogen werden. Stattdessen soll anhand einiger Thesen versucht werden, von der Geschichte der Haushaltsrechnungen, die nicht deckungsgleich mit einer Geschichte des Konsums ist, zu dieser und darüber hinaus in allgemeinere gesellschaftsgeschichtliche Dimensionen vorzustoßen.

4. Es scheint, dass die grundsätzliche, eben nicht nur graduelle Differenz zwischen proletarischen und bürgerlichen Haushalten weitgehend strukturgeschichtlich verursacht ist. Nicht nur, dass die Arbeiterklasse  – oder besser: die Arbeiter­ klassen im weberianischen Sinn – im Vergleich zu bürgerlichen Haushalten verspätet zur Haushaltsbildung kamen. Die »Familiarisierung« der Unterschichten setzte erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, bedingt teilweise auch durch rechtliche Konsenspraktiken, mehr jedoch durch ländlich-agrarische Existenzweisen, während in den bürgerlichen Statusgruppen längst sozusagen das Eheprivileg geherrscht hatte und Familienbildung freizügig möglich war. Viel wichtiger war, dass sich die Verspätung bis 1914 in immensen Mobilitätsschüben permanent wiederholte. Infolgedessen wurden anderwärts längst überwundene Familien- und bedingt auch Haushaltsverhältnisse in großen Teilen der Arbeiterklassen anhaltend regeneriert. Wenn man so will, handelte es sich wesentlich um einen ländlich-autoritären Familienmodus, der insbesondere über die große Kinderzahl das Konsumverhalten strukturell determinierte. Am 35 Tilly, Richard H., Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834–1914, München 1990, S. 69, 76, 142 (Zitat).

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konservativen Mobilitätsrand der Arbeiterklassen reproduzierte sich die Subsistenzökonomie des proletarischen Haushaltes immer wieder neu. Für den Typus des jungen, wandernden Ungelernten ländlicher Herkunft traf nicht nur dieser strukturelle Bezug zu, sondern wir haben darüber hinaus stärker mit nachwirkender Prägung durch ländliche Konsumstile zu rechnen, die in der Sozialisationsphase internalisiert worden sind.36 Die Urbanisierung der Konsumstile solcher Haushalte mag im Bereich der konsumierten Nahrungsmittel rasch vollzogen worden sein, wird aber auf dem Felde der sonstigen Ernährungsgewohnheiten, in der Mahlzeitenfolge und in Konsumriten, Kinderkonsummustern und der Privilegierung von Konsumpositionen innerhalb des Haushaltes länger nachgewirkt haben. Bestimmte Präferenzen, etwa der Branntweinkonsum, könnten gerade auf diesem Umweg ihre desaströsen Folgen gezeitigt haben. So gesehen gerät strukturgeschichtlich orientierte Konsumforschung auf das Feld der Alltagsgeschichte, wie es von Alf Lüdtke, in anderer Weise aber auch von Teuteberg u. a. bestellt worden ist.37 Solche strukturinduzierten ländlichen Überhänge waren dem bürgerlichen Haushalt weitgehend fremd; das, was diesen Haushaltstyp mit dem Lande noch verband, war viel eher nahrungstechnisch verursacht und wurde insofern von allen Haushalten geteilt: die saisonale Strukturiertheit des Nahrungsmittelkonsums, die Bewältigung der Vorratshaltung, zum Teil auch die Gartenwirtschaft. Diese erhielt sich zumal im kleinstädtischen Milieu, wo proletarische und bürgerliche Haushalte weit weniger klar zu differenzieren sind und wo der ländliche Nebenerwerb der Arbeiterfamilie noch sozusagen professionelle Züge tragen konnte. Hieraus folgt ein zunächst überraschender Befund. Es könnte sein, dass, entgegen dem durch die dispositive bürgerliche Haushaltsfreiheit verursachten Anschein, die tatsächliche Vielfalt der Konsumstile in den Arbeiterhaushalten viel ausgeprägter war als im bürgerlichen Haushalt. Das betrifft zum einen die von Lydia Morris in einem englisch-amerikanischen Vergleich erarbeiteten Modi der Haushaltsführung:38 Im »wholewage system« war der männliche Haushaltsvorstand allein verantwortlich, aber, und dafür gibt es auch eine Reihe von Hinweisen in der deutschen Überlieferung, die Ehefrau erhielt das gesamte Geld. Dieser Typus überwog bei geringerem Einkommen. Eher bürgerlicher war das »allowance system«, in dem die Ehefrau Haushaltsgeld erhielt, während über 36 Über »Ernährung als Sozialisationsprozeß« etwa Teuteberg, Die Ernährung als psychosoziales Phänomen, in: Teuteberg u. Wiegemann (Hg.), Kost, S.  1–18, hier S.  15 f. Auch ­Scherhorn, S.  227 ff.; Teuteberg und andere Autoren, namentlich von volkskundlicher Seite, haben den vergleichsweise langsamen Wandel der Ernährungsgewohnheiten vielfach betont. 37 Teuteberg u. Wiegelmann, Kost; ferner Lüdtke, Alf, Hunger, Essens-›Genuß‹ und Politik bei Fabrikarbeitern und Arbeiterfrauen. Beispiele aus dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet, 1910–1940, jetzt in: ders., Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 194–209, sowie ders., Kommentar, S. 81–89. 38 Morris, Lydia, The Workings of the Household. A U. S.-U. K. Comparison, Cambridge 1990.

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den Rest des Einkommens und das Vermögen der Ehemann disponierte. Das »joint management system«, in dem beide gleichberechtigten Zugang zum Geld haben, was sich faktisch in der Regel nach der Art der Ausgaben staffelt, ist eine späte Entwicklung, die in England mit der Durchsetzung von »partnership«Ehevorstellungen einhergeht und sich offenbar in Deutschland in den Familien qualifizierter und gut gebildeter Arbeiter, wie Karen Hagemann gezeigt hat, erst in der Zwischenkriegszeit abzeichnet.39 Wir werden im Arbeiterhaushalt eher mit dem Nebeneinander verschiedener Modi der Haushaltsführung zu rechnen haben. Dieser Befund kontrastiert zu der Annahme einer durchweg patriarchalischen Struktur des proletarischen Haushaltes und einer ausschließlichen Zuordnung des Konsumverhaltens auf den Haushaltsvorstand als dem Haupt­ ernährer. Weitere wesentliche Indikatoren des Konsumstils sind soziale Zeit und sozialer Raum.40 Der proletarische Konsum ist arbeits-, und das heißt im Jahrzehnt vor Kriegsausbruch vielfach bereits: schichtzeitorientiert, entfaltet sich also um die Abwesenheitszeiten des Haupternährers im Tages- und Wochenablauf herum. Der so vorgegebene Rhythmus wird durch Familienbe­dürfnisse, die durch die Schulzeit der Kinder bedingt sind, durchbrochen. Bei normaler regelmäßiger Tagesarbeitszeit reduziert sich das Mittagsmahl auf Aufgewärmtes, aber es bleibt als Hauptmahlzeit in Deutschland weitgehend erhalten. Dasselbe scheint im bürgerlichen Haushalt der Fall, aber hier be­ginnt die Mahlzeitenfolge, wenn es sich um den Haushalt eines Selbständigen oder höheren Beamten handelt, in der Regel mit einem ausgiebigen Frühstück am späteren Vormittag. Der Kaufmann, Unternehmer und höhere Beamte speist, wo das räumlich möglich ist, mittags zu Hause, und der Abend kann zu Einladungen genutzt werden. Es scheint, dass hier das Argument des »gespaltenen Konsums« überzogen wird. Die örtliche Führungsschicht in Klein- und Mittelstädten pflegte keineswegs, wie das in Berlin und in den großen Verwaltungszentren eher der Fall gewesen sein mag, die Abende regelmäßig andernorts beim festlichen Dinner zu verbringen. Einen bemerkenswerten Unterschied weist der »soziale Raum« des Konsums im Vergleich von proletarischen und bürgerlichen Haushalten auf. Hier muss auf architektonische Besonderheiten der proletarischen und der bürgerlichen Küche eingegangen werden. Diese Besonderheiten tragen wiederum die Merkmale der Subsistenzökonomie im Gegensatz zur relativen räumlichen Disponibilität der höheren Beamten- und Selbständigenhaushalte. Während vor 39 Hagemann, Karen, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 100 ff. und passim. 40 Kaschuba, Wolfgang, Konsum – Lebensstil – Bedürfnis. Zum Problem materieller Indikatoren in der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, Jg. 17, 1988, Heft 3, S. 133–138, 137 f. Die schematische Gegenüberstellung von »Konsumeinstellungen« höherer und niedrigerer Schichten bei Wiswede, S. 147, wird durch die Befunde des späten Kaiserreichs m. E. nicht gestützt.

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allem, wie Sibylle Meyer betont hat,41 in der Architektur der bürgerlichen Wohnung die Küche ins Abseits geriet bis hin zum »Nichtvorhandensein der Küche in den historischen Quellen«, rückte die proletarische Wohnküche geradezu in den Mittelpunkt des Arbeiterdaseins. Sie blieb dort bis zur Durchsetzung der Wohnmaßstäbe des sozialen Wohnungsbaus, die dann, offenbar vorübergehend, zum Küchenabteil neben dem Esszimmer mit einer Durchreiche führten. Es waren die Kosten des Wohnraums, die die Konzentration des Familienlebens auf die Küche nicht nur als den Ort des Konsums erzwangen. Es handelte sich um den einzigen, auch durch das Kochen beheizten Raum, in dem alle familiären Tätigkeiten unter Einschluss häuslichen Nebenerwerbs vollzogen wurden und in dem oft auch geschlafen wurde. Die Kosten des Wohnraums in größeren und großen Städten, wo Wohnbesitz für Arbeiter beinahe unmöglich geworden war, verminderten denn auch die Unterschiede zwischen den Konsumstilen gut verdienender qualifizierter Arbeiter mit wenigen Kindern und schlecht und unregelmäßig verdienender ungelernter Arbeiter mit vielen Kindern. Darüber hinaus wurde in diesem Küchenkonsumstil ein ländliches und wohl auch kleinbürgerliches Verhaltensmuster ungewollt konserviert. Wiederum erscheint der proletarische Haushalt stärker an die Vergangenheit gebunden. Dies wirkte sich naturgemäß vor allem dort aus, wo, wie im Saargebiet, über Jahrzehnte hinweg die ländliche Bindung des Arbeiterhaushaltes sogar durch sogenannte Sozialpolitik kultiviert wurde.42 Auch der Werkswohnungsbau nahm hierauf Rücksicht, und der ländliche Nebenerwerb in kleineren Ortschaften gruppierte das Wohnen und den Konsum allemal entlang überkommener, tendenziell bäuerlicher Wohnformen. Die scharf unterschiedenen Formen und Erfahrungen bürgerlicher und proletarischer Sozialisation43 kristallisierten sich naturgemäß um diese Konsumräume, die uns deswegen in den Kindheitserinnerungen von Arbeitern und Bürgern sehr unterschiedlich entgegentreten. Es hing überdies mit der bekannten »halboffenen« Familien- und Haushaltsstruktur zusammen, wenn sich der einzige zentrale Raum für Nahrungsherstellung und -konsum in der proletarischen Familie über Schlaf- und Kostgänger sehr viel stärker in die Nachbarschaft und Gemeinschaft der Berufskollegen öffnete – ein im bürger­ lichen Haushalt ganz unbekanntes Phänomen. Es blieb freilich auch im proleta-

41 Meyer, Theater, bes. S. 92 ff., Zitat S. 97; auch: Brönner, Wolfgang, Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830–1890, unter bes. Berücksichtigung des Rheinlandes, Düsseldorf 1987, bes. S. 54–61: von der Küche ist hier nur ganz am Rande die Rede. 42 Hierzu Steffens, Horst, Einer für alle, alle für einen? Bergarbeiterfamilien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Pierenkemper (Hg.), Haushalt und Verbrauch, S. 187–227; im Übrigen zur proletarischen Wohnküche mit weiterer Literatur: Ritter u. Tenfelde, S. 617. 43 Cloer, Ernst u. a., Versuch zu einer pädagogisch-biographischen historischen Sozialisationsund Bildungsforschung. Kindsein in Arbeiter- und Bürgerfamilien des Wilhelminischen Reiches, in: Christa Berg (Hg.), Kinderwelten, Frankfurt a. M. 1991, S. 68–100; die Studie beruht auf Dissertationen der Mitverfasser über Sozialisation in Arbeiter- bzw. Bürger­ familien.

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rischen Haushalt im Wesentlichen auf die drei Jahrzehnte vor Kriegs­ausbruch beschränkt.44 Ein Einladungswesen gab es im proletarischen Haushalt wohl nur begrenzt und umso weniger ein Einladungsunwesen. Repräsentativer Konsum war diesem Haushalt nicht vergönnt. Wenn der Arbeiter sich etwas gönnte, dann verzehrte er zum familiären Sonntagsausflug Kaffee und Kuchen oder nahm im Rahmen des proletarischen Festkalenders im Jahresablauf an einer der recht zahlreichen Vereinsvergnügungen teil. Auch insofern öffnete sich sein Konsum in die Gesellschaft der Gleichbestimmten und Gleichgesinnten, während sich bürgerlicher Repräsentationsbedarf exklusiv im Gabelfrühstück, im gehobenen Restaurant und im erwähnten Diner artikulierte.45 Man mochte hier, wie auch Autoren wie Sibylle Meyer und Toni Pierenkemper nahe legen, neben dem demonstrativen Konsum auch den demonstrativen Müßiggang pflegen, dahingegen befand sich vor 1914, um es im Jargon eines Reichtums­ soziologen zu sagen, »der größte Teil  der Bevölkerung im niedrigen Bereich des Möglichkeitskontinuums«.46 In diesem Sinne war es nur der proletarische Haushalt, der einen echten Freizeitkonsum aus den engen Zwängen der Arbeitszeit heraus entwickelte;47 Müßiggang und Zeitverbrauch in Repräsentation unterschieden sich sehr grundsätzlich von Freizeit als Feierzeit. Differentieller Konsum dokumentierte sich darüber hinaus auf vielen Feldern: im Bereich der Kleidung,48 im Einkaufsverhalten, auch und vor allem in der Wohnungsausstattung. Man wird indessen die Neigung auch von Arbeitern, sich sonntags stattlich zu kleiden, nicht etwa mit Repräsentationsbedürfnis verwechseln dürfen, sondern besser als Streben nach Respektabilität interpretieren; in ihrer Sonntagskleidung orientierten sich Arbeiterinnen und Arbeiter selbst44 Zur familieninternen bzw. gästebezogenen Verteilung der »guten Bissen« z. B. Sandgruber, Roman, Interfamiliale Einkommens- und Konsumaufteilung, in: Peter Borscheid u. HansJürgen Teuteberg (Hg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Geschlechts- und Generationenbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, S. 135–149, sowie Döcker, Ordnung, S. 120 f. 45 Besonders den Ausstellungskatalog von Zischka, Ulrike u. a. (Hg.), Die Anständige Lust. Von Eßkultur und Tafelsitten, München 1993, u. a. S. 230 ff., 249, 261 ff. 46 Schulze, Gerhard, Soziologie des Wohlstands, in: Ernst-Ulrich Huster (Hg.), Reichtum in Deutschland. Der diskrete Charme der sozialen Distanz, Frankfurt a. M. 1993, S. 182–206, hier S.  190; im Übrigen Veblen, Thorstein, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt a. M. 1986, Kap.  III und IV. Zum »Veblen Effekt« etwa Mason, Roger S., Conspicuous Consumption. A Study of Exceptional Consumer ­Behaviour, Westmead 1981. 47 Siehe eine Reihe von Beiträgen in den Sammelbänden von Ruppert, Wolfgang (Hg.), Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt a. M. 1993, und Kift, Dagmar (Hg.), Kirmes, Kneipe, Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle, 1850–1914, Paderborn 1992. Der Beitrag von Sabean, David, Die Produktion von Sinn beim Konsum der Dinge, in: Ruppert (Hg.), Fahrrad, S. 37–51, stellt sich eher als Literaturkritik dar. 48 Köhle-Herzinger, Christel u. Mentges, Gabriele (Hg.), Der neuen Welt ein neuer Rock. Studien zu Kleidung, Körper und Mode an Beispielen aus Württemberg, Stuttgart 1993 (Ausstellungskatalog).

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verständlich an herrschenden Modeströmungen, sofern sie es sich leisten konnten und soweit ihnen über das Medium der Werbung entsprechende Botschaften bereits zuteil wurden.49 Wenn es, wie Ruth Mohrmann50 an Braunschweiger Beispielen gezeigt hat, in gut gestellten Arbeiterfamilien auch bereits zu Formen repräsentativen Wohnens gekommen ist, die sich offenbar über das Sofa vermittelten und eine Neigung zum »besten Zimmer« erkennen ließen, so wird man auch dies weniger aus einem Repräsentations- als vielmehr aus dem Imitationsbedürfnis verstehen müssen, das wir in der Regel als eine der vielen Ausdrucksformen von Verbürgerlichung zu interpretieren haben. Noch war »Geschmack« nicht eine dringliche Sache des Arbeiters  – weder in Sachen Nahrungsmittel, bei denen Unterschichten »Süßigkeiten, starke Gerüche und glatte Stoffe, Oberschichten aber mehr bittere Geschmacksrichtungen, unaufdringliche Gerüche und unregelmäßig rauhere Stoffe« bevorzugt haben sollen,51 noch bei der Kleidung oder gar der normalen Wohnungseinrichtung, die bekanntlich vor 1914 zu allermeist auf einen Leiterwagen passte. Natürlich gewinnt man zumal aus dem Ernährungsverhalten der Arbeiterhaushalte leicht ein »Bild einfallslosen Gleichmaßes«, das sich allenfalls, wegen der straffen Gegensetzung von Arbeitstag und Feierzeit, durch eine Neigung zur »Verausgabung«, gar zum »proletarischen Hedonismus« ergänzte und das einer »konsumptive[n] Vielfalt des mittleren Standes« gegenübergestellt werden könnte.52 Diese Gegenüberstellung ist indessen aus der vergleichenden Betrachtung von Arbeiterhaushalten und solchen des unteren Mittelstandes, der niederen Beamten und Angestellten, entstanden, und sie kontrastiert auch zu dem von Spree betonten Befund, wonach die »Kragenlinie« im Konsumverhalten nicht wirklich stattfand.53 Vermutlich wird aber in der gewiss durch die Quellenlage bedingten Annahme einer relativen Homogenität des proletarischen Haushaltsgebarens und Konsumstils die tatsächliche, trotz der vorherrschenden Subsistenzökonomie familienstrukturell bedingte Vielfalt zumal im StadtLand-Vergleich, in den unterschiedlichen proletarischen Sozialisationskohorten und in regionalen Sonderungen übersehen. Man mag auch, nicht erst durch 49 Im Allgemeinen: Redlich, Fritz, Die Reklame. Begriff  – Geschichte  – Theorie, Stuttgart 1935; ferner Schneider, R., Das Schaufenster als Werbemedium, in: Köhle-Herzinger u. ­Mentges, Welt, S. 275–278. 50 Mohrmann, Ruth, Wohnkultur städtischer und ländlicher Sozialgruppen im 19.  Jahr­ hundert: Das Herzogtum Braunschweig als Beispiel, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Homo habitans, Münster 1985, S. 87–114. Zur »guten Stube« bereits Mende, Käthe, Münchener jugendliche Ladnerinnen zu Hause und im Beruf, Stuttgart 1912, S. 60; besonders Rosenbaum, Heidi, Proletarische Familien. Arbeiterfamilien und Arbeiterväter im frühen 20. Jahrhundert zwischen traditioneller, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Orientierung, Frankfurt a. M. 1992, S. 298. 51 Teuteberg, Ernährung, S. 9. 52 Triebel, Klassen, Bd. 1, S. 396, 402, 404 ff. 53 S. Anm. 17; ferner für die Zwischenkriegszeit: Coyner, Sandra J., Class Consciousness and Consumption: The New Middle Class during the Weimar Republic, in: Journal of Social History, Jg. 10, 1976/77, S. 310–331.

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alltagsgeschichtliche Forschung, die zahlreichen Übergangsformen gerade in den zunehmenden abhängig erwerbstätigen, aber nicht proletarischen Schichten oder auch im selbständigen unteren Mittelstand, im Kleinbürgertum, betonen. Die Klassenbezüge zweier stark unterschiedlicher Konsumstile im Vergleich von Arbeitern und höheren Beamten sowie selbständigen Bürgern treten jedoch recht unvermittelt gegeneinander. Sie verstärken sich noch durch die vergesellschaftenden Wirkungen der je gesonderten Konsumstile. Einiges davon wurde bereits angedeutet: Die pro­ letarische Wohnküchengemeinschaft, die relative Ähnlichkeit der Speisen und Ernährungsgewohnheiten, das Freizeitverhalten auf der einen und die scharfe Trennung von Speisebereitung und -verzehr, der repräsentative Konsum mit seinen scharf abgehobenen Kontaktzonen sowie die deutliche Abkapselung der bürgerlichen Frühstücks- oder Abendgesellschaft auf der anderen Seite. Die über den Konsum vermittelten Netzwerke waren prinzipiell anderer Na­ tur. Seit den 1890er Jahren traten, wie Michael Prinz jüngst betont hat, im proletarischen Konsumverhalten die Konsumgenossenschaften typischerwei­se in den Vordergrund und schufen eine eigene Vergesellschaftungszone, die in manchem gewiss sozusagen bürgerlich eingefärbt war, die aber vor allem Sonderung schuf, eigene Kontaktzonen manifestierte und strukturierte – bis hin zur formellen Organisiertheit.54 Die Konsumgenossenschaften waren gewiss zunächst ein Ausweg der Subsistenzökonomie, also eine der Möglichkeiten, Spielraum zu gewinnen, aber sie waren vor allem, mittels der Organisierung des Konsums, ein wesentlicher Beitrag zur Herausbildung eigener proletarischer Gesellungsformen. Hieran hatten übrigens kleine Beamte, untere Angestellte und Klein­ bürger einen nicht unwesentlichen Anteil, und gewiss kaufte auch so mancher Lehrer gern in den Konsumgenossenschaften ein, sofern ihm diese offen standen. Er mochte es manchmal heimlich tun. Der bürgerliche Konsum blieb hingegen, soweit er nicht über die Nahrungsmittelbeschaffung sowieso durch Personal nachgeordnet organisiert wurde, kultu­rell abgehoben und distinkt. Er entfaltete über die geselligen Konsumformen eher familiäre Intimität und abgekapselte Netzwerke von Kontakten, die sich beruflich und standesgemäß ergeben hatten und die sich in diesen Grenzen über den Konsum festschrieben.

54 Prinz, Michael, Brot und Dividende. Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, Göttingen 1996, S.  236–262; Spiekermann, Uwe u. Stockhaus, Dörthe, Konsumvereins­ berichte  – Eine neue Quelle der Ernährungsgeschichte, in: Reinhardt u. a. (Hg.), Wege, S.  86–112. Es steht auf einem anderen Blatt und kann hier nicht näher erörtert werden, dass die Macht der Arbeiter als Konsumenten, und sei es in der Form der Konsumvereinsorganisation, jedenfalls in Deutschland, mit der Ausnahme der bekannten Bierboykotte, nicht wirklich zu boykottartigen Konsumentenkämpfen geführt hat; van der Linden, Marcel, Working-Class Consumer Power, in: International Labour and Working-Class History, Bd. 46, 1994, S. 109–121.

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IV. Religion und Religiosität der Arbeiter im Ruhrgebiet

1. Einführung Eine einfache Frage stand im späten deutschen Kaiserreich im Vordergrund kirchlich-christlicher Reformbestrebungen: »Wie kann man Kirche und Arbeiterschaft in eine positive Verbindung miteinander verbringen?« Unzählige Male ist diese Frage in beiden großen Konfessionen gestellt worden, und die hier zitierte Form, die ihr der Moabiter Pfarrer Günther Dehn – bekannt geworden als »der rote Dehn« – gab, steht für Zehntausende ähnlicher Fragen.1 Dass solche Äußerungen vornehmlich aus den Reihen einer auch zahlenmäßig nicht unbedeutenden Gruppe jüngerer Geistlicher kamen, die man schon zeitgenössisch gern als »rote Pfarrer«, »rote Kapläne«, apostrophierte,2 kann nicht überraschen. Und es war keineswegs etwa nur das Ruhrgebiet, aus dem sich solche Stimmen hören ließen. Berlin-Moabit gehörte vor 1914 zu den klassischen Arbeitervierteln der Großstadt. 200.000 Menschen lebten dort, von denen, so schätzte ihr Pfarrer, 95 bis 97  Prozent zum »Proletariat« gehörten  – der Rest: eine »pièce de résistance bürgerlicher Eigenständigkeit«.3 Auch für das Ruhrgebiet lassen sich, in beiden Konfessionen, zahlreiche Namen nennen, die sich seit den 1870er Jahren als Arbeiterpriester gezielt den Nöten der schwer­industriellen Beschäftigten zuwandten. Im westlichen Revier machten, nach Kolping und den Gesellenvereinen, schon in der Reichsgründungszeit »rote Kapläne« durch Gründung von »christlich-sozialen« Arbeitervereinen von sich reden. Der soziale Protestantismus bot ein lange Zeit widersprüchliches Bild, und mahnende Stimmen mehrten sich erst etwa eine Generation später. Vereinsgründungen meist in einem preußisch-monarchischen Fahrwasser folgten den katholischen Vorbildern seit den 1880er Jahren, aber kritische Stimmen wie die von Gottfried Traub, dem Pfarrer an der Dortmunder Reinoldi-Kirche, kamen bald auf. Traub erregte 1904 durch ein Buch über »Ethik und Kapitalismus. Grundzüge einer Sozialethik« Aufsehen und wurde 1912 seines Amtes ent­hoben; er ruderte später in rechten Fahr­ 1 Dehn, Günther, Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen, München 19642, S. 164. 2 Vgl. etwa Budde, Heiner, Man nannte sie »rote« Kapläne. Priester an der Seite der Arbeiter, Köln 1989 – ein allerdings ganz unsystematischer Überblick. 3 Dehn, S. 167.

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wassern.4 In ganz anderer Weise in der sozialkritischen Tradition des deutschen Protestantismus verankerte sich, um ein prominentes Bochumer Beispiel zu erwähnen, der, so beschreibt ihn sein Biograf, »judenchristliche« Pfarrer Hans Ehrenberg. Er hatte, lange vor seiner Konversion mit späterem Theologiestudium, noch während des Studiums der Nationalökonomie ein Referat über »Arbeitsteilung und Klassenbildung« verfasst und wirkte im NaumannKreis mit, las eifrig Karl Marx und schrieb (wohl unter dem Einfluss seines Onkels Richard Ehrenberg) seine erste Doktorarbeit 1906 über »Eisenhüttentechnik und der deutsche Hüttenarbeiter«. Sein weiterer Weg als PhilosophieProfessor und, danach erst, Pfarrer in Bochum tut hier nichts zur Sache. In seinem »Laienbüchlein« von 1922 notierte er die Hast und Arroganz, mit der der Arbeiter gerade unter seinen Amtsbrüdern für religionslos gehalten werde  – ohne zu erkennen, dass auch der Arbeiter nach allen seinen zwiespältigen Erfahrungen nach nichts Anderem als seiner »eigenen Religion« strebe: »Die Welt der Arbeit ist vernunftbeherrscht und wunderlos. Der Arbeiter selber ist die Oase in der Wüste.« Und weiter: es sei die Großstadt, der großstädtische »Massenmensch«, bei dem sich die religiöse Frage besonders radikal stelle.5 Arbeiterschicksal und Großstadtschicksal, das war allerdings zweierlei, ich komme darauf zurück. Welcher Art waren die Probleme, vor denen man sich sah? Der schon zitierte Pfarrer Dehn gab eine ganz typische Beschreibung: Obwohl er rund zehntausend Seelen zu betreuen hatte, war seine »Arbeitergemeinde […] nichts weiter als ein frommer Kleinbürgerverein«, in dem es etwa zweihundert »ausgesprochen kirchliche Familien« gab, dazu noch rund vierhundert Familien, »die man als kirchenloyal ansprechen konnte«, »das waren die Festtagskirchgänger«. Wirklich voll war seine Kirche nur zur Christvesper und beim Mitternachtsgottesdienst zu Silvester. Am ersten der hohen Feiertage kamen jeweils 800 bis 1.000 Menschen in die Kirche; an normalen Sonntagen, je nach Wetter, 150 bis 200, etwas mehr im Winter, dann gelegentlich auch Arbeiterfrauen. Mehr kamen zum Kindergottesdienst, aber der sonntägliche Hauptgottesdienst wurde nur von weniger als einem Prozent der Gemeindemitglieder wahrgenommen. »Von den Arbeitern kann man nur sagen, dass sie durchweg nicht in die Kirche gingen«. Zutreffenderweise wehrte sich Dehn mit Vehemenz gegen die Behauptung, das kirchenfern gewordene Proletariat sei »ein Opfer der atheistischen und

4 Friedrich, Norbert, Gottfried Traub  – ein sozialliberaler Pfarrer in Dortmund, in: Günter Brakelmann u. a. (Hg.), Kirche im Ruhrgebiet, Essen 1998, S. 46 f.; vgl. bes. v. Auer, Frank u. Segbers, Franz (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung. Kaiserreich – Weimarer Republik – Bundesrepublik Deutschland, Köln 1994. 5 Brakelmann, Günter, Hans Ehrenberg. Ein judenchristliches Schicksal in Deutschland, Bd. 1.: Leben, Denken und Wirken 1883–1932, Waltrop 1997, S. 18 f., 161–166. – Weitere Hinweise enthält das biografische Sammelwerk »Christen an der Ruhr«, Bde. 1 u. 2 hg. v. Alfred Pothmann u. Reimund Haas, Bottrop u. Essen 1998 u. 2002, Bd. 3 hg. v. Raimund Haas u. ­Jürgen Bärsch, Münster 2006.

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materialistischen Propaganda geworden«.6 Vielmehr: Das kleine östliche Dorf, aus dem fast alle Moabiter gekommen waren, war »eine große Familie« gewesen, »wo alle in einer selbstverständlichen kirchlichen Atmosphäre lebten. […] Hier war nicht Heimat, sondern Heimatlosigkeit in einer öden Straße mit himmelhohen Häusern. […] Sie waren wie Körner im Sandhaufen, die unverbunden nebeneinander liegen.«7 Was nun die durchaus zahlreichen Sozialdemokraten in jener Gemeinde anging: Das »war schon eine seltsame Religion völliger Immanenz mit dem ›Kapital‹ von Marx als Bibel, dem ›Kommunistischen Manifest‹ als Katechismus und der klassenlosen Gesellschaft als dem Reiche Gottes.«8 Das sind die Bilder, die man vielfältig beschrieben findet. Sie waren, nach allem, was wir heute wissen, nicht falsch: Wiewohl man dem 19. Jahrhundert in der jüngeren Forschungsliteratur noch den Charakter einer »zweiten Konfessionalisierung«, also einer wachsenden, kirchengebundenen Religiosität, zugeschrieben hat,9 mag man dies für die Arbeiterschaft nicht gelten lassen. Alle Anzeichen scheinen darauf hin zu deuten, dass diese sich von den Kirchen entfernte und christlich aus Gewohnheit blieb: »Die Volksmasse« sei, so ein Hamburger Beobachter, »vollständig kirchenfremd«, das bürgerliche religiöse Leben sei »viel zu ästhetisch und individualistisch fein, um in die Volksmassen einzudringen«; und wenn auch der Arbeiter »innerlich von der Überlebtheit der Kirche fest überzeugt« sei, so erhebe er doch »am wenigsten Einspruch dagegen«: »Mit verschlossener Seele ringt er an den Problemen über Gott und die Welt.«10 Da sprach offenkundig wiederum ein Protestant. Die bisher zitierten Stimmen entstammten großstädtischen Umgebungen aus der Zeit zwischen Jahrhundertwende und Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In der Großstadt schien alles eindeutig: Es waren die zuströmenden Arbeitermassen gewesen, welche die Religionsprobleme erzeugt hatten, also war es die Industriearbeit mit ihren ganz neuen Existenzbedingungen, welche Kirchen- und Religionsferne erzeugten. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich allerdings schon diese sehr allgemeine Annahme als ungenau, wenn nicht fehlerhaft. Sie vernachlässigt Entwicklungen in den Mittelschichten, im alten Handwerk etwa, unter den Beamten und den an Zahl rasch zunehmenden Angestellten.11 Die 6 Alle Zitate: Dehn, S. 174 f. Vgl. Hitzer, Bettina, Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849–1914), Köln u. a. 2006. 7 Dehn, S. 176. 8 Ebd., S. 171. 9 Vgl. Blaschke, Olaf (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002. 10 Classen, Walther, Großstadtheimat. Beobachtungen zur Naturgeschichte des Großstadt­ volkes, Hamburg 1906, S. 175–177. 11 Ein differenziertes Bild zeichnet etwa Hölscher, Lucian, Die Sozialstruktur der Kirchen­ gemeinde Hannovers im 19. Jahrhundert. Eine statistische Analyse, in: Jahrbuch der niedersächsischen Gesellschaft für Kirchengeschichte, Jg. 88, 1990, S. 159–221.

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Arbeiterschaft wird in solcher Kritik nur blockartig wahrgenommen, ohne nach Herkunft, Ansässigkeit und Migrationserfahrung, Geschlecht und Qualifikation zu unterscheiden. Der Blick auf das Ruhrgebiet kommt denn auch zu anderen Einschätzungen und lässt es fraglich erscheinen, dass Arbeit an sich, als schweißtreibende Lohnarbeit im Rahmen sich zuspitzender gesellschaftlicher und politischer Gegensätze, Religionsferne begründete. Für das oberschlesische Industriegebiet etwa, eine ähnlich stark durch die Montanindustrie geprägte Region, schien immer schon verwunderlich, in welchem Umfang die Arbeiterbevölkerung ihrer Religion treu blieb. Das erklärte sich vornehmlich aus der besonderen ethnischen Zusammensetzung der dortigen Bevölkerungen, aber auch aus kirchlich-reli­giösen Traditionen, den regionalen Herrschaftsverhältnissen und manchem Anderen. Eher scheint, dass die neuen Formen anonymisierter Vergesellschaftung in großstädtischen Straßenschluchten Religionsferne erzeugten, aber solche Straßenschluchten gab es im Ruhrgebiet kaum. Waren die Bergund Hüttenarbeiter in der besonders rasch wachsenden schwerindustriellen Ballungsregion zwischen Ruhr und Emscher »religiöser« als diejenigen, die es in die proletarischen Viertel der neuen Riesenstädte verschlagen hatte? Für diese Annahme gibt es gute Gründe. Das Argument sei in mehreren Schritten entfaltet: Zunächst geht es um die religiöse Landkarte der Region, um Verständnisgrundlagen zu schaffen, sodann will ich die typischen Formen von Religiosität Revue passieren lassen, und schließlich soll es um die langfristigen Wandlungsprozesse gehen.

2. Die »religiöse Landkarte« des Ruhrgebiets12 Bis heute spiegelt die »religiöse Landkarte« des Ruhrgebiets die Spuren seiner territorialen Zersplitterung in der Vormoderne, als sich gemäß den Grundsätzen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 die Konfessionen politisch abgegrenzt hatten: »cuius regio eius religio.« Der Südosten gehörte zur Grafschaft Mark, die seit 1609 preußisch-protestantisch war; im Norden näherte man sich dem katholischen Münsterland; der Westen gehörte zum Rheinland, das katholisch dominiert, aber im Norden stärker protestantisch war. Dabei wiesen zu Beginn des 20.  Jahrhunderts die nun groß gewordenen Industriestädte dank der Zuwanderungen eine deutlich höhere konfessionelle Durchmischung auf, während in den Landkreisen die Ursprungskonfession noch klar dominierte. Mülheim, das zur protestantischen Herrschaft Broich gehört hatte, bezeichnete eine Ausnahme, ganz im Gegensatz zur angrenzenden Stadt Oberhausen, die sich gänzlich den Zuzügen verdankte. Selbst die großen Migrations­ 12 Für die Erstellung der Schaubilder in diesem Beitrag danke ich Frau Julia Riediger, M. A.

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Abb. 1: Konfessionsverteilung im Ruhrgebiet 1910 Entnommen aus: Brakelmann, Günter u. a. (Hg.), Kirche im Ruhrgebiet, Essen 1998, S. 20 (Zahlenangaben: Anteile der Protestanten an der Gesamtbevölkerung).

bewegungen, die seit den 1850er Jahren Hunderttausende in Bewegung versetzt hatten, haben also die konfessionelle Landkarte nur gemildert, nicht beseitigt. Man kann allenfalls sagen, dass, mit Ausnahmen, die Zuwanderung die ursprüngliche Minderheitskonfession jeweils gestärkt hat.13 Die »konfessionelle Landkarte« schwächte sich also ab, aber sie ist bis in die Gegenwart gut zu erkennen: Diese Konfessionskarten für das gesamte Land NRW zeigen für 1950 und 1961, wie wenig sich an der alten, territorial bewirkten Konfessionslandschaft bis weit in die Nachkriegszeit geändert hat. Man kann stets nur von Abschwächung der jeweiligen konfessionellen Dominanz reden. Dies gilt für die katholische Seite bis heute für das Münsterland bis zum Vest Recklinghausen, für das gesamte Rheinland mit Ausnahme des früheren Herzogtums Kleve, für das Paderborner und das Sauerland; aus evangelischer Sicht gilt es für Minden-Lippe/ Detmold und Bielefeld, Teile des Siegerlands und des Ruhrgebiets im Herzen dieser Karten. Dort, im Ruhrgebiet, war 1961 die Abschwächung der bisherigen jeweiligen konfessionellen Dominanz am stärksten fortgeschritten, aber der Überhang der Protestanten im Osten und Süden der ehemaligen Industrie­ 13 Vgl. Tenfelde, Klaus, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 19812, S. 51–53.

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Abb. 2: Konfessionskarten NRW 1950/1961 Entnommen aus: Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen (Hg.), Bevölkerung und Gesundheit in Nordrhein-Westfalen 1950–1964, Düsseldorf 1967, S. 35.

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region, der Katholiken im Westen und Norden mit Ausnahme Mülheims, ist weiter gut zu erkennen. Nimmt man die Großstädte der früheren Montanregion zusammen, dann ergibt sich in der Tat ein beinahe ausgeglichenes Bild: Diagramm 1: Konfessionen im Ruhrgebiet 1950/1987 1950

 2%

6%

8%

1987

5%

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46%

48% 44%

Evangelisch

Katholisch

Keine/andere/keine Angabe

Evangelisch

Katholisch

Andere

Keine

Islamisch

Zusammengestellt nach: Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen (Hg.), Statistisches Jahrbuch Nordrhein-Westfalen, 2. Jg., Düsseldorf 1951, S. 12 f. und 37. Jg., Düsseldorf 1996, S. 44 ff.

1950 sind andere als die Hauptkonfessionen nicht differenziert worden. Diese Notwendigkeit ergab sich spätestens mit der türkischen Zuwanderung seit etwa 1961. Im Jahre 1987 machte sich Religionslosigkeit bereits mit acht Prozent, der muslimische Anteil mit fünf Prozent der Wohnbevölkerung bemerkbar. Das Konfessionsbild milderte sich jetzt also auf beiden Seiten der Großkonfessionen; Konfessionslose, Muslime und Andersgläubige haben seither noch bedeutend zugenommen. Die ungefähre Relation der beiden Großkonfessionen zueinander blieb dabei weitgehend erhalten. Zwar zeichnete sich die katholische Bevölkerung durch eine leicht überdurchschnittliche Gebürtigkeit und geringere Kirchenaustrittszahlen aus, aber diese Stärke ist durch die konfessionelle Zusammensetzung der zahlreichen Vertriebenen und Flüchtlinge, die nach 1945 zuwanderten, ausgeglichen worden: Diese waren nämlich überwiegend evangelisch, unter ihnen spielten Ostund Westpreußen gegenüber den Schlesiern sowie Mitteldeutsche eine wichtigere Rolle. Die nächsten Zuwanderungswellen waren nichtdeutscher Herkunft, 117 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Diagramm 2: Konfessionen der Zuwanderer in das Ruhrgebiet 1951 1% 1%

37% Evangelisch Sonstige

Katholisch Keine

61%

Zusammengestellt nach: Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen (Hg.), Statistisches Jahrbuch Nordrhein-Westfalen 1950/51, 2. Jg., Düsseldorf 1951, S. 20.

und sie fügten sich, wie bei den Italienern und Spaniern, in das mitteleuropäische Konfessionsmuster, oder sie blieben, wie bei den Griechen und Jugoslawen, doch verhältnismäßig unbedeutend, als dass sie, sieht man von einzelnen Gemeinden ab, wichtige Spuren hinterlassen hätten. Ganz anders die Türken. Der Umstand, dass die türkische Zuwanderung, erstens, schon der Zahl nach alle anderen nichtdeutschen Gastarbeiter-Migrationen der Nachkriegszeit überragt, dass sie zweitens einen ganz anderen ethnischen und religiösen Hintergrund aufweist und dass sie, drittens, auch kulturell in fremder Weise verankert ist, birgt bekanntlich eine Fülle von hier nur knapp anzudeutenden Problemen:14 Dem Maße nach bewegt sich diese Zuwanderung längst schon jenseits jener Marge, unterhalb derer Assimilation und Integration erleichtert werden, auch bei fremdethnischen Minderheiten, weil der Aufbau eines distinkten, ethnischreligiösen Milieus nicht gelingen kann. Begünstigt durch weltweit radikalisierte islamistische Strömungen, entwickeln sich seit nunmehr zwei Jahrzehnten auch im Ruhrgebiet abgeschiedene islamische Religionskulturen, welche eine im Detail bisher noch nicht untersuchte Symbiose mit dem Wohnalltag der Zuwanderer eingehen. Anders als bei der polnischen Zuwanderung, die überwiegend in Werkssiedlungen beheimatet wurde, waren türkische Zuwanderer zunehmend 14 Näheres: Tenfelde, Klaus, Schmelztiegel Ruhrgebiet? Polnische und türkische Arbeiter im Bergbau: Integration und Assimilation in der montanindustriellen Erwerbsgesellschaft, in: Mitteilungen des Instituts für soziale Bewegungen, Heft 36, 2006, S. 7–28.

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auf Selbstversorgung im freien Wohnmarkt angewiesen, eingeschränkt nur durch Sozialwohnungen in bedürftigen Fällen. Die damit verbundene Segre­ gation wirkt offenkundig als zusätzlicher Katalysator der Milieubildung. All dies würde sehr viel genauer zu untersuchen sein. Insbesondere wäre zu fragen, ob die vielfach konstatierte Rückwendung der türkischen Zuwanderer zu ihrer Religion zunächst einmal schlicht zutrifft, ob sie gegebenenfalls mit weltweiten Entwicklungen und solchen im türkischen Mutterland zusammenhängt und nach welchen Religionsgruppen sie zu typisieren wäre. Einstweilen lässt sich feststellen, dass sich in einem Punkt Polen und Türken gewiss gleichen: Angesichts kultureller Fremdheit der aufnehmenden Gesellschaft erweist sich die Rückwendung zur Religion, dem traditionellen Werteanker, zunächst einmal innerhalb der Ethnie als stabilisierend. Die außerordentlich weit reichenden Folgen des dargelegten konfessionellen Verteilungsmusters kann ich hier nur andeuten. Es hat zumal die StadtteilKulturen bis in die Gegenwart zutiefst geprägt. Genauer besehen, stehen auch heute noch Wahlergebnisse mit der Konfessionsverteilung in einem engen Zusammenhang. Im historischen Rückblick erweist sich beispielsweise die Frage als wichtig, ob katholische Arbeiter zumal unter den Krisenerscheinungen der Weimarer Jahre stärker zu linksradikalen, evangelische Arbeiter stärker zu rechtsradikalen politischen Strömungen neigten, und zwar jeweils unter dem Eindruck der schwerwiegenden Arbeitsmarktkrisen vor allem seit 1930. Es ist belegt, dass nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch der Nationalsozialismus in den stärker protestantischen Teilen der Region vor 1933 größere Erfolge davontrugen, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen: Während Katholiken stärker ihren Milieus verbunden blieben, neigten protestantische Arbeiter zur politischen Opposition, ganz im Gegensatz zum protestantischen Bürgertum, das konservativ und in geringerem Umfang auch liberal geprägt blieb.15 Die Nationalsozialisten feierten demgegenüber ihre größten Erfolge in protestantisch-kleinbürgerlichen Regionen und Erwerbsgruppen, die von der Krise ins Abseits gedrängt wurden und Vermögensverluste erlitten. So gesehen, muss die berühmte »Sozialdemokratisierung« der Region, die wir seit den späten 1950er Jahren beobachten, in besonderem Maße auf einen Stimmungswechsel gerade der katholischen Arbeiterbevölkerung zurückgeführt werden. Es scheint darüber hinaus, dass dieser Richtungswechsel unter katholischen Arbeitern auf jene soziale Anpassungsleistung in der Schrumpfungskrise der Schwerindustrie zurückzuführen ist, als Gewerkschaften und Sozialdemokraten hohe Glaubwürdigkeit zu entfalten vermochten.

15 Aus der umfangreichen Literatur s. bes. Jäger, Wolfgang, Bergarbeitermilieus und Parteien im Ruhrgebiet. Zum Wahlverhalten des katholischen Bergarbeitermilieus bis 1933, München 1996; Rohe, Karl, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992.

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3. Religiöse Konflikte Kehren wir zu den beiden Großreligionen zurück. Wir leben in einer Zeit, die ganz arm geworden ist an interkonfessionellen Konflikten, aber das darf nicht darüber hinweg sehen lassen, dass dies eine ganz junge Entwicklung ist; Religionskonflikte haben auch das Ruhrgebiet bis weit in die Nachkriegszeit in einem heute kaum nachvollziehbaren Maß geprägt.16 Wir verfügen über eine Unzahl an Berichten über konfessionelle Einfärbungen alltäglicher Konfliktlagen im Zuge der Urbanisierung. Dabei wird ein wichtiges, gerade für das Ruhrgebiet zutreffendes Strukturmerkmal gern übersehen: Diagramm 3: Anteil der Katholiken an den Selbstständigen, Angestellten und Arbeitern im Bergbau und Hüttenwesen sowie an der Bevölkerung in den Großstädten des Ruhrgebiets 1907 in Prozent 70 60

Prozent

50 40 30 20 10 0

Selbstständige Dortmund

Angestellte Gelsenkirchen

Arbeiter Bochum

Bevölkerung Essen

Duisburg

Quelle: Tenfelde, Klaus, Soziale Schichtung, Klassenbildung und Konfliktlagen im 19.  und 20. Jahrhundert, in: Wolfgang Köllmann u. a. (Hg.): Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung, Düsseldorf 1990, Bd. 2, S. 171.

16 Hierauf hat vor allem Günter Brakelmann immer wieder aufmerksam gemacht; s. bes. seine Aufsätze in: Ruhrgebiets-Protestantismus, Bielefeld 1987.

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Die Übersicht zeigt, dass, wie im Deutschen Reich insgesamt, in der Arbeitswelt des Ruhrgebiets Herrschende und Beherrschte weit mehrheitlich unterschiedlichen Konfessionen zugehörten. Knapp gesagt, war die Arbeiterschaft in Bergwerken und Hüttenbetrieben weit überdurchschnittlich, gemessen an der ortsanwesenden Bevölkerung, katholisch, während die Angestellten- und die Unternehmerschaft weit mehrheitlich evangelisch war. Unter den schwerindustriellen Unternehmern ragen allein Klöckner und Thyssen als Katholiken heraus, alle anderen waren, soweit zu sehen, Protestanten. In der Angestelltenschaft machte sich zunächst einmal vermutlich die überwiegend protestantische Herkunft der außerhalb des Ruhrgebiets ausgebildeten Bergbeamten bemerkbar. Man wird vorsichtig sein müssen, wenn man diese Zahlen auf die zeitgenössisch hohe Wellen schlagende sogenannte Inferioritätsdebatte beziehen will.17 Das soll hier nicht geschehen. Zu konstatieren ist, dass innerbetriebliche Auseinandersetzungen, Herrschaftskonflikte, stets auch eine konfessionspolitische Einfärbung trugen. Einen Ausnahmefall, der aus dem Schaubild deutlich hervorgeht, bezeichnet übrigens die Stadt Gelsenkirchen: Emil Kirdorf, Chef der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, favorisierte die Zuwanderung evangelischer Masuren in diese weit überwiegend katholische Stadt, und schon dieser Umstand verweist auf konfessionskämpferische Positionen. Dass diese nicht ausschließlich und vielleicht nicht einmal überwiegend auf innerbetriebliche Herrschaftskonflikte bezogen werden können, hat schon die nach wie vor vorbildliche Untersuchung von Helmuth Croon und Kurt Utermann über »Zeche und Gemeinde« in den frühen 1950er Jahren gezeigt.18 Der untersuchte Ort war ursprünglich stark bäuerlich und weit überwiegend katholisch geprägt gewesen, aber die Zuwanderer machten evangelische Gemeindegründungen erforderlich. Die alteingesessenen »Poalbürger« gingen kaum Mischehen ein, während diese unter Zuwanderern bald üblich wurden. Man schied sich weiterhin nach den Wohnlagen – »als Nachbar kommt ein Andersgläubiger nicht in Frage«, hieß es beispielsweise. Die Scheidelinien setzten sich im örtlichen Vereinswesen fort. Sie beeinflussten das Schulsystem und natürlich das Heiratsverhalten. Die interkonfessionellen Verhaltenskomplexe setzten sich, weil konfessionsbezogene Verhaltensmodi innerfamiliär in die nächsten Generationen vererbt wurden, bis in die Nachkriegszeit fort, um nunmehr allerdings rasch an Bedeutung zu verlieren. Darauf ist zurückzukommen. Leider gibt es keine Nachweise über die Konfession der Beschäftigten im Ruhrgebiet nach der Stellung im Beruf in der Nachkriegszeit. Wir können also nicht mehr feststellen, ob Unternehmer, Angestellte, Beamte und Arbeiter im Ruhrgebiet signifikante konfessionelle Unterschiede weiterhin aufweisen. 17 Vgl. Baumeister, Martin, Parität und katholische Inferiorität. Untersuchungen zur Stellung des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich, Paderborn u. a. 1987. 18 Im Folgenden nach Croon, Helmuth u. Utermann, Kurt, Zeche und Gemeinde. Untersuchun­ gen über den Strukturwandel einer Zechengemeinde im nördlichen Ruhrgebiet, Tübingen 1958, S. 89–93, 160 f., 170 f.

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4. Formen der Religiosität in Arbeiterfamilien Nachdem nun einiges Grundsätzliches über die religiöse Landkarte in unserer Region, über die Dimensionierung des Problems mithin und über das Verhältnis der Konfessionen zueinander auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung gesagt worden ist, soll es nunmehr darum gehen, nach Möglichkeit Typen der Religiosität und des religiösen Verhaltens zu unterscheiden. Es sind im Wesentlichen drei Dimensionen, auf die sich das Augenmerk richten sollte: Da wäre zum einen »Kirchlichkeit« im Sinne kirchentreuen Verhaltens nach den Ge­ boten der jeweiligen Konfession, also kirchengebundene Frömmigkeit. Zweitens geht es um ein besonders schwieriges Forschungsfeld, das der »Christlichkeit«, deren Formen große Streuung aufweisen. Es reicht von der »Volksfrömmigkeit«, in der gar archaisch-vorchristliche Verhaltensmodi nachschwingen können, über lebenszyklisch unterscheidbare Frömmigkeitsformen und häufige bis gelegentliche Kirchen- und Ritusobservanz bis hin zu einer stark individualisierten Grundhaltung, wonach ein ganz im Allgemeinen mit dem Christentum verbundenes Normengefüge als verbindlich anerkannt, aber nicht mit Glaubensinhalten verknüpft wird. Ferner ist, drittens, der Typus der wie immer begründeten, intentionalen Kirchen- und Glaubensferne zu berücksichtigen, der häufiger auch die religionsverbundenen Normsetzungen ablehnt und in der Regel an deren Stelle andere Normgefüge setzt. Es liegt auf der Hand, dass die an zweiter Stelle typisierten Verhaltensformen unsere ganze Aufmerksamkeit verdienen, und es ist doch zugleich merkwürdig genug, dass sich die Kirchen- und Gesellschaftskritik mit gewisser Entschlossenheit jedenfalls in früheren Jahrzehnten trotzdem auf den dritten Typ, die, sagen wir, »Religionslosigkeit«, gestürzt hat. Dank der um die Wende zum 20. Jahrhundert einsetzenden soziografischen Bemühungen der Kirchen steht der Forschung dichtes Quellenmaterial über den Verhaltenstyp »Kirchlichkeit« zur Verfügung,19 und auch der dritte Verhaltenstyp ist ziemlich gut belegt, jedenfalls mit Blick auf das religiöse Verhalten sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiter – auch wenn man dabei starken Zweifel an der Richtigkeit älterer Forschungserkenntnisse hegen muss. In dem Streuungsfeld »Christlichkeit« verfügen wir durchaus über unmittelbare Selbstaussagen20 oder auch zeitgenössische Beobachtungen, selten jedoch über systematische Zuordnungen, so dass große Unsicherheiten bestehen. 19 Vgl. bes. Hölscher, Lucian, Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, 4 Bde. Berlin u. a. 2001; s. ders., Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005; zur »katholischen Soziografie« bes. Ziemann, Benjamin, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975, Göttingen 2007. 20 Vgl. bes. Reuter, Ernst, Lebensgeschichte und religiöse Sozialisation. Aspekte der Subjektivität in Arbeiterautobiographien aus der Zeit der Industrialisierung bis 1914, Frankfurt a. M. 1991; beachtlich: Mösel, Gisela, Religion und Kirche im Urteil von Arbeitermemoiren des 19. Jahrhunderts, Ms. Bochum 1976 (Staatsexamen, vorh. Bibliothek des Ruhrgebiets, Bochum).

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Schließlich wird man, gerade im regionalen Zugriff, neben den zeitlichen Abläufen gewisse berufsbezogene Besonderheiten im Blick behalten müssen. Groß ist die Literatur über die Frömmigkeit des älteren »Bergarbeiterstandes«. Kein Zweifel, dieser Mythos besaß dereinst Realität. Lassen wir einmal die Bergarbeiterunruhen an der Wende zur Neuzeit oder im Harz, in Tirol und Sachsen bis weit in das 18.  Jahrhundert beiseite, da konnte es auch schon einmal gegen die Religion und die Pfaffen gehen, dann scheint das bergmännische Erleben von tiefer Frömmigkeit geprägt, was man, und zwar schon zeitgenössisch, mit den Gefahren im Berufsleben und mit der göttlichen Fügung des Finderglücks für preziöse Erze erklärt hat; mindestens ebenso wirksam dürften die relative Abgeschiedenheit der Fundorte und die Punktualität der Fundstätten sowie die weitgehend ländliche Selbstversorgungslage der Bergleute gewesen sein. Mit dem Aufschwung des Bergbaus im Ruhrgebiet unter preußischer Ägide ist der Frömmigkeitsmythos in das Ruhrgebiet übergegangen und hat dort bis in die vormärzlichen Jahrzehnte feste Wurzeln schlagen können. Davon zeugen das Bethaus im Muttental und die amtliche Verbreitung von bergmännischen Gebets- und Gesangbüchern ebenso wie die Ausbreitung des Barbarakultus, der für sich wohl als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts im Zuge der »Zweiten Konfessionalisierung« gelten kann.21 Selbst wenn das also im Einzelnen zu kritisieren ist, so bleibt doch bestehen, dass scharfsinnige Beobachter ganz unterschiedlicher Herkunft noch zur Zeit der Revolution 1848/49 die Frömmigkeit der Bergleute als stabilisierendes Moment in jenen umstürzenden Ereignissen markiert haben. Friedrich Harkort, Unternehmer aus Wetter, beschwor während der Revolutionsmonate in seinen »Bienenkorbbriefen« jene geradezu musterhafte Frömmigkeit der Bergleute, ebenso wie Wilhelm Heinrich Riehl, der wenige Jahre später ebenfalls auf die Bergleute als konservatives Element »der Beharrung« verwies.22 In dieser Zeit gab es aber im Ruhrgebiet erst rund 12.000 Bergleute und höchstens 1.000 Hüttenarbeiter. Zwanzig Jahre später sah die regionale Welt schon ganz anders aus, denn der Staat selbst hatte durch eine zutiefst säkulare Ordnungsmaßnahme, die Bergrechtsreform, das Standesgefüge aufgelöst und dabei die ehedem selbstverständlichen geistig-gesellschaftlichen Kontexte wohl ganz bewusst mit beseitigt, und außerdem hatten jetzt Zuwanderungen in die Region in einem solchen Maße eingesetzt, dass mancherorts die Zahl der Zuwanderer rasch diejenige der Ansässigen überwog. Es begann die Zeit der Ausgemeindungen und Kirchengründungen, insofern erstarkte die Religionsorganisation sehr wohl, und 21 Vgl. Kift, Dagmar, »Die Bergmannsheilige schlechthin«. Die Heilige Barbara im Ruhrgebiet der 1950er Jahre, in: Der Anschnitt, Jg. 58, 2006, S. 254–263; im Übrigen weiterhin zum gesamten Thema besonders wichtig: Greschat, Martin, Industrialisierung, Bergarbeiterschaft und »Pietismus«. Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte eines Frömmigkeitstyps in der Moderne, in: Pietismus und Neuzeit, Jg. 11, 1985, S. 173–192. 22 Die Nachweise finden sich in Tenfelde, Sozialgeschichte, S. 126 f.

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so spielte mindestens die katholische Kirche im Prozess der gesellschaftlichen Verwurzelung auch der Zugezogenen wenigstens zunächst eine sehr bedeutende Rolle. Das mündete bekanntlich auch in einer kirchlich-religiösen Organisation der Arbeiterinteressen von der christlich-sozialen Bewegung in der Zeit der Reichsgründung bis zur Gründung der christlichen Gewerkschaften Mitte der 1890er Jahre.23 Der Kulturkampf begünstigte diese Bestrebungen ungemein. Ganz neue Verhältnisse bahnten sich indessen seit den 1880er Jahren an. In den folgenden drei Jahrzehnten wanderten Arbeiter und Arbeiterinnen zu Hunderttausenden aus weit entfernten Gegenden des preußischen Ostens zu. Sie waren jedenfalls ländlicher Herkunft und zu einem großen Teil polnischer Nationalität, wenn auch nicht Staatsbürgerschaft. Es ist diese Zeit zwischen den 1880er Jahren und 1914, in der sich das religiöse Problem der Industriearbeiterschaft vollends entfaltete. Es ist dann unter dem Eindruck des Krieges und der Krisenjahre der Weimarer Republik in einem heute kaum nachvollziehbaren Maß politisiert worden, wie unsere Quellen zeigen werden. Unter dem Eindruck dieser Politisierung dürfte so manche Glaubens- und Christlichkeits-Realität verschüttet worden sein, die dann in der Zeit des Nationalsozialismus und in den Nachkriegsjahrzehnten dennoch zutage trat. Glaubt man nämlich den beschwörenden Beobachtungen über »Proletariat und Religion«, welche in der Weimarer Zeit erklungen sind und auch in der Nachkriegszeit belegt wurden, so dürfte, der Tendenz nach, die Arbeiterschaft längst und vollends den Fesseln der Kirchlichkeit entkommen und sich auch der Christlichkeit vollendet entfremdet haben. Das stimmt bis heute nicht. Zu dem, was vorausgesehen und vielfach bereits als gegebenes Faktum konstatiert wurde, zur vollständigen Entfremdung des Proletariers von aller Religion, ist es nie gekommen. Man kann, im Gegenteil, gar von einer überraschenden Persistenz religiösen Verhaltens sprechen. Wenden wir uns deshalb zunächst dem dritten Typus, dem dezidierten Fernstehen von aller Religion, zu. Adolf Levenstein, ein den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie nahe stehender Sozialreformer, veranstaltete, das war für sich ein Pionierwerk der empirischen Sozialforschung, in den Jahren 1907 bis 1910 eine Umfrage, in der es – neben anderem – um Religion und Kirchlichkeit der Arbeiter ging. Die Fragebögen wurden mit Hilfe der freien Gewerkschaften verteilt, so dass davon auszugehen ist, dass weitestgehend eine sozialdemokratisch oder freigewerkschaftlich gesinnte Klientel erreicht wurde. Leider lassen sich die Angaben nicht nach Konfessionen differenzieren, aber die große Zahl der eingegangenen Antworten erlaubt doch die Annahme einer gewissen Repräsentativität. Auch im Ruhrgebiet wurde eine große Zahl von Bergarbeitern befragt, und es zeigt sich, dass dort der Anteil der aus den Kirchen Ausgetretenen unter den 23 Vgl. Bachem-Rehm, Michaela, Die katholischen Arbeitervereine im Ruhrgebiet 1870–1914. Katholisches Arbeitermilieu zwischen Tradition und Emanzipation, Stuttgart 2004.

124 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Tab. 1: Religiosität und Kirchlichkeit sozialdemokratischer und freigewerkschaftlicher Arbeiter (nach Levenstein) Antworten

Anzahl

Prozent

Ruhrgebiet

810

271

33,5

67

8,3

369 45,6

103

12,7

Saargebiet

720

166

23,1

96 13,3

419 58,2

39

5,4

Schlesien

554

215

38,8

207 37,4

126 22,7

6

1,1

2.084

652

31,3

370 17,6

914 43,8

148

7,3

Berlin

419

111

26,5

10

2,4

272 64,9

26

6,2

Forst

734

207

28,2

69

9,4

439 59,8

19

2,6

1.153

318

27,6

79

6,9

711 61,6

45

3,9

Berlin

712

68

9,6

20

2,8

543 76,3

81

11,4

Solingen

696

279

40,1

75 10,8

319 45,8

23

3,3

Oberstein

395

220

55,7

124 31,4

43 10,9

8

2,0

Gesamt

1.803

567

31,6

219 12,1

905 50,1

112

6,2

Insgesamt

5.040

1.537

30,5

668 13,3 2.530 50,2

305

6,0

Anzahl

Prozent

Ich bin ausgetreten

Anzahl

Ich glaube nicht

Prozent

Ich glaube Anzahl

Anzahl Keine Antwort insgesamt

Prozent

Herkunft und Beruf der Befragten

Bergarbeiter

Gesamt Textilarbeiter

Gesamt Metallarbeiter

Quelle: Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 774, dort zusammengestellt aus Levenstein, Adolf, Die Arbeiterfrage. Mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter, München 1912, S. 334–336, 342 f., 351–353.

Befragten besonders hoch, der Anteil der Gläubigen besonders niedrig war. In Schlesien war dies, unter Bergarbeitern, genau umgekehrt, und für das Saar­ gebiet überrascht, dass die Bergarbeiter zwar weit mehrheitlich nicht »an den lieben Gott« glaubten, aber die Konsequenz, den Kirchenaustritt, am stärksten scheuten. Darin zeigen sich Abweichungen, die man gut mit regionalen Beson125 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

derheiten erklären kann: Schlesien wies eine stark gemischtsprachige, fast ausschließlich katholische Bergarbeiterbevölkerung auf, polnische Religiosität war wirksam, die Bergleute wohnten zumeist in ländlichen Streusiedlungen.24 Im Saargebiet gab es mehr Protestanten, und die Region wies eine eigene kirchenkämpferische Geschichte auf. Ein Blick auf die anderen Branchen zeigt, dass sich die Bergarbeiter nicht sonderlich von den Textil- und den Metallarbeitern unterschieden – die Tendenz war in den Branchen gleich, vielmehr wirkten regionale und damit verbundene Unterschiede in der Führungskonfession weit stärker ein. Denn im Wesentlichen handelte es sich bei den Textil- und Metallarbeitern um protestantische Untersuchungsorte, und unter diesen ragte, was das Ausmaß der Kirchenferne angeht, die Großstadt Berlin bei weitem heraus. Auch das Ruhrgebiet war zum Zeitpunkt der Erhebung bereits sehr viel stärker urbanisiert als die anderen Bergarbeiterregionen, so dass die Annahme gestützt wird, dass, stärker als berufliche Eigenheiten, die städtische Lebensweise Einfluss auf das religiöse Verhalten nahm. Das wird durch andere Überlieferungen bestätigt, und es zeichnete sich ja bereits in den eingangs zitierten Wahrnehmungen des Pfarrers Dehn ab, aber zunächst seien diese Ergebnisse mit einigen verbalen Äußerungen garniert, welche sowohl auf Levensteins Umfrage eingingen, als auch in Arbeitermemoiren nachzulesen sind:25 Auch von denjenigen Arbeitern, die angaben, an Gott zu glauben, wurde die Kirche vielfach scharf abgelehnt. Man glaubte dann oft nicht an den Gott der Bibel, sondern an Gott als »Urkraft«, als »Natur«, als »Luft«. Ein gläubiger Bergarbeiter aus dem Ruhrgebiet konnte seinen Gott idealisieren, indem er meinte, dass die sozialen Zustände nicht von Gott, »sondern von der Eigen- und Habsucht der Menschen« geschaffen seien. Oft wurden die Armut und das Elend der Arbeiter als Beweis dafür angeführt, dass es Gott nicht gebe, denn, so schrieb ein Bergarbeiter aus dem Saargebiet, wenn Gott gerecht sei, dann müsse er auch gerecht handeln. Was den Nichtvollzug des Kirchenaustritts angeht, so kehrte eine Äußerung immer wieder: »Bin nicht ausgetreten, aber werde es in nächster Woche oder nächster Zeit tun«. Es verdient Interesse zu sehen, dass in der hier dargestellten Klientel das Ausmaß der festgestellten Glaubensferne in gewissem Umfang mit den Lektüregewohnheiten korrespondierte. Viele Arbeiter gaben an, sie hätten den berüchtigten »Pfaffenspiegel« von Otto von Corvin gelesen, der in den 1860er Jahren Aufsehen erregt hatte; andere erwähnten ­Haeckels »Welträtsel« von 1899 oder Dodels »Moses oder Darwin«, der 1895 schon in 5. Auflage vorlag; etliche Arbeiter hatten Max Stirner, den Anarchisten des Vor24 Vgl. bes. Bjork, James, Industrial Piety. The Puzzling Resilience of Religious Practice in ­Upper Silesia, in: Michael Geyer u. Lucian Hölscher (Hg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland, Göttingen 2006, S. 144–177. 25 Im Folgenden nach Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992, S. 774–777. Eine Auswertung der Ergebnisse Levensteins findet sich auch bereits bei Greschat, S. 184–188. Zu den Arbeitermemoiren s. o. Anm. 20.

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märz, gelesen, andere erwähnten gar Friedrich Nietzsche.26 Verbreitet war die Aversion gegen »die Pfaffen«, eine Aversion, die freilich, denkt man nur an Bayern, nicht zwingend proletarischen Ursprungs ist. Es wiederholte sich aber offenkundig eine Erfahrung, die der Bergarbeiter und Katholik Nikolaus Osterroth in seinen Memoiren festgehalten hat, Memoiren übrigens, denen er den Titel »Vom Beter zum Kämpfer« gab: Die Grubenherren, Osterroth arbeitete zunächst im Pfälzer Tonbergbau, hatten die Arbeitsbedingungen verschärft und vor allem die Akkordsätze nivelliert, und hierzu hatte der örtliche Pfarrer gepredigt, »dass der Arbeitgeber auch eine von Gott eingesetzte Obrigkeit sei, der man gehorchen müsse.« Darauf seien dann die Arbeiter in »hellen Haufen« aus der Kirche ins Wirtshaus gelaufen, »wo sie ganz unchristlich über den Pfaffen schimpften«.27 Die Pfarrer, und zwar in beiden Konfessionen, das waren in der Wahrnehmung der Arbeiter (und sicher weniger der Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen) mit ganz wenigen Ausnahmen Vertreter der Ordnungsmacht, des den Kapitalismus und die Grubenbarone stützenden kaiserlichen Staats, und das war ja nicht unbegründet. Der Katholische Lehrerverband hielt für seine Mitglieder zum Kampf gegen die Sozialdemokratie das folgende Sprüchlein bereit: »Genieße, was Dir Gott beschieden,/Entbehre gern, was Du nicht hast;/Ein jeder Stand hat seinen Frieden,/Ein jeder Stand hat seine Last.«28 Und die Westfälische Provinzialsynode verkündete ihren evangelischen Gemeinden 1890, es sei »Gottes Wille, dass Arme und Reiche, Vornehme und Geringe unterein­ ander sein sollen und das wird keine Macht auf Erden ändern, so wenig wie der Lauf der Sonne am Himmel geändert und der Tod auf Erden abgeschafft werden kann.«29 Kirchenaustrittsbewegungen wurden seitens der Sozialdemokratie nicht etwa als parteieigene politische Ziele propagiert, wohl aber, und zwar zweimal im Kaiserreich, von prominenten Parteimitgliedern favorisiert und organisiert: in den 1870er Jahren bereits von Johann Most, kurz vor Ausbruch des Weltkrieges dann von Karl Liebknecht und anderen. Nur die letztere hat offenbar Folgen gezeitigt, allerdings vorwiegend im Raum Berlin – im Ruhrgebiet herrschten noch ganz andere Verhältnisse, und überhaupt sollten Kirchenaustritte erst nach 1918 eine größere Rolle spielen. Lange zuvor hatte jener Denk- und Verhaltensmodus, wonach Sozialdemokraten aller Religion fern stünden, in den Köpfen der Sozialdemokraten selbst wie auch ihrer Beobachter in den an­ 26 Hierzu: Nipperdey, Thomas, Religion und Gesellschaft in Deutschland um 1900, in: HZ, Bd.  246, 1988, S.  591–615, 605; siehe auch ders., Religion im Umbruch. Deutschland ­1870–1918, München 1988. 27 Osterroth, Nikolaus, Vom Beter zum Kämpfer, Berlin 1920, Wiederaufl. Bonn 1980, S. ­131–135. 28 Zit. n. Saul, Klaus u. a. (Hg.), Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871–1914, Königstein u. a. 1982, S. 259. 29 Zit. n. Brakelmann, Günter, Konfessionelles Bewusstsein im werdenden Ruhrgebiet 1870 bis 1918, in: ders., Für eine menschlichere Gesellschaft, Bd. 2: Historische und sozialethische Vorträge, Bochum 2001, S. 100–119, 105.

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deren, loyalen, konservativen, kirchlichen und bürgerlichen Lagern feste Wurzeln gefasst. Ergebnisse wie diejenigen, die Levenstein vorgestellt hatte, zementierten also geradezu den Eindruck, dass »Proletariat« und »Religionslosigkeit« in Eins fielen. Nicht nur das Ruhrgebiet, aber gerade das Ruhrgebiet schien hierfür dis­ poniert – und das umso stärker, als seit 1919 gerade hier die politische Spaltung der Arbeiterschaft zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten sichtbar wurde. Im »Wilden Westen« Deutschlands schien das Schicksal der Religion besiegelt. Alexander Graf Stenbock-Fermor, der zu Beginn der 1920er Jahre 13 Monate als Bergarbeiter im Ruhrgebiet verbrachte und darüber ein Buch schrieb, vermerkte aus einem Gespräch unter Bergarbeitern lakonisch, Religion sei »heute ein Verdummungsmittel für das Kapital«.30 Paul Piechowski resümierte 1927 in einem Buch über die religiöse Gedankenwelt der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterschaft: »In voller Tiefe und Breite klaffen Kirche und Proletariat auseinander.«31 Gertrud Staewen-Ordemann, die sich in einer ausführlichen Untersuchung der ungelernten Großstadtjugend widmete, befand, was Kirche und Arbeiter anging, ganz ähnlich, dass »der Anblick der Öde eines vollständigen Trümmerfeldes […] durch nichts mehr überboten werden« könne: »Nirgendwo« wirke sich »die Zerstörtheit, die Not des proletarischen Lebens anders als religionstötend aus«, und das werde auch von der Jugend selbst so empfunden.32 Und Gertrud Hermes, die 1926 ein beachtliches Buch über »Die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters« veröffentlichte, hielt zwar die dem marxistischen Arbeiter eigene »teleologische Weltansicht« für eine »mögliche Voraussetzung einer religiösen Welt an sich«, aber sowohl das Solidaritätsbewusstsein als auch die Erwartung der klassenlosen Gesellschaft trügen »keinen religiösen Unterton«. Auch wenn die Erwartung des »neuen Menschen« in der klassenlosen Gesellschaft von den Arbeitern »stark und freudig bejaht« werde, so dass sich im Glauben des Arbeiters »wesentliche Gehalte« ergäben, »die in die Richtung des religiösen Erlebnisses weisen«, so dürfe diese Feststellung doch nicht darüber hinweg täuschen, dass dies mit der »Heilserfahrung als letztem innerseelischem Grund« nicht in Einklang zu bringen sei.33 30 Stenbock-Fermor, Alexander Graf, Meine Erlebnisse als Bergarbeiter, Stuttgart 1928, S. 114. 31 Piechowski, Paul, Proletarischer Glaube. Die religiöse Gedankenwelt der organisierten deutschen Arbeiterschaft nach sozialistischen und kommunistischen Selbstzeugnissen, Berlin 19286, S. 225. 32 Staewen-Ordemann, Gertrud, Menschen der Unordnung. Die proletarische Wirklichkeit im Arbeitsschicksal der ungelernten Großstadtjugend, Berlin 1933, S. 172. – In dem Buch von Franzen-Hellersberg, Liesbeth, Die jugendliche Arbeiterin, ihre Lebensweise und Lebensform, Tübingen 1932, geht es nur noch um »Unsachlichkeit«, »Materialismus«, »Zukunftslosigkeit«, »Hilflosigkeit in äußeren Dingen«, »moralische Abhängigkeit«, »unklares Selbstbewusstsein«, »fehlende Eigenform« und um »erotischen Ausgleich«, von Religion und Kirchen ist nicht die Rede. 33 Hermes, Gertrud, Die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters und die Arbeiterbildungsfrage, Tübingen 1926, S. 191 f.

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Der Pessimismus in Sachen Religion und Arbeiterschaft saß tief. Das stimmte, in den Krisenjahren der Weimarer Republik, überein mit der generellen Erwartung des Ausklangs der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie etwa von Ernst Jünger formuliert worden ist. Mit den empirischen Befunden dürfte es in keiner Weise in Einklang zu bringen sein. Allein schon die Wahlergebnisse, welche die Linksparteien in jenen Jahren im Ruhrgebiet erzielten, hätten davor warnen müssen, jene hybride Herrschaft des religionslosen Proletariats für beinahe schon normal zu halten. Alles blickte auf die »geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters«, welche sich ja in schöner Übereinstimmung mit dem realen Bild vom Elend des Arbeiters zu befinden schien. Es ist aber nicht das Elend, das den Glauben an Gott zerstört. Von den 450 bis 500.000 polnischen und masurischen Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich bei Kriegsausbruch im Ruhrgebiet befunden haben, wird man sicher nicht sprechen dürfen, wenn es um Religionsverlust geht – ganz im Gegenteil. In der gesamten Forschung über die polnische Zuwanderung34 wird, so umstritten manches darin ist, das klare Bekenntnis zu einem sicher nuancierten polnischen Nationalkatholizismus übereinstimmend konstatiert. Es steht auf einem ganz anderen Blatt, dass die katholische Amtskirche im Ruhrgebiet den Polen zeitweilig widersprüchliche Behandlung zuteil werden ließ und mit gewisser Skepsis die Aktivitäten hinzu gereister polnischer Priester beäugte – an ihrer tiefen Religiosität lässt gerade das Vereinsleben der Polen keinen Zweifel. Von den Masuren wird berichtet, mit welcher Inbrunst sie sich zutiefst protestantisch gestimmten Gebetsgemeinschaften zuwandten und ihr eigenes Vereinsleben dem protestantischen Kaiser und preußischen König widmeten. Freikirchliche Sonderformen einer mehr oder weniger organisierten, oftmals den »Amtskirchen« fern stehenden Religiosität scheinen gerade unter evangelischen Zuwanderern viel Zuspruch gefunden zu haben, aber diese eigene »Frömmigkeitsstruktur« reichte auch »tief in den kirchlichen Raum hinein.«35 Diese Beobachtungen veranlassen dazu, hinsichtlich des religiösen Verhaltens der Zuwanderer gerade nicht, wie das schon in der Zwischenkriegszeit geschah, von »Entwurzelung« zu sprechen: Allem Anschein nach orientierte sich der Werthorizont der Zuwanderer in deren erster Generation gerade wegen der tagtäg­ lichen Herausforderungen der neuen, industriell-urbanen Umgebungen am Hergebrachten, und das hieß: Glaube, auch Kirche, jedenfalls Religion. Wir dürfen also ohne Einschränkung mindestens der fremdethnischen Zuwanderung Religiosität zusprechen. Anderes gilt sicher für die immer schon oder bereits seit längerem ansässigen Berg- und Hüttenarbeiter-Bevölkerungen und für die Zuwanderer aus urbanen Räumen. Wie Wilhelm Damberg »Gründerboom« im Ruhrgebiets-Katho­ 34 Vgl. die Hinweise in Tenfelde, Schmelztiegel. 35 Bes. hierzu s. Greschat, Zitat S.  179, vornehmlich am Beispiel der Gemeinden in Gelsen­ kirchen.

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lizismus festgestellt hat:36 Kirche erstarkte, und zwar auf drei Wegen: durch den teilweise überraschend eiligen Ausbau des Laienkatholizismus im, aus klerikaler Sicht, gewiss nicht »Einwand-freien« kirchlichen oder kirchennahen Vereins­wesen, das die Diözesan-Schematismen minutiös erfasst haben, zweitens durch die Verwurzelung der Caritas, namentlich in den Händen der sehr regsamen Frauenorden, drittens dann durch Ausgemeindungen, Pfarrgründungen und Kirchenbauten in großer Zahl. Beide Kirchen waren regsam bemüht, den Zustrom an Seelen zu ordnen. Gewiss geschah dies mit  – von örtlichen Umständen abhängiger, oftmals den Betroffenen schwer erträglicher  – zeitlicher Verzögerung, aber es geschah, und es beeindruckt den Historiker durch imponierende Tatkraft. Es geschah stets im Nachvollzug gesetzter Tatsachen, aber mit Unterstützung aller örtlichen Kräfte, zumal aller Gemeindevertretungen und Kirchengemeinden, und diese befanden sich selbstverständlich fest in »bürgerlicher«, teilweise noch in »poalbürgerlicher« Hand. Es geschah vor allem mit geldkräftigem Einfluss der Zechen- und Hüttengesellschaften, die, Alfred Krupp bewies es in seinen wiederholten »Worten an die Arbeiter«, von der System stützenden Funktion fester religiöser Bindungen wussten. Keine neue Kirche dürfte ohne großzügige Mitwirkung der örtlichen Zechen- oder Hüttengesellschaft entstanden sein. Gelegentlich wetteiferten die großen Industriemagnaten des Reviers in einer oft Impulse setzenden Unterstützung des Kirchenbaus, und einige von ihnen, etwa Alfred Krupp und Friedrich Grillo, taten dies gleichermaßen für beide Konfessionen. In der Auseinandersetzung über die religiöse Obhut über die Arbeiterinnen und Arbeiter gab es gewisse Unterschiede zwischen den Konfessionen. Nicht im Kirchenbau, wohl aber beim Vereinswesen hinkten die Evangelischen hinterher, auch, weil sie sich nicht jener zweifelhaften Segnungen des Kulturkampfes hatten erfreuen können, der den Katholiken das Odium von Staatsfeinden verliehen, die Kirchen- und Religionstreue damit gestärkt und katholischen Vereinsmitgliedern das Gefühl und Wissen vermittelt hatte, dass der Glaube an Gott über allem stehe, und gerade auch über dem protestantischen Bismarckstaat. Für den Aufbau einer weiblichen Caritas waren die Voraussetzungen im Protestantismus schlechter. Auch zerfaserte dieser an den Rändern, aber die Resonanz freikirchlicher bis pietistischer Strömungen in der Bergarbeiterschaft belegt, wie in ganz anderer Weise die Entwicklung der Freidenker-Vereine besonders nach 1918 und am Rande der Sozialdemokratie, dass, sozusagen, religiöse Diversifikation stattfand, vor allem aber, dass religiöse Bedürfnisse fortbestanden. Niemand hat bisher über die Freidenker im Ruhrgebiet geforscht!

36 Vgl. Damberg, Wilhelm u. Tolksdorf, Wilhelm, Gründerboom und leere Kirchen. Geschichte und Zukunftsperspektiven der Pfarrgemeinden im Bistum Essen, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Religion in der Gesellschaft. Ende oder Wende?, Essen 2008, S. 67–82; für die protestan­ tische Seite zahlreiche Beispiele in Brakelmann u. a. (Hg.), Kirche im Revier, passim.

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Unübersehbar begünstigte die eigene, polyzentrische Struktur der schwer­ industriellen Urbanisierung im Ruhrgebiet den Einfluss der Kirchen. Anders als in Hamburg, Breslau und besonders Berlin, legte sich ein neues Netz von Gemeinden nicht über hoch wachsende Mietkasernen, sondern umgriff wachsende Kirchdorf- und Vorort-Strukturen, welche, die werkseigenen Berg- und Hüttenarbeiterkolonien umschließend, gleichsam natürliche, bis heute gültige Grenzen zogen. Pfarrgrenzen durchschnitten also nicht etwa Häusermeere, sondern stützten und stärkten diejenigen alltagstauglichen Netzwerke, welche durch die bauliche Entwicklung um die neuen Arbeitskerne herum entstanden waren. Und in diesen neuen Kirchen traf man sehr bald ganz überwiegend Seinesgleichen. Im Meer der Vororte verdünnten sich die ehemaligen bäuerlich ebenso wie die stadtbürgerlichen Religionsgewohnten überaus rasch. Natürlich war das anders in den gewachsenen Großstadtkernen von Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund. Dort behielt eine bürgerliche Stadtfrömmigkeit das Heft, sprich, die Kirche, eher in der Hand. Aber es lässt sich im Ganzen doch sagen, dass die strukturellen Voraussetzungen für Kirche und ­Religiosität so schlecht nicht waren im Revier. Sicher sagt dies noch wenig über deren Akzeptanz. Was aber das Arbeiterverhalten in Sachen Religion angeht, so gibt es zwar bis in die Nachkriegszeit keine verlässlichen Daten, sieht man von den üb­lichen Hinweisen auf Gottesdienst- und Kommunionsfrequenz ab. Es gibt aber eine Fülle von Hinweisen, die davor warnen lassen, jene zutiefst bürgerliche, am Staatsfeind »Sozialdemokratie« oder gar »Marxismus« geschulte Kritik eines seelen- und religionslosen Proletariats unbesehen auf die Industriearbeiter-Bevölkerungen im Ruhrgebiet zu übertragen. Die fremdethnische Zuwanderung ist, wie erwähnt, sowieso als ein Sonderfall betonter Religiosität davon aus­ zunehmen. Die alte »ständische« Bergarbeiterfrömmigkeit finden wir im Süden des Reviers noch lange bewahrt. Es war in Niederwenigern, dem Ort des Nikolaus Groß, wo einer der frühesten katholischen Knappenvereine entstand, und nach Kolping bei den Gesellen waren diese Vereine bis in die 1880er Jahre äußerst erfolgreich, gefolgt von Josefsvereinen auch für Nichtbergleute, allesamt überaus kirchentreu, und wenn denn einmal gegen einen missliebigen Präses gemurrt wurde, dann blieb das durchaus lokal. In den Zeiten des Kulturkampfes gelang es mühelos, dem oft autochthon entstandenen bergmännischen und Arbeitervereinswesen der Katholiken die Präsides-Verfassung, also die formelle Einsetzung des Gemeindepfarrers als Repräsentanten des Vereins, diesen Gebilden über zu stülpen. Alle diese Vereine schützten und stützten den pfarr­ gemeindlichen Verbund und pflegten ihn. Sie trugen das Kirchenjahr in die Öffent­lichkeit, bei Prozessionen und anderen Kirchenfesten; sie schmückten die Kirchen allsonntäglich und umhüllten ihre berufliche Sonderung mit demonstrativer Frömmigkeit.37 37 Vgl. bes. Kroker, Evelyn u. Werner, Solidarität aus Tradition. Die Knappenvereine im Ruhrgebiet, München 1988.

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Das katholische Milieu, in dem solche Alltagsdeutung bis weit in das 20. Jahrhundert den Arbeiter umfing, zementierte sich in der Bismarckzeit und blieb stabil bis in die frühe Nachkriegszeit. Seine gewerkschaftliche Speerspitze blieb auch nach 1918 eine bedrohliche Herausforderung für den freigewerkschaft­ lichen Verband. Eine Zäsur lag um 1890, als die Sozialdemokratie wieder agieren durfte, und die Herausforderungen der nun dem Höhepunkt zustrebenden Zuwanderungen ins Revier trafen beide Seiten. Hier möge man sich, bevor man der These vom religionslosen Proletariat folgt, vergegenwärtigen, wer diese Zuwanderer waren. Alle, nicht nur die Polen, befanden sich im »Wanderungsalter« zwischen 20 und 35 Jahren und waren weit überwiegend männlich. Das ist wohl das Alter auch der religiösen Selbstfindung, ein Alter, in dem, »cherchez la femme«, das hinein erzogene Wertebild so manche Herausforderung erfährt. Die Zeit zwischen 1895 bis 1914 bezeichnet die stärkste Wachstumsphase der Region überhaupt, und es kamen nur junge Menschen, die nicht nur von den »Poalbürgern« längst nicht mehr verstanden wurden, die aber vor allem nach einem strebten: Sicherheit, Familienbildung, fast immer im Schoß der Kirchen, und deren äußere Lebensumstände sie, man denke an das Kost- und Schlaf­ gängerwesen und an die nachbarlichen Lebensformen in den Werkskolonien, nach beschwerlicher Schichtarbeit nicht eben in die Kirchen drängten. Trotzdem, eine Autorin wie Li Fischer-Eckert, der wir eine für die Zeit großartige Studie über die Frauen im Hamborn verdanken, war nach Darlegung all des vorgefundenen Elends genötigt einzuräumen, dass, 1913, »die Katholikinnen, die in großer Überzahl in der Gemeinde vorhanden sind, […] in die Kirche« gingen, »weil es ihnen Gebot ist und die wenigen Protestantinnen, die ich traf, verhielten sich flau und ablehnend. Die katholischen Frauen sind fast alle im Mütterverein organisiert«, und die Polinnen gingen »überhaupt viel öfter als vorgeschrieben zur Kirche«. Und dann: »Überhaupt trat mir das Bedürfnis nach Gerechtigkeit in auffallender Weise häufig entgegen.«38 Dabei war Hamborn, wo die jüngste Zuwanderung binnen kürzester Zeit ins Riesenhafte, tatsächlich bis hin zu großstädtischen Dimensionen, angewachsen war, nicht eben ein Zentrum des katholischen Vereinswesens. Diese Zentren lagen im katholischen Süden des Reviers und in den Hellwegstädten.39 Einem ortsansässigen Verein beizutreten, das war vermutlich nicht der erste Akt der Eingewöhnung, den ein jugendlicher Zuwanderer auf sich nahm; in den Verein lässt man sich aufnehmen, wenn die Familie gegründet ist, Kinder sich eingestellt haben, Bindungen und Beziehungen vertieft werden – oder man geht hinein, weil die Eltern es wollen und der Pfarrer dahingehend wirkt. Haffert schätzt in seinem Buch über die katholischen Arbeitervereine, dass im Ruhrgebiet um 1925 etwa 17 Prozent der katholischen Arbeiter einem katholischen Arbeiter38 Fischer-Eckert, Li, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrie­ort Hamborn im Rheinland, staatswiss. Diss. Tübingen, Hagen 1913. 39 S. hierzu und zum Folgenden Haffert, Claus, Die katholischen Arbeitervereine Westdeutschlands in der Weimarer Republik, Essen 1994, S. 23–43, zu Hamborn etwa S. 40.

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verein angehörten, und wo es im öffentlichen Raum ganz katholisch herging, lagen die Zahlen viel höher: in Osterfeld fast 30 Prozent, in Sterkrade 25 Prozent, in Duisburg, Essen, Bottrop, Gladbeck, Buer und Horst, in Lünen und übrigens auch in Witten bei 20 Prozent, im Landkreis Recklinghausen wieder bei 25 Prozent. Die Mitgliederzahlen der christlichen Gewerkschaften sind darin nicht berücksichtigt, sie lagen deutlich höher! Das waren Organisationsgrade, zu denen der freigewerkschaftliche Bergarbeiterverband hätte emporblicken müssen, hätte er denn darauf geblickt. Und diese Vereine nahmen rege Teil am kirch­ lichen Leben, ja, sie prägten das Gemeindeleben nach außen. Wir dürfen unterstellen, dass gläubige Menschen auf diese Weise mitwirken wollten. Daten wie diese erlauben die Annahme, dass das katholische Milieu un­ gebrochen die Weimarer Jahre durchschritt. Die Milieuorganisationen wuchsen gar noch, was im Übrigen auch für den sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Milieukomplex gilt. Auf beiden Seiten, für die Katholiken jedoch in zögernden Schritten, brachte die nationalsozialistische Gleichschaltung seit dem Frühjahr 1933 einen unglaublichen Opfergang.40 Zu erwähnen ist, dass es auch dem katholischen Milieu zwar besser als dem sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen, aber doch letztlich ganz unzureichend gelang, die nachwachsende Arbeiterjugend zu organisieren. Kriegs-, Inflations-, Besatzungs-, Rationalisierungs- und dann Weltwirtschafts-Krisenerfahrungen drängten die Jugend nach links und rechts außen. In nur einem Jahrzehnt, von 1922 bis 1932, sank die Belegschaft im Ruhrbergbau von dem Allzeit-Höhepunkt von 550.000 auf 240.000. Wir sind, leider, nicht imstande, über die evangelische Seite des Ruhr­gebiets entsprechend zuverlässig zu berichten, und das liegt auch in der Sache begründet: Die evangelische Arbeitervereins-Bewegung entstand im Wesentlichen aus den frühen interkonfessionellen Auseinandersetzungen im Bochumer Raum während der 1880er Jahre und verfestigte sich ab 1890, blieb aber aus einer Reihe von Gründen viel schwächer, und sie zerriss sich überdies über die Frage der Arbeiterautonomie, sprich: des Streikrechts, das ja auch bei den Katho­liken sehr wohl umstritten war. Ihr dürfte nirgends eine den katholischen Arbeitern vergleichbar fest verknüpfte Loyalität gelungen sein. Aber das kirchliche Leben in den – einerseits wegen des Gründungsdatums, andererseits wegen der Verjüngung der Gemeindebevölkerungen auch in den Altgemeinden – stets sehr jungen Gemeinden blühte in beiden Konfessionen. Gäbe es nicht Günter Brakel­ mann und seine jahrelangen Anstrengungen um Kenntnis hierüber und über die evangelischen Arbeiter, so ließe sich zu allem noch viel weniger sagen. Brakelmann hat vor allem auf die »allen geläufigste Dualität im Leben«, die von Evangelisch und Katholisch, hingewiesen, es gab eben »alles in doppelter Ausführung« und zwischen beiden Milieuinstanzen »militanten Konfessionalismus« und die »konsequente Verweigerung des offenen Dialoges«. An der 40 Vgl. Aretz, Jürgen, Katholische Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus. Der Verband katholischer Arbeiter- und Knappenvereine Westdeutschlands 1923–1945, Mainz 1978.

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»Frömmigkeit der Unterschichten« hegt Brakelmann keinen Zweifel, ebenso wenig an der Haltung der Amtskirchen, etwa an der monarchistischen und deutsch-nationalen Grundhaltung des Ruhrgebiets-Protestantismus.41 Persönlichkeiten wie der erwähnte Pfarrer Traub in Dortmund waren darin große Ausnahmen. Dessen ungeachtet, darf vor allem jene »Ubiquität« des Religiösen nicht übersehen werden, von der die Älteren auch heute noch eine Vorstellung haben, wenn sie aus Dorf oder Kleinstadt kommen – nicht dagegen, wer im Ruhrgebiet seit den 1960er Jahren aufgewachsen ist. Es war dies eine Ubiquität der religiösen Formen und der Sprache, eine Ubiquität, die auch vor den sozusagen bekenntnisstarken Sozialdemokraten nicht Halt machte. Hatten diese doch schon mit dem Lassalle-Kult so manches religiöse Bild in sich aufgenommen, mit Arbeiter-Katechismen neue Wertordnungen zu etablieren versucht und den religiösen Kult seit der Jahrhundertwende durch »Jugendweihen« zu neutra­ lisieren versucht – letzteres allerdings, soweit zu sehen, kaum im Ruhrgebiet.42 Homiletische Tonlagen waren sozialdemokratischen Rednern so wenig fremd wie gleichnishaftes Sprechen. Die Welt der Metaphern entsprang eben alteuro­ päischen Horizonten. Und wer mochte schon auf ein »anständiges« Begräbnis verzichten? Die zahllosen Sterbe- und Unterstützungskassen hatten am Ende des 19. Jahrhunderts noch die letzte Kneipe erreicht

5. Nachkriegszeiten – religiöse Zeitwenden Es verbietet sich, nach dem Gesagten, den Modus der älteren bürgerlichen, konservativen und konfessionellen Proletariatskritik umstandslos auf die histo­ rische Arbeiterschaft im Ruhrgebiet zu übertragen. Indessen, nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht vorher, änderten sich die Modalitäten fundamental. Dabei hat sich, wie schon dargestellt, an der religiösen Landkarte bis heute »nur« soviel verändert, dass der Anteil der Nichtreligiösen und derjenigen islamischen Bekenntnisses, in jüngerer Zeit übrigens auch der Anteil der Juden, stark zugenommen hat. Auf eine andere Spur führen die zitierten Beobachtungen von Li Fischer-Eckert am Beispiel Hamborns: auf die Rolle der Arbeiterfrauen und der erwerbstätigen Arbeiterinnen für die familiäre Persistenz der Religion und deren Weitergabe an die nächste Generation zunächst, und auf den Verlust dieser Funktion sodann. Nach gegenwärtigem Forschungsstand  – entsprechende neue Forschungen sind unterwegs – lässt sich diese These nicht ausreichend nachweisen, aber es 41 Brakelmann, Konfessionelles Bewusstsein, S.  101–104; vgl. ders., Ruhrgebiets-Protestan­ tismus. 42 Vgl. zu den hier ganz verkürzt vorgetragenen Hinweisen: Warstat, Matthias, Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918–1933, Tübingen u. a. 2005, etwa zur Jugendweihe.

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Diagramm 4: Religionszugehörigkeit im Ruhrgebiet nach Geschlecht 1970 1% 4% 1%

Evangelisch weiblich 25%

22%

Evangelisch männlich Katholisch weiblich Katholisch männlich Andere christliche Gemeinschaften Sonstige

22%

Keine Zugehörigkeit oder keine Angabe

25% Zusammengestellt nach: Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen (Hg.), Die Wohnbevölkerung nach Alter, Familienstand und Religionszugehörigkeit am 27. Mai 1970 – Gemeindeergebnisse. Ergebnisse der Volkszählung 1970, Düsseldorf 1972, S. 20 ff.

gibt einige mittelbare Indikatoren. Dass kirchen- und religionsferne Verhaltensformen im Ruhrgebiet vielleicht vergleichsweise verspätet, aber doch ebenso deutlich wie anderwärts Ausbreitung fanden, belegt schon die formelle Religionszugehörigkeit nach Geschlechtern. Der Unterschied betrug schon um 1970 drei Prozentpunkte, und zwar in beiden Konfessionen, was, anders ausgedrückt, heißt, dass die männliche Bevölkerung in einem um etwa 10 bis 15 Prozent geringeren Maß als die Frauen formell Mitglied einer der großen Amtskirchen war. Bestätigt wird diese Wahrnehmung durch die in der Nachkriegszeit stark zunehmende Rolle der Mischehen: Mehr als 20 Prozent der Ehen waren also um 1970 bereits klassische interkonfessionelle Mischehen, und dieser Anteil sollte sich fortan stark erhöhen; weitere 10 Prozent enthalten sonstwie Religiöse und Religionslose. Die Entwicklung der Mischehen erscheint als einer der wichtigsten Indikatoren für die abnehmende Rolle der Religion im Familienleben und ist deshalb künftig genauer zu erforschen. Es scheint dabei, dass der zunächst erkennbare religiöse Aufbruch43 in den Katastrophenjahren seit Beginn des Bombenkrieges bis zum Ende der Nachkriegsinflation den Keim hierzu schon enthielt, denn 43 Vgl. etwa Hermans, Baldur (Hg.), Beginn und Neuordnung christlich-sozialen Engagements nach 1945, Essen 1997.

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Diagramm 5: Ehen im Ruhrgebiet nach Religionszugehörigkeit 1970 10% 10%

36% Rein Evangelisch Rein katholisch

11%

Mann evang./Frau kath. Mann kath./Frau evang. sonstige

33% Zusammengestellt nach: Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen, Sonderreihe Volkszählung 1970, Heft 14: Die Haushalte und Familien nach Typen, Zahl der Kinder und Einkommensbezieher am 27.5.1970, Düsseldorf 1975, S. 116 ff.

allzu viele Ehen waren zerrüttet, allzu viele Witwen waren hinterblieben, und zahlreiche neue Menschen kamen in die Region. Das Familienleben musste sich erst »re-konstituieren«. Der Prozess bedarf im Ganzen noch der Erhellung, und zwar insbesondere als Prozess des Verlustes der religiösen Sozialisationsleistung, welche auch die Ruhrgebiets-Arbeiterfamilie im Kern bis in die frühe Nachkriegszeit noch vollbracht hat. Einige weitere Hinweise liegen vor: Die Entwicklung der Mischehen ist für die 1950er Jahre von Alfons W ­ eyland in der Stadt Marl untersucht worden.44 Marl ist bekanntlich eine »junge« Stadt der Schwer- und der Chemieindustrie, in der sich das Nebeneinander von stark ländlichen und Industriearbeiter-Pfarreien genauer darstellen ließ. Vom Ausgangsstand von rund 50.000 im Jahre 1945 hatte sich die Bevölkerung bis 1957 auf rund 85.000 vermehrt. Die Konfessionsstruktur war beinahe ausgeglichen, was einen hohen Anteil an Mischehen begünstigt, aber diese nahmen während der 1950er Jahre sehr deutlich zu. Daran ließ sich zeigen, dass Frauen in den Industrie-Pfarreien viel weniger zögerten, eine Mischehe einzugehen. Besonderes Interesse verdienen die Hinweise auf die Konfession der Kinder in diesen Mischehen. In solchen Ehen, in denen der Vater katholisch war, 44 Weyland, Alfons, Formen Religiöser Praxis in einem werdenden Industrieraum, Münster 1963, zum Folgenden bes. S. 49–70.

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wurden im industriellen Umfeld nur gut ein Fünftel, im ländlichen Umfeld immerhin ein Drittel der Kinder katholisch getauft, und dieser Anteil wuchs jeweils in dem Maße, indem die jeweilige Pfarrei insgesamt katholisch dominiert war – ein Hinweis auf eine dann besser funktionierende soziale Kontrolle im Gemeindeleben. In denjenigen Fällen aber, in denen die Mutter katholisch war, wurden die Kinder sowohl in ländlichen als auch in Industrie-Pfarreien des Dekanats Marl zu zwei Dritteln katholisch getauft; anders ausgedrückt: von den katholisch getauften Kindern aus Mischehen hatten 1950 bis 1957 insgesamt 77,4  Prozent eine katholische Mutter, aber nur 22,6  Prozent einen katho­lischen Vater. Die Differenz belegt, wie das ebenso dokumentierte Beharren katholischer Frauen auf den kirchlichen Trauungsritus, einerseits die relative Indifferenz der Väter, gleich welcher Konfession sie waren, gegenüber der konfessionellen Zuordnung der Kinder, sowie andererseits, und damit einhergehend, die insofern maßgebliche Rolle der Mütter, deren Erziehungsleistung sich auch auf das Feld der Konfessionsbestimmung übertrug. Das nuanciert die zuvor erörterten Hinweise auf eine deutlich geringere konfessionelle Bindung der Väter. Die Daten über den Gottesdienstbesuch nach Geschlechtern illustrieren dies weiterhin und brauchen deshalb hier nicht erläutert zu werden. Interesse verdient aber, dass ledige Frauen auch in Industriepfarreien eine ausgeprägte Gottesdienst-Treue erkennen ließen, ferner, dass der Gottesdienstbesuch von katholischen Kindern beiderlei Geschlechts bis zum vollendeten 13. Lebensjahr bei nicht weniger als vier Fünfteln lag, dagegen bei Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren für junge Männer nur noch bei einem Fünftel, für junge Frauen bei zwei Fünfteln. Es lässt sich also sagen, dass mit dem damals noch weit überwiegend im Alter von 14 Jahren vollzogenen Übergang von der Schule in das Berufsleben der religiöse Sozialisationsauftrag der Familie und, ergänzend, der Schule beinahe schlagartig erlosch. Die soziale Religionskontrolle funktionierte damals schon, dank der maßgeblichen Rolle der Frauen, nur noch in familiären Bindungen.  – Der Verfasser dieser Untersuchung sah wesentliche Ur­sachen dieser Entwicklung generell in der mit der Industrialisierung einhergehenden Verstädterung, weiter dann in der hohen innerstädtischen Mobilität, welche Gemeinde-Zugehörigkeiten erschütterte, im urbanen Kontrollverlust und in der Überfremdung durch Zuzügler, hier insbesondere Vertriebene und Flüchtlinge. Dabei lag übrigens der Anteil der verheirateten berufstätigen Frauen an den erwerbsfähigen Frauen im Alter zwischen 14 und 65 Jahren zu jenem Zeitpunkt in Marl erst zwischen sieben und 13 Prozent, und er lag sogar in den eher ländlichen Pfarreien tendenziell höher als in den Industriepfarreien!45 Obwohl vermutlich die chemische Industrie bereits in großer Zahl Frauenarbeitsplätze bereithielt, beherrschte mithin der überkommene schwerindustrielle Familien45 Ebd., Tabelle S. 76.

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modus weiterhin das Bild,46 wonach früh geheiratet wurde und kinderreiche Familien entstanden – über das Heiratsalter und die Kinderzahl gibt die Studie leider keine Auskunft, und sie untersucht leider nur die katholische Bevölkerung. Man wird dennoch sagen können, dass der Einfluss zunehmender Mischehen wirksam wurde, bevor die Frauenerwerbstätigkeit nennenswert stieg, und dass die religiöse Sozialisationsleistung der Mütter in den 1950er Jahren noch stark geblieben ist.

6. Ausblick Norbert Greinacher und andere haben sich, im Zusammenhang verstärkter soziografischer Anstrengungen vor allem in den 1950er und 1960er Jahren, den religiösen Praktiken und der Religiosität zumeist aus katholischer Sicht und mit gewisser Konzentration auf die Arbeiterschaft und städtische Gesellschaft gewidmet;47 Günter Kehrer hat 1967 eine viel beachtete, resümierende und vergleichende Untersuchung zum religiösen Bewusstsein der Industriearbeiter vorgelegt.48 Die Ergebnisse können hier im Einzelnen nicht vorgestellt werden, aber sie gleichen sich insofern, als allgemein eher der Einfluss der Urbanisierung als derjenige der Industrialisierung auf das Nachlassen religiöser Praktiken und formeller Kirchenmitgliedschaft konstatiert wird und als wir es bei der Ursachensuche, so Kehrer, »nicht mit einem Kausalzusammenhang zu tun [haben], sondern mit einem Syndrom verschiedener Faktoren.«49 Darin unterschied sich der deutsche Arbeiter »nicht wesentlich« von seinen französischen, belgischen und niederländischen Kollegen.50 Dennoch ist der Einfluss der eher laizistischen Religionskulturen in Frankreich und Belgien zu berücksichtigen, etwa mit dem Resultat, dass die deutschen Bergarbeiter deutlich religiöser waren als die westlich benachbarten.51 Dieser Beitrag wurde gezielt auf die Zeit bis um 1960 begrenzt, denn es ging um Arbeiter und ihre Religiosität im Ruhrgebiet in einer Phase, die man als die »schwerindustrielle Epoche« etwa zwischen 1850 und 1960 bezeichnen kann. 46 Vgl. Tenfelde, Klaus, Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich, in diesem Bd. S. 70–92. 47 Greinacher, Norbert, Die Kirche in der städtischen Gesellschaft. Soziologische und theologische Überlegungen zur Frage der Seelsorge in der Stadt, Mainz 1966. Auch Greinacher konstatiert noch 1966 »die Tatsache, dass im Ruhrgebiet die Bindung weiter Schichten der Bevölkerung an die Kirche für ein Industriegebiet relativ gesehen erstaunlich intensiv ist« (S. 207) und weist am Beispiel der Gottesdienstbesucher auf die Bedeutung des »Übergangsalters« zwischen 14 und 29 Jahren hin (S. 216). 48 Kehrer, Günter, Das religiöse Bewusstsein des Industriearbeiters, München 1967. 49 Ebd., S. 38 am Beispiel Frankreichs. 50 Ebd., S. 40. 51 Vgl. ebd., S. 29.

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Für diesen Zeitraum wurde eine andere Sichtweise bezogen als diejenige der zeitgenössisch so beredsamen religiös-kirchlichen und bürgerlichen Sozial­ kritik. Entgegen deren Annahmen, in denen das sozialdemokratische Syndrom die unbefangene Sicht auf das proletarische Religionsvolk überwucherte, gibt es Veranlassung zu betonen, dass die Arbeiterschaft des Ruhrgebiets eine vergleichsweise hohe Persistenz religiösen Verhaltens aufwies. Nachweisbar wurde dies insbesondere auf der katholischen Seite des Konfessionsbildes. Brüche im religiösen Verhalten waren eher temporärer Natur: Zuwanderungsfolgen, die Verjugendlichung der Region, politische Krisen, Nationalsozialismus. Die Persistenz reichte deutlich bis in die 1950er Jahre. Vielleicht kann man sogar sagen, dass auch in der Industriearbeiterschaft, vor dem Hintergrund eines säkularen Trends des Rückgangs äußerer und innerer Religiosität, deren freilich vorübergehende Regeneration in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten gelang, was dann in gewisser Übereinstimmung mit dem hier bereits konstatierten »Gründerboom« im Kirchenbau und in der Adjustierung der Pfarrsprengel erscheint. Gerade in der Industriearbeiterschaft des Ruhrgebiets zeigte sich, dass der Frau als Mutter und Hausfrau bis um 1960 die entscheidende Rolle in der Weitergabe religiösen Verhaltens zukam. Diese Ergebnisse stehen in scharfem Kontrast zu denjenigen Entwicklungen, die bisher auch im Ruhrgebiet über das religiöse Verhalten seit den 1960er Jahren, freilich nur ganz unscharf, bekannt sind. Erst seit den 1960er Jahren, dem »Scharnierjahrzehnt« in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik, hat sich das religiöse Verhalten rapide verändert. Die jüngst erschienenen Untersuchungen von Vera Bücker über Oberhausen haben deutlich gemacht, dass der Prozess jedenfalls im Ruhrgebiet längst nicht zum Stillstand gekommen ist, geschweige denn, umgekehrt worden wäre.52 Es scheint, dass die folgenden Entwicklungen näher betrachtet werden sollten: 1. Der Strukturwandel hat das Erwerbsgefüge so weitgehend umgekrempelt, dass die religionsaffinen Erwerbsgruppen, Bauern und selbständiger Mittelstand sowie Kleinbürgertum, stark in den Hintergrund getreten sind – zugunsten heute und ansatzweise früher schon religionsferner Berufsgruppen zumal in den Dienstleistungen und in Bildungsberufen. Das Potenzial kirchenverbundener Religiosität hat sich damit erheblich reduziert. Die Arbeiterschaft ist in die Minderheit geraten und nach Herkunft, Berufen und Beschäftigungsformen deutlich diversifiziert worden. 2. Der Prozess formaler und innerer Urbanisierung ist stark fortgeschritten. Mobilität in der Region und nach außen, Wohnungs- und Berufswechsel auch im Lebenslauf sowie nicht familienförmige Daseinsweisen, man denke auch an die seit den 1960er Jahren rasch steigende Scheidungsrate, haben stark zugenommen. Der Modus schwerindustrieller, die religiösen Bindungen begünstigender Familienbildung gehört der Vergangenheit an. 52 Bücker, Vera, Niedergang der Volkskirchen – was kommt danach? Kirchlichkeit und Image der Kirchen in einer Ruhrgebietsstadt, Münster 2005.

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3. Maßgeblich für die Unterbrechung der intergenerationellen »Sozialisationsketten« von Religion war die familiäre Rollenbestimmung der Frau. Die Wahrnehmung erweiterter Bildungsangebote und die stark zunehmende Berufstätigkeit verheirateter Frauen ließen die Gebürtigkeit stark absinken, ohne dass sich der religiöse Sozialisationsauftrag auf die wenigen verbleibenden Kinder konzentriert hätte. 4. In der relativ krisenfreien Medien-, Konsum- und Freizeitgesellschaft verengt sich der Sinnbedarf auf Nahziele, die weithin erreichbar scheinen. Sinn­ bedürftige Daseinsereignisse sind dieser Gesellschaft entrückt. Sie hat das Alter und den Tod eskamotiert.

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Stadt – Verein – Bürgertum

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V. Adventus Zur historischen Ikonologie des Festzugs

1. Jacob Burckhardt hat mit knapper Genauigkeit zwei Wurzeln allen Festbrauchs bezeichnet: das Mysterium und die Prozession.1 Beide Formtraditionen hat die europäische Kulturgeschichte in überfließender Fülle, in immer neuen Bildern und bis in die Gegenwart variiert – man denke an die schwäbische Fastnacht2 etwa, oder an den rheinischen Karneval.3 Das Zeremoniell des Letzteren persifliert manches von dem, was im Folgenden im Überblick und am Beispiel einiger »Knotenpunkte« verfolgt werden soll. Da wird durch rheinische Stadtoberhäupter die Übergabe der »Stadtschlüssel« an ein närrisches Regime zelebriert und damit das Festtreiben eingeleitet, da wälzen sich endlose Festzüge mit Prinzenpaar und Hofstaat durch die Straßen, und von den Festwagen wirft man Flitterkram und Süßigkeiten in die Menge, in das Spalier, während die »tableaux vivants« der Festwagen mehr oder weniger wichtige Zustände und Ereignisse mit mehr oder weniger tiefgründiger Satire in Szene setzen. Es ist ein mit den Anfängen des jüngeren rheinischen Karnevals zu Beginn des 19. Jahrhunderts konstruiertes Abbild eines sehr viel älteren Zeremoniells von staatspolitischer Bedeutung, das uns hier entgegentritt: ein Abbild des Adventus, des Trionfo, der Joyeuse entrée, des – im deutschen Sprachraum – jahrtausendalten feierlichen Herrscherempfangs. Und es ist nicht das einzige Abbild, das unsere Gegenwart kennt. Zu erinnern wäre an die Gestaltung des diplomatischen Protokolls oder an Gliederung und einzelne Bestandteile des sogenannten historischen Festzugs, des Jubiläums- und auch wohl des Trachtenumzugs, schließlich an das kleinstädtische Schützenfest mit seinem Festzug durch die fähnchen- und girlandengeschmückte Stadt und das Spalier ih1 Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Stuttgart 192213, S. 299. – Dieser Aufsatz dokumentiert den für den Druck leicht überarbeiteten und mit Anmerkungen versehenen Text der Öffentlichen Probevorlesung am 20. Februar 1981 im Rahmen meines Habilitationsverfahrens an der Philosophischen Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Universität München. Die Anmerkungen beschränken sich auf Zitatnachweise und unmittelbar herangezogene Literatur. 2 Vgl. Künzig, Johannes, Die alemannisch-schwäbische Fasnet, Freiburg 1950; Fastnacht. Beiträge des Tübinger Arbeitskreises für Fastnachtforschung, Tübingen 1964. 3 Vgl. Klersch, Joseph, Die Kölnische Fastnacht von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 1961, zum Folgenden u. a. S. 66–114.

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rer Bürger, mit Herold, Musik und König, womöglich Ehrenjungfrauen und Hofgefolge, Böllerschüssen und Feuerwerk. Vielleicht noch am deutlichsten begegnet uns der ursprünglich enge Zusammenhang zwischen Prozession und Einholungszeremoniell im Hochzeitszug – ein Zusammenhang, der im offiziellen Zeremoniell europäischer Höfe anlässlich der Fürstenhochzeiten bis in das 20. Jahrhundert formell beibehalten worden ist. Sind die Formen auch wohl gegenwärtig, so ist doch ihr Sinn längst verflacht. Wie dem Miterlebenden im Karneval, so ist heute selbst dem Histo­riker des 19. und 20. Jahrhunderts, wenn er sich denn überhaupt um das öffent­liche Fest bemüht, kaum zulänglich bekannt, welche reiche kulturgeschichtliche Überlieferung ihm in verdünnter Gestalt noch im Festzug des kleinsten Arbeitervereins um die Wende zum 20. Jahrhundert entgegentritt. Sinnverluste und neue Sinngebungen lassen trotz relativer Persistenz der Formen die Verständnismöglichkeiten schwinden; hierfür sollen Beispiele angeführt werden, Beispiele einer je besonderen Aneignung vorgefundener, tradierter Formen im Fest. Es ist somit unsere Aufgabe, die ältere Tradition des Adventus-Zeremoniells in Kürze nachzuzeichnen, Phasen und Bereiche des Bedeutungsverlusts aufzuzeigen und einige Formrelikte in neuen, verdunkelnden Verbindungen zu identifizieren. Wenn der Beitrag unter das Leitwort der (historischen) Ikonologie – einer Wissenschaft, die in den 1920er Jahren im Warburg-Kreis vor allem von Erwin Pankofsky aus der sehr viel älteren Ikonografie mit dem Ziel einer umfassenderen Analyse von Bildthemen und Bildkonstellationen im so­zialen, weltanschaulichen und ideengeschichtlichen Zusammenhang entwickelt worden ist4 – gestellt wird, so soll darin die Bildhaftigkeit und Plastizität des Adventus hervorgehoben und der Aspekt des Adventus-Erlebens, der Perzeption von Herrschaft im Zeremoniell einbezogen werden; im Übrigen bezeichnet das Wort eher einen Schwerpunkt des Interesses und ein Programm als ein dezidiertes Erkenntnisziel oder gar ein Ergebnis unserer Ausführungen. Inhaltlich werden zwei Schwerpunkte im frühmittelalterlichen Zeremoniell und in der Festzugsentwicklung des 19. Jahrhunderts liegen, wobei ein Ziel des Beitrags ist, die jüngst vermehrt betonte Eigenständigkeit des historischen Festzugs als eines »bürgerlichen« Genres5 aus bestimmter 4 Vgl. bes. Bialostocki, Jan, Iconography and Iconology, in: Encyclopedia of World Art, Bd. 7, New York 1963, Sp. 771–785; mit einer Einführung dess.: Panofsky, Erwin, Studien zur lkonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, dt. Ausg. Köln 1980; ferner Kaemmerling, Ekkehard (Hg.), Bildende Kunst als Zeichensystem, T. 1: Ikonographie und Ikonologie, Köln 1979, S.  185–225; Zur Panofsky-Rezeption: Hofmann, Werner, Das Unwahrscheinliche muß wahr sein, in: Die Zeit Nr. 37/4.9.1981, S. 41; Die »Bildhaftigkeit« des Adventus betont: Träger, Jörg, Der reitende Papst. Ein Beitrag zur Ikonographie des Papsttums, München 1970, S. 105–107. 5 Vgl. Deneke, Bernward, Zur Rezeption historisierender Elemente in volkstümlichen Festlichkeiten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1973, S.  107–135; bes.: Assion, Peter, Historische Festzüge. Untersuchungen zur Vermittlung eines bürgerlichen Geschichtsbildes, in: Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg 1974–1977, Stuttgart 1977, S. 69–86; sowie Hartmann, Wolfgang, Der historische Festzug, München 1969.

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Sicht infrage zu stellen. Unsere Quellen werden dem Althistoriker nach Untersuchungen von Andreas Alföldi6 und anderen, dem Historiker des frühen und hohen Mittelalters nach jenen von Eichmann oder Schramm,7 dem des Spätmittelalters nach jenen von H. C. Peyer8 und schließlich dem Historiker der frühen Neuzeit9 wohlvertraut sein – kaum jedoch dem Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts und weniger wohl dem Literatur-, Kunst- und Musikhistoriker. Dabei reicht die Tradition der literarischen Stoffbehandlung von Aristophanes über Dante, ­Petrarca und Goethe bis zu Heinrich Heine und Gottfried Keller; Haydn, Richard Wagner, Carl Orff und andere10 haben das Motiv vertont, und in der Geschichte der Malerei ließen sich die größten Namen anführen, von jenen zahllosen Beispielen zu schweigen, die man noch heute bei nur oberflächlichem Griff in bessere Antiquariate und Kupferstichkabinette findet.

2. Die jüngere Frühmittelalter-Forschung, die sich nach den Arbeiten Schramms vermehrt auch dem höfischen Zeremoniell und seinem Niederschlag in der Reichsannalistik gewidmet hat, ist sich weithin darin einig, in den beiden Einzügen Karls des Großen in Rom in den Jahren 774 und 800 die Anfänge eines Zeremoniells von außerordentlicher staats- und verfassungsrechtlicher Tragweite für das zentraleuropäische Kaisertum des frühen und hohen Mittelalters zu sehen.11 Über den Romzug zu Ostern 774, den Karl unter Zurücklassung des Hauptheeres bei Pavia, jedoch unter großem Gefolge antrat, berichtet die Vita Hadriani,12 der Frankenfürst sei als Patricius vor der Stadt von den Behörden, dann von Schulkindern mit hymnischen Lobpreisungen begrüßt worden, wäh 6 Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 19803. 7 Eichmann, Eduard, Die Kaiserkrönung im Abendland, Bd.  1, Würzburg 1942; Schramm, Percy Ernst, Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittel­ alters, Bde. I und II, Stuttgart 1968/1970, mit den wichtigen Fragestellungen Bd. I, T. 1, S. 43. 8 Der Empfang des Königs im mittelalterlichen Zürich, in: Archivalia et Historica. Festschrift für Anton Largiad, Zürich 1958, S.  219–233; hier nach Drabek, Anna Maria, Reisen und Reise­zeremoniell der römisch-deutschen Herrscher im Spätmittelalter, Wien 1964. 9 Umfassende Würdigung: Dotzauer, Winfried, Die Ankunft des Herrschers. Der fürstliche »Einzug« in die Stadt (bis zum Ende des Alten Reichs), in: AfK, Jg. 55, 1973, S. 245–288. 10 Vgl. etwa Göllner, Theodor, Beethovens Ouvertüre »Die Weihe des Hauses« und Händels Trauermarsch aus »Saul«, in: Detlef Altenburg (Hg.), Ars Musica  – Musica Scientia. Festschrift für Heinrich Hüschen, Köln 1980, S. 181–189, bes. 183 f. 11 Vgl. bes. Eichmann, Bd. 1, S. 180 ff.; Deér, Josef, Die Vorrechte des Kaisers in Rom (772–800), zuerst 1957, Neudruck in: Gunther Wolf (Hg.), Zum Kaisertum Karls des Großen. Beiträge und Aufsätze, Darmstadt 1972, S. 30–114, bes. S. 78–87. 12 Duchesne, L. (Hg.), Le Liber Pontificalis, 2 Bde. 1886/1892, Bd. 1, S. 495 ff.; vgl. etwa Gregorovius, Ferdinand, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 3 Bde. Stuttgart 1903/1908, Bd. 2, S. 342 ff.

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rend ihn der Klerus vor der Peterskirche mit der Antiphon Benedictus qui venit in nomine domini empfing. Karl näherte sich, jede Stufe der Freitreppe küssend, dem Papst, umarmte ihn und schritt zur Rechten Hadrians in die Kirche. Nach dem gegenseitigen Treueeid am Grabe Petri erfolgte Karls Einzug cum suis iudicibus et populo in die Stadt. Ein ähnliches Zeremoniell wurde sicher bei Karls Romzügen der Jahre 781 und 787 zur Ausführung gebracht  – die Quellen begnügen sich freilich mit einem lakonischen valde honorifice […]receptus est.13 Auch das Empfangs­ zeremoniell für Papst Leo in Paderborn 799, wo wahrscheinlich »Karls Übernahme des Kaisertums ins Auge gefaßt« wurde,14 trug die Grundzüge der Einholung: Karl sandte dem Papst seinen Sohn Pippin entgegen, und Leo wurde cum hymnis et canticis spiritalibus15 empfangen. Bei dieser Gelegenheit entstand von ungesicherter Hand das epische Gedicht »Karolus Magnus et Leo Papa« als ein vorzügliches Zeugnis karolingischer Adventus-Panegyrik.16 Während sich der Papstbiograf in der Schilderung des Empfangs Karls als Imperator futurus in Rom am 24. November des Jahres 800 aus begreiflichen Gründen17 auf ein cum magno honore susceptus est beschränkt, breitet sich in der Schilderung der Reichsannalen18 das Bild eines voll ausgestalteten kaiserlichen Zeremoniells aus. Dieser Einzug erhält seine besondere Bedeutung naturgemäß aus der Erlangung der Kaiserwürde und dem Arrangement mit der päpstlichen Macht, aber auch später sind die Einzüge in die Krönungsstädte – nach Rom Aachen und Frankfurt – im Anschluss an die kurfürstliche Wahlhandlung von besonderer Pracht und halten die zentralen Bestandteile des Zeremoniells streng ein; auch heben sich im Allgemeinen die Ersteinzüge eines Herrschers in eine Stadt, die möglichst an kirchlichen Feiertagen stattfinden, durch besonderen Aufwand von späteren Empfängen ab. 13 Annales Regni Francorum ad a. 787, MGH SS rer. Germ. in us. schol. ed. F. Kurze, 1895, Neu­ druck 1950; Vgl. Einhardi Vita Caroli Magni c. 28, MGH in us. schol. cd. Waitz u. a., 19116. 14 Hauck, Karl, Karl der Große in seinem Jahrhundert, in: FMSt, Jg. 9, 1975, S. 202–214, 210; zur näheren Begründung: Beumann, Helmut, Das Paderborner Epos und die Kaiseridee Karls des Großen, zuerst 1966, Neudruck in: Wolf (Hg.), S. 309–383, bes. 344 f. 15 Lib. Pont. II, S. 6. 16 MGH Poet. Lat. I, 1880/81, S. 366–379; dt.-lat., in: Franz Brunhölzl (Hg.), Karolus M ­ agnus et Leo Papa. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799, Paderborn 1966, S.  55–97, bes. 90 ff.; Vgl. Bulst, Walther, Susceptacula regum, in: Corona Querna. Festschrift für K. Strecker, 1941, S. 97–135; Jäschke, Kurt-Ulrich, Zu Metzer Geschichtsquellen der Karolingerzeit. Der Kaiserhymnus Ave sacer, in: Rhein. Vjbl., Jg. 33, 1969, S. 1–13; Oexle, O. G., Die Karolinger und die Stadt des hl. Arnulf, in: FMSt, Jg. 1, 1967, S. 250–364, 303–310; s. auch Hauck, Karl, Die Ausbreitung des Glaubens in Sachsen und die Verteidigung der Kirche als konkurrierende Herrscheraufgaben Karls des Großen, in: FMSt, Jg.  4, 1970, S.  138–172, bes. S. 164–166. 17 Lib. Pont. II, S. 7 sowie die Anm. 30 von Duchesne, Lib. Pont. II, S. 37. 18 Zum Folgenden bes. Annales R. F. ad a. 800. Dieser (S. 18) und die sonstigen Texte zur Kaiserkrönung 800 sind bequem zugänglich in Reindel, Kurt (Hg.), Die Kaiserkrönung Karls des Großen, Göttingen 19702.

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Anders als 774, traf Karl im Jahre 800 am Vorabend der Einholung mit dem Papst in einiger Entfernung vor den Toren der Stadt zu einem Festmahl zusammen. Anderntags begann das Zeremoniell mit dem Hinaustreten der römischen Stadtoberen in größerer, des Stadtvolks in geringer Entfernung vor die Stadt; jetzt und später gehörten die gewählten Distanzen zu den »feinen Nuancen«19 des römischen Herrscherempfangs. Erstere gaben Karl das Geleit; im Spalier des Letzteren dürften, wie nachweislich 774, Schulkinder an vorderer Stelle mit­ gewirkt haben. Im Übrigen gliederte sich das Stadtvolk in Festtagskleidung streng nach Rängen, in denen nur der Klerus fehlte – »une énumération com­ plète de toutes les classes de la société romaine à la fin du VIIIe siècle«.20 Der Klerus trug mit Sicherheit auch im Jahre 800 dem künftigen Kaiser jene venerandas cruces entgegen, sicut mos est imperatorem aut regem suscipere, während der Papst cum clero et episcopis equo descentem gradusque ascentem, also auf den Stufen der Peterskirche, empfing.21 Während das Stadtvolk dem Kaiser akklamierte, entbot der Klerus Wechselgesänge, wobei für 800 nicht geklärt ist, ob Karl nach dem Benedictus qui venit […] von 774, der Antiphon des Einzugs in Jerusalem, nunmehr bereits die später im Mittelpunkt der Kaiserlaudes stehende Antiphon der zweiten Parusie Christi, Ecce mitto angelum meum qui preparabit viam ante faciem tuam, entgegenscholl.22 Es folgt die Begrüßungsszene vor dem Paradies von St. Peter und der Eintritt psallentibus cunctis. Die vielfach in der Forschung an das Einholungs- und Krönungszeremoniell geknüpften Überlegungen zum staatsrechtlichen Charakter des fränkischen Kaisertums23 sollen uns hier nicht weiter beschäftigen; es genügt für unsere Zwecke, darüber im Klaren zu sein, dass die Prozedur bis ins zeremoniale Detail eine vielgestaltige Überlieferung sowohl fortsetzte als auch in einem für das fränkische und deutsche Kaisertum rechtskonstitutiven Sinn neubegründete. Die ältere Überlieferung des Zeremoniells, wie sie bereits in den Quellen der 19 Deér, Vorrechte, S. 78. 20 Duchesne, in Lib. Pont. II, S. 36, Anm. 26, am Beispiel der Rückkehr des Papstes nach seiner Flucht aus Rom. Beim Papstempfang traten auch die proceres clericorum nebst den omnes clerices vor die Stadt. Zum Papstempfang s. bes. die Arbeit von Traeger, S. 67, 71–104. 21 Annales R. F. ad a. 800; Lib. Pont. II, S. 88 (Einzug Ludwigs II. 844). 22 So Kantorowicz, Ernest H., Laudes Regiae. A Study in Liturgical Acclamations and Medieval Ruler Worship, Berkeley 1946, S. 75; vgl. Eichmann, Kaiserkrönung, Bd. 1, S. 184; Elze, Reinhard, Die Herrscherlaudes im Mittelalter, in: Zs. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgeschichte Kan. Abt., Jg. 40, 1954, S. 201–223, sowie Frank, Hieronymus, OSB, Ecce advenit dominator dominus. Alter und Wanderung eines römischen Epiphaniemotivs, in: Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens. Supplementbd. Münster 1963, S. 136–154, 147 f.; Zum Rechtscharakter der Akklamationen s. Grabar, André, Recherches sur les influences orientales dans l’art balcanique, Paris 1928, S. 125; Schramm, Percy Ernst, Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9.–16. Jahrhundert. Ein Kap. aus der Geschichte der abendländischen Staaten, Weimar 19602, Bd. 1, S. 36. 23 Neben der genannten Lit., s. bes. der v. G. Wolf hg. Sammelband; s. Schramm, Percy Ernst, Die Anerkennung Karls d. Gr. als Kaiser, München 1952 (auch in ders., Kaiser, Bd. 1), sowie insbes. die bei Hauck, Karl d. Gr., zusammengestellte Literatur.

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karolingischen Zeit oftmals in dem knappen sicut mos est erscheint, ist wiederholt nachgezeichnet worden24 und kann deshalb in wenigen Sätzen skizziert werden: Schon zur Zeit Karls war das Einholungszeremoniell stark verfestigt und wies eine weit über tausendjährige Geschichte auf. Es war dem hellenistischen Altertum bekannt und in vorchristlicher Zeit im vorderasiatischen Raum verbreitet, kurz, es ist »Licht vom Osten«, das hier begegnet.25 Schon in der frühesten Zeit lassen sich Grundzüge des Zeremoniells ausmachen, die Bestand haben sollten, darunter die Rolle von Schulkindern und Jungfrauen, die Ausschmückung der Stadt, der occursus von Stadtoberen und Stadtvolk mit dem Einziehenden vor der Stadt, die feierliche Prozession durch das nach Rängen gegliederte, oft weiß und jedenfalls festlich gekleidete Spalier, die Akklama­ tionen und chorischen Lobpreisungen, der Gottesdienst. Die älteste Überlieferung kennt bereits die Licht- und Sonnensymbolik im Adventus; sie zeugt neben dem Brauch, Duftöle und Weihrauch zu versprengen, Blumen und Grün zu streuen und Kränze zu flechten, Herrscherbilder mitzuführen, Geschenke zu empfangen und Geld an das Volk auszuteilen oder auch das Begnadigungsrecht aus diesem Anlass wahrzunehmen, von der »epiphanen« Qualität des Einzugs, seiner mythischen Überhöhung im Sinne einer lang erwarteten, göttlichen Erscheinung. Mit ähnlichen Sinndeutungen ist die Heilandserwartung in das Alte Testament eingegangen, und im Neuen Testament wird der Einzug Christi am Palmsonntag so geschildert: Jungfrauen treten zusammen mit der Stadtbevölkerung vor die Stadt. Man trägt Palmenzweige und Kränze, bestreut den Einzugsweg mit Zweigen, und im Tempel begrüßen den Einziehenden lobpreisende Kinder. Ansonsten fehlen prunkvolle Züge: Jesu Einzug auf einem Esel ist in bewusstem Kontrast zur späteren, richtenden Wiederkehr ärmlich, bescheiden.26 Von dieser Wiederkehr heißt es denn auch, Jerusalem sei »bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann«,27 und das Cursor-Motiv erscheint in den Prophezeiungen des Jüngsten Gerichts: Ecce mitto angelum meum… .28 Der Praecursor ist ein häufiges Münzbild der Spätantike; in den venerandas cruces findet er sich in den Einzugsschilderungen der karolingischen Reichsannalistik. 24 Bester Überblick bei Peyer, S. 222 ff.; ferner bereits Weisbach, Werner, Trionfi, Berlin 1919, S. 1–19; knapp auch Drabek, S. 74 ff., sowie Dotzauer, S. 245 ff. 25 Deissmann, Adolf, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 19234, S. 314–324; zum Folgenden ferner: Peterson, Erik, Die Einholung des Kyrios, in: Zs. f. systemat. Theologie, Jg. 7, 1930, S. 682–702; Pfister, Bernhard, Epiphanie, in: Realenc. d. Class. Altertumswiss., Suppl.-Bd. 4, Sp. 278–323; zentral jetzt: Nussbaum, O., Geleit, in: Reallex. f. Antike u. Christentum, Bd. 9, Stuttgart 1976, Sp. 908–1049, mit der neueren Literatur. 26 Zu den Bibelstellen s. Peterson, S. 700, u. Nussbaum, Sp. 1024 ff.; zum Einfluss auf den adventus imperatoris Dinkler, Erich, Der Einzug in Jerusalem. Ikonographische Untersuchungen im Anschluß an ein bisher unbekanntes Sarkophagfragment, Opladen 1970. 27 Vgl. Off. 21, 2 und 10 ff. (,›himmlisches Jerusalem«). 28 Mal. 3, 1; vgl. Matth. 11, 10 u. Mark. 1, 2; ferner Anm. 22 sowie Nussbaum, Sp. 1026 f.

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Ernest Kantorowicz hat diesen Zusammenhang gedeutet: »The Lord at his ­ oming is preceeded by the ›messenger‹, so shall the emperor at his advent be C preceeded by an angel.«29 In der römischen Antike hat der kaiserliche Adventus seit Caesar Verbreitung gefunden; Augustus steht ihm allerdings noch ablehnend gegenüber.30 Eine wichtige Erweiterung findet statt, die uns später noch beschäftigen wird: Zwischen dem Adventus des Herrschers und dem Triumphus des Siegers wird wohl noch dem Prinzip, nicht jedoch der Ausführung nach unterschieden, wie auch im späteren Byzanz Triumphzug und Einholung »vollkommen ange­glichen« sind.31 Im Rom der späten Kaiserzeit erhalten auch andere hochgestellte Persönlichkeiten, etwa die Konsuln, das Einzugsrecht. Spätrömische Münzen zeigen eine Vielzahl von Adventus-Motiven: den Praecursor, das »throne-sharing« mit einem Gott, seit Konstantin mit dem sol invictus, aber auch das StadttorMotiv, das akklamierende Volk.32 Gerade im Herrscherempfang durchdringen sich Christentum und weltlicher Brauch gegenseitig, und wie der Adventus des Caesaren, »die Parusie des Herrschers als neuen Weltbeglückers«, von jeher unter Mitwirkung des heidnischen Priestertums vollzogen worden war, so nahm er bald christlich-liturgische Züge an und brachte »die Erlösersymbolik zum Ausdruck«,33 während umgekehrt auch Päpste und Bischöfe zunehmend Einzugsrechte beanspruchten. Es war das Heilige schlechthin, dessen Ankunft und Erscheinung im Zeremoniell verehrt wurde – nichts könnte dies besser verdeutlichen als der Umstand, dass Reliquientranslationen unter Vollzug mindestens von Bestandteilen des Adventus-Zeremoniells vorgenommen wurden.34 Auch das frühe Merowingerreich kannte, wie besonders die »Historia« ­Gregors von Tours überliefert,35 das Empfangszeremoniell und führte es mit Sicherheit zum Einzug Chlodwigs in Tours im Jahre 508 aus; weitere Beispiele 29 Laudes Regiae, S. 76; vgl. Kantorowicz, The »King’s Advent« and the enigmatic panels in the doors of Santa Sabina, in: ders., Selected Studies, New York 1965, S. 37–75, 66 f. 30 Zum Folgenden bes. Alföldi, Repräsentation, S. 88–118; Straub, Johannes, Vom Herrscherideal in der Spätantike, Stuttgart 19642, S. 175–186 u. passim; Payne, R., The Roman Triumph, London 1962, S.  225 ff.; Merten, Elke W., Zwei Herrscherfeste in der Historia ­Augusta. Untersuchungen zu den pompae der Kaiser Gallienus und Aurelianus, Bonn 1968, bes. S. 42–44; ferner Anm. 31. 31 Treitinger, Otto, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im hö­ fischen Zeremoniell, Jena 1938, S. 173, Anm. 40; s. auch Koeppel, Gerhard, Profectio und Adventus, in: Bonner Jahrbücher, Bd. 169, 1969, S. 130–194, 154 u. ö.; sowie (gegen Peterson und Kantorowicz) Traeger, S. 88. 32 Vgl. Kantorowicz, King’s Advent, S. 48; Peterson, S. 493 ff.; Deissmann, S. 318; Alföldi, S. 116 u. Tafeln n. S. 118; Koeppel, S. 179 ff.; weitere Nachweise bei Nussbaum, Sp. 969–972. 33 Alföldi, S. 88. 34 Hierzu zentral: Gussone, Nikolaus, Adventus-Zeremoniell und Translation von Reliquien. Vitricius von Rouen, De laude sanctorum, in: FMSt, Jg. 10, 1976, S. 125–133. 35 Gregorii Turonensis Historiarum, in: MGH SS rer. Merov. I, 19512, II 31 sowie, über spätere Einholungen, II 38, VIII u. 27, VIII 1; zum Jahre 508 bes. Hauck, Karl, Von einer spätantiken Randkultur zum karolingischen Europa, in: FMSt, Jg. 1, 1967, S. 3–93, 22 ff.

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folgten. Seither wiederholt sich in den Quellen die Terminologie des Herrschereinzugs, sicut mos est, oft umfasst in stereotypen Formulierungen wie cum magna pompa, cum signis adque vixillis, canentes laudes, cum magno honore oder valde honorifice […1 receptus est. Zur Zeit der Kaiserkrönung Karls gehörte das Zeremoniell mithin zu den wichtigsten Bräuchen der Herrscherpräsentation, mehr noch, ihm vor allem eignete in der Akklamation der wichtige Akt der Anerkennung und Unterwerfung, und seine Einzelheiten spiegelten die delikate Machtbalance zwischen fränkischer Kaiser- und römischer Papstwürde in der Ablösung des oströmischen Machtanspruchs. So hat Karl dem Papst, dessen Position nach seiner Flucht aus Rom im April 799 und in der Auseinandersetzung mit Byzanz geschwächt worden war, den aus spätkarolingischer Zeit überlieferten, in der »Konstantinischen Schenkung« eingefügten und deshalb umstrittenen Zügel- und Steigbügeldienst nicht erwiesen; auch sind ihm keine Heiligenbilder entgegengebracht worden, was nach der zuvor gefällten Entscheidung im Bilderstreit mit Byzanz eine Provokation bedeutet hätte. Versucht man, das Einholungszeremoniell so zu gliedern, dass neben den Vorläufern und den Folgeformen auch die »Kleinform« des späteren Reise- und Besuchszeremoniells darunter gefasst werden kann,36 so lässt sich erstens der Beschluss der regierenden Körperschaft der Empfangsstadt bzw. des empfangenden Klosters zur Einladung des Herrschers bzw. zur Gestaltung der Einholung abgrenzen, wobei der Klerus an der Vorbereitung gewöhnlich prominent mitwirkt und der empfangende Ort gehörig geschmückt wird. Die Einholung beginnt, zweitens, mit dem occursus von Stadtoberen, die das erste Geleit geben, mit dem Herrscher weit vor der Stadt und setzt sich durch das Spalier der festlich gekleideten, nach Rängen gegliederten Stadtbevölkerung noch vor den Toren der Stadt fort. Drittens empfängt die Geistlichkeit unter Lesungen und Wechselgesängen den Herrscher von den Stadttoren an; hier gewinnt der Einzug durch das Entgegentragen von Kreuz und Reliquien eine liturgische Qualität und zielt auf den hymnisch-lobpreisenden Gottesdienst. Schließlich verbinden sich, viertens, mit dem Einzug eine Reihe von Rechtsakten und Bräuchen, darunter Begnadigungen und Rückführungen von Verbannten, Gast- und Empfangsgeschenke, Geldwürfe und brauchtümliche Gesten wie das pflichtgemäße Verschenken von Gegenständen, die bei der Einholung mitgeführt und durch die »Erscheinung« geheiligt werden, an bestimmte Anspruchsberechtigte. Schon in karolingischer Zeit ist der Adventus nicht nur ein höfisches Zeremoniell unter anderen, sondern das herrschaftskonstitutive Zeremoniell schlechthin insoweit, als es sich, je mehr das Land durch Herrscherreisen von Kaiserpfalzen und Klöstern aus regiert wird, in mehr oder weniger Prachtentfaltung bei jedem Einzug eines Herrschers in einen umfriedeten Bezirk wiederholt. Selbst die klösterliche Architektur trägt dem durch Errichtung von Einzugs- und Ehrenpforten Rechnung. Klösterliche Kolonisation und Herrschen durch Reisen ließen das christlich-römische Zeremoniell schließlich auch im 36 Im Folgenden leicht abweichend von Peyer, S. 222.

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ostfränkischen und sächsischen Raum heimisch werden, und der Prozess der Stadtbildung begünstigte, weil Huldigung und Unterwerfung den rechts- und herrschaftskonstitutiven Kern des Adventus ausmachten und deshalb später im symbolischen Schlüsselangebot Ausdruck fanden, die Verbreitung des Zeremoniells selbstverständlich ungemein. Einholungen waren Akte der Staatspräsentation, in denen sich die Herrschergewalt nicht zuletzt in der Festzugsordnung des Einziehenden, dem sich die höchsten Würdenträger im Gefolge anschlossen, auf der einen Seite, im hierarchisch streng gegliederten Spalier auf der anderen ausdrückte. Es ist für die Frühzeit nicht überliefert, jedoch für spätere Einholungen bezeugt, dass sich nach dem Geleit der Stadtoberen auch die spalierbildenden Volksgruppen dem Vorbeizug des Einziehenden angeschlossen haben. So wird der Festzug zum getreuen Abbild des Gefüges von Herrschaftsträgern und Volk, das er insgesamt repräsentiert, mehr noch, die Einholung wird zur wenn nicht einzigen, so doch wichtigsten Gelegenheit der Herrscher- und Herrschafts­ präsentation vor allem auch für das »niedere« Volk, das sich in Erwartung und Erfüllung der Erscheinung der herrscherlichen und gar der göttlichen Gnade gewiss sein darf. Hier wurzelt der am Beispiel der späten deutschen Kaiser­ krönungen besonders von Siegfried Sieber beschriebene Affekt des Volks, die Gemütsbewegung, das Staunen vor der Herrscherpracht und – das Freudenfest, die Volksbelustigung.37

3. Mit Herrscherreise und Stadtbildung dürften die wesentlichen, einer Ausbreitung des Zeremoniells im hohen und späten Mittelalter förderlichen Faktoren bezeichnet sein; daneben bleibt selbstverständlich als gleichsam zeremonialer Kern und Ursprung die Einholung des Imperator futurus durch die Krönungsstädte bis zum Ende des Alten Reichs und, wie wir sehen werden, darüber hinaus zentraler, herrschaftskonstitutiver Brauch neben dem eigent­lichen Krönungsritual erhalten. Der Umstand, dass die Goldene Bulle den Herrscherempfang nicht detailliert fixierte, hat sich gewiss einer je zeittypischen Aus­gestaltung des Zeremoniells förderlich erwiesen, doch blieben seine oben bezeichneten zentralen Bestandteile stets gewahrt.38 Besonders im späten Mittelalter schwillt die Überlieferung zum Empfangszeremoniell mindestens in Deutschland in Wort und Bild, in Chronik, Dichtung und Plastik merklich an. Es entfaltet sich, wiederum nach jahrtausendalten Vorbildern, eine eigene Adventus-Panegyrik, und der Adventus gehört zu den zusammen mit religiösen 37 Sieber, Siegfried, Volksbelustigungen bei deutschen Kaiserkrönungen, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 3. Folge II, 1913, bes. S. 30–33, 99 f. 38 Vgl. Peyer, S. 222; Drabek, S. 19 ff.

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Motiven meistabge­bildeten Präsentationen von Herrschergewalt; er bleibt damit eine der wichtigsten Quellen ihrer Deutung. Ob und inwieweit das Zeremoniell darüber hinaus auf dem Wege der imitatio Verbreitung fand, lässt sich nur schwer beurteilen. Als gesichert darf gelten, dass, wie nachweislich im spätantiken Rom, neben dem Herrscher alsbald auch dessen Vertretern Einzugsrechte zukamen; andererseits haben sich deutsche Kaiser gelegentlich geradezu eifersüchtig das Recht, feierlich unter Wahrung der überlieferten Formen eingeholt zu werden, vorbehalten.39 Auch ließen sich die mit dem Herrscheramt verbundenen kirchlichen Würden nicht übertragen, war es doch einzig der Kaiser, der Einzüge vom Rang liturgischer Prozessionen unter herausragender Gestaltung durch den Klerus beanspruchte  – sieht man von Einholungen im Rahmen der Kirchenhierarchie ab. Gerade die feierliche Einzugsprozession war geeignet, die Gewissheit des Königsheils40 zum Kern herrscherlicher Allmacht zu verklären. Daneben bleibt zu bedenken, dass das kirchliche Prozessionswesen, darunter die nach Form und Sinn dem an sich weltlichen Herrscherempfang in hohem Maße ähnelnde Palmenprozession sowie, seit dem 14. Jahrhundert, die Fronleichnamsprozession41 als ein »Schlüssel zur sichtbaren Stadt« das Festleben der aufblühenden Städte bestimmte.42 Auch zur Fronleichnamsprozession trugen Knaben und Männer Kränze, die Straßen und Häuser des Prozessionswegs wurden durch Baumgrün geschmückt, bald wurden Böllerschüsse und sonstige militärische Mitwirkung üblich, und den Festzug bildeten neben dem geistlichen Kern die Stadtoberen und das streng nach Zünften gegliederte Stadtvolk  – ganz ähnlicher Grundformen des Festzugs bedienten sich schließlich die Zünfte selbst in ihren Festlichkeiten oder die seit Ende des 15. Jahrhunderts verbreiteten Schützengesellschaften.43 Als Sonderform sowohl der Prozession als auch des bald in reicher Vielfalt entwickelten weltlichen Festzugswesens blieb der Herrscherempfang in der »Kleinform« des Reisezeremoniells und in der »Großform« des Erst- und Krönungseinzugs über das Ende des Alten Reichs hinaus erhalten. Wenn dabei anfangs, und besonders in der frühen deutschen Kaiserzeit, die Beziehungen zwischen kirchlicher und weltlicher Gewalt im Zeremoniell Akzente setzten, so trat 39 Peyer, S. 225 f. 40 Vgl. etwa Lintzel, Martin, Miszellen zur Geschichte des 10. Jahrhunderts, zuerst 1953, Nachdruck in: Eduard Hlawitschka (Hg.), Königswahl und Thronfolge in ottonisch-frühdeutscher Zeit, Darmstadt 1971, S.  309–388, hier S.  346–355; sowie bes.: Wolfram, Herwig, Splendor Imperii. Die Epiphanie von Tugend und Heil in Herrschaft und Reich, Graz 1963, S. 96 ff., 144. 41 Vgl. Nussbaum, Sp. 1045; Mitterwieser, Alois, Geschichte der Fronleichnamsprozession in Bayern, München 1930, bes. S. 97–100. 42 Mumford, Lewis, Die Stadt. Geschichte und Ausblick, München 19802, Bd. 1, S. 234; vgl. ebd. S. 326 f. eine Prozessionsschilderung Albrecht Dürers. 43 Vgl. Edelmann, August, Schützenwesen und Schützenfeste der deutschen Städte vom XII. bis zum XVIII. Jahrhundert, München 1890, Festbeschreibungen, S.  77 ff.; über Umzüge der Zünfte u. a. Lenhardt, Heinz, Feste und Feiern des Frankfurter Handwerks, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 5. Folge Bd. 1, H. 2, 1950, bes. S. 10–17, 27–33.

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später mehr und mehr das Verhältnis zwischen kaiserlicher und fürstlicher Gewalt, zwischen Lehnsherren und Volk, zwischen Städten und fürstlicher Herrschaft in den Vordergrund. Wie am deutschen Kaiserhof und bald auch an den Fürstenhöfen, blieb der Adventus zentraler Bestandteil des Hofzeremoniells in Frankreich und im Mittelmeerraum; er gehörte in England und in Osteuropa44 untrennbar zum Hofleben und zur Herrscherpräsentation und entfaltete eine bemerkenswerte, sich dem vergleichenden kulturgeschichtlichen Studium anbietende Formen- und Bildervielfalt. Die frühneuzeitliche Entwicklung des Zeremoniells ist ausführlich beschrieben worden,45 so dass wir uns wiederum auf einige Grundzüge beschränken können: In ganzer höfischer Pracht hat sich das Einzugszeremoniell offenbar zunächst mit der Renaissance in den oberitalienischen Stadtstaaten,46 wenig später in Burgund und, wie das repräsentative Sammelwerk von Jean Jacquot über »Les fêtes de la Renaissance« zeigt,47 in Frankreich entfaltet. Ein Leonardo da Vinci nicht, auch nicht ein Rubens, wohl kaum einer war sich zu schade, an Inven­ tionen und Sensationen anlässlich solcher Großereignisse mitzuwirken, während sich in Deutschland, so in Aachen mit der wach gehaltenen Erinnerung an Karl den Großen,48 die kaiserlichen Einzüge offenbar zunächst noch stärker an den Formtraditionen orientierten. In Frankreich und andernorts verlor das Zeremoniell im Aufstieg des fürstlichen Absolutismus an herrschaftskonstitutiver Bedeutung und streifte mehr und mehr den liturgischen Charakter ab, um der repraesentatio maiestatis zu dienen; dort hingegen, wo die Rechtsbindungen des Ständestaats der fürstlichen Macht weiterhin Grenzen setzten, konnte sich gerade mit dem Adventus der Rechtsakt einer Sicherung gegenseitiger Machtsphären verbinden. In Brabant beschwor der Herzog erstmals 1356 anlässlich seines Ersteinzugs die Privilegien der Stände, ein Brauch, der fast 450 Jahre als »Joyeuse Entrée« beibehalten werden konnte und ein ständisches Widerstandsrecht begründete; in den Niederlanden führte die Abschaffung des Frohen Einzugs durch Joseph II. im Jahre 1789 zu dessen Absetzung.49 In Deutschland drückte sich der Verfall kaiserlicher Macht unter anderem in dem Umstand aus, dass, wie noch Goethe in »Dichtung und Wahrheit« berich44 Hinweise u. a. bei Holtzmann, Robert, Zum Strator- und Marschalldienst, in: HZ, Bd. 145, 1932, S. 301–346, 327–330. 45 Zum Folgenden s. bes. Dotzauer, S. 259 ff. 46 Vgl. Burckhardt, S. 306–316. 47 Vgl. bes. Bd. 3, Paris 1975, S. 18 f., »Idéologie de l’entrée et structure sociale«, sowie S. 21–23; ferner Mourey, Gabriel, Le livre des fêtes Françaises, Paris 1930; Graham, Victor E. u. a., The Paris Entries of Charles IX and Elisabeth of Austria, 1571, Toronto 1974. 48 Vgl. Schulte, Aloys, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen 813–1531, Bonn 1924, S. 59–66; auch Rörig, Fritz, Geblütsrecht und freie Wahl in ihrer Auswirkung auf die deutsche Geschichte, zuerst 1948, Neudruck in: Hlawitschka (Hg.), S. 71–147, 138–140; Lintzel, S. 381–384; Drabek, S. 62–68; zu Frankfurt s. Sieber, S. 15–41. 49 Vgl. Delfos, Leo, Alte Rechtsformen des Widerstandes gegen Willkürherrschaft, zuerst 1956, Neudruck in: Arthur Kaufmann u. Leonhard E. Backmann (Hg.), Widerstandsrecht, Darmstadt 1972, S. 59–86, 79, 84.

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tet, selbst anlässlich der Kaiserkrönung die Kurfürsten allerdings limitierte Einzugsrechte wahrnahmen, die ihnen und den vielen anderen souveränen Herren im System der Territorialstaaten vor allem seit dem Westfälischen Frieden zustanden. Starke Verfestigung, Verformung und Ausbreitung erfuhr der Adventus, wie sich am italienischen Vorbildern nacheifernden Dresdner Hof Augusts des Starken zeigen ließe,50 unter dem Einfluss des Barock. Eine »Einleitung zur Ceremonial-Wissenschaft großer Herren« aus dem Jahre 1729 beschreibt die Vorbereitungen wie folgt:51 »Die Straßen und Gassen der Residentz, welche bey den prächtigen Einzügen passiret werden, sind auf ausdrückliche Ordre und Befehl auf das beste auszuzieren. Biß­ weilen werden sie mit kostbaren Tapeten behangen, bißweilen aber auch zu beyden Seiten mit einer anmuthigen und continuirlich grünen Allee ausgeschmücket […]. Es werden hin und wieder auf den Straßen prächtige Ehren-Pforten erbauet, die mit trefflicher Architectur an Seulenwerck, Gemählden, Statuen und Sinn-Bildern ausgezieret, und aus Holtz oder Alabaster, Porphyr, Gold und Silber zubereitet, wie sie sich zu einer jeden Handlung am besten schicken […].«

So geraten die Festzüge je nach der Bedeutung des Einziehenden und dem Anlass ausnehmend prächtig. Die empfangende Stadt schmückt sich mit Fahnen und Grün in Girlanden und Kränzen; Lorbeer gilt dem Herrscher. Licht in vielerlei Gestaltung, als allegorische Verherrlichung der Sonne oder des Feuers, oft auch als Fackelzug, spielt eine besondere Rolle. Das Stadtvolk säumt die Feststraße: Da stehen Stadtherren getrennt von den in ihren Festkleidern an­getretenen Zünften und vom Klerus; Kinder und Jungfrauen behalten eine hervor­gehobene Position. Der Einzug kann, wenn die Geografie dies nahelegt, zu Wasser erfolgen; in Frankfurt begannen alle Einzüge in Sachsenhausen – eine alte Erinnerung, die mit dem Übergang über den Main wach gehalten wurde. Natürlich führt man im Festzug die Insignien der Herrschaft mit. Für den Einziehenden werden pompöse Triumphwagen konstruiert; den Zug führen Herolde und Trompeter nebst Fahnengruppen an; er wird durch Trommlerund Pfeifermusik begleitet, von Würdenträgern im Prachtornat nach genauer Rangordnung angeleitet, mit Hofstaat und militärischen Formationen vervollständigt. Wohl bereits seit dem 14. Jahrhundert werden »Lebende Bilder« mit50 Vgl. Weisbach, S. 132–152; Sponsel, Jean-Lou, Der Zwinger, die Hoffeste und die Schloßbaupläne zu Dresden, Text- und Tafelbd. Dresden 1909/1924; bes. Sieber, Friedrich, Volk und volkstümliche Motivik im Festwerk des Barock. Dargestellt an Dresdner Bildquellen, Berlin [DDR] 1960. 51 Zit. n. Biehn, Heinz, Feste und Feiern im alten Europa, München 1962, S.  119; eine bereits ironisierende Einzugsschilderung (Adventus im Regen) d. J. 1680 ist abgedruckt bei Lahnstein, Peter, Das Leben im Barock. Zeugnisse und Berichte 1640–1740, Stuttgart 1974, S. 103 f.; Zur Gattung der Zeremonienbücher s. Ehalt, Hubert Ch., Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert, München 1980, S. 64 f., vgl. S. 222 f. (Einzugsordnung zur Hochzeit Leopolds I. 1666).

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geführt, unter denen sich bald allegorische Sinndeutungen, bald wichtige historische Situationen verkörpert finden. Diese Entfaltung der Pracht von Bildern und Symbolen strebt im Barock einem Höhepunkt zu, doch sind viele Inventionen, sind Illuminationen, Böllersalven und Feuerwerke52 zum Teil bereits früher hinzugetreten. Im Zuge werden die absonderlichsten Figuren eingeordnet, Mummereien etwa und exotische Seltenheiten wie Elefanten und Kamele und sonstige große Spektakel. Kennzeichnend auch, dass die »Festzugsbürokraten« dazu übergegangen sind, umfängliche Programme zu entwerfen, zu drucken und zu verteilen, Programme, in denen die Festfolge, die Lebenden Bilder und die Allegorien erklärt werden. An den Einzug schließt sich ein üppiges Volksfest an. Die Städte tragen Sorge wegen des vielen fremden Kriegsvolks und der sonstigen, zu den Empfangsfeierlichkeiten angereisten Fremden in ihren Mauern. Der Geldwurf des Einziehenden, der Geschenkaustausch, auch das Begnadigungsrecht aus dieser Gelegenheit und die symbolische Vergabe von Gegenständen des Einzugs an bestimmte Berechtigte gehören wie stets zu den erwarteten und mit Jubel umgebenen Einzugshandlungen. Insgesamt: Für jede empfangende Stadt ist der Adventus ein Jahrhundertereignis, auch dann, wenn es, wie im Falle der Residenzen, der großen Reichs- und Krönungsstädte, häufiger vorkommt und sich mit abweichenden Brauchformen verbunden hat. Manche Straßen beginnt man auf Dauer für den Empfangszweck einzurichten. Es sei versucht, einige der zeremonialen Entwicklung unterliegende Tendenzen zu erarbeiten: Dem Zeremoniell wohnte, erstens, nach wie vor die Tendenz zur Aus­breitung inne. Man mag sich hierbei erinnern, dass im kirchlichen Brauchtum auch neben den großen Prozessionsfeierlichkeiten eine Art kleinformatiger Ein­holung üblich war und ist, so jene des neu ernannten Bischofs in seine Residenz, aber auch, und bis heute, die Einholung des Pfarrers in seinen und durch seinen neuen Pfarrsprengel. Besonders wichtig wurde die Ausbreitung über die Entstehung der neuzeitlichen Diplomatie: Die Gesandten als Stellvertreter ihrer Fürsten nahmen, wie anlässlich des Westfälischen Friedens bezeugt ist und noch heute beobachtet werden kann, Einzugsrechte wahr. In Rom etwa war bekannt, dass die französischen Gesandten besonders üppige Einzüge hielten.53 Bald mochte es naheliegen, auch anderen hohen Würdenträgern Einzugsrechte zu gewähren, wie sie im Übrigen jedem Duodezfürsten zustanden. Selbst führende städtische Amtspersonen und, so gegen Ende des 18.  Jahrhunderts bezeugt, Kaufleute haben sich einzugsähnlicher Ehren vergewissert. Diesen Prozess als »Demokratisierung« zu verstehen,54 geht an der Sache vorbei: Vielmehr ist Nachahmung der gewöhnliche Weg kultureller Proliferation, und zwar

52 Vgl. Fähler, Eberhard, Feuerwerke des Barock. Studien zum öffentlichen Fest und seiner litera­rischen Deutung vom 16. bis 18. Jahrhundert, Stuttgart 1979, bes. S. 51 f. 53 Beispiele hier und im Folgenden nach Dotzauer, S. 284 u. ö. 54 So Dotzauer, S. 263 u. 284.

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Nachahmung im Sinne des Absinkens eines von den Oberschichten vorgelebten Brauchs oder Kulturguts.55 »Nachahmung« und »Absinken« sind, zweitens, Signale für die Verformung des Zeremoniells, eine Verformung, die – der Karneval zeigt es – zu neuen Festzugsformen führen kann, deren Zusammenhang mit ihrem Ursprung dem Nachgeborenen nicht mehr erkennbar ist. Von den oberitalienischen Höfen ist die formelle Gleichsetzung des fürstlichen Hochzeitszuges mit dem Adventuszeremoniell bekannt; ebenso hat Burckhardt die Überformung und Persiflage zeremonialer Bestandteile im Karneval schon seit dem 13. und 14. Jahrhundert nachgewiesen.56 Höhepunkt der Verformung ist das Barock. Im Festzeremo­ niell des barocken Herrschers zerfließt der Festzugsbrauch in einer Fülle von Hoffeierlichkeiten; aus fürstlichem Repräsentationsbedürfnis wird der Festzug zum Umzug mit sei es antiken, philosophierenden, auch gewerblichen Allegorien und ziert fortan jedes höfische Fest, aus welchem Anlass immer. Jeder Raum ein Festraum, jede Straße eine Feststraße, so hat Richard Alewyn vor dem Hintergrund des horror vacui modernisierend und übertreibend das ba­rocke Fest charakterisiert.57 Drittens sei knapp der Prozess der Entkirchlichung des Zeremoniells, dar­ unter seine Befreiung vom mittelalterlich-katholischen Symbolwerk im protestantischen Deutschland, wo dann als kirchliche Zeremonie in erster Linie der Fürstengottesdienst übrigbleibt, hervorgehoben. Solcher Bedeutungsverlust schließt einen Bedeutungswandel ein: Der Praecursor wird zum Herold, schließlich zum Fahnen- und Bannerträger, das kirchliche Teilzeremoniell, der liturgische Charakter schwindet, womit dem Einzug das »Epiphane«, wenn nicht so sehr im äußeren Bild, so doch hinsichtlich der legitimierenden Funktion schrittweise genommen wird. Umso mehr tritt der Volksfestcharakter, treten Lustbarkeiten, Festmahle und Volksvergnügungen wie der öffentliche Festbraten nebst freiem Wein mindestens in der Festperzeption des gemeinen Mannes in den Vordergrund. 55 Vgl. schon Trautwein, Susanna, Gesellschaft und Geselligkeit in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1919, S. 103 f.; s. auch Bausinger, Hermann u. a., Grundzüge der Volkskunde, Darmstadt 1978, S. 222 u. ö. 56 Burckhardt, S. 312: »Die eigentlichen triumphalen Einzüge von Eroberern waren nur Ausnahmen. Jeder festliche Zug aber, mochte er irgendein Ereignis verherrlichen oder nur um seiner selbst willen vorhanden sein, nahm mehr oder weniger den Charakter und fast immer den Namen eines Trionfo an.« 57 Vgl. Alewyn, Richard, Das weltliche Fest des Barock. Versuch einer Morphologie, in: Festschrift der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW zu Ehren des Ministerpräs. Karl Arnold, Köln 1955, S. 1–22, 5–9; ders. u. Sälzle, Karl, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung, Hamburg 1959, S. 13, 20–22 u. 6.; kritisch: Straub, Eberhard, Repraesentatio maiestatis oder Churbayerische Freudenfeste. Die höfischen Feste in der Münchner Residenz vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, München 1969, S. 2–10; ferner bes.: Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Sozio­ logie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Neuwied 1969, S. 120–177.

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Dieser Entwicklung korrespondiert viertens die Entrechtlichung des Adventus, wie sie mit dem Aufstieg des Absolutismus, schließlich des modernen Verfassungsstaats einherging. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: Zwar bleibt der occursus vor der Stadt, dessen Rechtsqualität sich mit wachsender städtischer Machtfülle in der Schlüsselzeremonie niederschlägt, weithin erhalten. Der Schlüssel kann jedoch, je nach Unabhängigkeit und Selbstbewusstheit der empfangenden Stadt, angeboten werden in der Gewissheit, dass er nicht akzeptiert wird. Beim Ingressus, der Gegenform des feierlichen Adventus, können, wie in Brixen im Jahre 1311, die Stadtoberen nach Einnahme der Stadt dem Eroberer mit um den Hals geknüpften Seilschlingen entgegentreten; eine Schlüsselübergabe findet nicht mehr statt oder wird im sinnbildlich verkehrten Schlüssel angedeutet. In Stettin begrüßen Kinder und Jungfrauen in Trauerkleidung den Großen Kurfürsten nach der Eroberung im Jahre l678.58 Der Unterwerfungsakt im Ingressus, der Huldigungsakt im Adventus besaß Rechtsrealität, so dass der Autonomieverlust der städtischen Gemeinwesen, der in der Mediatisierung der meisten Reichsstädte gipfelte, ebenso wie die Herausbildung der Verfassungsstaaten dem Empfangszeremoniell einen Kern seiner Bedeutung nahm.

4. Den Garaus haben die angesprochenen Vorgänge dem Adventus so wenig wie die festkritischen Stimmen der Spätaufklärung59 gemacht; dies gelang auch nicht, wie man hätte erwarten können, dem Eisenbahnzeitalter. Teile des Zeremoniells hat sich das 19., das »bürgerliche« Jahrhundert in einer Unzahl von Varianten angeeignet, die ihrerseits bereits als verformte Tradition in den Städten lebendig waren. Wie im 16. Jahrhundert mit dem Niedergang des Rittertums das Schützenfest zum Turnier des aufgestiegenen Stadtbürgers werden konnte, so sank, überspitzt gesagt, das einstmals herrscherliche, hocharisto­ kratische Empfangszeremoniell in stadtbürgerliche Schichten ab und gewann, als weltlicher Festzug in jedweder Gestalt, sein Eigenleben. In Köln, wo man sich um die Wende zum 19. Jahrhundert gern mit Rom und Venedig verglich und überdies reichsstädtisches Bewusstsein pflegte, fand die Idee der Thronbesteigung des Prinzen Karneval unter den Neuerern dieses Brauchs im Jahre 1823 Eingang, so dass schon 1824 der »Besuch der Prinzessin Venetia« und ihr Einzug in die Stadt zur Leitidee des Festes wurden.60 Ähnlich hat in den Anfängen des Münchner Oktoberfests61 neben mancher jüngeren Überlieferung wie 58 Beispiele: Dotzauer, S. 257, 277. 59 Vgl. bes. Deneke, S. 108–114. 60 Vgl. Klersch, S. 55, 59, 91 u. 100 f. 61 Vgl. Möhler, Gerda, Das Münchner Oktoberfest. Brauchformen des Volksfestes zwischen Aufklärung und Gegenwart, München 1980, S. 11, 13 f., 50 f., 80, 238 f.

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den barocken Reiterspielen immer auch das herrscherliche Empfangszeremo­ niell, und sei es in Gestalt des Einzugs des königlichen Hofs in das Festzelt unter Geschützdonner, Fahnenschwenken und brausender Musik, eine Rolle gespielt; freilich war es hier noch ein wirklicher König, der den Festzug eröffnete und den staunenden Affekt des Spaliers auf sich zog. Anders hingegen in den unzähligen Umzügen und Festereignissen, mit denen sich das städtische Bürgertum im 19. Jahrhundert mithilfe seiner Vereine den Jahres-Festkalender gestaltete: Hier ist es kaum noch ein ferner Abglanz des alten Prunks, der in zeremoniell verfestigten Festhandlungen übernommen wird; hier feiert das Stadtbürgertum, zugleich in Festzug und Spalier, sich selbst und kleidet sein Fest- und Freizeit­ bedürfnis in überkommene Formrelikte. Als im Juli 1867 der Krieger- und Landwehrverein in Castrop sein »Erinnerungsfest an die glorreichen Tage des vorigen Jahres so wie an den zweiten Einzug der siegreichen Preußen in Paris am 7. Juli 1815« feierte, begann das Fest am Vorabend mit Kanonendonner und Großem Zapfenstreich, setzte sich anderntags frühmorgens mit Reveille und neuerlichem Kanonendonner fort und fand seinen nächsten Höhepunkt im Antreten und Festzug durch die geschmückte Stadt. Nachmittags schlossen sich ein Festkonzert nebst Sternschießen, abends ein Festball, schließlich ein Feuerwerk und ein neuerlicher Zapfenstreich an, und nicht genug damit, dieser Festrhythmus musste am folgenden Tage noch einmal wiederholt werden62 – Festivitäten dieser Art, jene unzähligen Turner-, Schützen-, Feuerwehr-, Krieger- und sonstigen Vereinsfeste glichen einander oft bis in Einzelheiten: von der Bildung des Festkomitees über die Ausschmückung der Stadt und die Benachrichtigung befreundeter, zur Mitwirkung aufzurufender Organisationen bis zu deren Empfang oft vor der Stadt oder auf einem ihrer großen Plätze, bis zu Böllerschüssen, Zapfenstreich und Feuerwerk, bis in die Details der Festzugsordnung vom Vorreiter, Herold oder Tambourmajor über die Fahnenabordnungen zur Marschmusik, zur ranggegliederten Honoratiorenschaft und zu den einzelnen Vereinsmitgliedschaften, die sich privilegiert wussten, im Festzug zu marschieren. Je umfassender und »offizieller« das Fest als kommunales Ereignis, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Schulkinder und Ehrenjungfrauen an prominenter Stelle im Festzug mitwirkten; je patriotischer der Anlass, um so großartiger die Vorbereitungen. Festmahle gehörten mehr in die Vorbereitungsphasen solcher Ereignisse, zu denen man überdies die Festzugsstraßen nicht nur mit Fahnen, Wimpeln, Girlanden und Baumgrün schmückte, sondern gelegentlich gar Ehrenpforten errichtete.63 Und wenn bisher die Vereine selbst gewissermaßen autonom ihre jährlichen Feste und 62 Nach Märkischer Sprecher (Bochum) Nr. 75/1867; im Folgenden nach Durchsicht von Jahrgängen der 1860er und 1870er Jahre dieser Zeitung sowie der Rhein- und Ruhr-Zeitung (Duisburg) und der Tremonia (Dortmund). 63 Vgl. etwa Schmitt, Heinz, Das Vereinsleben der Stadt Weinheim an der Bergstraße. Volkskundliche Untersuchung zum kulturellen Leben einer Mittelstadt, Weinheim a. d. B. 1963, S. 172.

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­Jubiläen gefeiert hatten, so traten seit der Reichsgründung im Jahres-Festkalender die nationalen Gedenktage zwischen Kaisergeburtstag und Sedanstag,64 zu denen die Phalanx der Vereine nach Rängen – den Kriegern gebührte der Vortritt – antrat, durchaus in den Vordergrund. Es kann nicht überraschen, dass sich selbst Unternehmer und Unternehmen zur Feier ihrer Jubiläen ähnlicher Formen bedienten, dass Firmengebäude »mit Kränzen und Ehrenbogen« verziert, »reicher Flaggenschmuck« angebracht, die Belegschaften »festlich uniformiert und im wohlgeordneten Zuge von den Beamten geführt«, dass Böllerschüsse und Marschmusik dargeboten, auch Fackelzüge zu irgendwessen Ehren organisiert und allemal Fahnen geschwenkt, geehrt und geweiht wurden.65 Überhaupt war und ist mit der Vereinsfahne ein dem Außenstehenden und Nachgeborenen schwer begreiflicher Symbolwert verknüpft. Ein Verschnitt von nahezu bedeutungslos gewordenen Elementen einer Überlieferung, wie sie gleichsam in Reinform der Herrscherempfang verknüpft hatte – das war der kommunale Festalltag im 19. Jahrhundert. Wichtigstes Kriterium des Verschnitts war der Affekt, war der im Festzug ja stets »mit­beteiligte und mithandelnde Zuschauer«,66 dessen Engagement nur schwer zu verstehen ist und irgendwo zwischen Staunen, Erregtheit und Belustigung angesiedelt war, jedenfalls aber einem tiefen Bedürfnis entsprach. Auch bot der Festzug die Chance positiver Identifikation, die Gelegenheit des Sich-Wiedererkennens in einer neuen, aber nicht eigentlich weniger repräsentativen, bürgerlichen Öffentlichkeit.67 Gerade auch das Kolossalgemälde des Historischen Festzugs mit seinen gezielten Reminiszenzen in Lebenden Bildern, Festzugsthemen und -ordnungen hat im Sinne einer »Historisierung des Gegenwärtigen«68 ein starkes Bedürfnis nach Selbstdarstellung in repräsentativer Form verwirklicht. Mochte auch der Festzugsbrauch, adaptiert vom Stadtbürgertum, in mannigfaltiger Gestalt wuchern, so ist der zeremoniell verfestigte Herrscherempfang auch im bürgerlichen Jahrhundert und im Zeitalter der Eisenbahnen nicht verdrängt, wohl aber, denkt man zunächst an die »Kleinform« der Herrscherreise, auf Akte floskelhafter Präsentation beschränkt worden. Noch immer gingen dem Fürstenbesuch, ja, der bloßen Durchreise des Herrschers oder auch nur 64 Beispiele der intensiven Festvorbereitung etwa: Stadtarchiv Herne Nr. IV 302; Festberichte z. B.: Tremonia Nr. 195–201/1882; grundsätzlich: Schieder, Theodor, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 1961, S. 76 f., 125–153. 65 Zitate: Berggeist, Jg. 5, 1860, S. 535, vgl. S. 512; zum Firmenfest besonders: Schomerus, Heilwig, Die Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen. Forschungen zur Lage der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 204–220. 66 Gantner, Theo, Der Festumzug. Ein volkskundlicher Beitrag zum Festwesen des 19. Jahrhunderts in der Schweiz, Basel o. J. (1970), S. 3. 67 Differenzierend gegenüber Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 19715, bes. S. 13–69. 68 Bausinger, Hermann, Volkskultur in der technischen Welt, Stuttgart 1961, S.  126; über Öffentlichkeit im Historischen Festzug s. bes. Hartmann, S.  133–135, 161 ff. u. ö.; über Zu­sammenhänge zwischen Herrscherempfang und Historischem Festzug (Adventus als Formvorbild, als historischer Hauptbezug u. a. m.) ebd. S. 11–14, 126, 131 f.

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eines wichtigeren Mitglieds des Herrscherhauses wochenlang intensive Vorbereitungen voraus. Galt dies schon für die Bahnhöfe am Reiseweg, von denen der Reisende wissen ließ, dass er diesen Orten die Gunst eines kurzen Halts zu erweisen gedenke, so um so mehr für den Bestimmungsbahnhof, das Reiseziel, wo Stadträte, Bürgerschaft und Vereine, vor allem aber Behördenchefs und Militärs einen würdigen Empfang zu besorgen hatten. Auch hierbei blieben, unter Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten, die Grundzüge der Herrschereinholung erhalten: Der Bahnhof insbesondere, aber auch die Straßen der Empfangsstädte erstrahlten im Schmuck von Fahnen und Baumgrün; Schulkinder, Magistrat und Bürgermeister, hohe Beamte und jedenfalls die Militärs traten im Spalier der Vereine zur Begrüßung heran, und der occursus wurde auf den Bahnsteig verlegt. Die Durchreise des Kronprinzenpaares durch das Ruhrgebiet Anfang Februar 1858 war Wochen im Voraus angekündigt worden, und auf dem Bahnhof Herne-Bochum lief ein ausgeklügeltes Empfangszeremoniell unter Beteiligung so gut wie aller Honoratioren und Vereine der näheren Umgebung ab. Der Bochumer Verein überreichte bei dieser Gelegenheit ein »Album« mit dem »Jubelgruß«: »Westfalen bringt mit Glockenklang Aus Stahlesguß dem Himmel Dank! Den Königssohn und sein‹ Gemahl Beschütze Gott und unser Stahl!«69

– und all dies für einen genau geplanten Aufenthalt von 10 Minuten. Andernorts konnte die herrscherliche Gunst gegenüber der aufgestellten pompa durch eine Verlangsamung der Zugfahrt unter huldvollem Winken bestehen; in Dortmund geriet im Juni 1890 die Durchfahrt des Kaisers gar zu einem Riesenspektakel, ohne dass man des hohen Herrn auch nur ansichtig geworden wäre.70 Auch aus dem ländlichen Bayern ist bekannt,71 dass der Brauch des feierlichen Herrscherempfangs als ein zentraler Bestandteil des monarchischen Kults noch in den Anfängen des Autos beibehalten wurde; Hofzeremoniell und repraesentatio maiestatis fanden überdies in Hochzeitsreisen, Königsgeburtstagen, Regierungsjubiläen, schließlich auch zu Beerdigungen fürstlicher Häupter, deren Gestaltung seit alters her Gegenbilder zum Adventus aufwies, gerade am bayerischen Hof und im Besonderen in der Residenzstadt München unbeschadet des seit 1871 konkurrierenden Kaiserkults eifrige Pflege. Neben der »Kleinform« des gleichsam alltäglichen Herrscherempfangs nahm weiterhin die »Großform« des Adventus im höfischen Zeremoniell selbst des Industriezeitalters einen fest umrissenen Platz entweder als Ersteinzug oder Hul69 Märkischer Sprecher Nr. 12/1858. 70 Tremonia Nr. 139/1890. 71 Vgl. Blessing, Werner K., Der monarchische Kult, politische Loyalität und die Arbeiterbewegung im deutschen Kaiserreich, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Arbeiterkultur, Königstein 1979, S. 185–208; ferner o. Anm. 61.

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digungsreise eines eben gekrönten Herrschers oder beim hochoffiziellen Besuch eines regierenden auswärtigen Fürsten ein. Allenfalls der Einholung einer königlichen Braut kam noch ähnlicher Rang zu; überhaupt kennt etwa das preußische Hofzeremoniell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Anlässen öffentlicher Repräsentation der Königsfamilie neben den Einzügen und Ein­ holungen nur noch die Eröffnung und Schließung des Landtags oder Reichstags sowie die Einweihung von Denkmälern. Die zeremoniale Ausgestaltung des jeweils aktuellen Einzugs erfolgte dabei, wie das »Ceremonial-Buch für den Königlich Preußischen Hof« des langjährigen Ober-Ceremonienmeisters Grafen Stillfried zeigt,72 nicht etwa im Rahmen feststehender Regeln von Gesetzesrang, sondern wurde anhand peinlich verzeichneter Vorbilder stets neu auf könig­lichen »Specialbefehl« verordnet, so dass den wechselnden örtlichen und sach­lichen Gegebenheiten Rechnung getragen werden konnte. Auf diese Weise wurde die Überlieferung angepasst; das Zeremoniell blieb, obgleich in den Grundzügen stets übereinstimmend, geschmeidig, mochte sich gar den wechselnden Zeitströmungen in gewissem Umfang anpassen. Eine herausgehobene Rolle blieb am preußischen Hof der Krönungs- bzw. Huldigungsreise nach Königsberg und dem Ersteinzug des Gekrönten vor allem nach Berlin, aber auch in die anderen Großstädte des Königreichs vorbehalten. Die Königsberg-Reise erfolgte regelmäßig über bestimmte »Relaisstationen«, an denen ein stets ausgedehntes Empfangszeremoniell dargeboten wurde; die Straßen und Häuser am Reiseziel selbst waren »mit Fahnen, Kränzen und Flaggen bedeckt, überall war Musik; am Thor eine Menge weiß gekleideter junger Mädchen«, und der Einzug verlief vom occursus vor der Stadt über den Festzug durch das Spalier der Stände, Zünfte und Vereine bis zur Huldigungsfeier, den Festmahlen, Fackelzügen und Feuerwerken entlang den vorgebildeten Mustern.73 Kanonendonner, Glockengeläut und Vivatrufe des spalierbildenden Volks formten den akustischen Hintergrund. Dass der Rang des Einziehenden das Protokoll bis in Einzelheiten bestimmte, zeigt die folgende Schilderung vom Treffen des Zaren Alexander mit Friedrich Wilhelm III. am 10. Juni 1802 in Memel:74 »Der König ritt dem Kaiser um zehn Uhr früh bis eine Viertelmeile vor der Stadt entgegen. Sobald der Kaiser ihn kommen sah, verließ er sofort den Wagen und stieg zu 72 Berlin 1877; vgl. bes. Teile VIII, S. 142–150, 154–170, 174–197; IX, S. 267 f., 273–276. 73 V. Voß, Sophie Marie Gräfin, Neunundsechzig Jahre am Preußischen Hofe. Erinnerungen der Oberhofmeisterin, Leipzig 18946, S. 225 (Zitat); s. ferner S. 12 (Friedrich II. 28.12.1745), 117 f. (Friedrich Wilhelm II. 18.8.1786), 219 ff. (Huldigungsreise ab 25.5.1798), 233 f. (Ersteinzug Friedrich Wilhelms III. in Breslau). 74 V. Voß, S. 242; man vergleiche hiermit die Schilderung der Einholung des Zaren Nikolaus am 8.9.1896 in Kiel, s. Sievers, Kai Detlev, Öffentliche Festveranstaltungen in Kiel während der wilhelminischen Zeit, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 75, 1979, S. 1–22, 10 f., sowie die »Ordnung der Feierlichkeiten bei der am 31. Mai 1873 [in Berlin] stattfindenden Ein­ holung Sr. Majestät des Schahs von Persien«, befohlen am 29.5.1873, Ceremonial-Buch, T. IX S. 273 f.

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Pferde, um den König so zu begrüßen. Von der Grenze an war von Detachements von Husaren und Dragonern eskortiert worden, und vom Stadtthore an, vor dem eine Ehrenpforte errichtet war, bildeten die Infanterieregimenter Spalier. Die Kaufmannschaft empfing den Kaiser ebenfalls am Thore zu Pferde. In allen Straßen waren Musikchöre aufgestellt. Freudenschüsse, Vivats und Hochrufe erfüllten die Luft mit einem festlichen Spektakel.«

Weil der Rechtscharakter des Krönungszeremoniells mit dem Aufstieg des Verfassungsstaats auch in Preußen zwangsläufig Einbußen erlitt, hat der feier­liche Adventus sogar vorübergehend eine Ersatzfunktion wahrgenommen. Wilhelm I. war der erste preußische König, der den Thron unter einem Verfassungseid bestieg, und so ließ sich in der Krönung vom Oktober 1861 der von Friedrich I. inaugurierte »alte Bund zwischen Fürst und Volk durch einen Huldigungsakt«,75 in dem Treue beschworen, Privilegien bestätigt worden wären, nicht mehr erneuern. Ersatzweise ließ der König bis in die Details die An- und Abreise in Königsberg sowie die Einholung nach Berlin, nach preußischen Krönungsreisen übrigens stets durch das Frankfurter Tor, im Anschluss an die Krönung des Urgroßvaters seines Großvaters vom Jahre 1701 replizieren. Preußen sollte dem Sinn nach noch einmal Königreich werden, um trotz Verfassung die Wirklichkeit der Majestät jedermann vor Augen zu führen. Fast scheint es, als ob auf diesem Wege jene uralte, formell vielleicht schon zur Zeit Karls des Großen bedeutungslose Rechtshandlung, die Akklamation des spalierbildenden Volks als ein Akt der Anerkennung und Unterwerfung, durch einen Appell des Herrschers an das Volk selbst, nicht etwa an dessen gewählte Vertreter, wiederbelebt worden wäre. Wohl der berühmteste aller großen Einzüge des 19.  Jahrhunderts stand an der Schwelle des neuen deutschen Kaiserreichs: der Einzug der siegreichen Truppen unter Führung von Kaiser, Kanzler und Feldherrn nach dem Frankreichfeldzug im Jahre 1871.76 75 Ceremonial-Buch, T. VIII S. 164. 76 Darstellung und Zitate im Folgenden nach den sehr umfangreichen Presseberichten: Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) Nr. 139/1871; Augsburger Abendzeitung Nr. 75 ff./1871 mit (Nr.  143 f.) Zweiter Beilage zur Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung, 15.  u. 16.6.1871. Die Ereignisse sind u. a. in der Memoirenliteratur vielfach dokumentiert; hingewiesen sei auf: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, hg. v. Friedrich Curtius, Bd. 2, Stuttgart 1907, S. 63 (von der Reichstagstribüne); Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg geb. Freiin v. Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, hg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1976 4, S. 126 f.; zum Fehlen des englischen Gesandten auf der Botschaftertribüne: Briefe der Kaiserin Friedrich, hg. v. Sir Frederick Ponsonby, Berlin o. J., S. 155–157; über Ehrungen und Standeserhöhungen etwa: Denkwürdigkeiten aus dem Leben des General-Feldmarschalls Kriegsministers Grafen von Roon. Sammlung von Briefen, Schriftstücken und Erinnerungen, Bd. 3, Breslau 18974, S. 302–305; aus der Sicht eines Einziehenden: Kaiser Friedrich III. Das Kriegstagebuch von 1870/71, hg. v. Heinrich Otto Meisner, Berlin 1929, S. 424 f. (u. a. über die Folgen der sommerlichen Hitze am Einzugstag); aus »einfacher« Zuschauersicht: Philippi, Felix, Alt-Berlin. Erinnerungen aus der Jugend, Bd. 1, Berlin 19159, S. 63–66; als genaue Beschreibung des Berliner Festschmucks (mit Fotografien) vgl. bes. Weidner, Heinz, Berlin im Festschmuck. Vom

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Wilhelm I., bereits im März nach Berlin zurückgekehrt, hatte sich, kennzeichnend genug, ein eigenes Einholungszeremoniell durch die Stadt Berlin, das der Kaiserwürde gegolten hätte, verbeten. Er zog es vor, öffentlich an der Spitze des Heeres in die Hauptstadt zurückzukehren; infolgedessen wies das am 16. Juni nach immensen Vorbereitungen ausgetragene Zeremoniell einige Besonderheiten auf, die freilich, denkt man an die öffentlichen Feiern nach den Befreiungskriegen 1814 und 1815 oder an jene nach den Feldzügen der 1860er Jahre,77 im Grundsatz nicht neu waren: Es verband nach antikem Vorbild den Adventus mit dem Triumphus. Für den eigentlichen Einzug wurden über Wochen hinweg entlang der vor­ gesehenen via triumphalis »kolossale Gebilde der monumentalen Plastik und Malerei in großer Zahl entworfen und zur Vollendung gebracht«. Man hatte den Triumphweg, wie es hieß, »zu ungeheuren Festsälen umgeschaffen«. Berolina und Germania erstanden zahlreich, überlebensgroß und aus lauter Gips, und Ehrenpforte reihte sich an Ehrenpforte, mit reichen Verzierungen, Gemälden, Girlanden, Baumgrün. An herausgehobener Stelle schmückten den Einzugsweg fünf zum Teil teppichartige Riesengemälde, deren Themen sich an Kaiserworte anschlossen und die Germania, die Überbrückung des Mains, Kampf und Sieg Deutschlands, noch einmal Germania für die »Wiederaufrichtung des Reichs« und schließlich die Reichszukunft, versinnbildlicht in einer Allegorie des Friedens mit Elsass und Lothringen zu Füßen, verherrlichten. Mit Kaulbach wetteiferte ziemlich alles, was Rang und Namen hatte, in der Ausstattung von Gebäuden und Straßen, und auch das siegreiche Heer wurde vielfach variiert in »charakteristischen Gestalten und Situationen« vergegenwärtigt. Firmen- und Bürgerhäuser konkurrierten um den prachtvollsten Schmuck in einem Ausmaß, das selbst der ansonsten euphorisierten Presse skeptische Kommentare entlockte. Am Einzugstag wurde das Spalier einerseits kilometerweit mit erbeuteten Kano­nen martialisch hergerichtet; auf der anderen Seite erhielten die Schulkinder und alle Berliner Gewerbe, darunter übrigens 20.000 überwiegend Borsig’sche Maschinenbauer, feste Straßenabschnitte zugewiesen, und für das Bürgertum standen lange Reihen von Vereinen mit ihren ehrwürdigen Fahnen, die Kriegervereine selbstverständlich voran. Zum Auftakt des Zeremoniells ritt der Kaiser nebst fürstlichem Gefolge die gesamte via triumphalis hoch zum Tempelhofer Feld, wo die Truppen den Kriegsherrn mit einer Parade empfingen. Der Einzug über die Königgrätzer Straße und den Pariser Platz, durch das Brandenburger Tor und Unter den Linden wurde von einer Polizeiabteilung eröffnet; unter dem Geläut aller Berliner Glocken ritten vor der Genera­ 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1940, S. 93–98 (ebd. auch über ältere Adventus). Aus der neueren Literatur s. in erster Linie: Sauer, Klaus u. Werth, German, Lorbeer und Palme. Patriotismus in deutschen Festspielen, München 1971, S. 52–78. 77 Zu den Einzugsfeierlichkeiten um die mit dem König heimkehrenden Truppen am 20. u. 21.9.1866 vgl. bes. Weidner, S. 88–92.

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Abb. 1: Der Einzug Wilhelms I. in Berlin am 16.6.1871.

lität die Kriegshelden Bismarck, Roon und Moltke, gefolgt vom Kaiser im Kreise der Reichsfürsten und endlosen Militärabteilungen. Gleich am Brandenburger Tor empfingen fünfzig aus den besten Familien der Hauptstadt erwählte Ehrenjungfrauen den Kaiser mit einem Lorbeerkranz, und am Eingang der Linden erwartete der Magistrat mit dem Bürgermeister, der einen Empfangs- und Lobeshymnus vortrug, den Kaiser.78 Der stundenlange Vorbeimarsch der Truppen endete mit der Enthüllungsfeier des Denkmals für Friedrich Wilhelm III. im Lustgarten, wo Böllerschüsse abgefeuert und eine Art Feldgottesdienst gehalten wurden. Das abendliche Berlin erstrahlte im hellsten Lichterglanz. Das Licht der Erscheinung umfing die Stadt mithilfe einer wichtigen Invention: Erstmals wurden die Denkmäler elektrisch angestrahlt; es gab zahllose Transparent­ bilder über die Ruhmestaten von Kaiser und Heer, und das Kaiserbild vor dem Victoria-Theater wurde von einer mächtigen »elektrischen Sonne« erleuchtet. Der Schmuck der Stadt, Triumph- und Ehrenpforten, Licht, Transparentbilder und Statuen, Böller und Glockengeläut, Empfang durch Jungfrauen und 78 Diese Szene zeigt Abb. 1. Der Stich wurde aus einer reichen Bildüberlieferung vom Einzug wegen der Bedeutung des Augenblicks und der Genauigkeit der Bildwiedergabe aus Weiglin, Paul, Bilderbuch von Alt-Berlin, Berlin 1953, nach S. 167, entnommen; zur Überprüfung s. dieselbe Szene und Perspektive auf einer weiteren Abb. bei Weidner, S. 95, sowie auf einer leider unscharfen Photographie bei Lange, Annemarie, Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks. Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende, Berlin (O) 1972, vor S. 49.

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Magistrat, Spalier von Schulkindern, Zünften, nichtzünftigen Berufsgruppen und Vereinen sowie Ehrentribünen  – bis in viele Einzelheiten stimmt das ­äußere Bild mit der Überlieferung überein. Seit März, seit der Rückkehr des Kaisers nach Berlin hatte es derartige Feierlichkeiten gegeben; in der Woche des Einzugs in Berlin fanden in deutschen Städten bis hin zum Sonntag, 18. Juni, große Volksfeste statt, bei denen es ebenfalls eine via triumphalis mit Ehrenpforten und Sinnbildern, ein Spalier, einen Festzug gab, übrigens bei »Kaiserwetter« im ganzen Reich.79 München etwa feierte seinen eigenen Einzug am 16. Juli recht genau nach dem Berliner Vorbild: König Ludwig nahm in Anwesenheit des kaiserlichen Kronprinzen – Probleme des Protokolls sollten sich von nun an in Bayern mehren – die Truppenparade nahe Nymphenburg ab, worauf der Kronprinz die Truppen auf Umwegen zur Leopoldstraße führte; am Siegestor, vor der Universität, empfing der Bürgermeister in Begleitung zweier Ehrenjungfrauen den Kaiservertreter, der Kränze und Blumen entgegennahm und den Einzug über die Ludwigstraße fortsetzte.

5. Das Berliner Großfest vom Jahre 1871 war Adventus und Triumphus zugleich, auch wenn man das Ganze vorwiegend als »Einzug«, als »Einholung«, beschrieb. Der Triumph über den großen Sieg und das lang ersehnte Ziel nationalstaatlicher Einigung beseelte die vorbereitenden Künstler und Stadt­väter, die einziehenden Truppen, die Zuschauer und Bewunderer. Der Triumph hat auch im Empfinden der Nachgeborenen – man denke etwa an Ferdinand Kellers Darstellung der Reichsgründung in einem Triumphwagen80  – den Nebensinn der Einholung, die neue Herrscherwürde zu feiern, weit in den Hintergrund gedrängt. Auch wenn man noch »von Gottes Gnaden« zu herrschen vorgab, ist in den Einzügen der Herrscher im 19. Jahrhundert kaum noch etwas von der ehemals »epiphanen« Qualität zu spüren, und auch der Rechtscharakter des Adventus klang allenfalls rudimentär in Symbolhandlungen nach – längst replizierte man ein fest verwurzeltes, in seinen Grundformen jedermann gegenwärtiges Festzugsbrauchtum, das als öffentliches Spektakel die Massen auf sich zog und in einem sehr viel allgemeineren Sinn als »erhebend«, als Beschwörung von Größe und Erfolg vaterländischer Geschichte galt. Dieser Höhepunkt einer Welle nationaler Erregung hat ohne Zweifel einigend gewirkt und darin auch die Arbeiterschaft erfasst; die Spannung der Kriegshandlungen und die erlösen79 Über Feste außerhalb Berlins: Augsburger Neueste Nachrichten Nr.  163 u. 167/1871 (d. i. Jg.  1871, S.  1743–1754, 1784–1789); über München bes.: Friedrich III., Kriegstagebuch, S. 426–429. 80 Vgl. Rosenberg, Adolf, Geschichte der modernen Kunst, Bd. 3, Leipzig 18942, S. 326 f.; zum spätantiken Vorbild etwa Alföldi, S. 97–99; Koeppel, S. 153–156.

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den Siege, die Kaiserproklamation und die Reichstagswahl, schließlich die rauschenden reichsweiten Festlichkeiten  – all dies prägte eine ganze Generation, die Reichsgründungsgeneration. Wirkte das Erlebnis auch stilprägend? Zwischen der Beharrlichkeit der zeremonialen Überlieferung als ganzer und in einzelnen Elementen sowie deren tatsächlichem Bedeutungsschwund im Zeitalter der Industrialisierung und Herausbildung des Nationalstaats besteht ein merkwürdiges Missverhältnis. Längst war die Form- und Bildtradition des Adventus popularisiert, damit aber auch trivialisiert worden; eine nähere Untersuchung des historischen »Bildgedächtnisses« anhand der Bilder selbst, der Statuen, Ehrenpforten, Transparente und des sonstigen Zierats würde »Beispiele eines rudimentär konservierten Bedeutungsdenkens« enthüllen, »das Struktur und Semantik kanonisierter Bildtraditionen in ein völlig verändertes und neues System von Bezügen transponiert.«81 Gerade auch die Lebenden Bilder der Historischen Festzüge konservierten ein solches fragmentiertes Bildgedächtnis und Bedeutungsdenken, indem aus Festzugsmotiven und gestalterischen Einzelheiten die reiche Fülle einer im Kern eher feudalen gesamteuropäischen Festzugstradition sprach, während die Handlung selbst zur Manifestation neuer bürgerlicher Selbstbewusstheit geriet.82 Es gibt zu denken, dass Auguste Rodin in einer Zeit, als das europäische Bürgertum auf dem Zenit seines Einflusses stand, in seiner berühmten, der Eroberung von Calais im 14. Jahrhundert durch König Edward nachempfundenen Figurengruppe »Die Bürger von Calais« nicht einen Adventus, sondern dessen Gegenbild, den Ingressus, nachbildete: Dies war der Augenblick des occursus aus weniger fröhlichem Anlass, und die Botschaft ­Rodins verkündete Mahnung und Demut im Opfergang. Neben dieser zugleich staatstragenden, geschichts-, aber auch selbstbewussten Rolle des Bürgertums zeigt das Festzugszeremoniell weitere Brüche im Bedeutungsdenken. Mochte die Kontinuität des neuen deutschen Kaisertums zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation jedenfalls in der borussischen Interpretation durchaus zweifelhaft sein,83 so bediente es sich doch, freilich unter charakteristischer Nuancierung, der zeremonialen Überlieferung. Bis zur Reichsgründung hatte das 19. Jahrhundert in Jahrzehnten preußischer Siege die Tradition der Problemklärung von oben, und sei es durch das Schwert, gemehrt, und die Triumphzüge nach den Siegen hatten sinnfällig zum Ausdruck ge81 Hess, Günter, Allegorie und Historismus. Zum ›Bildgedächtnis‹ des späten 19.  Jahrhunderts, in: Hans Fromm u. a. (Hg.), Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Festschrift für Friedrich Ohly, Bd. 1, München 1975, S. 555–591, 558; vgl. ebd. S.  564, 571–574 mit weiteren, in die obige Einschätzung eingegangenen Gedanken; zum Feststil auch: Hamann, Richard u. Hermand, Jost, Gründerzeit, München 1971, S. 27 f. 82 Vgl. die in Anm. 5 genannten Titel mit den Abb. bes. bei Hartmann; ferner die Ausstellungskataloge: Gantner (Anm. 66), sowie: Festzüge in Hamburg 1696–1913. Bürgerliche Selbstdarstellung und Geschichtsbewußtsein, Hamburg 1972. 83 S. Fehrenbach, Elisabeth, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871 bis 1918, München 1969, S. 27 ff.

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bracht, wie sehr sich die Monarchie auf das Schwert stützte. Ohne militärischen Prunk würde künftig, und gerade in der Zeit Wilhelms II., ein preußisch-deutsches Hofzeremoniell kaum noch denkbar sein;84 nicht mehr die Erscheinung des Herrschers, sondern die auf das Militär gestützte, kolossale Staatsmacht war im Einholungszeremoniell, ob in dessen Klein- oder in der Großform, in der Verkörperung durch den Monarchen zu feiern. Auf diesem Wege nahm der alltäglichste Herrscherauftritt in der Öffentlichkeit Züge pompöser Siegesbewusstheit an, mehr noch, das Alltägliche um den Monarchen wurde pompös und kolossal, worin Wilhelm II. einige Virtuosität entfaltete. Tatsächlich entblößt von jedweder rechtlichen und epiphanen Qualität, musste das Zeremoniell des monarchischen Auftritts in der Öffentlichkeit, wenn und soweit es sich der überlieferten Formen und Bilder bediente, je länger je mehr operettenhafte Züge85 gewinnen, und der militärische Prunk im Hofzeremoniell kaschierte zunehmend die Erstarrung ehedem sinnbezogener Formen zu Floskeln. Der staunende Affekt über das militärische Schauspiel überwucherte im Zeremoniell der Reichsgründungs-Festlichkeiten den Affekt der Verherrlichung der neuen Kaiserwürde, und in dieser Überwucherung war eine fatale Verformung der künftigen Präsentation monarchischer Gewalt angelegt. Die lang ersehnte nationale Größe ruhte auf den Schultern der Militärs, das zeigten die massenhaften Truppeneinzüge, aber auch die Monumentalstatuen, die Transparentbilder und das martialische Spalier sinnfällig. Von der ehedem immerhin im Zeichen des Absolutismus sinnstiftenden Großartigkeit des barocken Herrschereinzugs waren im Zeitalter der Reichsgründung vom Militärischen überprägte Formen und Bilder übrig geblieben, in denen, was an Bedeutungshandeln und Symbolgehalt verlorengegangen war oder allenfalls rudimentär fortlebte, vorwiegend durch Größe schlechthin, durch die Monumentalität und den kolossalen Eindruck kompensiert wurde.86 Darin lag, so wird man bei aller Kritik betonen müssen, eine zugleich notwendige Entwicklung im Hinblick auf die Nationalstaatsbildung.87 Denn die Feierlichkeiten des Jahres 1871 standen in der Klimax der Ereignisse am vorläufigen Ende eines Prozesses positiver Iden84 Vgl. bes. die von Sievers, S. 12 (»Gesinnungsmilitarismus«) u. ö., am Bsp. späterer Festzüge erarbeiteten Einschätzungen. 85 Vgl. Gründer, Horst, Die Kaiserfahrt Wilhelms II. ins Heilige Land 1898. Aspekte dt. Palästinapolitik im Zeitalter des Imperialismus, in: Heinz Dollinger u. a. (Hg.), Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. Fs. f. Heinz Gollwitzer zum 65. Geb. am 30. Jan. 1982, Münster 1982, S. 363–388, bes. Anm. 19 zu Wedekinds Persiflage. 86 Beispielhaft s. hierzu auch die in der Tradition der Adventus-Panegyrik stehende, um die Wende zur Neuzeit begründete Festspieldichtung, wie sie zur Reichsgründung und in der auf sie folgenden dichterischen »Verarbeitung« neue Höhepunkte erklommen hat: hierzu bes. Sauer u. Werth, S. 59 ff. 87 Über »nationalstaatlichen Stil« s. bes. Schieder, Theodor, Forschungsprobleme des Nationalstaats in Europa, in: Jahrbuch 1966. Der Ministerpräs. d. Landes Nordrhein-Westfalen, Landesamt f. Forschung, S. 601–615; sowie: Fehrenbach, Elisabeth, Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat, in: HZ, Bd. 213, 1971, S. 296–357, 300 f. u. 349 ff.

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tifikation, der, nach den dekorporierenden und destabilisierenden Erfahrungen der ersten Industrialisierungsphase, gerade auch die Massen erfassen sollte und musste. An dieser Stelle offenbart das Einzugszeremoniell ein weiteres Missverhältnis: Mochte man das Spalier auch streng gegliedert nach Zünften, Gewerben und Vereinen aufgestellt haben, so verband die Zuschauer doch über die Ränge hinweg und bis in die Ehrentribünen das gleiche Identifikationserlebnis, wozu die wenn nicht von jedermann gleichermaßen verstandenen, so doch gleichermaßen bewunderten Schmuckformen das Ihre beitrugen. Sie waren, wie verschiedentlich angedeutet, zusammen mit dem Festzug längst auch in die Handwerker- und Arbeiterschaft abgesunken, hatten sich hier mit anderen, neuen Form- und Bildtraditionen verknüpft und gewannen in der Bildsprache der Sozialdemokratie, die als radikale Bewegung mehr als andere politische Strömungen der Symbolsprache und -handlung bedurfte,88 als des Trägers klassenspezifischer Identifikation besonders seit dem Auslaufen des Sozialistengesetzes einen neuen Stellenwert. Der Prozess der Aneignung und Vermischung solcher Formen und Bilder ist freilich älter. Sich selbst, seinen oft noch zünftlerisch geprägten Gruppenstolz im Festzug zu präsentieren, war auch der Arbeiterschaft nicht fremd;89 zwischen den Stiftungsfesten nebst Umzügen älterer konfessioneller, liberaler oder auch sozialistischer Arbeitervereine und jenen der bürgerlichen Geselligkeits-, der Gesangs- oder Turnvereine besteht, denkt man etwa an den Fahnenkult, dem Äußeren nach kein wirklicher Unterschied. Das Lebende Bild, im Historischen Festzug eine Vergegenwärtigung von Geschichte und Tradition, diente im Theaterspiel des katholischen Arbeitervereins der Vergegenwärtigung biblischer Heilssituationen90 und im Festzugsbrauch der Gewerkschaften oder der proletarischen Arbeiterkulturvereine nach der Jahrhundertwende der Vergegenwärtigung von Zukunftsgewissheit.91 Was lag näher, als das utopische Element im Sozialismus mit den Bildtraditionen des Adventus zu umgeben und zu verklären? Das Proletariat als Messias, als neuer Befreier der Menschheit – diese erhebende Vorstellung hatte sich bereits im Lassalle-Kult der späten 1860er und 88 Vgl. bereits Geyer, Curt, Der Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Ein sozio­ logischer Versuch, Jena 1923, S. 26. 89 Kennzeichnende Beispiele aus der frühen gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung s. bei Engel­hardt, Ulrich, »Nur vereinigt sind wir stark«. Die Anfänge der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1862/63 bis 1869/70, Stuttgart 1977, Bd. 2, S. 876, 1016 f., 1018 Anm. 268. 90 Vgl. v. Rüden, Peter, Sozialdemokratisches Arbeitertheater (1848–1914). Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Theaters, Frankfurt a. M. 1973, S. 12; Tenfelde, Klaus, Das Fest der Bergleute. Studien zur Geselligkeit der Arbeiterschaft während der Industrialisierung am Beispiel des deutschen Bergbaus, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Arbeiterkultur, Königstein 1979, S. 209 bis 245, 229. 91 Vgl. das Lebende Bild »Huldigung an die Freiheitsgöttin«, auf dem Festwagen im Umzug des Nürnberger Arbeitersängerbundes 1910, Fotografie: Glaser, Hermann u. a. (Hg.), Industriekultur in Nürnberg. Eine deutsche Stadt im Maschinenzeitalter, München 1980, S. 111. – Über die zeitgenöss. Beliebtheit dieser Kunstform vgl. etwa Valentin, Veit, Lebende Bilder. Eine ästhetische Studie, in: Die Grenzboten, Jg. 39, H. III, 1880, S. 187–198.

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1870er Jahre personifizieren lassen;92 sie war, etwa bei Arno Holz, in der sozialkritischen Dichtung gegenwärtig93 und verband sich nach 1890 in sinnfälliger Mischung mit der Ikonologie des Mai-Festzugs in Festprogramm und Festsymbolik, in Plakatkunst und Allegorie. Ria Classen, die manche Prägungen ihrer Vorstellungskraft vielleicht aus der Bekanntschaft mit dem Werk Stefan Georges bezogen hat,94 schilderte die Empfindungen eines »Menschenpaares« in einer sozialdemokratischen Maifestzeitung vom Jahre 189495 unter dem Titel »Des Maienfestes Erdenflug« folgendermaßen: »Frühlingsdüfte umzittern seinen Weg, und das Menschenpaar beim lodernden Feuer am Waldsaum grüßt mit wehenden Zweigen die strahlend emporsteigende Sonne, die Sonne des ersten Maientages. […] Weihrauchwolken mit schwerem, süßlichen Duft ziehen über sie hin und senken sich ihnen auf Brust und Haupt. Müde ruht ihr Blick auf dem Mann im Priester- gewand, müde auf der Jammergestalt am Kreuz, das er ihnen in hocherhobener Hand entgegenhält. Die Maisonne steigt so strahlend wie einst empor auf die jungfräuliche Erde. […]«

Düfte und Weihrauch, Grün, Feuer und Sonne, jungfräuliche Erde, Priester und Kreuz – das sind nachgerade klassische Topoi des Adventus, die hier, den später nahezu brauchtümlichen sozialdemokratischen »Maispaziergang« verklärend, in das Stilkleid des locus amoenus gebettet werden. Heinrich Heine hatte den gleichsam negativen locus amoenus in die proletarische Literatur eingeführt, und so verkehrt sich auch Ria Classens Erzählung in das Trauerbild eines tristen, ausbeuterischen Alltags: Priester und Kreuz verwandeln sich in unserer Geschichte rasch in einen »auf gleißenden Goldbarren« sitzenden Mann mit einer »Geißel« in der Hand, »umhäuft von den Schätzen der Erde in wüstem Chaos«. Welchen Festmythos sie besang, wird der Autorin kaum gegenwärtig gewesen sein – umso weniger, als die Sozialdemokratie sich fern von feudalen und bürgerlichen Festbräuchen wusste, vielmehr die »Feste der Festlosen« feierte96 und jenen Anderen ihre Traditionen beließ: »Mögen die Toten ihre Toten feiern!«97 92 Vgl. Grote, Norbert, Sozialdemokratie und Religion. Eine Dokumentation für die Jahre 1863 bis 1875, Tübingen 1968, S. 14 u. ö.; s. auch das Kap. über den Beitrag der Arbeiter in Mosse, George L., Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Berlin 1976. 93 Buch der Zeit, zuerst 1884, zit. n. d. Ausg. Berlin 1924, S. 58–74 »Ecce Homo«, vgl. die Verse S. 65, 67, 72 (»[…] und alles schaut auf ihn/wie auf den neuen Heiland.«). 94 Vgl. Classen, Ria, Stefan George, in: Sozialistische Monatshefte, Jg. 6, H. 1, 1902, S. 9–20. 95 Abgedruckt in Achten, Udo (Hg.), Zum Lichte empor. Mai-Festzeitungen der Sozialdemokratie 1891–1914, Berlin 1980, S. 48. Altäre, Priester, Palmenzweige und Fackeln sind so­ zialdemokratischen Bildvorstellungen nicht fremd; vgl. etwa Hickethier, Knut, Karikatur, Allegorie und Bilderfolge. Zur Bildpublizistik im Dienste der Arbeiterbewegung, in: Peter v. Rüden (Hg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1848–1918, Frankfurt a. M. 1979, S. 79–165, 98, 132; zum Folgenden auch Heine, Heinrich, Sämt­liche Schriften, Bd. 3, München 1976, S. 273 f. (Persiflage über Napoleons Einzug). 96 Eisner, Kurt, Feste der Festlosen. Hausbuch weltlicher Predigtschwänke, Dresden 1906. 97 Dichtung und Wahrheit über 1813, Berlin 1913, S. 1.

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Abb. 2: »Mai-Triumph«

Der Maienspaziergang einer aufgehenden Sonne namens »Socialismus!« ent­ gegen,98 die Metaphern einer erneuerten Frühlingskraft des Proletariats, der Mai als Friedens- und Segenspender, als Versprechung und Gewissheit einer Zukunft in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, diese Bilder und Allegorien erscheinen immer wieder in der sozialdemokratischen Mai-Publizistik. Der Maifestzug selbst konnte schließlich als Adventus der Freiheit gedacht werden.99 Von Fanfarenklängen, Blumen streuenden und weiß gekleideten Kindern geleitet, reitet die nackte weibliche Symbolfigur sattel- und zügellos, von weiß gekleideten, kranzschwingenden Jungfrauen gefolgt, durch ein freilich aufgelöstes, erregt gestikulierendes Spalier mit gen Himmel gereckten Häuptern; die in der Menschenmenge aufragenden Fahnen markieren die großen Gedenktage des internationalen Proletariats und, im Symbol der aufgehenden Sonne, seine Zukunft. Vom Festzug ist kein Anfang und kein Ende zu entdecken, und auch zwischen Festzug und aufgelöstem Spalier verschwimmen die Grenzen, um den Eindruck der Masse zu verstärken. Der Adventus der Freiheit findet, bemerkenswert genug, im sonnendurchleuchteten Wald inmitten natürlichen Baumgrüns statt – nicht etwa unter den künstlich verschönten Ehrenpforten der Großstadt-Boulevards. Es ist die Erscheinung, zugleich auch die Apotheose der Freiheit, die hier vorgeführt wird: In die Bildtradition des Adventus mischt sich, 98 Abb.: Achten, Zum Lichte empor, S. 127; s. auch: Die Befreiung der Menschheit, Berlin 1921, T. 2, nach S. 88. 99 Vgl. Abb. 2, aus: Achten, Zum Lichte empor, S. 138 f.

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in der Gestalt der nackten Reiterin, jene neue, mit der Französischen Revolution 1789 begründete und vor allem von Delacroix stilisierte Überlieferung der proletarischen Symbolverklärung. Bald würde, wie Hobsbawm einleuchtend dargetan hat100 und wie sich in der Tat auch in der Bildpublizistik, insbesondere in den Mai-Festzeitungen der Sozialdemokratie und in der Allegorik der Gewerkschaftsfeste101 zeigen lässt, die nackte Frauengestalt von einem nackten, muskulösen Jüngling abgelöst werden. Nacktheit, das war immer auch Symbol für die Radikalität des Denkens. Unser Bild aus der Mai-Festzeitung des Jahres 1905 ist »Mai-Triumph« benannt worden; auch hier nahm der Triumphus die Formen und Bilder des ­Adventus an. Von hier bis zur Darstellung des Völkerfrühlings am 1. Mai im Bild des Triumph-, des himmelstürmenden prometheischen Sonnenwagens, so zum Maifest des Jahres 1904,102 war nur ein kleiner Weg. Überhaupt nahm die Licht-, Feuer- und Sonnensymbolik im Bildgedächtnis der Arbeiterbewegung einen hervorragenden, keineswegs auf Deutschland beschränkten Rang ein. Die über dem Horizont, über dem Erdball aufgehende Sonne, zumeist erst halb sichtbar und im Strahlenkranz, schmückte so manche Bildpostkarte der zahllosen Arbeiterkulturorganisationen, zierte regelmäßig im Hintergrund oder als Hauptgegenstand der allegorischen Handlung die Abbildungen der Mai-Festzeitungen103 und wurde, so anscheinend besonders in Italien, zum wichtigsten Fahnensymbol der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterorganisationen.104 Es sei auch daran erinnert, dass sich die Arbeiterbewegung die Darstellungsformen des Lebenden Bildes und des Festspiels weiterhin gestaltend aneignete – bis hin zu den in Sinngehalt und formaler Ausführung seltsam erstarrten Massenfestspielen Leipziger Arbeiter nach dem Ersten Weltkrieg unter Mitwirkung Ernst Tollers und anderer.105 Vor allem anderen zeigen diese Beispiele, dass die Form- und Bildtradition des Adventus in der literarischen und künstlerischen Darstellung Gemein100 Hobsbawm, Eric, Man und Woman in Socialist Iconography, in: History Workshop, Jg.  6, 1978, S.  121–138; gleichzeitig: Hoffmann, Detlef u. Schmidt-Linsenhoff, Viktoria, in: 100 Jahre Historisches Museum Frankfurt a. M. 1878 bis 1978 (Ausstellungskatalog), S. 375. 101 Vgl. auch die Hinweise bei Friedemann, Peter, Feste und Feiern im rheinisch-westfälischen Industriegebiet 1890 bis 1914, in: Gerhard Huck (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1980, S. 161–185. 102 Abbildung: Achten, Zum Lichte empor, S. 127; sowie ders., Illustrierte Geschichte, S. 109. 103 Vgl. Achten, Illustrierte Geschichte, S.  67 u. ö.; sowie Hickethier, S.  137, 142. Allgemein zur Sonnenmetapher: Demandt, Alexander, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 125–127. 104 Vgl. den vom Centro Studi Piero Gobetti besorgten Ausstellungskatalog: Un’altra Italia nelle bandiere dei lavoratori. Simboli e cultura dall’unità d’ltalia all’avvento del fascismo, Turin 1980, mit zahllosen Beispielen; s. bes. S. 146 mit einem auf die Adventus-Tradition verweisenden (»Ecco il Sol/[…]/E saluta l’avvenir!«) interpretierenden Gedichttext aus der Frühzeit der italienischen Arbeiterbewegung. 105 Vgl. Pfützner, Klaus, Die Massenfestspiele der Arbeiter in Leipzig 1920–1924, Leipzig 1960.

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gut geworden war und in einer je spezifischen Verformung angeeignet werden konnte; sie war in solchem Maße vor allem im Festzugsbrauch gegenwärtig, dass den Zeitgenossen der ursprüngliche Zusammenhang mit dem noch fortbestehenden herrscherlichen Einholungszeremoniell, das seiner sinnstiftenden Grundlagen freilich längst entbehrte, weithin entfallen war. Diese Form- und Bildtradition konnte hierdurch, wenn nicht beliebig, so doch bei entsprechendem Bedürfnis, die erhoffte oder auch sichere Erscheinung zu feiern, den verschiedensten Zwecken dienstbar werden – nichts könnte dies deutlicher zeigen als Festschmuck und Zeremoniell beispielsweise anlässlich Mussolinis Staatsbesuch in Berlin am 28. September 1937106 oder gar Adolf Hitlers ingeniöser Einfall, womöglich unter bewusster Verspätung seinen Anmarsch zu propagandistischen Großveranstaltungen im Scheinwerferlicht, per Flugzeug aus den Wolken herabschwebend oder im »Lichtdom« des Reichsparteitags, zu zelebrieren.107 In manchen ländlichen Gegenden ist Hitler tatsächlich als »Heilsbringer« apostrophiert worden.108 Die letztgenannten Beispiele weisen zurück auf die wichtigste Grundform des Adventus-Erlebens schon in dessen frühesten Zeugnissen. Es ist die erwartungsfrohe Hoffnung auf Teilhabe an der Erscheinung, die das Zuschauererleben bestimmt, die die fieberhaften Vorbereitungen beflügelt, das Zusammenströmen der Volksmassen antreibt, Pracht und Größe legitimiert  – als Rechtshandlung war der Adventus hingegen auch in Zeiten und Gegenden, wo dies seine eigentliche Bedeutung ausmachte, den spalierbildenden Menschen weniger gegenwärtig. Die Erwartungshaltung variiert, nachdem der Einholung ihr Epiphaniecharakter spätestens seit Reformation und Säkularisierung unwiederbringlich genommen war. An die Stelle der Hoffnung auf Teilhabe am Heil tritt das Staunen über herrscherliche Pracht und Allmacht, treten Sensa­ tionslust, Freude am Außergewöhnlichen und die Gewissheit der Teilhabe, wenn nicht an immateriellen, so doch an materiellen Gütern, am öffentlichen Festbraten etwa, am Geldwurf und Geschenk. In gewisser Weise schraubt der monarchiegeführte Nationalstaat die Geschichte ein Stück zurück, stellt er doch das Massenstaunen in den Dienst des militärgestützten Patriotismus, was freilich eine jahrzehntelange Rezeption nationalstaatlicher Einigungshoffnung voraussetzt; nur so kann der Triumphus als Erfüllung, als erhebende Zielgewärtigung verstanden werden – die Festbelustigung, das öffentliche Konzert etwa im Anschluss an den Festzug, der Kommers, das Festmahl, der Festball und das Festende mittels Patriotismus und Volksfreude sinnfällig verbindende Erlebnis 106 Mit Fotografien: Weidner, S. 150–155. 107 Über den »messianischen Schimmer« solcher Auftritte s. Fest, Joachim C., Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1973, S. 444, 455–458; zum Einzug Hitlers in Nürnberg am 1. Tag des Reichsparteitages s. bereits Schmeer, Karlheinz, Die Regie des öffentlichen Lebens im Dritten Reich, München 1956, S. 108. sowie Reimers, Karl Friedrich, Der Reichsparteitag als Instrument totaler Propaganda, in: Zs. f. Volkskunde, Jg. 75, 1979, S. 216–228, 225. 108 Vgl. Kershaw, Ian, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980, S. 41, 66 u. ö.

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von Zapfenstreich und Feuerwerk gehören längst untrennbar dazu. Dennoch verbleiben Staunen, Hoffnung und Erwartung im Kern des Festzugerlebens. Solches Massenbedürfnis nach sinnlicher Wahrnehmung lässt sich dienstbar machen, lässt sich mit dem Erfolg einigender Gruppensolidarität und als deren symbolhafter Ausdruck einer erfüllungsgewissen Utopie zuordnen – oder auch bewusst funktionalisieren, in den Dienst totalitärer Herrschaftsansprüche stellen. Der Wandel der Erwartungshaltungen war von religiösen Grundhaltungen, von politisch-rechtlichen Systembedingungen, aber auch von Zeit- und Modeströmungen bestimmt, die ihrerseits als Ausdruck und Ausfluss sich verändernder soziokultureller Daseinsbedingungen verstanden werden müssen. Auch dürfte der Festzugsbrauch zwar die wichtigste, nicht jedoch die einzige Spur der Tradierung von Formen und Bildern im Adventus durch die Jahr­hunderte zusammengefasst haben; es gab Nebenbahnen besonders im Bereich literarischkünstlerischer Apperzeption, die je nach Zeitströmung unmittelbar an die Vorbilder der Antike, der Renaissance, des Barock anknüpfen konnte. Überraschen muss, mit welcher Selbstverständlichkeit sich das emanzipierte Bürgertum und das Emanzipation erhoffende Industrieproletariat die überkommenen aristokratischen Formen anzueignen und sie mit je eigener Sinndeutung zu erfüllen vermochten.

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VI. Die Entfaltung des Vereinswesens während der Industriellen Revolution in Deutschland (1850–1873) »Wir wollen einen Verein bilden, Menschen zu werden.«1

1. Problem Im Überblick weist die Geschichte des Vereinswesens in Deutschland zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Kriegsausbruch 1914 einen nachgerade paradoxen Tatbestand auf: Das öffentliche Nachdenken über die »Association«, im Vormärz und noch in den beiden nachrevolutionären Jahrzehnten ein Hätschelkind der Gesellschaftsreform in fast jeder politischen Richtung, scheint sich in dem Maße zu verlieren, in dem die Konkretisierungen solchen Denkens an quantitativer und qualitativer Bedeutung gewinnen. Schon zwischen Revolution und Reichsgründung ebbt die Diskussion über das Assoziationswesen offenkundig ab. Zwar ist es, Mitte der 1860er Jahre, immer noch »der gleiche Hauch einer frischen Entwicklung, welcher dem Vereinsleben einen mächtigen Aufschwung gegeben, welcher die Teilnahme an den religiösen, politischen und kommunalen Zuständen gestärkt, welcher den gewerblichen Unternehmungsgeist gekräftigt, welcher mit sprudelndem Humor ein herrliches Faschingsfest geschaffen, welcher wissenschaftlichen Vorlesungen volle Säle beschafft, welcher dem Theater ein erhöhtes Interesse und gesteigerte Anforderungen zu­ gewandt […],«2

1 Born, Stephan, Der Verein zur Hebung der arbeitenden Klassen und die Volksstimme über ihn. Von einem Handwerker, Leipzig 1845 (nach Walther G. Oschilewski und Gerhard Beier), zit. b. Engelhardt, Ulrich, Gewerkschaftliches Organisationsverhalten in der ersten Industrialisierungsphase, in: Werner Conze u. Ulrich Engelhardt (Hg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten, Stuttgart 1979, S. 372–402, 380. 2 Aus der Lokalpresse, zit. n. Bellmann, Dieter, Der Liberalismus im Seekreis (1860 bis 1870), in: Gert Zang (Hg.), Provinzialisierung einer Region. Regionale Unterentwicklung und liberale Politik in der Stadt und im Kreis Konstanz im 19. Jh., Frankfurt 1978, S. 183–263, 213.

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und immer noch – Belege dieser Art sind Legion3 – bezeichnet die »Association« als »Schlüsselbegriff«4 und »Zauberwort«5 den Ideenhorizont einer vorwiegend bürgerlichen Öffentlichkeit wie kaum ein anderes Wort. Dennoch klingt die »Aufbruchsstimmung«,6 in die sich der bürgerliche Optimismus7 in den 1850er Jahren angesichts bisher ungeahnter wirtschaftlicher Möglichkeiten versetzt sah und für die den Zeitgenossen die Vereinsgesellung als »bewegendes«, als das »mächtige Prinzip unserer Zeit«8 schlechthin gegolten hatte, vor allem in den 1870er Jahren merklich ab. Sei es, dass man nicht länger zu fordern brauchte, was inzwischen so vielfältig erstanden war, sei es, dass die Geister, die man jahrzehntelang beschworen hatte, nunmehr die Unterschichten erfüllten und von dort Gefahr signalisierten – jedenfalls hat die Vereinseuphorie nach der Reichsgründung stark nachgelassen, und in der Folgezeit spitzte sich die Diskussion auf die Frage zu, ob und inwieweit die Arbeiterschaft zur eigenständigen Organisation und Interessenvertretung befähigt und befugt sei. Im Übrigen hatte ja die freie zweckgerichtete Vereinigung der Individuen als Strukturprinzip der industriebürgerlichen Gesellschaft im Zuge der Verwissenschaftlichung der Gesellschaftslehre vor allem durch O. v. Gierke und L. v. Stein inzwischen ihre umfassende historische und theoretische Begründung erfahren.9 Hiernach hat sich die Wissenschaft erst gegen Ende dieses »Jahrhunderts der Vereine«10 des Phänomens wieder angenommen – freilich nicht wieder mit dem Beiklang der Utopien oder unter jener weitgreifenden gesellschaftstheo­ retischen Zielvorgabe, sondern unter charakteristischer Verengung auf eine »Soziologie des Vereinswesens«, auf Herrschafts- und Gesellungsformen, Sek 3 Eine mit dem Buch von Jantke, Carl u. Hilger, Dietrich (Hg.), Die Eigentumslosen, Freiburg 1965, vergleichbare Quellensammlung fehlt für die nachrevolutionäre Epoche. 4 Teuteberg, Hans J., in: Günter Wiegelmann (Hg.), Kultureller Wandel im 19. Jh., Göttingen 1973, S. 143. 5 Braun, Rudolf, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des Maschinen- und Fabrikwesens im 19. und 20. Jahrhundert, Erlenbach-Zürich 1965, S. 139. 6 Borscheid, Peter, Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung. Soziale Lage und Mobilität in Württemberg (19. Jahrhundert), Stuttgart 1978, S. 191, vgl. 224 f. 7 Kaschuba, Wolfgang u. Lipp, Carola, Zur Organisation des bürgerlichen Optimismus – Regionale Formierungsprozesse des Bürgertums im Vormärz und in der Revolution 1848, in: Sozialwissenschaftl. Informationen f. Unterr. u. Studium, Jg. 8, 1979, S. 74–82 8 V. Viebahn, Georg, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Jg. 1, 1848/49, ND Hagen 1980, S. 171; ähnlich Gierke (s. Anm. 9), S. 652. 9 V. Gierke, Otto, Das dt. Genossenschaftsrecht, Bd. 1, Berlin 1868; v. Stein, Lorenz, Die Verwaltungslehre, T. I/3, Stuttgart 18692 (ND Aalen 1962 ff.); zu beiden: Hardtwig, Wolfgang, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Franzö­sischen Revolution, München 1997, sowie unter Kritik an oberflächlicher Gierke-Rezeption besonders Oexle, Otto Gerhard, Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne, in: Blätter f. dt. Landesgesch., Jg. 118, 1982, S. 1–44. 10 Borchardt, Knut, Die Industrielle Revolution in Deutschland 1750–1914, in: Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1977, S. 190.

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ten- und Elitenbildung, kulturelle Rahmenbedingungen und Kulturformen. Max Webers entsprechendes Forschungsprogramm von 191011 galt, unter empirisch-sozialwissenschaftlichen Akzenten, einem Massenphänomen, war doch der Bürger inzwischen zum »Vereinsmensch in einem fürchterlichen, nie geahnten Maße«12 geworden. Selbst dieses begrenzte Forschungsprogramm wurde bis heute nur fragmentarisch eingelöst.13 Bekanntlich weiß die Forschung über die Früh- und Vorläufergeschichte des Vereinswesens im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert weit mehr14 als über die Vielfalt der Konkretisierungen von Assoziation im industriellen Zeitalter, als sie der Gesellschaft ihren Stempel aufprägte. Das rechtfertigt sich schon aus der dem Historiker gemäßen Frage nach den Wurzeln der Erscheinungen, scheint aber mindestens so sehr von der älteren Liberalismusforschung und von der Faszination am Vormärz als der geistig-materiellen Inkubationszeit des Industriezeitalters bestimmt. Der Forschungsstand entspricht dem eingangs behaupteten Paradoxon: Man sieht sich über die globale gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung des Vereinsprinzips in der Phase seiner eigentlichen Durchsetzung noch weithin im Unklaren, wenn auch durch lokalgeschichtliche Vereinsstudien wie überhaupt durch die neuere industrieregionale Wirtschaftsund Sozialgeschichte, ferner durch recht zahlreiche parteien- und verbands­ geschichtliche Untersuchungen und in einigen eher historisch-volkskundlichen Studien manche Grundzüge deutlich werden.15 Der Kenntnisstand widerspricht überdies dem Quellenbefund, der – bei markanten, zum Beispiel vom Wirken der »Vereinspolizei« verursachten Disparitäten  – eher durch Überfülle denn durch Mangel bezeichnet wird. Gerade deshalb gerät Vereinsforschung in die Gefahr, über die Detailfülle die Grundlinien zu übersehen. So lautet die Kernfrage im Folgenden, nach einem 11 Weber, Max, Geschäftsbericht, in: Verhandlungen d. 1.  Deutschen Soziologentages vom 19. bis 22. Okt. 1910 in Frankfurt a. M., Tübingen 1911, S. 52–62. Vgl. auch: Klein, Franz, Das Organisationswesen der Gegenwart, Berlin 1913; Staudinger, Hans, Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins, dargestellt am Werdegang der musikalisch-gesellschaftlichen Organisationen, Jena 1913. 12 Weber, S. 52. 13 S. etwa die Forschungsberichte in: Freudenthal, Herbert, Vereine in Hamburg, Hamburg 1958, S. 11–32; Schmitt, Heinz, Das Vereinsleben der Stadt Weinheim a. d. Bergstraße, Weinheim a. d. B. 1963, S. 9–19; Großhennrich, Franz-Josef, Die Mainzer Fastnachtsvereine. Geschichte, Funktion, Organisation und Mitgliederstruktur, Wiesbaden 1980, S.  10–53; zur Kritik aus marxistischer Sicht: Fröhlich, Horst, Vereine in Plauen 1848–1878. Aspekte ihres Entwicklungs- und Differenzierungsprozesses, in: Jb. f. Volkskunde u. Kulturgeschichte, Jg. 17 (= NF 2), 1974, S. 107–138, 107–111. 14 Zu den bekannten Aufsätzen von Werner Conze, Thomas Nipperdey und Gerhard Wurzbacher sind Beiträge von Otto Dann, Dieter Langewiesche, Wolfgang Hardtwig, Hartwig Brandt, Richard van Dülmen und anderen getreten; vgl. etwa, mit Bibliografie, Dann, Otto (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981. 15 Vgl. z. B. unten Anmerkungen 76, 86, 137 ff. u. ö.

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ungefähren Überblick der quantitativen Ausbreitung des Vereinswesens jene Grundzüge der Entwicklung näher zu bestimmen, die das Vereinsprinzip zum Strukturprinzip der modernen Gesellschaft gemacht haben  – dergestalt, dass solche Selbstverständlichkeit heute kaum noch bewusst ist.

2. Zur quantitativen Entwicklung Eine auch nur ungefähre Einsicht in die Ausdehnung der Vereine nach 1850 erscheint allenfalls im lokalen Rahmen, daneben noch bei solchen Vereinsgruppen möglich, die frühzeitig zu überregionalen, die eigene Organisation dokumentierenden Instanzen gelangt sind oder die aus den verschiedensten Gründen dem öffentlichen oder sicherheitspolizeilichen Interesse ausgesetzt waren. Die Frage, welche Organisationsgebilde zu welchem Zeitpunkt als Vereine subsumiert werden dürfen, sei dabei zunächst zurückgestellt. Eine Vollständigkeit, wie sie für Österreich – dort soll es 1856 2.234, 1910 dann 85.000 Vereine, jeweils ohne deren »Filialen«, gegeben haben16  – vorzuliegen scheint, wäre auch nach langjähriger Feldforschung nicht zu erreichen und erschiene dem Anspruch nach absurd. Für München beispielsweise ist eine »enorme Zunahme der Vereinsgründungen« nach der Jahrhundertmitte belegt: Die Zahl der Vereine nahm von ca. 150 auf ca. 3.000 um die Jahrhundertwende, also auf das Zwanzigfache, zu, während sich die Bevölkerung im selben Zeitraum versechsfachte.17 Einen ähnlichen, vielleicht noch stärkeren Aufschwung nahm das Vereinswesen um 1850 in Hamburg;18 dort wie in der aufstrebenden Industriestadt Nürnberg19 oder auch im Ruhrgebiet20 mehrten sich die Vereinsgründungen zwischen Revolution und Reichsgründung ungemein, um seit den 1880er und 1890er Jahren in einer zweiten Gründungswelle insbesondere die Unterschichten zu erfassen. In Oberhausen etwa haben die gemeinnützigen, die geselligen und religiösen, die Gesang- und Kriegervereine in den rund zwölf Jahren einer konjunkturell 16 Nach Klein, S. 53. 17 Tornow, Ingo, Das Münchner Vereinswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit einem Ausblick auf die zweite Jahrhunderthälfte, München 1977, S. 274, Zitat S. 263; vgl. zu München auch: Braatz, Theo, Das Kleinbürgertum in München und seine Öffentlichkeit von 1830–1870, München 1977, S. 23–73. 18 Vgl. Freudenthal, S. 129 ff., sowie Bischoff, Joachim u. Maldaner, Karlheinz (Hg.), Kultur­ industrie und Ideologie, Hamburg 1980, S. 24. 19 Meyer, Wolfgang, Das Vereinswesen der Stadt Nürnberg im 19. Jahrhundert, Nürnberg 1970, S. 45 ff. u. 259. 20 Vgl. Tenfelde, Klaus, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 19812, S. 345–396; ders., Bergmännisches Vereinswesen im Ruhrgebiet während der Industrialisierung, in: Jürgen Reulecke u. Wolfhard Weber (Hg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 315–344.

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durchaus uneinheitlichen Wirtschaftsperiode zwischen 1882/83 und 1894/95 von 49 auf 142 zugenommen, sich also verdreifacht, während die Bevölkerung im selben Zeitraum nur um etwa drei Viertel zunahm.21 Der für die Zeit nach der Jahrhundertmitte vielfach konstatierte Neueinsatz ist in ländlich-kleinstädtischen Regionen, die vom Aufschwung der Großindustrie zögernd oder gar nicht erfasst wurden, sehr viel schwerer zu identifizieren.22 Er wird deutlicher, sofern man die Betrachtung auf einzelne Vereinsgruppen, darunter in erster Linie die Erwerbsgesellschaften, konzentriert. Die starke Zunahme der Aktienbanken, Versicherungen und Aktiengesellschaften im Jahrzehnt nach der Märzrevolution (vorwiegend 1850 bis 1857) ist seit Langem bekannt;23 sie setzt sich in den 1860er Jahren fort und erreicht ihren Höhepunkt im Gründerboom 1872/73. Das Versicherungswesen, in dessen »Sieg […] auf allen denkbaren Gebieten« Gustav Schmoller einen »der größten sozia­ len Fortschritte unseres Jahrhunderts« sah,24 nahm einen geradezu sprunghaften Aufschwung. Dasselbe gilt von den in den 1850er Jahren noch weitgehend auf die Anstrengungen Raiffeisens und Schulze-Delitzsch’ beschränkten 21 Nach Mogs, Fritz, Die sozialgeschichtliche Entwicklung der Stadt Oberhausen (Rhld.) zwischen 1850 und 1933, Diss. Köln 1956, S. 73. 22 Zur Vereinsgeschichte in entlegenen und Randregionen vgl. etwa Braun, Rudolf, Industrialisierung und Volksleben. Veränderungen der Lebensformen unter Einwirkung der verlagsindustriellen Heimarbeit in einem ländl. Industriegebiet (Zürcher Oberland)  vor 1800, ND Göttingen 1979, S. 138–153; Steinbach, Peter, Industrialisierung und Sozialsystem im Fürstentum Lippe. Zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Sozialverhalten in einer verspätet industrialisierten Region im 19. Jh., Berlin 1976, S. 232–260; Schmitt, Weinheim, S. 24–34; Querfeld, Werner, Kultur- und Vereinsleben in der Stadt Greiz während des 19.  Jhs. Ein Beitrag zur Geschichte des Partikularismus in Deutschland, Jena 1957, S.  119 ff.; Schoch, Siegfried, Soziale Bewegungen sowie Formen sozialen und sozialpolit. Denkens in Württemberg 1770–1870, Diss. Freiburg/Schweiz 1975, S. 234–245, 348– 369; Kratzsch, Gerhard, Vereine mit ideellen Zwecken im 19. Jh. Ein Beitrag zur Vereinsgeschichte der Provinz Westfalen, in: Heinz Dollinger u. a. (Hg.), Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer, Münster 1982, S. 193–217; vgl. auch unten Anm. 71 u. 76. 23 Vgl. u. a. Thieme, Horst, Statistische Materialien zur Konzessionierung von Aktiengesellschaften in Deutschland, in: JfW 1960/III, S. 294–298; für die Privatbanken s. Treue, Wilhelm, Das Privatbankwesen im 19. Jh., in: Coing u. Wilhelm (Hg., s. unten Anm. 200), Bd. 5, 1980, S. 94–127, 120, 127. 24 Vier Briefe über Bismarcks sozialpolitische und volkswirtschaftliche Stellung und Bedeutung, in: ders., Charakterbilder, München 1913, S. 27–76, 57. Schmoller fährt fort: »Es war eine ganz notwendige Entwicklung, daß die Versicherung von den oberen auf die unteren Klassen sich ausdehnte, daß sie versuchen mußte, soweit es gehe, das Armenwesen abzulösen, daß die mildtätigen, älteren Arbeiterhilfskassen mehr und mehr auf dem gesunden Prinzip der Versicherung aufgebaut wurden.« Ein Zahlenüberblick lässt sich angesichts der auswuchernden Vielfalt kaum gewinnen; vgl. etwa zur Entwicklung der Lebensversicherungen von 1852 (12 Anstalten mit 46.980 Versicherten) bis 1868 (36 Anstalten mit 400.841 Versicherten) Jbb. f. Nationalökonomie und Statistik, Jg. 13, 1869, S. 287 f. Über Verstaat­ lichungs-Befürchtungen (1879) s. Wagner, Adolph, Der Staat und das Versicherungswesen, in: Zs. f. d. ges. Staatswiss., Jg. 37, 1881, S. 102–172.

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ländlichen und städtisch-mittelständischen Kredit-, Rohstoff- und sonstigen Erwerbsgenossenschaften,25 die schon in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre rasche Verbreitung fanden, sich aber erst im folgenden Jahrzehnt, ähnlich den Konsumvereinen,26 wirklich ausdehnten. In Schulze-Delitzsch‹ Jahresberichten rapportierten 1859 erst 80 Vereine mit knapp 19.000, 1868 bereits 666 Vereine mit gut 256.000 Mitgliedern; also hatte auch die Mitgliederfrequenz je Verein binnen eines Jahrzehnts um fast zwei Drittel zugenommen.27 Das Sparwesen wiederum erfuhr zunächst in Gestalt der Stadt- und Kreissparkassen, seit den 1860er Jahren vermehrt als Fabriksparkassen, schon früher starke Verbreitung: 1839 gab es in Preußen erst 85, 1848 dann 220 und 1859 bereits 462 derartige Einrichtungen.28 Auch der Aufschwung des konfessionellen Vereinswesens datiert durchaus nicht erst mit der christlich-sozialen Bewegung an der Wende zu den 1870er Jahren oder gar erst mit den konkurrierenden katholischen und evangelischen Arbeitervereins-Verbänden seit den 1880er Jahren:29 Schon seit 1848 vereinigte sich das katholische Vereinsleben zu regelmäßigen Katholikentagen; seit der Jahrhundertmitte verbreitete sich die Volksmissionsbewegung in katholischen Laienorganisationen unter enger Bindung an die pfarrgemeindliche 25 S. bes. Müller, Friedrich, Die geschichtl. Entwicklung des landwirtschaftl. Genossenschaftswesens in Deutschland von 1848/49 bis zur Gegenwart, Leipzig 1901, S. 14–16, 40. 26 Etwa: Richter, Eugen, Die Konsumvereine am Niederrhein und in Westfalen, in: Der Arbeiterfreund, Jg. 2, 1864, S. 385–419, 402 f. 27 Nach Müller, S. 50; vgl. Lukas, Klaus, Der Dt. Genossenschaftsverband, Berlin 1972, S. 29; zeitgenöss. Statistik der Konsumvereine: Pfeiffer, Eduard, Die Consumvereine, ihr Wesen und Wirken, Stuttgart 1865, S. 55–58. 28 Genaue Statistik: Engel, Ernst, Die Sparcassen in Preußen als Glieder in der Kette der auf dem Princip der Selbsthilfe aufgebauten Anstalten, in: Zs. d. Kgl. Preuß. Statist. Bureaus, Jg.  1, 1861, S.  85–118; s. die Beiträge von Hubert Kiesewetter u. Karl Ditt in: Werner Conze u.Ulrich Engelhardt (Hg.), Arbeiterexistenz im 19. Jh. Lebensstandard und Lebensgestaltung dt. Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981, S. 453, 522 (Sparkassen- und Sparerstatistik f. Sachsen und Bielefeld); Schulz, Günther, Fabriksparkassen für Arbeiter  – Konzeption und Inanspruchnahme einer betriebl. Institution, in: Zs. f. Unternehmensgeschichte, Jg. 25, 1980, S. 145–177, 155; eher institutionengeschichtlich orientiert: de Longueville, Hans-Peter, Geschichte des Sparkassenwesens in Württemberg und Baden im 19. Jh., in: Erich Maschke u. Jürgen Sydow (Hg.), Zur Geschichte der Industrialisierung in den südwestdt. Städten, Sigmaringen 1977, S.  80–161, sowie Wysocki, Josef Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der dt. Sparkassen im 19. Jh., Stuttgart 1980; allgemein: Trende, Adolf, Geschichte der dt. Sparkassen bis zum Anfang des 20.  Jhs., Stuttgart 1957. Die starke Zunahme der Geschäfte nach der Jahrhundertmitte wird z. B. regional durch Haas, Ernst Joachim, Stadt-Sparkasse Düsseldorf 1825–1972, Berlin 1976, S. 81–131, belegt. 29 Zahlen bei Deutelmoser, Die Evang. Arbeitervereine in Rheinland und Westfalen, Magdeburg 18902, S. 28 f., sowie in den Jg. von »Arbeiterwohl«, s. auch Socialpolit. Centralblatt, Jg. 1, 1892, S. 373; zentral: Schürmann, Karl Heinz, Zur Vorgeschichte der christl. Gewerkschaften, Freiburg 1958; m. d. weiteren Lit.: Schneider, Michael, Die Christlichen Gewerkschaften 1894–1933, Bonn l982, S. 21–49.

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Seelsorge;30 zum Teil  schon früher bestanden Mäßigkeitsvereine und Jung­ frauenbünde, Vinzenz- und Bonifazius-Vereine, und Kolpings Gesellenbewegung zählte, nachdem die Gründung einer Gesamtorganisation 1851 den überall spürbaren nachrevolutionären Mitgliederrückgang aufgefangen hatte, 1855 schon 104 Vereine mit 12.000, 1865 dann 418 Vereine mit 24.000 Mitgliedern und brachte es Anfang der 1870er Jahre auf 70.000 Mitglieder.31 Gegen Ende der 1860er Jahre akzentuierte sich das katholische Vereinswesen mit der christlichsozialen Bewegung, die vorübergehend unter regionaler Konzentration in Essen und im Raum Aachen starken Zulauf gewann, hin zu einer dezidiert sozialpolitischen Vertretung der Arbeiterschaft, ohne dass das Seelsorgeprinzip, das sich bei katholischen Vereinen regelmäßig in der bald von den Diözesen abwärts gegliederten Präsidesverfassung niederschlug, aufgegeben worden wäre.32 Demgegenüber blieb das evangelische Vereinswesen von sozial-politischen Tendenzen mit emanzipativer Stoßrichtung zugunsten der Arbeiterschaft einstweilen noch frei, was nicht ausschloss, dass einzelne Sparten, so die Jünglingsvereine, seit den 1850er Jahren zeitweise einen starken Aufschwung nahmen.33 Übrigens verzeichnete selbst die jüdische Vereinsbewegung, deren integrierende und organisationsstimulierende Impulse gewiss nicht vorrangig von der wirtschaftlichen Entwicklung ausgingen, nach der Jahrhundertmitte einen merklichen Aufschwung. Nach 62 Vereinsgründungen in der ersten Jahrhunderthälfte wurden zwischen 1850 und 1875 91 neue Vereine gemeldet, aber der Höhepunkt wurde erst im letzten Jahrhundertviertel mit 143 neuen Vereinen erreicht.34 30 S. bes. Gatz, Erwin, Rheinische Volksmissionen im 19.  Jh., dargestellt am Bsp. d. Erzbistums Köln. Ein Beitrag z. Geschichte d. Seelsorge im Zeitalter der kath. Bewegung, Düsseldorf 1963, S. 63, 74 f., 172, 177–183. Zum Aufkommen des Assoziationsgedankens im Protestantismus s. Einicke, Fritz, Die Stellung der evang. Arbeitervereine zur sozialen Frage, Diss. (Ms.) Köln 1950, S. 20–30, im Kath. s. Buchheim, Karl, Der dt. Verbandskatholizismus, in: Eberhard Haussler (Hg.), Die Kirche in der Gesellschaft, Paderborn 1961, S. 30–83; sowie Stegmann, Franz Josef, Der soziale Katholizismus und die Mitbestimmung in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Jahre 1933, München u. a. 1974. 31 Nach Schneider, S.  25, und Delahaye, Karl, Zur Entstehung der Erwachsenenbildung im kath. Deutschland des 19.  Jhs. als seelsorgliche Aufgabe, in: Ann. d. Hist. Vereins f. d. Nieder­rhein, H.  177, 1975, S.  164–179, 172; vgl. Kracht, Hans-Joachim, Organisation und Bildungsarbeit der kath. Gesellenvereine (1846–1864), Wentorf 1975; ders., Erwachsenenbildung u. Sozialarbeit im Kölner Gesellenverein (1849–1865), in: Ann. d. Hist. Vereins f. d. Niederrhein, H. 177, 1975, S. 194–216; Überblick: Sperber, Jonathan, The Transformation of Catholic Associations in the Northern Rhineland and Westphalia 1830–1870, in: Journal of Social History, Jg. 15, 1981/82, S. 253–263. 32 Vgl. die Arbeiten von Schürmann, Karl-Heinz u. a. (Bearb.), Sozialer Katholizismus in ­Aachen. Quellen zur Geschichte des Arbeitervereins zum hl. Paulus für Aachen und Burscheid 1869 bis 1878(88), Mönchengladbach 1977. 33 Vgl. Wartmann, Ernst, Geschichte des ostdeutschen Jünglingsbundes 1856–1906, Berlin 1906, S. 34–73. 34 Nach Thon, Jakob, Die jüdischen Vereine und Gemeinden in Deutschland, Berlin-Halensee 1906, S. 60; die Statistik erscheint allerdings unvollständig. Vgl. Toury, Jacob, Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847–1871, Düsseldorf 1977, S. 211–236.

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Vor allem dank sozialreformerischer Anstrengungen ist die Ausbreitung der nichtkonfessionellen Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine schon zeit­ genössisch recht gut dokumentiert worden. Nach der erzwungenen, im Einzelnen jedoch zu relativierenden »politische[n] Grabesstille«35 der 1850er Jahre in Vereinen mit tatsächlich oder mutmaßlich politischem Charakter schlug hier die Entwicklung um 1860 in eine rege, zum Teil auf ältere Traditionen zurückgreifende Gründungswelle um. Toni Offermann36 hat für den Zeitraum 1860– 1864 (zum geringen Teil  auch früher) 225 Neugründungen von nichtkonfes­ sionellen, übergewerblichen, »reinen« Arbeiterbildungsvereinen ermittelt. Die Organisationsbewegung in der Handwerker- und Arbeiterschaft blieb hierauf freilich nicht beschränkt; sie verwob sich noch allseits im lokalen Rahmen der z. T. erneuerten Entfaltung der Krieger-, Turn- oder Geselligkeitsvereine oder konzentrierte sich  – teils im nachbarlichen, teils im gewerblichen Rahmen  – auf die in manchen Bundesstaaten gezielt geförderte Organisation von Hilfskassen und sonstigen Unterstützungseinrichtungen.37 Unter den politischen Rahmenbedingungen dieses Jahrzehnts entwickelten sich diese und andere Hand­werker- und Arbeiterorganisationen nur im Ausnahmefall fort zu einer gezielten Interessenpolitik.38 Mittelständische Erwerbsgruppen trugen die Vereinseuphorie nach der Jahrhundertmitte weit stärker als die Unterschichten. Je nach der rechtlichen, sozialen und politischen Lage, je nach der gesellschaftlichen Statusdisposition einzelner Berufe und Schichten konnten Vereinsaktivitäten dabei bereits sehr unterschiedliche Gestalt annehmen. So scheint die Unternehmerschaft anfänglich überwiegend im regionalen und lokalen Rahmen neben einer neuen, zunehmend exklusiven Geselligkeit im führenden Stadtbürgertum das Ge35 Dauscher, Siegfried, Fürther Vereine zur Zeit der Restauration, in: Fürther Heimatblätter, Jg. 18, 1968, S. 89–112, 103. 36 Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutschland 1850–1863, Bonn 1979, S. 515– 522; s. Birker, Karl, Die dt. Arbeiterbildungsvereine 1840–1870, Berlin 1973. Wichtige Quelle: Bandow, G. F. u. Brämer, Hermann, Die Handwerker-, Arbeiter- und ähnlichen Vereine in Preußen, in: Der Arbeiterfreund, Jg. 4, 1866, S. 48–90, 222–247, 293–325, bes. 51 sowie die zahlr. Aufstellungen ebd.; viele weitere Hinweise: Engelhardt, Ulrich, »Nur vereinigt sind wir stark«, z. B. Bd. 1, S. 415 u. passim. 37 Vgl. schon Todt, Elisabeth, Die gewerkschaftl. Betätigung in Deutschland von 1850 bis 1859, Berlin [DDR] 1950, S. 74–76; sowie Offermann, S. 139–146; Fröhlich, Sigrid, Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden, Berlin 1976, S. 263–266; beste vorliegende Regionalstudie: Reininghaus, Wilfried, Die Gesellenladen und Unterstützungskassen der Fabrik­ arbeiter bis 1870 in der Gft. Mark, in: Der Märker, Jg.  29, 1980, S.  46–55; s. auch Joest, Johannes Josef, Wirtschaftl. u. soziale Entwicklung des Soester Raums im 19. Jh., Soest 1978, S. 189–200. 38 Wichtigstes bekanntes Bsp.: Köllmann, Wolfgang (Hg.), Wuppertaler Färbergesellen-Innung und Färbergesellen-Streiks 1848–1857, Wiesbaden 1962; vgl. auch Dowe, Dieter, Legale Interessenvertretung und Streik. Der Arbeitskampf in den Tuchfabriken des Kreises Lennep (Bergisches Land) 1850, in: Klaus Tenfelde u. Heinrich Volkmann (Hg.), Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München 1981, S. 31–51; ferner Offermann, S. 146–153.

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werbevereinswesen mitgetragen und initiiert zu haben; sie strebte jedoch frühzeitig im Zusammenhang ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten zu schlagkräftigen Vereinigungen auf Branchenebene und fand bald zu Regional- und Branchenverbänden,39 wobei insoweit – ähnlich den bäuerlichen Vereinsgründungen40 – eher die wirtschaftlichen Krisenlagen als die Boomjahre zur Organisation inspirierten. Ärzte und Lehrer hatten mancherorts die Monate revolutionärer Gärung 1848/49 zur Aufwertung ihres gesellschaftlichen Statusdefizits zu nutzen versucht und sich hierdurch im nachrevolutionären Jahrzehnt gelegentlich desavouiert, so dass neuerliche, anfangs stark zersplitterte Organisationsbestrebungen hier vornehmlich in den 1860er Jahren datierten.41 Bei beiden Berufsgruppen wird man darüber hinaus selbstverständlich von einer starken Einbindung in die zunächst deutlich schichtübergreifenden Kultur-, Bildungsund Geselligkeitsvereine im lokalen Rahmen auszugehen haben. An ihnen und an den  – nach einer Stagnationsphase  – in den 1860er Jahren erneut florierenden Gewerbevereinen42 nahmen vor allem auch akademisch gebildete Beamte teil.43 Dasselbe gilt für das landwirtschaftliche Ver39 Vgl. bes. Zunkel, Friedrich, Der rhein.-westf. Unternehmer 1834–1879, S. 80–82, auch Best, Heinrich, Die regionale Differenzierung interessenpolitischer Orientierungen im frühindustriellen Deutschland, in: Historisch-sozialwissenschaftl. Forschungen, Jg.  7, 1979, S. 251–282; sowie m. d. weit. Lit.: Pierenkemper, Toni, Die westfälischen Schwerindustriellen 1852–1913. Soziale Struktur u. unternehmerischer Erfolg, Göttingen 1979, S. 61–66; wichtig für die Herausbildung spezif. Arbeitgeberinteressen: Megerle, Klaus, Zur Entstehung von Arbeitgebervereinigungen. Überlegungen am Bsp. d. Heidenheimer Fabrikantenvereins von 1835, in: GG, Jg. 6, 1980, S. 189–219. 40 Vgl. v. Schrötter, Gertrud Frfr., Agrarorganisation u. sozialer Wandel (dargestellt am Bsp. Schleswig-Holsteins), in: Walter Rüegg u. Otto Neuloh (Hg.), Zur soziolog. Theorie u. Analyse des 19. Jhs., Göttingen 1971, S. 123–144, 127. 41 Vgl. Berger, Heinrich, Geschichte des Aerztlichen Vereinswesens in Dtld., Frankfurt a. M. 1896, S. 28–46; Graf, Eduard, Das ärztl. Vereinswesen in Dtld. u. d. dt. Ärztevereinsbund, Leipzig 1890, bes. S. 18; Plaut, Theodor, Der Gewerkschaftskampf der dt. Ärzte, Karlsruhe 1913, S. 18–23; zu den Lehrern zusammenfassend Bölling, Rainer, Zur Entwicklung und Typologie der Lehrerorganisationen in Dtld., in: Manfred Heinemann (Hg.), Der Lehrer und seine Organisationen, Stuttgart 1977, S. 23–37, bes. 25, s. auch den Beitrag v. Klaus Goebel, ebd. S. 81–92. 42 Vgl. Der Berggeist, Jg. 3, 1858, S. 623, 637; z. ält. Gesch. Fliegner, Helmut Alfred, Gewerbevereine in den preuß. Rheinlanden in der ersten Hälfte des 19. Jhs., Diss. Bonn 1972; für Süddtld. u. a. Tertulin, Burkard, Geschichte der bayerischen Gewerbevereine, Diss. München 1927, Statistik S.  89 ff. (Vereinsgründungen in Bayern: 38 vor 1848; 1849–59: 15, 1860–1872: 71); leider ohne Kenntnis dieser Arbeit: Gimmler, Wolfgang, Die Entstehung neuzeitlicher Handwerkerverbände im 19.  Jahrhundert, ihre Ziele, Struktur und Ausein­ andersetzungen um eine grundsätzliche, gesetzlich verankerte Regelung des Organisationswesens, phil. Diss. Erlangen-Nürnberg 1972, S. 139–144 für Hessen, Württemberg und Baden, S. 109 unzulänglich für Bayern. 43 Zentral: Henning, Hansjoachim, Das westdt. Bürgertum in der Epoche der Hochindustria­ lisierung 1860–1914. Soziales Verhalten und soziale Strukturen, T. 1: Das Bildungsbürgertum in den preuß. Westprovinzen, Wiesbaden 1972, passim, etwa S. 466–469.

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einswesen, das bereits auf eine jahrzehntelange Tradition zurückblickte und im Vormärz noch eng mit der Regierungsbürokratie verflochten war. Der Differenzierungsprozess nach einzelnen Anbaukulturen setzte schon in den 1820er Jahren ein, und mindestens in Preußen verstärkte sich die Assoziationsbewegung während der 1840er Jahre in einem Maße, das auch konservativen Beobachtern kritische Kommentare entlockte.44 Sie setzte sich fort, so dass sich die Zahl der landwirtschaftlichen Vereine binnen eines Jahrzehnts auf 541 (1860) nahezu verdoppelte. Entgegen den früheren, akademieartigen Vereinen strebte die Organisation, auch wenn der Adel, Akademiker, höhere Beamte und bürgerliche Großgrundbesitzer das Sagen behielten,45 nach der Jahrhundertmitte mehr in die Breite und neigte zur stärkeren Berücksichtigung agrarpolitischer Interessen. Dagegen lag die Vereinsbewegung der ländlichen Unterschichten noch auf Jahrzehnte brach, wenn auch die hierin besonders sensible Kreuzzeitung 1869 dem Norddeutschen Reichstag nahelegte, sich mit den Landarbeitern zu befassen, da diese begännen, »nach der großen Associations-Trommel zu marschieren«.46 Im Vergleich mit den Vereinen zu Erwerbszwecken, den frühen land- und industriewirtschaftlichen Vereinen und Interessengruppierungen oder den konfessionellen Vereinen entziehen sich die Geselligkeitsvereine vielfach einer statistischen Erfassung. Dabei dürften sich gerade in diesen Vereinen schicht­ spezifische Absonderungen teilweise sehr früh vollzogen haben, wenn nicht, wie jüngst am Beispiel der westfälischen Adelsvereine genau erforscht, das Streben nach ständischer Exklusivität bereits bei der Gründung Pate gestanden hatte.47 Solche meist reichen Oberschichten-Vereine hatten sich oft bereits im Vormärz gebildet. Als Organisationsform für kulturelle Bestrebungen in Bildung, Musik, Museum und Theater, für Engagements im vorpolitischen Raum etwa für die Stadtverschönerung, für wissenschaftliche Interessen in mancherlei Richtung, aber auch und besonders für das bürgerliche Mitleid an den Ar-

44 Zur Dokumentation der älteren Vereinsaktivitäten s. bes. die landwirtschaftl. Zeitschriften; ferner bereits Meitzen, August, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des Preuß. Staates, Bd. 1, Berlin 1968, S. 469–498, bes. Tabelle S. 473; regional: Kellermann, Wilhelm u. a., Der bäuerliche Zusammenschluß, in: Engelbert Frhr. Kerckerinck zu Borg (Hg.), Beiträge zur Geschichte des westf. Bauernstandes, Berlin 1912, S. 376–563; vgl. bes. Klatte, Klaus, Die Anfänge des Agrarkapitalismus und der preuß. Konservativismus, phil. Diss. Hamburg 1972, S. 103–112; für Österreich Bruckmüller, Ernst, Landwirtschaftl. Organisation und gesellschaftl. Modernisierung. Vereine, Genossenschaften und polit. Mobilisierung der Landwirtschaft Österreichs vom Vormärz bis 1914, Salzburg 1977, S. 50 u. ö. 45 Haushofer, Martin, Die Versammlungen dt. Land- und Forstwirte (VLF) 1837–1872, agrarwiss. Diss. Hohenheim 1969, S. 10 f. sowie, zur Sozialstruktur, ebd. Anlage S. 6 und Klatte, S. 110–112. 46 Nr. 277/19.12.1869, zit. n. Engelhardt, Nur vereinigt, Bd. 2, S. 965. 47 Grundlegend: Reif, Heinz, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979, S. 398–431, 484–490.

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men galten sie den verschiedensten, oft miteinander verwobenen Zwecken;48 sie wahrten ihre Traditionen beispielsweise durch scharfe Mitgliederauslese und wirkten stilbildend für die lokale Geselligkeit. Sie vereinigten meist noch mehrere Funktionen auf sich, verfügten etwa über repräsentative Vereinsgebäude49 mit Lese-, Musik- und Vortragssälen und befleißigten sich akademischer Fortbildung. Wie diese Vereine konnten im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Vereinigungen, so die ebenfalls nach der Jahrhundertmitte zunehmend in lokaler Streuung entstandenen Geschichtsvereine,50 stärker in die Mittelschichten, in diesem Fall in die örtliche Lehrerschaft und den sonst wie interessierten Mittelstand, hinunterreichen und darin größere Breitenwirkung entfalten. Im Übrigen legen lokale Forschungen die Annahme nahe, dass gerade der politisch weniger behelligte Typ des Geselligkeitsvereins, so kurzlebig die einzelnen Gründungen bleiben mochten, in der Gründungshäufigkeit dem konjunkturellen Auf und Ab folgte. In Köln gab es 1848 nur vier, 1857 hingegen 31  Karnevalsgesellschaften,51 die, im Gegensatz zu den früher reinen Oberschichtenvereinen, nun oft auf der Grundlage gemeinsamen Standes, jedoch mehr noch im nachbarlichen Verband entstanden sind und darin dem ver48 Einige Beispiele: Kleiner, Karl, Der Industrie- und Kulturverein e. V. Nürnberg. Seine Geschichte und sein Wirken 1819–1929, Nürnberg 1929, S.  190–209; Lerner, Franz, Bürgersinn und Bürgertat. Geschichte der Frankfurter Polytechnischen Gesellschaft 1816–1966, Frankfurt 1966, S.  187 ff.; Schöndienst, Eugen, Geschichte des Deutschen Bühnenvereins. Ein Beitrag zur Geschichte des Theaters 1846–1935, Frankfurt u. a. 1979, S. 41–70; Stader, Karl Heinz, Der Bonner Verschönerungsverein, seine Gründung und Tätigkeit unter Franz Hermann Troschel, in: Bonner Geschichtsblätter, Jg.  28, 1976, S.  139–166; Graber, Erich, Kiel und die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde 1793–1953, Kiel 1953; Helbig, Herbert, Die Vertrauten. Eine Vereinigung Leipziger Kaufleute, Stuttgart 1980, S. 45–52; zu den wissenschaftl. Vereinen s. Müller, Johannes, Die wiss. Vereine und Gesellschaften im 19. Jh.. ­Bibliographie ihrer Veröffentlichungen, 2 Bde., Berlin 1917. 49 Bsple.: Endres, Rudolf, Nach Feierabend, in: Hermann Glaser u. a. (Hg.), Industriekultur in Nürnberg, München 1980, S. 195–211, 198 f. (,›Museum«); Rönnebeck, Richard, Gebäude für Vereine, in: Berlin und seine Bauten, Bd. 3, Berlin 18962, S. 265–282. 50 Vgl. Braubach, Max, Landesgeschichtl. Bestrebungen u. histor. Vereine im Rheinland, Düsseldorf 1954, S. 27 f.; Forstreuter, Kurt, Die Entstehung von Geschichtsvereinen in Altpreußen, in: Neue Forschungen zur Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Jg.  1, 1979, S.  239– 258; Hoppe, Willy, Einhundert Jahre Gesamtverein, in: Blätter f. dt. Landes­geschichte, Jg. 89, 1952, S. 1–38, bes. 8–18; Barmeyer, Heide, Zum Wandel des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft im 19.  Jh. Die soziale Funktion von histor. Vereinen und Denkmalsbewegung in der Zeit liberaler bürgerlicher Öffentlichkeit, in: Westf. Forschungen, Jg.  29, 1978/79, S.  119–145; Marwinski, Konrad, Thüringische histor. Vereine im 19.  Jh., in: Jb. f. Regionalgeschichte, Jg. 7, 1979, S. 205–242. Marwinski zeigt, dass die Entwicklung der Vereine selbst in einem engeren regionalen Einzugsgebiet sehr unterschiedlich ver­laufen konnte (vgl. S. 216 ff. u. 223 ff.) und sehr vom Engagement einzelner Persönlichkeiten abhing. 51 Klersch, Joseph, Die kölnische Fastnacht von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 1961, S. 119; ganz ähnlich Großhennrich für Mainz, S. 102 f., 106. Über die gelegentlich seltsamen Früchte bürgerlichen Strebens nach Geselligkeit s. den Aufsatz von Peter Sager über die 1859 gegründete »Schlaraffia«: Lulu, ihr Ritter vom Uhu!, in: Zeit-Magazin Nr.  1/30.12.1983, S. 11–20.

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mehrten Geselligkeitsbedürfnis der Unterschichten entsprachen. Lokale Erhebungen zeigen, dass sich konjunkturelle Aufschwünge stets mit einer Vervielfachung von Vereinsgründungen geselligen Charakters verbanden. Bochum zum Beispiel, das frühzeitig an der wirtschaftlichen Entwicklung des Ruhrgebiets teilhatte, verzeichnete in den 1860er Jahren eine lebhafte Gründungsaktivität,52 während Stadt und Kreis Recklinghausen, entsprechend der späteren Prägung durch die nordwärts wandernde Großindustrie, um etwa eine Generation verspätet von einer Gründungswelle erfasst wurden, die bis 1914 anhielt.53 Anders hingegen die Vaterländischen und Kriegervereine,54 bei denen das Konjunkturgeschehen die Gründung kaum beeinflusste, wenn auch die Vereinsaktivitäten über die Jahre hinweg sehr wohl davon geprägt worden sind. Ähnliches galt zunächst von der Unzahl deutscher Gesangvereine, von denen viele ihre Nähe zur liberalen Volksbewegung in der Revolution nicht verleugnet hatten, so dass der Wiederaufschwung erst in den späten 1850er Jahren mit der Gründung und Wiederbelebung von Gauverbänden einsetzte, die sich 1862 zum deutschen Sängerbund, wiederum einer lockeren Zentralisationsform nach dem Vorortsystem, zusammentaten und fortan ihre Sängerfeste pflegten.55 In Frankfurt am Main verdoppelte sich die Zahl der registrierten Gesangvereine 1856–1865 auf 24; viele weitere Gründungen waren nur kurzlebig, aber einen sozialistischen Gesangverein gab es schon 1856.56 Auch die der Zahl nach unübersehbare Gruppe der privaten Wohltätigkeitsvereine,57 die sich schon im Vormärz an52 Vgl. Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde-Angelegenheiten der Stadt Bochum f. d. Jahr 1860–61, Bochum 1861, S. 100–105, ergänzt: dass. f. d. J. 1864, S. 36; dass. f. d. J. 1866, S. 31; dass. f. d. J. 1870, S. 60; dass. f. d. J. 1871, S. 64. Die Kommunal- und Kreisstatistiken der 1860er Jahre enthalten für Preußen zumeist ausführl. Angaben über bestehende und neugegründete Vereine und teilweise sogar über einzelne Vereinsaktivitäten. 53 Vgl. Altes Amtsarchiv Recklinghausen, Nr.  1966–2263, sowie Staatsarchiv Münster, Reg. Münster Nr. VII, S.85. 54 Vgl. Henning, Hansjoachim, Kriegervereine in den preuß. Westprovinzen, in: Rhein. Vjbl., Jg. 32, 1968, S. 430–475; Mosse, George L., National Cemeteries and National Revival: The Cult of the Fallen Soldiers in Germany, in: Journal of Contemp. History, Jg. 14, 1979, S. 1–20. 55 Vgl. Elben, Otto, Der volksthümliche dt. Männergesang. Geschichte und Stellung im Leben der Nation; der dt. Sängerbund und seine Glieder, Tübingen 18872, bes. S. 163–205; Kötzschke, Richard, Geschichte des dt. Männergesanges, hauptsächlich des Vereinswesens, Dresden 1927, S. 117–129. 56 Nach Rüb, Otto, Die chorischen Organisationen (Gesangvereine)  der bürgerlichen Mittel- und Unterschicht im Raum Frankfurt am Main von 1800 bis zur Gegenwart, phil. Diss. Frankfurt 1964, S. 51–55, 77. Gesangvereine entstanden seit den 1850er Jahren oft auch als Branchen- und bald als Betriebsvereine; vgl. etwa Donat, Friedrich-Wilhelm, Werkschöre und Werkskapellen im Raum um das alte Duisburg, in: Duisburger Forschungen, Jg.  27, 1979, S. 105–136. 57 Vgl. Anm. 48 sowie Albrecht, H., Handbuch der Sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland, 2. Bde., Berlin 1902, bes. Bd. 1/I. Teil, sowie als Bsp. für die beeindruckende Breite dieser Bestrebungen: Fromm, B[enno], Die Wohltätigkeitsvereine in Berlin, Berlin 1894 (103 Vereine mit Gründungsdaten und Kurzbeschreibungen); ferner Erb, Gerald, Private Unter­ stützungs- und Wohltätigkeitsvereine in der vorderpfälz. Gemeinde Hessheim in der zwei-

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lässlich der großen Hungersnöte und Seuchenepidemien entfaltete, zeigte – mit Ausnahme der Zweigvereine im Preußischen Vaterländischen Frauenverein, die mit den Reichseinigungskriegen eine erhebliche Verbreitung erfuhren  – eine mit der sozialen Lage der Fürsorgeobjekte verknüpfte Gründungsrhythmik: Kinderschutz- und Wöchnerinnenvereine, Volksbildungs- und Fürsorgevereine von und für verschiedene Berufe, Schichten, Konfessionen, Geschlechter und Lebensalter, Witwen- und Waisen-Hilfsvereine, Stadt- und Volksmissionen, Sanitäts-, Kindergarten- und Krankenhausträgervereine, Suppenküchen und Speisevereine für arme Kinder, Hilfsvereine für Strafgefangene oder Wanderarbeiter, schließlich die Gruppe der Gegen-Vereine, gegen Verarmung und Bettelei, gegen den Kleiderluxus und Luxus58 überhaupt, gar gegen den »unnützen Aufwand bei Leichenbegängnissen«,59 Vereine also gegen dieses und für jenes – all dies blühte erst zwischen Revolution und Reichsgründung so recht auf.

3. Vereinswesen und sozialer Wandel Der quantitative Überblick, so kursorisch er bleiben muss, erlaubt einige zusammenfassende Bemerkungen, in denen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Vereinsgeschichte im Vordergrund stehen soll: 1. Die Vereinsgeschichte zeigt nach der Jahrhundertmitte in zentralen Bereichen eine bemerkenswerte organisatorische Kontinuität zum Vormärz (und zum Teil bis in das 18. Jahrhundert), doch vollzogen sich auch in den älteren Vereinen nach der Jahrhundertmitte wichtige Veränderungen hinsichtlich  – hierauf wird im Einzelnen noch einzugehen sein – der sozialen Trägerschaft, der Organisationsformen und Vereinsziele. In einigen Vereinsgruppen, etwa in Bruderschaften,60 Nachbarschaften und Unterstützungskassen der Handwerker61 wird man die Wurzeln noch weiter zurück zu verfolgen haben, was ten Hälfte des 19. Jhs., in: Blätter f. pfälz. Kirchengesch. und religiöse Volkskunde, Jg. 40, 1973, S. 142–146; grundsätzlich: Sachße, Christoph u. Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart u. a. 1980, S. 222–244. 58 Hierzu grundsätzl. Braun, Rudolf, Industrialisierung und Volksleben, S. 103–119. 59 In Berlin um 1849, nach Mittheilungen des Centralvereins, ND Bd. 2, S. 1284. 60 Vgl. Remling, Ludwig, Bruderschaften als Forschungsgegenstand, in: Jb. f. Volkskunde NF, Jg. 3, 1980, S. 89–112, 92 f. 61 Vgl. bes. Reininghaus, Wilfried, Westfälische Nachbarschaften als soziale Gruppen des Gildetypus, in: Westf. Forschungen, Jg.  31, 1981, S.  124–131, bes. 125 f.; für einen zentralen Aspekt s. Quarck, Max, Von der Zunft zur Arbeiterbewegung, in: Kölner sozialpolit. ­Vjschr., Jg. 3, 1923, S. 87–91, sowie Schlick, Heinrich, Von den Zünften zu den Verbänden der Arbeitgeber u. Arbeitnehmer in der Gegenwart, in: Friedrich Facius u. a. (Hg.), Geistiger Umgang mit der Vergangenheit, Stuttgart 1962, S. 199–212. Als lokales Bsp. stadtbürger­ licher Vereinskontinuität s. Pfeiffer, Gerhard, Geschichtliche Aspekte des Vereinsrechts in der Reichsstadt Nürnberg, in: Archival. Zs., Jg. 75, 1979, S. 148–181, bes. 169 ff.

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zu der Warnung veranlasst, den Verein im Sinne eines freiwilligen Zweckverbands nicht allein und ausschließlich als ein Produkt von Aufklärung und Industriegesellschaft anzusehen.  – Neben Veränderungen in bestehenden Vereinsgruppen brachte die sich rasch beschleunigende Industrielle Revolution, deren Beginn mit dem Take-off der 1850er Jahre datiert sei, eine Beschleunigung der Organisationsbewegung überhaupt, von deren Rhythmus sich nur solche Vereinsgruppen abhoben, deren Zweckhorizont primär nichtökonomisch bestimmt war. Daneben brachte sie wenn nicht Neueinsätze wie im Genossenschaftswesen, so doch vor allem bei den Vereinen zu Erwerbszwecken und vermutlich bei den Geselligkeitsvereinen eine immense Ausweitung der Assoziationsbestrebungen. Diese schlug sich nicht zuletzt in einer höheren Mitgliederfrequenz selbst in bereits älteren Organisationen nieder.62 So folgt die Vereinsgeschichte  – ausgenommen bei dezidiert interessenpolitischen Organisationen wie den Bauern- und Unternehmerverbänden mit antizyklischem Rhythmus  – in der Regel der konjunkturellen Entwicklung im pro-zyklischen Sinn, verzeichnet also vor allem im berufs- und gewerbenahen Organisationsfeld bei sektoralen und regionalen Abweichungen in der ersten Aufschwungphase Mitte der 1850er Jahre, durchweg in den 1860er Jahren sowie während des anhaltend starken Aufschwungs 1867 bis 1873 die stärksten Anstöße.63 Nach der Jahrhundertmitte wird die Vereins- zur Massenbewegung. 2. Wie schlagartig die Revolution 1848/49 gezeigt hatte und wie sich an der Wende zu den 1860er Jahren neu erwies, überlagerten und beeinflussten die politischen Rahmenbedingungen und deren Veränderungen die Organisationsbereitschaft. Dies gilt nach der Jahrhundertmitte noch am wenigsten – sieht man von eher formellen und auch traditionellen Rechtseinschränkungen ab  – für Vereine mit Erwerbszwecken und kaum für Geselligkeitsvereine der Mittel- und Oberschichten, kaum auch für deren frühe interessenpolitische Vereinigungen, wohl aber für politische und politikverdächtige Vereine und vor allem für die organisatorischen Bestrebungen der Arbeiterschaft. Das mit dem Erstarken der Reaktion nach der Revolution, am deutlichsten sichtbar in den restriktiven bzw. restriktiv gehandhabten Vereinsgesetzen bis zum Bundesbeschluss von 1854,64 62 Vgl. etwa f. d. Arbeiterbildungsvereine: Offermann, S. 544–547; f. Bauernvereine: Meitzen, Bd. 1, S. 477; f. Gewerbevereine: Zweigert, Die Verwaltung der Stadt Essen im 19. Jh., Essen 1902, S. 457 f.; 100 Jahre Gewerbe-Verein für Hannover 1834–1934, Hannover 1934, S. 126. 63 Konjunkturverlauf nach Spree, Reinhard, Die Wachstumszyklen der dt. Wirtschaft von 1840 bis 1880. M. e. konjunkturstatistischen Anhang, Berlin 1977, S. 33l-367 u. ö. 64 Zum im Folgenden nicht mehr behandelten, in der Literatur ausgedehnt gewürdigten »politischen« Vereinsrecht s. Geffken, Heinrich, Öffentliche Angelegenheit, politischer Gegenstand und politischer Verein nach preuß. Recht, in: Beiträge zum Kirchenrecht. Festschrift f. Emil Friedberg, Leipzig 1908, S. 287–311; Vormbaum, Thomas, Die Rechtsfähigkeit der Vereine im 19.  Jahrhundert, Berlin 1976, S.  26–43 u. ö. (z. T. im internat. Vgl.); Schultze, ­Werner, Öffentliches Vereinigungsrecht im Kaiserreich 1871 bis 1908. Ein Beitrag zur Handhabung des Vereins-, Versammlungs- und Koalitionsrechts gegenüber sozialdemokratischen Arbeitervereinigungen, jur. Diss. Frankfurt 1973, S. 240 ff.

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erzeugte innenpolitische Klima dämpfte die gleichzeitige, kon­junkturell induzierte Vereinseuphorie. Es begünstigte einen Rückzug in die Geselligkeit, unter deren Leitstern angesichts einer regional unterschiedlich ausgeprägten »Vereinspolizei« selbst ehedem politische Vereine überleben konnten oder neue, später politisierte Organisationen gebildet wurden, und schuf Raum und Resonanzboden für bürgerlich-sozialreformerische Strategien wie jene der Selbsthilfe. Überhaupt präludierten die 1850er Jahre in einem spezifisch preußisch-obrigkeitlichen Sinn die Zeit des Sozialistengesetzes, insoweit nämlich, als dem repressiven Akzent der Innenpolitik erste Ansätze einer »positiven« Sozialpolitik korrespondierten.65 Behält man das Ganze der Vereinsgeschichte im Auge, schließt also, dem zeitgenössischen Verständnis entsprechend, auch solche Assoziationen in die Betrachtung ein, die sich wie die Vereine für Erwerbszwecke bereits rechtlich und zweckentsprechend sonderten, dann überwiegt auch für das nachrevolutionäre Jahrzehnt der Eindruck starker Ausbreitung. Die Lockerung der »Vereinspolizei« mit Beginn der Neuen Ära setzte einen angestauten Organisationsdruck in der Gruppe der bisher beeinträchtigten Vereine frei. So schossen etwa die Arbeitervereine »zu Anfang der 60er Jahre aus dem Boden wie Pilze nach einem warmen Sommerregen«66 aber auch die nichtproletarischen parteipolitischen Strömungen erneuerten sich.67 Recht­liche Einschränkungen, darunter besonders das Verbindungsverbot für politische Vereine, blieben jedoch bestehen und ergänzten sich weiterhin durch willkürliche polizeilich-administrative Eingriffe, so im Umkreis der nunmehr in den Vordergrund tretenden Auseinandersetzungen um das Koalitionsrecht,68 die für sich eine Akzentverlagerung hin zur Vereinsorganisation nach Interessenlagen signalisieren. Eine neue, nunmehr ausschließlich politisch instrumentalisierte Unrechtspraxis setzte nach der Reichsgründung gegen katholische und proletarische Organisationsbestrebungen ein. 65 Zum Unterstützungskassengesetz von 1854 s. Volkmann, Heinrich, Die Arbeiterfrage im preuß. Abgeordnetenhaus 1848–1869, Berlin 1968, S. 63–77; über »positive Tätigkeit« des Staats etwa Saile, Wolfgang, Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck, Tübingen 1958, S. 44 ff. (Idee der »sozialen Monarchie«), Zitat S. 143. 66 Bebel, August, Aus meinem Leben, ND Berlin-DDR 1964, S. 64; die »Pilz«-Metapher war zeitgenöss. außerordentlich verbreitet, vgl. etwa Rhein- und Ruhrzeitung Nr. 81/1853: »In einer Zeit, wie wir sie jetzt erleben, wo Vereine fast wie Pilze aus der Erde hervorschießen«, nehme man Nachrichten darüber kaum noch zur Kenntnis. 67 Statt vieler Hinweise: Bergsträsser, Ludwig, Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, München 196511, S.  94–100. Die besondere Rolle der Arbeitervereine in der »Ausweitung des Verbandswesens« hebt vor allem Ulrich Scheuner hervor: Staatliche Verbandsbildung und Verbandsaufsicht in Dtld. im 19.  Jh., in: Gesellschaftl. Strukturen als Verfassungsproblem. Intermediäre Gewalten, Assoziationen, öff. Körperschaften im 18. u. 19. Jh., Berlin 1978, S. 97–121, bes. 114–117. 68 Hierzu u. a. Engelhardt, Ulrich, Gewerkschaftliche Interessenvertretung als »Menschenrecht«. Anstöße und Entwicklung der Koalitionsrechtsforderung in der preußisch-deutschen Arbeiterbewegung 1862/63–1865 (1869), in: ders. u. a. (Hg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Stuttgart 1976, S. 538–598.

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Solche Repression hemmte nicht nur die quantitative Entfaltung der öffentlich-politischen Vereine und beeinflusste darin die konjunkturellen »Wechsellagen« der Vereinsgeschichte; sie musste sich darüber hinaus in den Vereinsaktivitäten auswirken, verzögerte beispielsweise den Prozess struktureller Differenzierung nach Gewerben, Schichten und Vereinszwecken, erhielt also auf einige Zeit die ursprüngliche Zweckvielfalt im nicht-gewerblichen Vereinswesen und begünstigte bei interessenpolitischen Vereinen eher traditionelle Artikulationsformen wie das Beschwerde- und Eingabenwesen. 3. Der Verein ist, hieran sei trotz jüngeren Widerspruchs festgehalten, typisch und »überwiegend städtischen Ursprungs«.69 Schon zeitgenössisch bemerkte man, dass die »Schwierigkeit [der Vereinsbildung] in dem Grade größer [sei] als der Ort kleiner ist«.70 Unumstritten bleibt allemal, dass die Vereinsbildung auf dem Lande je nach Verkehrslage und Eindringen der Industrialisierung deutlich später als in den Mittel- und Großstädten erfolgt ist, dass die Gründung von Vereinen auf dem Lande mithin, umgekehrt, als ein »wertvoller Indikator für soziale Um- und Neuformierungen im Zeichen der industriellen Welt«71 gelten kann. Mehr noch als die industrielle Produktionsverfassung, ist es die mit ihr gewöhnlich verknüpfte und einhergehende städtische Lebensweise, die – »hineinsickernd oder hineindringend«72 – auch dann auf dem Lande Fuß zu fassen und städtische Sozialformen auszuprägen beginnt, wenn die ländliche Existenzgrundlage noch ausschließlich im bäuerlich-agrarischen Erwerb ruht. Dies schließt nicht aus, dass sich der Verein, einmal etabliert, noch in der jüngsten Vergangenheit gerade auf dem Lande hartnäckiger Resonanz erfreut, während sich die großstädtische Lebensweise möglicherweise inzwischen von 69 Mayntz, Renate, Soziologie der Organisation, Reinbek 1963, S. 15; s. auch Wurzbacher, Gerhard u. Pflaum, Renate, Das Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung, Stuttgart 1954, S. 151 f., 159; Pfeil, Elisabeth, Großstadtforschung, Hannover 19722, S. 267–269; Freudenthal, S. 20 f.; Kritik: Jauch, Dieter, Die Wandlung des Vereinslebens in ländlichen Gemeinden Süddeutschlands, in: ZAA, Jg. 28, 1980, S. 44–77, 44. 70 Hasemann, J., in: Mittheilungen des Centralvereins, ND Bd. 3, S. 1811. 71 V. Hippel, Wolfgang, Industrieller Wandel u. ländl. Raum. Untersuchungen im Gebiet des mittl. Neckar 1850–1914, in: AfS, Jg. 19, 1979, S. 43 bis 122, 111 f.; klare Bsple. s. b. Rach, Hans-Jürgen u. Weissel, Bernhard (Hg.), Bauern und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde, Berlin-DDR 1982, S.  177–181, sowie Birk, Gerhard, Ländl. Vereins­ wesen in der Magdeburger Börde, in: Jb. f. Volkskunde u. Kulturgeschichte, Jg.  20, 1977, S. 173–181; vgl. auch Anm. 22, oben, sowie Kleinschmidt, Wolfgang, Der Wandel des Fest­ lebens bei Arbeitern und Landwirten im 20. Jh. Eine empirische Untersuchung in zwei unterschiedl. strukturierten Gemeinden der Westpfalz, Meisenheim 1977, S. 128–140. 72 Wallner, Ernst M., Die Rezeption stadtbürgerlichen Vereinswesens durch die Bevölkerung auf dem Lande, in: Wiegelmann (Hg.), S.  160–171, 162; s. auch Braun, Rudolf, Industria­ lisierung und Volksleben, S. l49 f.; ferner: Wiegelmann, Günter, Diffusionsmodelle zur Ausbreitung städtischer Kulturformen, in: Gerhard Kaufmann (Hg.), Stadt-Land-Beziehungen, Göttingen 1975, S.  255–266. Zur städtischen Lebensweise s. den klassischen Beitrag von Louis Wirth, deutschsprachiger Neudruck u. a. in Herlyn, Ulfert (Hg.), Stadt und Sozialstruktur, München 1974, S. 42–66 u. d. T. »Urbanität als Lebensform«.

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dieser Gesellungsform abgewandt hat73; doch bezieht sich dieses Urteil jedenfalls nur auf jene Reste der ursprünglich sehr viel umfassender verstandenen Assoziation, wie sie schon vor der Jahrhundertwende als »Vereinsunwesen« apostrophiert worden sind74 und heute überwiegend Freizeitbedürfnisse erfüllen. Auch wird man bedenken müssen, dass beispielsweise die Nachbarschaft als genossenschaftlicher Verband seit Jahrhunderten in Stadt und Land Teil des Soziallebens gewesen ist und daher im Alltag Organisationsformen vorgefunden wurden, die als Zweck- und Sicherungsverbände dem Organisationsprinzip des Vereins nicht allzu fern standen.75 Und jedenfalls trat das Vereinswesen auf dem Lande und im Dorf – hier früher, dort später – konkurrierend neben dort bisher vorherrschende Netze sozialer Interaktion, neben Familie und Verwandtschaft also,76 ohne diese gewachsenen, eher hierarchischen sozialen Beziehungen verdrängen zu können. Wenn das Vereinswesen eine städtische Erscheinung, Ausdruck stadtbürgerlicher Lebensweise, ist, dann müssen die Phasen und Formen der Verstädterung77 auch die Entwicklungsabschnitte der Vereinsgeschichte maßgeblich bestimmt haben. So findet sich das moderne Vereinswesen, nach seinen Vor­ läufern im Prozess der hoch- und spätmittelalterlichen Stadtbildung, zuerst in den von stadtbürgerlicher Lebensweise geprägten Handels-, Haupt- und Residenzstädten ausgebildet, um im Vormärz darüber hinaus in den rasch wachsenden frühindustriellen Erwerbszentren Sachsens und Westdeutschlands heimisch zu werden.78 Gemessen an späteren Verhältnissen, produzierte die frühe Textil- und Metallindustrie noch weitgehend in einem klein- und mittelbetrieblichen Rahmen; erst das Aufkommen der Schwerindustrie als »leading sector« 73 Hierauf weist H.-Jörg Siewert hin: Verein und Kommunalpolitik, in: Kölner Zs. f. Soziologie u. Sozialpsych., Jg. 29, 1977, S. 487–510, 491. 74 Deutelmoser, S. 10. 75 Vgl. bes. Reininghaus, Nachbarschaften, S. 124–126. 76 So Ilien, Albert u. Jeggle, Utz, Leben auf dem Dorf, Opladen 1978, S. 161–163, 180; s. auch ­Jeggle, Utz, Kiebingen  – eine Heimatgeschichte. Zum Prozeß der Zivilisation in einem schwäbischen Dorf, Tübingen 1977, S. 276 u. ö.; von volkskundl. Seite ferner: Schwedt, Herbert, Kulturstile kleiner Gemeinden, Tübingen 1968, S. 79–86; Lehmann, Albrecht, Das Leben in einem Arbeiterdorf. Eine empirische Untersuchung über die Lebensverhältnisse von Arbeitern, Stuttgart 1976, S. 65–83. 77 Im Überblick: Croon, Helmuth, Zur Entwicklung der Städte im 19. und 20. Jh., in: Studium Generale, Jg. 16, 1963, S. 565–575; Reulecke, Jürgen, Sozioökonomische Bedingungen und Folgen der Verstädterung in Dtld., in: Zs. f. Stadtgesch., Stadtsoziologie u. Denkmalpflege, Jg. 4, 1977, S. 269–287. 78 Noch immer zentral: Köllmann, Wolfgang, Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jh., Tübingen 1960, S. 215–219; mit Akzent im gewerblichen Vereinswesen auch des Bürgertums: Strauss, Rudolph, Die Lage und Bewegung der Chemnitzer Arbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jhs., Berlin [DDR] 1960, S. 130 ff. Die wichtigste jüngere Arbeit, in der das ganze Spek­ trum vormärzlicher Vereinsbestrebungen aufgerollt wird, stammt von Illner, Eberhard, Bürgerliche Organisierung in Elberfeld 1775–1850, Neustadt a. d. A. 1982. Über die reichhaltige Vereinsliteratur nur eines Orts s. etwa Zopf, Hans u. Heinrich, Gerd (Bearb.), BerlinBibliographie (bis 1960), Berlin 1965, S. 363–383.

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führte zwingend zu großbetrieblichen Formen der Produktionsorganisation.79 Dieser Entwicklung korrespondierte im sozialen Schichtungsprozess eine anfängliche Führungsrolle eines noch stark mittelständisch geprägten Besitzbürgertums vor allem im regionalen Rahmen, während nach der Reichsgründung mehr und mehr das überwiegend schwerindustrielle Großbürgertum als auch politische Führungsschicht in den Vordergrund trat. Während nunmehr in den schwerindustriellen, bald auch von »neuen« großbetrieblichen Produktionszweigen (Elektrizität, Chemie) beherrschten städtischen Bevölkerungsagglomerationen die mittleren Erwerbsschichten zunächst in den Hintergrund traten, um sich bald durch den »neuen« Mittelstand der industriellen Angestelltenschaft und der Dienstleistungsberufe zu ergänzen, adaptierte die Arbeiterschaft den Vereinsgedanken und überformte ihn für ihre Bedürfnisse.80 4. So lag der Schwerpunkt der Vereinsbewegung bis nach der Reichsgründung in den stadtbürgerlichen Mittelschichten. Dies schloss nicht aus, dass andere Sozialgruppen das Vereinsprinzip frühzeitig, und gewöhnlich zur Befriedigung spezifischer Bedürfnisse, übernahmen – so der Adel zur Wahrung ständischer Exklusivität, die Wissenschaft in der Tradition der Akademie­ bewegung zur Verbreitung »nützlicher« Kenntnisse, ähnlich die frühen landwirtschaftlichen Sozietäten mit dem Ziel der Verbesserung der Agrarproduktivität. Es schloss andererseits nicht aus, dass die unterbürgerlichen Schichten ihrerseits vor allem seit den 1860er Jahren in die Vereine drängten und damit gleichsam Statusdruck von unten erzeugten, der Sezessionen oder separate Gründungen forcierte und mindestens das gehobene Stadtbürgertum mehr und mehr zum Rückzug in eine eigene adäquate Geselligkeit veranlasste,81 wo nicht sowieso die Differenzierung und Spezialisierung der wirtschaftlichen und politischen Interessen gesonderte Organisationen nahelegte. Aber selbst die frühen Arbeiterbildungsvereine wiesen noch bekanntermaßen eine Trägerschaft auf, in der Ungelernte und Tagelöhner nur ausnahmsweise vorzufinden waren, während sich der Schwerpunkt mehr und mehr vom örtlichen Bildungs- und Besitzbürgertum, einer häufig honoratiorenhaft die Ehrsamkeit der Bestrebungen repräsentierenden oder sozialreformerisch engagierten Schicht, hin zur handwerklich-kleinbürgerlichen Mitgliedschaft verschob.82 79 Vgl. bes. Croon, S. 569. 80 Vgl. Lidtke, Vernon, Die kulturelle Bedeutung der Arbeitervereine, in: Wiegelmann (Hg.), S. 146–159; mit einem Überblick: Tenfelde, Klaus, Arbeiterkultur, in: Wolfgang R. Langenbucher u. a. (Hg.), Kulturpolit. Wörterbuch, Stuttgart 1983, S. 45–50. 81 Als Bsp. s. bes. Freudenthal, S. 454–464. 82 Dazu jetzt Offermann, S.  321–325 (Tab. S.  525–534), mit einem Akzent auf den »reinen« Arbeitervereinen, so dass O. die (gelernte) Lohnarbeiterschaft schon recht stark vertreten sieht. G. F. Bandow u. Hermann Brämer konstatieren, wobei unter »Handwerker-, Arbeiterund ähnlichen Vereinen« für Preußen sehr unterschiedliche Vereinstypen zusammenfließen, S. 77 zwischen Arbeitgebern und -nehmern Parität in der Mitgliedschaft, wenn nicht ein Überwiegen der Ersteren, sowie zahlreiche Kaufleute und freiberuflich Tätige unter Einschluss von Lehrern, dagegen »verschwindend« wenig Fabrikarbeiter (S. 81 f.).

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Das Wenige, was darüber hinaus über die soziale Zusammensetzung von Vereinsmitgliedschaften bekannt ist,83 zeigt vor allem, dass die Vereine trotz einer zeitweise und in einem regional unterschiedlichen Ausmaß bedeutenden Rolle des Adels »doch im ganzen bürgerliche Gebilde«84 waren, so dass man die Jahrzehnte zwischen 1815 und 1873 mit Recht als »die eigentliche Epoche der bürgerlichen Vereine«85 bezeichnet und auch aus der Sicht der jüngeren verbandsgeschichtlichen Forschung in diesem Sinne zusammengefasst hat.86 Mag in ideengeschichtlicher Sicht der Vereinsgedanke auch in das Arsenal der Aufklärung und der vormärzlichen Gesellschaftsreformer gehören, so liegt der quantitative und, wie noch zu zeigen ist, qualitative Akzent der Vereinsgeschichte doch im Sinne einer Durchsetzung stadtbürgerlichen Organisationsstrebens in der Zeit zwischen Revolution und Reichsgründung,87 einer Zeit im Übrigen, in der die vereinskritischen Stimmen beispielsweise aus dem katholisch-konservativen Lager,88 nachdem man sich neben anderem mit den genossenschaftlichen Organisationsversuchen auseinandergesetzt hatte,89 versiegten und einer Haltung wichen, in der man sich gar auf das »christliche Mittelalter« als »die Mutter der Associationen« besann und diese als Mittel gegen die vielgefürchtete »Atomisierung der Gesellschaft« pries.90

83 Vgl. bes. Tornow, S. 217–229 sowie Tabellen S. 289–297. 84 Tornow, S. 220. 85 Meyer, S.  256; vgl. auch Kaschuba u. Lipp, S.  79; grundsätzlich bereits Beutin, Ludwig, Das Bürgertum als Gesellschaftsstand im 19. Jh., ND, in: ders., Gesammelte Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hg. v. Hermann Kellenbenz, Köln 1963, S. 284–319; an einem scheinbar abgelegenen Bsp.: Cohen, Garry, The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague, 1861–1914, Princeton 1981 (zit. n. d. Fassung als Diss., Princeton 1975, S.  65, 70 u. ö.). 86 Vgl. zusammenfassend: Wehler, Hans-Ulrich, Zur Funktion und Struktur der nationalen Kampfverbände im Kaiserreich, in: Werner Conze u. a. (Hg.), Modernisierung und nationale Gesellschaft im ausgehenden 18. und im 19. Jh., Berlin 1979, S. 113–124, im Anschluss an Puhle, Hans-Jürgen, Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1973, S. 29–68. 87 Conze, Werner, Der Verein als Lebensform des 19. Jhs., in: Die Innere Mission NF, Jg. 50, 1960, S. 226–234, 233, hat für die zweite Jahrhunderthälfte von »einer Ernüchterung und Desillusionierung über die Wirkungsmöglichkeiten der freien Vereine« gesprochen. Conze untersucht die quantitative Entwicklung nicht; vgl. im Übrigen meine einleitenden Be­ merkungen oben. 88 Ein Bsp. (J. H. Hüffer, Oberbürgermeister von Münster) s. bei Reulecke, Jürgen, Der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, in: ND der Mittheilungen des Centralvereins, Bd. 1, S. 29*. 89 Über Huber s. Historisch-Politische Blätter, Bd. 39, 1857, S. 48–80, 260–283; über SchulzeDelitzsch ebd., Bd. 45, 1860, S. 363–380, 530–547, 837–854 (844 f.: »Wir glauben also nicht, daß das moderne Associationswesen, so wie es ist, jemals die Form für eine wahrhafte Gesellschaftsverfassung abgeben kann«, Hervorheb. i. Orig.); vgl. auch ebd., Bd.  46, 1860, S. 47–66, 201–220. 90 Historisch-Politische Blätter, Bd. 51, 1863, S. 765.

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Zweifellos hatte sich das deutsche Besitz- und Bildungsbürgertum in dieser Entwicklung, jedenfalls im Vergleich zu England und den USA91 und mög­ licherweise auch im Vergleich mit Frankreich,92 gleichsam »verspätet«, ohne dass an dieser Stelle die bekannten Spekulationen über Ursachen und Folgen solchen Sonderwegs angestellt werden sollen. Dabei dürfte allerdings das westliche Vorbild jedenfalls nach der Jahrhundertmitte für die Entfaltung des Vereinswesens nur eine geringe Rolle gespielt haben; von entscheidender Bedeutung war vielmehr die Schaffung von Bedingungen für die Möglichkeit freier zweckgebundener Zusammenschlüsse durch die Verstädterung, die beginnend in der ersten Jahrhunderthälfte durch die Industrialisierung vorangetrieben wurde. Das englische Vorbild hat dagegen, das zeigt die Publizität V. A. Hubers in den 1850er und 1860er Jahren, in der Auseinandersetzung um Chancen und Möglichkeiten der Selbsthilfebewegung, also in der bürgerlichen Sozialreform als einem eigenen Zweig der Vereinsgeschichte, eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt.93 Das Stadtbürgertum zwischen Kleingewerbe, mittelständischem Unternehmertum, bildungsbürgerlichen Schichten und freien Berufen war jedoch nicht nur im 19.  Jahrhundert der hauptsächliche Träger der Vereinsbestrebungen; mehr noch, bis heute ist es vorwiegend die den Ober- und Mittelschichten zuzurechnende Bevölkerung, die nach Mitgliedschaften und Aktivität im Verein die freiwilligen Zweckzusammenschlüsse maßgeblich bestimmt,94 so dass unabhängig von der historischen Entwicklung die Annahme naheliegt, dass die Vereinsorganisation ein der Lebensweise sowie den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Vorstellungen dieser Schichten besonders angemessenes Instrument ist. Für Deutschland veranlassen Tornows Feststellungen über Doppelmitglied91 Überblicke: Birke, Adolf M., Voluntary Associations. Aspekte gesellschaftlicher Selbstorganisation im frühindustriellen England, in: Gesellschaftliche Strukturen, S. 79–91; Gold­ hamer, Herbert, Voluntary Associations in the United States, in: Paul K. Hatt u. Albert J. Reiss (Hg.), Cities and Society. The Revised Reader in Urban History, New York 1964, S. 591–596; knapp auch Conze, Verein, S. 230; s. ferner Anm. 99. 92 Bes.: Agulhon, Maurice, Le cercle dans la France bourgeoise 1810–1848. Etude d’une mutation de sociabilité, Paris 1977. 93 Bes.: Huber, Victor Aimé, Über die cooperativen Arbeiterassociationen in England, Berlin 1852; ders., Reisebriefe aus Belgien und Frankreich im Sommer 1854, sowie: Reisebriefe aus England im Sommer 1854, beide Hamburg 1855; ders., Die gewerblichen und wirtschaftlichen Genossenschaften der arbeitenden Klassen in England, Frankreich und Deutschland, in: Zs. f. Staatswiss., Jg.  15, 1859, S.  277 ff.; s. ferner oben Anm.  89 sowie allg. zur England-Rezeption: Mittheilungen des Centralvereins, ND Bd. 5, S. 2721–2739, 2721: Für Deutschland sei die »experimentale Seite« des englischen Vereinswesens von besonderem Interesse. 94 Unter Einschluss von Vergleichen mit England: Gist, Noel P. u. Halbert, L. A. (Hg.), Urban Society, New York 19614, S.  321–332; ferner Bergstraesser, Arnold u. a. (Hg.), Soziale Verflechtung und Gliederung im Raume Karlsruhe, o. O. o. J. [1965], S. 165; Siewert, H.-Jörg, Vereine als Träger familiengerechter Freizeitangebote, in: Dt. Gesellschaft für Freizeit e. V. (Hg.), Familiengerechte Freizeitangebote der Gemeinden, H. 48, S. 103–135, 118 f.

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schaften in Münchner Vereinen95 zu ähnlichen Überlegungen. Besser belegt ist die meist ausschließende Dominanz von Männern in Vereinen;96 weiblicher Zugang beschränkte sich auf Festivitäten, während eigenständige Frauenorganisationen allein auf dem Felde der Armen- oder Krankenpflege, mithin im Bereich der Wohltätigkeit, Verbreitung fanden. In manchen Vereinsgruppen blieb Frauen im Allgemeinen, wie auch Jugendlichen, der Zugang aus vereinsrecht­ lichen Gründen versperrt. Ob sich die Vereinsaktivitäten im Übrigen, wie zeitgenössisch von katholischer Seite bemerkt,97 in protestantischen Regionen häuften, während katholische Städte darin eher nachhinkten, muss detaillierten Vergleichen vorbehalten bleiben; angesichts des Bildungs- wie auch Industrialisierungsgefälles vom katholischen zum protestantischen Deutschland98 und der wenigstens anfänglichen Zurückhaltung katholischer Kreise ist diese Behauptung durchaus plausibel. Insgesamt99 haben sich jedenfalls, in einem zeitlichen wie auch sachlichen Sinn, die Besitzenden eher als die Armen, die Gebildeten eher als die insoweit Rückständigen, die Selbständigen eher als die Abhängigen, die Stadtbevölkerung eher als die ländliche Einwohnerschaft, die Protestanten eher als die Katholiken in Vereinen organisiert. Große Armut und Analphabetismus waren soziale,100 weibliches Geschlecht und Jugendlichkeit eher traditionale und rechtliche Ausschlussgründe.

95 Tornow, Tabelle S. 298; vgl. auch Rupieper, Hermann Josef, Die Sozialstruktur demokra­ tischer Vereine im Kgr. Sachsen 1848–1855, in: Jb. d. Instituts f. Dt. Geschichte, Jg. 7, 1978, S. 457–468, Tabellen S. 462 f. 96 Etwa: Freudenthal, S. 176–180; Bergstraesser (Hg.), S. 160; Greverus, Ina-Maria, Der ter­ ritoriale Mensch, Frankfurt 1972, S.  305 (,›hierarchisch organisierte Männerbünde«); ­Tornow, S.  260 Anm.  2; zahlreiche Hinweise für gewerkschaftliche und Arbeitervereine bei Engelhardt, Nur vereinigt, Bd. 2, S. 777, 796, 1022 u. ö.; kennzeichnend noch: Spectator, Berliner Klubs, Berlin o. J. [ S. 7 f., über »die schlimmsten und bedenklichsten […] Auswüchse«: »auch die lieben Frauen haben sich zusammengetan […]]«. 97 Das moderne Associationswesen, in: Historisch-Politische Blätter, Bd. 46, 1860, S. 47–66, 53: »Gerade weil bei den protestantischen Gegenden alle gegebene Gemeinschaft im höchsten Maße fehlt, weil hier der Individualismus als die sich gleichsam von selbst verstehende und als berechtigt anerkannte Grundform des Lebens zur zweiten Natur geworden ist, gerade deshalb hat das protestantische Volk, sobald der Gedanke und das Bedürfnis der Gemeinschaft nur einmal in ihm erwacht, den Drang nach ihrer Verwirklichung leicht bis zur Leidenschaft gesteigert und bis zu einer alle Hemmnisse durchbrechenden stürmischen Verwirklichung getrieben.« (Hervorheb. i. Orig.). 98 Vgl. Klöcker, Michael, Das katholische Bildungsdefizit in Deutschland, in: GWU, Jg. 32, 1981, S. 79–98; zur Vermischung religiös-oppositioneller und demokratischer Strömungen Rupieper, S. 464. 99 Zum Vergleich s. Sills, David L., Voluntary Associations: Sociological Aspects, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 16, 1968, S. 362–379, 365 f.; Gordon, Wayne C. u. Babchuk, Nicholas, A Typology of Voluntary Associations, in: American Sociological Review, Jg. 24, 1959, S. 22–29; Warniger, Charles K. u. Prather, Jane Emery, Four Types of Voluntary Associations, in: Sociological Inquiry, Jg. 35, 1965, S. 138–148. 100 Vgl. auch Gist u. Halbert (Hg.), S. 332.

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Mit diesen zusammenfassenden Bemerkungen über die Erscheinungsformen des Vereinswachstums nach der Jahrhundertmitte in wirtschaftlich-konjunktureller, politischer, regionaler und sozialstruktureller Hinsicht sind Indizien gewonnen zur Beantwortung der grundlegenden Frage nach den Ursachen dieses Wachstums. Dass die Industrialisierung mit der Vereinsgeschichte, soviel sei zunächst bemerkt, im Gegensatz zu einer neueren Ansicht101 in irgendeinem ursächlichen Zusammenhang stand, ist, wie sich durch zahlreiche Zitate belegen lässt, schon den Zeitgenossen des Konjunkturaufschwungs in den 1850er Jahren sehr wohl bewusst geworden: Was jetzt anhob, war »eine Zeit des Bindens, nicht mehr des Lösens, des Aufbauens, nicht mehr des Einreißens«: »Die industrielle Gesellschaft verlangt eine freiere und flüchtigere Socialform. Und hat sie nicht das Leben selbst schon gebildet? Man braucht in der That kein scharfes Auge, um die rechte zu entdecken: Association, Genossenschaft, nicht Corporation ist die Socialform der industriellen Gesellschaft.«102 Unter diesem Druck zeigte sich ein »sehr starkes allgemeines Bedürfnis nach Vereinsleben«, das sich, wie ein katholischer Kritiker scharfsichtig bemerkte, sogar darin äußerte, dass »die Zusammenkünfte in weit größerem Maße und Umfange zu Stande kommen, als der äußere Zweck des Vereins direkt erfordert«, so dass »dieser äußere Zweck des Vereins an sich selbst als etwas Geringfügiges« erscheine.103 Für unsere Argumentation nimmt die Beobachtung, die neue Zeit verlange, »daß auch die Personenkörper beweglicher seien«,104 einen zentralen Rang ein. Gerade im Blick auf die aufstrebenden Städte wurde bemerkt, das »geistige Band zwischen der Gemeinde und dem Gemeindebürger [sei] zerrissen«; Gewerbefreiheit und Freizügigkeit hätten einen »Wechsel der Menschen und der Besitzungen« verursacht, der »um so viel größer und rascher [ist], je lebendiger die Entwicklung der betr. Stadt selber ist«.105 Mit der sprunghaften Mobi­lisierung von Kapital und Bevölkerung zuerst und gerade in den rasch wachsenden Städten,106 101 Vgl. Brandt, Hartwig, Ansätze einer Selbstorganisation der Gesellschaft in Deutschland im 19.  Jahrhundert, in: Gesellschaftliche Strukturen, S.  51–67, 67: »Wo die schnell fortschreitende Industrialisierung die Klassengegensätze schärfer hervortreten ließ, da verlor jene Maxime an Glaubwürdigkeit, die Selbstorganisation durch Assoziationen, Versammlungen und Parlamente vermöchte die Unterschiede der materiellen Interessen wenn nicht auszugleichen, so doch durch politisch korporative Selbstentfaltung zu neutralisieren.« Jener vormärzliche Konsens habe sich »tödlich an einer Klassengesellschaft« gestoßen, womit sich das Thema »Selbstorganisation der Gesellschaft« überlebte. Von anderen Problemen in diesen Bemerkungen abgesehen, wird im Folgenden umgekehrt argumentiert: Industrialisierung verhindert nicht Selbstorganisation, sondern ermöglicht sie. 102 Vergangenheit und Zukunft der Gemeinde, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 1856/II, S. 287. 103 Historisch-Politische Blätter, Bd. 46, 1860, S. 52. 104 Deutsche Vierteljahrsschrift, 1856/II, S. 287. 105 Das Gemeindewesen der neuen Zeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 1853/I, S.  22–84, ­26–28, i. Orig. z. T. gesperrt: Verf. wahrscheinl. Lorenz Stein. 106 Vgl. Bauer, W., Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1914, S. 102: »Das Weichbild umschließt eine Welt für sich, eine Welt voll innerer Unrast, voll Gärungen und Kämpfen.«

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mit sehr konkreten ökonomischen Ursachen also, verband sich eine Zunahme auch der »geistigen Mobilität« nach 1850,107 eine »Verbreiterung der Kulturbasis«,108 gar eine fundamentale »soziokulturelle Umorientierung«.109 »Die Art des Verkehrs ist eine andere geworden […]«.110 Wie sich in diesem Satz abzeichnet, wurde beispielsweise der zeitgenössische Ausdruck »Verkehr« durchaus nicht im heutigen Verständnis auf die konkrete Bewegung von Gütern und Menschen bezogen: Man sprach etwa von den »gewaltigen physischen und geistigen Verkehrsmittel[n]« und der »dadurch unendlich erweiterte[n] und großartigere[n] Auffassung der eigenen Berufs- und Thätigkeitsform und ihres Verkehres«, was zu den »Vorboten einer Umbildung des bisherigen un­organisch aufgelösten Sonderlebens der Gesellschaft« gehöre;111 »alle fühlen sich durch den ihnen von Natur angeborenen Gesellschaftstrieb […] zum regsten Verkehr, zum innigen Anschluß aneinander« veranlasst.112 Auch Marx verstand unter »Verkehr« sehr umfassend den materiellen und geistigen Verkehr von Individuen, sozialen Gruppen und Ländern, ja, »in der wirklichen Welt hängt der Verkehr der Individuen von ihrer Produktionsweise ab«.113 Schon immer waren die Städte Stätten gewerblicher Produktion und privilegierten Warenverkehrs unter abgehobener Rechts- und Sozialverfassung gewesen; in ihnen hatte die gesellschaftliche Arbeitsteilung immer schon ein hohes Maß erreicht, gehörte Kommunikation der Bürger und Schutzverwandten im familiären, gewerblichen und kommunalen Rahmen zu den Bedürfnissen und Erfordernissen des Alltags. Immer schon hatte sich solche Kommunikation in Vereinen oder vereinsähnlichen Gebilden mit dem Ziel von Selbst­organisation und Partizipation formalisiert. Es bedurfte keiner »Fundamental-« oder »Kryptopolitisierung«114 im Vormärz, um Strukturbedingungen 107 Fenske, Hans, Internationale Wanderungen in Mitteleuropa (1850–1914), in: GWU, Jg. 31, 1980, S. 593–608, 594. 108 Sombart, Werner, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jh., Ausg. 1919, S. 408; vgl. Staudinger, Hans, Das Kulturproblem und die Arbeiterpsyche, in: Die Tat, Jg.  5, 1913/14, S. ­990–1002, 1002. 109 Wehler, S. 116 f.; vgl. u. a. Bausinger, Hermann, Volkskultur in der industriellen Welt, Stuttgart 1961, S. 40 u. ö.; Hansen, Reimer, Neolithische und industrielle Revolution als universalgeschichtliche Zäsuren. Zur Genesis und Beurteilung einer neueren Periodisierung der Weltgeschichte, in: Festschrift W. Heistermann, Berlin 1978, S. 83–102. 110 Märkischer Sprecher Nr. 99/11.12.58, unter Ankündigung einer häufigeren Erscheinungsweise des Blattes. 111 Der bureaukratische Staat nach seinem Ausgangspunkt und Ziel, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 1857/III, S. 107–147, 147. 112 Schulze-Delitzsch, Hermann, Die Arbeit. Vortrag, gehalten im Berliner Arbeiterverein am 4. Jan. 1863, Leipzig 1863, S. 11. 113 MEW, Bd. 3, S. 375; vgl. S. 548 Anm. 4. 114 Brandt, S.  58 f.; sowie Hardtwig, Wolfgang, Politische Gesellschaft und Verein zwischen aufgeklärtem Absolutismus und Grundrechtserklärung der Frankfurter Paulskirche, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Göttingen 1981, S. 336–358, 338 u. ö.

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der Vereinsentstehung zu schaffen, wenn auch der mobilisierende Einfluss politischer Zustände und Ereignisse nicht unterschätzt werden soll. Die vormärzlichen Vorboten der Industriellen Revolution, die neuerliche Zunahme von Produktion und Warenverkehr etwa und die wachsende Bedeutung der besitz­ bürgerlichen Schicht in diesem Zusammenhang verbesserten diese Strukturbedingungen und entbanden wirtschaftliche Interessen, die sich zunächst und überwiegend gegen den insoweit und andernorts als hemmend und interessenfeindlich erfahrenen Staat richten mussten. Denn die namentlich vereinsrechtliche Reaktion traf das materielle und geistige Bedürfnis nach Kommunikation an einem empfindlichen Punkt, indem sie die Realisation grundlegender Bedürfnisse unterband.115 Trotz neuerlicher Reaktion mit den Vereinsrechten um 1850 vermehrte der industrielle Aufschwung die Bedürfnisse nach Entbundenheit, Freizügigkeit und Offenheit stoßartig. Zudem wirkte die Repression nunmehr differenzierter, indem die Staatsregierungen sich nach den Erfahrungen der Revolution der Mitträgerschaft des unaufhaltsam vorwärtsdrängenden Besitzbürgertums durch maßgebliche wirtschaftspolitische Konzessionen zu versichern be­gannen. Anders als im Geist der vormärzlichen Gewerbeförderung, bot der Konstitutionalismus nunmehr wenn auch begrenzte Mitwirkungsformen auf gesamtstaat­ licher, noch mehr freilich auf der Ebene der Gemeinden. Die neue, vereinsstimulierende Mobilität war mithin nicht erst ein Resultat der Industriellen Revolution,116 aber sie vervielfachte sich, wie am Beispiel der Wanderungen, des Verkehrsausbaus und der Beförderungsziffern von Eisenbahn und Post leicht gezeigt werden könnte,117 seit der Jahrhundertmitte binnen weniger Jahre. Nichts könnte dies besser verdeutlichen als die rasche Zunahme überpersonaler medienvermittelter Kommunikation insbesondere in Form von periodischen Druckerzeugnissen: »Kein lebendiger Verkehr der Gleichgesinnten […] ohne die mächtigen Schwingen der Presse«;118 sie wurde das »bedeutendste Werkzeug und Vehikel der Öffentlichkeit über­ 115 »Bedürfnis als gesellschaftsstiftende Kraft«: Müller, Johann Baptist, Bedürfnis und Gesellschaft. Bedürfnis als Grundkategorie im Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus, Stuttgart 1971, S. 80–102. 116 Vgl. etwa Dann, Otto, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland, in: Engel­ hardt u. a. (Hg.), Soziale Bewegung, S.  197–232, 200 f.; van Dülmen, Richard, Die Auf­ klärungsgesellschaften in Deutschland als Forschungsproblem, in: Francia, Jg.  5, 1977, S.  251–275, 274 (,›überständische Kommunikation«); über Mobilität und Kommunikation s. auch Wurzbacher, Gerhard, Die öffentl. freie Vereinigung als Faktor soziokulturellen, insbes. emanzipatorischen Wandels im 19. Jh., in: Walter Rüegg u. Otto Neuloh (Hg.), S. 103–122, 111, 118. 117 Vgl. im einz. Tenfelde, Klaus, Arbeiterschaft, Arbeitsmarkt und Kommunikationsstrukturen im Ruhrgebiet in den 50er Jahren des 19. Jhs., in AfS, Jg. 16, 1976, S. 1–59. Ich führe im Folgenden einige Gedanken dieses Beitrags fort. 118 Aus der Presse der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine Ende der 1860er Jahre, zit. n. Engel­hardt, Nur vereinigt, Bd. 2, S. 873.

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haupt«.119 Die hiermit verknüpfte Vervielfältigung der Adressaten und Entgrenzung der persön­lichen, familiären und kommunalen Horizonte war freilich mehr als ein bloßer quantitativer Fortschritt: Vertikal-ständische Formen sozialer Interaktion unter prinzipieller Ungleichheit von Absendern und Adressaten im Befehl-Gehorsam-Verhältnis wichen horizontal-egalitären Kommunikationsformen unter prinzipieller, wenn auch längst nicht faktischer Gleichheit der Interaktionspartner.120 Dies war ein Prozess, der gewiss nicht erst in den 1850er Jahren einsetzte und noch weniger mit Ausklingen der Industriel­ len Revolution abgeschlossen war, der gleichwohl in deren Verlauf ungemein beschleunigt wurde und unwiderrufliche Konsequenzen zeitigte. Noch war dies ein Prozess, der sich hinreichend in kommunikationsgeschichtlicher Terminologie beschreiben ließe, lagen ihm doch sehr umfassende und gleichermaßen unwiderrufliche Veränderungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft zugrunde. An dieser Stelle setzen daher auch die überzeugendsten Versuche zur Er­ klärung der Virulenz des Vereinsgedankens und des dem vormärzlich antizipierten Vereinsdenken folgenden Vereinswachstums nach der Jahrhundertmitte an. Im Kern besagt diese Argumentation, dass der spätestens in der Reformgesetzgebung erkennbare Rückzug des Staats aus seinen ursprünglichen wirtschafts- und gesellschaftsordnenden Funktionen, zusammen mit der Dekorporierung polyfunktionaler ständischer Organisationsgebilde, die Gesellschaft vom Staat entbunden121 und dadurch die bisher tragenden innergesellschaftlichen Interaktionsmuster entwertet und aufgelöst habe. Somit trat an die Stelle der gesellschaftsordnenden Omnipotenz der Obrigkeit unter Um- und Aufwertung des Untertanen zum Staatsbürger die rasch wahrgenommene Möglichkeit zur Selbstorganisation der Gesellschaft, deren Glieder, einstweilen der Beziehungen und Wertbezüge beraubt,122 das so entstandene Vakuum auszu-

119 Bauer, S. 130. 120 Vgl. etwa Lepsius, Rainer M., Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der »Moderne« und die »Modernisierung«, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S.  10–29, der S.  17 unter »Kommunikation« Traditionalität (personal, unterdrückt) und Modernität (medial, vermittelt) unterscheidet; ferner Gehring, Axel, Die Geselligkeit. Überlegungen zu einer Kategorie der »klassischen« Soziologie, in: Kölner Zs. f. Soziologie u. Sozialpsych., Jg.  21, 1969, S.  241–255, 247; Mayntz, Renate, Soziologie der Organisation, S.  90 f., weitere Hinweise bei Tenfelde, Arbeiterschaft, S.  39–40. Zu John Prince-Smith, der die Menschen »völlig durch die Marktzusammenhänge determiniert« sah, vgl. bes. Hentschel, Volker, Die deutschen Freihändler und der Volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885, Stuttgart 1974, S. 58 ff., Zitat S. 58. 121 Vgl. Conze, Werner, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: ders. (Hg.), Staat und Gesellschaft im dt. Vormärz, Stuttgart 19702, S. 207–269, 276–281. 122 »Namentlich ist in Hanthierung und Gesellschaft überall die frühere corporative Gliederung innerlich aufgelöst worden, ohne den zeitgemäßen Ersatz zu erhalten.« »Es ist vielfach bei der Zersetzung des Alten geblieben, ohne daß neue organische Bindungen, dem

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füllen strebten. »Der neue Vergesellschaftungstyp der freien Assoziation schien zu dem Verlust der latenten Funktionen ständischer Gemeinschaft einen Ersatz zu bieten.«123 Die Entstehung staatsfreier Sozialbereiche ist theoretisch, wie in der Forschung vielfach behandelt,124 antizipiert und zeitgenössisch vor allem anhand der »sozialen Frage« durchaus perzipiert worden. »Die krankhafte Zersetzung der arbeitenden Klassen hängt«, hieß es etwa,125 »wesentlich zusammen mit der Schwächung und Auflösung der älteren, gebundenen Organisation der Arbeit und mit dem Mangel einer Reorganisation der durch veränderten Arbeitsbetrieb und Verwandlung aller socialen und ökonomischen Verhältnisse atomistisch aufgelösten Massen.« Es sei auch daran erinnert, dass schon Frhr. vom Stein die Bildung von Bauernvereinen als notwendiges Korrelat zur Bauern­befreiung betrachtete. Später hat man selbst die Entstehung der Arbeiterbewegung »als die Gegenbewegung gegen die Auflösung der ursprünglichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaften« gedeutet.126 Die, wenn man so will, »Vakuumtheorie« der Vereinsentstehung betraf freilich, in einem umfassenden Sinn, alle »entbundenen« Bedürfnis des neuen Lebens entsprechend, an die Stelle der alten getreten wären.« Abbruch und Neubau der Zunft, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 1856/1, S. 173–208, 173 f. Damit wird das zeitgenössisch verbreitete Schlagwort von der »Atomisierung« des Einzelnen in der Gesellschaft verständlicher, wobei allerdings die »zentralistisch-atomistische« Tradition vor allem des französischen Naturrechts mitzubedenken ist. Vgl. Baron, Josef, Das deutsche Vereinswesen und der Staat im 19. Jahrhundert, rechtswiss. Diss. Göttingen 1962, S. 5 f.; ferner oben, Anm. 90. 123 Pankoke, Eckart, Sociale Bewegung – Sociale Frage – Sociale Politik. Grundfragen der dt. »Socialwissenschaft« im 19. Jh., Stuttgart 1970, S. 176. 124 Vgl. bes. Pankoke u. Baron sowie Müller, Friedrich, Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im dt. Vormärz, Berlin 1965, sowie jetzt Hardtwig, Genossenschaft. 125 Die 50 Thesen des Professor Huber, in: Mittheilungen des Centralvereins, ND Bd.  5, S. 2761–2765, 2761. Das Beispiel der Zünfte auch bei Klein, S. 42. 126 Zu Stein s. Baron, S.  13; s. ferner Buddensieg, Theodor, Das soziologische Problem der Sozial­demokratie, in: Archiv f. Sozialwiss. und Sozialpolitik, Jg. 49, 1922, S. 108–132, 117. Dass die Unterschichten die Vereinsform nachahmend adaptierten, widerspricht dem nicht und unterstreicht nur die Adäquanz des Vereinsprinzips für kollektive Bedürfnisse und Interessen in offenen bzw. sich öffnenden Gesellschaften. Vgl. schon Mittheilungen des Centralvereins, ND Bd. 3, S. 1811, über die Führungsrolle der »Männer von höherer Lebensstellung«, sowie Harkort, Friedrich, Die Vereine zur Hebung der untern Volksclassen, Elberfeld 1845, S. 28 f. (jetzt faksimilierter ND in Mittheilungen, Bd. 1); über Lujo Brentanos Auffassung s. das Vorwort S. Vf. in Apostol, Paul, Das Artjél. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie, Stuttgart 1898; ferner Schmoller, Gustav, Grundriss der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, ND, München 19232, T. 1, S. 450. Oberflächlich bleiben Versuche, das Vereinigungsbedürfnis der Arbeiterschaft aus der »Monotonie im Arbeitsprozeß des Industrieproletariats« zu motivieren: Rach u. Weissel, Bauern und Landarbeiter, S. 180; s. auch Kleßmann, Christoph, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 95 u. 188.

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Gruppen und Kräfte,127 darunter aufgrund seiner spezifischen kommunikativen Disposition an erster Stelle das frühzeitig gewerbetreibende und gebildete Stadtbürgertum, das seinen zeitlichen Vorsprung wahrnahm und, seinen Interessen und Bedürfnissen entsprechend, die freie, zweckorientierte Vereinigung zum Strukturprinzip seiner, der bürgerlichen Gesellschaft machte.

4. Strukturelle Differenzierung In der Tat haben die Zeitgenossen das Organisationsprinzip, die Funktionen des Vereins und seine Rolle im Gesellschaftsganzen bekanntermaßen in einem solcherart umfassenden Sinn128 verstanden. Entsprechend diffus ist im Vormärz noch der Begriff vom Verein bzw. der Assoziation; C. Welcker etwa unterschied Vereine nach nicht weniger als acht Kriterien: nach der Art des Zusammentretens, dem Zweck, dem Rechtscharakter, dem Grad an Exklusivität, dem Verhältnis zum Staat, der Art des Zusammenhalts (vertraglich oder freiwillig), dem Grad der Organisiertheit und der Größe.129 Sei es durch die Erfahrungen wirklicher Vereinsvielfalt unter den freilich politisch akzentuierten Vereins127 Vgl. Nipperdey, Thomas, Verein als soziale Struktur in Dtld. im späten 18.  und frühen 19. Jh., ND, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 174–205, 177–180; ähnlich Brandt, S. 57; auf Bildung, Wettbewerb und allg. sozialen Wandel akzentuiert: Kratzsch, S.  194 f.; ferner Blessing, Werner K., Zur Analyse polit. Mentalität u. Ideologie der Unterschichten im 19. Jh. Aspekte, Methoden u. Quellen am bayer. Bsp., in: Zs. f. bayer. Landesgesch., Jg. 34, 1971, S. 769– 816; Steinbach, Peter, Voraussetzungen und Folgen der Industrialisierung im Fürstentum Lippe, in: Lipp. Mitteilungen, Jg. 44, 1975, S. 125–159, 138, s. auch das Zitat ebd. S. 153 im Vgl. m. o. Anm.  125. Nipperdeys Gegenüberstellung von Korporation und Assoziation in einem idealtypischen Sinn wird von Reininghaus, Nachbarschaften, S. 124 f., mit dem Hinweis auf ältere vereinsähnliche Organisationsformen kritisiert. Vgl. zur Vertiefung besonders Reininghaus, Wilfried, Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter, Wiesbaden 1981, S. 233ff, sowie ders., Vereinigungen der Handwerksgesellen in Hessen-Kassel vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Hessisches Jb. f. Landesgeschichte, Jg. 31, 1981, S. 97–148, zur Frage der Kontinuität von den Gilden zu den Handwerkervereinen; ferner prinzipiell: Oexle, S. 38–44. Ich habe dieser berechtigten Kritik an der voreiligen Dichotomisierung von Korporation ( = traditional) und Assoziation ( = modern) durch die Konzentration auf stadtgesellschaftliche Kommunikationsformen zu entsprechen versucht. 128 Vgl. schon Stein, Hans, Pauperismus und Assoziation, in: International Review for Social History, Jg.  1, 1936, S.  21: »Zunächst verstand man darunter wahllos jeden Zusammenschluß …«. 129 Staatslexikon, hg. v. Rotteck u. Welcker, Bd. 1, 18452, S. 723 f.; vgl. auch Puchta, G. F., in: Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten, Bd. 3, Leipzig 1841, S. 76: Es sei »untunlich«, einzelne Arten von Vereinen zu unterscheiden, »weil die Zahl derselben auf keine Weise eingeschränkt ist und in jedem Augen­blicke neue Arten entstehen, wie bisher vorkommende verschwinden können.«

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gruppen während der Revolution, sei es unter dem Eindruck der Verbreitung insbesondere der Erwerbsgesellschaften während der 1850er Jahre, der ökonomischen Vereine also – jedenfalls hat sich das Vereinsdenken, in dem bisher die Begriffe zwischen Korporation, Association, Genossenschaft, Verein etc. munter durcheinander schwirrten, seit den 1850er Jahren zu einem zumeist nach dem Zweckkriterium geordneten Begriffssystem verfestigt, wobei vor allem der Rechtscharakter und das Verhältnis zum Staat diskutiert worden sind. Huber beispielsweise systematisierte den Genossenschaftsbegriff nach englischem und französischem Vorbild, indem er ökonomische und gewerbliche sowie unter letzteren produktive und distributive Genossenschaften unterschied.130 Stein gruppierte die Assoziationen insgesamt nach wirtschaftlichen, geistigen, staatlichen und gesellschaftlichen Zwecken,131 und Brater132 unterschied »nach der wesentlichen Verschiedenheit ihrer Zwecke« politische Vereine mit belehrender oder partizipatorischer Absicht von nichtpolitischen Vereinen, die den öffentlichen Angelegenheiten entweder »völlig fremd« gegenüberstehen oder es, wie im Falle der Armenpflege, »berühren«. Dagegen schloss Brater »die unmittelbar auf Vermögenserwerb« gerichteten Vereine, die der »Sprachgebrauch vorzugsweise Gesellschaften« nenne, aus, denn ihrer »inneren Verschiedenheit« entspreche es, »daß die gesetzlichen Bestimmungen über Erwerbsgesellschaften in die Gewerbs- und Civilgesetzgebung verwiesen sind und die neueren Vereinsgesetze, die hauptsächlich den staatspolizeilichen Gesichtspunkt hervorheben, sich nicht auf sie erstrecken«. In der Tat hatte bereits das bayerische Versammlungs- und Vereinsgesetz von 1850 offenbar erstmalig unter den bundesstaatlichen Vereinsrechten Erwerbsgesellschaften expressis verbis vom Geltungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen und zugleich deutlich gemacht, dass auch einige andere Vereinsgruppen bereits besonderen Regelungen unterstanden.133 Im österreichischen Vereinsgesetz blieben »Vereine, die auf Gewinn berechnet sind«,134 hingegen noch erfasst. Dass im Übrigen in Deutschland die Frage der Beziehungen zu den öffentlichen Angelegenheiten im Kern der definitorischen und insoweit nunmehr überwiegend juristischen Anstrengungen um den Ver130 Mittheilungen des Centralvereins, ND Bd. 5, S. 2763. 131 V. Stein, Lorenz, System der Staatswissenschaft, Bd. 2, 1. Abt.: Der Begriff der Gesellschaft und die Lehre von den Gesellschaftsklassen, Stuttgart 1856, S. 338. 132 Deutsches Staats-Wörterbuch, hg. v. J. C. Bluntschli u. K. Brater, Bd.  10, Stutt­gart 1867, S.  756 f.; den Genossenschaftsbegriff (»natürliche«, »gewill­kürte«) verallgemeinert noch als Verein: Bähr, O., Der Rechtsstaat, eine publizistische Skizze, Göttingen 1864, S. 20 ff. 133 Gesetz-Blatt für das Kgr. Bayern f. 1850, Sp. 53 ff., Art. 26: »Vereine, welche Capital durch Actien aufbringen, Creditpapiere in Umlauf zu setzen beabsichtigen, Anstalten für den öffentlichen Verkehr, für Sicherung des Vermögens, für Ersparung und Versorgung, für Auswanderung, endlich Vereine, welche den Betrieb von Erwerbsgeschäften zum Zwecke haben, so wie überhaupt alle diejenigen Vereine, welche unter den Begriff von civilrechtlichen und Handelsgesellschaften fallen, unterliegen den hierüber bestehenden Gesetzen und Vorschriften.« 134 Nach Klein, S. 61.

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einsbegriff bis weit über die 1870er Jahre hinaus gestanden hat,135 bezeichnet symptomatisch den politischen Kern der Rechtsproblematik und spiegelt darin ein Syndrom des preußisch-deutschen Konstitutionalismus. In der Ausgrenzung und Absonderung wichtiger Teilbereiche von dem ursprünglich umfassenden Assoziationskonzept, in der institutionellen, recht­ lichen und schließlich auch sprachlichen Verselbständigung – dies ein Prozess, der heute soweit gediehen ist, dass im Allgemeinverständnis die gemeinsame Wurzel von Parteien und Aktiengesellschaften, Sparkassen und Gesang­ vereinen nicht mehr gegenwärtig ist  – solcher Teilbereiche wird der grundlegende Vorgang struktureller Differenzierung reflektiert, in dessen Verlauf sich das Vereinsprinzip als Grundelement der modernen Gesellschaftsordnung etabliert hat. Diese Entwicklung ist an einzelnen Beispielen, etwa an dem Zerfall ursprünglicher Polyfunktionalität in einzelnen Vereinen und Vereinsgruppen unter gesonderter Organisation einzelner Aufgaben und Funktionen, in der Forschung immer wieder konstatiert worden136, ohne dass man zu einer systematischen Zusammenfassung der Ursachen und Erscheinungsformen struktureller Differenzierung gekommen wäre. Es seien im Folgenden einige Beispiele etwas ausführlicher vorgestellt, um anschließend in einer groben Skizze solche Grundlinien zu umreißen. Die Genossenschaftsbewegung ist sowohl in ihrem ländlichen als auch im städtisch-handwerklichen Zweig aus älteren, umfassendere Ziele verfolgenden Wohltätigkeitsvereinen entstanden, und sie hat den ihr bei Geburt eingepflanzten ethischen Zug lange beibehalten. F. W. Raiffeisen gründete bekanntlich – die Gründungsgeschichte hat im Rückblick der Genossenschaftler heroische Züge angenommen – auf dem Höhepunkt des Hungerwinters 1847 in einer kleinen Westerwald-Gemeinde einen Wohltätigkeitsverein; 1849 folgte in einer anderen Gemeinde ein Hilfsverein zur Unterstützung der Landwirte.137 Eine weitere 135 Typisch hierfür: Munckel, A., Der Begriff des »Vereins«, in: Soziale Praxis (1895/96), Sp. 282–286. 136 Etwa: Baron, S. 67; Freudenthal, S. 243; Tornow, S. 252–258, 264. 137 Überblick z. B.: Honekopp, Joseph, Vom Wohltätigkeitsverein zur Genossenschaft. Ein Bürgermeister wird Genossenschaftsgründer (1845–1864), in: Freiheit und Ordnung. Festschrift zum 70. Geb. v. Th. Sonnemann, Bonn 1970, S. 81–96; Müller, S. 24–35; vgl. ferner oben Anm. 25–27 sowie die folgenden Anm.; zu Teilbereichen des Genossenschafts­wesens Winkler, Horst, Die landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften und die Grundsätze Raiffeisens. Zur 70. Wiederkehr der Gründung des ersten auf Selbsthilfe beruhenden Raiffeisen-Vereins, in: Jbb. f. Nationalökonomie u. Statistik, Bd. 138, 1933, S. 59–76; Held, Adolf, Die ländlichen Darlehenskassenvereine in der Rheinprovinz und ihre Beziehungen zur Arbeiterfrage, ebd., Bd. 13, 1869, S. 1–84 (m. Musterstatuten im Anhang). Neuere Schriften sind, auch in der Behandlung der Gründungsphase, eher genossenschaftstheoretisch orientiert; vgl. Lukas, Hans, Der Deutsche Raiffeisenverband. Entwicklung, Struktur und Funktion, Berlin 1972, S. 16–28; Finis, Beate, Wirtschaftliche und außerwirtschaftliche Beweggründe mittelständischer Genossenschaftspioniere des landwirtschaftlichen Bereichs am Beispiel von F. W. Raiffeisen und W. Haas. Zur Integration der Beweggründe in eine empirische Genossenschaftstheorie und in Theorien der Sozial- und Wirtschafts-

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Gründung mit dem Zweck, »nach allen Richtungen wohltätig zu wirken«,138 erfolgte 1854, und erst mit diesem Verein schälte sich das Konzept des ländlichen Kreditvereins mit entsprechendem satzungsmäßigen Zweck heraus.  – Anders als Raiffeisen, dürfte sich Schulze-Delitzsch in Kenntnis der frühsozialistischen Auseinandersetzungen und Ansätze für Produktions- und Konsumgenossenschaften der Handwerkerfrage gewidmet haben. Einige Kreditvereine – »genau genommen nur Wohltätigkeitsanstalten«139  – bestanden schon 1848. Schulze gründete l849140 mehrere handwerkliche Rohstoffassoziationen und endlich 1850 den berühmten Vorschussverein zu Delitzsch. Beide Genossenschaftsgründer gingen einen durch die Teuerung der 1850er vorgezeichneten Weg, indem sie zugleich Abhilfe der Not und die Vorteile der größeren »Kapital-Assoziationen« im Auge hatten; beide veröffentlichten grundlegende Schriften als Erfahrungsberichte mit Lehrbuchcharakter,141 die viele Auflagen erlebten, und blieben der »Entwicklung gewisser geselliger […] Beziehungen und dadurch Steigerung der sittlichen Kräfte«142 zeitlebens verpflichtet. Auch zielten beide auf im Schichtungsgefüge vergleichbare, jedoch grundsätzlich verschieden disponierte Bevölkerungsgruppen: einerseits auf den kleineren und mittleren, zum Teil  noch durch Ablösungsverpflichtungen belasteten, bäuerlichen Besitz, andererseits auf das der Konkurrenz der Industrie immer mehr ausgesetzte Handwerkertum. Huber dagegen entwickelte seine Genossenschaftspläne auch im Blick auf die Arbeiter – allerdings: das »Ideal der Produktivgenossenschaft« war denn doch »das Ideal einer verhältnismäßig geringentwickelten Industrie, ein Ideal, das der Klein- und Mittelindustrie« entsprach.143 Unter den inflationären Bedingungen der 1850er Jahre fand der Selbst­ hilfegedanke vornehmlich in Gestalt der Vorschussvereine Verbreitung, aber parallele Bestrebungen mit anderen Zwecken zeichneten sich bereits ab, und seit den 1860er Jahren wurden im Handwerk in rascher Folge immer mehr Kredit-, politik, Berlin 1980 (treffende Kritik: Borscheid, Peter, in: VSWG, Jg. 69, 1982, S. 281); v. Brentano, Dorothee, Grundsätzliche Aspekte der Entstehung von Genossenschaften, Berlin 1980, S. 55–74; Wenster, Arnulf, Theorie der Konsumgenossenschaftsentwicklung, Berlin 1980. Standardwerk zu den Konsumgenossenschaften bleibt das Buch von Hasselmann, Erwin, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Berlin 1971. 138 Raiffeisen, F. W., Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der länd­ lichen Bevölkerung, sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter, Neuwied 1866, S. 11. 139 Crüger, Hans, Vorschuß- und Kreditvereine als Volksbanken, Berlin 19158, S. 3. 140 Überblick u. a. ebd., S. 8 ff. sowie ders., Einführung in das dt. Genossenschaftswesen, Berlin 1907, S. 40–48. 141 Vgl. Anm. 138 sowie Schulze-Delitzsch, Hermann, Associationsbuch für dt. Handwerker und Arbeiter, 1853, ND in: ders., Schriften und Reden, hg. v. F. Thorwart, Bd.  1, Berlin 1909, S. 19 ff. 142 Die cooperative Association in Dtld., in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 1855/11, S. 51–107, 52. 143 Crüger, Hans, Grundriß des dt. Genossenschaftswesens, Leipzig 19222, S. 62; vgl. bereits Dühring, Eugen, Cursus der National- u. Socialökonomie, Berlin 1873, S. 337.

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Rohstoff-, Absatz- oder Magazingenossenschaften gegründet.144 Mit einiger zeitlicher Verzögerung traten auf dem Lande beispielsweise Bezugs- und Molkereigenossenschaften hinzu.145 In der Arbeiterschaft gewannen die Konsumgenossenschaften an Bedeutung; hier sollte Kapitalbildung im Übrigen durch die in dieser Zeit so rege anempfohlenen Sparvereine ermöglicht werden. Ein erster Versuch zur Zusammenfassung bestehender Genossenschaften erfolgte 1859 in Weimar. Man errichtete ein Zentralbüro und setzte an die Stelle der bisher berichtenden Organe eine eigene Zeitschrift. Seit 1861 schlossen sich weitere Genossenschaftsgruppen an, und 1864 entstand der Allgemeine Verband der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. Das ländliche Genossenschaftswesen zentralisierte sich stärker auf der Ebene von Regionalverbänden vornehmlich in den frühen 1870er Jahren. Es gab Konkurrenzgründungen, so bei den Konsumvereinen, aber der Tendenz sowohl zur Differenzierung und Spezialisierung nach einzelnen Zwecken als auch zur zentralisierenden Zusammenfassung mit dem Ziel einer wirksamen Vertretung nach außen, der Information nach innen und der Förderung aller zweckgemäßen organisatorischen Bestrebungen konnte sich nach der Reichsgründung kaum ein Verein entziehen. Neben dieser neuartigen Vereinsgruppe seien die organisatorischen Bestrebungen der Unternehmerschaft als relativ junger Schicht in groben Linien skizziert. Ihre Beteiligung an lokalen Bildungs-, Lese- und Geselligkeitsvereinen lässt sich bereits sehr früh zeigen;146 ihre wirtschaftspolitischen Neigungen und Interessen sind daneben, bei starken Unterschieden in den einzelnen Bundesstaaten, frühzeitig unter kennzeichnender Akzentuierung des Verhältnisses zum Staat in kaufmännischen Korporationen und Handelskammern nach französischem Vorbild zusammengefasst und bald auch, etwa für Preußen, rechtlich vereinheitlicht worden.147 Nach ersten Ansätzen bundesstaatlicher Zusammenfassung der Handelskammern Ende der 1850er Jahre in Preußen und Baden verbanden sie sich 1860 zum Deutschen Handelstag mit dem Ziel, »wenigstens in materieller Beziehung ein einiges, großes Deutschland zu schaffen«.148 Mancherorts, so zeitweise in Bayern, ist die kammertypische Gutachter- und Beratungsfunktion von staatlich geförderten Gewerbevereinen wahrgenommen worden, die dagegen in Norddeutschland die Vielfalt ihrer Ziele zwischen Bildung, Fortbildung und Geselligkeit noch lange wahrten und stellenweise zu regionalen Zusammenschlüssen fanden. In der sozialen Zusammensetzung dieser 144 Vgl. ebd., Grundriß, S. 47–58, zu den späteren Siedlungs- und Baugenossenschaften ebd., S. 62–71. 145 Vgl. Müller, S. 166–188. 146 Vgl. o. Anm. 39 sowie Zorn, Wolfgang, Handels- u. Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648–1870. Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des schwäbischen Unternehmertums, Augsburg 1961, S. 304–309. 147 Überblick z. B. Fischer, Wolfram, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat. Die Handelskammern in der dt. Wirtschafts- und Staatsverfassung des 19. Jhs., Berlin 1964. 148 Zit. n. Gensel, Julius, Der dt. Handelstag in seiner Entwicklung und Thätigkeit 1861–1901, Berlin 1902, S. 3.

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Vereine konnten im interlokalen Vergleich große Verschiebungen eintreten,149 so dass beispielsweise selbst im Ruhrgebiet einerseits das unternehmerische und großbürgerliche, andererseits das handwerkliche Moment die Überhand gewann und die Vereinszwecke entsprechende Nuancierungen, sichtbar etwa im Bildungsprogramm, erfuhren. Die ursprünglich oft auch dem Anspruch nach polyfunktionalen Gewerbevereine erlitten nach der Reichsgründung wiederholt Funktionsverluste von verschiedenen Seiten, so infolge der – auch die Vielfalt der Hilfs- und Unterstützungskassen stark einschränkenden  – Monopolisierung der Sozialpolitik durch das Reich in den 1880er Jahren, womit der Unterstützungszweck entfiel, oder durch die Verbesserung staatlicher und berufs­genossenschaftlicher Fortbildungseinrichtungen wie auch durch die Ausbreitung der Elementarbildung überhaupt. Nach der Jahrhundertwende sind manche Gewerbevereine zu Geselligkeitsvereinen der Oberschichten verkümmert; andere konzentrierten mittelständisch-gewerbliche Interessen auf die Kommunen als unmittelbare Ansprechpartner. Der unternehmerischen Teilhabe und Trägerschaft in Gewerbevereinen lag nicht zuletzt ein Motiv zugrunde, das auch ihre vereinsstimulierende Tätigkeit gegenüber der Arbeiterschaft trug: Das Streben nach Fürsorge für die Unbemittelten durch Fabriksparkassen, Betriebskindergärten und ähnliche Einrichtungen in Vereinsform, in der Frühzeit auch die Beteiligung an zentralstaatlichen Maßnahmen dieser Art150 – ein eher philanthropischer Gestus also, dem noch am ehesten das frühe Mäzenatentum in Kunst und Kultur entsprach. Das Aufstreben der Arbeiterbewegung hat die patriarchalische Fürsorge der Unternehmerschaft als interessendienlich decouvriert und desavouiert, aber es verblieben Reservate dieser Mentalität in der Kleinstadt, auf dem Lande und in einigen Großunternehmen auch nach der Krise der 1870er Jahre. Noch viel mehr aber als in Handelskammern, Geselligkeits- und Gewerbevereinen spiegelten sich im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Groß­ industrie die Assoziationsbestrebungen der Unternehmer auf ihrem ureigensten Feld, dem der Unternehmensform. Hier bahnte sich die Erkenntnis, dass künftige Großunternehmen kaum noch von Einzelunternehmern selbst unter Familienhilfe würden betrieben werden können, in einer geradezu euphorisierten Hochschätzung des Aktienwesens als der geschichtsmächtigen Kraft dieser Zeit Raum. Immer wieder beschwor man den »modernen Associationsgeist, wie er sich vorzugsweise in der Form des Actienwesens zeigt«;151 je weiter die Industrie 149 Vgl. Tenfelde, Sozialgeschichte, S. 353 f. 150 Vgl. bes. die Einleitung von Jürgen Reulecke zum ND der Mittheilungen des Centralvereins, Bd. 1; Schneider, Heinz Richard, Bürgerliche Vereinsbestrebungen für das »Wohl der arbeitenden Klassen« in der preußischen Rheinprovinz im 19.  Jahrhundert, phil. Diss. Bonn 1967, S. 49 ff. 151 Der Berggeist, Jg. 2, 1857, S. 320; vgl. S. 266: »Den außerordentlichen Aufschwung im gewerblichen Leben verdanken wir dem Vereinigungsgeist, dem Geist unserer Zeit und hoffentlich noch mehr der Zukunft«; der Verf. wies allerdings auf den »ungleichen Werth« der Assoziationen hin. S. auch ebd., Jg. 4, 1859, S. 501.

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fortschreite, »desto inniger [werde] die Association der geistigen wie der materiellen Production«;152 »massenhafte Capitalien«153 und »kolossale Vereine« bringe die »moderne Geld-Association« zusammen.154 Ja, wenigstens im Rheinland plante man Ende der 1850er Jahre unbeschadet möglicher Konkurrenzverhältnisse einen »Central-Verein« aller bestehenden Aktien­gesellschaften.155 Im Denken dieser Zeit und ihrer Unternehmer war die Aktiengesellschaft sehr viel mehr als die bequemste Rechtsform der Kapitalbeschaffung; schon Mevissen hatte ihre gruppenbildende, ethische und konservative Qualität hervorgehoben.156 So überrascht nicht, dass nicht nur Unternehmen von einer bestimmten Größe an, sondern die vielfältigsten Vorhaben überhaupt bis hin zu ländlichen Pferdezuchtvereinen oder Geselligkeitsvereinen der Oberschicht,157 bis hin zu so utopischen wie zeitgenössisch verbreiteten Plänen wie jenen zur »inneren Kolonisation«,158 auf Aktienbasis in Angriff genommen werden konnten. Von der Aktiengesellschaft zur Interessenvereinigung der Aktienbesitzer oder gar der Aktiengesellschaften als solchen schien manchen Zeitgenossen nur ein kurzer Weg;159 schier ein »internationaler Assoziationsgeist«160 durchwehte die Unternehmerschaft, die sich interessenpolitisch vorläufig noch um die Fahnen des Freihandels versammelte. Der 1858 gegründete Kongress deutscher Volkswirte widmete sich vorwiegend der Gewerbegesetzgebung und der Handels- bzw. Zollpolitik und entfaltete sein organisatorisches Gerüst von oben nach unten, d. h., die Gründung von Regionalvereinigungen erfolgte nach dem und auf Anregung des Zentralkongresses.161 Überhaupt begegnet hier in der Kongressbewegung eine Organisationsform zwischen Verein und Versammlung,162 die Möglichkeiten und Varianten der Zeit treffend charakterisiert. Wie das Vorortsystem, sollte die Kongressbewegung nicht nur aus den 152 Ebd., Jg. 2, 1857, S. 73, vgl. S. 1. 153 Rhein- und Ruhrzeitung Nr. 87/13.4.1859. 154 Der Berggeist, Jg. 1, 1856, S. 78. 155 Vgl. ebd., Jg. 3, 1858, S. 540, Versammlungsbericht. Zur sonstigen Publizistik der Aktien­ gesellschaften s. etwa Deutsche Vierteljahrsschrift, 1856/IV, S. 1–86 sowie (von A. Schäffle) S. 259–325. 156 Vgl. Hansen, Joseph, Gustav von Mevissen. Ein rhein. Lebensbild 1815–1899, Bd. 1, Berlin 1906, S. 619. 157 Klatte, S. 104; sowie Wittlings, Heinz, Hundert Jahre »Erholung«, in: Die Heimat. Zs. f. niederrhein. Kultur- u. Heimatpflege, Jg. 45, 1974, S. 105 f. 158 Vgl. etwa Lette, W. A., Über innere Colonisation, in: Mittheilungen des Centralvereins, ND Bd. 1, S. 588–607, 607: Wie die Aktiengesellschaft Großes für die Industrie geleistet habe, »so gelte es, dieselbe auch für große sittliche und volkswirthschaftliche Zwecke« zu ­nutzen. 159 Vgl. etwa Der Berggeist, Jg. 2, 1857, S. 326 sowie Jg. 4, 1859, S. 501. 160 Kroker, Evelyn, Die Weltausstellungen im 19. Jh., Göttingen 1975, S. 184–190. 161 Vgl. Hentschel, Freihändler, S. 27ff; zu den Regionalverbänden (noch in Unkenntnis der Arbeit von Hentschel) Haller, Wolfram M., Regional and National Free-Trade Associations in Germany, 1859–79, in: European Studies Review, Jg. 6, 1976, S. 275–296. 162 Vgl. bereits Brater, S. 757 f.: »Man hat angefangen, solche Versammlungs-Ausschüsse selbst als Vereine zu behandeln […]«.

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vereinsrechtlichen Bedingungen (Verbindungsverbot für politische Vereine), sondern auch und vor allem aus den kommunikativen Rahmenbedingungen der Zeit, aus den Möglichkeiten und Kosten eines im Ausbau befindlichen Verkehrssystems und den intellektuellen Problemen der Überwindung auch großer Entfernungen verstanden werden. Es sollte sich noch erweisen, dass die Aktiengesellschaft keineswegs in allen Fällen die angemessenste Unternehmensform war, dass man älterer wie der bergrechtlichen »Gewerkschaften« durchaus noch bedurfte und neue wie die »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« andere Möglichkeiten eröffnen würden. Auch war die allgemeine Interessendifferenzierung im Unternehmerlager zwischen Revolution und Reichsgründung nicht überall so weit gediehen wie in der Schwerindustrie, wo man schon Ende der 1850er Jahre über einen »Verein für die bergbaulichen Interessen« verfügte, wo man seit den 1860er Jahren jährliche Kohlentage veranstaltete und endlich nach der Reichsgründung sowohl Branchen- und Regionalverbände als auch den gewichtigen Centralverband Deutscher Industrieller ins Leben rief.163 Nicht zufällig war der Bergbau wegen seiner besonderen Interessen an einer liberalen Wirtschaftspolitik Vorreiter. Andere Verbindungen für bestimmte Aufgaben – man denke nur an die frühen Kartelle – schuf die Unternehmerschaft ebenso, wie sie ihr, wie die Berufsgenossenschaften, aufgezwungen werden konnten; die Absonderung der Arbeitgeberinteressen datierte jedoch zumeist erst in den frühen 1890er Jahren oder später. Während sich daher in der Unternehmerschaft bis zum Beginn der 1870er Jahre eine verbands- und interessenpolitische Führerschaft der Schwerindustrie herausschälte, erwiesen sich die parteipolitischen Bindungen an den Liberalismus einstweilen noch als stark. Anders in der Handwerker- und Arbeiterschaft, in der die 1860er Jahre bis zur Reichsgründung jene sich vornehmlich als sozialer Schichtungsprozess vollziehende »Trennung«164 – oder, nach einer neueren Akzentuierung, »Entmischung«165  – der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie brachten. Zu Beginn der 1860er Jahre trugen die allermeisten Arbeitervereine, ob im konfessionellen Lager oder unter der Obhut des Liberalismus oder bereits auf weitgehend eigenständiger Grundlage, noch den Charakter polyfunktionaler Organisationen: Die Vereinszwecke variierten vielfach die Aufgabe der »sittlichen Veredelung« durch Vortrag und Lektüre und »freundschaftlich-geselligen Verkehr« und weiteten sie zunehmend auf materielle Belange aus, so dass die Formel von der »Förderung der geistigen und 163 Vgl. Kroker, Evelyn, Industrialisierung und bergbauliche Verbandspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jhs., in: Der Anschnitt, Jg. 25, 1977, S. 110–120; Überblick: Schulz, Gerhard, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung, ND in: ders., Das Zeitalter der Gesellschaft, München 1969, S. 222–251, 234–240. 164 Mayer, Gustav, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland, 1863–1870, 1912, ND, in: ders., Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt 1969, S. 108–194. 165 Krug, Peter, Gewerkschaften und Arbeiterbildung, Köln 1980, S. 103.

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materiellen Interessen« der Mitglieder Verbreitung fand.166 Je größer und traditionsreicher der Verein, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass eigene Abteilungen für die Pflege des Gesangs und des Theaters und eine Bibliothek sowie eine Unterstützungskasse angegliedert wurden. Die Herausdifferenzierung gewerkschaftlicher und politischer Ziele vollzog sich auf mehreren Ebenen: zuerst und vorwegnehmend167 bekanntermaßen in der Gründung des ADAV, im liberalen Vereinstag der deutschen Arbeitervereine (VDAV) in einem langwierigeren, auf dem Nürnberger Vereinstag 1868 zum Abschluss gebrachten Prozess,168 hin zur Konstitution eigenständiger Gewerkschaften schließlich mithilfe von vielfach gepflegten innergewerblichen Traditionen von Organisation und unter dem Eindruck des zeitweise beherrschenden Kampfs um das Koalitionsrecht.169 Autonomie und parteipolitische Neutralität der Gewerkschaften, wie sie besonders früh bei den Buchdruckern begegnen, konstituierten sich daher auf zwei Ebenen gleichzeitig: zum einen im Sinne einer »Vergewerkschaftlichung von Arbeiterbildungsvereinen«,170 zum anderen im engeren gewerblichen Zusammenhang, jedenfalls aber unter dem Eindruck erster größerer Arbeitskämpfe und Koalitionsrechtsbewegungen. Insgesamt vollzogen sich daher in der Arbeiterschaft und in ihren Organisationen während der 1860er Jahre gleich mehrere Differenzierungsprozesse, in deren Folge sich die Arbeiterbewegung vom bürgerlichen Protektorat löste und arbeitsteilige Kampfformationen entfaltete, die sich zweckgemäß organisierten und zentralisierten. Dabei schränkten sich die organisationsformalen Alter­nativen immer mehr zugunsten des gewerkschaftlichen Zentralverbands (mit ersten Ansätzen eines Dachverbands und industrieverbandlichen Zusammenschlusses) auf der einen, der repräsentativdemokratischen Parteistruktur anstelle des lassalleanischen Präsidialzentralismus oder der liberalbürger­lichen Kongressbewegung auf der anderen Seite ein, während konfessionspolitische (christlich-soziale Bewegung) und sozialliberale (Hirsch-Dunckersche Gewerk­ vereine) Konkurrenzorganisationen an Boden verloren. Zugleich entfaltete sich ein satzungsgemäß formalisierter, durch Schriftlichkeit und Publizität geleiteter, regelhafter Prozess innerverbandlicher bzw. innerparteilicher Willensbildung. 166 Zitate: Statutenauszüge bei Offermann, S. 550–553. 167 Vgl. Schieder, Wolfgang, Das Scheitern des bürgerlichen Radikalismus und die sozialis­ tische Parteibildung in Dtld., in: Hans Mommsen (Hg.), Sozialdemokratie zw. Klassen­ bewegung und Volkspartei, Frankfurt 1974, S. 17–34. 168 Vgl. Na’aman, Shlomo, Von der Arbeiterbewegung zur Arbeiterpartei, Berlin 1976, S. 96– 106, der allerdings in der Einleitung die Trennungshypothese zurückweist; als Reprint: Dowe, Dieter (Hg.), Berichte über die Verhandlungen der Vereinstage dt. Arbeitervereine 1863 bis 1869, Berlin 1980. 169 Zentral hierzu die Studien von Engelhardt (Anm. 1, 36 u. 68); für die 1870er Jahre: Albrecht, Willy, Fachverein – Berufsgewerkschaft – Zentralverband. Or­ganisationsprobleme der dt. Gewerkschaften 1870–1890, Bonn 1982. 170 Engelhardt, Gewerkschaftl. Organisationsverhalten, S. 389; vgl. die Reso­lution Vahlteichs in Nürnberg 1868, in: Dowe (Hg.), S. 169.

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Der Notwendigkeit zur Zentralisierung konnte sich keine Gruppierung entziehen; wie sonstige handwerkliche und kaufmännische Arbeitnehmer, die der Arbeiterbewegung vorläufig fernblieben,171 fand auch die auf dem Nürnberger Vereinstag 1868 abgespaltene Minderheit der stark kleinbürgerlichen Arbeiterbildungsvereine nach der Reichsgründung zu regionalen Verbandsgruppen,172 die sich mehr und mehr den Aufgaben einer breiten Volksbildung zuwandten. Im Prinzip ähnliche Grundtendenzen zeigt die Entwicklung der landwirtschaftlichen Vereinsorganisationen nach der Jahrhundertmitte.173 Von den immer breiter gestreuten, vorwiegend an rationeller Betriebsführung in Ackerbau und Viehzucht engagierten und längst auch hierarchisch von der Lokal- über die Kreis- zur Provinzialebene organisierten, in Preußen schon seit 1842 im Landesökonomie-Kollegium zusammengefassten und mit der Ministerial­ bürokratie verflochtenen Bauernvereinen sonderten sich erste lose, agrarpolitisch orientierte Bestrebungen in der Kongressbewegung der Versammlungen deutscher Landwirte seit 1837, zu der sich 1861 nach englischem Vorbild eine Deutsche Ackerbau-Gesellschaft gesellte. Seit 1866 datierten in dieser »dritten Stufe« der landwirtschaftlichen Vereinsgeschichte174 weitere Zentralisierungsbemühungen, die 1868 in der konstituierenden Versammlung des Kongresses Norddeutscher Landwirte mündeten, um zu erreichen, »was vor uns die Industrie und der Handel erreicht haben«.175 In der Folgezeit verbanden sich mit den Bestrebungen des Kongresses sowohl erste Ansätze der Gründung einer eigenen Grundbesitzerpartei als auch Initiativen mit dem Ziel einer gesamtdeutschen, staatlich anerkannten Interessenvertretung der Landwirte, so dass 1872 ein gleichermaßen von den landwirtschaftlichen Vereinen und dem Kongress befürworteter Deutscher Landwirtschaftsrat an die Öffentlichkeit trat. Die Bestrebungen um Etablierung einer effizienten agrarpolitischen Interessenvertretung erschöpften sich darin nicht, noch waren sie bereits zum Abschluss gekommen, aber man hatte auf dem fernerhin durch Auseinandersetzungen über die Freihandelsfrage gezeichneten Weg die Ebene der Zentralisierung erklommen. Neben den Bemühungen um interessenpolitische Organisation blieb in der Landwirtschaft der traditionell in den landwirtschaftlich-akademischen und Bauernvereinen gepflegte Gedanke einer korporativ-ständischen Berufsvertretung virulent und schlug sich 1894 gleichsam als vierte Stufe in der Einrichtung von Landwirtschaftskammern in Preußen mit bestimmten Mitsprache- und Selbstverwaltungsrechten nieder. Zu diesem Zeitpunkt war von der Unternehmerschaft längst vorexerziert worden, dass es neben der Kammervertretung 171 Vgl. z. B. Schuon, Hermann, Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband zu Hamburg, Jena 1914, S. 2–4. 172 Hierzu Birker, S. 85. 173 Im Folgenden nach Croner, Johannes, Geschichte der Agrarischen Bewegung in Dtld., Berlin 1909, S. 23–33; Überblick: Puhle, Hans-Jürgen, Agrar. Interessenpolitik und preuß. Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914), Bonn-Bad Godesberg 19752, S. 23–27. 174 Haushofer, S. 10 f. 175 Zit. n. Croner, S. 25.

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einer in ihren Aktionsmöglichkeiten freieren Interessenorganisation nach dem Vereinsprinzip bedurfte. Während nun in der Landwirtschaft die traditionell engen Beziehungen zu Bürokratie und Staatsführung die Entstehung »staatlich privilegierter Selbstverwaltungskörperschaften«176 erleichterten, fehlten in den meisten freien Berufen solche Traditionen, so dass es beispielsweise die Ärzteschaft zu ihren vornehmsten Zielen erklärte, sich zugleich von staatlicher Reglementierung zu befreien, Selbstverantwortung durch geeignete Organisatio­ nen zu übernehmen und dadurch in der Gesellschaft zu hohem Ansehen zu ge­langen: »Helft Euch selbst! Ehrt Euch selbst!«177 Seit Anfang der 1860er Jahre waren die wieder aufgelebten regionalen Ärzte­ organisationen darin in den Bundesstaaten verschiedentlich auf offizielles Entgegenkommen gestoßen. So wurden parallel mit dem allgemeinen neuer­lichen Aufschwung des ärztlichen Vereinswesens seit 1864/65 zunächst in Baden, Sachsen und Braunschweig Ärztekammern errichtet, in denen den Ärzten gewählte Vertretungen öffentlich-rechtlichen Charakters mit Möglichkeiten der Einflussnahme auf die staatliche Gesundheitspolitik eingeräumt wurden. Das immer auch lokalen geselligen Zwecken dienende Vereinswesen der Ärzte verband sich unter tatkräftiger Förderung durch den Dresdener Arzt H. E. Richter, den Redakteur des »Vereinsblattes« seit 1872, 1873 zum Deutschen Ärztevereinsbund, dessen Satzungen178 als Zweck des Dachverbands die Vereinigung der »zerstreuten ärztlichen Vereine Deutschlands zu gegenseitiger Anregung und gemeinsamer Bethätigung auf dem Gebiete der wissenschaftlichen und praktischen, auch socialen Beziehungen des ärztlichen Standes« festlegten. »Künstlerische Freiheit« und das Bedürfnis, »unsre Wissenschaft und Kunst selbst zu vertreten«, auch »aufzupassen, daß die Beamten aller Art […] in sanitätlicher und ärztlicher Hinsicht ihre Schuldigkeit thun«, paarten sich mit dem Streben nach »Standesehre«, um dadurch »die Achtung des Publikums und der Behörden [zu] erwerben«.179 Auch visierte man als interessenpolitisches Ziel einen adäquaten Adressaten, ein Reichsgesundheitsministerium, an.180 Die Dach­ verbandsgründung befruchtete ihrerseits das lokale und regionale Vereins­leben, begünstigte Parallelgründungen wissenschaftlicher Verbände für einzelne medizinische Subdisziplinen und vereinte sich mit verwandten Bestrebungen wie jenen des ebenfalls 1873 gegründeten Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege. In 176 Puhle, Interessenpolitik, S. 25. 177 Aerztliches Vereinsblatt für Deutschland. Centralorgan für die aus wirklichen approbirten Aerzten bestehenden Aerzte-Vereine des deutschen Reichs, Nr. 2/1872, S. 16; zum Folgenden s. den Überblick bei Huerkamp, Claudia, Ärzte und Professionalisierung in Dtld. Überlegungen zum Wandel des Arztberufs im 19. Jh., in: GG, Jg. 6, 1980, S. 349–382, bes. 366ff; s. auch Plaut, S. 24–29; Graf, S. 18 f. 178 In: Aerztl. Vereinsblatt Nr. 17/1873, Zitat S. 129. 179 Die Aufgabe der Aerztevereine und ihres Gesamtverbandes, in: Aerztl. Vereinsblatt Nr. 2/ 1872, Zitate S. 9, 10, 14 u. 16; vgl. auch Richter, H. E., Geschichte und Literatur der Aerztevereine, ebd. Nr. 9 u. 10/1873, S. 65 ff. 180 Aerztl. Vereinsblatt Nr. 2/1872, S. 13.

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den Ärztevereinstagen schuf sich der Stand während der folgenden Jahre ein wirksames Instrument der Einflussnahme auf Regierungen und Öffentlichkeit. Nicht in allen mittelständischen Berufen der akademischen oder zunehmend akademisierten Laufbahnen war das Interesse der Öffentlichkeit und öffent­lichen Hand an der Herstellung geordneter Verhältnisse in Qualifikation, Selbstorganisation und Kompetenz gleichermaßen stark wie beim Arztberuf. Insoweit noch am ehesten lassen sich ihm die Rechtsanwälte zur Seite stellen, die – wie jene gegen die Kurpfuscherei – gegen Winkeladvokaten und sonstwie Rechtsbeflissene zu kämpfen hatten und die, nach mehreren Vorstößen Deutscher Juristentage in den 1860er Jahren, im Jahre 1878 eine reichs­gesetzliche Regelung ihrer Verhältnisse und die Bildung von Anwaltskammern erlangten, denen, wiederum ähnlich den Ärzten, eine juristische Gutachtertätigkeit und Ehrengerichtsbarkeit oblag. Wenn die Kammerfähigkeit von der gewerbesteuerpflichtigen Industrie, einigen freien Berufen sowie schließlich der Landwirtschaft und dem Handwerk erlangt wurde, so sahen sich die meisten anderen mittelständischen Berufe allein oder ganz überwiegend auf den interessenpolitisch agitierenden Verband angewiesen, wie das etwa für die Techniker und Ingenieure galt, die sich ebenfalls seit der Jahrhundertmitte zunehmend organisierten. Andererseits blieben beispielsweise den Lehrern trotz entsprechender Bestrebungen kammerartige Vertretungsorgane versagt, weil das öffent­liche Interesse am Bildungssystem frühzeitig beamtete Positionen nahelegte. Die ungeheure Zahl der zum Teil  längst entstandenen akademischen und nichtakademischen mittelständischen Verbände mit vornehmlich der Verbreitung von Wissen gewidmeten oder sonstigen eher innengerichteten Zwecken sah sich meist gar nicht in der Position einer Abwägung öffentlicher Interessen. Dies galt selbstverständlich auch für das Heer der lokalen Freizeit- und Geselligkeits­vereine, wo man sich längst nach Lied-, Musik- oder Kunstgattungen, nach je sonstwie bevorzugten Formen der Freizeitgestaltung wie Lektüre oder Tanz, Billard oder Rauchen, Kegeln oder Turnen und was immer sonst differenziert hatte und nach Schichtzugehörigkeit und oft auch Konfession zunehmend zu differenzieren begann, auch in manchen Bereichen Regionalität und nationale Organisation erreichte.181 Besonders Turn- oder Gesang- und Musikvereine drängte es nach regionalem Wettstreit, aber über kurz oder lang verschaffte sich jede Sparte, jede Mode, 181 Vgl. etwa Staudinger, Hans, Individuum und Gemeinschaft, S.  83 f., 91, 96, 99, 106 f. u. ö.; Kötzschke, Richard, Geschichte des dt. Männergesangs, hauptsächlich des Vereins­ wesens, Dresden 1927; über frühe Arbeitergesangvereine seit den 1850er Jahren: Dowe, Dieter, Die Arbeitersängerbewegung in Dtld. vor dem Ersten Welt­k rieg  – eine Kulturbewegung im Vorfeld der Sozialdemokratie, in: Gerhard A. Rit­ter (Hg.), Arbeiterkultur, Königstein 1979, S. 122–144, 127 f. Konfessionelle Diffe­renzierung wurde durch den Kulturkampf stark beschleunigt, war aber schon frü­her die Regel; vgl. etwa Rhein- und Ruhrzeitung Nr. 153/3.7.67 über Regionalver­sammlungen kath. Vereine; Märkischer Sprecher Nr. 71/3.9.53 über Protestanten in Kolpingvereinen. Im jüdischen Vereinswesen entstand 1872 eine Zentralorgani­sation, der »Deutsch-Israelitische Gemeindebund«.

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jeder Drang seinen eigenen Dachverband nebst Statuten und Verbandsorgan, »ja, die Lust an korporativer Selbstverwaltung aller möglichen Angelegenheiten überstürzte sich bis zum Unsinn, und mancher sonst arbeitsame Bürgersmann ist dazumal vor lauter Korporation, ständischem self-government und Vereinswesen ein Lump geworden«.182 Man wird dennoch für die 1850er und auch noch 1860er Jahre die vorpolitischen und politischen Funktionen gerade der stadtbürgerlichen Geselligkeitsvereine nicht unterschätzen dürfen. Besonders die Kommunalpolitik ruhte vorläufig auf diesem Netz mehr oder weniger forma­lisierter Vereinsbeziehungen auf und gewann vielfach Konturen vor ihrem Eintritt in die Gremien;183 noch heute hegt und pflegt der klein- und mittelstädtische Kommunalpolitiker seine Vereinsbeziehungen.184 In der (kommunal-) politischen Willensbildung wird man überdies für die Frühzeit, wie auch das Vereinsrecht erzwang, eine Vielfalt von Organisationsgebilden zwischen bloßer Honoratiorenversammlung, in Wahlzeiten gelegentlich schon als Wahlverein konstituiert, und der politischen Parteifiliale als Wahlverein in Permanenz mit zunehmendem organisatorischen »Überbau« unterstellen müssen, ohne dass im Zuge der parteiorganisatorischen Zentralisierung, die ja gerade im Bürgertum auch nach Einführung des allgemeinen direkten Wahlrechts nur sehr zögernd voranschritt,185 auf kommunaler Ebene informelle Formen des Interessen­ausgleichs unter Hilfestellung durch das Vereinsnetz an Bedeutung verloren hätten. So erlaubte der Verein dem Stadtbürgertum durch die Allgemeinheit der Organisationsform bei potenzieller Vielfalt der Zwecke den »Eintritt in den politischen Prozeß, die Parteibildung«, zuerst und vorrangig in der Kommunalpolitik, was den Verein schlechthin »zur Form politischer Organisation überhaupt« gemacht hat.186 Indessen lag in dem, das die politische Stärke des Bürgertums in den Städten ausmachte,187 zugleich eine Schwäche, auf die vor allem Karl Rohe aufmerksam gemacht hat: Die Gesellschaft des »klassischen« Liberalismus glich eher einem »Ensemble von nebeneinander existierenden Kleingesellschaften auf regionaler, ständischer und schichtmäßiger Grundlage«, und zu ihren Grundvoraussetzungen gehörte »in jedem Fall, daß eine gewisse kritische Größe der politischen Gesellschaft nicht überschritten wird. 182 Riehl, W. H., Die bürgerliche Gesellschaft, zit. n. Staudinger, Individuum und Gemeinschaft, S. 90 f. 183 Dazu bes. Nipperdey, Thomas, Die Organisation der dt. Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961, S. 22–24; als Lokalstudie etwa Hofmann, Wolfgang, Die Bielefelder Stadtverordneten. Ein Beitrag zu bürgerlicher Selbstverwaltung und sozialem Wandel 1850 bis 1914, Lübeck 1964, S. 40–49. 184 S. Luckmann, Benita, Politik in einer dt. Kleinstadt, Stuttgart 1970, S. 171–184. 185 So Nipperdey, Organisation, S. 22 f. 186 Nipperdey, Verein, S. 202. 187 Vgl. bes. Sheehan, James J., Liberalism and the City in Nineteenth-Century Germany, in: Past and Present, Nr. 51, 1971, S. 116–137, sowie – neben den wichtigen Studien von H. Croon zur kommunalen Selbstverwaltung – zusammenfassend Cohen, Gary B., Liberal Associations and Central European Urban Society 1840–1890, in: The Maryland Historian, Jg. 12, 1981, S. 1–11.

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Liberalismus war und ist, mit anderen Worten, stets auch eine Frage der Größenordnung gewesen.«188 Die politische Vereinsbildung ruhte mithin im kommunalen Vereinsnetz insgesamt und ging davon aus;189 das gilt selbst für die von hoher Zentra­lität gekennzeichneten Organisationen der Arbeiterbewegung, für die einerseits die Initiative eines örtlichen Bildungsvereins, andererseits die Sezession einer Mehrheit von Arbeiterbildungsvereinen aus deren linksbürgerlich dominierter Kongressbewegung den Anfang setzte. Für die starke politische Einfärbung an sich anderen Zwecken dienender Vereinsgruppen wie der Sänger- und Turner»Bewegungen« waren dabei deren vormärzliche Traditionen sowie insgesamt die verfassungspolitischen Bedingungen verantwortlich. Dies wird, wie schon bei den Sängern, durch die quantitative Entwicklung der Turnvereine gespiegelt: Sie darbten in den 1850er Jahren dahin und traten erst 1859 in eine neue Welle von Vereinsgründungen,190 mussten jedoch Mitte der 1860er Jahre unter dem Eindruck der kriegerischen Ereignisse und der mit ihnen eingeleiteten Verschiebung des nationalen Denkens von links nach rechts ähnlich den Sängern und vielen protestantischen Vereinen191 erneut starke Einbußen hinnehmen – wie es scheint, fingen die nunmehr aufblühenden Landwehr- und Krieger­vereine einen großen Teil des Organisationspotenzials auf.192 Umgekehrt dürften konservativ orientierte Vereinsbildungen wie der »Treubund mit Gott für König und Vaterland« mit dem Einsetzen der Reaktion 1850 einen starken, in diesem Fall die Ausbreitung in Zweigvereinen veranlassenden Mitgliederzuwachs erfahren haben.193 188 Rohe, Karl, Politischer Liberalismus – ein Überhangphänomen in der modernen Gesellschaft? Eine theoretische Skizze, in: Lothar Albertin (Hg.), Politischer Liberalismus in der Bundesrepublik, Göttingen 1980, S. 288–298, 294. 189 Vgl. etwa für Bayern: Spielhofer, Hans, Zur Vorgeschichte der Bayerischen Zentrumspartei, in: Hist.-Polit. Blätter, Bd. 165, 1920, S. 346–358, 418–425, bes. 354 ff., sowie Chrobak, Werner, Politische Parteien, Verbände und Vereine in Regensburg 1869–1914, in: Verh. d. Histor. Vereins f. Oberpfalz und Regensburg, Bd. 119, 1979, S. 137–223 u. Bd. 120, 1980, S. ­211–384, bes. 1980, S. 226 ff. 190 Vgl. Eichel, Wolfgang u. a., Die Körperkultur in Deutschland von 1789 bis 1917, Berlin [DDR] 1965, S.  151–221, bes. 178f; zur ideolog. Entwicklung John, Hans-Georg, Politik und Turnen. Die Dt. Turnerschaft als nationale Bewegung im Kaiser­reich von 1871–1914, Ahrens­burg 1976. 191 Vgl. u. a. Wartmann, S. 67. 192 Über Vereine als Träger der nationalen Bewegung s. Zorn, Wolfgang, Sozialge­schichtliche Probleme der nationalen Bewegung in Deutschland, in: Theodor Schie­der (Hg.), Sozialstruktur und Organisation europäischer Nationalbewegungen, München 1971, S. 97–115, sowie bes. Schieder, Theodor u. Dann, Otto (Hg.), Nationale Bewegung und soziale Organisation, Bd. 1, München 1978, Einleitung S. XVI. 193 Fischer, Hubertus, Der »Treubund mit Gott für König und Vaterland«: Ein Bei­t rag zur Reaktion in Preußen, in: Jb. f. Gesch. Mittel- und Ostdeutschlands, Jg. 24, 1975, S. 60–172, bes. 80 ff; zur Reorganisation des Liberalismus in den frühen 1860er Jahren bes. Schieder, Theodor, Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863–1871, München 1936, S. 4–26; Winkler, Heinrich August, Preußischer Liberalismus und dt. Nationalstaat. Studien zur Ge­schichte d. Dt. Fortschrittspartei 1861–1866, Tübingen 1964, u. a. S. 13; im Allgemeinen ferner Nipperdey, Organisation, u. a. S. 196 ff.

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Anders als in der Arbeiterbewegung erging der Impuls zur Zentralisierung in den liberalen, konservativen und katholischen Parteiströmungen in der Regel von den Parlamentsfraktionen und hing deshalb, wie der Verfassungskonflikt in Preußen zeigt, eng mit der Entfaltung politischer Kontroversfragen zusammen; auch stärkte die Reichsgründung naturgemäß den Trend zu nationalen Parteiorganisationen ungemein. Die knappen Einzelskizzen erlauben, so fragmentarisch und groblinig sie angelegt werden mussten, einige zusammenfassende Bemerkungen über Grundzüge der strukturellen Differenzierung im Vereinswesen, über Grundzüge allerdings, die sich in hohem Maße ineinander verschränkten und die insofern die Wandlungsimpulse der Industriellen Revolution in sehr verschiedener Art spiegelten. Die Absonderung, Auffächerung und Verfestigung von Interessen, Vereinszwecken und Organisationsformen war dabei 1. in ganz entscheidendem Maße Konsequenz des sozialen Schichtungsprozesses, in dessen Folge sich die Gesellschaft zunehmend nach dem Kriterium der Klassenzugehörigkeit zu ordnen begann  – unbeschadet des Fortwirkens älterer Ordnungskriterien wie der teilweise gar wieder belebten Standeszu­ gehörigkeit oder des immer schon schichtbildenden Stadt-Land-Unterschieds. Klassenzugehörigkeit konnte in sehr konkreter Form, durch Sezessionen oder gezielte Parallelgründungen, die Vereinsgeschichte beeinflussen; in einem globalen Sinn determinierte sie darüber hinaus Interessen und materielle wie auch kulturelle Ziele der Besitzer von Produktionsmitteln auf der einen, der wachsenden lohnabhängigen Bevölkerung auf der anderen Seite. Auch die beeindruckende Vielfalt mittelständischer Vereinsorganisationen sah sich über kurz oder lang dem Sog der Klassenbildung ausgesetzt, was sich beispielsweise im Streben nach ständischer Geltung mittelbar äußern konnte. So bedeutete der Verein für Ober-, Mittel- und Unterschicht, für Unternehmer und Arbeiter, Akademiker und Kleinhändler gewöhnlich etwas sehr Verschiedenes, das sich entscheidend durch die Disposition der betreffenden Gruppe am Markt determinierte, aber durch politische Rahmenbedingungen und gewerblichorganisatorische oder auch kulturelle Traditionen überlagert werden konnte. Mit dem industriekapitalistischen Schichtungsprozess verband sich, zögernd zwar und vielfach gehemmt, jedoch erkennbar interessenbezogen, die Abklärung und Konstituierung unterschiedlicher und teils gegensätzlicher politischer Richtungen. 2. Die dieser Entwicklung zugrunde liegende Entbindung kollektiver Interessen vollzog sich und bestimmte die Vereinsgeschichte in zwei Stufen: Zunächst in einem globalen Sinn, als Entbindung gesellschaftlicher Interessen vom Staat überhaupt und insofern als Ausdruck neugewonnener individueller Selbstbewusstheit und des Willens zur Selbstbestimmung, zweitens aber, historisch nachgeordnet und eng mit der Industriellen Revolution verknüpft, als Sonderung sehr spezifischer berufs- und klassenbezogener und darin zunehmend konträrer Interessen voneinander. Die Spezialisierung der Vereins­zwecke aus der ursprünglich verbreiteten Polyfunktionalität der Organisationsgebilde ist 214 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

deutlichster Ausdruck dieses Prozesses, der freilich mindestens so sehr durch den Zwang zu rationellen und effizienten Strategien in einer zunehmend komplexen Gesellschaft angeleitet wurde. Nicht alle und anfänglich nicht einmal die überwiegenden Interessen, und entsprechenden Vereinszwecke, waren sozioökonomisch determiniert, aber die Markt- und Produktionsverhältnisse gewannen rasch an gesellschaftsordnender Kraft und setzten Rahmenbedingungen auch für Vereine und Vereinsgruppen mit vorwiegend innengerichteten Bedürfnissen. Mehr noch: Das Vereinswesen in bestimmter Gliederung war nicht nur Konsequenz sozialer Veränderungen durch den aufkommenden Industriekapitalismus, sondern auch und besonders dessen wesentlichste Organisationsform überhaupt im Sinne der Organisation von Unternehmen und Kapital-, Absatz- und Arbeitsmarktbeziehungen. 3. Indem dieser im Kern »produktive« Zweig des Vereinswesens sich nunmehr auch im Bewusstsein der Zeitgenossen mehr und mehr ausgliederte, aber auch infolge anderer Einflüsse, differenzierte sich der Verein nach der Jahrhundertmitte zunehmend auch der Organisationsform nach. Neben der Zweckvielfalt des Vereinswesens ist es dieser in mehreren Bereichen längst vorher eingeläutete Vorgang, der die definitorischen Probleme mit dem Verein begründet. Selbst so allgemeine Kriterien wie die Freiwilligkeit des Beitritts und die statutenmäßige Zweckgerichtetheit der Vereinigungsabsicht, wie sie hier zugrunde gelegt wurden, halten der historischen Wirklichkeit oftmals nicht stand: Die bürgerliche Ballotage ist zunehmend als Instrument zur Wahrung von Exklusivität genutzt worden, wie der Zutritt zu Vereinen mit Erwerbszwecken längst durch Armut und Reichtum determiniert war; über das Kammerprinzip gewann die öffentlich-rechtliche Zwangskörperschaft an Verbreitung; der Beitritt blieb durch Geschlecht, Alter, Konfession oder Bildung beschränkt, wie umgekehrt natürlich der Vereinszweck das Organisationspotential eingrenzte; die Statutenformulierung war oft genug eine vorwiegend vereinsrechtlich erzwungene Prozedur; Vereinszwecke erfüllten sich, wandelten sich und verschwanden. Dennoch lassen sich grob zwei Tendenzen in der organisatorischen Entfaltung der Vereine und Vereinsgruppen ausmachen: – Der Verein »privatisierte«, wo seine Absichten innengerichtet blieben, sich also auf die Erfüllung solcher Bedürfnisse konzentrierten und beschränkten, die öffentliche Angelegenheiten nicht oder nicht primär tangierten. Das Prinzip der autonomen Entscheidungskompetenz in Vereinsangelegenheiten erwies sich insoweit gerade der Organisation von Freizeit- und Geselligkeitsbedürfnissen als adäquat, und es hat in dieser Form auf lokaler Basis – unbeschadet vieler meist dem agonalen Gedanken verpflichteter überlokaler Zusammenschlüsse – bis heute seine Bedeutung erhalten. Freilich waren Politik und Geselligkeit in der frühen Vereinsgeschichte weit stärker verschwistert als heute, und der Lokalverein konnte, etwa in der Armenpflege und im Feuerlöschwesen, bald auch im Sanitätswesen, an öffentlichen Aufgaben partizipieren oder solche Aufgaben im öffentlichen Auftrag wahrnehmen, wobei die Vereinsaktivität oft genug am Anfang stand und sich das öffentliche 215 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Interesse erst später herauskristallisierte.194 Aber auch diese Vereinsgruppen konzentrierten sich auf lokale Aktivitäten, entfalteten hier ihr Vereinsleben und beschränkten sich darauf. – Der Verein zentralisierte und »politisierte«, wo seine Absichten, außen­ gerichtet, auf die Wahrnehmung von Interessen und Veränderung von Zuständen zielten, für die die Ordnungskompetenz bei überlokalen Instanzen lag oder die durch globalgesellschaftliche Kräfteverhältnisse, beispielsweise im Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Konflikt, bestimmt wurden. Der Sprachgebrauch in neuerer Zeit legt solchen Vereinen gewöhnlich, ohne dass sich mit der Unterscheidung präzise, etwa rechtliche Merkmale verbunden hätten, die Bezeichnung »Verband« bei und unterstellt damit Überregionalität, eine gewisse Tiefengliederung der Organisation unter Bürokratisierung des Apparats und interessenpolitische Strategien.195 Dass die Verlagerung von Ordnungskompetenzen, auf die solche Strategien zielten, das entstehende Organisationsgefüge ungemein beeinflusste, lässt sich nicht deutlicher als am Beispiel der Reichsgründung zeigen, die in wohl allen Vereinen und Vereinsgruppen mit öffentlichen Interessen deren Zentralisierung beschleunigte und zumeist zum Abschluss brachte.196 Es kennzeichnet zugleich die vereinsstimulierende Rolle einer Schicht nationaler Bildungsträger, wenn die Zen­ tralisierung andererseits, zumeist ausgehend von Kongressbewegungen, von oben nach unten durchgesetzt werden konnte. 4. Mit diesen Unterscheidungen nach Schichten, Interessen und Organisationsformen wird die vielgliedrige Entfaltung des Vereinswesens nach der Jahrhundertmitte noch keineswegs zureichend erfasst; allerdings müssen Nebenlinien wie das konfessionelle Vereinswesen überhaupt darin unberücksichtigt bleiben.197 194 Zentral hierzu: Peters, Hans, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen. Ein Beitrag zur Lehre vom Verhältnis der Gemeinden zu Staat und Reich, Berlin 1926, S. ­84–87; vgl. die Hinweise unten Anm. 227 f. 195 Vgl. etwa Pohle, Ekhard, Die Interessenverbände der öffentlichen Hand, jur. Diss. Göttingen 1962, S. 3–5; Wallner, S. 160 f.; Wurzbacher, S. 113 f., sowie implizit die Unterschei­ dungen bei Schulz, S.  230–240; Teubner, Gunther, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung. Rechtsmodelle für politisch relevante Verbände, Tübingen 1978, S.  5, 122 ff. u. ö. 196 Vgl. etwa für die Gewerbevereine: Gimmler, S. 117–120 (Verband bayer. Gewerbevereine 1875), 149–166 (Verband deutscher Gewerbevereine 1891). 197 Ich neige dazu, auch das kirchliche Vereinswesen in interessengebundenen Zusammenhängen, also die theologisch wohlbegründete Mission und die nun unter Zuhilfenahme der Vereinsform verbesserte pfarrgemeindliche Seelsorge vor dem Hintergrund von Glaubenszweifeln und Entfremdungsgefahren als Folgen von Aufklärung und Industrialisierung zu begreifen. Vgl. über Wichern und andere den aufschlussreichen Beitrag von Krumwiede, Hans-Walter, Die Unionswirkung der freien evangelischen Vereine und Werke als soziales Phänomen des 19. Jhs., in: Karl Herbert (Hg.), Um evangelische Einheit. Beiträge zum Unionsproblem, Herborn 1967, S. 147–184, zur Abwehr-Aufgabe kirchl. Vereine etwa S. 156, 166 f., 169: »Es gilt die Rettung der bürgerlichen Welt« (Wichern).

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Hochbedeutsam erscheint ein anderer Vorgang, der die strukturelle Differenzierung wie nichts sonst ausdrückte und vollendete: die Verrechtlichung bestimmter Vereinsgruppen. Dieser Punkt verlangt gesonderte Berücksichtigung.

5. Recht und Staat. Funktionen Schon anlässlich der preußischen Gewerbeordnung von 1849 hat Lette, der Vorsitzende des Zentralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, in einer Denkschrift198 hervorgehoben, es sei ein Irrtum, wenn man meine, »daß mit der Aussicht auf die freiere Entwicklung des constitutionellen Staatswesens und die dadurch geförderte Kraft der freien Association eine weitere gesetzliche Organisation im Gewerbewesen überflüssig würde«. Lettes Blick war vor allem durch die mannigfachen Missstände seiner Zeit im Fabrik- und Gewerbewesen geschärft worden, und der gesetzgeberische Eingriff sollte demnach die Schattenseiten der liberalkapitalistischen Wirtschaftsweise aufhellen. Anders, positiv, hat Treitschke das Problem 1858 in seiner Leipziger Habilitationsschrift, ausgehend von den »Genossenschaften der Arbeiter« und den darüber bestehenden Gesetzen, gewendet: »Zeigen sich diese ungenügend, so ist es Pflicht der Gesetzgebung und der Rechtswissenschaft, das Privatrecht so weit fortzubilden, daß es den durch das wirtschaftliche Fortschreiten des Volkes neu entstandenen Bedürfnissen gerecht werde.«199 Eine der Vereinswirklichkeit und den verschiedensten Vereinsbedürfnissen adäquate Rechtslage durch Gesetzgebung und Verordnungswesen zu schaffen, dieses Erfordernis und dessen schrittweise Erfüllung dürfen zu den allerwichtigsten Gegenständen der Rechts- und Verfassungsgeschichte zwischen Revolution und Reichsgründung und darüber hinaus gerechnet werden.200 Vorrangig kreisten die Auseinandersetzungen dabei um das Problem der »Rechtsfähigkeit« der Vereine bzw. der »Verbandspersönlichkeit«, also um die Frage, ob dieser oder jener Verein als juristische Person Subjekt von Rechten und Pflichten 198 Mittheilungen des Centralvereins, ND Bd. 1, S. 545. 199 V. Treitschke, Heinrich, Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch, ND m. e. Vorw. v. Sven Papcke, Darmstadt 1980, S. 32. Vgl. Waldecker, Ludwig, Über den Begriff der Korporation des öffentlichen Rechts nach preußischem Recht, Berlin 1913, S. 21: »Gleichzeitig mit dem Zusammenschluß der Menschen zu einer Gemeinschaft treten neben und in der Gemeinschaft körperschaftliche Ge­bilde auf, ja die Gemeinschaft selbst stellt ein solches dar. Sobald diese sozialen Verbände eine von der Einzelwirtschaft getrennte Sonderwirtschaft hervorbrach­ten, ergab sich die Notwendigkeit der Bildung eines Sonder­ eigentums der Gesell­schaft, wenn auch die Rechtsformen, in denen diese sozialen Verbände auftreten, zunächst noch höchst mangelhaft sein können.« 200 Vgl. bes. Vormbaum, u. a. S. 90 ff.; im Allgemeinen s. die Schriftenreihe: Wissen­schaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jh., hg. v. Helmut Coing u. Walter Wilhelm, 5 Bde., Frankfurt 1974–1980.

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werden dürfe. Vor allem hierüber entfaltete sich, rechtssystematisch gesehen, aus der Einheit der alten Korporation die Verschiedenheit von öffentlichem und privatem Verein als Gegenstand je verschiedener Rechtssphären.201 In der öffentlichen Diskussion ist das Problem der Verbandspersönlichkeit der Vereine sehr klar auf die grundsätzliche Frage der Stellung des Vereins­ wesens in Staat und Gesellschaft bezogen worden; das Assoziationswesen habe, hieß es 1863,202 »die schwierigste Aufgabe noch vor sich«: »sich in eine organische Verbindung zu setzen mit den natürlichen und geschichtlichen, sozusagen uns angeborenen Gemeinsamkeits-Anstalten«, weshalb das »entscheidende Problem« laute, »wie der Staat sich den Zwecken der Association gegenüber benehmen« solle. Und hier waren gewichtige Hemmnisse zu überwinden, deren »Grund in der Besorgnis [lag], dem Staate könne die Macht der in der Form der Genossenschaft so eng verbundenen Einzel-Interessen gefährlich werden.«203 Wenn dies auch sicher auf dem Feld des politischen Vereinswesens weiterhin galt, so ist die zögernde Staatshaltung andererseits beispielsweise hinsichtlich der Erwerbsgesellschaften und deren Rechtsqualität bald abgebaut worden, und neuerliche Zweifel, so am Rechtscharakter der Aktiengesellschaften, rührten eher von »Auswüchsen« her, wie man sie während der Gründerjahre zu be­ obachten glaubte. Denn schon zu Beginn der 1860er Jahre war die Verrechtlichung des Vereinswesens über wegbereitende Entscheidungen, die sich zum Teil aus poli­tischen Erfordernissen ergeben hatten, weiter fortgeschritten, als dies der oben zitierte Zeuge wahrhaben wollte. Dabei muss man natürlich die grundsätz­lichen Probleme, die im Zeitalter der Reichsgründung der Gewinnung einheitlicher Rechtszustände über die bundesstaatlichen Grenzen hinweg – man denke nur an die früherhin üblichen, unterschiedlichsten Formen der »Privilegierung« von Gesellschaften mit Erwerbszwecken – im Wege standen, im Auge behalten. Eine abgehobene Rechtsverfassung erhielt die Aktiengesellschaft in Preußen unter dem Druck des Eisenbahnfiebers schon im Jahre 1843. Den »Koali­tionen« im industriellen Interessenkampf wurde in der preußischen Gewerbeordnung von 1845 gleichsam negativ eigener Rechtscharakter zugestanden, indem man sie, die geltende Vereinspraxis ergänzend, verbot. In den Korporationen der Kaufleute und den Handelskammern wurde der Unternehmerschaft, wie erwähnt, ein freilich begrenztes Recht auf Mitwirkung (im Zeitalter der staat­

201 Für die Entfaltung der Diskussion vgl. den ausschließlich der Frage der Rechtspersönlichkeit gewidmeten Vereins-Artikel von G. F. Puchta (s. Anm.  129); s. ferner im Überblick ­Baron, S. 68 ff., sowie über Gierke: Hardtwig, Genossenschaft. 202 Historisch-Politische Blätter, Bd. 51, 1863, S. 758 f. 203 Bähr, S. 29. Bähr ersetzt durchgängig den Vereins- durch den Genossenschaftsbegriff. Zur Haltung des Staats gegenüber den Aktiengesellschaften nach den Erfahrungen des Eisenbahnfiebers in den frühen 1840er Jahren s. zuletzt Hopt, Klaus, Ideelle und wirtschaftliche Grundlagen der Aktien-, Bank- und Börsenrechtsentwicklung im 19. Jh., in: Coing u. Wilhelm (Hg.), Bd. 5, 1980, S. 128–168, 148.

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lichen Gewerbeförderung) und Selbstverwaltung rechtlich konzediert, und um die Jahrhundertmitte wurde in Preußen die Übertragung des Kammerprinzips auf den (gewerbesteuerfreien) Bergbau erwogen.204 Auch das Versicherungsund insonderheit das Unterstützungskassenwesen blickte im Vormärz bereits auf jahrhundertealte, überaus unterschiedliche Rechtsformen zurück, so dass man hier – wie bei den Handelskammern und einigen Typen der Gesellschaften für Erwerbszwecke – davon ausgehen muss, dass der Prozess der Verrecht­ lichung längst in Gang gekommen war.205 Er erfuhr freilich nach der Revolution eine starke Beschleunigung und Ausbreitung, wie andererseits, wenn auch die Jahre der Reichsgründung einen Höhe­punkt brachten, auch seit den späten 1870er Jahren die Gesetzgebung in diesem Bereich weiter fortgeschritten ist. Für die öffentlichen Vereine hatte schon die Paulskirchenverfassung die Gesetzgebungskompetenz des zu schaffenden Reichs beansprucht;206 nachdem in der Reaktionsphase die Einzelstaaten überwiegend gleichlautende Vereinsrechte verkündet hatten, übergab die Reichsverfassung von 1871 die Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich an die Gesetzgebungsorgane des Reichs, die davon freilich, trotz gelegentlicher Vorstöße und gewisser Korrekturen wie der Aufhebung des Verbindungsverbots für politische Vereine im Jahre 1899, bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908 keinen Gebrauch machten. Der Grund für diese Zurückhaltung lag in der innenpolitischen Brisanz angesichts der aufstrebenden Arbeiterbewegung, aber auch beispielsweise in der verfassungsrechtlich ungeklärten Position der politischen Parteien überhaupt im Konstitutionalismus. Andererseits sind im allgemeinen Verständnis und, wie am Beispiel Bayerns gezeigt, z. T. auch rechtsformal bestimmte Bereiche schon um die Jahrhundertmitte aus dem Kreis der öffentlichen Angelegenheiten ausgegrenzt worden; dazu zählten in erster Linie die Erwerbsgesellschaften, aber auch bereits »religiös-kirchliche« Vereine, die jedenfalls nach den Kammerverhandlungen in Preußen 1849/50 unzweifelhaft »nicht ohne weiteres zu denjenigen Assoziationen rechnen [sollten], die eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten bezweckten«.207 Wiederum lässt sich am Genossenschaftswesen die Verrechtlichung des Vereinswesens zeitlich und sachlich besonders deutlich zeigen.208 Zunächst galten die Genossenschaften in Preußen nach dem Allgemeinen Landrecht als So­ cietäten bzw. Erwerbsgesellschaften; noch das Handelsgesetzbuch von 1861 traf keine genossenschaftsrechtliche Regelung. Eine solche wurde mit einem Antrag Schulze-Delitzsch‹ im preußischen Abgeordnetenhaus 1861 auf den Weg 204 Vgl. Tenfelde, Sozialgeschichte, S. 176 f., 212 f. 205 Vgl. auch Hardtwig, Genossenschaft. 206 Vgl. Baums, Theodor (Hg.), Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland (1848/49), Heidelberg 1982, S. 33 f. 207 Geffcken, S. 301; zum Vorstehenden s. auch Baron, S. 64 f. 208 Überblick: Schubert, Rolf, Hundert Jahre Genossenschaftsrecht, in: Freiheit und Ordnung, S. 114–131; s. ferner Müller, S. 87–93 u. ö.; Crüger, Grundriß, S. 17–22.

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gebracht und erlangte am 27. März 1867 Gesetzesform. Diese Regelung lag dem entsprechenden Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 4. Juli 1868 zugrunde, das seinerseits seit dem 1. Januar 1871 im Reich galt. Bis zu diesen ersten Gesetzen hatten sich als für die Genossenschaftsentwicklung hinderlich vor allem die Grundsätze der Solidarhaft jedes einzelnen Mitglieds gegenüber jedem Anspruch sowie die Ungeregeltheit des behördlichen Aufsichtsrechts erwiesen. Das neue Recht erkannte den Genossenschaften den Charakter von nichtgeschlossenen zweckfixierten Personengesellschaften und juristischen Personen zu; es regelte durch Vorstand, Aufsichtsrat und Generalversammlung die Kontroll- und Aufsichtsfunktionen und schrieb darin die binnenorganisatorische Struktur fest; schließlich sah es eine zwar unbeschränkte, aber nur subsidiäre Solidarhaft vor, so dass im Konkurs zunächst das genossenschaftliche Restvermögen haftete. In späteren Gesetzesnovellierungen standen dann wiederum das Problem der Solidarhaft, die Aufsichtsfrage und das Nichtmitgliedergeschäft im Vordergrund. Das Problem einer rechtlichen Ordnung des Genossenschaftswesens ist in den 1860er Jahren in den einzelnen Bundesstaaten auf ganz verschiedene Weise gelöst worden. In Sachsen bahnte sich über den Erlass der Gewerbeordnung von 1861 eine Regelung an, die, indem sie die Genossenschaften den »freien Vereinen« zuwies, alles offen ließ, jedoch zugleich detaillierte Bestimmungen über das Innungswesen und die Unterstützungskassen vorsah.209 Anders in Bayern,210 wo der erwähnte Antrag Schulze-Delitzsch‹ zu einem auf Gesamtregelung der privatrechtlichen Stellung von »Genossenschaften und Vereinen« gezielten Vorstoß in der Abgeordnetenkammer veranlasste. Dabei wurde von vornherein eine möglichst weitgehende Annäherung der einzelstaatlichen Regelungen angestrebt. Erst auf einen neuerlichen Vorstoß brachte die bayerische Staatsregierung 1868 den Entwurf eines Gesetzes über die »Privatrechtsverhältnisse der Genossenschaften« in der Kammer ein. Genossenschaften, das waren in der Terminologie dieses Entwurfs noch »Vereinigungen zu wirthschaftlichen, Wohlthätigkeits-, Bildungs-, religiösen und geselligen oder sonstigen erlaubten Zwecken, welche nicht auf einzelne bestimmte Mitglieder beschränkt sind, denen vielmehr unter den in den Satzungen bestimmten Voraussetzungen Jeder beitreten kann, und welche weder Actiengesellschaften, noch öffentliche Corporationen sind«. Scheint man so allgemein in Bayern wie in Sachsen, obwohl die preußische Gesetzgebung bereits sehr viel eindeutigere Regelungen vorsah,211 unter Genossenschaften noch im Wesentlichen alle sonstwie nichtgeregelten freien Vereine verstanden zu haben, so ist noch viel kennzeichnender 209 Ausführlich: Herzog zu Sachsen, Albert, Die Reform der sächsischen Gewerbegesetz­ gebung (1840–1861), phil. Diss. München 1970, S. 1065–1091. 210 Im Folgenden nach Hauser, Die neueste Bayerische Gesetzgebung über Vereine, Erwerbsund Wirthschaftsgenossenschaften sowie über Nicht-Handels-Actiengesellschaften, in: Zs. f. d. gesamte Handelsrecht, Jg. 14, 1870, S. 341–368. 211 Die preuß. Regelung eilte, worauf Hardtwig, Genossenschaft am Beispiel Gierkes verweist, selbst dem zeitgenössi­schen staatstheoretischen Denken voran.

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für das Denken der Zeit, dass man immer noch von einer überaus breiten und diffusen Vorstellung von »Assoziation« ausging und sich demnach ver­anlasst sah, eine Fülle von Ausgrenzungsbestimmungen über den Geltungsbereich vorzusehen. In dem bayerischen Entwurf von 1868 wurden an anderer Stelle weiterhin die altehrwürdigen »Bergbaugewerkschaften und Knappschaftsvereine«, darüber hinaus alle »auf besonderen Gesetzen oder Verordnungen beruhenden Pensions- und Unterstützungsvereine für Staats- und öffentliche Diener, Militärpersonen, Geistliche, Notare, Advokaten, und sonstige in ähnlichen Verhältnissen stehende Personen« ausgegrenzt. Zugleich mit diesem Entwurf brachte die Regierung übrigens einen im Wesentlichen am Handelsgesetzbuch orientierten Entwurf eines Gesetzes über die Aktiengesellschaften ein. In den Ausschussberatungen erkannte man das »legislatorische Problem, so grundverschiedene Vereinigungen gleichmäßig zu behandeln«,212 und empfahl eine Regelung des Genossenschaftswesens nach preußischem, nunmehr norddeutschem Vorbild, die Annahme des Gesetzes über die Aktiengesellschaften, aber Nichtannahme des Sammelentwurfs der Staatsregierung, statt dessen Vorlage eines Entwurfs über die »privatrechtliche Stellung von Vereinen«. Das hieraus entstandene, 1869 verkündete Gesetz definierte seinen Gegenstand negativ im Sinne von Nicht-Erwerbsgesellschaften, sah also von einem Verständnis der Aktiengesellschaften als Sonderart der Vereine endgültig ab. Letztere erfuhren vielmehr durch ein am selben Tage verabschiedetes Gesetz über die »privat­ rechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgesellschaften« Rechtsregelung. Beide Gesetze nahmen in Kernbestimmungen viele der inzwischen im Norddeutschen Bund gültigen Rechtsformen auf. Die bayerische Entwicklung zeigt gleichermaßen die Probleme einer reichsrechtlichen Vereinheitlichung überhaupt wie die Anstrengungen, angesichts der Vielfalt der Erscheinungen im Vereinswesen zunächst zu einheitlichen Kriterien zu gelangen, nach dem Scheitern dieser Bemühungen jedoch Einzelregelungen zu finden, die der inzwischen weit ausgefächerten Vereinswirklichkeit und den Bedürfnissen der einzelnen Vereinsgruppen entsprachen. Dabei verwiesen so umstrittene Komplexe wie die Haftungsfrage und die Rechts­qualität der juristischen Person auf zwei grundlegende regelungsbedürftige Bereiche: auf das Verhältnis der Vereinsmitglieder untereinander und auf das Verhältnis des Vereins als eines Ganzen, das mehr und anderes ist als die Summe seiner Mitglieder, zum Staat. Insgesamt spiegelte und definierte das Recht die historische Wirklichkeit, wie es andererseits durch seine definitorische Kraft deren Teilbereiche verselbständigte bzw. die Verselbständigung beschleunigte, so dass in nicht allzu ferner Zeit die gemeinsamen Wurzeln über die faktischen und rechtlichen Unterschiede aus dem Bewusstsein gedrängt werden würden. Diese Verselbständigung durch Verrechtlichung ließe sich zwischen Revolution und Reichsgründung an einer Reihe weiterer Bereiche zeigen. Hingewiesen sei auf (zeitweise auch wieder zurückgenommene) Fortschritte im Aktienrecht 212 Hauser, S. 344; vgl. auch Burkard, S. 59–61.

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und auf die überhaupt für die erwerbsgesellschaftlichen Rechtsformen fundamentalen Auseinandersetzungen in der Vorbereitung des Handelsgesetzbuches sowie später um die entsprechende Gesetzgebung des Norddeutschen Reichstags, wobei wiederum mit Konzessionspflicht, staatlichem Aufsichtsrecht und Rechtspersönlichkeit Grundfragen des Verhältnisses zum Staat zur Disposition standen.213 Eine ebenfalls im Handelsgesetzbuch vorgesehene allgemeine Regelung des Versicherungswesens scheiterte auch in der sozialpolitisch dringlichen Haftpflichtfrage,214 unter anderem an den allzu weit auseinanderklaffenden bestehenden Rechtsverhältnissen. Hieran und an der Uneinigkeit über die staatlichen Aufsichtskompetenzen lag es, wenn ein allgemeines Versicherungsrecht ausblieb, obwohl seit den 1860er Jahren sowohl im Deutschen Handelstag als auch im Kongress deutscher Volkswirte intensive Beratungen in dessen Vorbereitung stattfanden und obwohl schon die Norddeutsche Verfassung 1867 dem Reichstag die Gesetzgebungskompetenz in Versicherungssachen überwies, so dass seit 1869 in preußischen Ministerien Vorarbeiten in Richtung auf eine von Bismarck gewünschte reichsweite Regelung einsetzten.215 Wenn daher die Verrechtlichungsbestrebungen auch nicht in allen Bereichen erfolgreich waren, so lässt sich doch sagen, dass mit der Übernahme des Allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs 1871 als Reichsgesetz und der hierauf folgenden, ergänzenden Gesetzgebung die Rechtslage der wirtschaftlichen Vereine im Wesentlichen geklärt und ihre Ausgrenzung aus dem Assoziationswesen damit vollzogen worden ist.216 Anders bei den nichtwirtschaftlichen Vereinen, die im Begriff waren, sich zu einer noch größeren Vielfalt zu entwickeln. Aber auch hier wurden mittelbar und unmittelbar Prozesse der Verrechtlichung in Gang gesetzt. Ein Teil der Reformpotenz von Interessengruppen in Handel, Handwerk, Landwirtschaft, gewerblicher Wirtschaft und freien Berufen konnte, wie gezeigt, durch das Kammerprinzip kanalisiert werden, ohne dass damit die Entwicklung mächtiger, im Geltungsbereich des allgemeinen Vereinsrechts der frühen 1850er Jahre verbleibender Interessenverbände verhindert worden wäre. Auch für die Arbeiter wurden zeitweise, und nicht nur von sozialdemokratischer Seite, vornehmlich zur Regelung der Arbeitsmärkte paritätisch besetzte Arbeitskammern vor­ 213 Vgl. bes. Vormbaum, S. 92 ff.; im Überblick: Baums, Einleitung S. 41 f. 214 Das Reichshaftpflichtgesetz von 1871 regelte zwar die Unternehmerhaftung, nicht aber deren Versicherung, veranlasste jedoch weithin zur freiwilligen Versiche­r ung der Unternehmen gegen haftpflichtige Schäden. Vgl. de Longueville, Hans-Peter, Die Entwicklung der Haftpflichtversicherung in Deutschland, in: Friedrich-Wilhelm Henning (Hg.), Entwicklung und Aufgaben von Versicherungen und Ban­ken in der Industrialisierung, Berlin 1980, S. 29–62, 41 u. ö. 215 Vgl. Art.  Versicherungswesen, in: Staatslexikon d. Görres-Gesellschaft, Bd.  5, Freiburg i. Br. 19123/4, Sp.  811–844, bes. 821 f.; ferner Baron, S.  93 ff., für die Vielfalt im Versicherungswesen etwa Wasser, Bruno, Das schlesische, speziell das Breslauer Versicherungs­ wesen, in: Jb. d. Schles. Fr.-Wilhelms-Univ. zu Breslau, Jg. 3, 1958, S. 276–289. 216 So auch Vormbaum, S. 126 f.

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geschlagen; noch Wilhelms II. Februarerlasse 1890 sahen deren Einrichtung vor.217 Die endgültige Zusicherung eines an sich restriktiven Koalitionsrechts hat die Rechtsstellung der Gewerkschaften keineswegs gesichert, da deren Aktivitäten, soweit sie nicht von der Reichsgewerbeordnung gedeckt waren, weiterhin nach dem Vereinsrecht gewogen und oft genug für zu leicht befunden wurden. Ihre Stellung besserte sich indessen unter dem Eindruck von Entwicklungen mindestens im Denken führender Sozialreformer, die den Streik an der Wende zu den 1870er Jahren mehr und mehr als Instrument industriegesellschaftlichen Konfliktaustrags anerkannten218 und infolgedessen nach rechtlich sanktionierter Organisation der Konfliktkontrahenten strebten. Selbst Bismarck erwog jetzt unter dem Einfluss Wageners, dem schon 1856 »die soziale Frage als Organisationsfrage der gesamten Gesellschaft aufgegangen« war,219 den Erlass von allerdings korporativen Regelungen und ließ noch vor dem deutsch-französischen Krieg einen Gesetzentwurf ausarbeiten, der immerhin die Verleihung der Rechte juristischer Personen vorsah.220 – In anderer Weise, nämlich eher mittelbar, trug ferner die Sozialversicherungsgesetzgebung zur Verrechtlichung, besser: zur Aussonderung bestimmter Vereinszwecke und deren Monopolisierung durch den Staat bei, was einmal mehr das Vereinswesen durch Funktionsverlust beschnitt.221 Schon das Unterstützungskassengesetz von 1854 hatte nebenbei die überkommenen Selbsthilfekassen in ihrer Vielfalt beeinträchtigt und »vom Mitgliederbestand her potentiell ausgepowert«.222 Beim Erlass der Sozialversicherungsgesetze wurde dann von konservativer Seite gegen den neuen interventionistischen Gestus des Staates in der sozialen Frage eingewandt, es seien »die Kräfte der Vereins- und Genossenschaftsbildung wieder zu sammeln, die Keime der Selbstthätigkeit, der Selbstverwaltung wieder zu befruchten, die vorhanden sind«.223 Diese Form mittelbarer Verrechtlichung durch Monopolisierung des Vereinszwecks ist auch in anderen Bereichen typisch für den Funktionsverlust, den das Vereinswesen nach jener Phase der strukturellen Differenzierung und Spezialisierung erlitt, der das allgemeine Verständnis vom Verein letztlich auf den Freizeitverein reduzierte und darin bald mancherlei Spott aussetzte.224 Neben 217 Vgl. Art. Arbeitskammern, in: Carl Stegmann u. C. Hugo, Handbuch des Socialismus, 1897, ND Leipzig 1972, S. 36; mit der weiteren Literatur: Ritter, Gerhard A., Sozialversicherung in Deutschland und England, München 1983, S. 53. 218 Nachweise: Tenfelde u. Volkmann (Hg.), Einleitung, S. 11 f. 219 Saile, S. 49; zu Stein s. Pankoke, S. 199–201. 220 Vgl. Engelhardt, Nur vereinigt, Bd. 2, S. 1130; Saile, S. 102 f. 221 Vgl. am Bsp. der Münchner Arbeiterunterstützungskassen Tornow, S. 135. 222 Tennstedt, Florian, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Dtld. Vom 18. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 1981, S. 111, vgl. im Überblick ebd., S. 110–113, 165 ff.; s. ferner oben Anm. 65. 223 Stenograph. Berichte d. Dt. Reichstages f. 1881, Bd. 1, S. 681. 224 Vgl. etwa, aus zahlreichen Beispielen, Schwedhelm, Karl, Unter dem Tischbanner, in: Carl Amery (Hg.), Die Provinz, München 1964, S. 94–97; abgewogener: Hoyer, Fritz, Der Vereinsdeutsche – Karikatur oder Wirklichkeit?, in: DR, Jg. 90, 1964, S. 16–21, H. 1.

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den Zwecken, die der Staat bereits absorbiert habe, treibe, so formulierte schon Rudolf von Ihering,225 stets »das Lebensbedürfnis der Gesellschaft neue Zwecke hervor«, die dem Staat fremd seien »und die so lange ein von ihm abgesondertes selbständiges Dasein in Form der Vereine führen, bis sie den nötigen Reifegrad erlangt haben, um die Hülle, in der sie bisher existierten, zu sprengen und ihren ganzen Inhalt in diejenige Form zu ergießen, die alles in sich aufnehmen zu sollen scheint: den Staat«. Ihering bemühte als Beispiele den Unterricht und die Armenpflege; dem ließen sich, vornehmlich in der Zeit der Herausbildung großstädtischer Infrastrukturen und Leistungsverwaltungen, weitere Zweige des Unterrichtswesens, das Bibliotheks- und das Museumswesen zur Seite stellen.226 Wie hier, wurden vornehmlich die Kommunen zu Instanzen, die bestimmte Aufgaben von öffentlichem Interesse auch rechtsformal unter bestimmten Voraussetzungen an bestehende Vereine delegierten, so dass sich das Vereinswesen von dieser Seite her immer mehr mit dem Staat verflocht.227 Dass dies auch auf zentralstaatlicher Ebene erfolgte, zeigt das Beispiel der Dampfkesselüberwachungsvereine.228 So ging mit der Monopolisierung bestimmter Vereinszwecke und einem entsprechenden Funktionsverlust zugleich eine partielle Delegation hoheitlicher Aufgaben an das Vereinswesen einher, und auch solche Vereine, die an sich dem allgemeinen Vereinsrecht unterlagen, konnten auf diese Weise rechtlich fixierte Zwecke wahrnehmen, verrechtlichen. Trotz weitgehender Funktionsverluste, die beispielsweise in der Folge der zentral­staatlichen Sozialpolitik ganze Vereinssparten zum Verschwinden brach­ ten oder doch zum mindesten austrockneten, sind manchen Vereinen daher andererseits auch neue, oft hoheitliche Funktionen zugewachsen, ja, man könnte beispielsweise die frühzeitige, zögernde Übertragung solcher Funktionen auf die Kaufleute- und Handelskammern als den Versuch interpretieren, die Entstehung freier Unternehmervereinigungen zu behindern oder zu kanalisieren. So hat auch dieser Prozess bereits vor der Revolution eingesetzt, und er trug wiederum dazu bei, die Erinnerung an die gemeinsame Wurzel so zahlreicher organisatorischer Grundlagen der modernen industriekapitalistischen Gesellschaften zu verwischen. Mit diesem Ziel der Aufhellung ist im vorliegenden Beitrag, trotz mög­licher Einwände etwa hinsichtlich der Erwerbsgesellschaften, an der gemein­samen 225 Der Zweck im Recht, Leipzig 18842, Bd. 1, S. 306 f. 226 Vgl. etwa Bischoff u. Maldaner, S. 24; zur Armenpflege Sachße u. Tennstedt, S. 241 bis 244; zahlr. Bsple. bei Baron, S. 93 ff. 227 Vgl. etwa Hückinghaus, Erwin, Die Feuerwehr im preußischen öffentlichen Recht, jur. Diss. Berlin 1917, S.  11–17, 64 f.; Burkhardt, Johannes, Die Rechtsverhältnisse des Feuerlöschwesens in Preußen, jur. Diss. Rostock o. J. [1918], S. 2–4. 228 Sonnenberg, Gerhard Siegfried, Hundert Jahre Sicherheit. Beiträge zur technischen und administrativen Entwicklung des Dampfkesselwesens in Deutschland 1810 bis 1910, Düsseldorf 1968, S. 192–196; am Bsp. der Schweiz s. allgemein: Giger, Hans Georg, Die Mitwirkung privater Verbände bei der Durchführung öffentlicher Aufgaben, Diss. Bern 1951, S. 216 ff.

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Wurzel als Ausgangspunkt festgehalten worden, und mit demselben Ziel wurde auf einen neuerlichen Versuch der Vereinsdefinition und der Gruppierung der Vereine nach Trägern, Organisationsformen, Zwecken und was immer sonst verzichtet. Auf die Gefahr hin, dass unter »Verein« letztlich alle nichtstaat­ lichen Organisationen verstanden werden könnten, wurde vielmehr an einigen Grundzügen des Vereinsbegriffs wie Freiwilligkeit des Beitritts, Zweckhaftigkeit, Selbstorganisation und -finanzierung sowie Freiheit der Vereinsbildung festgehalten,229 um den Blick für das gesamte Spektrum zu erhalten und zugleich die nach der Jahrhundertmitte besonders starken, letztlich die Einheit der Idee zerstörenden Tendenzen struktureller Differenzierung durch Sonderung der Zwecke, Auffächerung der Organisationsformen, Verrechtlichung, Funktionsveränderung und manches andere zu erarbeiten. Es entspricht dem erwähnten Ziel dieses Beitrags, wenn wir uns abschließend im Überblick, von den jeweiligen Aufgaben und Zwecken einzelner Vereine und Vereinsgruppen in deren Wandel abstrahierend, einige jener Funktionen vergegenwärtigen, die das Vereinswesen darüber hinaus, in einem umfassenderen Sinn, in Staat und Gesellschaft wahrgenommen hat und zum Teil noch wahrnimmt. 1. Nur in der Gesamtschau konnte deutlich werden, wie sehr sich die Vereinsidee zwischen Revolution und Reichsgründung zu einem Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft auffächerte. Das hieß unter anderem, dass Herrschaftsbeziehungen und andere Formen sozialer Interaktion, soweit sie die gewohnten familiären, nachbarlichen und kirchengemeindlichen Bindungen und Beziehungen überschritten, mehr und mehr in Vereinen, zwischen Ver­einen und zwischen Staat und Vereinen organisiert wurden. Durch das Vereinswesen wurde, wie A. E. F. Schäffle bemerkte,230 »der Gesellschaftsorganismus zwar mit weniger sichtbaren, aber mit viel umfassenderen und vielfältigeren Fäden verknüpft«, als mittels korporativer Formen, »welche das ganze Individuum mit seinem ganzen Leben absorbierte[n], Stand gegen Stand, Korporation gegen Korporation stellte[n], ausschließend und bindend« waren. Wir übertreiben gewiss nicht, wenn wir im Verein das wesentlichste Instrument einer schrittweisen, oft gar schleichenden Reorganisation der Gesellschaft sehen, an der der Staat noch den geringeren Anteil hatte, zu der er vielmehr zu veranlassen war und in die sich die mit der Industrialisierung teils entstehenden, teils in neue kollektive Zuordnungen versetzten Schichten im Zeitablauf teils vorpreschend, teils nachfolgend einschalteten. 2. So waren Vereine, dies ist noch die bekannteste Interpretation, generell für alle Schichten und manchmal gar für Geschlechter, Altersgruppen und andere Kollektive die Orte und Instrumente zunehmender Emanzipation, De229 Vgl. etwa Sills, S. 363, der einen weiteren von einem engeren Vereinsbegriff un­terscheidet: »The broad definition is of great interest historically…«. 230 Das gesellschaftliche System der menschlichen Wirthschaft, Tübingen 18733, Bd. 2, S. 96 f.; Vgl. auch Hitze, Franz, Kapital und Arbeit und die Reorganisa­t ion der Gesellschaft, Paderborn 1880, S. 437 f.

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mokratisierung und Partizipation zunächst des Stadtbürgertums, zeitlich verzögert dann der Unterschichten und der ländlichen Bevölkerungen unter je verschieden akzentuierter Adaption des Vereinsprinzips. Schon sehr früh sind, ganz allgemein, die Vereine als »Demokratie im Gewerbswesen«231 oder als »gute Vorschule auch für Staatsbürger«232 apostrophiert worden. In der Tat ist die Fundamentaldemokratisierung, die sich im Verein, in der Öffentlichkeit des Vereins und der Vereine, auch durch den Verein in der Einübung geregelter Formen der Willensartikulation und des Konfliktausgleichs vollzog, kaum zu überschätzen. Was repräsentative Demokratie bedeutete, wurde im Verein zu allererst erlernt, ja, ältere und gerade in unteren Schichten hartnäckig fortdauernde Artikulations- und Vertretungsformen wurden hier formalisiert, einer Prozedur unterworfen. Öffentliches und geschlossenes Versammlungswesen, Generalversammlung, Mehrheitsbildung, Vertretung nach außen, Selbstfinanzierung und überpersonale, medienvermittelte Kommunikationsformen wurden wenn nicht im Verein geboren, so doch dort vor allem praktiziert. Dies gilt bis hin zu Lernprozessen über die angemessene Form der Willensartikulation von der Petition oder Beschwerde über resolutionsartige Willensäußerungen, Beratungs- oder Gutachtertätigkeit bis hin zur kollektiven Kampfaktion, vor der jedoch im Allgemeinen gerade bürgerliche Vereine zurückschrecken würden.233 Der Wille des Vereins, das war und ist mehr als die Summe des Willens seiner Mitglieder. Partizipation, Teilhabe an politischer Macht, vollzog sich dabei zuerst, in verschiedenster Gestalt, jedoch außerordentlich erfolgreich im kommunalen Rahmen; darüber hinaus blieb sie durch die verfassungsrechtlichen Bedingungen des Konstitutionalismus teilweise eingeschränkt. 3. Was an politischer Partizipation auch des Bürgertums, zu schweigen von den nachdrängenden proletarischen Schichten, fehlte, das wurde, wiederum mit dem Instrument des Vereins, an wirtschaftlicher Macht wettgemacht. Im Bereich der Wirtschaftsordnung war der Sieg des Vereinsprinzips so fundamental wie rasch vergessen. Dass erst der Vereinsgedanke in mehrfacher Form und mit tief greifenden unternehmensrechtlichen Wirkungen die großindustrielle Produktionsweise ermöglichte und darin die Industrialisierung von den kleinund mittelbetrieblichen Anfängen der Allein- und Pionierunternehmer fort­ entwickelte, auch mittelbar über die Jahrzehnte die Unternehmerfunktionen veränderte, war im Einzelnen so neu nicht, in seiner geballten Wirkung mit dem Take-off der 1850er Jahre jedoch von unglaublich systemverändernder Kraft. 231 Cochut, S. 7. 232 Volkszeitung (Berlin), Nr. 114/17.1.1869, bezogen auf die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, zit. n. Engelhardt, Nur vereinigt, Bd. 2, S. 895 Anm. 233 Vgl. Oppenheim, Heinrich Bernhard, Vermischte Schriften aus bewegter Zeit, Stuttgart 1866, S. 243: »Wenn die Schwachen in der Majorität und im Rechte sind, wenn ihnen der Geist der Zeit zur Seite steht, und wenn sie die ihnen gelassenen Rechtsmittel mit un­ unterbrochener Ausdauer, mit zäher Konsequenz und Intensität zur Anwendung bringen«, dann lauten »unsere nächsten Zufluchtsmittel«: »1. die öffentliche Besprechung der Beschwerde, und 2. die Association.«

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Dem entsprach die wiederum verfassungsrechtlich ermöglichte, aber im Vereinsgedanken begründete, erst nach 1890 vollends entfaltete, große Bedeutung des Interessenverbandswesens in Deutschland – jedenfalls im Vergleich zu den politischen Parteien.234 Der Verein als Instrument der Interessenartikulation erwies sich für die wirtschaftlich Starken im Kaiserreich als ungemein wirkungsvoll. Dass sich auf diesem Wege die weiterhin entscheidende Form des Interessenausgleichs zwischen den Hauptkontrahenten anbahnen würde, blieb indessen gerade den wirtschaftlich Starken bis 1918 und darüber hinaus zumeist verschlossen. In den mannigfachen mittelständischen Interessengruppen leistete der Verein gleichermaßen bedeutsame Fortschritte in der Interessen­ klärung und -durchsetzung. 4. Für spezielle Gruppen bedeutete der Verein überdies je Verschiedenes. Nicht zu übersehen ist beispielsweise seine Funktion als Elitenbildner für wirtschaftliche Führungspositionen in der Phase der ausgeprägten Verbandspolitik, aber auch bereits für politische Führungspositionen in der Blütezeit des Liberalismus oder im Rahmen der Arbeiterbewegung, unbeschadet der insoweit traditionell entscheidenden Rolle der Bürokratie in Deutschland bzw. der Grenzen, die der Arbeiterbewegung gesetzt waren. Wie der politische Verein politische Führer zutage brachte, so konnte der freiberufliche Interessenverein zur Formung von Berufsbildern und Setzung von Leistungsmaßstäben, schließlich zur Sicherung von gesellschaftlichem Status entscheidend beitragen. Neben anderem förderte der Verein die »Professionalisierung« bestimmter Berufsgruppen.235 Und um ein weiteres, geradezu existentielles Beispiel zu erwähnen: Vor Einsetzen einer mehr oder weniger effizienten staatlichen Sozialpolitik in den 1880er Jahren war es der Verein gewesen, der die Hauptlast der Armenfürsorge und der Sicherung gegen die Krisenlagen gerade der abhängigen Erwerbs­ bevölkerung, wie immer erfolgreich, getragen hatte. 5. Mit den demokratisch-partizipatorischen Funktionen der Vereine verband sich, nach innen wie nach außen, ein gerade in den über Vereine vermittelten kulturellen Aktivitäten messbarer Gewinn an individueller Gestaltungskraft. Der Verein ermöglichte unter anderem, dass mehr Menschen durch Bildung und kulturelle Teilhabe zur individuellen Entfaltung gelangten.236 Der Arbeiterbewegung ist das Bewusstsein darüber eingeboren worden; Johann ­Jacoby, Wilhelm Liebknecht, Carl Legien und andere wussten, dass die »Gründung des kleinsten Arbeitervereins« unter künftigen Kulturhistorikern größere 234 Vgl., statt zahlreicher Zitate, Ullmann, Hans-Peter, Zur Rolle industrieller Interessenorganisationen in Preußen und Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg, in: Hans-Jürgen Puhle u. Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 300–323. 235 Vgl. GG, Jg. 6, 1980, H. 3. 236 S. bereits Rotteck u. Welcker, Staatslexikon, Bd. 2, 18351, S. 23: Vereine hätten »selbst für die rohsten Mitglieder der untersten Stände, indem sie dieselben stets auf höhere allgemeinere Zwecke und Gesetze verweisen, eine bildende, disciplinierende und moralisch veredelnde Kraft.«

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Beachtung als die Schlachten der Weltgeschichte finden werde.237 Auf dieser Ebene konnte der Verein wiederum sehr verschiedene Bedeutung annehmen: als Träger stadtbürgerlicher Oberschichtenkultur in Bildung, Wissenschaft und Kunst, als Instrument auch kultureller Emanzipation der Arbeiterschaft unter politischen Vorzeichen, als Transportmittel pfarrgemeindlicher Seelsorge und Mission, als Ort von Akkulturation des neuen Industriearbeiters nach Zuzug aus großer Entfernung und ethnisch verschiedener Volksgruppe,238 als Ort der Befriedigung unmittelbarster, auch fehlgeleiteter Bedürfnisse wie in den zur Umgehung der Polizeistunde gegen Ende des 19. Jahrhunderts massenhaft gegründeten »Saufkasinos« in den großindustriellen Stadtregionen.239 Das Vereinsleben ist deshalb ein fruchtbarer Gegenstand volkskundlicher Forschung.240 6. Schließlich war der Verein – in der Phase seiner Ausbreitung weit mehr als heute – ein nicht zu unterschätzendes Instrument sozialer Kontrolle der Vereinsmitglieder untereinander und, in einem politisch bedeutsameren Sinn, der Herrschenden über die Beherrschten. Man gelangte im Verein eben nicht nur zu einer neuen individuellen Entfaltung, es lag auch auf der Hand, »daß in der Organisation die Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums eine Einbuße erfährt«241 durch Angleichung und Unterordnung. Schon Max ­Weber hat auf die Reglementierung von Teilbereichen des Lebens und auf die Prägung der inneren Attitüde zum Leben durch den Verein hingewiesen.242 Hier lassen sich weitere Überlegungen anschließen  – zum Beispiel jene, dass Vereine neben ihren zweckgebundenen äußeren auch, je größer sie werden und je umfassender sich die binnenorganisatorischen Beziehungen entfalten, neue, in ihren Ursprüngen innere Konfliktfelder zwischen Mitgliedschaft und Führung, 237 Zitatnachweise s. in Tenfelde, Klaus, Anmerkungen zur Arbeiterkultur, in: Wolfgang Ruppert (Hg.), Erinnerungsarbeit. Geschichte und demokratische Identität in Deutschland, Opladen 1982, S. 107–134, 107 f. 238 Vgl. bes. Kleßmann, S. 94–105, über die Vereine der Ruhrpolen. 239 Vgl. Brüggemeier, Franz J. u. Niethammer, Lutz, Schlafgänger, Schnapskasinos und schwerindustrielle Kolonie, in: Reulecke u. Weber (Hg.), S. 135–175; Mallmann, Klaus-Michael, »Saufkasinos« und Konsumvereine  – zur Genossenschaftsbewegung der Saarbergleute 1890–1894, in: Der Anschnitt, Jg. 32, 1980, S. 200–206. 240 Zentral: Bausinger, Hermann, Vereine als Gegenstand volkskundlicher Forschung, in: Zs. f. Volkskunde, Jg. 55, 1959, S. 98–104; s. ferner Freudenthal, S. 483–513; Meyer, S. 11–19; Schmitt, S.  157–181; Tenfelde, Sozialgeschichte, S.  386–396; zum Vereinslied informiert Häntzschel, Günter, Lyrik und Lyrik-Markt in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Forschungsbericht und Projektskizzierung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte d. dt. Literatur, Jg. 7, 1982, S. 199–246, 213–215. 241 Klein, S. 211. Der Bielefelder Magistrat stellte im Vormärz fest, daß das Kassenwesen »auch auf das Betragen der Gesellen den günstigsten Einfluß« zeige, »da die Gesellen, seit sie einen Verein bilden, übereinander wachen und Verstöße unter sich regeln, sobald sie dadurch die ganze Brüderschaft beschimpft glauben.« Zit. n. Frevert, Ute, Arbeiterkrankheit und Arbeiterkrankenkassen im Industrialisierungsprozeß Preußens (1840–1870), in: Conze u. Engelhardt (Hg.), S. 293–319, 297. Vgl. auch Birk, Ländl. Vereinswesen, S. 177; zum modernen »Rechtsschutz für individuelle Autonomie« im Verband s. Teubner, S. 312 ff. 242 Weber, S. 57 f.

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zwischen Altersgruppen und unterschiedlich gelagerten Erwartungen oder Interessen zu entfalten neigen. In der vereinsorganisierten Gesellschaft wird ein Teil der innergesellschaftlichen Konfliktlagen auch in den Verein selbst verlagert. Darüber hinaus festigt der Verein, rückwirkend, die sozialen Strukturen, denen er seine Entstehung verdankt,243 doch scheint die Geschichte auch zu zeigen, dass die Vereinsform hinreichende Anpassungsflexibilität besitzt. Bis heute kleiden sich selbst sogenannte »neue soziale Bewegungen« nolens volens in das Vereinsgewand und erleiden notwendig aufs Neue Enttäuschungen im Konflikt zwischen basisdemokratischer Bedürfnisartikulation auf der einen und dem Zwang zur repräsentativ bürgerlichen Willensdelegation auf der anderen Seite. Bis heute sind Vereine Medien lebendiger Konkurrenz von Märkten und Ideen in pluralistischen Gesellschaften  – auch die etwa 150.000 Frei­ zeitvereine mit ihren 25 Millionen Mitgliedern, die es zur Zeit in der Bundes­ republik gibt.244

243 Vgl. Pähler, Karl H., Vereine und Sozialstruktur, in: Archiv für Rechts- und Sozialpsychologie, Jg. 42, 1956, S. 197–227, 204: »Die Differenzierung wurde zur Einseitigkeit des Tuns und damit zur Einseitigkeit der Erfahrung.« 244 Angaben der Deutschen Gesellschaft für Freizeit: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 210/ 10.9.1983, S. 10.

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VII. Großstadtjugend in Deutschland vor 1914 Eine historisch-demografische Annäherung

1. Industrialisierung und Verstädterung rufen Veränderungen im Altersaufbau einer Bevölkerung hervor. Solche Veränderungen schlagen sich im Wesentlichen in zwei Erscheinungen nieder: zum einen in einem Prozess gradueller Verjüngung der Gesamtbevölkerung einer industrialisierenden, insbesondere aber der rasch industrialisierenden Gesellschaft; zweitens in Gestalt von doch tief greifenden Abweichungen in den binnenregionalen Altersbildern, Abweichungen, die in den gesamtgesellschaftlichen Altersstrukturpyramiden  – so auch im Deutschen Reich mit seiner vor 1914 scheinbar sehr ausgeglichenen Altersstruktur1 – naturgemäß nicht erkennbar sind. Beide Erscheinungen sind in der deutschen nationalökonomischen und historisch-demografischen Literatur wiederholt an Einzeluntersuchungen konstatiert worden,2 und nach

1 Grafische Alterspyramiden s. etwa für 1871, 1880, 1890, 1900 und 1910 unter Berücksichtigung des Familienstandes in Statistik des Deutschen Reichs (SDR), Bd. 240, 1915, Tafel nach S. 80*; vgl. auch Köllmann, Wolfgang, Bevölkerungsentwicklung und »moderne Welt«, leicht überarb. in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 68–77, 77; Petzina, Dietmar u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III: Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945, München 1978, S. 16–18; zur Unterscheidung von Pyramide, Glocke und Urne im Altersbild (wachsende, stationäre und schrumpfende Bevölkerung) s. Mackenroth, Gerhard, Bevölkerungslehre, Berlin 1953, S. 20–25. – Eine frühere Fassung der folgenden Ausführungen lag dem deutsch-amerikan. Symposium »Urban Development in the Age of Industrialism«, Anglo-Amerikanische Abt. d. Histor. Seminars d. Univ. zu Köln 24–28.6.1981, vor; Gedanken des Schlussteils wurden in anderer Form einem deutsch-englischen Historikertreffen, veranstaltet vom Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte a. d. Univ. Heidelberg, in Bad Homburg 17–20.10.1979 vorgetragen. Ich danke den Teilnehmern dieser Diskussionen sowie Prof. Dr. Dieter Langewiesche, Hamburg, für Anregungen. 2 Vgl. etwa Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs f. d. Jahr 1878 (SDR, Bd.  30/1, 1878), H.  4 (Erläuterungen zur Volkszählung 1.12.75), S.  102 ff.; Lokalstudie z. B.: Wahl, ­Moritz, Statistik der Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse der Stadt Essen während des 12jährigen Zeitraumes von 1868–1879, nach amtl. Aufzeichnungen zusammengestellt, in: Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege, Jg. 1, 1882, S. 303–322, 339–362, bes. S. 305, 307 f., 347 f.; früheste generalisierende Untersuchung: Brückner, N., Die Entwicklung der großstädtischen Bevölkerung im Gebiete des Deutschen Reichs, in: Allgem. Statistisches Archiv, Jg. 1, 1890, S. 135–184, 615–672, bes S. 649–666.

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der Jahrhundertwende hat in der zeitweise erbitterten Auseinandersetzung zwischen »Wohlstandstheoretikern oder Progressisten« und »Antiindustriestaatstheoretikern oder Reaktionären«3 über die Ursachen des überrascht festgestellten, gleich in den Rang einer Frage nationalen Überlebens erhobenen Geburtenrückgangs auf breiter Front wiederholt auch das Problem der regionalen, gewerblichen oder altersmäßigen Differenziertheit der Gebürtigkeit eine Rolle gespielt. Dabei wies bereits Robert Kuczynski in seiner Auseinandersetzung mit Georg Hansen und anderen darauf hin, »daß bei den Abwandernden vom Lande eine unbewußte Auslese stattfindet, die die Fruchtbareren in die Städte treibt«,4 und Paul Mombert bemerkte, dass »ein großer Teil der Geburten« in den preußischen Westprovinzen »von den Zugewanderten herrühren muß, ein Teil, der dem Anteil dieser an der Gesamtbevölkerung nicht proportional ist, sondern ihn wesentlich übersteigt, infolge des günstigeren Altersaufbaues der Zuwanderer.«5 Auch Lujo Brentano betonte vor dem Hintergrund einer generellen Jugendlichkeit der deutschen Reichsbevölkerung den Zusammenhang von Wanderungen und Altersstrukturen: »Der Altersaufbau auf dem Land hat sich seit dem Aufblühen der Industrie durch die Wanderungen ungünstig, der in den Städten günstig verschoben; dort befinden sich relativ mehr, hier relativ weniger in den Jahren, in denen das Leben besonders gefährdet ist.«6 Mombert konnte diese Beobachtungen später in vergleichenden Untersuchungen erhärten,7 während in einer Reihe von zumeist ortsbezogenen demografischen Studien dasselbe Ergebnis, freilich ohne sozialgeschichtliche Konsequenzen etwa auf dem Feld der Sozialisationserfahrungen bestimmter Altersgruppen zu ziehen, ebenfalls gleichsam als Nebenprodukt abfiel.8 Auch Wolfgang Köllmann hat in seinen demografischen Studien wiederholt auf die »Jugendlichkeit« der Bevölkerungen in industriellen Ballungsräumen 3 Salz, Arthur, Kritische Betrachtungen zum Streite über das Bevölkerungsproblem, in: ASSP, Bd. 35, 1912, S. 115–122, 117 (Wortführer der erstgenannten: Brentano, Mombert; der anderen: Karl Oldenberg). Vgl. Anm. 5; die Diskussion ist im Übrigen im ASSP bis 1914 fort­ gesetzt worden. 4 Kuczynski, Robert, Der Zug nach der Stadt. Statistische Studien über Vorgänge der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche, Stuttgart 1897, S. 142, vgl. S. 138 ff. 5 Mombert, Paul, Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit bes. Berücks. d. ehelichen Fruchtbarkeit, Karlsruhe 1907, S. 216 (im Orig. gesperrt); vgl. ders., Über den Rückgang der Geburten- und Sterbeziffer in Deutschland, in: ASSP, Bd. 34,1912, S. 794–862; Oldenberg, Karl, Über den Rückgang der Geburten- und Sterbeziffer, in: ASSP, Bd. 32, 1911, S. 319–377. 6 Brentano, Lujo, Die Malthussche Lehre und die Bevölkerungsbewegung der letzten Dezenien, in: Abhandlungen der Histor. Klasse d. Kgl. Bayer. Akademie d. Wissenschaften, Jg. 24/III, Abt. München 1909, S. 604–625 m. Anhang, S. 612. 7 Vgl. Mombert, Paul, Bevölkerungslehre, Jena 1929, u. a. S. 191 ff., 278, 288. 8 Vgl. etwa für den Raum Berlin: Schwermer, Alfons, Der Einfluß Berlins auf die Bevölkerungsverhältnisse der benachbarten Landkreise, phil. Diss. Berlin 1937, S. 35–40; Nürnberg/ Ldkrs. Pegnitz: Ort, Hedwig, Wirtschaftsentwicklung und Landflucht im Landkreis Pegnitz, phil. Diss (Ms.) Erlangen 1948, S. 49 f.

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hingewiesen;9 eine Erkenntnis, die von Elisabeth Pfeil mit Gesetzesrang formuliert wurde: »Je stärker die Zuwanderung, desto anormaler der Altersaufbau in Großstädten«; »offen bleiben« musste leider die Frage, »inwieweit die geistige Eigenart des großstädtischen Lebens durch die Jugendlichkeit ihrer Einwohnerschaft […] mitbestimmt worden ist.«10 Der zugrunde liegende demografische Tatbestand ist schließlich auch in jüngeren Regional- und Lokalstudien wiederholt bemerkt worden: H. Matzerath hat ihn für die frühe Industrialisierungsphase am Beispiel der Textilstadt Rheydt konstatiert;11 D. Langewiesche hat auf ihn gelegentlich des Studiums der intraurbanen Fluktuation rekurriert,12 und H. Schomerus konnte eine Zunahme der Geborenenüberschüsse mit einer Phasenverschiebung von 1 bis 2 Jahren nach erhöhten Zuwanderungen nachweisen und gelangte bereits zu der Schlussfolgerung, dass solche Verschiebungen in der Altersstruktur der (Esslinger) Industriearbeiterschaft im Sinne eines zunehmenden Generationenkonflikts die grundsätzliche Konfliktdisposition der Arbeiterschaft verschärfend beeinflussen könnten.13 Unter systematischem Bezug auf die statistische Überlieferung ist dem Problem des Zusammenhangs zwischen Wanderung und Altersstruktur jedoch m. W. bisher nicht nachgegangen worden; hier gilt nach wie vor die Kritik von Heberle/Meyer (1937), dass »die Wirkungen der durch Wanderungen bedingten Mobilität auf das Zusammenleben, auf die menschlichen Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen bisher nur wenig beachtet und kaum empirisch untersucht« worden seien  – »namentlich für deutsche Städte fehlen jegliche

9 Köllmann, Wolfgang, Die Bevölkerung Rheinland-Westfalens in der Hochindustrialisierungsperiode, in: VSWG, Jg.  59, 1971, S.  359–388 f.; ders., The Population of Barmen before and during the Period of Industrialization, in: David V. Glass u. David E. C. Eversley (Hg.), Population in History. Essays in Historical Demography, London 1965, S. 588–607, 600; sowie generell ders., Bevölkerung in der industriellen Revolution, Göttingen 1974, passim. 10 Pfeil, Elisabeth, Großstadtforschung. Entwicklung und gegenwärtiger Stand, Hannover 19722, S.  147 ü. »Jugendlichkeit der Großstädte« mit sehr knappen Hinweisen auf sozial­ geschichtliche Folgen, insbes. anhand US-amerikan. Literatur; vgl. auch Tannenbaum, ­Edward R., 1900. Die Generation vor dem Großen Krieg, Frankfurt a. M. 1978, S. 109 f. 11 Matzerath, Horst, Industrialisierung, Mobilität und sozialer Wandel am Beispiel der Städte Rheydt und Rheindahlen, in: Hartmut Kaelble u. a., Probleme der Modernisierung in Deutschland. Sozialhistorische Studien zum 19. und 20. Jh., Opladen 1978, S. 13–79, 60–62. 12 Langewiesche, Dieter, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880–1914, in: VSWG, Jg. 64, 1977, S. 1–40, 31–34. 13 Schomerus, Heilwig, Die Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen. Forschungen zur Lage der Arbeiterschaft im 19. Jh., Stuttgart 1977, S. 201, vgl. S. 40, 164–169; weitere Hinweise: Tenfelde, Klaus, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19.  Jh., Bonn 19812, S. 50; Jasper, Karlbernhard, Der Urbanisierungsprozeß, dargestellt am Beispiel der Stadt Köln, Köln 1977, passim; am Beispiel einer englischen Berg- und Hüttenarbeiterregion: Campbell, Alan B., The Lanarkshire Miners. A Social History of their Trade Unions ­1775–1874, Edinburgh 1979, S. 127 (»large number of young, single men in the district«).

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empirischen Forschungen«.14 Wer weiter gehende Erkenntnisse etwa von der anschwellenden Literatur über die deutsche Jugendbewegung erwartet, wird enttäuscht; man scheint hier zwar zu einer Soziologie, nicht aber zu einer Sozialgeschichte der Jugendbewegung vorgedrungen zu sein.15 Dass die angedeuteten Zusammenhänge von Wanderung und Altersstruktur als demografische Rahmenbedingungen für kommunale und Arbeitssozialisation, für »Soziale Vagabundage« und Wohnungselend,16 für Großstadtdelinquenz und Probleme der kommunalen Steuer- und Leistungsverwaltung, für Formen und Chancen von Gruppenbildung, Gruppenartikulation und Konfliktverhalten von großer, vielleicht entscheidender Bedeutung waren, diese Annahme liegt auf der Hand, auch wenn nach einem neueren Gemeinplatz die Vermittlung von Struktur und Verhalten im Sinne eines Kausalbezugs kaum glücken wird, ein Zusammenhang allenfalls plausibel gemacht werden kann. Im Folgenden werden Daten zusammengetragen, mit denen der behauptete Wechselbezug von Gebürtigkeit, Wanderung und Großstadtverjüngung vor dem Hintergrund der Entwicklung der Gesamt-Altersstruktur der Reichsbevölkerung erhärtet, differenziert und auf bestimmte, allerdings nicht erschöpfend behandelte Ursachen zurückgeführt werden kann, so dass im Ergebnis von einem Prozess »kumulativer Großstadtverjüngung« gesprochen werden darf. Ich konzentriere mich dabei, überwiegend durch die Datenlage bedingt, auf die zentrale Überlieferung, die mit Regional- und Lokalhinweisen vertieft und illustriert wird. Eine an sich weiterführende, die Differenziertheit auch großstädtischer Altersbilder unter sich begründende Untersuchung der Altersgliederung von Industriearbeitern und sonstigen Beschäftigten kann nur in Andeutungen erfolgen. Es liegt mir vielmehr daran, einige Schlussfolgerungen aus den nachgewiesenen Zusammenhängen vorzutragen.

14 Heberle, Rudolf u. Meyer, Fritz, Die Großstädte im Strome der Binnenwanderung. Wirtschafts- und bevölkerungswissenschaftliche Untersuchungen über Wanderung und Mobilität in deutschen Städten, Leipzig 1937, S. 51. 15 S. etwa Aufmuth, Ulrich, Die deutsche Wandervogelbewegung unter soziologischem Aspekt, Göttingen 1979, u. a. S. 74 ff.; weitere Hinweise unten Anm. 93–97. 16 Schmoller, Gustav, Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze, Leipzig 1890, S. 397; s. Langewiesche, S. 1 u. ö., sowie Brüggemeier, Franz, Soziale Vagabundage oder revolutionärer Heros? Zur Sozialgeschichte der Ruhrbergarbeiter 1880–1920, in: Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«. Frankfurt a. M. 1980, S. 193–213; statt weiterer Hinweise: Niethammer, Lutz (Hg.), Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft, Wuppertal 1979.

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2. Die Probleme einer Gegenüberstellung übernational, regional und lokal differenzierter Altersstrukturbilder sind selbstverständlich in erster Linie statistischer Art: Die statistischen Zähleinheiten sind im Zeitablauf verändert worden; die Altersstatistik reicht, auch wenn sie die Großstädte vielfach getrennt ausweist, nur ausnahmsweise in die »kleinen Verwaltungsbezirke« hinunter, so dass die klare Abgrenzung industrieregionaler Bevölkerungskörper auf Schwierigkeiten stößt; endlich muss man Daten unterschiedlichster Herkunft (Bevölkerungszählungen, lokale Meldestatistiken) nutzen, um zu differenzierten Ergebnissen zu gelangen. Ergänzend zur eigentlichen Altersstatistik der Bevölkerungszählungen können Sonderberechnungen für bestimmte Zwecke, darunter solche über den Umfang der »produktiven« Bevölkerung (,›tragende« Altersgruppen im Gegensatz zu »lastenden«, d. h. unter 15- und über 60jährigen),17 der »reproduktionsfähigen« Bevölkerung (gebärfähige verheiratete Frauen),18 der militärfähigen männlichen19 oder auch der straffähigen, der großjährigen, der wahlberechtigten, der ehemündigen und gar der versicherungspflichtigen Bevölkerung20 herangezogen werden. Hinweise liefert schließlich die gewerblich differenzierte Altersstatistik sowie, selbstverständlich, die Statistik der Wanderungsbewegungen und der Geborenenziffern. Die allgemeine, trotz sinkender Gebürtigkeit akzelerierende »Verjugend­ lichung«21 der Reichsbevölkerung seit der Reichsgründung nachzuweisen, fällt dabei, überlieferungsbedingt, noch am leichtesten: Schon hier fällt auf, dass diese »Verjugendlichung« nach der Jahrhundertwende zum Stillstand kam und sich noch vor Kriegsausbruch in eine sehr viel raschere gegenteilige Entwicklung verkehrte; hierauf ist im Folgenden wiederholt anhand differenzierterer Altersbilder einzugehen. Festzuhalten bleibt, dass der Anteil jugendlicher Altersgruppen infolge eines raschen Bevölkerungswachstums zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende um rund einen Prozentpunkt zunahm. »Jugendlichkeit« sei hier und im Folgenden auf die Repräsentanz der, je nach der verfügbaren statistischen Überlieferung, Alters17 Z. B. Monatshefte z. Stat. d. Dt. Reichs f. d. Jahr 1878, H. 4, S. 39–41; als zeitgen. Gegenüberstellung bereits Gerloff, Wilhelm, Veränderungen der Bevölkerungsgliederung in der kapitalist. Wirtschaft, Berlin 1910, S.  12; für 1900–1925 auch Mombert, Bevölkerungslehre, S. 299; mit den wichtigen Quellen: Reulecke, Jürgen, Veränderungen des Arbeitskräftepotentials im Deutschen Reich 1900–1933, in: Hans Mommsen u. a. (Hg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Neudruck Bd. 1, Düsseldorf 1977, S. 84–95; s. auch Anm. 39. 18 Z. B. Vjhefte z. SDR f. d. J. 1875, H. II/2. Abt., S. 163–166. 19 Z. B. SDR, Bd. 32, 1888, S. 75*. 20 Vgl. ebd., S. 72* f. u. passim sowie SDR, Bd. 68, 1894, S. 29*, 66*. 21 So Schmoller, Gustav, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1. Teil, München 19232 S. 164.

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Tab. 1: Altersstruktur der Reichsbevölkerung nach größeren Altersgruppen 1871 bis 191022 Jahr

Reichsbevölkerung insgesamt

Von 1000 Personen sind … Jahre alt unter 30

30 bis unter 60

alt 60 u. mehr

1871

41,059 Mio.

599,6

323,7

76,7

1875

42,727 Mio.

601,6

321,6

76,8

1880

45,234 Mio.

607,2

318,6

78,7

1885

46,856 Mio.

608,9

309,8

81,3

1890

49,429 Mio.

609,4

310,3

80,3

1900

56,367 Mio.

610,9

310,5

78,6

1910

64,926 Mio.

601,1

320,2

78,1

gruppen zwischen 0 und 30 oder 35 Jahren in einer Gesamtbevölkerung bezogen. Solche Jugendlichkeit kann sich, wie zu zeigen ist, sehr unterschiedlich zusammensetzen. Als Messgröße von Jugendlichkeit könnte ein hypothetisch ausgeglichenes Altersstrukturbild dienen, in dem die fortpflanzungsfähigen Altersgruppen unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Fortpflanzungsgewohnheiten und einer stabil angenommenen Sterblichkeit exakt so stark repräsentiert sind, dass die Gesamtbevölkerung im Zeitablauf regelmäßig reproduziert wird. Ein solches »ideales« Altersstrukturbild wird von der Wirklichkeit höchst selten und allenfalls vorübergehend »getroffen«: Kaum eine Bevölkerung, deren Fortpflanzungsverhalten über einen längeren Zeitraum konstant bliebe, deren Mortalität sich nicht veränderte, die von Wanderungen unbeeinflusst bliebe. Es 22

22 Errechnet nach SDR, Bd.  240, 1915, S.  79*. Zu dieser und den folgenden Tab. sei grundsätzlich angemerkt: Der in der älteren Bevölkerungsstatistik gelegentlich durch langwierige Umrechnungen beseitigte, dem Umstand der Bevölkerungszählungen am 1.12. eines Jahres zu dankende Verzerrungsfaktor von 1/12 wird durchgängig vernachlässigt. Zugunsten klarer Zahlenbilder wurden die Altersgruppen-Angaben vereinfacht; bei 0–15 beispielsweise ist, wenn nichts Anderes bezeichnet wird, stets »0 bis unter 15«, in der nächsten Gruppe entsprechend »15 bis unter 40« zu lesen (s. Tab. VII,2). Abweichungen der Addi­ tionen von 1.000  sind stets Rundungsfehler oder reflektieren geringe Bevölkerungsteile ohne Alterszuweisung. – Zum Ergebnis von Tab. VII,1 sei darauf hingewiesen, dass man, z. T. durch die Wahl der Altersgruppen-Zusammenfassungen bedingt, zu scheinbar gegenteiligen Ergebnissen kommen kann; so spricht Böhmert, Wilhelm, Wandlungen der deutschen Volkswirtschaft 1882–1907. Ein Blick auf die Ergebnisse der Berufs- und Betriebszählungen, in: Der Arbeiterfreund, Jg. 48, 1910, S. 1–36, 126–162, 239–288, hier S. 257, von einem »beträchtliche[n] Alterungsprozeß« der Reichsbevölkerung – ein Urteil, das relativ falsch, bezogen auf die wachsende Lebenserwartung hingegen natürlich richtig ist.

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empfiehlt sich daher, Urteilsgrundlagen mittels Vergleichs zu gewinnen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Geborenenziffer in den Staaten des Deutschen Bundes seit 1815, bei gewissen regionalen Abweichungen, im Ganzen auf hohem Niveau bis zur Reichsgründung stabil geblieben ist: Sie oszillierte beispielsweise in Preußen um 40 (Lebendgeborene je 1000 Einwohner) und lag nach neueren Berechnungen,23 bezogen auf das spätere Reichsgebiet ohne Elsass-Lothringen, insgesamt bei analogen Schwankungen um rund zwei Punkte darunter. Die Reichsgründung brachte einen als Kriegsfolge erklärbaren, vorübergehenden Anstieg der Geborenenziffer auf über 40, doch setzte seit Mitte der 1870er Jahre jener langfristige, im Grunde bis in die jüngste Vergangenheit fortgesetzte Trend eines zunächst allerdings zögernden Rückgangs der Geborenenziffer ein.24 Sie verblieb jedoch seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis 1914 deutlich über dem Niveau Englands, bald auch über dem der USA und Frankreichs.25 Die Folgen für die jeweiligen Altersstrukturbilder der Bevölkerungen liegen auf der Hand: Tab. 2: Altersstrukturen im Vergleich: 1880–1911 (in Promille)26 Deutschland

Englanda)

1885

1910

1881

1911 1886 1906b) 1880 1910c) 1881

0–15

355

340

364

307

270

344

381

321

322

339

15–40

381

400

393

418

386

303

410

490

388

368

40–60

183

181

169

195

223

153

146

201

191

81

79

74

80

122

56

43

90

102

46,9

64,9

25,9

36,1

37,4

50,2

92,0

28,5

34,7

Alters­ gruppen

60 u. älter Bevölkerung in Mio.

Frankreich

353 38,8

Ver. Staaten

Italien 1911

a) mit Wales; b) Altersstufen: unter 20, 20–40, 40 und älter; c) Altersstufen: unter 15, 15–45, 45–65, 65 und älter 23 Kraus, Antje (Bearb.), Quellen zur Bevölkerungsstatistik Deutschlands 1815–1875, Boppard a. Rh. 1980, S. 226 f., 330 f. 24 Auf die Ursachenforschung kann hier nicht eingegangen werden; vgl. die Anm. 3–6 zur älteren Diskussion; jüngere Veröff. bes.: Tilly, Charles (Hg.), Historical Studies of Changing Fertility, Princeton 1978; Knodel, John E., The Decline of Fertility in Germany, 1871–1939, Princeton 1974; vgl. auch Anm. 64. Die z. Z. beste Regionalstudie stammt von Haines, Michael R., Economic-Demographic Interrelations in Developing Agricultural Regions. A Case Study of Prussian Upper Silesia 1840—1914, New York 1977, s. S. 58–67; ferner unten Anm. 52. 25 Vgl. etwa Mombert, Bevölkerungslehre, S. 191 f.; Neuhaus, Georg, Die Bewegung der Bevölkerung im Zeitalter des modernen Kapitalismus, in: Grundriß der Sozialökonomik, IX./l: Die gesellschaftliche Schichtung im Kapitalismus, Tübingen 1926, S. 460–505, 478. 26 Errechnet nach SDR, Bd. 32, 1888, S. 37*-61*, und SDR, Bd. 240, 1915, S. 82*; weitere Angaben etwa: SDR, Bd. 68, 1894, S. 49*; SDR, Bd. 150, 1903, S. 87*; vgl. auch (nach Mayr) Schmoller, Grundriß, S. 162.

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Hiernach vermochte Deutschland, dessen Anteil an jungen Altersgruppen in den 1880er Jahren im Mittelfeld lag, seine relative Jugendlichkeit bis Kriegsausbruch in weit stärkerem Maße zu halten als alle anderen Länder – mit der Ausnahme des noch wenig industrialisierten Italien. Nimmt man die Vereinigten Staaten, deren Geborenenziffer – wie diejenige Englands – besonders scharf zurückging, aus dem Vergleich heraus, da dort die Altersgruppen besonders zwischen 20 und 35 Jahren durch die Einwanderung nach wie vor eine immense Stärkung erfuhren, so verfügte Deutschland um 1910 über die bei Weitem jüngste Bevölkerung. Der Unterschied zu Frankreich, wo die Gebürtigkeit schon seit den 1840er Jahren deutlich zurückgegangen war,27 erweist sich bei näherem Hinsehen als besonders schroff: Tab. 3: Altersstrukturen im Vergleich: Deutschland und Frankreich 1910/11 (in Promille)28 Altersgruppen

Deutsches Reich (1910)

Frankreich (1911)

unter 10 Jahren

234

173

10–20

203

166

20–30

164

157

30–40

139

148

40–50

105

127

50–60

76

103

60–70

51

77

70 und älter

28

49

Die relative »Vergreisung« der Bevölkerung Frankreichs gegenüber jener Deutschlands ist evident, wobei an dieser Stelle die gleichermaßen rück­läufige Mortalität unberücksichtigt bleiben kann. So zeigen die Angaben der Tabellen VII,2/3, dass im Deutschen Reich der Prozess der Bevölkerungsverjüngung noch anhielt, als er in den wichtigeren westlichen Staaten bereits in sein Gegenteil verkehrt worden war. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass diese 27 Zur Diskussion s. Ipsen, Gunther, Bevölkerung, in: Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, Bd.  1 Breslau 1933, S.  425–474, 436, 453 ff.; vergleichende Daten u. a. in: Die Wirtschaft des Auslandes 1900–1927, bearb. i. Statist. Reichsamt (= Einzelschriften zur SDR Nr. 5), Berlin 1928, S. 6, 70, 536 u. ö; Mitchell, B. R., European Historical Statistics ­1750–1970, London 1975, S. 29–56. 28 Nach Mombert, Bevölkerungslehre, S. 288; vgl. hierzu die Diskussion bei Imhof, Arthur E., Die gewonnenen Jahre, München 1981, S. 67–72 u. 182–191.

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Entwicklung von einem gleichzeitigen, immensen Anstieg der Lebenserwartung begleitet war.29 Ein weiteres Argument ist geeignet, die Feststellung von der relativen Jugendlichkeit der deutschen Reichsbevölkerung zu stützen und zugleich die »besonders starke Besetzung der Geburtsjahrgänge 1900–1914«30 zusätzlich zu erklären. Die aus den Bevölkerungszählungen und Geborenenziffern erkennbare, in der Auswanderungsstatistik präzisierte31 Wanderungsbilanz (Differenz ­zwischen natürlichem Bevölkerungsüberschuss und tatsächlicher Bevölkerungszunahme) weist für Deutschland in der bekannten, konjunkturell induzierten Rhythmik bis zur Mitte der 1890er Jahre ausschließlich Wanderungsverluste aus, die seit der Reichsgründung in Fünfjahresgruppen zwischen rund 350.000 und 500.000, im ersten Jahrfünft der 1880er Jahre sogar fast 1 Mio. Menschen erfassten. In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre wird eine umgekehrte Entwicklung erkennbar: Deutschland wird, wenigstens vorübergehend, Einwanderungsland (Wanderungsgewinn 1896–1905: 185.000). Auch wenn man sich vergegenwärtigt, dass wenigstens in den 1870er Jahren Familienwanderung (mit Kindern) unter deutschen Auswanderern noch eine größere Rolle spielte, bleibt doch erstaunlich, dass in den 1870er und 1880er Jahren die Geborenenziffer auf einem hohen Niveau verblieb, obwohl die fortpflanzungsfähigen Altersgruppen durch die Auswanderung erheblich geschwächt wurden. Umgekehrt erfuhren die mittleren Altersgruppen in der Phase umschlagenden (Aus-)Wanderungsverhaltens vorübergehend Stärkung, so dass der tatsächliche Rückgang der Geborenenziffer in dieser Phase wahrscheinlich noch um ein Geringes verschleiert wurde. Zu solcher Verschleierung trug nicht zuletzt auch der Umstand bei, dass die im Bevölkerungskörper trotz Wanderungsverlusten stark repräsentierte Gruppe der in den 1870er Jahren Geborenen um die Jahrhundertwende in das fortpflanzungsfähige Alter wuchs. Wenn sich der Rückgang der Geborenenziffer in der Altersstatistik der Gesamtbevölkerung erst zu einem relativ späten Zeitpunkt niederschlug, die relative Jugendlichkeit mithin bis kurz vor Kriegsausbruch erhalten werden konnte, so trug hierzu ein weiterer Umstand entscheidend bei: Die städtische Säuglings­ 29 Zahlenmaterial im Überblick: Hohorst, Gerd u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, München 1975, S. 27–30. 30 Mackenroth, Gerhard, Grundzüge einer historisch-soziologischen Bevölkerungstheorie, zit. n. d. Neudruck in Wolfgang Köllmann u. Peter Marschalck (Hg.), Bevölkerungsgeschichte, Köln 1972, S. 27–44, 34. 31 Vgl. bes. Mönckmeier, Wilhelm, Die deutsche überseeische Auswanderung, Jena 1912, S. 18, 21 f., bes. S. 145 f.; aus der neueren Literatur bes. Marschalck, Peter, Deutsche Überseewanderung im 19.  Jh. Ein Beitrag zur soziologischen Theorie der Bevölkerung, Stuttgart 1973; jüngere Forschungsüberblicke: Gould, J. D., European Inter-Continental Emigration ­1815–1914: Patterns and Causes, in: Journal of European Economic History, Jg. 8, 1979, S.  593–679; Fenske, Hans, Internationale Wanderungen in Mitteleuropa (1850–1914), in: GWU, Jg. 31, 1980, S. 593–608. Zahlen im Folgenden nach Hohorst u. a., S. 29 f.

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sterblichkeit sank um die Jahrhundertwende erstmals, und zwar erheblich, unter jene auf dem Lande32  – ein Ergebnis des Ausbaus auch der städtischen Leistungsverwaltungen, der verbesserten Säuglingshygiene und postnatalen Medizin sowie des Krankenhausbaus. Insgesamt sank die Säuglingssterblichkeit seit der Jahrhundertwende  – z. B. in preußischen Städten bis Kriegsausbruch um fast 30 Prozent – so erheblich, dass die jeweils unteren Altersgruppen trotz rückläufiger Geborenenziffern nicht nur stabilisiert wurden, sondern der Geburtenrückgang sogar »überkompensiert«33 wurde. Der Rückgang der Säuglingssterblichkeit hat naturgemäß die Mortalitätsziffern erheblich beeinflusst, so dass sich das natürliche Bevölkerungswachstum nach der Jahrhundertwende noch verstärken konnte. Die Geborenenüberschüsse lagen jährlich regelmäßig zwischen 13 und 15 je 1.000 Einwohner und sanken erst kurz vor Kriegsausbruch auf den Stand der 1880er Jahre wieder ab (10 bis 12 je 1.000 Einwohner). Darüber hinaus versteckt sich hinter dem Rückgang der Sterblichkeit34 infolge medizinischen Fortschritts und anderer Gründe vor allem auch ein Basiseffekt, denn die langjährig hohen Geborenenziffern hatten sich im Sinne einer »günstigen« Altersstruktur mortalitätsmindernd ausgewirkt. Das Altersbild einer Bevölkerung, soviel wird nach dem Gesagten deutlich, setzt sich stets aus an sich voneinander unabhängigen Entwicklungen insbesondere der Geborenen- und Sterblichkeitsziffern sowie der Wanderungsvorgänge zusammen, wobei, da Strukturkomponenten nur in Relativzahlen verständlich werden, wechselseitige Abhängigkeiten in starkem Maße in die Statistik einfließen.35 So bleibt, wie am Beispiel der Großstädte noch zu zeigen ist, zu bedenken, dass hohe Geborenenziffern selbst bei starkem Wandel des Fortpflanzungsverhaltens einige Jahrzehnte prolongiert werden, weil stark besetzte Geburtsjahrgänge in das fortpflanzungsfähige Alter wachsen; die Veränderung des Fortpflanzungsverhaltens schlägt sich im Altersbild mithin nur zögernd nieder, und die Jugendlichkeit einer Bevölkerung nimmt graduell ab. Gleichwohl zeigt die Altersstatistik der Reichsbevölkerung, lässt man die kriegs­ typischen Veränderungen in bestimmten Altersgruppen beiseite, etwa zu Beginn der 1920er Jahre eine tiefe Zäsur, wie das folgende Zahlenbild erweist. 32 Zeigenöss. hierzu etwa: Die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit, bearb. v. Brugger u. a., Leipzig 1905, S. 5, 49, 58 f., 96 f.; zur schichtenspezifischen Differenzierung vgl. Spree, Reinhard, Strukturierte soziale Ungleichheit im Reproduktionsbereich. Zur historischen Analyse ihrer Erscheinungsformen in Deutschland 1870 bis 1913, in: Jürgen Bergmann u. a. (Hg.), Geschichte als politische Wissenschaft. Sozialökonomische Ansätze, Analyse politikhistorischer Phänomene, politologische Fragestellungen in der Geschichte, Stuttgart 1979, S. 55–115, 66–96. Dass auch die Jugendsterblichkeit deutlich sank, zeigt bereits Mombert, Bevölkerungslehre, S. 295. 33 Meerwarth, Rudolf, Die Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland während der Kriegsund Nachkriegszeit, in: ders. u. a., Die Einwirkung des Krieges auf Bevölkerungsbewegung, Einkommen und Lebenshaltung, Stuttgart 1932, S. 1–97, 24. 34 Zahlenangaben: wie Anm. 29. 35 Vgl. z. B. Brentano, S. 612 f.; auch Ipsen, S. 427 f.

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Tab. 4: Altersstruktur der Reichsbevölkerung 1900 und 1934 (in Promille)36 Jahr

unter 15

15–45

45–65

65 u. älter

1900

348

450

153

49

1934

252

480

208

71

Während, wie bereits gezeigt worden ist, die Altersstruktur der Reichsbevölkerung bis nach der Jahrhundertwende trotz einer um etwa ein Prozent zunehmenden Jugendlichkeit und trotz ganz unterschiedlicher, einander zum Teil kompensierender Entwicklungen im Ganzen bemerkenswert stabil geblieben ist, hat ein scharfer Bruch in Gebürtigkeit und Migrationsverhalten,37 mithin in der »Bevölkerungsweise«,38 in den frühen 1920er Jahren bereits zu Beginn des »Dritten Reichs« eine doch tief greifende Veränderung im Altersbild der Gesamtbevölkerung verursacht. Verkürzt ließe sich behaupten, dass, während in der Vorkriegszeit das Auslaufen der Auswanderung die Geborenenziffer leicht stabilisierte und die sinkende Säuglingssterblichkeit im Sinne eines sogar noch zunehmenden Geborenenüberschusses den Rückgang der Geborenenziffer überkompensierte, die letztere Entwicklung nach dem »Babyboom« der unmittelbaren Nachkriegszeit endlich unverschleiert zum Ausdruck kam. Nur am Rande sei auf die hieraus folgenden, erheblichen Belastungen des Arbeitsmarkts so sehr wie der sozialen Einrichtungen in der Zeit bis etwa 1933/34 hingewiesen, wenn allein aus demografischen Erwägungen der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung um rund 8 Prozentpunkte (1934) über dem Stand der Vorkriegszeit lag.39 36 Nach Hohorst u. a., S. 24; Kurzfassungen der zeitgenöss. Statistik: Statist. Jb. f. d. Dt. Reich, z. B. Jg.  31, 1910, S.  3, 6–11; einen detaillierten Zahlenüberblick für 1910 und 1925 s. bei Meerwarth, S. 87 f. 37 Vgl. Langewiesche, Dieter, Mobilität in deutschen Mittel- und Großstädten. Aspekte der Binnenwanderung im 19. und 20. Jh., in: Werner Conze u. Ulrich Engelhardt (Hg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten, Stuttgart 1979, S. 70–93, 75 f. 38 Grundlegend: Ipsen; sowie Mackenroth, Bevölkerungslehre, passim. 39 Zur zeitgenöss. Diskussion vgl. bes. v. Zwiedineck-Südenhorst, Otto, Beiträge zur Erklärung der strukturellen Arbeitslosigkeit, in: Vjh. f. Konjunkturforsch., Jg. 2, 1927, Erg. H. 1, S.  15–77, bes. 29–36; mit weiteren Hinweisen: Briefs, Goetz, Bevölkerungsbewegung und Arbeitsmarktentwicklung, in: Bernhard Harms (Hg.), Strukturwandlungen der Deutschen Volkswirtschaft. Vorlesungen, Bd. 1, Berlin 1929, S. 56–74, 69 f. (Arbeitslosigkeit sei allerdings von der Angebotsseite her »nicht entscheidend und restlos zu klären«); Woytinski, Wladimir, Der deutsche Arbeitsmarkt. Ergebnisse der gewerkschaftlichen Arbeitslosenstatistik 1919 bis 1929, Bd. 1, Berlin 1930, S. 23 f. (erwartet Entlastung des Arbeitsmarkts von der Angebotsseite seit etwa 1930); zentral in der neueren Literatur: Reulecke (Anm. 17) sowie, jedoch ausschließlich in rechts-, institutionen- und organisationsgeschichtlicher Sicht, Hartwich, Hans-Hermann, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918–1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Interessen in der Weimarer Republik, Berlin 1967, S. 47 ff., zur

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3. Neben den bisher angesprochenen Entwicklungen verschleiert die annähernde Stabilität der Alterspyramide der Reichsbevölkerung vor 1914 insbesondere die längst eingetretenen, erheblichen binnenräumlichen Verschiebungen. Wenn auch der Überlieferungsstand hinsichtlich der Altersgruppenstatistik keine befriedigende Abgrenzung und Auswahl beispielsweise unterschiedlich strukturierter Industrieräume erlaubt,40 so lassen sich doch gelegentlich präzisierbare Indikatoren für allgemeine Trends gewinnen. Das Bedürfnis einer agrar- und industrieräumlichen Abgrenzung der Altersgruppenstatistik ist bereits von der zeitgenössischen historischen Demografie erkannt worden. Schon anlässlich der Volkszählung vom 1. Dezember 1875 wurden die fortan strukturbildenden raumtypischen Verschiebungen im Altersbild der Bevölkerung konstatiert. Die ausgewählten Regionen zeigen einige bemerkenswerte Abweichungen. Den langfristigen Einfluss einer durchschnittlich weit niedrigeren Geborenenziffer wies die Altersstruktur in Bayern r. d. Rh. auf – mit der Folge einer deutlich stärkeren »Vergreisung« der Gesamtbevölkerung. In der Altersstruktur der süd- und südwestdeutschen Staaten wirkten sich infolge der bis in die späten 1860er Jahre rechtskräftigen, aber durch eingefahrene Gewohnheiten noch länger einflussreichen Heiratsbeschränkungen41 eine wesentlich geringere Ehefrequenz und ein höheres Heiratsalter mit der Folge einer Verminderung der Gebürtigkeit aus. Im Übrigen zeigen alle angeführten Regionen in den Altersklassen über 40 Jahren eine sehr ausgeglichene Struktur. Anders die jüngeren Altersklassen. In der Provinz Preußen schlug sich eine deutlich erhöhte Gebürtigkeit trotz ebenso deutlicher Unterrepräsentanz der reproduktionsfähigen Altersgruppen nieder; ähnliches galt für Brandenburg etc. In der Rheinprovinz lag der Anteil der jüngsten Altersgruppe besonders hoch, und die Repräsentanz der mittleren Altersgruppen scheint anzudeuten, dass diese Höhe zugleich einer erheblichen »autochthonen« Gebürtigkeit, die in der Folgezeit abzunehmen scheint, und der Fortpflanzungstätigkeit von Zuwanderern geschuldet war. Berlin hingegen war und blieb mindestens bis 1914, demografisch betrachtet, »Transformationsphase« der generativen Strukturen hin zur »neuen industriellen Bevölkerungsweise« in der Zwischenkriegszeit s. Bade, Klaus J., Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung in der Weimarer Republik, in: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik – belagerte Civitas, Königstein/Ts. 1980, S. 160–187, 163. 40 Für unsere Zwecke unzureichend ist die zwar die kleinen Verwaltungsbezirke, jedoch nur in zwei Altersklassen (unter/über 12 Jahren) berücksichtigende Volkszählung von 1890 in der veröffentlichen Form: SDR, Bd. 68, 1894, S. 123 ff. 41 Vgl. Kraus, Antje, »Antizipierter Ehesegen« im 19.  Jh. Zur Beurteilung der Illegitimität unter sozialgeschichtlichen Aspekten, in: VSWG, Jg. 66, 1979, S. 174–215, 180–191; Matz, Klaus-Jürgen, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jh., Stuttgart 1980.

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Tab. 5: Altersgruppen der Reichsbevölkerung 1875 nach größeren Verwaltungsbezirken (umgegliedert)42 Region

Es standen im Alter von … Jahren (in Promille) unter 5

5–10

10–15

15–20

Dt. Reich

134

112

102

93

Stadt Berlin

114

82

71

96

Provinz Preußen

142

116

114

103

Provinz Brandenburg (ohne Berlin) sowie Posen

139

118

109

100

Reg.-Bez. Oppeln, Breslau und Liegnitz

135

116

104

98

Kgr. Sachsen u. Thüring. Staaten

134

113

103

97

Bayern r. d. Rhein

123

105

90

85

Rheinprovinz, Reg.-Bez. Arnsberg, Oldbg. u. Fst. Birkenfeld

144

115

104

97

ein Sonderfall:43 Die hohen, noch stärker aber die unteren Altersgruppen (bis 15  J.), waren erheblich unterrepräsentiert; dagegen waren die Altersgruppen zwischen 20 und 40 Jahren um fast 50 Prozent stärker als im Reichsdurchschnitt vertreten. Berlin hat, wie sich noch wiederholt erweisen wird, selbst unter den nach hauptstädtischen Funktionen bedingt vergleichbaren späteren Großstädten des Reichs eine Ausnahmeposition eingenommen, für die wahrscheinlich neben statistischen Erwägungen (vorläufige Ausklammerung der wichtigen Arbeiter-Wohnvororte) die Funktion der Reichshauptstadt als Durchgangsstation für Wanderer aus den Ostprovinzen und insbesondere die frühzeitig niedrige örtliche Geborenenziffer verantwortlich sind. – Die Überrepräsentanz der mittleren, mobilen Altersgruppen scheint sich in der Tabelle im Übrigen leicht für Sachsen etc. und die Rheinprovinz etc., noch nicht jedoch für Oberschlesien abzuzeichnen. 42

42 Z. T. errechnet nach Monatshefte z. SDR f. d. J. 1878 (=SDR, Bd. 30/I, 1878), H. 4, S. 107. 43 Vgl. bereits für die Zeit der Frühindustrialisierung: Weimann, Karin, Bevölkerungsentwicklung und Frühindustrialisierung in Berlin 1800–1850, in: Otto Büsch (Hg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg, Berlin 1971, S. 150–190, 165; genauere Angaben auch retrospektiv stets im Statist. Jb. d. Stadt Berlin, z. B. Jg. 21, 1894, S. 10–17; über die »Saugwirkung« Berlins s. bereits Brückner, S. 616 f.

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Es standen im Alter von … Jahren (in Promille) 20–25

25–30

30–40

40–50

50–60

60–70

70 u. älter

83

76

134

103

84

51

25

139

122

173

97

62

29

15

82

71

123

99

85

44

22

83

73

130

97

81

44

26

77

73

131

105

87

49

26

85

79

132

103

82

48

24

79

74

137

114

96

66

31

85

80

136

97

74

46

22

Die große Ost/West-Wanderungsbewegung stand in der Mitte der 1870er Jahre noch in den Anfängen; erst die 1880er Jahre sollten, ganz besonders mit der Zielrichtung »Ruhrgebiet«, einen merklichen Umschwung im Wanderungsverhalten hin zur Fernwanderung meist unqualifizierter, ehedem ländlicher und landwirtschaftlicher Arbeiter bringen.44 Die präzise Zusammensetzung und Auswirkung dieser ebenfalls keineswegs völlig eindeutigen Wanderungsbewegung – man denke nur an den gleichzeitigen Nord-Süd-Wanderungsstrom in den Ostprovinzen hin zum oberschlesischen Industrieraum – lässt sich nur anhand sehr detaillierter, neben anderem die Altersstruktur der Zuwanderer45 44 Vgl. u. a. Kleßmann, Christoph, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 37–43; Tenfelde, Sozialgeschichte, S. 230 ff.; aus der Sicht des ländlichen Arbeitsmarkts: Bade, Klaus J., Massenwanderung und Arbeitsmarkt im deutschen Nordosten von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg, in: AfS, Jg. 20, 1980, S. 265–323; über einen besonderen Aspekt s. Newman, Allen R., The Influence of Family and Friends on German Internal Migration, 1880–1885, in: JSH, Jg. 13, 1979, S. 277–288. 45 Vgl. bes. Heberle u. Meyer, S. 21 ff.; aus der Sicht der Wanderungssoziologie beispielsweise Friedrichs, Jürgen, Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft, Hamburg 1977, S. 144; s. auch Esser, Hartmut, Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt 1980, S. 113 f. u. ö.; weitere Hinweise unter Anm. 55.

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Tab. 6: Altersgruppen der Reichsbevölkerung nach ausgewählten großen und mittleren Verwaltungsbezirken46 Region

Es standen im Alter von … Jahren (in Promille) unter 5

5–15

15–20

20–25

Dt. Reich

130

221

97

86

Prov. Westpreußen

150

229

101

85

Prov. Posen

149

244

104

83

Stadt Berlin

104

170

91

120

Rheinprovinz

136

231

99

86

darin Reg.-Bez. Düsseldorf

143

234

102

87

Prov. Westfalen

148

243

100

82

darin Reg.-Bez. Arnsberg

156

247

100

81

Kgr. Preußen

134

223

97

85

Kgr. Sachsen

136

218

99

92

Zwickau

145

228

102

86

Bautzen

122

208

93

82

Kgr. Bayern

120

220

97

84

darin Kreishauptmannschaften:

sowie die, soweit überliefert, städtische bzw. regionale Zu- und Abzugsstatistik berücksichtigender Erhebungen47 feststellen; stattdessen sei das Fortschreiten der Entwicklung am Beispiel des Altersbildes von 1890 dokumentiert: In dieser Aufstellung schlägt erkennbar die erste größere Ost-West-Wanderungswelle während der 1880er Jahre zu Buche, und es wird deutlich, zu welchen binnenräumlichen Diskrepanzen der Altersbilder diese Wanderung führte. Dabei zeigt etwa der binnenräumliche Vergleich im an sich bereits »jun46

46 Z. T. errechnet nach SDR, Bd. 68, 1894, S. 113. 47 Zentral für die Frühzeit: Markow, Alexis, Das Wachstum der Bevölkerung und die Entwicklung der Aus- und Einwanderungen, Ab- und Zuzüge in Preußen und Preußens einzelnen Provinzen, Bezirken und Kreisgruppen von 1824 bis 1885, Tübingen 1889; s. jetzt bes. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 7 u. passim mit den wichtigsten Quellen; auch Tenfelde, Sozialgeschichte, S.  233; allgemein zur Wanderungsanalyse Quante, Peter, Die Abwanderung aus der Landwirtschaft, Kiel 1958.

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Es standen im Alter von … Jahren (in Promille) 25–30

30–40

unter 15

15–40

40–60

60 u. älter

76

128

351

387

182

80

73

119

379

378

166

77

68

113

392

368

167

73

110

171

274

493

181

52

78

129

367

392

173

68

81

131

378

401

163

58

77

126

391

386

162

61

81

129

403

392

156

49

77

129

357

388

178

77

82

134

353

407

171

69

81

129

373

398

165

64

73

130

330

378

196

96

70

124

339

375

195

91

gen« Königreich Sachsen, dass hierin stets sehr unterschiedliche wirtschaft­ liche Wachstumsprozesse zu berücksichtigen sind, unter denen beispielsweise den zeitlichen Verschiebungen zwischen textilindustriell und bergbaulich induziertem Wachstum eine maßgebliche Rolle zukommt. Auch Bayern zeigt übrigens, würde man die Regierungsbezirke Altbayerns mit denjenigen Frankens vergleichen, nunmehr klare Differenzen in den regionalen Altersstrukturen. Innerhalb Preußens hat Berlin seine Sonderstellung bis 1890 noch ausgebaut, während in den industriellen Gebieten des Westens bei hoher Gebürtigkeit die mittleren Altersgruppen noch vergleichsweise schwach ausgeprägt erscheinen  – hier wären allerdings zwecks genauerer Analyse auch die Agrarräume der Westprovinzen und die absoluten Dimensionen der Bevölkerungsentwicklung stärker zu berücksichtigen. Wie sehr sich die Wanderungsbewegungen auf die Altersbilder auswirkten, zeigt sich nunmehr auch in der Gruppe der alten Menschen. 245 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Die Vermehrung der mittleren Altersgruppen in den Industrieräumen unter weiterhin hoher Gebürtigkeit, zugleich eine starke Überrepräsentanz der hohen und ein »Ausbluten« der mittleren Altersgruppen auf dem Lande bei gleichermaßen hoher Gebürtigkeit, hat sich, wie für 1900 ein Altersbild bereits auf der Ebene ausgewählter Provinzen erweist, mit dem Neueinsatz der weiträumigen Wanderungsbewegung im ersten konjunkturellen Aufschwung der langwelligen Wachstumsphase ab 1894/95 noch beschleunigt. Tab. 7: Altersgruppen in Berlin und ausgewählten Provinzen Preußens 189048 Provinz/Region

Es standen im Alter von … Jahren (in Promille) unter 15

15–40

40–60

60 u. älter

Kgr. Preußen

356

392

176

76

Stadt Berlin

257

488

196

59

Prov. Ostpreußen

372

348

188

92

Prov. Westpreußen

388

366

168

78

Prov. Westfalen

387

407

151

55

Rheinprovinz

359

409

167

65

Auch hier wird deutlich, dass die unteren Altersgruppen nach wie vor zwar in den Agrarprovinzen, trotz klarer Dezimierung der fortpflanzungsfähigen Ränge, besonders stark, jedoch auch in den Industriegegenden ausgeprägt vertreten sind. Besonders deutlich treten die Unterschiede nunmehr in der höchsten Altersgruppe hervor. Es scheint, als ob in den ähnlich überhöhten Geborenenziffern sowohl des agrarischen Ostens als auch des industriellen Westens eine Verlagerung des Fortpflanzungsverhaltens zum Ausdruck kommt: Die Zuwanderer der ersten Generation setzten an den Orten ihrer endgültigen Ansässigkeit ihre Gewohnheiten in Familiengründung und Kinderaufzucht zunächst noch fort, während sich bei Ortsansässigen eine »familienplanerische Verhaltensweise«49 anbahnte. Die hohe Geborenenziffer der Industrieregionen wäre demnach ein importiertes Phänomen.50 Man wird mithin auch inner48 Nach SDR, Bd. 150, 1903, S. 90*, 174 f. 49 S. Hohorst, Gerd, Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsentwicklung in Preußen 1816 bis 1914, Diss. Münster 1978, S. 355. Ferner: Mombert, Studien, S. 208 f., 214 f., 220 f. 50 Im Wesentlichen auf dieser Erkenntnis fußte die s. Zt. berühmte These von Hansen, Georg, Die drei Bevölkerungsstufen. Ein Versuch, die Ursachen für das Blühen und Altern der Völker nachzuweisen, München 1889, dass die städtische Bevölkerung fortwährend im Absterben begriffen sei und durch ländliche Abwanderung ergänzt werden müsse. Zu den An­ regungen, die von diesem Buch ausgingen, s. bes. Kuczynski, S. V–VIII.

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halb der Industrieregionen je nach zeitlich verschobenen Zuwanderungszen­ tren bzw. Orten geringer Zuwanderung Inseln niedriger Gebürtigkeit erwarten können, die allerdings in den zumeist aggregierten Ziffern nicht mehr erkennbar sind. Erst die zweite Generation der Industriearbeiter ländlichen Ursprungs passte ihr Fortpflanzungsverhalten an.51 Die tatsächliche Differenzierung der Gebürtigkeit zwischen Stadt und Land, wie sie sich seit den 1870er Jahren deutlich abzeichnete und um die Jahrhundertwende zu ausgeprägten Unterschieden führte,52 wurde daher durch die Wanderungsbewegung jedenfalls in den industriellen Ballungsräumen als Zuwanderungszentren eher verschleiert. Diese Unterschiede des Fortpflanzungsverhaltens über zwei Generationen von Zuwanderern hinweg scheinen sich in der folgenden Aufstellung nieder zu schlagen. 51 Vgl. etwa Croon, Helmuth, Zur Geschichte des Ruhrgebietes und seiner Bevölkerung, in: Genealogie, Jg. 8, 1966/67, S. 338–348, 342 f.; auch Köllmann, Bevölkerung Rheinland-Westfalens, S. 376 f. 52 Fr. Prinzing (Die Abnahme der ehelichen Fruchtbarkeit auf dem Lande in Deutschland, in: Zs. f. Socialwissenschaft, NF 2, 1911, S. 819–827), der als erster den Nachweis über den Rückgang auch der ländlichen Fruchtbarkeit unter vorsichtiger Berücksichtigung der jeweiligen Besetzung der fortpflanzungsfähigen Altersgruppen geführt hat, konstatierte die Schere zwischen städtischer und ländlicher Fruchtbarkeit anhand folgender Tabelle: Eheliche Fruchtbarkeit (d. i. Zahl der ehelichen Geburten auf 100 verheiratete Frauen im gebärfähigen Alter – zw. 15 und 50 Jahren) in Preußen im Durchschnitt der Jahre: 1879–1882

1894–1897

1899–1902

1904–1907

in Berlin

23,8

16,9

15,2

13,8

in den übr. Großstädten

26,7

23,5

22,4

20,4

in allen Städten

26,9

24,0

22,7

20,7

auf dem Lande

28,8

29,0

28,7

26,9

in Preußen

28,1

26,9

26,0

24,0

Während demnach die eheliche Fruchtbarkeit in den Städten seit den 1870er Jahren rückläufig war, datierte dieser Prozess auf dem Lande seit 1894/97 (in den mittl. Provinzen) bzw. seit ca. 1900 (in den östl. Provinzen; vgl. S. 821 f.). Vgl. ferner Müller, Johannes, Die eheliche Fruchtbarkeit in den deutschen Großstädten, in: Allg. Statist. Archiv, Jg. 19, 1929, S. 165–173; zur Statistik 1876–1910 im Stadt-Land-Vergleich auch Neuhaus, Bevölkerungsbewegung, S.  479; aus der neueren Literatur: Lee, Robert, Regionale Differenzierung im Bevölkerungswachstum Deutschlands im frühen 19.  Jh., in: Rainer Fremdling u. Richard H.  Tilly (Hg.), Industrialisierung und Raum, Stuttgart 1979, S.  192–227, 198, 200–209; v. Nell, Adelheid, Die Entwicklung der generativen Strukturen bürgerlicher und bäuer­ licher Familien von 1750 bis zur Gegenwart, sozialwiss. Diss. Bochum 1973, S. 15–17, 78 f. u. 111 f.; ferner bes. die Studie von Spree (Anm. 32) sowie Castell, Adelheid, Unterschichten im »Demo­graphischen Übergang«. Historische Bedingungen des Wandels der ehelichen Fruchtbarkeit und der Säuglingssterblichkeit, in: Hans Mommsen u. Winfried Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit, Stuttgart 1981, S. 373–394.

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Tab. 8: Altersgliederung der Städte und Landgemeinden im Deutschen Reich und Kreis Dortmund mit über 20.000 Einwohnern 1871 bis 190553 Jahr

Es standen im Alter von … Jahren (in Promille) unter 15

15–30

30–50

50–60

60 u. älter Bevölk. abs.

Dt. Reich 1890

351

259

231

78

80

49,2 Mio.

1871

354

303

261

44

37

44.420

1890

386

280

241

56

37

89.663

1905

359

312

239

53

37

175.577

Der Landkreis Dortmund und die Stadt Dortmund als vergleichsweise früh ausgebaute Industrieregion hatten um die Jahrhundertwende, auch wenn der Zustrom ländlicher Arbeiter gewiss noch anhielt, den Wachstumshöhepunkt bereits überschritten, und die längst in der zweiten Generation ansässige Bergund Hüttenarbeiterschaft ländlichen Ursprungs begann, wie vorher die altansässigen Arbeiterfamilien, ihre Familienplanung den großstädtischen Verhaltensweisen anzupassen. In welchem Umfang hieran auch der Aufstieg der Sozialdemokratie in dieser Region mitgewirkt hat, dürfte sich selbst mit mikrosozialen Untersuchungsmethoden nur schwer ermitteln lassen.

4. Trotz der zuletzt aufgezeigten Einschränkung zeichnet sich in den mitgeteilten industrieregionalen Altersbildern ein Verjüngungsprozess ab, der »kumulativ« benannt werden kann, weil er vor dem Hintergrund einer an sich bereits stark jugendgewichtigen Altersstruktur der Reichbevölkerung verlief. Diese Entwicklung wird bei einer auf Großstädte konzentrierten Betrachtungsweise noch sehr viel deutlicher. Hier zeichnet sich nun eine – vorläufige – Entwicklung ab, in der Berlin als ein allenfalls noch graduell unterscheidbarer Sonderfall, gleichsam als Extremfall der Sondergruppe »Großstädte« in den 1870er und 1880er Jahren erscheint: Während die großstädtische Gebürtigkeit bereits stark rückläufig ist, wobei die angeführten Zahlen, da gewiss auch von der Zuwanderung getragen, in der Altersgruppe bis unter 15 Jahren wahrscheinlich noch eine zu hohe Gebürtigkeit der ansässigen Großstadtbevölkerung spiegeln, fallen in den Altersgruppen 53 Errechnet nach Meister, Aloys (Hg.), Die Grafschaft Mark. Festschrift zum Gedächtnis der 300jährigen Vereinigung mit Brandenburg-Preußen, 2 Bde., Dortmund 1909, Bd. 2, S. 380 f.

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Tab. 9: Altersstruktur der deutschen Großstädte und der Reichsbevölkerung 1875 und 188554 Altersklassen

Von 1.000 Personen gehören den linksbez. Altersgruppen an 1875

1885

Großstädte

Dt. Reich

Großstädte

Dt. Reich

unter 15 J.

279

347

299

354

15 bis 20

101

95

94

95

über 20 bis 25

130

83

115

85

über 25 bis 30

107

76

99

76

über 30 bis 35

88

85

66

über 35 bis 40

71

74

61

über 45 bis 60

169

187

174

183

55

78

60

81

über 60 J.

134

zwischen 15, besonders zwischen 20 und 40 Jahren die Großstadt-Zuwanderer ins Gewicht. Die Gruppe der 20- bis 25jährigen, ganz überwiegend ledigen Zuwanderer nimmt einen herausragenden Platz ein.55 Somit stützte sich die »Jugendlichkeit« der Großstädte in den 1870er und – in geringerem Umfang – auch noch in den 1880er Jahren ausschließlich auf die Altersgruppen zwischen 15 und 40 Jahren, die 1875 in den Großstädten fast die Hälfte, im Reich jedoch nur knapp 39  Prozent der Einwohnerschaft ausmachten. Während der sogenannten »Großen Depression« blieb dieser »Altersbauch« der Großstadtbevölkerung 54

54 Nach Brückner, S. 650; vgl. auch Wirminghaus, A., Stadt und Land unter dem Einfluß der Binnenwanderungen. Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung, in: Jbb. f. Nationalök. u. Statistik, Bd. 64, 1895, S. 1–34, 161–182, Tabelle S. 176: vgl. ebd., S. 11 sowie Thurnwald, Richard, Stadt und Land im Lebensprozeß der Rasse. Eine orientierende Skizze, in: Archiv f. Rassen- u. Gesellschaftsbiologie, Jg. 1, 1904, S. 550–574, 560; s. auch Schott, Sigmund, Die großstädtischen Agglomerationen des Deutschen Reiches 1871–1910, Breslau 1912. 55 Vgl. Anm. 45. In Berlin lag, wie sich aus den Erläuterungen zu Tabelle VII,13, unten, erklären wird, der Altersdurchschnitt der Zuwanderer deutlich höher als in anderen Regionen und Städten, insbesondere Industriestädten; vgl. Statist. Jb. d. Stadt Berlin, Jg. 29, 1904, S. 81 mit geschlechtsdifferenzierter Statistik der Zu- und Wegzüge nach Altersgruppen sowie Kuczynski, S. 68, für Bayern, Brückner, S. 630 f. für weitere Städte. Regionalstudien: Dullo, A., Die Bevölkerungsbewegung in Königsberg in Preußen, Königsberg 1906, S.  51; Froehner, Georg, Wanderungsergebnisse im erzgebirgischen Industriegebiet und in der Stadt Chemnitz, phil Diss. Berlin 1908, S. 27; s. auch Langewiesche, Mobilität, S. 79.

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mit knapp 47 Prozent (gegenüber 38 Prozent im Reich) klar erhalten, während sich die starke Repräsentanz dieser Altersgruppen nunmehr anscheinend auch in leicht zunehmender Kinderzahl niederschlug. In welchem Umfang an dieser Entwicklung auch Familienwanderung beteiligt war, lässt sich aufgrund der vorliegenden Zahlen nicht entscheiden. Dass jedoch noch bis 1890 die Stadtgemeinden innerhalb verschiedener Größenklassen eine durchaus unterschiedliche, im Trend das bisher Gesagte unterstützende Entwicklung aufwiesen, zeigt die folgende Übersicht. Tab. 10: Altersstruktur der städtischen Bevölkerungen nach Größenklassen im Deutschen Reich 189056 Städte

Es standen im Alter von … Jahren (in Promille) unter 15

15–40

40–60

60 u. älter

Großstädte (ü. 100.000)

292

474

177

57

Mittelstädte (20–100.000)

321

450

169

60

Kleinstädte (5–20.000)

345

417

170

68

Je größer die Stadt, so ließe sich hieraus formulieren, desto geringer waren die ganz alten und die ganz jungen, kurz, die »unproduktiven« Altersgruppen vertreten, desto mehr trat die arbeitsfähige Bevölkerung in den Vordergrund. Selbst in den Kleinstädten erreichte die jüngste Bevölkerungsgruppe nicht den Anteil des Durchschnitts im Deutschen Reich im Jahre 1890 (351); die Gruppe der Arbeitsfähigen lag jedoch auch in den Kleinstädten mit 587 deutlich über dem Reichsniveau (568). Will man überhaupt zu diesem Zeitpunkt von Großstadt- oder Stadtjugend sprechen, so kann ein solches Urteil nur auf die mobilen, produktiven Altersgruppen vor allem zwischen 20 und 30 Jahren bezogen werden. Allerdings sind an dieser Stelle drei Einschränkungen vorzutragen, die den Wert der bisher mitgeteilten Zahlen zur städtischen Altersstruktur erheblich infrage stellen. Zunächst wird die Gruppe der Großstädte im Deutschen Reich in den 1880er Jahren noch weit überwiegend durch »ältere« Groß-, Residenz- bzw. Haupt- und Handelsstädte bestimmt, die zumeist bereits am frühindustriellen Wachstum in erheblichem Umfang partizipiert hatten. Die zum Teil freilich sehr alten Städte in den Industrierevieren wuchsen erst in der zweiten Industrialisierungsphase seit den frühen 1890er Jahren in den Rang von Großstädten, und 56 Nach SDR, Bd. 68, 1894, S. 36*.

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neben ihnen schossen neugebildete Industriekommunen zunächst als Wohnund Schlafsiedlungen ohne Stadtcharakter um die Jahrhundertwende förmlich empor.57 Der Vergleich mit den oben bereits mitgeteilten Altersbildern für den Kreis Dortmund belehrt, dass über den Begriff der Großstadt die tatsächliche Entwicklung der generativen Strukturen in den industriellen Ballungsräumen während der 1870er und 1880er Jahre noch nicht angemessen verstanden werden kann. Zweitens setzte, hiermit verknüpft, der ungemein langwierige, wellenartige Prozess der Eingemeindungen eben erst ein;58 große Teile der »neuen« Industriebevölkerung wohnten (und arbeiteten) noch außerhalb der Weichbilder der alten Städte und gehörten den umliegenden, durch den Stadtbegriff nicht erfassten Landgemeinden an. Dabei war es gerade die altangesessene Arbeitsbevölkerung der städtischen Weichbilder gewesen, die frühzeitig zu familienplanendem Verhalten gelangte; zwischen dem generativen Verhalten der Weichbilder und der »Vororte« dürften gemeinhin an der Schwelle der Eingemeindungspolitik so krasse Differenzen bestanden haben, dass, wie kürzlich am Beispiel Kölns gezeigt,59 die Eingemeindungspolitik in der Geborenen- und Altersstatistik schwerwiegende Veränderungen vorspiegelte. Freilich ist zu bedenken, dass auch die älteren, durch Eingemeindungen vergrößerten Großstädte zumeist an der Bevölkerungsentwicklung der zweiten Industrialisierungsphase teilhatten. Drittens musste sich der von der Zuwanderung geformte »Altersbauch« der produktiven Bevölkerungsgruppen in allen Stadtgemeinden über kurz oder lang auch in einer höheren Ortsgebürtigkeit niederschlagen, wie nach der Jahrhundertwende rasch evident wird. Denn die starke Besetzung der Geborenenjahrgänge zwischen Jahrhundertwende und Kriegsausbruch war, auch wenn man differenzierend die Entwicklung der grenzüberschreitenden Wanderung berücksichtigt, in erster Linie Resultat der gut besetzten Geborenen-Jahrgänge der 1870er Jahre, zum Teil auch vorher – Menschen also, die vor allem durch die »Pull«-Faktoren der zweiten Industrialisierungswelle mobilisiert wurden und gewöhnlich nach einer Phase des vielbeschworenen »Nomadentums«60 den Ort ihrer endgültigen Ansässigkeit fanden. Die höhere Gebürtigkeit derjenigen, die endlich ansässig geworden waren, schlug sich in allen Phasen der Industrialisierung nieder – so besonders frühzeitig in textilindustriellen Städten wie Krefeld, Reydt oder im sächsischen Industriegebiet, in älteren metallver­ arbeitenden und oft zugleich textilindustriellen Gebieten wie den Regionen um Barmen, Elberfeld und Solingen, in frühen bergbau- und hüttenindustriellen 57 Vgl. bereits Olbricht, Konrad, Die Städte des rheinisch-westfälischen Industriegebiets, in: Petermanns Mitteilungen, Jg. 57, 1911, S. 4–8. 58 Aufstellung bis 1912 s. in Landsberg, Otto, Eingemeindungsfragen, Breslau 1912, Anhang S. 94–105; vgl. Matzerath, Horst, Städtewachstum und Eingemeindungen im 19. Jh., in: Jürgen Reulecke (Hg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter. Beiträge zur modernen deutschen Stadtgeschichte, Wuppertal 1978, S. 67–89. 59 Vgl. Jasper, S. 49, 53; grundsätzliche Bemerkungen am Beispiel von Linden (b. Hannover) und Mülheim a. Rh. (bei Köln) s. bereits bei Brückner, S. 659 (»Filialbevölkerung«). 60 Vgl. Conze u. Engelhardt (Hg.), S. 26 f. u. ö.

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Tab. 11: Bevölkerungswachstum und Altersstruktur im Stadt- und Landkreis Recklinghausen 1875 bis 191061 Stadt- u. Ldkrs. Recklinghausen

Bevölkerung

davon Zunahme: Geborenenüberschuss

Wanderungsgewinn

%

%

Jahr

abs.

1875

57.577

1880

64.599

9,1

3,2

1885

74.269

9,1

5,7

1890

93.593

11,2

14,8

1895

123.200

13,9

17,6

1900

188.690

17,4

35,7

1905

263.261

18,5

21,0

1910

374.583

19,9

22,4

fünfjährige Perioden

Stadtregionen wie Essen und Dortmund, endlich, und mit besonders eindrucksvollen Folgen für die Entwicklung der Altersstrukturen, in den schwerindustriellen Wirtschaftsregionen seit den 1890er Jahren, deren rapides Wachstum Wanderungsbewegungen in bisher nicht bekanntem Ausmaß zeitigte. Von der letztgenannten Entwicklung konnten Neuansiedlungen um dörf­ liche Ortskerne oder auch am Rande neu errichteter industrieller Fertigungsstätten auf der »grünen Wiese«, aber auch frühindustrielle Städte wie das in seiner schwerindustriellen Entwicklung leicht »verspätete« Duisburg,62 schließlich auch alte, bisher ausschließlich ländlich geprägte Kreiszentren wie Recklinghausen im nördlichen Ruhrgebiet erfasst werden. Der rasanten Bevölkerungsentwicklung im Kreisgebiet wurde kurz nach der Jahrhundertwende durch Bildung eines eigenen Stadtkreises Recklinghausen 61

61 Zumeist errechnet nach den Angaben bei Chmielecki, Stanislaus, Die Bevölkerungs-Entwicklung im Stadt- und Landkreis Recklinghausen in den Jahren 1875 bis 1910, rechtsu. staatswiss. Diss. Freiburg i. B., o. O. o. J. [Bochum 1914], S. 10 f., 44, Aufrundungen von mir. Vgl. zum Ruhrgebiet noch Hudde, Hans, Die Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung der Stadt Essen in den Jahren 1800–1914. Ein Beitrag zur Geschichte der Entwicklung einer ausgesprochenen Industriestadt, Diss. (Ms.) Freiburg i. B. 1922; Horst, Willy, Studien über die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsbewegung und Industrieentwicklung im niederrhein.-westf. Industriegebiet, Diss. Münster 1936, Essen 1937, S. 35. 62 Hierzu Waterkamp, Hermann, Die Bevölkerung von Duisburg. Ihr Werdegang und ihre Zusammensetzung, Essen 1941, S. 94 m. Altersstruktur f. 1890.

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Von 1000 Personen standen im Alter von … Jahren (in Promille)

unter 1

1–15

15–25

25–35

35–45

45–60

60 u. älter

37

323

180

146

110

121

84

36

351

171

146

113

111

75

39

364

169

147

111

105

68

38

366

180

156

108

98

56

44

371

182

163

107

89

45

47

374

183

179

105

77

36

48

400

166

181

106

72

32

43

410

162

172

111

71

29

entsprochen; doch beziehen sich alle angegebenen Daten auf denselben geografischen Raum – schon vorher wohnte, wie übrigens stets im Ruhrgebiet, die hier bei Weitem überwiegende Bergarbeiterbevölkerung mit einer gewissen Vorliebe in den sich in Zechennähe und sonst herausbildenden Industriekommunen. Die industrielle Entwicklung des Kreisgebiets gewann in den späten 1880er Jahren an Fahrt und hob ein Jahrzehnt später zu einem gewaltigen Aufschwung an. Die Geborenenziffern, und damit die Geborenenüberschüsse, stiegen jetzt erheblich, jedoch mit einer deutlichen, auch in der Zunahme der mittleren, fortpflanzungsfähigen Altersgruppen erkennbaren Phasenverschiebung gegenüber den noch weitaus stärkeren Wanderungsgewinnen. Die Zuzügler bedurften Jahre der Gewöhnung im Revier bis zur Familiengründung; der Umstand, dass in dieser Tabelle bei allen Zahlenangaben eine stark »fluide« Bevölkerung unterstellt werden muss, beeinträchtigt unsere strukturorientierten Fragen und Ergebnisse letztlich jedoch nicht. Nach der Jahrhundertwende war Familiengründung im Kreis Recklinghausen fast allein noch Sache der Zugewanderten. Lägen Geborenenziffern für in der zweiten Generation ortsansässige Familiengründer vor, so ließe sich hier wahrscheinlich ein Rückgang der Gebürtigkeit konstatieren. In der Entwicklung der Altersstruktur wird nun der Prozess kumulativer Großstadtverjüngung evident: Die Altersgruppen bis 35 Jahre nehmen von 68,6 Prozent (1875) auf 78,7 Prozent (1910) zu, und Einwohner im Alter von über 60 Jahren in der Zeit vor Kriegsausbruch in Recklinghausen zu finden, dazu bedurfte es einer sehr scharfen Brille. Auch zeigt sich 1910 – trotz eines weiterhin 253 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Tab. 12: Altersstruktur ausgewählter deutscher Groß- und Industriestädte 190563 Großstädte 1. Dez. 1905

unter 5

5–10

10–15

15–20

20–25

25–30

Dt. Reich 1900

129

114

104

95

91

80

Dt. Reich 1910

120

114

107

97

86

77

86

82

77

92

115

112

München

100

87

77

79

111

106

Hannover

93

94

87

104

115

100

Frankfurt/M.

102

89

76

93

118

122

Leipzig

102

98

92

107

104

106

Hamburg

99

99

94

88

97

101

Bremen

97

100

89

98

103

106

Lübeck

114

104

99

94

91

88

Barmen

123

111

101

103

94

98

Elberfeld

119

108

103

102

92

95

Chemnitz

115

108

96

104

105

94

Düsseldorf

125

105

89

96

112

111

Köln

120

99

88

93

109

107

Beuthen

144

124

101

104

95

89

Gleiwitz

151

124

102

98

108

92

Königshütte

165

139

113

97

77

89

Essen

157

127

98

93

91

104

Dortmund

150

114

94

101

100

111

Mülheim/Ruhr

158

130

109

99

93

93

Bochum

163

122

102

101

96

104

Duisburg

161

125

102

96

92

104

Oberhausen

171

128

95

91

98

113

Gelsenkirchen

187

136

106

92

84

97

Berlin

63 Ausgewählt, errechnet und gruppiert nach Statistisches Jb. d. dt. Städte, Jg.  16, 1909, S. ­40–61 (Volkszählungsergebnisse v. 1.12.1905); in abs. Zahlen s. ebd. S. 42–45. Additionen innerhalb der Tabelle können wegen Auf- und Abrundungen unstimmig sein. Angaben für

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30–35

35–40

40–50

50–60

60 u. älter unter 15 unter 30

15–60

132

101

79

79

347

613

574

139

105

76

79

341

601

580

91

80

122

80

62

245

564

692

96

82

118

77

68

264

560

669

85

72

112

74

64

274

593

662

96

77

105

70

54

267

600

679

84

72

113

71

45

292

609

663

86

78

118

77

64

292

578

645

88

69

97

72

63

286

593

651

69

67

106

76

82

317

590

601

80

66

99

66

60

335

630

606

80

66

104

71

61

330

619

610

80

70

109

67

54

319

622

628

87

69

99

59

45

319

638

636

86

70

107

67

54

307

616

639

77

67

97

55

47

369

657

584

79

66

93

47

39

377

675

583

77

64

88

50

42

417

680

542

91

68

85

49

39

382

670

581

88

65

88

53

37

358

670

606

78

60

86

51

44

397

682

560

83

60

84

52

33

387

688

580

86

65

88

47

36

388

680

578

88

64

77

42

34

394

695

573

77

60

84

47

30

429

702

541

das Reich: SDR, Bd. 240, 1915, S. 79*. Leider wurde 1905 nur in Preußen nach Altersklassen veröffentlicht, so dass in der Tabelle für Vergleichszwecke die Reichszählungen von 1900 und 1910 aufgenommen wurden (vgl. Prinzing, S. 820).

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Tab. 13: Entwicklung der Altersstruktur in Berlin 1875 bis 191364 Jahr/Datum

Von 1.000 Einwohnern standen im Alter von … Jahren (in Promille) bis einschl. 5 über 5 bis 14

14–16

16–21

21–30

1875

114

138

31

107

235

1890

104

153

35

98

206

1900

94

148

32

98

202

1910a)

83

1. Jan. 1913

76

466 142

31

97

196

a) Altersklassen 1910: 0 – einschl. 5; über 5 – einschl. 15; über 15 – einschl. 30.

leicht zunehmenden Geborenenüberschusses – ein Rückgang der Gebürtigkeit, in dem das veränderte Fortpflanzungsverhalten der Familien gründenden Kinder jener allerersten Zuwanderergruppen zum Ausdruck kommen mag. Der Höhepunkt der kumulativen Großstadtverjüngung wurde – nicht etwa parallel zum industriellen Wachstum, sondern aus demografischen Erwägungen  – um 1905 erreicht. Recklinghausen war vor 1914 wenn kein Sonderfall, so doch ein besonders charakteristisches Beispiel schwerindustriell induzierten Bevölkerungswachstums, das weit überwiegend durch Zuwanderer getragen wurde. Die Großstädte der mittleren, der Hellweg-Zone des Ruhrgebiets65 werden nach der Jahrhundertwende bereits ein Wachstums- und Altersbild gezeigt haben, in dessen gleichwohl noch weit überdurchschnittlichen Geborenenüberschüssen und Zuwanderungsraten in stärkerem Maße gegenläufige Entwicklungen verborgen waren: Was durch zunehmende Familienplanung – was immer deren Ursachen und Erscheinungsformen waren – bei der längst ansässigen Arbeitergeneration an Geborenen entfiel,66 machten die Familien gründenden Zuwanderer mehr als wett. Auch hier also, wenn auch nicht in einem mit Recklinghausen oder den oberschlesischen Industriestädten vergleichbaren Ausmaß, eine kumulative, sich selbst bereits prolongierende Großstadtverjüngung. Es sollte 63

64

64 Errechnet nach: Statist. Jb. d. Stadt Berlin, Jg. 28, 1903, S. 20 und Jg. 33, 1912/14, S. 26–29, 62. Personen unbekannten Alters wurden vernachlässigt. Eine andere Zusammenstellung s. ebd., Jg. 32, 1913, S. 22 f. – 1.1.1913: Fortgeschriebene Zahlen der Volkszählung von 1910. 65 Zur zonalen Gliederung s. (statt Brepohl) ursprünglich Quelle, Otto, Industriegeographie der Rheinlande, Bonn 1926, auch bereits der Aufsatz von Olbricht (Anm. 57). 66 Vgl. etwa Neuman, R. P., Working-Class Birth Control in Wilhelmine Germany, in: Comparative Studies in Society and History, Jg. 20, 1978, S. 408–428; m. weiterer Literatur: ­Rubner, Heinrich, Familienplanung um 1900, in: Verhandlungen d. Histor. Vereins f. Oberpfalz u. Regensburg, Bd. 120, 1980, S. 529–537.

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Von 1.000 Einwohnern standen im Alter von … Jahren (in Promille) 30–60

über 60

bis einschl. 14

14 bis einschl. 60

Bevölk. abs.

331

43

252

705

966.858

351

52

257

690

1.578.794

366

59

242

698

1.888.848

384

70

240

690

2.071.257

387

70

218

711

2.095.030

nicht überraschen, wenn die Geborenenziffern im Ruhrgebiet auch in der Zwischenkriegszeit noch vergleichsweise hoch lagen, drückte sich darin doch vorrangig der »Basiseffekt« einer stark überrepräsentierten fortpflanzungsfähigen Generation aus. Zu dieser Aufstellung sei vorweg bemerkt, dass sich auch für 1905 kein vollständiges Altersbild deutscher Großstädte in ausreichender Präzision erstellen lässt. So wurde außer in München in bayerischen Großstädten nach nicht vergleichbaren Altersgruppen gezählt; andernorts fasste man bestimmte Altersgruppen zusammen oder setzte die Abgrenzungen leicht abweichend. Wichtiger erscheint, dass eine große Gruppe rasch wachsender Industriestädte, darunter »junge« Städte wie Ludwigshafen, Herne, Recklinghausen, schließlich auch Hamborn, jenes größte Dorf Preußens nach der Jahrhundertwende, noch nicht miterfasst wurde. Andererseits wird das Bild der »alten« Großstädte durch rasch wachsende, noch nicht eingemeindete Vororte bzw. Vorstädte zum Teil  verfälscht, so beispielsweise im Falle Hannovers (Linden), Kölns (Mülheim a. Rh.) u. a., weniger im Falle Hamburgs (Altona, Harburg) und Berlins (Rixdorf, Schöneberg, Charlottenburg, Wilmersdorf u. a.). Überdies geht in derartige Aufstellungen naturgemäß stets eine Fülle von je besonderen Einflüssen ein, so dass jeder Typisierungsversuch auf immense Probleme stößt. Bevor ein solcher Versuch in zusammenfassender Interpretation unternommen wird, seien solche Einflüsse an zwei Beispielen genauer dargestellt. Für die Entwicklung der Altersstruktur der Stadt Berlin lassen sich zuverlässige Zahlenreihen erstellen, da in der Hauptstadt – mit unbedeutenden Ausnahmen67 – im Untersuchungszeitraum aus hier nicht darzulegenden Gründen keine Eingemeindungen vorgenommen wurden. 67 1878 und 1881 wurden Ortschaften mit zusammen 2360 Einwohnern nach Berlin eingemeindet; s. Landsberg, S. 94.

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Bei Einbezug der Berliner Riesen-Vorstädte würde das in diesen Zahlen ausgedrückte Bild eher verstärkt:68 Berlin, das in den Gründerjahren eine Phase raschesten Wachstums erfahren hatte, verlor an »Jugendlichkeit« sowohl soweit die jüngsten Altersgruppen als auch, in geringerem Maße, soweit die hauptsächlich »mobilen« Altersgruppen betroffen waren, während in der Reichshauptstadt die Altersgruppe zwischen 30 und 60 Jahren eine starke Zunahme verzeichnete und das Arbeitskräftepotenzial hierdurch immer noch sehr bedeutend über dem Reichsdurchschnitt (vgl. Tab. 12: 15- bis 60jährige) gehalten werden konnte. Proportional zum Rückgang der jüngsten verzeichnete die älteste Einwohnergruppe einen beträchtlichen Zuwachs  – kurz, die Hauptstadt »alterte«, ohne dass selbstverständlich angesichts des anhaltenden, freilich ganz überwiegend in die Vorstädte verlagerten Wachstums auch nur eine einzige Altersgruppe der absoluten Zahl nach abgenommen hätte. Auch bei Einbezug der Vorstädte in die Untersuchung wird man im Falle Berlins, dem insoweit noch am ehesten München ähnelt, zu dem Schluss kommen, dass die Veränderung der Altersstruktur auf ein stärkeres Hervortreten der reichshauptstädtischen Funktionen nicht nur im Bereich von Verwaltung und Dienstleistung, sondern auch im engeren industriellen Bereich zurückgeführt werden muss. Zwischen der Zunahme der 30- bis 60jährigen, weniger fortpflanzungsaktiven Altersgruppe und dem Rückgang des Anteils der jüngsten Einwohnergruppen bestand ein enger Zusammenhang. Ein anderer, ebenfalls wachstumsbezogener Einflussfaktor sei am Beispiel von Hamborn dargelegt. Während im Reich das Verhältnis der Geschlechter in den einzelnen Altersgruppen bei typischen Nuancen  – Überwiegen der männlichen Seite bis zum Alter von 40 Jahren; höhere Lebenserwartung der Frauen  – ein ausgeglichenes Bild zeigt, entfielen in Hamborn im Jahre 1910 auf 6 Männer kaum 4 Frauen. Die stark überproportionale Besetzung der beiden jüngsten Altersgruppen kehrt sich bei den 10- bis 15jährigen in eine deutliche Unterbesetzung um. Im Alter ab 15 Jahren beginnt infolge der männlichen Zuwanderung das groteske Missverhältnis zwischen Männern und Frauen, das zwischen 15 und 25 Jahren bei 2 zu 1, zwischen 25 und 45 Jahren ungefähr bei 3 zu 2 liegt und sich entsprechend der natürlichen Absterbeordnung erst bei den mehr als 60jährigen zugunsten der Frauen wendet. Die Zahlen zeigen vor dem Hintergrund der Altersbilder in Tabelle VII,12 vor allem zweierlei: Erstens wird man in Städten mit stark ausgeprägten »Altersbäuchen«, d. h. weit überproportional besetzten »mobilen« Altersgruppen zwischen rund 15 und 40 Jahren, insbesondere innerhalb der großen Industrielandschaften mit einer ebenso ausgeprägten Unterbesetzung des weiblichen Bevölkerungsteils zu rechnen haben; mit anderen Worten: Die hohen Geborenenziffern solcher Orte wurden von einer sehr viel geringeren Anzahl gebärfähiger Frauen getragen. Das Spiegelbild dieser 68 Vgl. bes. die umfangreiche Statistik der Altersklassen auch für die Vororte: Statist. Jb. d. Stadt Berlin, Jg. 33, 1912/14, S. 62–76.

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Tab. 14: Altersstruktur der Bevölkerung nach Geschlechtern im Deutschen Reich und in Hamborn 191069 Altersgruppe

Auf die linksbez. Altersgruppe entfallen in Prozent der männl. bzw. weibl. Bevölkerung in Deutsches Reich

Hamborn

männlich

weiblich

männlich

weiblich

m+w

0–5

12,24

11,76

15,94

21,41

18,26

5–10

11,59

11,20

12,37

15,78

13,82

10–15

10,83

10,49

8,09

11,20

9,41

15–21

11,67

11,31

12,35

8,33

10,64

21–25

6,92

6,75

9,69

6,70

8,42

25–30

7,83

7,66

12,14

9,14

10,86

30–40

14,05

13,75

18,02

15,49

16,94

40–50

10,46

10,51

7,93

6,95

7,51

50–60

7,32

7,92

2,48

2,80

2,61

über 60

7,09

8,65

0,99

2,20

1,50

0–15

34,66

33,45

36,40

48,39

41,49

0–30

61,08

59,17

70,58

72,56

71,41

15–60

58,25

57,90

62,61

49,41

58,48

32,0 Mio.

32,9 Mio.

58.452

43.251

101.703

Bevölkerung insgesamt

Erscheinung  – der starke Überhang an heiratsfähigen Männern in solchen Industriestädten  – veranlasst gleichermaßen zu Schlussfolgerungen, wird man doch vor diesem Hintergrund die These wagen dürfen, dass die jüngst in der Forschung vermehrt erarbeitete, überstarke, meist durch das Streben nach Statusverbesserung und gelegentlich als Protestverhalten erklärte Fluktuation in den schwerindustriellen Bevölkerungsagglomerationen70 nicht zuletzt von einer 69

69 Errechnet nach den Angaben bei Neuhaus, S. 472; vgl. f. d. Wirkungen der Wanderung auf die Geschlechterverteilung: SDR, Bd. 240, 1915, S. 38*–40*. 70 Vgl. bes. den in Anm. 12 zit. Aufsatz von Langewiesche sowie die Beiträge von Wolfgang v. Hippel, Dieter Langewiesche, Hermann-Josef Rupieper, Heilwig Schomerus und Hermann Schäfer in dem Sammelband, hg. v. Conze u. Engelhardt (Anm. 37).

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so simplen Sache wie der nicht einmal notwendig bewussten Suche nach dem geeigneten Ehepartner bestimmt gewesen sein kann. Zweitens erweist Tab. 14 anhand der Unterbesetzung der Altersgruppe zwischen 10 und 15 Jahren, dass die Zuwanderungen, wie schon Wirminghaus und Brückner hervorgehoben haben, »gewissermaßen staffelweise« erfolgten71 und darin den konjunkturellen Rhythmen entsprachen, so dass in den Industriestädten auch die kumulative Verjüngung, wenn auch gemildert, stoßweise voranschritt. Dies müsste sich bei detaillierter Untersuchung insbesondere monoindustriell geprägter Orte in mehreren, gleichsam rhythmischen »Altersbäuchen« in den Alterspyramiden niederschlagen. Selbstverständlich wirkten sich in anderen Städten je besondere Wanderungsformen aus. So findet man gewöhnlich in den durch Verwaltungs- und sonstige Dienstleistungsfunktionen geprägten, stark mittelständischen Haupt- und Handelsstädten ein Überwiegen des Frauenanteils in den Altersgruppen zwischen 10 und 20 Jahren, weil viele Dienstmädchen von solchen Städten angezogen wurden.72 Am Beispiel Berlins wurde bereits darauf hingewiesen, dass Überbesetzung der höheren Altersgruppen im »produktiven« Alter, der etwa 30- bis 60jährigen also, auf die Zuwanderung hochqualifizierter Erwerbspersonen auch in Gestalt von Familienwanderung zurückgeführt werden muss. Selbstverständlich wirkt sich in den Zahlenbildern der Tab. 12 neben dem Anteil der jeweiligen Militärbevölkerung einer Stadt auch die Herkunftsregion der Zuwanderer beispielsweise in einer höheren Gebürtigkeit polnisch-katholischer Arbeiterfamilien aus.73 Berücksichtigt man die eben erarbeiteten Präzisierungen, so lassen sich im Prozess kumulativer Verjüngung der Groß- und Industriestädte im Wesentlichen drei Typen mit Untergruppen unterscheiden: Erstens der Typ der ganz besonders in der zweiten Industrialisierungsphase, seit den 1890er Jahren, rasch wachsenden Städte. Für dieses Wachstum gab die rapide Expansion der Schwerindustrie (Bergbau und Hütten) den Ausschlag; daneben spielten metallverarbeitende und »neue« Industrien (Chemie, Elektrizität) eine Rolle. Diese überwiegend als »Industriekommunen« zu charakterisierenden Städte zeichneten sich durch sehr hohe Geborenenziffern und einen entsprechenden Anteil der jüngeren Altersgruppen sowie durch ausgeprägte Überbesetzung der »mobilen« Altersgruppen aus; alte Menschen waren in ihnen selten, und insgesamt war der produktive, d. h. potenziell erwerbstätige Be71 Wirminghaus, S. 174; Brückner, S. 627. 72 Zur Geschlechterverteilung im Altersbild der Großstädte s. Statist. Jb. d. dt. Städte, Jg. 16, 1909, S. 42 ff. 73 Eine Gliederung von Städtegruppen nach der Gebürtigkeit s. bereits bei Brückner, S. 162 (für 1861–85); ähnlich vielsagend ist die Berechnung der Auswärtsgeborenen nach verschiedenen Altersstufen, ebd., S. 634 an versch. Beispielen 1875–1885; regional differenzierte Geborenenziffern s. für 1876–1910 bei Neuhaus, S. 478 f. – Einigen Einfluss auf die Statistik der Altersgruppen hat auch die Anzahl der jeweils stationierten Militärpersonen gehabt; vgl. hierzu für 1910 (Anteil der Militärpersonen im Durchschnitt von 48 Großstädten: 1,63 %) SDR, Bd. 240, 1915, S. 40*, sowie die Diskussion bei Kuczynski, S. 70 f.

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völkerungsteil sowohl im Vergleich mit dem Reichsdurchschnitt als auch, und besonders, mit den übrigen Stadttypen sehr schwach ausgeprägt. Die genannten Kennzeichen sind in Städten mit bereits älterer Arbeitsbevölkerung (Essen, Dortmund) schwächer erkennbar. Zweitens der Typ der bereits von der ersten Industrialisierungsphase erfassten, ursprünglich oft textil-, aber auch metallindustriellen Städte, die an der neuerlichen Expansionsphase wiederum teilhatten. Die Zuwanderung jüngerer Arbeiter in diese meist bereits in den Rang von Großstädten aufgestiegenen Kommunen hielt an, so dass sich die Geborenenziffer, und mit ihr der Anteil der jungen Altersgruppen, nahe dem Reichsdurchschnitt stabilisierte, dem auch bereits der Anteil der Altersgruppen zwischen 40 und 60 Jahren ungefähr entsprach. Die »Jugendlichkeit« dieser Städte stützte sich mithin ausschließlich auf die Überbesetzung der Altersgruppen zwischen 15 und 30, zum Teil bis 40 Jahren und verursachte die klare Überbesetzung der produktiven Altersgruppen überhaupt. Drittens der Typ der Haupt- und Handelsstädte, unter denen sich Verwaltungszentren mit einer überwiegend älteren von Dienstleistungs- und Handelszentren mit einer überwiegend jüngeren Zuwanderung unscharf abgrenzen lassen. Bei niedriger Gebürtigkeit und weit unterdurchschnittlicher Besetzung der unteren Altersgruppen lag der Anteil der produktiven Bevölkerung mit bis zu 11 Prozentpunkten über dem Reichsdurchschnitt außerordentlich hoch. Die erstgenannte Städtegruppe befand sich zum Teil noch auf dem Weg zur Großstadt und erreichte diesen Rang überwiegend noch vor Ausbruch des Weltkriegs. Diese und die zweite Gruppe bestimmten nach der Jahrhundertwende rasch zunehmend das Bild der deutschen Großstädte; hier lag der Anteil der Altersgruppen bis zu 30 Jahren deutlich, zum Teil erheblich über dem Reichsdurchschnitt. Solche Jugendlichkeit wurde in erster Linie durch weit überdurchschnittliche Geborenenziffern, weiterhin durch einen starken Anteil an jüngeren »mobilen« Altersgruppen erzielt. Es verdient besondere Aufmerksamkeit, dass in den Haupt- und Handelsstädten das eigentliche Arbeitskräftepotenzial der zwischen 15- und 60jährigen ausnehmend stark vertreten war, während die industriellen Großstädte – dies ein überraschendes Ergebnis – bei großem Kinderreichtum nur eine relativ kleine arbeitsfähige Bevölkerung beherbergten.74 Ähnlich bedeutsam erscheint, dass der Anteil der alten Menschen (60 Jahre und älter) in keiner Groß- und Industriestadt den Reichsdurchschnitt erreichte, vielmehr überall erheblich, in den industriellen Ballungsräumen sehr stark unter Letzterem lag. Man wird hierfür keineswegs voreilig Rückwanderung verantwortlich machen dürfen;75 diese Erscheinung beruhte vielmehr in erster Linie 74 Hamborn – s. Tab. VII,14, Altersgruppen zw. 15 u. 60 – bildete eine Ausnahme, weil zum Zeitpunkt der statistischen Aufnahme die bisher erzielte Zuwanderung und deren Gebürtigkeit die Statistik nahezu allein bestimmten. Die Zuwanderung war in einem immens kurzen Zeitraum erfolgt. 75 Ähnlich skeptisch: Bade, Arbeitsmarkt, S. 173. – Zum eben erst in der Forschung wieder betonten Problem der Altersverarmung in der Industriearbeiterschaft vgl. die Hinweise unten Anm. 80.

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auf dem statistischen Effekt von raschem Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung und Gebürtigkeit. Eine nähere Untersuchung einerseits der jeweiligen großstädtischen Erwerbsstruktur, andererseits der erwerbsspezifischen Altersbilder im Deutschen Reich würde die gewonnenen Ergebnisse stützen. Alte regionale und bundesstaatliche Verwaltungs- und Dienstleistungszentren blieben im Kaiserreich die bevorzugten Wohnplätze für Freiberufler und Rentiers; die Hansestädte blieben durch ein größtenteils freilich von abhängig Beschäftigten getragenes Handelsgewerbe geprägt.76 Andererseits lässt sich zeigen, dass die in den beiden erstgenannten Stadttypen vorherrschende lohnabhängige Erwerbsbevölkerung im Reichsdurchschnitt bedeutend jünger als die Gesamtbevölkerung war,77 wozu auch die schichten- und berufsspezifische Mortalität beitrug. Wichtige Differenzierungen ergeben sich aus der Gegenüberstellung verschiedener Berufsgruppen nach Geborenenziffern und Altersstrukturen. So ist von den Bergarbeitern seit Langem deren außergewöhnlich hohe Fruchtbarkeit bekannt,78 die indessen, auch nach den Ergebnissen der vorliegenden Studie, weniger auf Merkmale der Berufstätigkeit oder auf die besonderen Gesellungsformen der Bergarbeiter­

76 Eine bequeme Zusammenstellung der großstädtischen Erwerbsstruktur nach der Berufszählung von 1907 findet sich beispielsweise bei Böhmert, S. 246 f. 77 Die wichtigsten Quellen sind: Vjh. z. SDR, Jg. 6, 1897, H. 2, Erg.heft, S. 1–52 sowie SDR III, 1899, S. 304*-310* (Berufszählung 1895); Vjh. z. SDR, Jg. 9, 1900, H. 4, S. 114; dass. Jg. 15, 1906, H. 4, S. 200; dass., Jg. 20, 1911, H. 4, S. 109; Statist. Jb. f. d. Dt. Reich, Jg. 31, 1910, S. 6–11 u. Jg.  48, 1929, S.  24 f.; an speziellen Erhebungen u. Berechnungen, z. T. auf der Grundlage der Gewerbeinspektoren-Berichte: Das Lebensalter der Industriearbeiter in den wichtigsten Gewerbezweigen, in: Reichs-Arbeitsblatt, Jg.  12, 1914, S.  216–225, 314–322, 398– 402, 478–483, 574–579, 653–663, dazu Sonder-Beilage zu Nr. 4, Reichs-Arbeitsblatt, Jg. 12, 1914, »Übersichten über die Altersgliederung der Industriearbeiter nach Gewerbezweigen und Bezirken«; Sonder-Beilage zum Reichs-Arbeitsblatt Nr. 3, März 1917; »Der Altersaufbau der gewerblichen Lohnarbeiter in Deutschland verglichen mit dem in Österreich und Frankreich«, Berlin 1917; wichtig auch: Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgegend. Untersuchungen über den Einfluss von Geschlecht, Alter und Beruf, bearb. im Kaiserl. Statist. Amte, 4 Bde. in 1, Berlin 1910, S. ­27–35; die »klassische« Studie stammt von Syrup, Friedrich, Der Altersaufbau der industriellen Arbeiterschaft, in: Archiv für exakte Wirtschaftsforschung, Jg. 6, 1914, S. 14–112; vgl. auch Stieda, Wilhelm, Jugendliche Arbeiter, in: HSt, Bd. 5, Jena 19103, S. 725–740; aus der Forschungsliteratur s. bes. Schäfer, Hermann, Die Industriearbeiter. Lage und Lebenslauf im Bezugsfeld von Beruf und Betrieb, in: Hans Pohl (Hg.), Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870–1914), Paderborn 1979, S. 144–216, 166, 171–175, 209. 78 Vgl. Pyszka, Hannes, Bergarbeiterbevölkerung und Fruchtbarkeit. Eine Studie der Bevölkerungsbewegung der deutschen Bergarbeiterbevölkerung, München 1911; Heymann, Bruno u. Freudenberg, Karl, Morbidität und Mortalität der Bergleute im Ruhrgebiet, Essen 1925, bes. S. 10–13; andere Berufe: Bergner, L., Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Beruf und Fruchtbarkeit unter bes. Berücksichtigung d. Kgr. Preußen, in: Zs. d. Kgl. Preuß. Statist. Landesamts, Jg. 52, 1912, S. 225–258.

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kommunen als vielmehr auf die Funktion des Bergbaus als industrieller Eingangsberuf, mithin auf die vorwiegend ländliche Herkunft dieser Arbeiter der ersten Generation zurückgeführt werden sollte.79 Ebenso bekannt ist die relative »Vergreisung« der ländlichen Bevölkerung, erkennbar weniger zunächst in einem Rückgang der jüngeren Altersgruppen als vielmehr in einer fortschreitenden Dezimierung der produktiven Altersgruppen entlang den Rhythmen der »Landflucht«. Eine ähnliche »Vergreisung« erfuhren die meisten Heimarbeitergruppen, und auch die Textilarbeiterschaft weist nach der Jahrhundertwende einen deutlich erhöhten Altersdurchschnitt auf,80 während sich innerhalb der handwerklichen Gewerbe widersprüchliche Entwicklungen zeigen. Im Ganzen ist unverkennbar, dass die Schwerindustrie, der Maschinenbau und die »neuen« Großindustrien besonders jüngere Arbeiter anzogen. In der zweiten Industrialisierungsphase korrespondiert der kumulativen Großstadtverjüngung eine kumulative Arbeiterverjüngung.

5. Neben der jeweiligen großstädtischen Erwerbsstruktur und zentralörtlichen Funktion hat für die Unterscheidung der Großstadttypen der Zeitpunkt ihrer Industrialisierung den Ausschlag gegeben. Dabei sind die Verjüngungsprozesse der Industriegroßstädte um die Jahrhundertwende in einer gewiss weniger ausgeprägten Form in den älteren Großstädten ungefähr im Abstand einer Generation vorweggenommen worden;81 in der neuerlichen Expansionsphase hatten sich die Altersbilder der letztgenannten freilich keineswegs »normalisiert«, schlug sich hier doch zu allererst der mit dem säkularen Wandel der genera­ tiven Strukturen verbundene Rückgang der Geborenenziffer in aller Deutlichkeit nieder. Dieser säkulare Trend, der keineswegs auf Deutschland beschränkt blieb, ging zwar von den vordringenden (groß-) städtischen Lebensformen aus, wurde jedoch vor 1914 von den Folgen eines gleichsam importierten Bevölkerungswachstums – in Gestalt sowohl importierter Arbeitskräfte als auch, mit 79 Vgl. Wrigley, E. A., Industrial Growth and Population Change. A Regional Study of the Coalfield Areas of North-West-Europe in the later Nineteenth Century, Cambridge 1961, S. 134 f. u. ö.; jetzt bes.: Haines, Michael R., Fertility and Occupation. Coal Mining Popula­ tions in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries in Europe and America, Cornell 1975 (Western Societies Program Occasional Paper 3), S. 7, 11 u. ö.; ders.; Fertility and Occupation. Population Patterns in Industrialization, New York 1979. 80 Über die »Abwendung der Industrie vom Alter« s. bereits Briefs, Götz, Revierbildung und provinziale Streuung der Industrie, in: ASSP, Bd. 67, 1912, S. 29–52, 40; Kracauer, Siegfried, Die Angestellten, 1930, Neudruck Allensbach 1959, S. 37, 44 f.; Neuhaus, S. 412–423, jetzt bes. Schäfer, S. 204, 211 ff. 81 Hinweise hierzu bei Brückner, s. etwa S.  627, Berechnung der »durchschnittlichen Mehr­ einwanderung« in Großstädten nach verschiedenen Zeitabschnitten.

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ihnen, importierter Geborenenziffern  – überwuchert und brach erst in den 1920er Jahren durch. Damit erweist sich die Phasenverschiebung im Rückgang zwischen ländlicher und städtischer Geborenenziffer als letztlich strukturbildend für die Großstadtverjüngung vor 1914, die sich ähnlich beispielsweise in den rasch wachsenden Industriestädten der Vereinigten Staaten zeigen lässt82 und daher als ein Signum des Urbanisierungsprozesses in dieser Industrialisierungsphase gelten darf. Aus den Beobachtungen über die Entwicklung der großstädtischen Alters­ struktur in der wohl entscheidenden Urbanisierungsphase zwischen 1890 und 191083 resultieren u. E. nicht zu unterschätzende Folgerungen für die in Deutschland allerdings wenig entwickelte Urbanisierungsforschung.84 Dabei liegen einige eher unmittelbare Wirkungen auf der Hand und seien vorab knapp umrissen. In erster Linie lässt sich die strukturbildende Qualität stark jugendgewichtiger Altersbilder in rasch industrialisierenden Städten, Ballungsräumen und Großstädten aus den Belastungen ersehen, die der Entfaltung urbaner Infrastrukturen hierdurch sowohl von der Angebots- als auch von der Nachfrageseite her widerfuhren. Denn einerseits musste in solchen Regionen die städtische Planungs- und Finanzkraft schon unter den Bedingungen einer vergleichsweise gering dimensionierten, zudem wenig steuerkräftigen produktiven Arbeitsbevölkerung starken Beschränkungen unterliegen, während ihr andererseits aus dem Vorhandensein großer lastender Bevölkerungsgruppen dringende Aufgaben erwuchsen, so vor allem mittelbar im Bildungs- und Erziehungswesen,85 auch in

82 Vgl. bereits die für ihre Zeit vorzügliche, international vergleichende Studie von Weber, Adna Ferrin, The Growth of Cities in the 19th Century. A Study in Statistics, New York 1899, S. 301, sowie Gist, Noel P. u. Halbert, L. A., Urban Society, New York 19614, S. 254–256; bes. Freedman, Ronald, Migration Differentials in the Cities as a Whole, in: Paul K. Hatt u. Albert J. Reiss (Hg.), Cities and Society. The Revised Reader in Urban History, 1951, New York 1964, S. 367–382, 369–371. 83 Vgl. etwa Tipton, Frank B., Regional Variations in the Economic Development of Germany During the Nineteenth Century, Middletown 1976, S. 94–97, sowie die Studien von Köllmann (s. Anm. 9), bes.: Der Prozeß der Verstädterung in Deutschland in der Hochindustrialisierungsperiode, in: ders., Bevölkerung, S. 125–139. 84 Anstelle umfassenderer Kritik sei etwa darauf hingewiesen, dass noch in den Beiträgen des repräsentativen und nützlichen Sammelbands von Jäger, Helmut (Hg.), Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter, Köln 1978, die historische Demografie der Großstadt ausschließlich als Wachstumsindikator herangezogen, nicht jedoch in ihren Komponenten erfasst und in ihrer strukturellen Bedeutung analysiert wird. Vgl. etwa Lees, Andrew, Historical Perspectives on Cities in Modern Germany: Recent Literature, in: Journal of Urban History, Jg. 5, 1978/79, S. 411–446, sowie bes.: Reulecke, Jürgen u. Huck, Gerhard, Urban history research in Germany: its development and present condition, in: Urban History Yearbook, 1981, S. 39–54. 85 Vgl. bes. Reulecke, Jürgen, Von der Dorfschule zum Schulsystem. Schulprobleme und Schulalltag in einer »jungen« Industriestadt vor dem Ersten Weltkrieg, in: ders. u. Wolfhard ­Weber (Hg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 247–271, bes. 258 f.

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der Wohnungsfürsorge oder im Armenwesen86 und in vielen anderen Bereichen. Starke Jugendlichkeit einer Stadt war, wie sich in den Krisenjahren der Weimarer Zeit rasch erweisen sollte, zudem ein unsicherer Wechsel auf die Zukunft, lag in ihr doch zumindest die Möglichkeit struktureller Arbeitslosigkeit kommender Jahrzehnte begründet, sofern es nicht gelingen sollte, das Angebot an Arbeitsplätzen zu erweitern und zu diversifizieren. Es waren leidvolle Erfahrungen, die auf die Stadtverwaltungen der Industrieregionen warteten. Hinzu kam ein weiteres: das Problem »Jugend« an sich, fassbar in der Herausbildung bisher kaum erforschter großstädtischer Jugendkulturen, eigenständiger Gruppenbildungen und Kommunikationsherde am Rande der und neben den »Welten« der Erwachsenen. Dabei sollte aus dem raschen Anstieg vor allem der Jugendkriminalität in den Industrieregionen um die Jahrhundertwende87 angesichts der demografisch-strukturellen Disposition nach unseren Beobachtungen kein voreiliger Schluss gezogen werden: Dass Jugendkriminalität zunimmt, wenn die Zahl potenzieller Delinquenten zunimmt, darf nicht verwundern, ohne dass damit andere ursächliche Faktoren in Abrede gestellt werden sollen; es käme hier eben auf präzise, Zusammenhänge erhellende Fallstudien an. Dasselbe gilt für die bisher kaum bekannte Motivation, Struktur und Form jugendlicher Protestbewegungen in Groß- und Industriestädten zwischen Jahrhundertwende und Kriegsausbruch.88 Phänomene wie diese veranlassen Überlegungen zu den eher mittelbaren ­Folgen unserer Beobachtungen. Schließt man sich der Feststellung Rolf Sprandels über »die Bedeutung des demographischen Übergewichts der Jugend innerhalb der Gesellschaft für die Tendenz zum kulturellen und gesamtgesellschaft­

86 Vgl. Anm. 16 sowie u. a. Wischermann, Clemens, Wohnungsnot und Städtewachstum. Standards und soziale Indikatoren städtischer Wohnungsversorgung im späten 19. Jh., in Conze u. Engelhardt (Hg.), S. 201–226, bes. 226 mit differenzierenden Bemerkungen; Balkenhol, Bernd, Armut und Arbeitslosigkeit in der Industrialisierung – dargestellt am Beispiel Düsseldorf 1850–1900, Düsseldorf 1976; Sachße, Christoph u. Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1980, S. 257 ff. 87 Vgl. die Aufsätze von Eric A. Johnson u. Vincent E. McHale u. a.: Socioeconomic Aspects of the Delinquency Rate in Imperial Germany, 1882–1914, in: Journal of Social History, Jg. 13, 1979/80, S. 384–402, 391 f., 398. 88 Als Fallstudien jugendlichen Protests unter je spezifischen Bedingungen s. Evans, Richard J., »Red Wednesday« in Hamburg: Social Democrats, police and Lumpenproletariat in the suffrage disturbances of 17 January 1906, in: Social History, Jg. 4, 1979, S. 1–31, bes. 23; Tenfelde, Klaus, Die »Krawalle von Herne« im Jahre 1899, in: Internat. Wiss. Korrespondenz z. Geschichte d. dt. Arbeiterbewegung, Jg. 15, 1979, S. 71–104; zusammenfassend und vergleichend: Tannenbaum, S. 296–348, Kap. »Radikale Protestbewegungen‹; vgl. ferner Tilly, Charles u. a., The Rebellious Century 1830–1930, London 1975, S. 225 ff.; zur z. T. im Zusammenhang der »Urban History« entfalteten, auch in diesem Punkt weit fortgeschrittenen US-amerikanischen Forschung s. etwa Pickvance, C. G., On the Study of Urban Social Movements, in: The Sociological Review, NS 23, 1975, S. 29–49.

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lichen Wan­del«89 an, dann erfährt, dies sei zunächst allgemein hervorgehoben, die in der For­schung wohl kaum umstrittene Verkrustung der gesellschaft­lichen und politischen Verhältnisse im spätwilhelminischen Reich aus der Perspektive nicht nur der groß- und industriestädtischen, sondern auch gesamtgesellschaftlichen demogra­fischen Entwicklung zusätzliche Brisanz. Nicht nur die Arbeiterbewegung, nicht nur das reformfreudige linksliberale oder auch konfessionelle Bürgertum liefen Sturm gegen die Bastionen politischer Macht; vielmehr bahnte sich, langfristig wirksamer, ein die Folgen industriestaatlichen Wandels begleitender, schwer er­kennbarer demografischer Wandel von vorläufig un­ gewisser innovatorischer Kraft an. Wenn dies so war, dann bedürfen die vermittelnden Zusammenhänge einer konkretisierenden Erhellung. Von besonderer Konkretheit wäre eine gleich­sam materialistische Deutung solcher Zusammenhänge, wie sie bereits der »Klas­siker« der Historiografie zur Arbeiterjugend­ bewegung, Karl Korn, festgeschrie­ben hat: dass nämlich »eine bestimmte, im Gesellschaftsganzen eine gesellschafts­notwendige Funktion ausübende Gruppe von Gesellschaftsmitgliedern erst rein zahlenmäßig eine gewisse Stärke erreicht haben [muß], ehe sie beginnt, sich als Bewegung im eigentlichen Sinne zusammenzuschließen, ihre Rechte und Forde­rungen dem Gesellschaftsganzen gegenüber bewußt zu formulieren.«90 An der funktionalen Deutungskraft dieser These besteht, denkt man etwa an das Beispiel der Jugendkriminalität, kaum Zweifel. Dennoch sei an dieser Stelle eine skeptische Überlegung eingefügt. War nicht, so ist zu fragen, die Ermög­ lichung des Alters, die immense Steigerung der Lebenserwartung ebenso ein Signum gerade auch der Hochindustrialisierung wie die allgemeine Verjüngung der Gesellschaft und insonderheit die Großstadtverjüngung überwiegend in den in­dustriellen Ballungsräumen? Wer im Jahrzehnt nach der Reichsgründung geboren wurde, konnte durchschnittlich ein Lebensalter von 35,6 (Männer) bzw. 38,5 Jah­ren (Frauen) erwarten; im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende war die durch­schnittliche Lebenserwartung für beide Geschlechter um mehr als ein Viertel ge­stiegen. Schließt man den Rückgang der Säuglingssterblichkeit aus, legt also die Lebenserwartung der Einjährigen zugrunde, dann betrug die Steigerungsrate im selben Zeitraum immer noch knapp 19 Prozent.91 89 Sprandel, Rolf, Historische Anthropologie. Zugänge zum Forschungsstand, in: Saeculum, Jg. 27, 1976, S. 121–142, 132. 90 Korn, Karl, Die Arbeiterjugendbewegung. Einführung in ihre Geschichte, Berlin 1922, S. 9; Korns eigener statistischer Nachweis (S. 16 f.) überzeugt jedoch nicht, weil der in der aggregierten Betrachtung festgestellten Zunahme der Anzahl jugendlicher Arbeiter, Angestellten und Lehrlinge beiderlei Geschlechts zwischen 1895 und 1907 um rund 21 Prozent allemal das allgemeine Bevölkerungswachstum im selben Zeitraum um rund ein Viertel entgegenzuhalten wäre. Hier führt, wie der vorliegende Beitrag zeigt, erst die Auflösung der aggregierten Daten weiter. Korn bemerkt dann auch an anderer Stelle, was wiederholt für die allgemeine Jugendbewegung konstatiert wurde: dass der Ursprung der Arbeiterjugend­ bewegung in den Großstädten lag. 91 Nach Hohorst u. a., S. 33.

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Definierte sich, aus der Gewiss­heit eines durchschnittlich erreichbaren und erreichten Alters, Jugend gleichsam neu? Wie würde sich das Verhältnis der Generationen unter den durch Fertilität und Mortalität veränderten Bedingungen ordnen?92 An Indizien für eine solche Neubestimmung und Beziehungsänderung mangelt es nicht. Wie sehr das Aufkommen nicht etwa von Jugend und Jugendlichkeit überhaupt, sondern von Bewusstheit über die Jugend und ihre eigenen Probleme die pädagogischen, sozialkritischen und politischen Auseinandersetzungen noch zunehmend seit der Jahrhundertwende beherrschte, wie sich die Konfessionen, die Verbände und schließlich auch die Parteien des Jugend­ problems, oft in Gestalt von »Jugendfürsorge«,93 angestrengt annahmen – darüber belehrt schon ein ober­f lächlicher Blick in Tageszeitungen, Verbandsperiodika und sozialkritisches Schrifttum, darüber zeigt sich die Forschung überdies gut informiert.94 Amerika­nische Jugend- und Kulturhistoriker haben der deutschen Gesellschaft um die Jahrhundertwende, übrigens vorwiegend an literarischen Quellen, geradezu die Entdeckung von »Adolescence« unterstellt.95 Der Terminus ist nicht einfach zu übersetzen; er bezieht sich auf die Altersstufe der Heranwachsenden zwischen Ju­gend und Erwachsenensein, auf das Jünglingsalter, und zielt auf die besonderen individualpsychologischen Probleme dieser Altersgruppe. In der Tat begann man gegen Ende des 19. Jahrhunderts, Jugend und Jugendlichkeit eine eigene Idee zu unterstellen, und von hier zur Ausformung von Jugendideologien war es nicht weit. Das Gefüge der Generationen ordnete 92 Vgl. etwa die Überlegungen bei Katz, Michael B. u. Davey, Ian E., Youth and Early Industrialization in a Canadian City, in: John Demos u. Sarane Spence Boocock (Hg.), Turning Points: Historical and Sociological Essays on the Familiy, Chicago 1978, S. 81–119, bes. 82 f.; s. auch: Nipperdey, Thomas, Jugend und Politik um 1900, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 338–359, 339 f.; auch Aufmuth, S. 74 ff. 93 Beispiele zum Jugendproblem »im Vordergrund der öffentlichen Diskussion«: Reicher, Heinrich, Die Entwicklung und der gegenwärtige Stand der Jugendfürsorge im Deutschen Reiche und in Österreich, in: Am Born der Gemeinnützigkeit. Festgabe zum 80. Geb. v. ­Victor Böhmert, Dresden 1909, S.  321–329; aus konfessioneller Sicht: Heitmann, Ludwig, Großstadt und Religion, 2. Teil: Der Kampf um die Religion in der Großstadt, Hamburg 1919 (T. 1 erschien 1913), S. 165–209 (»Jugendpflege ist das Schlagwort geworden«; die Jugendfrage sei »die Lebensfrage der Zukunft«). 94 Vgl. etwa Nipperdey, S. 347 ff.; im Übrigen zentral: Rüegg, Walter (Hg.), Kulturkritik und Jugendkult, Frankfurt a. M. 1974 (darin bes. S. 39–46: Szemkus, Karol, Gesellschaftliche Bedingungen zur Entstehung der dt. Jugendbewegung); aus der Fülle der Spezialuntersuchungen etwa: Saul, Klaus, Der Kampf um die Jugend zwischen Volksschule und Kaserne, in: Militärgeschichtl. Mitteilungen 1971/I, S. 97–143. 95 Am Beispiel von Wedekinds »Frühlingserwachen«: Fishman, Sterling, Suicide, Sex, and the Discovery of the German Adolescent, in: History of Education Quarterly, Jg. 10, 1970, S.  170–188; umfassendere Deutung: Gillis, John R., Youth and History. Tradition and Change in European Age Relations 1770-Present, New York 1974, S.  95 ff. (»Discovery of Adolescence«). Eine dt. Übersetzung des Buches erschien unter dem Titel: Geschichte der Jugend, Weinheim 1980.

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sich neu, begann, Konfliktpotenziale auszuprägen96 – in erster Linie, weil Industrialisierung und sozialer Fortschritt den Lebenszyklus gespreizt, Jugend und Alter im Lebenszyklus schärfer voneinander abgegrenzt und unterscheidbaren Rollen zugewiesen, damit jedoch die Entfaltung eigenständiger und im Nebeneinander potenziell konfliktärer Generationen-Bewusstheit in Gang gesetzt hatten. Die Zusammenhänge sind, soviel wird hiermit deutlich, nicht aus nur quantitativen Dimensionen verständlich; ihre Wurzeln liegen tiefer, und zu ihrer Klärung bedarf es, beispielsweise im Rahmen der historischen Fami­ lienforschung, umfassenderer Fragestellungen, in denen der Wechselbezug zwischen Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter nicht aus den Augen gelassen wird. Diese Vertiefung der Argumentation vorausgesetzt, wird verständlicher, dass sich mit der Auseinander-Differenzierung der Altersbilder zwischen Stadt und Land, Groß- und Industriestadt im Rahmen verschiedener Typen, auch eine zunehmende Differenziertheit generationeller Erfahrungsmuster verbinden musste, ohne dass von Zahlen unmittelbar auf Erfahrungen geschlossen werden dürfte. »Generationen« sind mehr als »Altersgruppen«; das sie verbindende Bewusstsein liegt, wie jenes von Rassen, quer zum sozialen Schichtungsprozess und stützt sich nicht so sehr auf große politische Ereignisse – man denke an die Generationen der »Befreiungskriege«, der »Reichsgründung«, »von Langemarck« –› sondern vielmehr auf die mit solchen Ereignissen gewöhnlich eng verknüpften, jedoch sehr viel umfassenderen Sozialisationserfahrungen.97 Dass Generationsbildung darüber hinaus mit demografischen Prozessen gewöhnlich eng verknüpft ist, dafür wurden in diesem Beitrag energische Hinweise gegeben: »Die Folge der Geburten« ist keineswegs »ein kontinuierlich fließender Strom ohne jede Rhythmik und Gliederung«;98 die kumulierenden Effekte der Binnenwanderung und der Zeitverzögerung im Rückgang von städtischer und ländlicher Fruchtbarkeit haben vielmehr während des Städtewachstums Alters96 Zum »Generationenkonflikt« an der Schwelle der Jugendbewegung s. etwa Aufmuth, S. 99 u. ö.; als Regionalstudie auch: Karl, Willibald, Jugend, Gesellschaft und Politik im Zeitraum des Ersten Weltkrieges. Zur Geschichte der Jugendproblematik der dt. Jugendbewegung im ersten Viertel des 20. Jhs. unter besonderer Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen und politischen Relationen und Entwicklungen in Bayern, München 1973, S. 7–12; Utley, ­Philip Lee, Radical Youth: Generational Conflict in the Anfang Movement 1912 -January 1914, in: History of Education Quarterly, Jg. 19, 1979, S. 207–228; Kritik neuerer Studien zur »Jugendkultur«: Waters, Chris, Badges of Half-Formed, Inarticulate Radicalism, in: International Labor and Working Class History, Jg. 19, 1981, S. 23–37. 97 Aus der umfangreichen jüngeren Literatur zum Problem des Generationskonflikts vgl., aus soziologischer Sicht, Murdock, Graham u. McCron, Robin, Klassenbewußtsein und Generationsbewußtsein, in: Axel Honneth u. a. (Hg.), Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen, Frankfurt a. M. 1979, S. 15–38; aus historischer Sicht: Abrams, Philip, Rites de Passage. The Conflict of Generations in Industrial Society, in: Journal of Contemporary History, Jg. 5, 1970, S. 175–190, sowie folgende Anm. 98 Jaeger, Hans, Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einer umstrittenen Kon­ zeption, in: GG, Jg. 3, 1977, S. 429–452, 439.

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bilder geschaffen, die sich, cum grano salis, im Stadt/Land-Vergleich spiegelbildlich verhielten, haben Über- und Unterbesetzungen von Geborenenjahrgängen erzeugt, unter denen die industriestädtischen Geborenenjahrgänge zwischen etwa 1880 und 1914, besonders zwischen 1900 und 1910, der Zahl nach herausragten. Es sollte hinzugefügt werden, dass gerade die letztgenannte Gruppe von Kriegsverlusten im Ersten Weltkrieg kaum, im Zweiten Weltkrieg in geringerem Umfang betroffen war. Es seien, abschließend, einige Hypothesen über die Bedeutung der in besonderem Maße schichtspezifischen Sozialisation dieser industriestädtischen Vorkriegsgeneration für ihr Denken und Verhalten in dem Augenblick, als sie politisch zu handeln begann, gewagt. Kaum wahrscheinlich ist beispielsweise, dass »der traditionelle Unterschied zwischen Jungen und Alten […] auch in weniger leicht fassbaren sozialen Beziehungen« während des Ersten Weltkriegs nachgelassen hätte.99 Eher wurde dieser Unterschied, so durch die kriegswirtschaftlich bedingten sektoralen Verschiebungen und die Einebnung der Lohndifferenzen zwischen Jung und Alt, Qualifiziert und Unqualifiziert, zeitweise und vorübergehend verdeckt. Ob und inwieweit der Jugend bereits für die Vorkriegszeit, um so mehr dann in den Jahren revolutionärer Gärung nach 1918 und während der Weltwirtschaftskrise, eine inhärente Tendenz zum politischen Radikalismus unterstellt werden darf, muss als umstritten gelten: Aus der Sicht der Wahlsoziologie, die im Übrigen wiederholt generationelle Sozialisationserfahrungen im Hinblick auf lebenslange Wahl- Entscheidungshaltungen untersucht hat und hierbei gerade der Vorkriegsgeneration eine maßgebliche Rolle zuwies,100 wird diese Frage gewöhnlich negativ beantwortet,101 während beispielsweise die Streikforschung die Rolle der Jugend in der Trägerschaft sozialer Bewegungen wiederholt erarbeitet hat.102 Hierbei wird man neben den demografischen Entwicklungen gewiss auch den je besonderen Formen und vor allem der Geschwindigkeit sozialen Wandels103 eine ursächliche Be­deutung beimessen müssen. 99 Kocka, Jürgen, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 19782, S. 105. 100 Ein Versuch, das Wahlverhalten 1930 vor dem Hintergrund des »sozialen Volksaufbaus in der Kinderzeit« und »haftende[r] Eindrücke der Jugendzeit« zu erklären, findet sich in tabellarischer Form in der ansonsten wenig ergiebigen Studie von Dix, Arthur, Die Reichstagswahlen 1871–1930 und die Wandlungen der Volksgliederung, Tübingen 1930, S. 34 f.: ähnlich gliedernd: Weiland, Werner, Der Einfluß des Zeitgeschehens auf die Entwicklung des jungen Menschen, dargestellt am Beispiel der Geburtsjahrgänge 1910–1930, in: Soziale Welt, Jg. 4, 1955, S. 163–169. 101 Zusammenfassend mit weiteren Hinweisen: Abrams, S. 176 f. 102 Vgl. etwa Hickey, Stephen, The Shaping of the German Labour Movement: Miners in the Ruhr, in: Richard J. Evans (Hg.), Society and Politics in Wilhelmine Germany, London 1978, S. 215–240; weitere Hinweise: Tenfelde, Klaus u. Volkmann, Heinrich (Hg.), Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München 1981; s. auch Anm. 88. 103 Fallstudie: Tenfelde, Klaus, Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Obb. 1900–1945, München 1982, S. 55 ff. u. ö.

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Betrachtet man die Arbeiterbewegung als das wichtigste Instrument der Ar­ beits- und Alltagssozialisation der Arbeiterschaft neben Schule, Kirche und Mili­tär104 und unterstellt man, dass gerade die Arbeiterschaft von den demografi­schen Umbrüchen betroffen war, dann gewinnen manche Entwicklungen inner­halb der Arbeiterbewegung neues Licht. Dass die Arbeiterjugend am linken Flügel der Partei angesiedelt war, ist nicht zuletzt in der Person Karl Liebknechts evi­dent; dass USPD und KPD in der Weimarer Zeit »jugendliche« Parteien waren – jedenfalls im Vergleich zu einer »vergreisenden« SPD –, ist in der Forschung wie­derholt hervorgehoben worden.105 Anders übrigens, oder besser: phasenverscho­ben, die Entwicklung in den Gewerkschaften: Sie zeichneten sich nach ihren Auf­bruchsjahren 1889/90 durch eine überaus jugendliche Führungsgruppe insbe­sondere in den aufstrebenden Großverbänden aus, mit anderen Worten: Zwi­schen Führung und Mitgliedschaften bestanden vor 1914 keine sehr erheblichen Altersdifferenzen,106 und wo sie aufzukommen schienen, wurden sie »mit ziemli­cher Rücksichtslosigkeit von den Führern unterbunden.«107 Erst der ungeheure Zustrom von Neumitgliedern seit 1917 änderte dies, und nun erfuhren die Gewerkschaften, was der SPD ein Dutzend Jahre zuvor gedroht hatte – scharfe intergenerationelle Auseinandersetzungen zwischen Altund »Novembermitglie­dern« bis hin zur gründlichen Kursänderung auch in

104 Vgl. Ritter, Gerhard A., Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland. Vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin 1980, S. 26 ff. 105 Vgl. bereits Haubach, Theo, Die Generationenfrage und der Sozialismus, in: Soziologische Studien zur Politik, Wirtschaft und Kultur der Gegenwart. Alfred Weber gewidmet, Potsdam 1930, S. 106–120, 110: »Der Altersunterschied zwischen den Generationen verwandelte sich nur zu leicht in den doktrinären Unterschied von Radikalismus und Reformismus«. Ähnlich etwa Geyer, Curt, Die revolutionäre Illusion. Zur Geschichte des linken Flügels der USPD. Erinnerungen, hg. v. Wolfgang Benz u. Hermann Graml, Stuttgart 1976, S. 82 f. u. ö.; weniger dezidiert: ders., Der Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Ein soziologischer Versuch, Jena u. a. 1923, S. 26. Näheres zu dieser Interpretation: Wheeler, R. F., German Labor and the Comintern: A Problem of Generations?, in: Journal of Social History, Jg. 7 1973/74, S. 304–321; ders., Zur sozialen Struktur der Arbeiterbewegung am Anfang der Weimarer Republik. Einige methodologische Bemerkungen, in: Mommsen u. a. (Hg.), Bd. 1, S. 179–189; über frühe Generationenkonflikte in der Sozialdemokratie s. etwa Peter Wienand, Revoluzzer und Revisionisten, in: PVS, Jg. 17, 1976, S. 206–241, 217 f.; für die spätere SPD s. bes. Neumann, Sigmund, Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Neudruck m. e. Einl. f. Karl D. Bracher, Stuttgart 1965, S. 36; als Fallstudie: Witt, Friedrich-Wilhelm, Die Hamburger Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. Unter Berücksichtigung der Jahre 1929/30–1933, Hannover 1971, S. 56. S. ferner in diesem Bd. S. 364 ff. 106 Zentral: Schönhoven, Klaus, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914, Stuttgart 1980, S. 68 ff. u. ö., weitere Hinweise: Tenfelde, Klaus, Jugend und Gewerkschaften in historischer Perspektive, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 32, 1981, S. 129–143. 107 Haubach, S. 106, mit weiteren Überlegungen zum Verhältnis von Klassen- und Generationensolidarität in der Arbeiterbewegung; hierzu bes. auch der Aufsatz von Jaeger, Anm. 98.

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den großen Verbänden.108 Viel spricht dafür, dass solche Auseinandersetzungen vor 1914 innerhalb der Ge­werkschaften noch verdeckt verlaufen sind, beispielsweise in der bekannten Mas­se-Führer-Debatte oder im antibürokratischen ­Affekt der freilich wenig bedeuten­den binnen- und außerorganisatorischen (anarchosyndikalistischen) Gewerk­schaftsopposition zum Ausdruck kamen. Wird man schließlich auch der Revolu­tion 1918/19 nicht zuletzt Konfliktkonstella­ tionen unterstellen müssen, die in ge­nerationellen Erfahrungsmustern und Widersprüchen gerade innerhalb der Arbei­terschaft, aber auch zwischen Stadt und Land wurzeln? Und kulminierten die re­volutionären Ereignisse nicht in einem Maße in den Industriestädten, dass dort nachgerade das Schicksal der künftigen Staatsordnung entschieden wurde?109 Spielte nicht die proletarische Jugend der Industriereviere in der syndikalistischen und unionistischen Bewegung im Anschluss an die Revolution, in den Aufstands­versuchen des Jahres 1920, in den Kämpfen während der Ruhrbesetzung, in den inflationsbestimmten revolutionären Strömungen und Aufstandsversuchen des Herbsts 1923 eine ganz entscheidende Rolle?110 Es sei daran erinnert, dass  – wie bei den Linksparteien  – auch in der Geschichte des Nationalsozialismus, seiner Führungsgruppen, der Mitglieds- und Anhänger­schaft wiederholt mit generationellen Erfahrungsmustern argumentiert worden ist,111 wobei gewöhnlich die Sozialisation der seit den 1890er Jah108 Potthoff, Heinrich, Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, Düsseldorf 1979, S. 51 ff.; Laubscher, Gerhard, Die Opposition im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) 1918–1923, Frankfurt a. M. u. a. 1979, S. 121 ff., 299–315. – Es ist selbstverständlich, dass die hier und im Folgenden behaupteten Zusammenhänge gründlicher Differenzierung bedürfen. Beispielsweise muss Berlin, eine nach unseren Ergebnissen eben nicht von starker »Jugendlichkeit« geprägte Stadt, als ein Zentrum der Gewerkschaftsopposition gelten; doch dürfte eine nähere Untersuchung zeigen, dass auch hier generationelle Auseinandersetzungen eine bedeutende Rolle spielten. 109 Vgl. Ritter, Gerhard A., Die sozialistischen Parteien in Deutschland zwischen Kaiserreich und Republik, in: Werner Pöls (Hg.), Staat und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Stuttgart 1979, S. 100–155, 128 ff. u. Tabelle über Wahlergebnisse 1912/1920, S. 153 f.; als Regionalstudie Boll, Friedhelm, Massenbewegungen in Niedersachsen 1906–1920. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zu den unterschiedlichen Entwicklungstypen Braunschweig und Hannover, Bonn 1981; ferner Geary, Dick, European Labour Protest 1848–1939, London 1981, S. 114, 119, 139 u. 151 f.; Lucas, Erhard, Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 1976, S. 228 ff. u. ö.; zur Interpretation der Revolution als Generationenkonflikt knapp bereits Nipperdey, S. 338; Vetter, Heinz-Oskar (Hg.), Aus der Geschichte lernen – die Zukunft gestalten. Dreißig Jahre DGB. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz zur Geschichte der Gewerkschaften vom 12. u. 13.10.1979 in München, Köln 1980, S. 75, 112, 283. 110 Vgl. Ludewig, Hans-Ulrich, Arbeiterbewegung und Aufstand. Eine Untersuchung zum Verhalten der Arbeiterparteien in den Aufstandsbewegungen der frühen Weimarer Republik 1920–1923, Husum 1978, S. 72 ff. 111 Älteres Bsp.: v. Hentig, Hans Wolfram, Beiträge zu einer Sozialgeschichte des Dritten Reichs, in. Vjh. f. Zeitgeschichte, Jg. 16, 1968, S. 48–59; jüngere Interpretation: Wohl, Robert, The Generation of 1914, Cambridge/Mass. 1979, S. 215 f., 230 f.

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ren Geborenen durch den verlorenen Krieg, durch Revolution und Freikorps, inflationäre Depossedierung und Rechtsradikalismus betont und darin eine strukturelle Verwandt­ schaft von Rechts- und Linksradikalismus behauptet wurde. Auch aus dieser Sicht wird der Blick auf die schichtspezifischen Sozialisationserfahrungen der Genera­tion insbesondere der um 1900 Geborenen gelenkt – eine Sozialisation, die die längst eingegrabene Klassenfurche allenfalls im Bereich der konfessionellen So­zialfürsorge und Erziehung zu überspringen vermochte, die mit dem Füreinander in­nerhalb der Schichten zugleich das Gegeneinander zwischen den Schichten aner­zog. War nicht auch die lang währende Großstadtfeindschaft,112 wie sie nach der Revolution besonders infolge der inflationären Umverteilungsprozesse neuen Hö­hepunkten zustrebte,113 eine der Entscheidungsformen eines entlang den demo­grafischen Entwicklungen erklärlichen Generationenkonflikts? Denn während die Wanderungsbewegung der Vorkriegszeit mit dem Entzug der besonders pro­testfähigen Altersgruppen die Spannungen auf dem Lande zu pazifizieren neig­te,114 mussten sie sich aus denselben Gründen in den Industriestädten verschärfen – einmal abgesehen von den gründlichen Assimilationsproblemen, die die Zuwan­derer generell erwarteten. Es ließen sich weitere Hinweise anfügen, Hinweise, die allesamt in Kon­ gruenz mit unseren altersstatistischen Erörterungen auf ein Plädoyer für eine intensive Erforschung nicht nur der Urbanisierungsphase um die Jahrhundertwende, son­dern vor allem der mit ihr verbundenen Sozialisationserfahrungen hinauslaufen. Wie aktuell das Problem ist, darüber belehrt ein Blick auf die demografischen Veränderungen der jüngsten Vergangenheit in der Bundesrepublik und andern­orts.

112 Vgl. Bergmann, Klaus, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim a. G. 1970. 113 Vgl. Poor, Harold, City Versus Country: Urban Change and Development in the Weimar Republic – a Preliminary Report, in: Mammen u. a. (Hg.), Bd. 1, S. 111–127. Zur Umverteilung jetzt: Holtfrerich, Carl-Ludwig, Die deutsche Inflation 1914–1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin u. a. 1980. 114 Vgl. Moltmann, Günter, Nordamerikanische »Frontier« und deutsche Auswanderung – soziale Sicherheitsventile im 19. Jh., in: Dirk Stegmann u. a. (Hg.), Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte, Bonn 1978, S.  279– 296, mit Betonung der Ventilfunktion der Abwanderung für die Konfliktlagen der Restbevölkerung; s. auch Esser, S.  113 f., sowie zusammenfassend Bade, Massenwanderung, S. ­302–305.

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VIII. Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert 1. Stadtbürgertum Von der Herausbildung der mitteleuropäischen Städtelandschaft im Hohen Mittelalter bis zur Urbanisierung des späteren 19.  Jahrhunderts war der Zusammenhang von Stadt- und Bürgertumsgeschichte stets außerordentlich eng. Stadtrechtliche, wirtschaftliche und politische Privilegierungen und Handlungsräume sowie die arbeitsteiligen Wirtschafts- und Verkehrsformen der Stadtgesellschaften ließen stadttypische soziale Formationen entstehen, in deren Rahmen sich mehr oder weniger eng verschwisterte gewerbliche, politischadministrative und – späterhin zunehmend – gebildete Führungsgruppen zur bürgerlichen Führungsschicht zusammenfügten und nach unten und außen durch eine Fülle von Merkmalen abgrenzten. Die Sonderstellung und relative Homogenität dieser Führungsschicht beruhte sehr weitgehend auf Selbständigkeit und auf einer oft sehr unterschiedlich definierten ökonomischen Mindestausstattung, auf einer etablierten, rechtlich abgesicherten und sozial und politisch manifestierten Herrschaftsfunktion und auf einem bürgerlichen Lebensstil, in dem sich Herkommen, Wohlstand und sonst begründete Repräsentativität vermengten. Entscheidend war die relative Übersichtlichkeit der städtischen Schichtungs- und Herrschaftsverhältnisse bei stadttypischen Populationen zwischen vielleicht 3.000 und 50.000 Einwohnern. In solchen Dimensionen konnten Vergesellschaftungen stattfinden, die sich in Besitz, Recht und Privileg abstützten und darin ständische Züge gewannen. Ohne die Bedeutung der städtischen Formationskerne von Bürgertum zu mindern, fanden interlokale Vernetzungen von Bürgertum in den europäischen Handelsbeziehungen, aber auch durch stadtrechtliche Beziehungen und Städtebünde schon seit dem Späten Mittelalter und, spezifischer für die deutschen Territorialstaaten, unter den Gebildeten und Beamten seit der Aufklärung statt.1 – Dieser enge, tradi1 Die Bürgertumsforschung hat, seitdem sie Ende der 1970er Jahre neu einsetzte, den ursprünglichen Kontext von Stadt- und Bürgertumsgeschichte gelegentlich aus den Augen verloren. Gall, Lothar, »…ich wünschte ein Bürger zu sein«. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: HZ, Bd. 245, 1987, S. 601–623, 619, hat den Rückbezug der Bürgertumsforschung auf »die reale Entwicklung dessen, was von Anfang an das Substrat jenes programmatischen und dann de facto in vielem schon bald preisgegebenen Bürgerbegriffs war, nämlich des konkreten Bürgertums in den Städten«, gefordert; vgl. auch die kritischen Bemerkungen von Langewiesche, Dieter, Stadt, Bürgertum und ›bürgerliche Gesellschaft‹, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1991, H. 1, S. 2–5. Ferner: Gall, Lothar (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990; ders. (Hg.), Vom alten zum neuen

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tionsreiche und insofern zur Identitätsbildung rückrufbare2 Konnex von Stadt und Bürgertum hat noch die Vergesellschaftung des Bürgertums in der vormärzlichen Klein- und Mittelstadt maßgeblich getragen. Die kommunale Selbstverwaltung und die Zensuswahlrechte seit dem frühen 19. Jahrhundert fixierten das Bürgertum als vergesellschaftete Leistungs- und Funktionselite, solange Besitz- und Erwerbsklassen wenig geschieden blieben und Immobilienvermögen mobile Kapitalvermögen an Bedeutung übertrafen. Industrialisierung und Urbanisierung verschärften die Klassengegensätze, schufen weitaus komplexere Gesellschaften, sprengten die kommunikativen Dimensionen bürgerlicher Vergesellschaftung und prägten scharf unterschiedene neubürgerliche Leistungs- und Funktionseliten (Unternehmer und Manager, technische und kaufmännische Angestellte, freie Berufe) aus, die neben die altbürgerlichen, statuswahrenden Eliten (Kaufleute, Gebildete, höhere Beamte) traten. Der alte Gegensatz von Bürgern und Bauern verlor an Bedeutung; ein neuer, der zwischen Bürgern und Arbeitern, schien an seine Stelle zu treten. So sah sich das Bürgertum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend – wenn auch, wie sich erweisen sollte: vorübergehend – gegenüber den Emanzipationsansprüchen der rasch bedeutenden Arbeiterklasse in die Defensive gedrängt. Ein ungeschmälerter Führungsanspruch des Bürgertums in den Städten ließ sich unter den Strukturbedingungen des Industriekapitalismus und zusätzlich Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780–1820, München 1991; ders. (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993; s. auch Hahn, Hans-Werner, Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689–1870, München 1991, sowie die Beiträge von Etienne François u. Clemens v. Looz-Corswarem in: Heinz Schilling u. Hermann Diederiks (Hg.), Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Studien zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit, Köln 1985, S. 65–84 u. 421–444 (über Nördlingen, Frankfurt a. M., Koblenz und Köln); Schmuhl, Hans-Walter, Bürgerliche Eliten in städtischen Repräsentativorganen. Nürnberg und Braunschweig im 19. Jahrhundert, in: Hans-Jürgen Puhle (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur, Göttingen 1991, S. 178–198. – Eine Dokumentation des Schrifttums zur älteren Bürgertumsgeschichte würde natürlich Bände füllen; vgl. nur: Le Goff, Jacques, Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1989; Engel, Evamaria, Die deutsche Stadt des Mittelalters, München 1993, S. 55 ff.; Isenmann, Eberhard, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregime, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, bes. S. 245 ff.; Stoob, Heinz (Hg.), Altständisches Bürgertum, 3 Bde., Darmstadt 1978– 89; Elze, Reinhard u. Fasoli, Gina (Hg.), Stadtadel und Bürgertum in den italienischen und deutschen Städten des Spätmittelalters, Berlin 1991; Rößler, Hellmuth (Hg.), Deutsches Patriziat 1430–1740. Büdinger Vorträge 1965, Limburg 1968; sowie Gerteis, Klaus, Die deutschen Städte in der frühen Neuzeit. Zur Vorgeschichte der ›bürgerlichen‹ Welt, Darmstadt 1986. 2 Vgl. Schreiner, Klaus, Die Stadt des Mittelalters als Faktor bürgerlicher Identitätsbildung. Zur Gegenwärtigkeit des mittelalterlichen Stadtbürgertums im historisch-politischen Bewußtsein des 18., 19.  und beginnenden 20.  Jahrhunderts, in: Cord Meckseper (Hg.), Stadt im Wandel, Bd.  4, Stuttgart 1985, S.  517–541; ders., »Kommunebewegung« und »Zunftrevolution«. Zur Gegenwart der mittelalterlichen Stadt im historisch-politischen Denken des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für Eberhard Naujoks, Stuttgart 1980, S. 139–168.

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wegen der konzertierten ordnungspolitischen Maßnahmen in der Gesellschaft und Verfassung des deutschen Konstitutionalismus bis in das frühe 20.  Jahrhundert, mithin weit über die Zeit hinaus, erhalten.3 Diese politische Vertiefung der Klassenkluft verursachte besondere Verzerrungen, die sich, trotz wichtiger Ansätze seit 1918, letztlich erst nach 1945 bzw. 1990 korrigierten: Marktwirtschaftlich induzierte Abgrenzungen zwischen Lohnabhängigen auf der einen, besitzenden und durch Bildung privilegierten Bürgern auf der anderen Seite wurden durch Repressionspolitik und teilweise durch Reformabstinenz verschärft.4 Auch stärkte die Industrialisierung ungemein die interlokalen Vernetzungen von Bürgertum, indem sich die Märkte ausweiteten, die durch die öffentlichen Hände monopolisierte Bildung generalisierte und die Interessen von alten und neuen Bürgern vom Staat emanzipierten und machtvoll organisierten. Es war aber das Stadtbürgertum, das, freilich vielfach gestützt durch die Bildungspolitik der übergeordneten Entscheidungsträger, den Erwerb von Bildungspatenten, also einen möglichen Zugang zur Elite, weiterhin kontrollierte und damit exklusiv auf sich selbst bezog.5 So hat sich gewiss im 19. Jahrhun3 Hierzu zentral: Hardtwig, Wolfgang, Großstadt und Bürgerlichkeit in der politischen Ordnung des Kaiserreichs, in: Gall, Stadt und Bürgertum, S. 19–64, bes. 51 f., 58: »So steht man vor dem merkwürdigen Befund, daß die Spitzen der kommunalen Selbstverwaltung – auch unmittelbar vor 1914 noch verfassungsrechtlich legitimierte Organe eines quasi-ständischen Bürgertums – die abnehmende Distanz von Adel und Bürgertum und die dabei entstehende neue adlig-großbürgerliche Elite repräsentieren.« Vgl. auch Niehuss, Merith, Strategien zur Machterhaltung bürgerlicher Eliten am Beispiel kommunaler Wahlrechtsänderungen im ausgehenden Kaiserreich, in: Best, Heinrich (Hg.), Politik und Milieu. Wahl- und Elitenforschung im historischen und interkulturellen Vergleich, St. Katharinen 1989, S. 60–91, mit einem Vergleich der kommunalen Wahlrechtsänderungen in Hamburg und München. Zur kommunalen Elitenkonstanz im Übrigen nach wie vor Hofmann, Wolfgang, Die Bielefelder Stadtverordneten. Ein Beitrag zur bürgerlichen Selbstverwaltung und zum sozialen Wandel 1850–1914, Lübeck 1964. 4 Zur näheren Begründung s. Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, Bonn 1992, passim, bes. Kap. III. Ich sehe in der Vertiefung und weitreichenden institutionellen und mentalen Verankerung der Klassengegensätze durch die Struktur von Politik und durch das politische Handeln im Kaiserreich (und in den komplexen Folgen dieser Beziehung für die klassenspezifische Sozialisation) ein besonders wichtiges Argument für die Beibehaltung der in der Sonderwegsdiskussion zugespitzten kritischen Perspektive. Diese Deutung lässt sich m. E. nur zum Teil aus den bekannten Ungleichzeitigkeiten und aus der Sonderrolle der Bürokratie in Deutschland herleiten. Vgl. Kocka, Jürgen, Ende des Deutschen Sonderwegs?, in: Wolfgang Ruppert (Hg.), »Deutschland, bleiche Mutter« – oder eine neue Lust an der nationalen Identität?, Berlin 1992, S. 9–31, 24 f., sowie Hardtwig, Wolfgang, Der deutsche Weg in die Moderne. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Grundproblem der deutschen Geschichte 1789–1871, in: ders. u. Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 9–31, bes. 11. 5 Vgl. Reulecke, Jürgen, Bildungsbürgertum und Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 122–145, sowie Kaelble, Hartmut, Historische Mobilitätsforschung. Westeuropa und die USA im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt 1978, S. 102.

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dert ein »bedeutender Teil des stadtbürgerlichen Selbstverständnisses« aus dem Bewusstsein hergeleitet, »Vorhut im Rahmen der allgemeinen Rückständigkeit zu sein«,6 aber die Stadtbürger schritten nicht überall auf der Seite des Fortschritts, wie auch die Gegenseite, der preußisch-deutsche Staat, durch Rückständigkeit nicht angemessen bezeichnet ist. Gerade im Blick auf das städtische Bürgertum erweist sich das frühere, inzwischen allerdings längst aufgegebene Argument vom »schwachen« deutschen Bürgertum als falsch.7 Es kann aber nicht übersehen werden, dass sich die gesellschaftliche und politische Führungsrolle des Bürgertums in den Städten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und besonders seit dem großen Urbanisierungsschub im Kaiserreich veränderte. Tatsächlich scheint gerade die Stadtgeschichte im 19. Jahrhundert zu erweisen, dass der Zenit stadtbürgerlicher Herrschaft vielleicht mit einer annähernden Identität von Stadt- und Wahlbürgern irgendwann im Vormärz und vornehmlich im südwestdeutschen Raum erreicht worden war,8 dass die Urbanisierung diese honoratiorenhafte Gesellschaft und Herrschaft jedoch langfristig modifizierte und verdrängte und damit den jahrhundertealten Konnex von Stadt und Bürgertum lockerte und veränderte. Darauf komme ich zurück.9 In gewissem Umfang wird diese Entwicklung schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts dadurch gespiegelt, dass im zeitgenössischen Begriff vom Bürger die stadtbürgerliche Konnotation gegenüber der bildungsund wirtschaftsbürgerlichen zurücktrat.10

2. Ende des Bürgertums? Nicht zuletzt wegen dieser Veränderungen in den großen Städten  – andere, wichtige Argumente kommen hinzu – erscheint denn auch die verbreitete Ansicht mindestens von der Krise, meist aber vom Auslaufen, Ende oder Verfall des Bürgertums im 20. Jahrhundert (und manchmal schon deutlich früher) so überzeugend, und sie erschien bis 1990 noch viel überzeugender. Welchem Bür 6 Niethammer, Lutz, Stadtgeschichte in einer urbanisierten Gesellschaft, in: Wolfgang Schieder u. Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd.  3: Handlungsräume des Menschen in der Geschichte, Göttingen 1986, S. 113–136, 116. 7 Hierzu Wehler, Hans-Ulrich, Wie »bürgerlich« war das Deutsche Kaiserreich?, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 243–280. 8 Vgl. bes. die Forschungsarbeiten im Kreis von Lothar Gall (o. Anm. 1), bes. Stadt und Bürgertum im Übergang, 1993; auch Nolte, Paul, Gemeindeliberalismus. Zur lokalen Ent­ stehung und sozialen Verankerung der liberalen Partei in Baden 1831–1855, in: HZ, Bd. 252, 1991, S. 57–93; ders., Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden von 1800 bis 1850. Tradition – Radikalismus – Republik, Göttingen 1994. 9 Zur Literatur s. unten Anm. 33, 62. 10 Vgl. Kocka, Jürgen, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Bürger, S. 21–63, 31 f.

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gertumsbegriff man auch anhängt, der Abgesang scheint programmiert: Dem Stadtbürgertum schlug die Stunde, wie erwähnt, strukturell seit der Urbanisierung11 und politisch mit der Demokratisierung der Kommunalwahlrechte 1918/19  – auch wenn gerade die »gebildeten« Deutschen die großstädtischen Errungenschaften entgegen der gängigen Großstadtkritik zwischen Jahrhundertwende und Kriegsausbruch im Allgemeinen doch stark zu bewundern pflegten.12 Jene Bildungs- und Kulturbürger, die sich durch Bildung als »eine eigentümlich sich selbst induzierende Verhaltensweise und Wissensform« definiert hatten,13 erlitten, so will es die gängige Meinung in merkwürdigem Anschluss an den Kulturpessimismus der Jahrhundertwende (und unbeschadet der Entwicklung etwa der Natur- und der Sozialwissenschaften), die »Verflachung und Entseelung der Kulturnation«14 schon vor 1914 und überlebten sich. 11 Vgl. Gall, Lothar, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989, u. a. S. 387 unter Bezug auf die »Stadt und ihre Institutionen«: Der »fortschreitende Differenzierungsprozeß in allen Lebensbereichen, der Wandel der Aufgaben, der Chancen, der Zukunftsperspektiven in den verschiedenen, sich gleichfalls ständig vermehrenden Berufsfeldern, kurz, der immer mehr vorankommende Prozeß der Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft [löste] die innere, lebensweltlich fundierte, von der Ähnlichkeit der Lebensaufgaben sich herleitende Einheit der bürgerlichen Familie und mit ihr zugleich der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr auf […].« 12 Dies betont zu Recht Lees, Andrew, Die Entfaltung des städtischen Bürgerstolzes im Wilhelminischen Deutschland, (dt. Fassung) in: Imbke Behnken (Hg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation, Opladen 1990, S. 77–96. 13 Koselleck, Reinhart, Einleitung  – zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: ders. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S.  11–46, 13; wesentlich zur Auseinandersetzung: Kocka, Jürgen, Bildungsbürgertum  – gesellschaftliche Formation oder Historikerkonstrukt?, in: ders. (Hg.), dass., Teil  IV, S.  9–20, sowie Lepsius, M. Rainer, Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: ders. (Hg.), dass., Teil. III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 8–18. – Die Kritik von Feindt, Hendrik u. Köster, Udo, Überlegungen zum Thema »Bürgerlichkeit« in einigen neueren Untersuchungen, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 18, 1993, S. 157– 167, an der jüngeren Bürgertumsforschung ist recht einseitig, weil nicht berücksichtigt wird, dass diese Forschung auch arbeitsteilig voranschritt, beispielsweise Untersuchungen über das Bildungsbürgertum in vier eigenen Bänden des »Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte« publiziert und darin das »Sozialsystem Literatur« in sehr unterschiedlichen Aspekten abgehandelt hat. Diese Bände lassen sich u. a. als eine fortwährende Auseinandersetzung mit der o. zit. Kernthese Kosellecks lesen, weil und soweit diese eine fundamentale Kritik an der Reichweite und dem Erklärungsvermögen von sozialgeschichtlichen Untersuchungsmethoden impliziert. 14 Steinhausen, Georg, Geschichte der deutschen Kultur, 2 Bde. Leipzig 19132, veränd. Abdruck d. Schlusskap. unter dem Titel: Der Aufschwung der deutschen Kultur vom 18. Jahrhundert bis zum Weltkrieg, Leipzig 1920, S. 173, zit. n. der Paraphrase bei vom Bruch, Rüdiger, Kaiser und Bürger. Wilhelminismus als Ausdruck kulturellen Umbruchs um 1900, in: Adolf M. Birke u. Lothar Kettenacker (Hg.), Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, München u. a. 1989, S. 119–146, 139. Koselleck, Einleitung, S. 42, spricht von einer schon zeitgenössisch kritisier-

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Vermutlich wurde aber dem exklusiven und exklusiv exekutierten Bildungsbegriff erst in der Bildungsrevolution seit den 1960er Jahren, die außerdem viele gehobene Berufsfelder für Frauen öffnete, das Ende bereitet. Die Bourgeoisie schwächte sich in der Formveränderung des Industriekapitalismus, und sie wurde durch die politische, wirtschafts- und sozialrechtliche Domestikation des Kapitals geschwächt, aber sie weist von allen Bürgern vermutlich die stärkste Kontinuität auf.15 Der Krone der drei weitgehend sozialgeschichtlich konstituierten Hauptbürger-Gruppen, dem durch seine tendenziell gemeinsamen, wesentlich auf Selbständigkeit gegründeten, wirtschaftlichen und politischen Interessen hin zur Bürgerlichkeit vergesellschafteten Bürgertum, das durch Kommunikation, Konnubium und generationelle Proliferation von Leistungs- und Führungsfunktionen strukturelle Stabilität gewann, gruben demnach alle genannten Ursachen das Wasser ab.16 Da es dennoch weiterhin offenbar Bürger gab und anscheinend zunehmend wieder gibt, dokumentiert sich die Suche nach bürgerlicher Kontinuität bzw. nach der Kontinuität von Bürgertum zwischen Aufklärung und Moderne neuerdings im zeitlos klassischen Reten »depravierten Bildung«. Ganz anders (und wenig überzeugend) akzentuiert, »verfällt« für Glaser, Hermann, Bildungsbürgertum und Nationalismus. Politik und Kultur im Wilhelminischen Deutschland, München 1993, S. 7 bzw. (zu Diederich Heßling) 15 ff., das Bildungsbürgertum »unter Anleitung des Nationalismus schrecklicher Vereinfachung«. Vgl. Vondung, Klaus (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976; Engelhardt, Ulrich, »Bildungsbürgertum«. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986, S. 174 (»schleichende Auszehrung der exorbitanten Sonderschätzung von Bildungswissen« seit den 1870er Jahren); Jarausch, Konrad H., Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum Teil. IV, S. 180–205; vom Bruch, Rüdiger, Gesellschaftliche Funktionen und politische Rollen des Bildungsbürgertums im Wilhelminischen Reich  – Zum Wandel von Milieu und politischer Kultur, ebd., S. 146–179. Den angedeuteten Unterschied in der Wahrnehmung von Geistes- und Naturwissenschaften konstatiert anhand von Reiseberichten Schmidt, Alexander, Deutschland als Modell? Bürgerlichkeit und gesellschaftliche Modernisierung im deutschen Kaiserreich (1871–1914) aus der Sicht französischer Zeitgenossen, in: JbWG, 1992/1, S.221–242, bes. 232 f.; vgl. auch Ringer, Fritz K., Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, dt. Ausg. Stuttgart 1983, S. 229 ff. 15 Vgl. als Überblick bis 1914 Kocka, Jürgen, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975; ferner die Beiträge in ders. (Hg., Mitarb. Ute Frevert), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., Bd. 2, München 1988; weiter Tenfelde, Klaus, Unternehmer in Deutschland und Österreich während des 19. Jahrhunderts: Forschungsprobleme, in: Helmut Rumpler (Hg.), Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914, Wien 1991, S. 125–138; s. unten Anm. 31. 16 Zentral: Lepsius, M. Rainer, Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: Kocka, Bürger, S.  79–100; sowie ders., Bildungsbürgertum (vgl. Anm.  13). Ergänzend zu Lepsius erscheinen die Formulierungen von Kaschuba, Wolfgang, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Kocka u. Frevert (Hg.), Bürgertum, Bd. 3, S. 9–44, 18 (bürgerliche Kultur als Identitäts- und Distinktionsmodell) erhellend.

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publikanismus von Staatsbürgern in Zivilgesellschaften.17 Die sozialgeschichtliche Forschung hat zu solcher Ratlosigkeit durch Abstinenz und durch jenes Phlegma beigetragen, das Aufstieg und »Blüte« historisch interessanter macht als den Formwandel.18 17 Als Überblick s. Koselleck, Reinhart, Drei bürgerliche Welten? Theoriegeschichtliche Vorbemerkung zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich, in: Krzysztof Michalski (Hg.), Europa und die Civil Society. Castelgandolfo-Gespräche 1989, Stuttgart 1991, S.  118–129, mit dem wichtigen Befund, dass theoriegeschichtlich die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts »von Anbeginn […] als eine Übergangsgesellschaft« zu gelten hat, »deren ständische Vergangenheit und deren demokratische Zukunft sie unter ständigem Wandlungsdruck hielten.« Über die »bürger­ liche Gesellschaft als sozialtheoretische Kategorie« s. auch Haltern, Utz, Bürgerliche Gesellschaft. Sozialtheoretische und sozialhistorische Aspekte, Darmstadt 1985, S. 41 ff. Vgl. ferner etwa Nolte, Paul, Bürgerideal, Gemeinde und Republik. »Klassischer Republikanismus« im frühen deutschen Liberalismus, in: HZ, Bd. 254, 1992, S. 609–656; nicht zufällig an Kant anknüpfend, jedoch für die Zeit nach 1945 nicht sehr deutlich die Beiträge von Lutz Niethammer in: ders. u. a., Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt a. M. 1990, S. 17–38 (Bürgergesellschaft als »Projekt«) sowie 515 ff.; u. a. hierzu: Haltern, Utz, Die Gesellschaft der Bürger, in: GG, Jg. 19, 1993, S. 100– 134, 107 f.; ferner u. a. Mestmäcker, Ernst-Joachim, Die Wiederkehr der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Rechts, in: Rechtshistorisches Journal, Jg. 10, 1991, S. 177–192 (mit der Kritik von Michael Stolleis, ebd., Jg. 11, 1992, S. 500–507); Dahrendorf, Ralf, Wege in die Irrelevanz. Schwierigkeiten mit der Bürgergesellschaft, [unter dem Rubrum »What’s left«] in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 251/28.10.92, S. 33; ders., Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992, S. 67 ff.; ders., Die gefährdete C ­ ivil Society, in: Michalski, Europa, S. 247–263, 262: Der »operationale Kern« des Begriffs sei »ein Ensemble von legitimen Ansprüchen, die man als Bürgerrechte bezeichnen kann«. Der Hg. dieses Sammelbds. spricht von einer »wahre[n] Renaissance« des Begriffs, S. 7. Ferner: Kocka, Jürgen, Folgen der deutschen Einigung für die Geschichts- und Sozialwissenschaften, in: Deutschland-Archiv, Jg. 25, 1992, S. 793–802, 801; ders., Erinnerung als Ressource – Geschichte und Utopie im vereinigten Deutschland, in: SPD-Bundestagsfraktion (Hg.), Rück-Sicht auf Deutschland. Beiträge zur Geschichte der DDR und zur Deutschlandpolitik der SPD, Bonn 1993, S. 67–71 (»Bürgergesellschaft als Utopie«); aus der politikwiss. Debatte etwa Leggewie, Claus, Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürgergesellschaft, in: APuZ, Jg. 7, Nr. 31/30, 1993, S. 7–13, 12 f. Es sei darauf hingewiesen, dass von soziologischer Seite der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft offenbar bis vor Kurzem eindeutig einem vergangenen Zeitalter zugewiesen wurde; vgl. den Hinweis bei Dahrendorf, Konflikt, S. 68. 18 Als probate Kulturmorphologie vom Pionierunternehmer über den Bildungsbürger zum Künstler anhand von drei Familien s. Bauer, Franz J., Bürgerwege und Bürgerwelten. Familienbiographische Untersuchungen zum deutschen Bürgertum im 19. Jahrhundert, Göttingen 1991; Kocka, Jürgen, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: ders. u. Frevert, Bürgertum, Bd.  1, S.  11–76, 47 ff., unterscheidet unter den »Perioden der Bürgertumsgeschichte« eine Aufstiegsphase (letzte Jahrzehnte des 18.  Jahrhunderts bis 1840er Jahre)  von einer Kulminations- und Wendephase (1840er bis 1870er Jahre) und einer Defensivphase (bis 1914). Die Neigung, in der Geschichtsschreibung über Bürgertum Blüte- und Niedergangsphasen zu unterscheiden, kritisiert Ute Frevert in ihrer Rezension von Lothar Gall und Michael Stürmer, in: GG, Jg. 16, 1990, S. 491–501. Ich komme darauf weiter unten zurück. – Es verdient Erwähnung, dass sich Bieber, Hans-Joachim, Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und

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Beinahe unisono hält die jüngere Bürgertumsforschung mithin das Bürger­ tum für eine vergangene gesellschaftliche Formation und Bürgerlichkeit für den Lebensstil der prägenden gesellschaftlichen Schicht einer vergangenen Epoche,19 denn der Rückgriff auf die im späten 18. Jahrhundert und früher gedachte ideale Bürgergesellschaft und deren Beschwörung als neues Leitbild konstruiert ja eine Kontinuität außerhalb der Gesellschaften und über ihnen, im Bereich der grundlegenden geistigen Orientierungen. Dissens besteht allenfalls über den Zeitpunkt oder die Zeitspanne, zu dem oder in der Bürgertum verging – möglicherweise schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts, sicher aber seit den 1870er oder doch seit den 1890er Jahren und dann vor allem zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, allerspätestens jedoch im Nationalsozialismus. In den entsprechenden Hinweisen scheint sich oft die Trauer von nachgeborenen Bildungsbürgern über das Vergehen ihrer historischen Bezüge zu spiegeln, denn das Wirtschaftsbürgertum kann z. B. mit solchen Zäsuren nicht gemeint sein; hier hätten eher die 1880er Jahre wegen der Erweiterung der industriellen Führungsfunktionen auf »Manager« als Einschnitt zu gelten. Ich vermute, dass, weitergehend, die Erfahrung von drei politischen Hauptkrisen der deutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert das Schicksal des Bürgertums als soziale Formation im Urteil der Forschung besiegelt hat:

Bürgerstreiks in Deutschland 1918–1920, Hamburg 1993, in seinem umfangreichen Ein­ leitungskapitel über »Das deutsche Bürgertum im Kaiserreich«, S.  15–45, irgendwelcher Krisendiagnosen enthält. Das  – knappe, eigentümlich statisch strukturierte  – Kap.  über »Die Bildungsbürger« in Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd.  1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 382–389, dokumentiert kein »Krisenbewußtsein«; vgl. jedoch ebd., S. 581 über die Krise der »Bildungsidee«, 591 f. über die – im Vergleich zu den 1920er Jahren noch schwächer ausgeprägte  – Kulturkrise etwa seit der Jahrhundertwende. S. auch ders., Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988, sowie Mommsen, Wolfgang J., Die vielen Gesichter der Clio. Zum Tode Thomas Nipperdeys, in: GG, Jg. 19, 1993, S. 408–423, 417. 19 Vgl. außer den zit. Autoren bes. Mommsen, Hans, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19.  Jahrhundert, in: Kocka, Bürger, S.  288–315. In der Regel wird seit dem späten 19.  Jahrhundert ein zunehmendes Auseinandertreten von Bürgertum und bürgerlicher Gesellschaft diagnostiziert; vgl. Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S.  56; kennzeichnend auch Wilharm, Irmgard, Ausblick: Ende oder Wandel bürgerlicher Gesellschaft?, in: Niethammer u. a. (Hg.), Bürgerliche Gesellschaft, S. 612–622, über die Kontinuität bürger­licher Verhaltensweisen und Wertvorstellungen in der hegemonialen Kultur einer »bürgerlichen Gesellschaft«, in der das »Bürgertum als autonome politische Kraft« nicht mehr existiere (613); s. ebd. auch im Beitrag von Niethammer, S. 532, über »die bürger­liche Gesellschaft im nachbürgerlichen Deutschland«. Die Stellungnahmen zur Fortexistenz von Bürgertum und Bürgerlichkeit in den gängigen Lexika sowie im Schrifttum von Historikern und Sozialwissenschaftlern seit 1945 (überwiegend »Skeptiker« gegenüber wenigen »Optimisten«) resümiert. Siegrist, Hannes, Ende der Bürgerlichkeit? Die Kategorien »Bürgertum« und »Bürgerlichkeit« in der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft der Nachkriegsperiode, in: GG, Jg. 20, 1994.

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1. Der Erste Weltkrieg, die Revolution und die Inflationskrise entfremdeten weite Teile des national-monarchisch gesinnten Bürgertums vom Staat und schliffen seine politische Führungsrolle trotz wichtiger Kontinuitäten in den Führungsschichten ab. Viele Bürger und eine Reihe von bürgerlichen Statusgruppen lehnten den demokratischen Weimarer Verfassungsstaat von Anfang an oder im Verlauf der Inflation und Weltwirtschaftskrise zunehmend ab und bekämpften ihn. In ihren Augen gab es dafür »gute Gründe«, denn die Demokratisierung der Kommunalverfassungen beraubte das Stadtbürgertum seiner überlebten politischen Privilegierung, zu schweigen von anderer Gleichmacherei wie der Abschaffung der archaischen Gesindeordnungen, die doch ein wesentliches Hilfsmittel bürgerlicher Statuswahrung selbst bei nachlassender ökonomischer Kraft gewesen waren. Die im deutschen Bürgertum entwickelte und von diesem vertretene politische Kultur erwies sich unter demokratisierten Verhältnissen vielfach als dysfunktional.20 Im nachrevolutionären Bürgerkrieg wurde auf die integrative Potenz bürgerlicher Politik verzichtet. Die Inflation depossedierte die bis 1914 stark angewachsene Gruppe der vermögenzehrenden Bürger (Rentiers) und unterbrach die Proliferation der bürgerlichen Vermögen im Erbgang; sie stärkte zumeist die wenigen Industrievermögen, ließ aber die mittleren und kleineren Familienvermögen abschmelzen und beeinträchtigte auch die Grundvermögen; sie destabilisierte – man denke nur an die Aufwertungsdebatte – die »bürgerliche Erfahrungswelt«.21 2. Die Weltwirtschaftskrise, die nationalsozialistische Diktatur und der Zweite Weltkrieg desavouierten, nach der erneuten Erschütterung der materiellen Grundlagen bürgerlicher Existenzen durch Erwerbseinschränkungen und Preisdeflation und im Scheitern des bürgerlichen Demokratieversuchs, die »bürgerliche Ideenwelt« und warfen die Frage nach der Mitschuld des Bürgertums

20 Vgl. Weisbrod, Bernd, Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen beiden Weltkriegen, in: GWU, Jg. 43, 1992, S. 391–404, über die »Flucht in den Mythos der Gewalt, dessen Faszination gerade das sich auflösende Bürgertum erlag« (403); auch ders., in: Niethammer u. a. (Hg.), Bürgerliche Gesellschaft, S. 328: Zwar trat die bürgerliche Gesellschaft in der Weimarer Republik »erstmals in ihr eigenes Recht«, aber das Bürgertum »befand sich schon in Auflösung und verabschiedete sich von den liberalen Traditionen«. Dazu auch: Childers, Thomas, The Social Language of Politics in Germany: The Sociology of Political Discourse in the Weimar Republic, in: AHR, Jg. 95, 1990, S. 331–358; Schumann, Dirk, Politische Gewalt in der Weimarer Republik. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. 21 Vgl. als »Klassiker« Eulenburg, Franz, Die sozialen Wirkungen der Währungsverhältnisse, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 122, 1924, S. 748–794; aus der neueren Inflationsforschung bes. Feldman, Gerald D. u. a. (Hg.), Die Erfahrung der Inflation im internationalen Zusammenhang und Vergleich, Berlin 1984, sowie v. Kruedener, Jürgen, Die Entstehung des Inflationstraumas. Zur Sozialpsychologie der deutschen Hyperinflation 1922/23, in: Gerald D. Feldman (Hg.), Konsequenzen der Inflation, Berlin 1989, S. 213–286.

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am Aggressionskrieg, an der Verwüstung Europas und am Holocaust auf. Der Nationalsozialismus war ein und wirkte als ein »unbürgerliches Regime«22  – unter anderem durch Gleichschaltung, Führerprinzip und Terror. Wer das Bürgertum, ob offen oder verdeckt, mit Fortschrittlichkeit assoziiert, scheint 1933 endgültig enttäuscht. Übrigens wurden bürgerliche Vermögen durch den Bombenkrieg weiter geschmälert. 3. In der Neuordnung der Nachkriegsgesellschaft wurden die ökonomischen Grundlagen der bürgerlichen Leistungs- und Führungsfunktionen (trotz der berechtigten Kritik an den Stunde-Null-Hypothesen) ein weiteres Mal erschüttert oder, für viele Menschen, gänzlich abgeschnitten. Flüchtlinge und Vertriebene aus dem mittleren und östlichen Deutschland standen trotz des Lastenausgleichs fast immer vor einem neuen Anfang. Mit den Enteignungen und der erzwungenen Unselbständigkeit ehemaliger Besitzer unter Nivellierung der DDR-Gesellschaft hin zum Facharbeitermilieu wurden hier bürgerliche Existenzgrundlagen und Daseinsformen, Lebensweisen und Ideen gewaltsam und weithin erfolgreich unterdrückt; die gegenwärtige Restituierung des Bürgertums in der ehemaligen DDR knüpft nur mit großen Mühen an ältere Besitzstände an. Das kontrastiert allerschärfstens mit der vierzigjährigen formverwandelnden Restituierung der Mittelschichten und vielleicht eines Bürgertums, bürgerlicher Lebensweise und bürgerlicher Herrschaft in Westdeutschland.

3. Strukturkrisen der bürgerlichen Existenz und der Bürgerlichkeit Diese singulären Krisenerfahrungen haben jedoch wenig oder nur in vermittelter Weise mit den Strukturkrisen zu tun, denen die bürgerliche Existenzform und der bürgerliche Anspruch auf Verkörperung einer gesellschaftlichen Leistungs- und Führungselite seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unterworfen wurden. Die Untersuchung dieser Strukturkrisen stellt weithin, und teilweise auch rückblickend für das frühe 19. Jahrhundert, die sowieso stets umstrittene Homo­genität der mit dem Begriff des Bürgertums erfassten sozialen Wirklichkeit infrage. Andererseits kann ein knapper Überblick auch bereits Gegentendenzen, also Kontinuitäten und Neuansätze von Bürgertum und Bürgerlichkeit aufzeigen. – Unter den strukturellen Krisensyndromen bürgerlicher Existenz, die sich formulieren lassen, ragen drei heraus: 22 Mommsen, Auflösung, S. 305 f., warnt jedoch vor der verbreiteten Interpretation des Nationalsozialismus »als Zerstörer des Bürgertums« und hält es für sinnvoller, »von der Lebensunfähigkeit der bürgerlichen Republik von Weimar zu sprechen, aus der große Teile des Bürgertums auswanderten.«

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1. Die Krise der Selbständigkeit begann paradoxerweise mit dem Durchbruch einer Wirtschaftsweise, die auf der selbständigen Disposition über Kapital und Produktion beruht und diese erkämpft hat. In materieller und quantitativer Hinsicht schränkte der Industriekapitalismus mindestens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ehemals selbständige gewerbliche Existenzen so sehr ein, dass selbst bürgerlich-sozialreformerische Theoretiker die marxistische Prognose insofern übernahmen. Vor 1914 war überdies in Deutschland die sektorale Gewichtsverlagerung hin zu den Dienstleistungen jedenfalls für die Zeitgenossen kaum erst erkennbar,23 und noch weniger erkannten sie, dass sich ein großer Teil auch der neuen Dienstleistungen (Freie Berufe u. a.) durch selbständige Existenzformen sinnvoll und, wie man heute weiß, rationell gestalten lässt. Ganz im Vordergrund stand vielmehr die Wahrnehmung einer rasch zunehmenden Industriearbeiterschaft, einer Zerstörung der kleineren gewerb­ lichen Existenzen, eines unaufhaltsamen Aufstiegs der angestellten, eben unselbständigen Führungs- und Leistungselite und allenfalls noch der Ausweitung der Staatstätigkeit, wiederum unter Mehrung von Unselbständigkeit. Dass das Handwerk nicht nur überleben, sondern neue Wachstumsimpulse erfahren würde, ließ sich dagegen erstmals anhand der Berufszählung 1895 erkennen;24 dass sich die Zunahme der Industriearbeiterschaft begrenzte und dass das verbreitete Krisengerede im Mittelstand strukturell wenig begründet war, hätte mit den Zählungen des Jahres 1925 deutlicher werden können;25 dass der Anteil der Arbeiter stark schrumpfen würde, konnte man allerdings den frühen Berufszählungen der Bundesrepublik noch nicht entnehmen. »Klassische Selbständigkeit« hat durchgängig deutlich, und in der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1980 noch einmal von rund 16 auf neun Prozent, abgenommen.26 Es empfiehlt sich aber, zwischen der älteren bürgerlichen 23 Die Diskussionslage lässt sich direkt und mittelbar vorzüglich durch einen Vergleich der beiden Auflagen der Untersuchung von Johannes Wernicke erschließen: Kapitalismus und Mittelstandspolitik, Jena 1907 und 19222. 24 Vgl. das Schrifttum und die Entwicklung der Forschungsmeinungen bei Ritter u. Tenfelde, Arbeiter, S. 281–288. 25 Vgl. die Hinweise bei Winkler, Heinrich August, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin 19882, S.  14. Der Anteil der Arbeiter an den hauptberuflich Erwerbstätigen ging von 1907 bis 1925 um 1,0 Prozentpunkte auf 45 % zurück, der der Angestellten und Beamten stieg um 3,9 Prozentpunkte auf 16,5 %, der der Selbständigen sank um 3,2  Prozentpunkte auf 17,3 %. S.  zur Auswertung schon Geiger, Theodor, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932, Nachdruck 1967: Die »Hauptelemente des alten Mittelstandes« befänden sich »gegenwärtig im Verteidigungszustand. Dabei scheint mir die Abwehr gegen wirtschaftliche Bedrängnis im Grunde und auf die Dauer nicht so entscheidend zu sein, wie die gelegentlich in krampfhafte Formen abartende Verteidigung eines gesellschaftlichen Prestiges der Schicht als solcher« (S. 87, i. Orig. z. T. gesperrt). 26 Rytlewski, Ralf u. Opp de Hipt, Manfred, Die Bundesrepublik Deutschland in Zahlen 1945/49–1980. Ein sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, München 1987, S.  80 f. (Ergebnisse

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Selbständigkeit (die ja überdies, denkt man an das Bildungsbürgertum, nur begrenzt einen Grundzug erfasst) im Sinne wirtschaftender (selbständig haupterwerbs­tätiger) Personen und den entsprechend ihrer Einordnung in ein stark durch­organisiertes Wirtschaftsgefüge eher übertragenen, mithin letztlich weit weniger auf Vermögen beruhenden Formen einer neuen Selbständigkeit zu unterscheiden. Nur so wird deutlich, dass die Industrialisierung nicht nur die bürgerliche Existenzform auf weiten Strecken einengte oder gar zerstörte, sondern diese auch neu begründete, und zwar nicht nur im Sinne der klassischen Unternehmerexistenz. Die Industrialisierung schuf überdies den Rentner, d. h. den nur kapitalzehrenden selbständigen Bürger, der bis zur ersten großen Inflation eine erhebliche Rolle spielte und inzwischen in der westlichen Bundesrepublik wieder spielen dürfte. Nur so wird auch verständlich, dass die bürgerlicher Existenz in der Regel gleichermaßen unterstellte »Autonomie« in Lebensführung und -gestaltung nicht notwendig an wirtschaftliche Selbständigkeit gebunden, wenn auch oft mit ihr assoziiert ist.27 Die NS-Mittelstandspolitik hat bekanntlich die langfristige Entwicklung der Selbständigkeit nicht beeinflussen können.28 Gewiss hat sich der Konzentrationsprozess gerade im Handwerk auch nach 1945 fortgesetzt, aber die Zahl der Beschäftigten im Handwerk nahm stark zu, was bedeutete, dass das Handwerk einen Strukturwandel zugunsten größerer Betriebe erfuhr, so dass immer mehr Handwerksbetriebe in der Form einer Personen- oder Kapitalgesellschaft geführt werden. So mag man über die Zugehörigkeit zumal des kleineren Handwerks zum Bürgertum Zweifel hegen, aber es gehörte etwa im südwestdeutschen Raum im Vormärz dazu, und das Handwerk gehört heute gerade wegen seiner in der Betriebsgröße gespiegelten Kapitalkraft vermutlich wieder dazu. Wen sonst als Bürger auch im klassischen Sinn meint man, wenn vom »mittelständischen Unternehmen« die Rede ist? Und wie ließen sich die neuen gewerbenahen Freien Berufe, Anlagen-, Steuer- und Wirtschaftsberater etwa, selbständige Bauleiter und Architekten, zuordnen, zumal bei ihnen die Akademikerqua­ lität nicht immer eindeutig ist? Freie akademische Berufe, besonders Ärzte und Rechtsanwälte, werden heute eindeutig dem Bürgertum – soweit an dem Begriff festgehalten wird – zugeordnet und rechnen sich ihm zu. Vor allem die Ärzte haben mit zunehmender Arztdichte auch relativ an Bedeutung ge­wonnen. Wie des Mikrozensus); der Rückgang der Selbständigen ist durch die Entwicklung der Landwirtschaft weit stärker als durch den Rückgang der Selbständigkeit im Produzierenden Gewerbe zu erklären. 27 Von der »Idee der Autonomie« als einem »Verbindungsglied zwischen den faktisch sehr unterschiedlichen Lebens- und Existenzformen« von Bürgern spricht Gall, Selbstverständnis, S. 612 f., vornehmlich im Blick auf das frühe 19. Jahrhundert. 28 Zur Debatte vgl., statt vieler Hinweise, Frei, Norbert, Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: GG, Jg. 19, 1993, S. 367–387; zum Folgenden s. Lenger, Friedrich, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt a. M. 1988, S. 210 ff., bes. 217 f. mit Hinweisen zum Statusgewinn und zur Selbst- bzw. Fremdzuordnung selbständiger Handwerker im Schichtgefüge der Bundesrepublik.

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stand und steht es mit dem Apotheker, und wohin rechnet sich, wohin zählt man die erfolgreiche Boutique-Besitzerin: als Bürgerin, Kleinbürgerin oder selbständige Kunstschaffende? Außer Zweifel steht die Abnahme der klassischen selbständigen Erwerbs­ tätigkeit im gewerbenahen Dienstleistungsbereich (Banken und Versicherungen), der für sich andererseits im Zuge der Tertiärisierung der Erwerbsstruktur in Westdeutschland zwar verspätet, aber ebenso durchschlagend wie in den westlichen Industriestaaten an Bedeutung gewann. Schon der Filialleiter einer Kreissparkasse in einer Kleinstadt gehört heute im örtlichen Milieu ganz eindeutig zum Establishment, zum Bürgertum, stärker vermutlich oder doch anders als der Filialleiter eines großen Supermarkts. Solche herausgehobenen, hochqualifizierten, abgeleitet selbständigen, »autonomen« Positionen finden sich heute zuhauf. Auch aus dieser Sicht hätten sich mithin die mindestens tendenziell »bürgerlichen« Positionen und Professionen vervielfacht. Das trifft auch in der starken Ausweitung des öffentlichen Dienstes zu. Hier wie in den privaten Dienstleistungen ist die Akademisierung der Erwerbsformen beinahe unaufhaltsam vorangeschritten, und es erscheint noch ungeklärt, in welchem Umfang damit die Übernahme eines bürgerlichen Lebensstils einherging. Wenn die besoldungstechnische »A 13-Schwelle«, die Abgrenzung der unteren Chargen vom Studienrat, Richter, Staatsanwalt, Regierungs-, Verwaltungs- oder Polizeirat, auch zum Major, dereinst – man denke an Amts- und Ehrentitel – wahre Exklusivität vornehmlich durch das Akademikerprivileg definierte, würde heute allein die große Zahl der so Privilegierten eventuelle Exklusivitätsansprüche irritieren müssen, zu schweigen von der etablierten Durchlässigkeit, mit der etwa verdiente Kommunalbeamte Oberamtsräte werden. Überdies ist dem neuen »Bürgertum« die Abgrenzungsnotwendigkeit weitgehend entglitten. Betrachtet man ergänzend die korrespondierenden (nichtbürgerlichen) Erwerbsformen, fällt zum einen auf, dass sich die bäuerliche Erwerbstätigkeit als der älteste Kontrapunkt zur bürgerlichen Existenz seit den frühen 1950er Jahren in einem geradezu rasanten Prozess auf heutige Restbestände reduziert hat, während zum anderen die Arbeiterschaft als der neuere Antipode einen tief greifenden Strukturwandel erfahren hat und ins­gesamt von den Angestellten und Beamten überrundet worden ist. Die nähere Betrachtung zeigt dann, dass, ganz unbeschadet der immensen Veränderungen in der Lebensführung der Arbeiter und in ihren Besitz- und Abhängigkeitsverhältnissen, die alten Kerne der proletarischen Klassenbildung, die schwerindustriellen Bevölkerungsagglomerationen in ihrer defizienten Urbanität und mit ihren unbürgerlichen Erwerbsstrukturen und Daseinsverhältnissen um Kohle und Stahl, nahezu von der Bildfläche verschwunden sind. Die technischen und die besseren kaufmännischen Angestellten hatte die Politik im Kaiserreich dem Mittelstand zugesellt, und einen Teil  dieses Erbes tragen sie noch heute. Der Adel ist auch aus der deutschen Geschichte beinahe verschwunden. 285 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Man darf aus diesen Gesichtspunkten schließen, dass, gäbe es ein Bürgertum, sein gesellschaftliches Gewicht mittelbar gestärkt worden wäre.29 In jedem Fall empfiehlt sich jedoch für die sozialgeschichtliche Forschung eine intensivere Befassung mit der langfristigen Entwicklung der Mittelschichten im 20. Jahrhundert. Solche Forschungsansätze dürfen sich den Blick auf strukturelle Veränderungen nicht vorschnell durch Fragen verstellen lassen, die aus der Sicht von 1933 oder sonstwie aus der politischen Perspektive naheliegen. Vielmehr sind die Kontinuitäten im Auge zu behalten, die in den Professionen wirksam waren und beispielsweise die Juristenfamilien, Juristenausbildung und -organisierung des Kaiserreichs mit der Bundesrepublik verbinden. In der Schaffung und Verfestigung neuer bürgerlicher Berufsfelder wie denen der Ingenieure, der Steuerberater oder der Diplomkaufleute scheinen ähnliche markt- und statusbezogene Mechanismen auch heute noch zu wirken, wie sie bisher vorwiegend für das 19. Jahrhundert unter dem Begriff der Professionalisierung untersucht worden sind. Der Professionalisierungsbegriff erscheint aber auch erweiterungsbedürftig, u. a. weil im 20. Jahrhundert die staatliche Karrieren­definition vermutlich auch im gewerblichen Bereich maßgeblich wurde. Als eigenes Berufsfeld, das im 20. Jahrhundert bekanntlich außerordentlich stark an Bedeutung zunahm, müssen – über die bisher ausgiebig behandelte Angestelltenschaft 29 Vgl. zu den vorstehenden Ausführungen, aus der Fülle der Literatur, u. a. Berger, Peter A., Entstrukturierte Klassengesellschaft? Klassenbild und Strukturen sozialer Ungleichheit im historischen Wandel, Opladen 1986; ders., Neue Erwerbsklassenbildung in der Ausweitung der Lohnarbeit, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter im 20.  Jahrhundert, Stuttgart 1991, S.  665–693; auch Deppe, Frank u. Dörre, Klaus, Klassenbildung und Massenkultur im 20.  Jahrhundert, ebd. S.  726–771, sowie hierzu und weiterführend die Bemerkungen von Mooser, Josef, ebd. S.  653–664; zentral außerdem ders., Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt a. M. 1984; Fischer, Wolfram (Hg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987 (Handbuch der europ. Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 6), mit den Beiträgen von Wolfram Fischer und Friedrich-Wilhelm Henning; zu den anhaltenden Auseinandersetzungen der Sozialwissenschaftler über die Tragfähigkeit von Schichtbzw. Klassenbegriffen etwa die Beiträge in Glatzer, Wolfgang u. a., Recent Social Trends in West Germany, 1960–1990, Frankfurt a. M. 1992; ders. (Hg.), Entwicklungstendenzen der Sozialstruktur, Frankfurt a. M. 1992. Ferner: Lepsius, M. Rainer, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland. Lebenslage, Interessenvermittlung und Wertorientierungen, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 166–209; z. T. älterer Forschungsstand in den Beiträgen in Conze, Werner u. Lepsius, M. Rainer, (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1983 (völlig unzureichend z. B. der Beitrag zur Landwirtschaft). Ferner: Siegrist, Hannes (Hg.), Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich, Göttingen 1988; ders., Der Akademiker als Bürger. Die westdeutschen gebildeten Mittelklassen 1945–1965 in historischer Perspektive, in: Wolfram Fischer-Rosenthal u. a. (Hg.), Biographien in Deutschland, Opladen 1995; Kaelble, Hartmut, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880– 1980, München 1987, S. 25 ff. Außerdem: Schildt, Axel u. Sywottek, Arnold (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.

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hinaus – die sog. »unfreien Professionen« und vor allem die Beamtenschaft auch im Rahmen der Bürgertumsforschung genauer untersucht werden.30 Vor allem aber müssen Manager und Unternehmer als wichtige wirtschaft­ liche Leistungs- und Funktionseliten endlich auch für das 20. Jahrhundert stärker in sozialgeschichtlicher Sicht, also in Branchen- und Regionalbezügen, aber auch mit prosopografischen Methoden genauer untersucht werden.31 Die Frage nach Kontinuitäten und Kontinuitätsbrüchen sowie nach dem Formwandel der unternehmerischen Wirkungsweise und Existenzform im Kontext des überlieferten Bildes von der Unternehmerfamilie, der Märkte, der wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Betriebsverfassung und der überfamilialen, außerbetrieblichen und außerverbandlichen Vergesellschaftung wird vermutlich zur Unterscheidung von Unternehmergenerationen führen, deren Wechsel eher in 30 Siegrist, Hannes, Bürgerliche Berufe. Die Professionen und das Bürgertum, in: ders., Bürgerliche Berufe, S.  11–49; Jarausch, Konrad H., Die unfreien Professionen. Überlegungen zu den Wandlungsprozessen im deutschen Bildungsbürgertum 1900–1955, in: Kocka u. Frevert, Bürgertum, Bd. 2, S. 124–146; ders., The Unfree Professions. German Lawyers, Teachers and Engineers, 1900–1950, New York 1990, hierzu und über weitere neuere Literatur: Lundgreen, Peter, Akademiker und »Professionen« in Deutschland, in: HZ, Bd. 254, 1992, S. 657–670; s. ferner ders., Education and Occupation in Germany, 19th and 20th Centuries: A Macro-Analysis Comparing the Private Sector with the Public Sector, in: ­Nobuo Kawabe u. Eisuke Daitó (Hg.), Education and Training in the Development of Modern Corporations, Tokio 1993, S. 104–124; s. u. Anm. 53 sowie den Literaturbericht von Wunder, Bernd, Zur Geschichte der deutschen Beamtenschaft 1945–1985, in: GG, Jg.  17,1991, S.  ­256–277, bes. 258 f. über sozialgeschichtliche Forschungsrichtungen und 274 ff. für die Zeit der Bundesrepublik. 31 Die Geschichtsschreibung über Unternehmer im 20.  Jahrhundert folgt ganz überwiegend den ausgetretenen Pfaden der Verbands- und Verbandspolitikgeschichte. Untersuchungen über »corporate identity«, »Unternehmenskultur« u. ä. scheinen in jüngerer Zeit anzu­laufen. Im Rahmen der Bürgertumsforschung ist die Geschichte des Wirtschaftsbürgertums bisher leider vornehmlich für die »Pionierphase« und ausnahmsweise bis 1914 betrieben worden (vgl. etwa Kocka u. Frevert, Bürgertum, Bd. 2, S. 9–91); s. auch oben Anm. 15 u. 18. Für die Zeit nach 1945 vgl. bes. Berghahn, V., Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1985 (S. 70 ff. zur Zirkulation der »Industrieeliten«), sowie, unter Betonung von Kontinuitäten in Unternehmerorganisation (vornehmlich über die Industrie- und Handelskammern) und Unternehmerpolitik: Schulze, Rainer, Unternehmerische Interessenvertretung in Westdeutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Jg. 19, 1990, S. 283–311 (auch ders., Unternehmerische Selbstverwaltung und Politik. Die Rolle der Industrie- und Handelskammern in Niedersachsen und Bremen als Vertretungen der Unternehmerinteressen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Hildesheim 1988); vgl. die weiteren Hinweise bei Erker, Paul, Zeitgeschichte als Sozialgeschichte. Forschungsstand und Forschungsdefizite, in: GG, Jg. 19, 1993, S. 202–238, 233 f.; ferner als Forschungsbericht auch zur Unternehmergeschichte: Jaeger, Hans, Unternehmensgeschichte in Deutschland seit 1945. Schwerpunkte – Tendenzen – Ergebnisse, in: GG, Jg. 18, 1992, S. 107–132, bes. 111–115 (ebenfalls ein Spiegel der schlimmen Kenntnismängel in der Sozialgeschichte der Unternehmer im 20. Jahrhundert). Ganz unzureichend, im Wesentlichen auch auf die politische Repräsentation im Reichstag konzentriert, ist Liesebach, Ingolf, Der Wandel der politischen Führungsschicht in der deutschen Industrie 1918–1945, Diss. Basel 1956, Hannover 1957.

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den 1960er Jahren als etwa um 1945 zu datieren ist. Unternehmerisches Stiftungswesen und Mäzenatentum, in Deutschland scheinbar gering entwickelt, die Haltung der Unternehmer zu staatlicher und betrieblicher Sozialpolitik, die Tendenzen zur Herausbildung einer Unternehmenskultur als »corporate identity« und überhaupt die angemessenen Begriffe zur Umschreibung von Existenz und Wirkungsweise der Unternehmer in der sozialen Marktwirtschaft gehören vor dem Hintergrund einwirkender Traditionen untersucht. 2. In mehreren Stufen mediatisierte der Durchbruch zum modernen Wohlfahrtsstaat die bürgerliche Existenzform und führte letztlich in eine Krise der bürgerlichen Exklusivität. Die erste, archaische Stufe war die Phase der Reparatur an den zerstörerischen Folgen des Industriekapitalismus, und das hat das Bürgertum allenfalls moralisch betroffen. Das Ziel der zweiten Phase war die Existenzsicherung in der und trotz der Unselbständigkeit. In der dritten, anhaltenden Phase wurden allen Existenzen in den Gesellschaften letztlich gemeinsame Existenzrechte zugebilligt, innerhalb derer Freiheit und Gleichheit in einem Schwebezustand gehalten, mithin Herkommens-, Vermögens- und Leistungsdifferenzen, die unterschiedliche Lebensformen, gesellschaftliche Status und Herrschaftsansprüche begründen, nach dem Maß ihrer gesamtgesellschaftlichen Duldbarkeit anerkannt, erhalten und gefördert werden. Diese sehr grundsätzliche Entwicklung32 wurde und wird gestützt und ergänzt durch gleichfalls sehr grundsätzliche und irreversible gesellschaftliche und politische Vorgänge, die sie im Resultat auch zusammenfasst. Die Demokratisierung von Politik und Gesellschaft ließ quasi-ständische Privilegien verschwinden, schwächte damit entscheidend bürgerliche Exklusivität und den darin enthaltenen Anspruch auf Selbstergänzung und produzierte prinzipiell gleichermaßen berechtigte Staatsbürger. Insofern setzte die westdeutsche Republik durch die Mitbestimmung in Wirtschaftsführung und -organisation der Gewerbebetriebe, durch die Personalvertretung in Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie nicht zuletzt durch den Übergang zur Gruppenuniversität sogar eigene Akzente. Die Urbanisierung der Gesellschaft griff weit über die quantitative Verstädterung hinaus, indem sie vornehmlich dank der gleich zu erwähnenden Innovationen in den Verkehrs- und Kommunikationstechnologien die urbane Lebensweise (Arbeitsteilung mit Dienstleistung; Freizeit, Konsum und Kultur; politische Partizipation) auch dahin diffundieren ließ, wo nicht einmal notwendig Städte sind. Der Kontext von Stadt und Bürgertum löste sich damit – oder aber er festigte sich, in anderer Sicht, denn die große urbane Gesellschaft wurde insgesamt eine bürgerliche. Der Fortgang der Urbanisierung im 20.  Jahrhundert und zumal die Diffusion urbaner Lebens­formen über die 32 Vgl. Ritter, Gerhard A., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989; Mommsen Wolfgang J. u. Mock, Wolfgang (Hg.), Die Ent­stehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850–1950, Stuttgart 1982; Abelshauser, Werner (Hg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Wiesbaden 1987.

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Großstädte hinaus bieten vermutlich den wichtigsten Verständnishintergrund für Formwandel und Verallgemeinerung von Bürgertum und Bürgerlichkeit.33 Nicht zuletzt hat die Revolution der Kommunikationstechnologien und -stile seit dem frühen 20. Jahrhundert – eine durchaus eigenständige, jedoch zuerst und vornehmlich im Stadtraum vollzogene Entwicklung – die formelle Erhaltung bürgerlicher Exklusivität erschwert und diese Exklusivität in der Informationsgesellschaft schließlich aufgehoben. Der Verein als die große, im Kern doch stadtbürgerliche Erfindung zur Organisation von Interessen, Freizeit-, Kultur- und Kommunikationsbedürfnissen sowie, wichtiger noch, zur über­ familialen, gleichwohl exklusiven, Generationen übergreifenden Sozialisation im Bürgertum wurde in einer ersten »nachbürgerlichen« Entwicklungsphase von den Arbeitern und Unterschichten, bald dann in der ländlichen Bevölkerung adaptiert, ehe er mindestens in großen Städten bis heute ganz erheblich an Bedeutung einbüßte.34 Die Presse verlor unter der Konkurrenz neuer Informationsträger, die jedermann verfügbar wurden und an Geschwindigkeit und Komfort nicht zu übertreffen sind, seit den 1930er Jahren einen Teil ihrer vormals sinn- und gemeinschaftsstiftenden Funktionen, auch in politischer Hinsicht. Das Reisen, eine alte bildungsbürgerliche Tugend und ein nachgerade klassisches Bürgerprivileg, wurde in jeder Form nach 1950 eine Massenerfahrung. All das waren Entwicklungen, deren Durchsetzungsgeschwindigkeit und -grad zwar schichtspezifische Abstufungen erkennen lässt, denen sich die modernen Gesellschaften jedoch global ausgesetzt sahen, so dass sich auch ihre Wirkungen globalisierten. Das moderne Bürgertum verfügt nicht mehr über ein Privileg an Individualität in exklusiver Kommunikation. Sein Kulturkon33 Als klassische Texte nach wie vor: Simmel, Georg, Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: ders., Brücke und Tür, hg. v. Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 227–242; Wirth, Louis, Urbanism as a way of life, in: American Journal of Sociology, Jg. 44, 1938, S. 1–24, dt. u. a. in Herlyn, Ulfert, Stadt und Sozialstruktur, München 1974, S. 42–66; s. auch die Einleitung zu Reulecke, Urbanisierung, S. 11 f., sowie Niethammer, Stadtgeschichte, S.113–117. 34 Nach wie vor steht in den Forschungen zur Vereinsgeschichte vor allem das frühe 19. Jahrhundert ganz im Vordergrund. Statt zahlreicher Hinweise s. den Sammelband von François, Etienne (Hg.), Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse, ­1750–1850, Paris 1986. Die überfamiliale Sozialisationsfunktion des bürgerlichen Vereinswesens wird durch den von Maurice Agulhon eingeführten sozialgeschichtlichen Begriff der »sociabilité« (vgl. ebd. S. 13 ff., anders, auf Kommunikation konzentriert, hingegen Otto Dann, ebd. S.  314 f.; zentral für die erste Jahrhunderthälfte: Agulhon, Maurice, Le cercle dans la France bourgeoise, 1810–1848. Etude d’une mutation de sociabilité, Paris 1977) am besten erfasst. Die Forschung hierüber wird in denjenigen Teilen der Bürgertumsforschung, die auf Vergesellschaftungsprozesse zielen, wie auch in den entsprechenden Beiträgen von M. Rainer Lepsius (s. o. Anm. 13 u. 16) bisher m. W. nicht aufgegriffen; in den Untersuchungen im Umkreis von Lothar Gall (s. o. Anm. 1) wird eher, durch den Nachweis von Verknüpfungen und die Analyse der sozialen Schichtung bürgerlicher Vereine, auf die politische Bedeutung des Vereinswesens für die stadtbürgerliche Herrschaft abgehoben. Vgl. Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinswesens während der industriellen Revolution in Deutschland, in diesem Bd. S. 174–229. Ebd. auch Hinweise zur Vereinsgeschichte im 20. Jahrhundert; s. auch die Bemerkungen bei Mommsen, Auflösung des Bürgertums, S. 292 ff.

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sum und sein Lebensstil, unter Einschluss der Familienförmigkeit bürgerlichen Daseins, entbehren heute der früheren Sonderung, jedenfalls dem Maß nach. Darüber hinaus muss man der Revolutionierung der Technologien für Kommunikation einen entscheidenden Einfluss auf den Verlust oder doch die Beeinträchtigung klassischer Formen der Vergesellschaftung zuschreiben. Familien-, freundschafts- und vereinsgebundene Kommunikation ließ die Bürger des 19. Jahrhunderts »unter sich« bleiben, und zusätzlich begründete und begrenzte die gleich zu behandelnde Bildungsdistanz die Befähigung zur Kommunikation. Die lokale Zeitung stützte dies eher  – wie auch, zwischen Jahrhundertwende und 1950, das Telefon –, als dass sie, als potentiell anonymer Mechanismus zur Verbreitung von Botschaften, deren Verfügbarkeit demokratisiert hätte. Anders dann die Generalanzeiger-, später die Massenpresse und ganz anders Rundfunk und Fernsehen: Die Botschaften lösten sich vom persönlichen Kontext und vervielfältigten sich, so dass die statusspezifische Zuschreibung von Information, gar Bildung, durch Medien beiseite gedrängt wurde.35 Das hat die Empfänger der Botschaften von ihren Absendern prinzipiell unterschieden und darüber hinaus in einem ganz anderen Sinn individuiert, als mit jenem Individualismus gemeint sein kann, der der bürgerlichen Lebensform gern unterstellt wird. Die Technik und der damit fest verknüpfte Stil der modernen Massenkommunikation haben das Bürgertum als einen Kontext definierbarer Kommunikation entgrenzt. Großstädte, weitreichende Marktverflechtungen und wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen haben ferner das Konsumverhalten von seinen ehedem starken ständischen Zuschreibungen emanzipiert und, darüber hinausgehend, seit den 1950er Jahren auch klassengesellschaftlich erzwungene Beschränkungen ab­gestreift. Auch dieser Prozess zeichnete sich in den wachsenden Haushaltsspielräumen der Lohnabhängigen und in den neuen Formen der Versorgung über die Märkte und deren Organisatoren (Zwischenhandel, Warenhäuser) schon vor 1914 ab. Auf besondere Weise verbanden sich dabei, im neuen Phänomen der Werbung, neue Kommunikationsstile, Wohlstandsgewinne und die Entgrenzung der Bedürfnisse hin zur urbanen Lebensform. Mit der langsamen Adaption der bürgerlichen Familienbildung vornehmlich bei der Gebürtigkeit, zum Teil auch beim Heiratsalter, in handwerklichen und proletarischen Schichten verband sich übrigens ein größerer Wohlstandsgewinn, mithin in höherem Maße Konsumfähigkeit, als mit den nachweislichen Reallohnzuwächsen.36 Der »Kulturkonsum« in Facharbeiterhaushalten überstieg schon in den 1920er Jahren den vieler Angestellter und unterer wie mittlerer Beamter.37 Die für 35 Der Bd. von Bobrowsky, Manfred u. Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.), Wege zur Kommunikationsgeschichte, München 1987, zeigt einige Möglichkeiten einer Ausweitung der traditionellen pressegeschichtlichen Forschung auf eine Kommunikationsgeschichte in sozialen Kontexten auf. 36 S. Ritter u. Tenfelde, S. 560 ff., sowie Tenfelde, Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen, in diesem Bd. S. 70–92. 37 Vgl. schon Geiger, Schichtung, S. 130, hier als Argument gegen die Bürgerlichkeit der Angestellten gewendet.

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Deutschland wohl mit Ausnahme der Arbeiterhaushalte bisher wenig untersuchte Konsumgeschichte38 birgt viele Aspekte, unter ihnen vor allem den der klassen- und schichtüberschreitenden Verallgemeinerung von Lebens­stilen. Dazu trug, in anderer Weise, auch der scharfe Anstieg der Grundrente in den Großstädten während der Urbanisierung bei. Die urbane Mietergesellschaft umfasste wohl zunehmend auch bürgerliche Existenzen. »Bürgerlichkeit« als eigene Lebensform verblasste deshalb, und das blieb langfristig nicht ohne Folgen für die gleichfalls mit dem Begriff verbundenen Wert- und Verhaltens­ orientierungen. Die Entstehung des Wohlfahrtsstaats, die Urbanisierung, die Demokratisierung und die Revolutionierung von Kommunikation und Konsum sind selbstverständlich höchst unterschiedlichen Wurzeln zu verdanken und haben Entwicklungen in eigenem Recht genommen, aber diese Entwicklungen waren eben auch oftmals miteinander verknüpft. Maßgeblich im Hinblick auf die  – wie zu zeigen versucht wurde  – vielfältige Entgrenzung des Bürgertums als eines bedingt vergesellschafteten Gefüges von Inhabern hervorgehobener gesellschaftlicher Positionen und der Bürgerlichkeit als Lebensform erscheint mir die wohlfahrtsstaatliche Grundlegung der modernen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Das hat keineswegs an sich zur gänzlichen Irrelevanz etwa von klassengesellschaftlichen Positionszuschreibungen geführt. Ungleichheit ist nicht überwunden worden; sie ist ein Merkmal alter wie moderner Gesellschaften, aber Rechtsgleichheit und weitgehend auch soziale Sicherheit gegen Verelendung wurden erlangt. Insofern hat sich die Situation der Gesamtbevölkerungen 38 Zu den Arbeiterhaushalten Ritter u. Tenfelde, S.  497 ff. m. d. Literatur, sowie in diesem Bd. S. 70–92; ferner vornehmlich zur älteren Konsumgeschichte: Pierenkemper, Toni (Hg.), Haushalt und Verbrauch in historischer Perspektive. Zum Wandel des privaten Verbrauchs in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1987; Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Münster 1987; einige Untersuchungen liegen ferner über die Kriegs- und Inflationszeit vor. Zur Debatte über moderne Konsumbzw. »Massenkultur« im französischen und angloamerikanischen Forschungsfeld etwa: Le mouvement social, Nr. 152, 1990 (über »popular culture«); History and Culture, Jg. 7, 1990; Denning, Michael, The End of Mass Culture, in: International Labor and Working Class History, Nr.  37, 1990, S.  5–17; Cross, Gary, Time, Money, and Labor History’s Encounter with Consumer Culture, ebd., Nr. 43, 1993, S. 2–17, mit Diskussionsbeiträgen von M. Rustin und V. de Grazia. Für Westdeutschland nach 1945 s. einige Beiträge in Ruppert, Wolfgang (Hg.), Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt a. M. 1993 (allzu abstrakt allerdings Sabean, David, Die Produktion von Sinn beim Konsum der Dinge, ebd. S. 37–51); bes. Polster, Werner, Wandlungen der Lebensweise im Spiegel der Konsumentwicklung – Vom Dienstleistungskonsum zum demokratischen Warenkonsum, in: Klaus Voy u. a. (Hg.), Gesellschaftliche Transformationsprozesse und materielle Lebensweise. Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1949–1989), Bd. 2, Marburg 1991, S. 193–262. Zum Warenhaus: Homburg, Heidrun, Warenhausunternehmen und ihre Gründer in Frankreich und Deutschland oder: eine diskrete Elite und mancherlei Mythen, in: JbWG, 1992/1, S.  183–219, unter umfassender Literaturauswertung.

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dem ursprünglich bürgerlichen Status stark angenähert. Seit den Untersuchungen von Thomas H.  Marshall über die » Soziologie des Wohlfahrtsstaates« sind zudem diejenigen wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen bewusster geworden, mittels derer sich neue Zuordnungen vollziehen und die überkommenen gesellschaftliche Ordnungsschemata relativieren.39 Man denke an die Senioren­ generation oder an Alleinerziehende: Grenzbestimmungen, die sich mit dem Bürgertum oder einer bürgerlichen Lebensform verbänden, versagen hier völlig. Die wohlfahrtsstaatliche Annäherung an »soziale Grundrechte«, die im bürgerlichen Denken zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts wohl kaum antizipiert wurden, überschreitet zudem die ursprüngliche bürgerliche Gleichheitserwartung. Die moderne Gesellschaft hat sich deshalb über die bürgerliche Gesellschaft als eine Gesellschaft von Bürgern hinaus entwickelt. 3. Wer die Selbstaussagen von Bildungsbürgern etwa seit der Jahrhundertwende und bis zur Weltwirtschaftskrise auch nur in Ausschnitten untersucht, kommt nicht umhin, ein verbreitetes Krisenbewusstsein zu diagnostizieren. Wer im Überblick dieses Zeitraums die wirtschaftliche Situation dieser freilich besonders schwer einzugrenzenden Gruppe, ihre konkreten Chancen auf Positionswahrung – »Überfüllungskrisen« auf den akademischen Arbeitsmärkten waren nichts Neues  – und insgesamt die anhaltende Exklusivität der akademischen Bildung zusätzlich in den Blick nimmt, gewahrt eine merkwürdige Diskrepanz, die zu der Überlegung veranlasst, dass diese »Krise« mehr in den Köpfen als in den Haushalten stattgefunden haben könnte.40 Die Krise der Bildung und des 39 Marshall, Thomas H., Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt 1992; vgl. bes. S.  66 ff., 81. Zu Marshall s. u. a. seinen Schüler Dahrendorf, Konflikt, S. 60–67. Aus der soziologischen Forschung s. etwa Leisering, Lutz u. Voges, Wolfgang, Erzeugt der Wohlfahrtsstaat seine eigene Klientel? Eine theoretische und empirische Analyse von Armutsprozessen, in: Stephan Leibfried u. Wolfgang Voges (Hg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, Opladen 1992, S. 446–472. Hans Günter Hockerts, einer der besten Kenner der Geschichte der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats seit 1945, hat in jüngeren Veröffentlichungen wiederholt auf die Notwendigkeit einer Umkehrung der Sichtweise hingewiesen: Indem während der 1950er Jahre Sozialpolitik aus ihrer Verknüpfung mit der Arbeiterfrage gelöst und soziale Sicherheit als allgemeines Staatsbürgerrecht postuliert wurde, wuchs der Politik in neuer Weise soziale Ordnungskompetenz zu. S. etwa Einleitung und Auswertung, in: Tenfelde, Arbeiter im 20. Jahrhundert, S. 395–405, 401. 40 Vgl. bes. Titze, Hartmut, Hochschulen, in: Dieter Langewiesche u. Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd.  5: 1918–1945, München 1989, S. 209–240, 220; siehe auch o. Anm. 13. Titze gibt m. E., unter Hinweis auf den fragmentarischen Forschungsstand, einen überzeugenden Überblick. – Nach Bieber, S. 17 f. (s. dort auch die einschlägige Lit.), wuchs die Reichsbevölkerung von 1869 bis 1912 um ca. 60 %, während die Gesamtzahl angehender Akademiker von 18.000 auf 170.000, die der Lehrer und Ärzte auf das 2,2- bis 2,4-fache, die der Zahnärzte auf das 22-fache stieg. – Dass das Krisenbewusstsein weit »nach unten« reichte, zeigt in einem quellennahen, lokalen Kontext Hepach, Wolf-Dieter, Von der Reichsstadt zur »zweiten« Stadt im Königreich Württemberg: Wandel bürgerlicher Kultur in Ulm von 1803 bis 1918, in: Hans Eugen Specker (Hg.), Stadt und Kultur, Sigmaringen 1983, S. 108–121.

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Bildungsbürgertums, die wiederum wesentlich als Krise bürgerlicher Exklusivität erscheint, ist besonders schwer zu deuten. Im Windschatten des monarchischen Kulturstaats hatte sich offenbar schon das gesellschaftstheoretische Denken in Deutschland in mancherlei Hinsicht von der gesellschaftlichen Entwicklung entfernt und von sich aus Möglichkeiten gefunden, das Ende der bürgerlichen Kultur zu diagnostizieren. Gewiss trug der Aufstieg der Naturwissenschaften hierzu bei, aber die tendenzielle Selbstabkapselung41 und auch Selbststilisierung vieler Bildungsbürger zu Geistesaristokraten unter pessimistischen Zukunftserwartungen ist vermutlich vornehmlich als eine innere Legitimationskrise der bisher dominanten Bildungsinhalte, gespiegelt etwa im Werturteilsstreit, darüber hinaus als eine – durch das Wachstum und die Siegesgewissheit der Arbeiterbewegung bis 1914 und deren schein­baren Sieg 1918 ungemein begünstigte – Fehlperzeption des langfristigen sozialen und politischen Strukturwandels zu deuten.42 Unter den Vorzeichen des Imperialis41 Im Verhältnis des Bürgertums zum Adel wird für das späte Kaiserreich heute von »schrump­ fende[r] Distanz« und (bei »Teilen des Großbürgertums«) »zunehmende[r] Verflechtung« ausgegangen: Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 67. Zur anhaltenden Distanz der Unternehmer zum (Bildungs-)Bürgertum in Deutschland vgl. aber Kaelble, Hartmut, Französisches und deutsches Bürgertum 1870–1914, in: Kocka u. Frevert, Bürgertum, Bd. 1, S. 107–140, 121; Hardtwig, Wolfgang, Großstadt und Bürgerlichkeit, unterstützt diese Ansicht vor dem Hintergrund städtischer Konfliktlagen; ders., Drei Berliner Porträts: Wilhelm von Bode, Eduard Arnhold, Harry Graf Kessler, in: Günter u. Waltraud Braun (Hg.), Mäzenatentum in Berlin. Bürgersinn und kulturelle Kompetenz unter sich verändernden Bedingungen, Berlin 1993, S. 39–71, 55, betont am Beispiel des Kunstsammler- und Mäzenatentums die »geistige und kommunikative Brücke zwischen bürgerlich-adliger Bildungsund Wirtschaftselite«. Berghoff, Hartmut u. Möller, Roland, Unternehmer in Deutschland und England 1870–1914. Aspekte eines kollektivbiographischen Vergleichs, in: HZ, Bd. 256, 1993, S. 353–386, 384, zeigen, dass sich die deutschen im Vergleich zu den englischen Unternehmern in ihrem kommunalpolitischen Engagement zurückhielten (zur inzwischen vermutlich beendeten Feudalisierungsdebatte vgl. ebd., S.  355 f. sowie auch Kocka, ebd., S. 65 f., und Hardtwig, Großstadt und Bürgerlichkeit, S. 58) und mithin anderen Stadtbürgergruppen Vorrang einräumten. Das wichtigste Gegenargument folgt aus dem zweifellos zunehmenden Konnubium zwischen Bildungsbürgern bzw. Beamten und Wirtschaftsbürgern: Henning, Hansjoachim, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung 1860–1914. Soziales Verhalten und Soziale Strukturen, Teil 1: Das Bildungsbürgertum in den preußischen Westprovinzen, Wiesbaden 1972, S.  269–272, 291–294, 331–334. 42 Über das zunehmende »aristokratische Bewußtsein« unter Bildungsbürgern in den Vorkriegsjahren s. etwa Izenberg, Gerald N., Die »Aristokratisierung« der bürgerlichen Kultur im 19.  Jahrhundert, in: Peter-Uwe Hohendahl u. Paul-Michael Lützeler (Hg.), Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200–1900, Stuttgart 1979, S.  233–244, sowie die weiteren Hinweise bei vom Bruch, Kaiser und Bürger, S. 130; ders., Gesellschaftliche Funktionen, S. 155 f.; Schiera, Pierangelo, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 261 f. (mit den entsprechenden Zitaten). Über das Leiden und Zerbrechen an solcher Geistesaristokratie vgl. v. Leitner, Gerit, Der Fall Clara Immerwahr. Leben für eine humane Wissenschaft, München 1993 (es handelt sich um die Gattin Fritz Habers). Über die Siegesgewissheit der Arbeiterbewegung s. etwa

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mus kontrastierte die außengerichtete Kulturstaatsideologie denn auch merkwürdig mit dem vielfach diagnostizierten Verfall bürgerlicher Werte und Bildung.43 Indessen verwundert den Betrachter dieser Debatten immer wieder, wie klein der Kreis der wirklich meinungsführenden Redner war und wie groß ihre Resonanz in der breiteren Anhängerschaft der Gebildeten. Nach 1918, und natürlich unter dem Eindruck des Krieges, der Revolution und Inflation, dann noch einmal als Folge der Weltwirtschaftskrise und der nationalsozialistischen Wahlsiege von 1930 bis 1932, schwoll das Krisengerede gewaltig an. Es verbündete sich nun, mindestens in der Proletarisierungsangst und auch in der politischen Wirkung, mit ganz anders motivierten Krisenklagen wie jenen des Kleinbürgertums.44 Es gewann sogar literarische und popularphilosophische Dignität. Nietzsche, der »Antibürger« und »Verkünder der Ungleichheit«, war das »entscheidende Erlebnis [dieser] Zeit«.45 Thomas Mann, der 1901 mit seinem Roman über den generationenlangen Abstieg der »Buddenbrooks« mit einem Schlage berühmt geworden war, beschwor 1918 in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« den deutschen »Prozeß der Entbürgerlichung«, gewann 1924 im »Zauberberg« einem morbide gewordenen Bürgertum ästhetische Qualitäten ab und konzipierte noch im späteren Exil das Leben des Tonsetzers Adrian Leverkühn vom Ende des Bürgertums her. Er hat sich 1926 in einem Festvortrag zur 700-Jahrfeier der Heimatstadt Lübeck, Versuch der Versöhnung mit einem wenig geliebten Mitbürger, ausführlich über Stadtbürgertum und »Bürgerlichkeit« geäußert:46 Manches Wahre sei an der vielseitigen Vermeldung vom Ende der bürgerlichen Lebensform. Wem es geschuldet Langewiesche, Dieter, Fortschritt als sozialistische Hoffnung, in: Klaus Schönhoven u. Dietrich Staritz (Hg.), Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Festschrift für Hermann Weber, Köln 1993, S. 39–55. 43 Vom Bruch, Rüdiger, Weltpolitik als Kulturmission. Auswärtige Kulturpolitik und Bildungsbürgertum in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Paderborn 1982, zeigt u. a., dass und wie »Kultur« im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in ganz anderer Weise als heute, zum »Schlagwort des Tages« (S. 48) wurde. 44 Hierzu für die Kleinbürger jetzt ausführlich: Haupt, Heinz-Gerhard, La petite Bourgeoisie en France et en Allemagne dans l’entre-deux-guerres, in: Horst Möller u. a. (Hg.), Gefährdete Mitte? Mittelschichten und politische Kultur zwischen den Weltkriegen: Italien, Frankreich und Deutschland, Sigmaringen 1993, S.  35–55, 41 ff.; für die Bildungsbürger (unter Hinweis auf die vermeintlich drohende »Gleichschaltung des Kopfarbeiters mit dem Handarbeiter« während der Revolutionsmonate) Titze, S. 221 f. 45 Nipperdey, Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 690. 46 Lübeck als geistige Lebensform, in: Mann, Thomas, Gesammelte Werke, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1960, S. 376–398, Zitate 396–398 (Hervorheb. i. Orig.); den Hinweis verdanke ich Wolfgang G. Krogel, vgl. ders., Die Stadt als bürgerliche Heimat. Eine Untersuchung zum Geschichtsbild der mittelalterlichen Stadt in der 700-Jahrfeier der Reichsfreiheit Lübecks, in: Zs. d. Vereins f. Lübeckische Geschichte u. Altertumskunde, Jg. 74, 1994. Vgl. zum »Doktor Faustus« Glaser, Hermann, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  1: Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945–1948, München 1985, S. 103 f.; s. auch ­Nipperdey, Bürgertum, S. 88 f.

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sei: »Wo sind die großen Befreiungstaten des umwälzenden Geistes denn hergekommen […]? Der Wille und die Berufung zur höchsten Entbürgerlichung, zum höchstgefährlichen, ja vernichtenden Abenteuer des versuchenden Gedankens: […] noch dieser Friedrich Nietzsche – wo lagen denn seine Wurzeln als im Erdreich bürgerlicher Humanität?« Da sprach »ein bürgerlicher Erzähler, der eigentlich sein Leben lang nur eine Geschichte erzählt: die Geschichte der Entbürgerlichung – aber nicht zum Bourgeois oder zum Marxisten, sondern zum Künstler […].« Arthur Möller van den Bruck, Othmar Spann und viele andere feierten den Mythos der Gemeinschaft statt der Rationalität der Gesellschaft, den Sieg deutscher Kultur über die abstrakte Zivilisation; Oswald Spengler bewunderte den Aufstieg der Städte, mit ihnen des Bürgertums und der Zivilisation, und beschwor, das griff auf die Debatte über den Rückgang der Gebürtigkeit zurück, die »Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen« – darin liege »eine durchaus metaphysische Wendung zum Tode«, »ein Erlöschen von innen heraus«: Zivilisation sei »der Sieg der Stadt, mit dem sie sich vom Boden befreit und an dem sie selbst zugrunde geht.«47 Da war es nicht weit zu Ernst Jünger, für den der »Einbruch elementarer Mächte in den bürgerlichen Raum« ausgemacht war. Die verunsicherten Väter verharrten in den Fehlorientierungen ihrer Sozialisation, »irgendwie in einer guten alten Vorkriegszeit«,48 und die »verlorenen Söhne des Bürgertums« folgten den neuen Propheten in Scharen.49 Es gehöre, so Jün47 Vgl. Marquard, Odo, Philosophie  – Verweigerte Bürgerlichkeit, in: Hilmar Hoffmann u. Heinrich Klotz (Hg.), Die Kultur unseres Jahrhunderts, Düsseldorf 1993, S.  55–65, 65; Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes. Umriß einer Morphologie der Weltgeschichte, n. d. einbändigen Ausg. München 1980, S. 656 ff., Zitate: S. 679, 681, 684. 48 Jünger, Ernst, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt 1932, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6: Essays, Stuttgart o. J. (m. e. Vorwort v. 1963 zu diesen »unberührte[n] Texte(n]«), S. 53, 63. Hierzu: Schwarz, Hans-Peter, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. B. 1962, S. 71–74. 49 Für Dahrendorf, Civil Society, S. 247, waren »die meisten Erwachsenen« in der Weimarer Republik »zur einen Hälfte Bürger und zur anderen Hälfte nach wie vor Untertanen«. Für Schiera, S. 301, wechselten sich »in der wilhelminischen und nachwilhelminischen Generation […] zwei Typen miteinander ab: der ›Untertan‹ und der ›Unpolitische‹.« Weitaus differenzierter: Nipperdey, Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 395. Im Übrigen in Anlehnung an Preuss, Reinhard, Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913–1919, Köln 1991; zu diesem Argument s. den Versuch einer generationengeschichtlichen Deutung in Peukert, Detlev J. K., Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1990, S. 26–30; vgl. ders., Jugend zwischen Krieg und Krise, Köln 1987; Krabbe, Wolfgang R. (Hg.), Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993. Hinweise auch in Tenfelde, Klaus, 1914 bis 1990 – Einheit der Epoche, in: APuZ Nr. 40/27.9.1990, S. 3–11; als Beispiele für generationengeschichtliche Zugriffe auf die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts s. für Frankreich die Beiträge in Vingtième siècle. Revue d’histoire no. 22, 1989: »Les générations«.  – In der zeitgenössischen Krisendebatte waren generationelle Zusammenhänge sehr präsent; s. z. B. Geiger, Theodor, Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit, Jg. 7, 1930, S. 637–654, 653; Eschmann, Ernst Wilhelm, Zur »Krise« des Bürgertums, ebd., Jg. 8, 1931, S. 362–371, 363.

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ger, »zu den Kennzeichen einer neuen Zeit, daß in ihr die bürgerliche Gesellschaft, gleichviel ob sie ihren Freiheitsbegriff in der Masse oder im Individuum zur Darstellung bringen möge, zum Tode verurteilt ist.« Man befinde sich im »Übergang von der liberalen Demokratie zum Arbeitsstaat«.50 Es fasziniert zu sehen, und es ließe sich vermutlich durch einen Vergleich der Selbstreflexionen bürgerlicher Gruppen in anderen Ländern während der Zwischenkriegszeit erhärten, in welcher Sonderung deutsche Bildungsbürger über sich dachten, welches Drohpotential die bolschewistische Revolution und die hausgemachte Arbeiterbewegung darin ausmachten, mit welcher Gewissheit man sich auf dem Weg in eine andere Welt sah – und sei es in den Arbeiter- oder Arbeitsstaat. Schwer dürfte es fallen, in der Zwischenkriegszeit, auch nur in den »goldenen« Jahren, eine Meinung zu identifizieren, der die Vitalität des Bürgertums selbstverständlich gewesen wäre. Das trifft auch für die Nachkriegszeit zu. Dolf Sternberger, der sich 1980 anlässlich eines Stadtjubiläums in Darmstadt nicht festlegen mochte, »ob es spät ist oder früh« in der Geschichte des Bürgers (»und natürlich auch der Bürgerin«), der aber dennoch hoffen wollte, »daß ihm die Zukunft gehört«, ist im Grunde bis heute ein einsamer Rufer geblieben.51 Weiter fasziniert zu sehen, dass diese Selbstunterschätzung in geistes­ geschichtlichen Zusammenhängen ruht und wesentlich von existenzgesicherten, da staatsalimentierten Bildungsbürgern getragen wurde, die noch am wenigsten Veranlassung hatten, den Verlust einer Selbständigkeit zu beklagen, die sie nie besessen hatten  – oder vielleicht den Verlust einer geistigen Autonomie, die nicht gefährdet war. Ihre wirtschaftliche Lage war Schwankungen unterworfen gewesen, und langfristig verringerte sich die Distanz ihrer Einkommen etwa zum Facharbeiterniveau; zeitweilige fachspezifische Überfüllungskrisen auf den Arbeitsmärkten für Akademiker beeinträchtigten die Chancen des Nachwuchses vor allem seit den späten 1920er Jahren, und an den Hungerjahren zwischen 1914 und 1923 hatte man meist ebenso teil wie andere abhängig Beschäftigte. Mag sein, dass dies als »geistige Währungskrise« (Georg Schreiber)52 tief wirkte. In der Stabilisierungskrise 1924 gab es einen radikalen Stellenabbau im öffentlichen Dienst, freilich nach einer Phase der Auf­ blähung. Man mochte deshalb Sündenböcke ausmachen, weibliche Akademiker etwa und vor allem jüdische. Das alles und noch viel mehr lässt die Kultur- und Weltuntergangsstimmung kaum hinreichend verständlich werden. Man kommt nicht umhin, diesem immerhin durch manche wirtschaftliche Fakten gestützten Denken und seinen Zwängen und Traditionen eine soziale Prägekraft zuzuweisen, die vermutlich weit über das alte Bildungsbürgertum im engeren 50 Jünger, S. 28, 259; vgl. S. 128 ff. unter der Überschrift: »Die Ablösung des bürger­lichen Individuums durch die Gestalt des Arbeiters«. 51 Sternberger, Dolf, Bürgertum und Bürgerschaft. Rede zu einem Stadtjubiläum, in: ders., Die Stadt als Urbild. Sieben politische Beiträge, Frankfurt a. M. 1985, S. 34–46, 46. 52 Nach Titze, S. 221.

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Sinne hinaus- und bis in die neuen ingenieur- und naturwissenschaftlichen Eliten hineinreichte.53 Freiberufler und auch die Stelleninhaber im öffentlichen Dienst sahen sich übrigens in der Weltwirtschaftskrise weit weniger beeinträchtigt als diejenigen, denen Arbeitslosigkeit drohte oder die sie erlitten. Wichtig erscheint auch, dass die überkommene Exklusivität der Rekrutierungsfelder für akademische Berufe in der Zwischenkriegszeit zwar in Ansätzen, aber nicht entscheidend gelockert wurde.54 Das geschah, ohne dass es hier näher ausgeführt werden kann, mit durchschlagender Wirkung erst in den späteren 1960er Jahren. Die guten Berufschancen für angestellte und freiberufliche Akademiker in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik wurden in den 1970er Jahren von einem wahren Stellenausbaufieber übertroffen. Der Anteil dieser Berufe steigt weiter, trotz neuerlicher Überfüllungskrisen. Bildungsbürgerliche Positionen konnten realiter in vergleichsweise ausgeprägter Exklusivität auch im 20. Jahrhundert lange fortdauern. Personelle und intergenerationelle Kontinuität hat, dafür sprechen viele Indizien, die politisch gegensätzlichen Epochen und entsprechend tiefen politischen Zäsuren (1918, 1933 mit der Ausnahme des Aderlasses an jüdischen Akademikern, 1945) überspannt. Im späten Kaiserreich geformtes bildungsbürgerliches Denken reichte bis in die ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik.55 Man wird diese Über53 Vgl. zum Vorstehenden Wunder, Bernd, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986, S. 128 f. u. ö.; Kunz, Andreas, Civil Servants and the Politics of Inflation in Germany, 1914–1924, Berlin 1986; Schütz, Dieter, Zwischen Standesbewußtsein und gewerkschaftlicher Orientierung. Beamte und ihre Interessenverbände in der Weimarer Republik, Baden-Baden 1992, S. 43 f., 55 ff. zur Rolle des Kapp-Putsches für die Beamtenorganisation; Jansen, Christian, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935, Göttingen 1992, S. 27–31. 54 Unter der  – in der Zunahme den langfristigen Vorkriegstrend spiegelnden  – Studentenschaft blieben Arbeiterkinder in der Zwischenkriegszeit mit ca. 3 % weiterhin sehr schwach vertreten. Die wichtigste Umschichtung vollzog sich zu Lasten der Kinder von Selbständigen und zugunsten der Söhne meistens der bessergestellten Beamten und Angestellten, und zwar von 40 % Ende der 1880er auf 60 % zu Beginn der 1930er Jahre: Titze, S. 222. Vor dem Hintergrund der gerade in diesem Zeitraum rasch wachsenden Anteile dieser vielfach stark aufstiegsorientierten Erwerbsgruppen an der gesamten Erwerbstätigkeit sagt dies wenig über soziale Relationen, mehr vielleicht über die politischen Orientierungen der Studentenschaft aus. Man sollte die »Frequenzexpansion« der Universitäten und ihre allemal »begrenzte demographisch-soziale Öffnung« vielleicht nicht als Bedrohung für »die gymnasial-universitär-protestantisch-männliche Einheit des Bildungsbürgertums« überschätzen; Jarausch, Krise, S.  183 f. Überblicke zur sozialen Rekrutierung von Gymnasiasten s. in Kraul, Margret, Das deutsche Gymnasium 1780–1980, Frankfurt a. M. 1984, S.  118 f., 143, 214 f. 55 Vgl. etwa das Kap. »Homo sapiens und homo faber« in Meinecke, Friedrich, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, S. 56 ff., mit der Gegenüberstellung von »klassische[m] Liberalismus« und »Seelentrieben«, »Seelenleben«, »Seelenkraft«, »Seelenbedürfnis« auf der einen, moderner Zivilisation (Technik, »einseitig hervorgetriebene Höchstleistung«, Intellekt, »Genußleben« etc.) auf der anderen Seite; S.  11

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hänge im Sinne von Bildungsgenerationen deuten können, wie überhaupt eine hinsichtlich ihrer Methoden erst noch zu verfeinernde sozialisations- und generationsgeschichtliche Betrachtungsweise zum Verständnis der Fundamentalentwicklungen im Bürgertum des 20. Jahrhunderts besonders vielversprechend erscheint.56 Die doppelte Ausweitung von Bildung seit den 1960er Jahren durch die generelle Akademisierung der Berufslaufbahnen und eine entsprechend zunehmende Hochschulfrequenz auf der einen und durch die Ausdehnung der je spezifischen beruflichen (Aus-)Bildungsvoraussetzungen und Differenzierung der Laufbahnen bis zur »Berufsreife« auf der anderen Seite legt überdies die Frage nach der Wiederbegründung bildungsbürgerlicher Denkweisen, Status und Kontexte nahe. Die damit verbundenen Prozesse sind noch verdeckt. Vermutlich wird man, außer der recht früh einsetzenden, jedoch langsamer voranschreitenden Ausweitung der Arbeitsangebote im Dienstleistungsbereich, das (Aus-)Bildungsverhalten von Frauen seit den 1960er Jahren recht bald als entscheidende Voraussetzung für den Gewinn einer Autonomie betrachten, die dann erstmals die Schwelle der Gleichberechtigung erreichte. Auf diesen beiden Wegen, darüber hinaus durch die Untersuchung der fundamentalen Veränderungen in der Familienbildung seit den 1960er Jahren57 und schließlich im Studium der allgemeineren Veränderungen durch Urbanisierung, Demokratisierung und Wohlfahrtsstaat trägt die Frauen- oder Geschlechtergeschichte in einem Forüber die »von den Massen drohende Gefahr«, S. 21 zum »heilige[n] Erbe der Goethezeit«, S. 61 über »Untergangssymptome«. Eine systematische Untersuchung von wirksamen Bildungsinhalten, wesentlich also eine geistesgeschichtliche Untersuchung etwa anhand von Hochschullehrern in der Nachkriegszeit, ist mir nicht bekannt. Für die Zwischenkriegszeit ist das politische Denken der Professoren von Jansen untersucht worden. Zur Berufsvererbung bei Hochschullehrern s. v. Ferber, Christian, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864–1954, Göttingen 1956, S.  163 ff. u. ö.; bis 1914: Schieder, Theodor, Kultur, Wissenschaft und Wissenschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich, in: Gunter Mann u. Rolf Winau (Hg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und das Zweite Kaiserreich, Göttingen 1977, S. 9–34, und zusammenfassend Nipperdey, Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 576; für die Zäsur von 1945 finden sich wichtige Detailstudien, allerdings meist ohne Untersuchung der sozialen Rekrutierungen, in der Literatur zur Entnazifizierung bzw. im universitätsgeschichtlichen Schrifttum. Einer genaueren Untersuchung bliebe vorbehalten zu prüfen, inwiefern die Lehrkörper-Expansion seit der Wende zu den 1970er Jahren das soziale Rekrutierungsfeld auch der Hochschullehrer geöffnet hat. 56 Vgl. o. Anm. 49. Kocka, Bildungsbürgertum, S. 18, betont dagegen »die relativ schwache vergesellschaftende Kraft gemeinsamer Bildung und den daraus resultierenden ziemlich ephemeren Charakter des Bildungsbürgertums«. 57 Insgesamt: Peuckert, Rüdiger, Familienformen im sozialen Wandel, Opladen 1991, bes. Kap.  6 über »Abweichungen vom bürgerlichen Modell geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung; zum Vergleich Kaelble, Auf dem Weg, S. 18 ff., und ders., Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1800, München 1991, S. 168 ff. Das, wenn man so will, »Familienprivileg« des Bürgertums ist allerdings schon viel früher, in der generellen »Familiarisierung« der Gesellschaft, abgebaut worden; vgl. Tenfelde, Arbeiterfamilien, in diesem Bd. S. 70–92.

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schungsfeld, das sich bedeutungsgemäß seit der Jahrhundertwende ausweitet, zur Geschichte der (bürgerlichen) Mittelschichten im 20. Jahrhundert bei.58

4. Tendenzen und Begriffe. Stadt und Bürgertum Die knappe Skizze der strukturellen Umbrüche zeigt, dass diejenigen Prozesse, die im alten Stadtbürgertum infolge von Industrialisierung und Urbanisierung einwirkten, im Grunde seit dem Beginn dieser Fundamentalentwicklungen mehr oder weniger tief greifende Veränderungen schon in der bloßen Zusammensetzung des Bürgertums bewirkt haben, dass diese Veränderungen bis heute anhalten und dass dabei durchgängig sowohl alte Zurechnungen an Bedeutung verloren als auch neue relevant wurden. Es ist möglich, dass das Bürgertum im Zuge dieses Formwandels vollends diejenigen Konturen verloren hat, die es einst – vermutlich am klarsten in alter stadtbürgerlicher Zeit, einigermaßen klar unter den undemokratischen Stadtverfassungen des 19.  und frühen 20.  Jahrhunderts und ziemlich unklar in seinen über die Städte hinausreichenden Vernetzungen59  – aufgewiesen hat. So gesehen, spiegelte ver58 Vgl. zum 19. Jahrhundert u. a. Frevert, Ute (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988; Haupt, Heinz-Gerhard, Männliche und weibliche Berufskarrieren im deutschen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht, ebd., S. 143–160; aus der sonstigen, inzwischen umfangreichen Literatur etwa Hardach-Pinke, Irene, Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufs, Frankfurt a. M. 1993. Über Akademikerinnen in der Zwischenkriegszeit s. Huerkamp, Claudia, Frauen, Universitäten und Bildungsbürgertum. Zur Lage studierender Frauen 1900–1930, in: Siegrist, Bürgerliche Berufe, S. 200–222. Für die Zeit bis 1945 vgl. auch die Aufsätze über die Unternehmerinnen, Freiberuflerinnen und Beamtinnen sowie weibliche Angestellte in: Pohl, Hans (Hg.), Die Frau in der deutschen Wirtschaft, Stuttgart 1985. Wichtig, auch in vergleichender Perspektive, zum Zusammenhang von Wohlfahrtsstaat und Frauenemanzipation Bock, Gisela u. Thane, Patricia (Hg.), Maternity and Gender Policies. Women and the Rise of the European Welfare States, 1880s-1950s, London 1991. 59 Es ist ein – hier dennoch festzuhaltender, in der Forschung genügend betonter – Gemeinplatz, dass die mit dem Bürgertumsbegriff unterstellte Kohärenz sehr verschiedener Berufs- und Statusgruppen unter historiografischem Konstruktionsverdacht steht; vgl. etwa Kocka, Jürgen, Bürger und Arbeiter. Brennpunkte und Ergebnisse der Diskussion, in: ders. (Hg., Mitarb.: Elisabeth Müller-Luckner), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986, S. 325–339, sowie die Warnung bei Gall, Selbstverständnis, S. 604 Anm. 5. Gall spricht durchgängig von einem »gebrochenen Selbstbewußtsein«; es entwickelte sich seit ca. 1850 »ein höchst heterogener Begriff von Bürger und Bürgertum als Spiegel eines sehr heterogenen, von Fall zu Fall ganz unterschiedlich akzentuierten Selbstverständnisses all derjenigen, die sich zu ihm zählten« (S. 616). Ähnliche Skepsis findet sich, aus einer sozusagen modernisierten kulturgeschichtlichen Perspektive, in Hettling, Manfred u. Nolte, Paul, Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 7–36, bes. 23 f., 26, 32 (Bürgertum als »Übergangserscheinung«).

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mutlich die zeitweilige, aber stets zweifelhafte Kohärenz von Stadt- mit Wirtschafts- und Bildungsbürgern in einem teilweise vergesellschafteten Bürgertum am ehesten eine Wahrnehmung von innen und außen wider, die sich in günstigen Strukturbedingungen einer lang währenden Übergangszeit abstützte. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verlor sich diese Gunst, und in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts reduzierte sich das auch in den Köpfen formierte und auch deshalb krisengeschüttelte Bürgertum auf ein »normales« Mittel- und Führungsschichten­maß. Bevor aber so weitreichende Urteile gefällt werden, sollte sich die sozial­geschichtliche Forschung überhaupt stärker dem 20. Jahrhundert zuwenden und die gesellschaftlichen Schichtungsprozesse global und im Detail näher untersuchen. Ich fasse zunächst zusammen: Im Formwandel des Bürgertums verlor das »alte« Bürgertum, welche Umrisse man ihm auch zubilligt, an Kohärenz, weil es seine Zusammensetzung stark veränderte, weil es stark erweitert wurde, weil es an rechtlicher, materieller, bildungs- sowie sonstwie statusbezogener Sonderung verlor und weil seine strukturbegünstigte Vergesellschaftung unter den politischen Krisen des 20.  Jahrhunderts zeitweilig kollabierte. Die alten, um Besitz und Bildung gescharten und in der Gunst der Umstände proliferierenden, strukturformenden Kräfte schwanden; bürgerliche Existenzweise und bürgerliche Lebensstile diffundierten; das Bürgertum hob sich in der globalen Verbürgerlichung weithin auf, indem es Austausch- und Mischbeziehungen einging, und seine einstmals gesonderte Lebensform diffundierte. Deren Ausstrahlungskraft erschöpfte sich deshalb. Man kann von einer Verallgemeinerung von Bürgerlichkeit sprechen. So gesehen, hätte das Bürgertum jenen Zustand erreicht (und sich selbst als historische Formation des 19.  Jahrhunderts überflüssig gemacht), den es gegen Ende des 18. Jahrhunderts antizipiert hatte. Unter den flankierenden Entwicklungen, die hierher führten, sei daran erinnert, dass die moderne wohlfahrtsstaatliche Gesellschaft weniger Klassengegensätze erzeugt (wenngleich sie das weiterhin tut) als generationelle, ethnische und andere Differenzen sowie Statusgruppen, die durch den unterschiedlichen Grad der Teilhabe an gesellschaftlichen Umverteilungen definiert sind, ferner, dass die früher dominierenden politischen Lager mit ihren wichtigen Rollenund Statuszuweisungen, die mithalfen, das Bürgertum und seine Antipoden zu konstituieren, seit Langem in Auflösung begriffen sind und dass der Marxismus als die große ideengeschichtliche Herausforderung bürgerlicher Existenz dauerhaft geschwächt erscheint. Als entscheidende Tendenz auf diesem Weg erscheint nicht der Abbau der immer schon als Merkmal bürgerlicher Existenz zweifelhaften, eher formalen Selbständigkeit, auch nicht die Erosion, Ergänzung und Veränderung von Bildungsinhalten, sondern vielmehr der sehr tief greifende Verlust an Exklusivität. Das hat vermutlich den Kern des bildungsbürgerlichen Krisengeredes seit der Wende zum 20. Jahrhundert ausgemacht. Man muss aber im Auge behalten, dass diese Exklusivität auch politisch, als spätfeudal-konstitutionelle Übergangserscheinung, induziert war und darin klassengesellschaftlich, in den Umschichtungen 300 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

durch den rasch vordringenden Industriekapitalismus, gestützt wurde. Das verbesserte entscheidend die Bedingungen für die Vergesellschaftung des Bürgertums als eines ganzen, gewiss mit Bruchzonen, mit Unschärfen an den Rändern und im Zeitablauf und es verlieh dem Bürgertum intergenerationelle Schwerkraft. Eine deshalb zum guten Teil artifizielle Exklusivität erlaubte – über die Zeit hinaus – Statusgewissheit, privilegierte Selbstzuordnung, hohe Fremdschätzung und einen Lebensstil, der scharfe Unterschiede bezeichnete, der einen »bürgerlichen Kern« vor allem in der Familienstruktur aufwies und stark ausstrahlte. So erscheint das Bürgertum des 19.  Jahrhunderts als ein unter anderem durch seine wirtschaftlichen und auch politischen Interessen bedingt vergesellschaftetes, durch Herkommen, rechtliche Privilegierung, erhebliche Besitzdifferenz (mehr als tatsächlich erheblichen Besitz), zeitweilig ausgeprägte geistige Orientierung, teilweise auch Führungsbefähigung, durch Selbständigkeit und Auto­nomie, durch annähernd geteilte Werte und gemeinsame Verhaltensweisen sowie durch eine abgehobene Familienbildung zusammengefügtes Konglomerat unterschiedlicher Positionen und Berufe – bis hin zum Nichtberuf, dem des bürgerlichen Rentiers. Auch die Bürgertumsforschung zum 19.  Jahrhundert sollte aber wegen der so dünn bestimmbaren jeweiligen Kohärenz eines oft dann schimärischen Gesamtbürgertums besser von Mittelschichten (oder auch Mittelklassen) ausgehen, die sich hin zur Vielgestalt wandelten und die auch von ihren Gegnern, von denen sie sich weitgehend emanzipiert hatten oder scharf unterschieden hielten, mitgeprägt worden sind. Da aber Bildungs- und Wirtschaftsbürger immer auch Stadtbürger waren, kulminierten im Stadtraum die soziale Realität von Bürgertum und die spezifische bürgerliche Kompetenz. Von dort her erodierte sie auch. Die Stadt, und zwar vor allem die Großstadt, war der erste Ort des Strukturwandels. Hier entschwand die bäuerliche Korrespondenzschicht und wurde durch die proletarischen Gegner ersetzt. Hier entfaltete sich, nachdem die Industrie überhaupt in die Städte gewandert war, die arbeitsteilige, immer komplexere und bald insgesamt urbane Gesellschaft zuerst und bewies ihre un­geheure Gestaltungskraft in der dynamischen Erfindung neuer und Abwicklung alter Berufe und Positionen am Markt. Hier vor allem wurde bürgerliche Herrschaft politisch und konkret und vielleicht vorbildlich.60 Hier professiona­ lisierte sich schließlich Herrschaft hin zum Ämtersegen neubürgerlicher Technokraten in kommunalen, bald dann gesamtstaatlichen Dienstleistungen,61 was 60 Der gute Ruf der deutschen Stadt noch um die Wende zum 20.  Jahrhundert im Ausland stützte sich bekanntlich zuerst auf die Errungenschaften der kommunalen Selbstverwaltung, deren demokratische Mängel seltener erkannt wurden. Vgl. Nolte, Paul, Effizienz oder »self-government«? Amerikanische Wahrnehmungen deutscher Städte und das Problem der Demokratie 1900–1930, in: Die alte Stadt, Jg. 15, 1988, S. 261–288, 268. 61 Vgl. die Parallelisierung von Urbanisierung und Entwicklung der öffentlichen Dienste in Deutschland, Großbritannien und den USA ca. 1900 bis 1950 bei Cullity, John P., The Growth of Governmental Employment in Germany, 1882–1950, in: ZfGS, Jg.  123, 1967, S. 201–217, 213 f.

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den bürgerlichen Beamtenstatus langfristig sowohl adaptierte als auch mediatisierte und den Typus bürgerlicher Honoratiorenherrschaft modifizierte, dann relativierte und schließlich überrollte – zum Teil noch vor der Abschaffung seiner Hauptstütze, der kommunalen Zensuswahlrechte.62 Immer schon war Bürgerlichkeit, unter der ich ein in sich einigermaßen schlüssiges Gefüge solcher Verhaltensweisen und Wertorientierungen verstehe, die das Bürgertum entwickelte und für maßgeblich hielt, eine städtische Lebensweise und also auch auf die Städte beschränkt gewesen. Man kann gewiss darüber streiten, was insofern als Stadt gelten darf, aber die bemühte Traditionsfindung eines chancenfrohen Bürgertums im Vormärz belehrt darüber, wo man Orientierung suchte.63 Vermutlich lässt sich Bürgerlichkeit bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus mit städtischer Lebensweise gleichsetzen. Im Zuge der Urbanisierung war die gewohnt übersichtliche Bürgerlichkeit mittelstädtischen Zuschnitts in zweierlei Hinsicht fundamentalen Verschiebungen ausgesetzt: Sie veränderte ihre Qualität hin zur »Urbanität als Lebensform«, und sie diffundierte als solche, dank Marktentwicklungen und neuen Kommunikationsformen, praktisch und letztlich ohne Grenzen. Das trug, wie mehrfach betont, zur Unkenntlichkeit der bürgerlichen Lebensform ebenso bei wie die Verringerung der Wohlstandsdifferenz und der Abbau der partiellen rechtlichen und politischen Privilegierung. Viel spricht dafür, dass die Differenz städtischen und ländlichen Lebens, der Stadt-Land-Unterschied, im Zuge der Industrialisierung trotz der Abschleifung der rechtlichen Unterschiede zunächst noch zunahm, ehe er seit der Jahrhundertwende und besonders seit dem Zweiten Weltkrieg

62 Vgl. bes. Hardtwig, Großstadt und Bürgerlichkeit, passim sowie S. 61 über »die Domestizierung der politischen Impulse des städtischen Bürgertums«. Über »Professionalisierung der Verwaltung und Bedeutungszuwachs städtischer Initiative« als »die beiden wichtigsten Kennzeichen des Strukturwandels städtischer Verwaltung im Kaiserreich« ausführlich Lenger, Friedrich, Bürgertum und Stadtverwaltung in rheinischen Großstädten des 19. Jahrhunderts. Zu einem vernachlässigten Aspekt bürgerlicher Gesellschaft, in: Gall, Stadt und Bürgertum, S. 97–169 (Zitat S. 152); allg. s. Reulecke, Jürgen, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1985, S. 118 ff.; der Bd. von dems. (Hg.), Stadtgeschichte als Zivilisationsgeschichte. Beiträge zum Wandel städtischer Wirtschafts-, Lebens- und Wahrnehmungsweisen, Essen 1990, wird den Titelerwartungen für das 19. und 20. Jahrhundert allerdings nur mit einem Beitrag gerecht. Als Bsple. Krabbe, Wolfgang R., Kommunalpolitik und Industrialisierung. Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Fallstudien zu Dortmund und Münster, Stuttgart 1985, sowie Witt, Peter-Christian, Kommunalpolitik in Harburg zwischen Interessen lokaler Eliten und Entstehung einer modernen Leistungsverwaltung (1867–1914), in: Jürgen Ellermeyer (Hg.), Harburg: Von der Burg zur Industriestadt. Beiträge zur Geschichte Harburgs 1288–1938, Hamburg 1988, S. 219–253; auch in methodischer Hinsicht interessant, konstatiert Sarasin, Philipp, Stadt der Bürger. Struktureller Wandel und bürgerliche Lebenswelt. Basel 1870– 1900, Basel 1990, S. 306, die Fortentwicklung der Stadt gegen Ende des 19. Jahrhunderts weg vom »altbürgerlichen Bild«. 63 Vgl. o. Anm. 2.

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ganz erheblich an Bedeutung verlor.64 Aber das neue Verhältnis zwischen Stadt und Bürgertum bzw. Mittel- und Führungsschichten ist mit diesen Hinweisen noch nicht hinreichend bestimmt. Zum einen ist es fehlerhaft, von der Urbanisierung zu sprechen. Es handelt sich um neue Verkehrsformen und Lebensweisen, die sich zunächst einmal in Großstädten, im Zuge einer sehr raschen »Vergroßstädterung«, aber stets, gerade in Deutschland, auch im territorialstaatlichen Kontext und, beispielsweise, nicht ohne Einfluss der Konfessionslandschaften durchsetzten. Urbanisierung stand – darüber gibt es eine weitläufige, hier nicht aufzunehmende Debatte – in einer mehrdeutigen Beziehung zur nicht überall, aber zumeist vorhergehenden Industrialisierung. Sie entfaltete zeitweilig klar unterscheidbare Stadttypen je nach dem funktionalen Kontext, dem Grad an Zentralität und ökonomischer Bedeutung. Gerade die vielbeschworene »defiziente« Urbanität der schwerindustriellen Erwerbsregionen zeigt das. Die strukturelle Behinderung der Ent­ faltungsmöglichkeiten für (bürgerliche)  Mittelschichten ist, aus der Sicht der Bürgertumsgeschichte, das herausragende Merkmal dieser Defizienz. Auch lassen sich unterschiedliche Urbanisierungstypen unterscheiden, wie sie heute gern in der Gegenüberstellung lateinamerikanischer und ostasiatischer »con­ urbations« mit europäischen und davon wiederum abweichenden nordamerikanischen Entwicklungen bezeichnet werden. Zweitens hat der globale Prozess der Diffusion von Urbanität nicht zur Unkenntlichkeit der Städte und Großstädte geführt.65 Allerdings haben sich die Determinanten dessen, was die Besonderheit der großen Stadt begründet, stark verschoben. Geblieben ist die Architektur der Plätze, Straßen und Gebäude, der Stadtraum als eine Folge der Bevölkerungsdichte, aber die urbane Bevölkerungsweise hat sich eher verallgemeinert. Sonderrechtlichkeit ist bis auf Restbestände wie die Kreisfreiheit abgeschliffen. Anderes wäre hinzuzufügen: Arbeitsteilung, Verkehrsentwicklung, Zentralität, urbane Kulturen. Betrachtet man stadttypische soziale Segregationen und Stratifikationen, wird das Problem noch viel deutlicher. Einst im Zentrum der Städte angesiedelt, entwich das Bürgertum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Villenviertel; seit der Wende zum 20. Jahrhundert zog es die Mittelschichten an die Stadtränder und die Ärmeren in die Ungunstlagen; erst in der jüngeren Vergangenheit scheint sich manches wieder umzukehren. Die Schichtungsverhältnisse erscheinen auch 64 Noch keineswegs überholt ist Sorokin, Pitirim u. Zimmerman, Carle C., Principles of Rural Urban Sociology, New York 1929, aber die Bestimmung von Stadt-Land-Differenzen der Lebensweise ist offenbar heute kein wichtiges Thema soziologischer Forschung. Weitere Hinweise: Tenfelde, Klaus, Stadt und Land in Krisenzeiten. München und das Münchner Umland zwischen Revolution und Inflation 1918 bis 1923, in: Wolfgang Hardtwig u. Klaus Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933, München 1990, S. 37–58; s. ferner in diesem Bd. S. 312–340. 65 Das hat Jürgen Reulecke in seiner Kritik an einem früheren Entwurf dieser Ausführungen zu Recht betont. Ich danke ferner Peter Lundgreen und Hans-Ulrich Wehler für die kri­ tische Lektüre einer späteren Fassung.

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heute in kleineren Städten stabiler als in großen; instabil waren sie nach 1945 gerade auf dem Lande, soweit man von einem solchen noch sprechen konnte und kann. Das alles lässt sich breit diskutieren. Mir erscheint vor allem wichtig, dass die größeren und großen Städte aus einer Fülle von Gründen, aber in anderer Weise als in stadtbürgerlichen Jahrhunderten, Orte eines anhaltenden Strukturwandels und – in den Nachkriegsjahrzehnten – der Ausdehnung der mittleren Schichten geblieben sind. Nicht nur in dieser Hinsicht finden strukturelle Innovationen nach wie vor im Wesentlichen in den Städten statt. Die größeren Städte sind die Orte der Fortentwicklung von Produktionsformen, Dienstleistungen und Märkten und infolgedessen die Erzeuger neuer Positionen im Schichtgefüge. Die Annahme von der innovativen Rolle der größeren Stadt trifft, drittens, auch für die Bestimmung von Urbanität als Lebensform zu. Zwar hat »Bürgerlichkeit« als Lebensform an Sonderung stark eingebüßt oder ist gar verschwunden. Aber Urbanität als Lebensform bringt neue Sonderungen hervor, die sich locker an das Schichtgefüge vor allem in dessen mittleren und oberen Rängen binden. Ich möchte darauf zum Schluss zurückkommen.

5. Kontinuität und neue Vergesellschaftung. Wenn es sich bereits für das 19.  Jahrhundert empfiehlt, in der Bürgertumsforschung den an sich amorphen Mittelschichten-Begriff zum Ausgang zu nehmen, so erst recht für das 20.  Jahrhundert. Damit verändert sich die Fragerichtung grundsätzlich: Nicht mehr die mehr oder weniger nachweisliche Homogenität einer gesellschaftlichen Formation wird zum Ausgang genommen, sondern die soziale Wirklichkeit wird auf die Frage hin geprüft, ob und in welchem Umfang sie neue oder in Kontinuitäten stehende Zuordnungen und Identitäten schafft und welche alten und neuen Prozesse darin wirksam sind. Zunächst zu dieser  – bei aller Evidenz der krisenhaften Umbrüche be­ deutenden – Kontinuität. Die sozialgeschichtliche Forschung über das 20. Jahrhundert wird noch auf absehbare Zeit gehindert sein, die an sich erforderlichen Fragen zu stellen. In welchem Umfang die politischen und strukturellen Krisen die Kontinuität in bürgerlichen Gruppen tatsächlich eingeschränkt oder verhindert haben, lässt sich mit Genauigkeit nur auf prosopografischem Wege klären, aber diesen Zugang verbietet vermutlich überall der Datenschutz. Das Problem ließe sich aber auf andere Weise, etwa durch detaillierte stadtgeschichtliche Vergleichsstudien, einkreisen. Wenn man imstande wäre, mit statistischer Genauigkeit etwa in der Entwicklung der Freien Berufe die Zahlen von externen Einflüssen, darunter vor allem die zahlenmäßige Expansion bei Ärzten und Rechtsanwälten vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums und der Bedarfsausweitung, zu bereinigen, dann dürfte sich ein erstaunlicher Grad an Berufsvererbung über die Krisenphasen hinweg nachweisen lassen. Das wird 304 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

in hohem Maße generell für diejenigen Berufe gelten, deren wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ort geringerem Wandel unterworfen war. Viel spricht dafür, dass in den Freien Berufen und bei den Unternehmern familiäre Platzierungsstrategien für die nachfolgende Generation heute wieder eine wichtige Rolle spielen. Es gibt längst wieder Unternehmer-, Ärzte- und Rechtsanwalts­ dynastien, wenn deren Erblichkeit überhaupt je nennenswert unterbrochen worden ist. Auf lange Sicht wird dagegen eher ein institutionengeschichtlicher Zugang im Vordergrund stehen. Hier liegt die Kontinuität geradezu auf der Hand. Die dem Staat abgerungene »Selbstorganisation« der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert hat Einrichtungen geschaffen, die, natürlich je für sich unterschiedlichem Wandel unterworfen, im Ganzen und in vielen Teilen aber bis heute die Gesellschaft mitordnen und -regulieren, und zwar vielfach in spezifischer Weise. Die Kammerorganisationen der Freien Berufe sind ein Beispiel, die Interessenverbände ein weiteres, und mit diesen Organisationsformen erschöpft sich die Vielfalt – und die Kontinuität in der Vielfalt – nicht. Nimmt man die Ärzte: Der Dreischritt ihrer beruflichen Vergesellschaftung von den wissenschaftlichen Gesellschaften über die Ärztekammern zu den Interessenverbänden hat sich allenfalls um Kassenärztliche Vereinigungen, Ärzteversorgungen, Fachrichtungen oder solche Interessen ergänzt und erweitert, die sich aus unterschiedlichen Positionen herleiten, aber er hat sich im Kern nicht verändert. In anderer Weise trifft starke institutionelle Kontinuität für andere Freie Berufe oder auch für das Handwerk und für die sonstigen wirtschaftlichen Kammern und Verbände zu. Die Prägekraft dieser Organisationstypen beweist sich gerade an neuen Berufen.66 Selbstorganisation hat überhaupt seit rund zwei Jahrzehnten eher wieder zugenommen. Man kann diese letztlich erstaunliche institutionelle Kontinuität als ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft betrachten und wird dann zu ganz anderen Fragen kommen. Beispielsweise käme die Kontinuität der Rechtsordnung in deren Verästelungen stärker in den Blick. Weiter scheint wichtig, dass sich mit den Institutionen personelle Kontinuität verband  – neben vielen, tendenziell Exklusivität wahrenden Verhaltensweisen. Auch bietet sich vor allem über die Institutionen ein Forschungszugriff auf die Kernfrage nach dem Gestaltwandel des Bürgertums an. Schließlich lassen die Institu­tionen ein fortwährendes Rückgrat der Vergesellschaftung erkennen. In einem noch viel grundsätzlicheren Sinn war und ist es das vornehmlich im 19.  Jahrhundert durch das Bürgertum geschaffene Gefüge der Vereine, Verbände, Korporationen und sonstigen vorstaatlichen Einrichtungen, das poli­ tische Kultur geformt und mit den Institutionen auch wichtige Inhalte von Politik bestimmt hat.

66 Vgl. den Beitrag von Franz, Heike in: Klaus Tenfelde u. Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 249–272.

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Weitere Wege zur Prüfung des Maßes an Kontinuität könnten über typische Familienbiografien führen. Die erwähnten sozialisations- und generationengeschichtlichen Ansätze können darin zur Klärung von Zusammenhängen genutzt werden. Es ist beispielsweise nach wie vor unklar, in welchem Maße die Vermögenseinbußen durch zwei Inflationen und den Bombenkrieg tatsächlich besitzbegründete Positionen geschmälert und den Erbgang erschüttert haben. In der westlichen Bundesrepublik dürfte im Übrigen ein erster umfassender Erbgang in den während der Nachkriegszeit erwirtschafteten Vermögen weitgehend vollendet sein. Mit anderen Worten: Viel spricht dafür, dass in den Mittel­ schichten der für das ältere Bürgertum kennzeichnende, über mehrere Generationen währende Vorgang der Vermögensakkumulation und -proliferation wieder in Gang gekommen ist. Die Veränderungen in der Elitenbildung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts lassen vermutlich die wichtigsten derjenigen Prozesse erkennen, die sich heute in der Mittelschicht vergesellschaftend auswirken. Aber auch in der Eliten­ bildung könnten Merkmale der Kontinuität überwiegen. Hier stellt sich zunächst die Frage der anzuwendenden Begriffe. Es ist kennzeichnend, dass für das 19.  Jahrhundert in der Untersuchung stadtbürgerlicher Führungsschichten meist der Honoratiorenbegriff67 verwendet wird, markiert er doch eine berufsübergreifende, im kommunalen Rahmen funktions- und statusbezogene Einheit von Vermögenden und Gebildeten, die nicht notwendig, aber gern und erwartetermaßen auch herrschen. Werner Conze hat dagegen schon für die Zeit der Jahrhundertwende unter dem Konzept der »Führungsschichten« ohne scharfe Abgrenzung von der »Oberschicht« den Versuch unternommen, tatsächliche Führungsfunktionen in Verwaltung, akademischen Berufen und Wirtschaftsbürgertum nach Herkunft und Habitus zu bezeichnen.68 Demgegenüber ist in der jüngeren Forschung »Bürgertum«, soweit ich sehe, nicht notwendig als Führungsschicht oder Elite begriffen worden, sofern den so zusammengefassten Gruppen eine charakteristische »vita activa«, die leitende Gestaltung in Staat und Gesellschaft, unterstellt würde; anders vielmehr, nicht eben der Müßiggang, aber doch eine Betätigungsvielfalt abseits unmittelbaren, gesellschaftlich und politisch relevanten Führungshandelns ist beim Bürgertum wohl auch dank mitfließender Traditionen einer »reinen Geistesbildung«, immer mitgedacht worden. Führung als Beruf ist nun, in gleitenden Übergängen seit 67 Vgl. etwa Lothar Gall in ders., Vom alten zum neuen Bürgertum, S. 1–18, 8 f. m. Anm., über Patrizier, Honoratioren und Notabeln. 68 Conze, Werner, Konstitutionelle Monarchie – Industrialisierung. Deutsche Führungsschich­ ten um 1900, in: Hans Hubert Hofmann u. Günther Franz (Hg.), Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz, Boppard 1980, S.  173–201, zur Unschärfe zwischen Ober- und Führungsschicht s. S. 193. Autoren wie François, Etienne, Städtische Eliten in Deutschland zwischen 1650 und 1800. Einige Beispiele, Thesen und Fragen, in: Schilling u. Diederiks, Bürgerliche Eliten, S. 64–83, halten den Elitebegriff offenkundig für tragfähiger als den Bürgertumsbegriff, um die städtischen Führungsschichten zu unter­suchen (hier: Nördlingen und Frankfurt a. M., mit Verallgemeinerung).

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dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, ein Kennzeichen hochkomplexer Gesellschaften geworden.69 Es empfiehlt sich daher vermutlich weiterhin, Bürgertum und Eliten getrennt zu halten. Weil aber Führung zum Beruf geworden und als solcher in breiten Überlappungszonen (Rekrutierung, Konnubium, Funktionen, Lebensstil) zum alten und neuen Bürgertum steht, ist Bürgertumsforschung nach wie vor auch Elitenforschung – und umgekehrt.70 Prozesse der Elitenbildung vollzogen sich aber auch abseits des Bürgertums; hier ist der schon von Conze mitbehandelte Fall der Arbeiterbewegung charakteristisch. Das gilt vor allem für die poli­ tische Elite in Gewerkschaften und Parteien, zum Teil auch für die meist medien- oder universitätsverbundenen Intellektuellen, als die heute die Gebildeten besser bezeichnet werden.71 Für die Intellektuellen hat die Ausweitung und soziale Öffnung der höheren Bildung durch einen starken Modernisierungsschub seit dem Ende der 1960er Jahre die Elitenrekrutierung radikal verändert, aber es ist merkwürdig, dass sich die Qualifizierungswege und -ziele wenig gewandelt haben. Als »Bildungsbürgertum«, mithin in einem allseits repräsentierten Bildungswissen und damit verbundenen Wertekanon, ist diese Schicht nicht mehr vergesellschaftet; eher schon finden sich mehrere, professionell und durch unterschiedliche Formen von Professionalisierung geschiedene »Bildungsbürgertümer« im Umkreis der Medien, der Medizin- oder Naturwissenschaften und – heute vielleicht weniger als anderswo – der Geisteswissenschaften. Wenn auch die Akademisierung des Wirtschaftsbürgertums bis heute angehalten hat, wird die Trennlinie zwischen Intellektuellen und Unternehmern, 69 Weber, Max, Politik als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte politische Schriften, hg. v. Johannes Winckelmann, 19582, gek. in: ders., Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 19684, S. 167–185. 70 Die Literatur zur Elitensoziologie kann hier nicht angeführt werden. Unter Historikern ist die Frage nach Elitenkonstanz und -wandel bzw. -ablösung bekanntlich sowohl für die Zeit der Revolution 1918/20 als auch für die Zeit vom Ende der NS-Diktatur bis zur Gründung der Bundesrepublik, und zwar durchweg mit dem Ergebnis weitgehender Elitenkonstanz, gestellt worden. Vgl. u. a. Broszat, Martin u. a. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, 2 Bde., München 1988; zur Debatte über dieses Buch die wichtigsten Hinweise bei Erker, Zeitgeschichte, bes. S. 214 ff., sowie Winkler, Heinrich August, Sozialer Umbruch zwischen Stalingrad und Währungsreform?, in: GG, Jg. 16, 1990, S. 403–409; ferner Rauh-Kühne, Cornelia u. Ruck, Michael (Hg.), Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930–1952, München 1993; Möhler, Rainer, Entnazifizierung in Rheinland-Pfalz und im Saarland unter französischer Besatzung von 1945 bis 1952, Mainz 1992; zur politischen Elitenbildung u. a. Leif, Thomas u. a. (Hg.), Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn 1992. 71 Vgl. Vierhaus, Rudolf, Umrisse einer Sozialgeschichte der Gebildeten in Deutschland, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Jg.  60, 1980, S.  ­395–419, 417; knapp zur Debatte hierüber schon in Auseinandersetzung mit Joseph Schumpeter: Geiger, Schichtung, S. 129–131; ders., Panik, S. 641. Zur Elitenbildung in der Arbeiterbewegung s. Tenfelde, Klaus, Arbeitersekretäre. Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg 1993, S. 12–24.

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wiewohl beide professionelle »Experten«-Gruppen sind und darin einen generellen Trend markieren, heute noch schärfer zu ziehen sein als zwischen Bildungsbürgern und Unternehmern im Kaiserreich. Moderne Wirtschaftsrationalität hat stark gesonderte Formen der Elitenbildung in großen Wirtschaftsunternehmen hervorgebracht. Die Außengrenzen dieser Elite sind, ebenso wie ihre innere Kohäsion, vermutlich stärker ausgeprägt denn je. Auf Aspekte der Kontinuität und des Wandels in der Unternehmerschaft wurde bereits hingewiesen; erneut ist der erhebliche Forschungsbedarf zu betonen, der vermutlich vorläufig nur branchenbezogen realisiert werden kann. Diese Beispiele zeigen, dass die Welt der Berufe heute vermutlich den wichtigsten Hintergrund und Kontext für die Vergesellschaftung von Eliten bildet. Dabei sei unter »Vergesellschaftung« ein Prozess der Selbst- und Fremdzuordnung zu überfamilialen, gruppenhaften Identitäten aufgrund von geteilten Erfahrungen, Lebensformen und Interessen verstanden. Nicht ein immer schon mehrdeutiges Gesamtbürgertum, sondern berufsbezogene Führungsschichten dienen darin heute als Orientierungspol. Man kann deshalb nicht mehr von einer Vergesellschaftung »bürgerlicher« Gruppen sprechen, sondern muss von einer Reihe wichtiger, aber partialisierter Vergesellschaftungen ausgehen. Dennoch wirken, wenn auch in geringerem Maße, nach wie vor alte und neue übergreifende Ansätze einer Mittelschichten-Vergesellschaftung ein. Die schon erwähnten alten Lagermentalitäten, die sich vielfältig in Klassenbeziehungen, in konfessionellen, politischen und auch regionalen Loyalitäten ab­gestützt hatten, erscheinen zwar geschwächt, wirken aber fort – in Konkurrenz mit neuen Milieubindungen urbaner Herkunft. Nach wie vor, und vor allem in Kleinstädten, bestimmt eine besitzende Ansässigkeit die Gruppen-Identität und die Unterscheidungen zwischen Statusgruppen. Überhaupt erscheint die Klein- und Mittelstadt viel eher als ein Ort von Kontinuität in Bürgertum und Bürgerlichkeit als die Großstadt. Oligarchische Tendenzen lassen sich aus­machen, wenn in eher überschaubaren Handlungsräumen die Prozesse der politischen Meinungsbildung, ihre Organisierung und die Formen von Politik ins Auge gefasst werden. Von einem distinkten Kleinbürgertum lässt sich heute auch in der Kleinstadt nicht mehr so eindeutig reden wie im späten 19.  Jahrhundert. Eine neue, ganz anders als im 19.  Jahrhundert akzentuierte Grenzlinie einer abgesonderten westdeutschen Gesellschaft ist seit den späten 1950er Jahren, und vermehrt in der jüngsten Vergangenheit, im Zuge der anhaltenden Unterschichtungsprozesse durch die Zuwanderung hervorgetreten. Neue Mittelschichtenforschung hätte, auch in solchem Kontext, die anhaltend virulenten Thesen von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, der Mieter- und Konsumentengesellschaft, der allgemeinen Arbeits-, der Massen-, der Erlebnis- und der Wohlstandsgesellschaft, der Zwei-Drittel-Gesellschaft und der Risikogesellschaft als Folien gegenzuhalten.72 72 Vgl. etwa, mit Hinweisen auf die einschlägige Literatur, Erker, Zeitgeschichte als Sozial­ geschichte, S. 225 f. u. passim; Haltern, Gesellschaft der Bürger, S. 132 f. u. passim.

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Moderne Vergesellschaftungen verlaufen ungleich unschärfer als die aus der Bürgertumsforschung gut bekannte, wenngleich auch bereits mit end­losen Grauzonen relativierte exklusive Vergesellschaftung des 19.  Jahrhunderts.73 Entsprechend unscharf sind, sieht man von der eben erwähnten Unterschichtung ab, die modernen Grenzziehungen der Mittel- und Oberschichten geworden. In einer sehr deutlichen Entwicklung verschoben sich, zuerst in der urbanen Gesellschaft, die groben zu den feinen Unterschieden.74 Während bis 1914 die Beschäftigung von Hauspersonal, mindestens aber eines Dienstmädchens, Bürgerlichkeit nach außen signalisierte, tat das seit den 1950er Jahren, um auf dieser Ebene zu bleiben, die moderne Küche eher nach innen; wenn der Bürger ehedem in der Kutsche zum Theater fuhr, in der Zwischenkriegszeit schon im Auto und in den 1950er Jahren mit der gehobenen Automarke, so seither in Großstädten ununterscheidbar mit der S-Bahn, mit vielen anderen, die ein nicht mehr statusspezifisches Bedürfnis wahrnehmen. Erkannte man vor 1914 auf Fotografien von Werkstoren, aus denen die Beschäftigten strömten, auf den ersten Blick, wer sich welcher Statusgruppe zurechnete, steigen heute ähnlich modisch Gekleidete auf den Parkplätzen in ähnliche Gefährte, und es lässt sich nicht einmal mehr zuverlässig annehmen, dass dies für die Bessersituierten der Zweitwagen sein könnte. Längst schon ist Wohnbesitz kein zuverlässiges Unterscheidungskriterium mehr; übrigens wohnte ja auch der Bildungs­bürger vor 1914 oft schon zur Miete. Unterschiede entstehen und vergehen – unter anderem, weil die urbane Welt, das urbane Leben visuelle Wahrnehmung prämiiert75 – nicht jedoch oder nicht vorrangig in der Absicht der Manifestation sozialer Status; das wäre eine Attitüde allenfalls der Neureichen. Eher ist das Understatement ein Signum von Bürgerlichkeit geworden. Unterscheidungsmerkmale dieser Art lassen sich nicht mehr leicht finden, aber es gibt sie weiterhin, wenn auch in stetem Wandel und in stillerer Dokumentation von Besonderheit. Nicht jeder zeigt das Ableben eines Verwandten in einer überregionalen Tageszeitung an. Es gilt nach wie vor in großen Städten als verführerisch, wenn nicht dem Rotary Club oder der uralten Gesellschaft 73 Zu den Grenzen von Bürgertum vgl. bes. die Beiträge in Kocka, Arbeiter und Bürger. 74 Schon Simmel, Großstädte, S. 239, handelte über die »Erregung der Unterschiedsempfindlichkeit, [um] das Bewußtsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen: was dann schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten verführt«. Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, dt. Ausg., Frankfurt a. M. 1989 (hierzu etwa Müller, Hans-Peter, Kultur, Geschmack und Distinktion. Gründzüge der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, in: Friedhelm Neidhardt u. a. [Hg.], Kultur und Gesellschaft, Opladen 1986, S. 162–190), sowie Veblen, Thorstein, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, dt. Ausg. Frankfurt a. M. 1989; hierzu u. a. Mason, Roger S., Conspicuous Consumption. A Study of Exceptional Consumer ­Behaviour, Westmead 1981. Vgl. ferner: Huster, Ernst-Ulrich (Hg.), Reichtum in Deutschland. Der diskrete Charme der sozialen Distanz, Frankfurt 1993, darin u. a. Schulze, Gerhard, Soziologie des Wohlstands, S.  165–181, 194 f. zur »Abnahme der Symbolisierbarkeit von Reichtum«. 75 Vgl. Wirth, Urbanität, S. 54.

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für Handel und Kultur, so doch irgendeinem altbürgerlichen »Klüngel« formell zuzugehören. Exklusiver Vorliebe wird vielfach doch in sozialer Sonderung gefrönt: durch die Wahl des Urlaubsziels, den Wert von Schmuck, die kostbar-modische oder bewusst schlichte Kleidung. Dazu gehören Habitus und soziale Lebensstile, die sich tief in relativem Reichtum, Individualität und Autonomie verankern76 – wenn nicht prinzipiell, so doch tendenziell. Durch diese Lebensstile finden neue Vergesellschaftungen statt, wofür exklusiver Sport, Abenteuerund Bildungsurlaub Beispiele sind. Durch den Lebensstil verringert sich auch die Distanz zwischen ehedem klassisch unterschiedenen Bürgergruppen, ja, der Stil selbst kann soziale Zugehörigkeiten generieren. Modernes Bürgertum, wenn ein solches denn auf diese Weise entsteht, ist mindestens äußerlich nicht mehr exklusiv. Es verfügt auch längst nicht mehr über einen eigenen Ideenhorizont, nicht einmal mehr auf dem Feld der marktwirtschaftlichen Überzeugungen und schon gar nicht in seinen grundsätz­ lichen Ordnungsvorstellungen, in Grundrechten, Rechtsstaat, Repräsentativverfassung und Staatsbürger-Gesellschaft. Auch die bürgerliche Ideenwelt hat ihre soziale Spezifität durch Verallgemeinerung komplett verloren  – oder die ursprünglichen Ideen sind, wie zumal im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung, partiell modifiziert, erweitert, angepasst und in neuen Formen All­ gemeingut geworden. Diese Verallgemeinerung ist nicht vollendet und wird es nie sein. Sie war auch nicht grenzenlos, wirkte nicht überall und schritt unter stetem Formwan76 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 277 ff., und Müller, H. P., Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt a. M. 1992, S. 368 ff.; Becher, Ursula A. J., Geschichte des modernen Lebensstils. Essen, Wohnen, Freizeit, Reisen, München 1990. Über Konsumgeschichte s. die Hinweise o. Anm.  38. Über ältere bürgerliche Lebensstile s. etwa Brönner, Wolfgang, Schichtspezifische Wohnkultur. Die bürgerliche Wohnung im Historismus, in: Ekkehard Mai u. a. (Hg.), Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich, Berlin 1982, S.  361–378; ders., Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830–1890 unter bes. Berücksichtigung des Rheinlandes, Düsseldorf 1987, bes. S. 25 ff.; Meyer, Sibylle, Das Theater mit der Hausarbeit. Bürgerliche Repräsentation in der Familie der wilhelminischen Zeit, Frankfurt a. M. 1982; aus den zahlreichen neueren Forschungen über das Wohnen s. Schildt, Axel u. Sywottek, Arnold (Hg.), Massenwohnung und Eigenheim. Wohnungsbau und Wohnen in der Großstadt seit dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1988. Zum Reisen etwa: Kaschuba, Wolfgang, Erkundung der Moderne. Bürgerliches Reisen nach 1800, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg.  87, 1991, S.  29–52, sowie Spode, Hasso (Hg.), Zur Sonne, zur Freiheit. Beiträge zur Tourismusgeschichte, Berlin 1991; über die krassen Gegensätze des bürgerlichen und proletarischen Festkalenders: Hettling u. Nolte, Bürgerliche Feste, auch die Arbeit von Sarasin sowie z. B. Petzina, Dietmar (Hg.), Fahnen, Fäuste, Körper. Symbolik und Kultur der Arbeiterbewegung, Essen 1986. – Ich habe mich in diesem Beitrag sehr bewusst der gern gehörten Forderung nach kulturgeschichtlicher Erweiterung der Bürgertumsforschung enthalten. Abgesehen von den inflationären und teilweise extrem gegensätzlichen neueren Kulturdefinitionen, erscheint mir der Lebensstil-Begriff für die Forschungspraxis gut brauchbar und im Übrigen die Sozialstruktur- und Institutionenanalyse im Sinne von Grundlagenforschung ebenso unabdingbar.

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del dessen voran, was einst einigermaßen klar als Bürgertum und Bürgerlichkeit bezeichnet werden konnte  – unter Einschluss der eben erwähnten Ordnungsvorstellungen, wie sich etwa am Sozialrecht und in der Entwicklung der gesellschaftlichen Konfliktregelung zeigen ließ.77 Sie kennzeichnet aber die Fortentwicklung des Bürgertums im 20. Jahrhundert. In ihrem Kern scheint, als wichtigster sozialer Innovator, weiterhin, aber in ganz anderer Weise als früher, die große Stadt zu stehen.

77 Vgl. Stolleis in seiner Kritik an Mestmäcker (s. Anm. 17).

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IX. Die Welt als Stadt? Zur Entwicklung des Stadt-Land-Gegensatzes im 20. Jahrhundert

1. Unterschiede – Gegensätze – Konflikte Im Titel dieses Beitrags ist vom Stadt – Land – »Gegensatz« die Rede. Es ließe sich auch vom Stadt-Land-Unterschied oder vom Stadt-Land-Konflikt reden, und das würde sogleich Akzente setzen, müsste etwa, im letzteren Fall, den Blick auf diejenigen Manifestationen der Stadt-Land-Differenz lenken, welche dem Sozialhistoriker aus einer unerschöpflichen Fülle an Wortquellen zur Stadtkritik, ja, Stadtfeindschaft nicht nur, aber besonders an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erinnerlich sind. Eben auf diese Quellen hat die jüngere Forschung erneut intensiv den Blick gelenkt.1 Es ging ihr dabei, in Übereinstimmung mit allgemeineren kulturgeschichtlichen Trends historischer Interpretation, vornehmlich um Wahrnehmungen des Anderen, jeweils Fremden, und um die Leitbilder, entlang derer Wahrnehmende das Wahrgenommene zu ordnen, zu interpretieren, also »auf den Begriff« zu bringen trachteten. Blickt man nur auf diejenige deutliche Wahrnehmungs- und Denktradition, welche von der Großstadtfeindschaft der Vorkriegsjahre in die Stadtgegnerschaft des Nationalsozialismus geführt hat, dann lässt sich leicht erkennen, dass und wie sehr gerade auf diesem Feld Konstrukteure »deutscher« Befindlichkeit unterwegs waren. Die feststellbaren historischen Befunde und deren zeitgenössische Wahrnehmungen müssen freilich, das ist eine beinahe banale Feststellung, keineswegs kongruent sein. Das heißt, dass ein schwerwiegendes Problem unerkannt bleiben, dem Maße nach nicht angemessen erkannt oder, im Gegenteil, hypostasiert werden kann. Dasselbe gilt selbstverständlich ebenso für die Inter­ 1 Besonders: Zimmermann, Clemens u. Reulecke, Jürgen (Hg.), Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900, Basel 1999, zentral darin: Engeli, Christian, Die Großstadt um 1900. Wahrnehmungen und Wirkungen in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Politik, S. 21–51; vgl. auch die folgenden Anmerkungen sowie Zimmermann, Clemens (Hg.), Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2001, mit entsprechenden Akzenten in der Einleitung des Hg. sowie in mehreren weiteren Aufsätzen; zum »manifesten« Stadt-Land-Konflikt anhand der Nachkriegs-Ernährungskrisen hier insbes. Kluge, Ulrich, Die Krise der Lebensmittelversorgung 1916–1923 und 1945–1950. Stadt-Land-Konflikte und wechselseitige Stereotypen, S. 209–239.

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pretationspflicht des Historikers, der jedoch die Vorzüge einer kritischen, quellen­bezogenen Distanziertheit beanspruchen kann. Auf den Stadt-Land-Unterschied bezogen, muss dies wohl heißen, auch dessen Dimensionen und Maße zu bezeichnen und, wenn möglich, Tendenzen der Entwicklung aufzuzeigen, um vor diesem Hintergrund den Realitätsgehalt zeitgenössischer Wahrnehmungen, die gewöhnlich in ganz anderen Quellenhorizonten aufzusuchen sind, zu markieren. Dass solche Wahrnehmungen selbst historische Wirklichkeit waren und wurden, dass sie das Finden der Begriffe, das Denken und Handeln so sehr und mehr als die allemal vermutlich eher selektiv erfahrene Wirklichkeit spiegelten, ist dabei ganz unbestreitbar. Die Ausgangsfrage würde demnach lauten, welche Dimensionen der StadtLand-Unterschied aufwies und welche Entwicklungen er in diesen Dimensionen nahm. Allerdings ist schon diese Frage in tückischer Weise von Wahrnehmungen getränkt. Es ist z. B. faszinierend zu sehen, welche Aspektgebundenheit in der Bevölkerungs-, Berufs- oder Gewerbestatistik, die ja frühzeitig den Blick auf die Stadt-Land-Differenz lenkte, zum Ausdruck kam. Ließe man etwa die moderne Bevölkerungsstatistik in Deutschland mit Johann Peter Süßmilch beginnen, dann wäre die Besonderheit der Stadtbevölkerungen in heilsgeschicht­ lichen so sehr wie in merkantilstaatlichen Deutungskontexten zu verstehen. Es würde deshalb für sich eine gesonderte Betrachtung verdienen, warum schon die frühe Statistik Stadt und Land unterschied. Darin würde auch die Fülle der Dimensionen und Daten offenbar, welche an sich verfügbar sind. Hier schon empfiehlt sich deshalb eine wichtige Eingrenzung: Es kann im Folgenden nicht um Bevölkerungen an sich, um deren Verdichtungen an Wohnplätzen, um die Beschaffenheit dieser Wohnplätze und vieles andere gehen, an dem sich fundamentale Unterschiede markieren lassen. Wenn wir jedoch, in Übereinstimmung mit der Forschungsliteratur, unter »Urbanität« eine spezifische, im wesentlichen großstädtische, auch deshalb deutlich unterscheidbare »Lebensweise« verstehen,2 dann sollten die Dimensionen dieser Lebensweise erarbeitet und deren Entwicklungen im Verlauf der Urbanisierung präzisiert werden, um beispielsweise Phasen in der Entwicklung des Stadt-Land-Unterschieds, die Richtungen dieser Entwicklung und manches Andere beurteilen zu können. Der Stadt-Land-Unterschied war in der Geschichte und ist wohl auch noch in der Gegenwart jedermann evident. Zum »Gegensatz« wird er, nach meinem Verständnis, sobald Unterschiede zeitgenössisch kommuniziert und reflektiert, in ein absichtsvolles zeitgenössisches Verstehen projiziert werden und die Summe der je festgestellten Differenzen in den Kern solchen Verstehens gerückt wird. Die Sache kompliziert sich noch, wenn man die dritte mögliche Be2 Vgl. nur: Reulecke, Jürgen, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1981, S. 7 f., »Verstädterung« und »Urbanisierung«; im übrigen: Wirth, Louis, Urbanität als Lebensform, dt. Übers. in: Ulfert Herlyn (Hg.), Stadt und Sozialstruktur. Arbeiten zur sozialen Segregation, Ghettobildung und Stadtplanung, München 1974, S. 42–66.

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trachtungsebene, die der Stadt-Land-Konflikte, einbezieht. Es ist nicht ganz banal festzustellen, dass nicht jeder Unterschied zum Gegensatz und nicht jeder Gegensatz zum Konflikt führt. So nehme ich an dieser Stelle eine These vorweg: Es scheint, dass der Stadt-Land-Gegensatz kaum je für sich und als solcher, stets hingegen in Kontexten virulent wurde und zu Konflikthandeln drängte. Mit anderen Worten: Konflikte zwischen Stadt und Land waren Durchlauferhitzer für anders disponierte Konfliktlagen, meistens im Rahmen einer wie immer verursachten, sowohl ökonomischen als auch politischen Krisenlage der jeweils untersuchten Gesellschaften, so dass in nachweislichem Konflikthandeln vielfach Fragmente oder Leitorientierungen anderer konfliktorischer Dispositionen nachweisbar sind und sogar überwuchern können.3 Wo offene StadtLand-Konflikte stattfanden, traten sie nach meiner Kenntnis in einer Mélange auf, und zwar besonders oft in den berüchtigten Verschwisterungen mit AntiKapitalismus, Anti-Liberalismus, Anti-Semitismus, Anti-Sozialismus und jedenfalls Zivilisationskritik. Um hier schon ein Beispiel zu erwähnen: Als im Frühjahr 1922, auf einem Höhepunkt der schubweise voranschreitenden Inflation, in Oberammergau die Passionsspiele stattfinden sollten, bündelte sich der sonstwie immer virulente Hass auf die Fremden, ob sie nun Preußen waren oder divisenkräftige Ausländer, mit demjenigen gegen die Städter: »Wie ein Heu­schreckenschwarm wird das Land kahl gefressen und dessen Bevölkerung in eine Ernährungskatastrophe verwickelt.«4 Auf die Bedeutung einer anderen, ebenfalls generellen Annahme ist kurz hinzuweisen: Realgeschichtlich nehmen Stadt-Land-Differenzen in Phasen raschen Städtewachstums selbstverständlich nachweislich zu, aber dies muss nicht zwingend in Gegensätzen bewusst werden oder gar zu Konflikten führen. Es kommt sehr auf die kommunikativen Dispositionen und insbesondere auf die Interessen der Beteiligten an. Solange ländliche Bindungen und Beziehungen 3 In dieser Weise glaube ich, die Ergebnisse etwa von Kluge, Krisen der Lebensmittelversorgung, interpretieren zu dürfen; vgl. auch Geyer, Martin, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914–1924, Göttingen 1998, S. 130 ff., sowie die Beiträge von Geyer, Günter Trittel und Paul Erker in: Manfred Gailus u. Heinrich Volkmann (Hg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990, Opladen 1994; auch Scholz, Robert, Ein unruhiges Jahrzehnt. Lebensmittelunruhen, Massenstreiks und Arbeitslosenkrawalle in Berlin 1914–1923, in: Manfred Gailus (Hg.), Pöbel­ exzesse und Volkstumulte in Berlin. Zur Sozialgeschichte der Straße (1830–1980), Berlin 1984, S.  79–123; Hartewig, Karin, Das unberechenbare Jahrzehnt. Bergarbeiter und ihre Familien im Ruhrgebiet 1914–1924, München 1993; ferner Tenfelde, Klaus, La riscoperta dell’ »autodifesa colletiva«. Protesta sociale in Germania durante l’inflazione del 1923, in: La transizione all’economia di guerra all’economia di pace in Italia e in Germania dopo la Prima guerra mondiale, Bologna 1983 (=Annali dell’Istituto storico italo-germanico, Quaderno 11), S. 379–422; ders., Stadt und Land in Krisenzeiten. München und das Münchener Umland zwischen Revolution und Inflation 1918–1923, in: Wolfgang Hardtwig u. Klaus Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850–1933, München 1990, S. 37–57. 4 Vgl. Tenfelde, Stadt und Land, S. 49.

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erhalten bleiben und einigermaßen ungestört vererbt werden können, mögen Städte, wie diejenigen des Ruhrgebiets vor 1914 und erneut in den 1950er Jahren, wuchern, ohne dass damit nennenswerte Konflikte mit dem Umland einhergehen, zumal dieses ja in der Regel stark profitiert. Unterschiedliche Typen des Städtewachstums, etwa der zentralistische Typ Frankreichs im Vergleich zu dem haupt- und industriestädtischen Wachstumstyp Deutschlands, mögen diese Feststellung moderieren. Sie wird überdies durch den oftmals beobachtbaren zeitlichen Abstand zwischen realem Wandel und dessen Wahrnehmung, dem »cultural lag«, beeinflusst. Generell wird in der Literatur rasches Wachstum in der Regel als Faktor der Destabilisierung interpretiert, aber es gibt auch, bezogen auf Arbeitskonflikte, die gegensätzliche Ansicht. Die Bemerkung über rasches Städtewachstum lenkt den Blick auf die Frage, was denn eigentlich Stadt, was Land sei. Gerade diejenigen Faktoren, die das Gegensatzpaar als Gegensatz konfigurieren, waren im historischen Wandel starken Verschiebungen unterworfen und wiesen meistens starke strukturelle Besonderheiten auf. Es ist ein Unterschied, ob große und rasch wachsende Städte von Gutsherrschaften, von ländlichen Streusiedlungen, protoindus­ triellen Gewerbegebieten, mittelbäuerlichen Besitzlandschaften oder real geteilten Kleinbauern-Stellen umgeben sind oder sich in engen städtischen Nachbarschaften entwickeln. Ebenso macht es Unterschiede aus, ob wir es mit Klein-, Mittel- oder Großstädten zu tun haben, ob in Residenzstädten politische Zentralität oder in Industriestädten die Wirtschaftskraft von Großbetrieben mit starker Klassenbildung und großen Arbeiteranteilen im Vordergrund steht. Darin wird auch deutlich, dass die konstatierbare Differenz zugleich Ausdruck von Arbeits- und Funktionsteilung und damit von Abhängigkeit ist. Wo StadtLand-Konflikte manifest wurden, handelte es sich, in welche sonstigen Feindbilder sich solche Konflikte auch immer kleideten, meistens um zugrunde liegende ökonomische Abhängigkeiten, die in Krisensituationen gestört wurden, so ins­besondere die Zulieferer- und Versorgungsfunktion des Landes. Das betraf keineswegs nur Nahrungsmittel, diese aber vor allem in Teuerungsphasen. Von Stadt-Land-Konflikten, die sich an die starke Verteuerung von Lebensmitteln anschlossen, wurden keineswegs nur die Groß-, sondern auch Mittel- und gerade auch industrielle Kleinstädte erfasst, weil hier ausgeprägte Differenzen in den Lebensweisen der Stadt- und Umlandbevölkerungen noch viel unmittelbarer miteinander konfrontiert wurden.5 Stoff für Konflikte zwischen Stadt und Land boten auch die Arbeitsmärkte, in denen es noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr vielfältige, auch rechtlich spezifizierte Differenzen gegeben hat, denkt man etwa an die Arbeitsmärkte des Gesindes, an Pendler und saisonale Arbeitsplatzwanderer mit ländlichem Kleinbesitz, insgesamt: an das große Problem der »Landflucht« im Zeitalter der Industrialisierung. Was einerseits die Stadtkritik auf Seiten ländlich-agra­rischer 5 Beispiele: Tenfelde, Klaus, Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900–1945, erw. Ausg. München 1982, S. 135 ff., 175 ff.

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Eigentümer beflügelte, sorgte jedoch andererseits für relativ konfliktarme ländliche Sozialbeziehungen, denn die Landflucht entzog den Landbevölkerungen gerade diejenigen Altersgruppen, denen gemeinhin höhere Konfliktbereitschaft unterstellt wird. Außerdem war Landflucht vermutlich in der Mehrzahl der (millionenfachen) Fälle nicht mit einmalig lebensverändernden Umständen verbunden, sondern ein eher fließendes, im Lebenszyklus über viele Jahre unvollendetes Geschehen. Noch heute wird in der Forschung gelegentlich die Mischform städtisch-ländlichen Daseins unterschätzt, welche die Urbanisierung bis weit in das 20.  Jahrhundert in Gestalt quantitativ sehr bedeutender Pendel-Wanderungen zwischen Stadt und Land begleitet hat.6 Dennoch verband sich mit der Land-Stadt-Wanderung für Hunderttausende von Fernwanderern eben auch die traumatisierende Erfahrung des Heimatverlusts. Nicht diese »endgültigen« Stadtwanderer, die ja in der Regel in den Großstädten die ersehnte Verbesserung ihrer Lebensumstände bis hin zur Chance der Familiengründung auch zu realisieren vermochten, sondern die bäuerlichen und gutsherrschaftlichen Eigentümer auf dem Lande verbanden deshalb mit der Landflucht vehemente Stadtkritik.

2. Stadtbegriffe – Urbanität als Lebensweise Zu Recht wird das Leitbild der »Urbanität« als spezifische Lebensweise mit sehr großen Städten verbunden. Diese Zuspitzung empfiehlt sich auch angesichts der durchaus nicht zufälligen statistischen Festlegung, wonach eine Großstadt mit dem hunderttausendsten Einwohner als solche zu rubrizieren war (und ist). Als solche Großstädte galten in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts eigentlich nur Berlin und Hamburg; Breslau und München hatten diese Schwelle knapp überschritten; Köln und Dresden standen knapp davor. Mit dem starken konjunkturellen Aufschwung der 1850er Jahre, der die Industrielle Revolution in Deutschland einläutete, setzte das rasante Städtewachstum ein, und es folgte fortan im wesentlichen der konjunkturellen Rhythmik, schwächte sich also zumal in der Depression ab 1874 ab, um spätestens ab 1895 neuen Schwung zu nehmen und bis 1914 sozusagen ungehemmt anzuhalten. Zur Zeit der Reichsgründung gab es 7, im Jahre 1910 dann 48 Großstädte in Deutschland, und während um 1871 gut 5 Prozent der Gesamtbevölkerung in Großstädten wohnten, waren es jetzt 21,3  Prozent.7 Um zunächst grobe Dimensionen un6 Vgl. etwa v. Friedeburg, Robert, Heimgewerbliche Verflechtung, Wanderarbeit und Par­ zellenbesitz in der ländlichen Gesellschaft des Kaiserreiches, in: AfS, Jg. 26, 1996, S. 1–40; Mooser, Josef, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt a. M. 1984. Mooser hat diese Mischformen als erster angemessen berücksichtigt. 7 Reulecke, Urbanisierung, S. 42 f. u. 202–204; vgl Matzerath, Horst, Urbanisierung in Preußen 1815–1914, Stuttgart u. a. 1985, S. 38–45.

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terschiedlicher Lebensweise zu bezeichnen, sei knapp auf unterstellbare Stadtbegriffe eingegangen: Geht man von einer geografisch-topografischen Stadtdefinition aus, dann dokumentiert sich der Stadt-Land-Gegensatz zu allererst in der klassischen architektonischen Formierung des Stadtraums, der in Europa in älterer Zeit durchgehend, aber nicht überall, durch Stadtmauern und Stadtbefestigungen gegen andere Herrschaftsräume, jedermann erkennbar, abgegrenzt worden ist. Ich verzichte auf nähere Ausführungen zu den Konnotationen, die sich damit – und mit der Schleifung der Befestigungen im Zuge der Nationalstaatsbildung – verbinden. Auch die Topographie des Stadtraums soll hier nicht näher interessieren; es ist aber zu betonen, dass und wie sehr Zentralität im Umland, Mehrstöckigkeit, geschlossene Bauweise, die Topographie des Reichtums und der Armut im älteren Stadtraum, überhaupt professionsbezogene Segregationen sowie Straßenzüge und Platzgebilde abgehobene und unterscheidbare Lebens­ weisen begründet hatten. Zu diesen Lebensweisen wird rasch geleitet, wer von einer demografischen Stadtdefinition ausgeht. In makrodemografischer Sicht sind Städte zunächst Bevölkerungsverdichtungen aufgrund von Gebürtigkeit und Zuwanderung, welche wegen der letzteren in einer im Zeitablauf wechselnden Beziehung zum Umland stehen. In diesem Sinne war Urbanisierung seit dem 19. Jahrhundert zunächst ein Prozess der Bevölkerungsvermehrung vor allem durch Wanderung und importierte Fruchtbarkeit in den Städten, und diese Beobachtung ließ das Wort vom demografischen »Schmarotzertum« der Städte aufkommen. Eher mikrodemografisch betrachtet, erweist sich, dass die städtische Fruchtbarkeit in den gedrängten Zuwanderungsphasen sprunghaft stieg, aber selbst in den Industriestädten in der übernächsten Generation der Zuwanderer deutlich, in diversifizierten Großstädten drastisch sank, während die Gebürtigkeit auf dem Lande von einem hohen Niveau ausging, dann relativ langsam und erst seit den 1960er Jahren stark rückläufig war. Dagegen wurde erst seit Beginn des 20.  Jahrhunderts die Überlebenswahrscheinlichkeit in großen Städten größer als auf dem Lande. Unter »urbaner Bevölkerungsweise« lässt sich die demo­grafische Struktur eines prekären Gleichgewichts verstehen, in dem Städtewachstum nicht mehr erzielt, der Bevölkerungsstand vielmehr angesichts strukturell negativer Bilanzen von Natalität und Mortalität allenfalls durch Zuwanderung stabilisiert wird. Die Folgen für die Familienbildung, die Geschlechterrollen und Generationsbeziehungen, darüber hinaus für die Infrastrukturen des Bauens und Wohnens, der Versorgung und Entsorgung, mithin für die urbane Lebensweise, liegen auf der Hand. Neben der topografischen war die rechtliche Differenz von Stadt und Land in älterer Zeit eklatant. Sie machte, sehen wir einmal von den wuchernden städtischen Unterschichten ab, einen rechtlichen Wesensunterschied von Stadtbürgern und ländlichen Untertanen aus, der zutiefst unterschiedliche Lebensweisen in Rechtsnormen wie solche der stadtbürgerlichen Freiheit goss. Was nach der Reformzeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts davon übrig blieb, war gering. 317 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Dem Prinzip nach kamen nun gleiche Rechte allen Staats- und nicht nur den Stadtbürgern zu. Auch der »gesetzliche« Stadtbegriff, wonach Städte als solche galten, wenn ihnen die Territorialherrschaft diese Qualität ausdrücklich zuerkannt hatte (und das hatte in der Vormoderne gelegentlich für kleine und kleinste Siedlungsgebilde gegolten), wurde nun rasch verschliffen; bis heute sind etwa für kreisfreie Städte und für Großstädte gegenüber den »Gemeinden« nur wenige Sonderrechte verblieben. Wenn auf irgend einem Gebiet, dann lässt sich auf dem Gebiet des Rechts eine wesentlich schon vor 1914 vollzogene Abschleifung von Stadt-Land-Differenzen beobachten,8 denn das Recht auf kommunale Selbstverwaltung gilt gebietsbezogen für jedermann. Mit der rechtlichen Differenz geht der politische Stadtbegriff einher. Er beschrieb einstmals das Vorhandensein, beziehungsweise im Gegenbild, die Abwesenheit von Partizipation und damit eine relativ weitgehende städtische Gestaltungsautonomie sowie die Etablierung von Institutionen zu deren Organisation. Unter dem Anspruch auf Gestaltungsautonomie sind, darüber hinaus, vielfältige Formen überfamilialer Gesellung im Blick zu behalten: Die Stadt ist die Geburtsstätte des Vereins. In ihm keimt die Bürgergesellschaft. Das Land adaptiert ihn verspätet und für ganz andere Zwecke. Wie am rechtlichen Stadtbegriff erwähnt, schliffen sich die unterschiedlichen Partizipationschancen von Stadt und Land mit der Herausbildung der Staatsbürgergesellschaft ab, und solche Vereine, die nicht zu politischen Parteien wurden, lassen sich besser unter stadttypischen Vergesellschaftungen, mithin unter dem soziologischen Stadtbegriff erfassen. Ein ökonomischer Stadtbegriff hätte ehestens auf drei Formen von Arbeitsteilung in zunehmend differenzierten Produktionsgefügen abzuheben: auf die Arbeitsteilung zwischen Stadt und Umland sowie auf diejenige innerhalb der städtischen Gewerbe, schließlich auf die Selbstorganisation der großen Städte. Städte waren immer Gewerbezentren, Stadtbildung vollzog sich ja nicht zuletzt wegen der Notwendigkeit der Versorgung des Landes mit gewerblichen Produkten, und insofern lag ihr Arbeitsteilung zugrunde. Sicher gab es immer auch ländliches, dann aber agrarnahes Gewerbe – mit Ausnahme der Protoindustrialisierungsphase, als vornehmlich textiles ländliches Gewerbe große Bedeutung hatte. Diejenige Zentralisierung der Gewerbebetriebe, die mit der Industrialisierung verbunden wird, war jedoch ein städtisches Phänomen, wie umgekehrt standortgebundene Gewerbe wie Häfen und Bergbau städtebildend wirkten. Der innergewerbliche Prozess zunehmender Arbeitsteilung vom Handwerks­ betrieb über die Manufaktur zur Fabrik und zum Industriekonzern fand demnach stets in Städten statt. Die gewerbliche Wirtschaft der Städte formte die Lebensweisen ihrer Bewohner zutiefst, und diese Prägung nahm in dem Maße noch zu, in dem die Industrialisierung den Formtyp der Industriestadt schuf, sei es, um Sombart zu folgen, als »industrielle Teilstadt« eines mono­ 8 Vgl. Rückert, Joachim, Stadt – Land – Recht – Agglomeration in Europa, in: Friedrich Lenger u. Klaus Tenfelde (Hg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert, Köln 2006, S. 171–231.

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industriellen Subtyps oder als »industrielle Vollstadt«, in gewerblich diversifizierter Form.9 Schließlich lässt sich die Entstehung sowohl des privaten als auch des öffentlichen Dienstleistungssektors gleichermaßen als ein Prozess zunehmender Arbeitsteilung im Rahmen der gewerblichen Wirtschaft und der kommunalen Selbstorganisation, im öffentlichen Bereich namentlich mit dem Ausbau der städtischen Leistungsverwaltungen, verstehen. Scheinbar »nichtproduktive« Erwerbsformen, etwa in Kunst und Kultur, ergänzten dies, freilich beinahe nur in Städten. Man kann sagen, dass vor allem diese ökonomisch und organisatorisch begründeten Prozesse jene unerhörte Vielfalt der Lebensweisen entstehen ließen, welche die große Stadt vom Land seit Beginn des 19. Jahrhunderts unterschied. Demgegenüber blieb die ländliche Lebensweise bis in die Nachkriegszeit, bei anhaltender Verwurzelung in den ländlichen Eigentums- und agrarischen Produktionsformen, von hoher Stabilität und Kontinuität gekennzeichnet. Schließlich der soziologische Stadtbegriff. Er lässt sich, zugegebenermaßen willkürlich, auf drei Gehalte zuspitzen: Stratifikation (und Mobilität), Ver­ gesellschaftung, Lebensweise und Kultur. Von jeher markierten stadttypische Schichtungen der Erwerbs- im Gegensatz zu den auf dem Land überwiegenden Besitzklassen die gesellschaftliche Ordnung der Städte; einige Erwerbsklassen traten in positionsbegründete Gegensätze zueinander; als Mieter- und Kon­sumentengesellschaften lassen sich zahlreiche weitere Merkmale erfassen. Während städtische Familien einen Teil  ihrer Funktionen an die umgebende städtische Ordnung abtraten, entfalteten sich überfamiliale Vergesellschaftungen im Stadtraum mit dem Ziel, besondere Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren und zu befriedigen. Die Stadt vernetzte sich. Jenseits der Familien fand Meinungs- und Willensbildung in Bindungen und Beziehungen statt, die rasch eigener Organisierung und Institutionalisierung bedurften: Städtische Kommunikation löste sich aus personalen Kontakträumen und kristallisierte sich mit Hilfe der Medien. Will man nicht den Kulturbegriff auf »Hochkultur« konzentrieren, die mit der Trias von Bildung, Wissenschaft und Kunst in der Tat nur in Städten zuhause war, dann machte die entpersonalisierte, anonymisierte Kommunikation der Einwohnerschaften im Kern die Besonderheit der Stadtkultur aus.

9 Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, Bd.  III/1, München 1927, S.  399–411. Nach Sombart gelangt in der industriellen Teilstadt der dort produzierte Mehrwert, anders als in der Vollstadt, »nicht zum Verzehr«, wird also anderwärts investiert.

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3. Frühe Wahrnehmungen Das alles ist in stadtgeschichtlichen und städtetypisierenden Reflektionen seit Sombart, Weber und Simmel bis hin zur Chicago School und Louis Wirth ausgebreitet und differenziert worden;10 es sollte hier, in subsumierender Absicht, zu einer Skizze derjenigen Ebenen zusammengefasst werden, auf denen wir empirisch markante Stadt-Land-Unterschiede erwarten dürfen. Indessen, einiges spricht dafür, dass die Ausformung der politisch-ideologischen Stadtkritik, welche nicht nur in Deutschland die Sicht auf die Städte von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zeitweilig beherrscht hat, der Herausbildung tatsächlich eindeutiger und starker Differenzen der Lebensweisen vorausging, statt ihr zu folgen. Folgt man den Wahrnehmungen der Romantiker, dann war die stadt-ländliche Welt an der Wende zum 19.  Jahrhundert in Deutschland noch weitgehend in Ordnung.11 Wo es kaum erst, nach heutigen Begriffen, mittlere Städte gab, wo sich die Großstadterfahrung auf eine einzige Stadt, Berlin, konzentrieren musste, da mangelte es vermutlich an Veranlassungen kritischer Kenntnisnahme; in der preußischen Hauptstadt hingegen war das durchaus bereits anders. Und die spätestens seit Albrecht von Haller in der deutschen Literaturgeschichte verbreiteten Topoi der Stadtkritik waren durchaus weiterhin gegenwärtig. Allerdings ließ sich die große europäische Verelendungskrise, die mit dem Pauperismus der vormärzlichen Jahrzehnte und zahlreichen Hungerkrisen heraufzog, eben nicht eindeutig auf die Städte beziehen: Es handelte sich im Allgemeinen um eine Krise der Arbeits-, der Stellenlosigkeit. Einer rasch wachsenden Bevölkerung zumal im ländlichen Raum standen nur ganz unzureichende Erwerbsmöglichkeiten gegenüber, eine Diskrepanz, die erst durch den industriewirtschaftlichen Aufschwung seit den 1950er Jahren aufgehoben werden sollte. Im Besonderen wurde das protoindustrielle Heimgewerbe von dieser Krise erfasst, und das war, wie erwähnt, eine überwiegend ländliche Industrie, die nun unter den doppel10 Vgl. etwa Friedrichs, Jürgen (Hg.), Soziologische Stadtforschung, Opladen 1988; Saunders, Soziologie der Stadt, S. 33 ff.; Smith, Woodruff D., The Emergence of German Urban Sociology 1900–1910, in: Journal of the History of Sociology, Jg. 1, 1979, S. 1–16; Lindner, Rolf, Die Entstehung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Frankfurt a. M. 1990; ders., Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a. M. 2004. 11 In diesem Urteil stütze ich mich auf Frevert, Ute, Stadtwahrnehmungen romantischer Intellektueller in Deutschland, in: Gerhard v. Gaevernitz (Hg.), Die Stadt in der europäischen Romantik, Würzburg 2000, S. 55–78, sowie Wende, Waltraud (Hg.), Großstadtlyrik, Stuttgart 1999, Einleitung der Herausgeberin S. 5–37; s. ferner Jürgens, Hans W., Sozialanthropologische Probleme der Stadt-Land-Beziehungen seit Beginn der Neuzeit, in: Studium Generale, Jg. 16, 1963, S. 500–512. Die spätmittelalterliche Stadtkritik nahm insbesondere die Sittenlosigkeit der Stadtkinder und das zügellose Leben von Studenten ins Visier, s. Kühnel, Harry (Hg.), Alltag im Spätmittelalter, Darmstadt 1984, S. 170.

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ten Druck des Preisverfalls der Rohstoffe und der Fertigwaren geriet. Langenbielau und Peterswaldau, wo der Weberaufstand 1844 ausbrach, waren kleine Dörfer im schlesischen Erzgebirge. So wird verständlich, dass eine Wahrnehmung, in der sich die Differenz der Stadt zum Land auf die Industrialisierung beziehen ließe, im späteren Deutschen Reich bis Mitte des 19.  Jahrhunderts nicht recht entstehen konnte. Genauere Hinsicht würde vermutlich etwa für das Königreich Sachsen bereits derartige Wahrnehmungen nachweisen können; für Hamburg und Berlin gilt Ähnliches, aber das spätere Ruhrgebiet setzte ja eben erst zu seinem großen Aufschwung an. Ganz andere Verhältnisse herrschten insofern in England, dem seit langem am stärksten urbanisierten Land, in dem der Stadt-Land-Gegensatz denn auch seit der Wende zum 17. Jahrhundert im Sinne von Klagen der Landbewohner über die Städte virulent war.12 In seinem Werk über die Lage der arbeitenden Klassen in England nahm Friedrich Engels 1844 gewisse Einsichten vorweg, die in den Anfängen der Stadtsoziologie zu Beginn des 20.  Jahrhunderts erneut formuliert werden sollten. »Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da aneinander vorbeidrängen, sind sie nicht alle Menschen mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? […] Und doch rennen sie aneinander vorbei, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, dass jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden aneinander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt keinem ein, die andern auch nur eines Blickes zu würdigen. […] Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf die höchste Spitze getrieben.«13 Diese Anonymisierung der städtischen Daseinsweisen, die Auflösung gewohnter Personenverbände mit der Folge isolierter Individualität in der »Masse« ist als ein Merkmal der Städte bald auch in Deutschland beobachtet worden. »Was war das nicht früher für ein Stolz«, bemerkte 1853 ein Anonymus, »mit dem der Bürger einer großen Stadt von dem Glanz dieser seiner Vaterstadt sprach!« – Heute aber: »Das geistige Band zwischen der Gemeinde und dem Gemeindebürger ist zerrissen; es gibt keine innere Verselbigung des Einzelnen in der Gemeinde mehr«, vor allem, weil der »Wechsel der Menschen und der Besitzungen […] um so viel größer und rascher« voranschreite, »je lebendiger die Entwicklung der betreffenden Stadt selber ist.«14 Trotz solcher Ein­sichten 12 Hierzu Williams, Raymond, The Country and the City, London 1973, S. 291. 13 MEW, Bd. 2, S. 257, zit. n. Sofsky, Wolfgang, Schreckbild Stadt. Stationen moderner Stadtkritik, in: Die Alte Stadt, Jg. 13, 1986, S. 1–29, 9; zum Stadt-Land-Gegensatz in der Sicht von Marx und Engels s. Lefèbvre, Henri, Die Stadt im marxistischen Denken, Ravensburg 1975; Saunders, Peter, Soziologie der Stadt, Frankfurt a. M. 1987, S. 22–33. 14 Gemeindewesen, in: Deutsche Verteiljahrs Schrift, Jg. 16, 1853, S. 25–28.

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etablierte sich indessen in jenen 1850er Jahren eine ganz andere Variante der Stadtkritik in Preußen-Deutschland. Denn in junkerlich-konservativen Kreisen waren die Ereignisse der kontinentalen Revolutionen 1848/49 besonders als Aufstände des groß- und hauptstädtischen Mobs gegen die »Mächte der Ordnung« wahrgenommen worden. Als der westfälische Unternehmer Friedrich Harkort Anfang 1852 im Preußischen Abgeordnetenhaus die Bevorzugung des Adels in der preußischen Armee mit dem Hinweis kritisierte, die Regierung misstraue offenbar dem Volk, antwortete der Abgeordnete Bismarck, »dass auch ich allerdings der Bevölkerung der großen Städte misstraue, so lange sie sich von ehrgeizigen und lügenhaften Demagogen leiten lässt, dass ich aber dort das wahre preußische Volk nicht finde. Letzteres wird vielmehr, wenn die großen Städte sich wieder einmal erheben sollten, sie zum Gehorsam zu bringen wissen, und sollte es sie vom Erdboden tilgen.«15 So hatte sich spätestens seit der Französischen Revolution den Topoi der Stadtkritik ein politischer Unterton beigemischt, der sich bei Bismarck an­ gelegentlich zur Stadtphobie steigern konnte: 1877/78, anlässlich der Kaiser­ attentate und des Sozialistengesetzes, galt eine seiner größten Sorgen den vermuteten Sozialdemokraten in der Berliner Polizei und einer besonders starken Wehrkraft der preußischen Armee in der Umgebung der Hauptstadt.16 Es bleibe dahingestellt, ob Groß- und Industriestädte durchweg als Gefahrenpotentiale und Zentren revolutionärer oder auch nur aufrührerischer Bestrebungen gelten können, einiges mag dafür sprechen.17 Mit Blick auf die 1850er Jahre wird man jedoch sagen müssen, dass sich die Stadtkritik zu einem Zeitpunkt, zu dem es so recht in den Grenzen des späteren Reichs noch keine Großstädte gab, auf ein politisches Fundament verschob. Es ist dies auch die Tonlage, in der nunmehr Wilhelm Heinrich Riehl, Urvater der modernen Stadtkritik, seine Stimme erhob. Seine Hinweise im ersten Band der »Naturgeschichte des deutschen Volkes« über »Land und Leute« tragen deshalb Züge einer »self-fulfilling prophecy«.18 Abgesehen von der »Künstlichkeit« gewisser Stadtstrukturen, Riehl kritisierte zumal 15 Stenographische Berichte über die Verhandlungen, Zweite Kammer, Bd. 2, 30.–52. Sitzung, Berlin 1852, S. 887. 16 Vgl. Tenfelde, Klaus, Bismarck und die Sozialdemokratie, in: Lothar Gall (Hg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001, S. 111–135. 17 Zur Diskussion: Hobsbawm, Eric J., Großstädte und Aufstände, in: ders., Revolution und Revolte. Aufsätze zum Kommunismus, Anarchismus und Umsturz im 20.  Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1977, S. 302–321. 18 Riehl, Wilhelm Heinrich, Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik, Bd. 2: Land und Leute, 1854, Stuttgart 18949, S. 94–107, die folgenden Zitate ebd., S. 101–103; maßgebliche Passagen finden sich nachgedruckt in dem Aufsatz von Wunder, Bernd, »Künstliche Städte« und »natürliche Stände« bei Wilhelm Heinrich Riehl, in: S­ ylvia Schraut u. Bernhard Stier (Hg.), Stadt und Land. Bilder, Inszenierungen und Visionen in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Wolfgang von Hippel, Stuttgart 2001, S. 427–439. Zu Riehl u. a. Steinbach, Peter, Einleitung zur Neuausgabe: Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 7 ff.

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die fürstlichen Gründungen von Städten, notierte auch er die »Verein­zelung« des modernen Stadtbürgers, aber ein Gräuel war ihm das großstädtische Proletariat: »Die Herrschaft der Großstadt wird zuletzt gleichbedeutend werden mit der Herrschaft des Proletariats«. Eine »flutende und schwebende Bevölkerung« sah er in den Städten seiner Zeit, und das war, wie oben angedeutet, sicher bereits eine richtige Beobachtung. »Bedenkliche Symptome der Wider­ natur« zeichneten sich für Riehl in den großen Städten ab, und die vorhandene Kluft zwischen Stadt und Land verringere sich »leider durchaus nicht«, umgekehrt, sie werde »zusehends erweitert«. Das war eine Beobachtung von bemerkenswert prognostischer Qualität.

4. Dimensionen der Stadt-Land-Differenz Ansatzweise sind Stadt-Land-Differenzen von der Stadtsoziologie schon früh systematisch erfasst worden,19 aber eine »Geschichte des Stadt-Land-Gegen­ satzes« gibt es m. E. bisher nicht. Stadtsoziologen scheinen früher mit Eindeutigkeit die Entwicklung der Stadt-Land-Beziehung als einen »gerichteten Prozess« verstanden zu haben, als eine »geradlinige und einseitige Vorstellung von Modernisierung«, die »von rein ländlichen zu rein städtischen Lebensformen« führe.20 Diese Annahme wird heute kaum noch vertreten, weil jüngere Entwicklungen zur »Randstadt« oder »Zwischenstadt« es nicht zu erlauben scheinen, weiterhin von einem gerichteten Stadt-Land-Kontinuum, an dessen Ende »die Welt als Stadt« stünde, zu sprechen.21 In der Stadt- und Urbanisierungs-Geschichtsschreibung dient hingegen das Land meistens nur als mitgedachte Folie der Stadt, nicht als deren mitkonstituierender Gegensatz. Entsprechend werden Stadt-Land-Unterschiede, wie etwa in der diese ziemlich ausführlich behandelnden deutschen Gesellschaftsgeschichte 19 Vgl. bes. Sorokin, Pitirim u. Zimmermann, Carle C., Principles of Rural-Urban Sociology, New York 1929. Das nur selten zitierte Werk spiegelt die rasche Entwicklung der amerikanischen »urban« und »rural sociology« in den 1920er Jahren; vgl. hierzu die Hinweise oben Anm. 10. Sorokin u. Zimmerman bieten ausführlich, aber jeweils überwiegend in Momentaufnahmen und unter Konzentration auf US-amerikanische Daten, Informationen über die Spiegelungen des Stadt-Land-Unterschieds in der Vitalstatistik (körperliche Unterschiede, Gesundheit-Krankheit, Mortalität und Selbstmord, Gebürtigkeit und Eheschließung), über Intelligenz und Psychologie (u. a. Analphabetismus), Verhaltensformen wie Kriminalität, Religiosität, politisches Verhalten und ästhetische Kategorien; ein abschließender Hauptteil widmet sich den Stadt-Land-Beziehungen anhand der Migrationen. 20 Hahn, Achim, Stadt – Land, Zwischenstadt, in: Stephan Beetz u. a. (Hg.), Handwörterbuch zur ländlichen Gesellschaft in Deutschland, Wiesbaden 1905, S. 233–240, 235. Vgl. Kötter, Herbert u. Krekeler, Hans-Joachim, Zur Soziologie der Stadt-Land-Beziehungen, in: René König (Hg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, Stuttgart 1969, S. 604–621. 21 Vgl. Sieverts, Thomas, Zwischenstadt zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig 1998.

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von Hans-Ulrich Wehler,22 zwar nachdrücklich konstatiert, aber nicht systematisch entfaltet. Wehler behandelt die Stadt-Land-Differenz – und zwar, nach den hier bereits präsentierten zeitgenössischen Ansichten, durchaus mit Recht – mit festem Blick auf die »konservative Kulturkritik«, die den »Verhaltenswandel« in den Städten »häufig maßlos übertrieben und wegen ihrer Idealisierung der ländlichen Vergangenheit schlechthin erfunden« habe.23 Begriffe wie »Lebensweise«, »Verhaltenswandel«, bezeichnen freilich, als semantische Konstruktionen mit dem bloßen Ziel der Zusammenfassung, letztlich nur irgendwie wichtige Deutungsfelder. Es kommt darauf an, diese auszubreiten und empirische Nachweise über Differenzen und Distinktionen zu führen. Dabei sollten Stadthistoriker bestrebt sein, nicht nur in Momentaufnahmen konstatierbare Differenzen zu bezeichnen, sondern die längerfristige Entwicklung der Differenzgefüge unter der Frage zu untersuchen, in welchen Mischlagen Unterschiede sich auftaten oder verringerten. Wenn man hieran interessiert ist, öffnen sich zahlreiche Untersuchungs­ felder. Ich füge nun einige Daten zusammen, die den Stadt-Land-Unterschied gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ausgewählten Dimensionen spiegeln. Scharfe Unterschiede zwischen Stadt und Land haben sich mit dem raschen Städtewachstum in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts vor allem in den mikrodemografischen Daten abgebildet. Die Fruchtbarkeit der gebärfähigen Frauen in München verringerte sich zwischen 1873 und 1926 auf weniger als ein Drittel der Ausgangsdaten, jene auf dem bayerischen Lande jedoch nur um ein Drittel – die Differenz weitete sich demnach. Die Säuglingssterblichkeit lag 1875 in den großen bayrischen Städten, Nürnberg und Augsburg, etwa genau so hoch wie in Niederbayern und der Oberpfalz, aber 1925 betrug sie in den großen Städten nur noch 12 bis 14 Prozent der Lebendgeborenen, auf dem Land hingegen noch 34 Prozent.24 Das war in erster Linie eine Folge der Medikalisierung und Hospitalisierung der Stadtbevölkerungen im Zuge des Ausbaus der kommunalen Leistungsverwaltungen,25 und wohl in allen rasch wachsenden Städten 22 Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995. S. 518–523. 23 Ebd., S. 518. Wehler bietet, mit einem Schwerpunkt auf der Kriminalität, den derzeit wohl besten Überblick zum Kenntnisstand über Stadt-Land-Unterschiede. 24 Knodel, John E., The Decline of Fertility in Germany, Princeton 1974, passim; vgl. Matzerath, Urbanisierung, S. 180–182, 320 ff. 25 Es sei am Rande darauf hingewiesen, dass die preußischen Großstädte (Bezugsjahr: 1911) für kommunale Belange ihrer Bürger pro Kopf das Siebenfache und bei den Sozial- und Gesundheitskosten das Zehnfache der Landgemeinden ausgaben. Vgl. Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992, S. 680; s. hierzu im Allg. die Untersuchungen von Wolfgang R. Krabbe u. a.: Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 99 ff., sowie Blotevogel, Hans Heinrich (Hg.), Kommunale Leistungsverwaltung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln 1989; Reulecke, Jürgen (Hg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der »Sozialstadt« in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995.

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kann man beobachten, wie sich die Verhältnisse bis zur Wende zum 20. Jahrhundert etwa hinsichtlich der Arzt- und Krankenhausdichte wegen eines nicht endenden Zuzugs von außen noch verschlechterten, um sich dann rasch zu bessern. In der frühen Phase der Urbanisierung war es dagegen weit riskanter gewesen, in Städten zu leben,26 und das spiegelt beispielsweise die Statistik der Militärtauglichkeit noch bis 1912, wobei allerdings einfloss, dass die Preußen etwa die Berliner Industriearbeiter auch aus anderen Gründen ungern zum Militär zogen. Beispielsweise ist die städtische Seuchengefahr gegen Ende des 19. Jahrhunderts wenn nicht gebannt, so doch durch Zurückdrängung der Cholera und anderer Infektionskrankheiten entschieden vermindert worden. Das betraf insbesondere die Säuglingssterblichkeit. Ganz überwiegend waren deren Unterschiede zwischen Stadt und Land den Familiengründungen zuziehender wie ansässiger Arbeiter geschuldet. An der Wende zum 20.  Jahrhundert lag beispielsweise die Säuglingssterblichkeit in Hamburger Arbeiterfamilien deutlich doppelt so hoch wie in bürgerlichen Vierteln: Jedes fünfte Hamburger Arbeiterkind starb im ersten Lebensjahr. Anfang der 1930er Jahre hatte sich diese Differenz, die im übrigen stark durch illegitime Geburten beeinflusst wird, beinahe angeglichen.27 Eklatante Unterschiede weisen die insgesamt für Stadt und Land vorliegenden Daten zur Entwicklung der Gebürtigkeit auf, während die Lebenserwartung zwar deutlich, aber nicht so stark differierte. Die von Reinhard Spree veröffentlichten,28 nach (weithin städtischen) Berufen differenzierten, aber auch die Bauern enthaltenden Daten zur Anzahl der Kinder je Familie erweisen höchste Ziffern bei Bauern- und Bergarbeiterfamilien, niedrigste hingegen bei Buchdruckern und Angestellten. Das hing auch mit den Chancen der Familienbildung in Stadt und Land zusammen: Familienbildung war in den 26 Vgl. etwa Stiens, Gerhard u. Gatzweiler, Hans-Peter, Regionale Unterschiede der Sterblichkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Friedrich Putz u. Karl Schwarz (Hg.), Neuere Aspekte der Sterblichkeitsentwicklung, Wiesbaden 1984, S. 165–191, 166; dies. Regionale Mortalitätsunterschiede in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Hypothesen, in: Jahrbuch für Regionalwissenschaften, Jg. 3, 1982, S. 36–63. Vgl. auch Blohmke, Maria, Stadt-Land-Unterschiede im Gesundheitszustand historischer und heutiger Bevölkerungen, in: Arthur E. Imhof (Hg.), Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit, Berlin 1983, S. 63–75. 27 Nach Hagemann, Karen, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaft­ liches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 206; vgl. Ritter u. Tenfelde, Arbeiter, S. 543–581; Spree, Reinhard, On Infant Mortality Change in Germany since the Early 19th Century, München 1995 (= Münchener wirtschaftswissenschaftl. Beiträge Nr. 95), S. 10 f. u. Schaubilder im Anhang. 28 Spree, Reinhard, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981, S. 180 u. ö.; Müller, Karl V., Zur Sozialanthropologie der Stadt-Landbeziehung, in: Studium Generale, Jg. 16, 1963, S.  643–652. Dieser Jg.  der Zeitschrift dokumentiert nicht nur beiläufig, in welchen Kontexten noch zu Beginn der 1960er Jahre in der Bundesrepublik »anthropologische« Differenzen der Stadt-Land-Bevölkerungen diskutiert werden konnten; vgl. bes. Walter, Hubert, Zum Problem anthropologischer Stadt-Land-Unterschiede, ebd., S. 512–518; zur Herkunft solchen Denkens s. unten Anm. 47.

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Städten der längst stark urbanisierten britischen Insel offenbar im 19. Jahrhundert leichter möglich als in Preußen und dem Königreich Sachsen oder Österreich, aber grundsätzlich verband sich mit der Industrialisierung überhaupt für viele erst die Chance zur Familienbildung, und zwar durch Wegzug der Ledigen vom Lande, was dort die Ledigenanteile minderte und in den Städten mehrte – denn die üblicherweise heiratswilligen Altersgruppen waren zugleich die mit Abstand mobilsten.29 Unverkennbar bildeten die Städte im Zuge der Industrialisierung eine ganz andere Grundform der Familie heraus, und gerade dieser Umstand ist von Stadtkritikern wie Riehl bekanntlich vehement aufgespießt worden.30 Um es zusammen zu fassen: Überhaupt ermöglichte erst der Zuzug in die Stadt einem Landarbeiterkind oder nicht erbenden Bauernsohn die Familiengründung. Der Zuzug ließ deshalb in den Phasen besonders rascher Urbanisierung in den industriellen Teil- noch mehr als in den Vollstädten besonders zahlreich junge Arbeiterfamilien entstehen, deren Fruchtbarkeit vom Lande »importiert« erscheint und auch deshalb ziemlich hoch war, weil gerade solche Ehen früh geschlossen wurden, was die Fruchtbarkeitsspanne der Mütter verlängerte. Zumal für die Zuzüge der Wachstumsphase von 1895 bis 1914 reichten diese Folgen bis weit in die Zwischenkriegszeit; der »time lag« der Familienbildung dürfte deshalb die mikrodemographischen Stadt-Land-Unterschiede bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges »verlängert« haben. Die Familie der »urbanen Bevölkerungsweise« bildete sich auch bei Arbeitern rasch heraus, wenn diese schon in der Vorgeneration ansässig gewesen und vergleichsweise gebildet waren. Sie beschränkte sich im Prinzip auf zwei Generationen, lebte in Trennung von der Sphäre der Produktion, beschränkte ihre Kinderzahl und entledigte sich zahlreicher Ver- und Entsorgungsfunktionen, die durch stadtgesellschaftliche Dienstleistungen sowie staatliche Sozialpolitik wahrgenommen wurden. Sie entband sich von naturräumlichen Daseinsrhythmen, säkularisierte sich, strebte zu überfamilialen Gesellungen neuen Typs (im Vergleich zu den alten Nachbarschaften) und füllte den Stadtraum durch ihr durchaus neues Freizeitverlangen. Überlappend mit dem »Wachstumstyp« proletarischer Familienbildung und verzögert durch Sondereinflüsse wie die Vertriebenen- und Flüchtlingsströme nach 1945, ist diese »urbane Bevölkerungsweise« erst seit den 1960er Jahren dominant geworden. In mikrodemographischer Sicht dürfte deshalb der Stadt-Land-Unterschied bis in die Zwischenkriegszeit zugenommen haben, um sich seither abzuschwächen. Heute dürfte ein solcher Unterschied kaum noch messbar sein und, wo er erkennbar wird, mit ganz anderen Einflüssen, beispielsweise einem anderen Wanderungsverhalten, zusammenhängen. Die neben der Bevölkerungsstatistik vermutlich dichteste Überlieferung an Daten bieten die Gewerbe- bzw. Berufsstatistiken für den Stadt-Land-Vergleich. 29 Hierzu Ehmer, Josef, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991, S. 149–158. 30 Riehl, Land und Leute, S. 104 u. ö.; zum Folgenden s. den Beitrag in diesem Bd. S. 230 ff.

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Diese Daten liegen bis heute auch für Städte nach Größenklassen vor und erlauben vielfältige Interpretationen; sie bilden selbstverständlich ein zentrales Datengerüst für jede Stadt- und Urbanisierungsgeschichte. Ihnen lässt sich, ohne dass der dichte Datenkranz hier referiert werden könnte, entnehmen, dass und wie stark sich die sozialen Schichtungsverhältnisse mit der Zentralisierung der Gewerbebetriebe in den Städten seit Beginn der Industriellen Revolution ver­ änderten.31 Es gehört zum allgemeinsten Wissen zu konstatieren, dass die Erwerbs- und die damit stark korrespondierenden Schichtungsverhältnisse mit Industrialisierung und Urbanisierung in einen scharfen Stadt-Land-Kontrast traten. Weniger allgemein ist das Wissen darüber, in welchen Rhythmen dies geschah. Aussagen hierüber werden durch den Umstand erschwert, dass die beiden Fundamentalprozesse andere und neue Städtetypen entstehen ließen, darunter vor allem – und, wie wir heute wissen, für eine begrenzte Zeit – die ziemlich monoindustriellen Großstädte des Montantyps, die ihre hohe Wachstumsgeschwindigkeit der Rolle von Kohle, Eisen und Stahl als »leading sector« der Industrialisierung etwa in der Zeit von 1850 bis 1960 verdankten. Die Erwerbsdaten erlauben im Überblick die folgende Interpretation: In den Großstädten (bzw. denjenigen Städten, die Großstädte wurden) nahm insgesamt der Anteil der Beschäftigten in Industrie und Handwerk (auf eine Differenzierung nach Selbstständigen und Lohn- bzw. Gehaltsabhängigen sei hier verzichtet) bis zum Ersten Weltkrieg sehr deutlich auf über 50 Prozent zu und verblieb auf diesem hohen Stand, teilweise durch konjunkturelle Rhythmen beeinflusst, bis in die 1950er Jahre. Mindestens in dreierlei Hinsicht ist diese Entwicklung zu differenzieren: Zeitweilig lag, erstens, dieser Anteil in Klein- und Mittelstädten sogar noch höher, was damit zusammenhängt, dass diese Städte im Zuge ihres Wachstums die Statistik gleichsam durcheilten, also als Industriestädte oft den Rang einer Großstadt erreichten. Zweitens wurde gerade diese Entwicklung durch Eingemeindungen32 in mehreren Wellen nachvollzogen, was manche statistischen Anteilsberechnungen zu Artefakten macht, aber an den Trends wenig ändert. Besonders wichtig war, dass, drittens, für die Großstädte insgesamt der Anteil der Erwerbstätigen in Industrie und Handwerk schon seit den 1880er Jahren auf ungefähr derselben Höhe verblieb und dass auch der Anteil der Beschäftigten in den Dienstleistungen in dieser Stadtgrößenklasse noch nicht zu-, bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst sogar relativ abnahm. Im 20. Jahrhundert, aber schwungvoll erst in der Nachkriegs31 Zum Folgenden insbes. Matzerath, Urbanisierung, S.  260–265; Tenfelde, Klaus, Soziale Schichtung, Klassenbildung und Konfliktlagen im Ruhrgebiet, in: Wolfgang Köllmann u. a. (Hg.), Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung, Bd. 2, Düsseldorf 1990, S. 121–217; Ritter u. Tenfelde, Arbeiter, S. 163 ff.. 32 Untersuchungen über Eingemeindungen zeichnen die vielfältigen Dimensionen des StadtLand-Gegensatzes besonders eindrucksvoll nach; vgl. Matzerath, Horst, Städtewachstum und Eingemeindungen im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter. Beiträge zur modernen Stadtgeschichte, Wuppertal 1978, S.  67–89; im selben Band am Beispiel der Stadt Frankfurt a. M. der Aufsatz von Dieter Rebentisch, S. 90 ff.

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zeit, kehrte sich die letztgenannte Entwicklung um. Eine Unterscheidung nach Stadttypen würde dabei zeigen, dass dies in industriellen Teil-, sprich, Montanstädten, kaum erst oder nur zögernd, deutlicher hingegen bereits in industriellen Vollstädten der Fall war. Die ländliche Erwerbsschichtung wies, aber nur bis in die frühe Nachkriegszeit, eine hohe Stabilität der stark durch agrarisches Eigentum geprägten Erwerbsschichtung auf. Es handelte sich um nicht nur graduelle, sondern grundsätzliche Unterschiede, die bis in die Zwischenkriegszeit herausgebildet wurden und, das zeigen die Arbeiteranteile an den Erwerbsstatistiken 1925 und 1950, bis in die frühe Nachkriegszeit stabil blieben. Unterstellt man, dass mit dem Ausbau der Dienstleistungen eine Abschwächung dieser Differenz einherging, dann trat diese jedenfalls erst in der Nachkriegszeit ein. Soweit der Stadt-Land-Unterschied in Professionen, Erwerbsverhältnissen und sozialen Schichtungen gespiegelt ist, wird man von rascher Kluftbildung bis zum Ersten Weltkrieg und von einer Erhaltung dieser Differenz bis in die 1950er Jahre ausgehen können. Differenziert man nach Stadttypen, dann lassen sich für diese Typen deutlich abweichende Rhythmen feststellen.33 Festzuhalten ist vor allem, dass die Beziehungen zwischen Schichten und Klassen in den Städten auf völlig anderen Grundlagen Konflikte generierten. Das erklärt neben vielem Anderen, warum es auf dem Lande schwer fiel, industrielle Verteilungskämpfe, Streiks, zu ver­ stehen oder gar zu akzeptieren. Demografie, Erwerbstätigkeit und Schichtung vertieften die Stadt-Land-Differenz mithin bis in die Zwischenkriegszeit. Was dies für die Verfestigung der urbanen im Gegensatz zur ländlichen Lebensweise bedeutete, kann hier nur knapp berührt werden. Es scheint, dass sich Urbanität vor allem aus einer anderen Beziehung des Einzelnen und der städtischen Bevölkerungsmassen zu Zeit und Raum und aus dem Agieren und Reagieren in anderen Macht- und Herrschaftsbeziehungen und schließlich aus der Verfügbarkeit und Adaption kultureller Vielfalt in Bildung, Wissenschaft und Kunst konstituiert. Die Entfaltung ausgeprägter Spannungen gerade zwischen großstädtischen Erwerbsklassen hat die Entstehung solcher Urbanität zeitweilig vereinseitigt, indem sie beispielsweise scharf geschiedene Aktionsräume in der Disposition über Zeit und Raum, sehr markante Abhängigkeiten gegenüber großen Gestaltungsautonomien etwa des Bürgertums im Kaiserreich und selektive kulturelle Teilhabe bis hin zur Vorenthaltung der höheren Bildung für Lohnabhängige schuf und teilweise bis heute unter anderen Umständen erhielt. Klassengegensätze waren aber keineswegs nur ein städtisches Phänomen; man kann allenfalls sagen, dass erwerbsbedingte weniger leicht als besitzbedingte Klassenspannungen zu ertragen waren. Die strukturelle Entwicklung, die in der Nachkriegszeit eintrat, lässt sich gerade 33 Hierüber informieren bes. die Forschungsarbeiten von Hans H. Blotevogel u. a.: Faktorenanalytische Untersuchungen zur Wirtschaftsstruktur der deutschen Großstädte nach der Berufszählung von 1907, in: Wilhelm Heinz Schröder (Hg.), Moderne Stadtgeschichte, Stuttgart 1979, S. 74–111.

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mit Blick auf Klassenspannungen kaum überschätzen. Binnen dreier Jahrzehnte reduzierte sich infolge der Agrarrevolution der Anteil bäuerlicher Eigentümer auf Reste. Auch für das Land sind in der Nachkriegszeit Erwerbsklassen-Beziehungen dominant geworden. Darauf ist zurück zu kommen. Vor allem über die komplexeren Phänomene unterschiedlicher Lebens­weisen haben bereits Sorokin und Zimmerman zahlreiche Daten zusammengetragen.34 Demnach lag etwa die Selbstmordrate in Belgien und Schweden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Städten doppelt so hoch wie auf dem Lande, in Berlin im Jahre 1920 knapp viermal so hoch wie in Deutschland insgesamt, in Bayern und in Frankreich um ein Drittel höher. Zur europäischen Hauptstadt des Selbstmords wurde Wien. Bei der Scheidungsrate nahm New York City offenbar durchgängig einen Spitzenplatz ein, aber das Bild in Stadt und Land ist hier hochdifferenziert. Scheidungen gelten insgesamt »als Erscheinungen primär des städtischen Lebens«:35 In Großstädten lag die Scheidungsziffer (Scheidungen auf 10.000 bestehende Ehen), nachdem sie vor 1914 insgesamt nur eine bescheidene Höhe erreicht hatte, nach dem Ersten Weltkrieg mindestens sechsmal höher als auf dem Lande. Eklatante Differenzen weisen auch vorliegende Daten über Religiosität auf. Nach einer Umfrage von 1916 lag der Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung in den USA in Städten mit über 25.000 Einwohnern bei 36, in den kleineren Siedlungen bei 67 Prozent. In einer Umfrage von amerikanischen Zeitungen beantworteten in den Jahren 1926 und 1927 zwischen 75 und 90 Prozent der Befragten insgesamt die Fragen nach dem Glauben an Gott, an die Unsterblichkeit und an christlichen Gebote, nach der Heiligkeit Jesu und der Bedeutung der Bibel positiv, in New York City hingegen nur rund 60 bis 70 Prozent; dort waren nur die Hälfte der Bevölkerung Kirchenmitglieder und -besucher, insgesamt hingegen drei Viertel. Trotz dieser unübersehbaren Differenzen in der Religiosität wird man die übergreifenden Entwicklungen vorsichtiger beurteilen müssen. In neueren deutschen Forschungen36 ist zunächst auf den bereits grundlegenden Unterschied hingewiesen worden, der aus dem Umstand folgt, dass fast alle Städte im 19. Jahrhundert, im Vergleich zum Umland, einen teilweise bedeutend höheren Anteil fremdkonfessioneller Einwohner beherbergten. Städte waren deshalb Orte religiöser Koexistenz; auf dem Lande herrschte konfessionelle Einheitlichkeit vor. Was die »Kirchlichkeit«, gemessen an Abendmahls-, Tauf- oder Gottesdienstfrequenzen, anging, lag diese erwartetermaßen in Städten durchgängig niedriger, aber es gab Phasen des Verfalls städtischer wie auch ländlicher Kirchlichkeit, so bis in die Reichsgründungsjahrzehnte, und 34 Im Folgenden nach Sorokin u. Zimmerman, Principles, passim, mit jeweils bezeichneten Ergänzungen. 35 Blasius, Dirk, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945. Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive, Göttingen 1987, S. 158. 36 Nach Hölscher, Lucian (Hg.), Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Berlin 2001, s. bes. die Einleitung S. 17 f. zum protestantischen Glaubensverhalten in Stadt und Land.

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Phasen der Belebung, offenbar vor allem in lang währenden Krisenzeiten. Die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sich öffnende Schere unterschiedlichen Religionsverhaltens schloss sich ein Jahrhundert später wieder leicht, und es scheint deshalb, dass diese Entwicklungen eher mit der Aufklärung (Rückgang der »Kirchenzucht«) als mit der Industrialisierung zu tun hatten. Im Rückgang der Kirchlichkeit zog das Land im 20. Jahrhundert nach, während sich in den Städten ein Trend »zu einem höchst individuellen Bekenntnismarkt«37 insbesondere seit 1918 durchsetzte. In der Kriminalstatistik werden Kriminalitätsraten durch Verurteilte je 100.000 strafmündiger Bevölkerung ausgedrückt. Um 1900 lag hier der Reichsdurchschnitt bei 1.075, zieht man aber die 55 Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern ab, bei 1.016, in jenen Städten hingegen bei 1.332, in den Städten mit über 150.000 Einwohnern bei 1.417. Bereinigt man diese Ziffern um die Bevölkerungsstrukturen, etwa um die besondere Deliktfähigkeit bestimmter Altersgruppen, so bleiben die Unterschiede gleichwohl erhalten, während die Differenzen zwischen unterschiedlichen Deliktformen stärker erkennbar werden. Dennoch: Auch hier lassen sich nicht einheitliche, sondern »gegenläufige oder sich überlagernde Tendenzen« ausmachen:38 Zwar lässt sich im Stadt-Land-Vergleich seit Verfügbarkeit zuverlässiger Statistiken über Kriminalität (1883) eine niedrigere Deliktfrequenz bei Körperverletzungen und eine höhere beim Diebstahl in den Städten nachweisen, aber seit den 1960er Jahren scheint sich eine Trendumkehr abzuzeichnen  – Gewaltdelikte haben in den Städten stark zu­ genommen. Thome erklärt dies über »Individualisierungsprozesse«, die ein Absinken der Gewaltkriminalität bei Erwachsenen bewirkt hätten, während allerdings die Auflösung »kollektivistischer Ordnungen« die Gewaltbereitschaft jedenfalls zunächst noch deutlich erhöhen könne.39 Ähnliche Komplexität wie Kriminalität und Religiösität weist das Wahlverhalten im Stadt-Land-Vergleich auf. Um darin nur einen Aspekt knapp zu er­ örtern: Großstädte waren nicht zwingend Hochburgen der Sozialdemokratie, aber dieser Trend zeichnete sich in Deutschland spätestens mit den Reichstagswahlen von 1877 ab. Industrielle »Teilstädte« etwa in Oberschlesien und im Ruhrgebiet waren trotz Vordringens der Sozialdemokratie noch Hochburgen des Zentrums oder auch der liberal-protestantischen Parteien. Das sollte sich für das Ruhrgebiet erst in der Nachkriegszeit ändern. Die konfessionelle Landkarte Deutschlands erklärt vermutlich bis 1932 (und abgeschwächt auch seit 1949) das Abstimmungsverhalten stärker als der Grad der Verstädterung: In den katholischen Regionen blieben städtische wie ländliche Wahlkreise oftmals 37 Ebd., S. 18. Vgl. ferner jetzt: Dietrich, Tobias, Konfession im Dorf. Westeuropäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert, Köln 2004, sowie zur Religiosität von Industriearbeitern in diesem Bd. S. 111–140. 38 Thome, Helmut, Kriminalität im Deutschen Kaiserreich, 1883–1902. Eine sozialökologische Analyse, in: GG, Jg. 28, 2002, S. 519–553, 532; vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 521. 39 Thome, S. 551 f.

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in Zentrumshand, aber in den großen, industriell diversifizierten Städten konnten bereits viele Sozialdemokraten die Mandate besetzen. Viel diffiziler gestaltete sich die Entwicklung in protestantischen Regionen, wo, wie in Wuppertal, in den Krisenjahren der Weimarer Republik der rechte und ein linker Radikalismus aufeinander prallten.40 Jedenfalls hat sich im westlichen Deutschland seit 1949 die Sozialdemokratie in protestantischen Regionen dauerhaft besser als in katholischen verankern können, während die »Eroberung« der großen Städte vermutlich eher vorübergehend gelang. Wann immer in der sozialgeschichtlichen Forschung zur Zwischen- und Nachkriegszeit von Stadt-Land-Unterschieden die Rede ist, wird, soweit ich sehe, deren Rückgang konstatiert.41 Das betrifft, lenkt man den Blick auf Gebürtigkeit, Sterblichkeit und Familienbildung, die mikrodemografischen Datenreihen42 ebenso wie, das wurde bereits angedeutet, diejenigen Differenzen, welche mit der Entwicklung der Erwerbsstruktur zusammenhängen. Übereinstimmung besteht auch dahingehend, dass der Einführung der Elektrizität die vermutlich bedeutendste Wirkung auf die Nivellierung der Gegensätze zukommt. Das gilt für deren direkte, aber noch vielmehr für ihre indirekten Wirkungen. Hier braucht nicht näher ausgeführt zu werden, dass und wie sehr die Beschleunigung und Entgrenzung der Informationsflüsse bis hin zu den elektronischen Medien ländliche Regionen, stets mit gewissem Zeitverzug, ein­ bezog; man denke an die Entwicklung des Brief- und Telefonverkehrs, an die Verbreitung von Film und Fernsehen, an die Motorisierung des Personenverkehrs und vieles Andere. Die Forschung hat sich nunmehr stärker auch der Sozialgeschichte der ländlichen Regionen in Deutschland zugewandt, und ihre Ergebnisse sind eindeutig: Zuletzt mit dem Innovationsschub der 1960er Jahre glichen sich Familienbildung und demografische Strukturen, Geschlechterrollen und Generationsbeziehungen, Versorgung mit langfristigen Konsumgütern und Konsumverhalten, Informationsdichte und Mobilität sowie komplexere 40 Vgl. u. a. Sperber, Jonathan, The Social Democratic Electorate in Imperial Germany, in: ­David E. Barclay u. Eric D. Weitz (Hg.), Between Reform and Revolution. German Socialism and Communism from 1840 to 1990, New York 1998, S. 167–194; Winkler, Jürgen, Die soziale Basis der sozialistischen Parteien in Deutschland. Vom Ende des Kaiserreichs bis zur Mitte der Weimarer Republik 1912–1924, in: AfS, Jg. 29, 1989, S. 137–171; Jäger, Wolfgang, Bergarbeitermilieus und Parteien im Ruhrgebiet. Zum Wahlverhalten des katholischen Bergarbeitermilieus bis 1933, München 1996; wichtige Einsichten durch Pyta, Wolfram, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996. 41 Vgl. schon Kötter, Herbert, Die Landwirtschaft, in: Werner Conze u. M. Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 115–142, 119. 42 Vgl. Baumert, Gerhard u. Lupri, Eugen, New Aspects of Rural-Urban Differentials in Familiy Values and Family Structures, in: Christopher C. Harris (Hg.), Readings in Kinship in Urban Society, Oxford 1970, S. 279–295; Niehuss, Merith, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Sozialgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945–1960, Göttingen 2001.

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Verhaltensweisen wie Religiosität und Brauchtum in Stadt und Land weitgehend an, und zwar, bei allen Abweichungen, Zeitverschiebungen, Resten und Nischen doch in eindeutiger Richtung: Das Land urbanisierte sich.43 Wir wollen abschließend noch einmal darauf zurückkommen.

5. Wahrnehmungen und Konflikte in der Wachstumsphase der großen Städte In einer der berüchtigten Schulgesetzdebatten des Bayerischen Landtags zitierte der Abgeordnete Joseph Völk 1869 aus der Schrift eines Priesters der Diözese Regensburg: »Als Bayern noch gut regiert wurde, die Kirchen noch ihren Einfluss und ihre Wirksamkeit hatten, da war es ein gutes, glückliches, gesegnetes, wohlhabendes und bereichertes Land; seitdem aber jetzt die schlechten Fortschrittler, das Freimaurergesindel, diese Neuheiden ebendort stehen, maßgebend sind und regieren und der Kirche ihre Wirksamkeit genommen haben, was immer noch mehr geschieht, insbesondere durch das Schulgesetz, ist es ein verkommenes, ein unglückliches, ein an Seele und Leib zugrundegerichtetes, dem Ruin verfallendes Land, denn dieser vom Teufel ausgehende Fortschritt 43 Vgl. zum Postverkehr im Kaiserreich Weichlein, Siegfried, Nation und Region. Integrations­ prozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 2004, S.  105 ff.; eine Auswahl weiterer medien­ geschichtlicher Beiträge, in denen Stadt-Land-Unterschiede behandelt werden: Führer, Karl Christian, Auf dem Weg zur »Massenkultur«? Kino und Rundfunk in der Weimarer Republik, in: HZ, Bd. 262, 1996, S. 739–781; Münkel, Daniela, Der Rundfunk geht auf die Dörfer. Der Einzug der Massenmedien auf dem Lande von den 20er zu den 60er Jahren, in: dies. (Hg.), Der lange Abschied vom Agrarland. Agrarpolitik, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn, Göttingen 2000, S. 177–197; Hickethier, Knut, Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart 1998, S. 12–14; mehrere Beiträge in: Schildt, Axel u. Sywottek, Arnold (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998; Schildt, Axel u. a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000. Zur »Modernisierung des Landes«: Exner, Peter, Ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft in Westfalen 1919–1969, Paderborn u. a. 1997; Helene Albers, Zwischen Hof, Haushalt und Familie. Bäuerinnen in Westfalen-Lippe 1920–1960, Paderborn 2001, etwa S.  197 ff. zu den Familienstrukturen, S.  210 ff. zur religiösen Praxis im Dorf; für Bayern: Schlemmer, Thomas u. Woller, Hans (Hg.), Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001 (= Bayern im Bund, Bd. 1); Balcar, Jaromỉr, Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945–1972, München 2004. Einzelne Aspekte: Stier, Bernhard, »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse«  – Verheißung für das Dorf? Wirtschaftlicher Strukturwandel, Raumordnungspolitik und Dorferneuerung 1950–2000, in: Schraut u. a. (Hg.), Bilder, Inszenierungen und Visionen, S. 441–460; zum Verhaltenswandel: Hahn, Alois, Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit, Stuttgart 1968 (u. a. S. 61); van Deenen, Bernd, Beziehungen zwischen der mittleren und älteren Generation in Stadt- und Landfamilien, in: ZAA, Jg. 37, 1989, S. 187–210; Eisenbürger, Iris u. Vogelsang, Waldemar, »Ich muss mein Leben selber meistern!« Jugend im Stadt-Land-Vergleich, in: APuZ, B 5/2002, 1.2.2002, S. 28–38.

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macht das Volk unglücklich.«44 Das war noch ganz jene Stadt- und Liberalismuskritik, welche, was kommen sollte, vorwegnahm und sich in die Tradition Riehls stellte, aber nun vor allem kulturkämpferisch gab. Die in dieser Phase entstehenden Bauernvereine stimmten sich partikularistisch, monarchistisch und jedenfalls katholisch in Feindschaft gegen Städte, Fortschritt und Judentum ein. Man beobachtete, wie das Städtewachstum mittelbar auch die soziale Ordnung auf dem Lande bedrohte und die ländlichen Tugenden durchtränkte; Ludwig Thoma hat dies für die zweite Agrarkrise, Oskar Maria Graf für die Inflationskrise dichterisch verarbeitet. In der nächsten Agrarkrise, zu Beginn der 1890er Jahre, standen die Sozialisten bereits auf dem Plan, und München galt als ihr Zentrum, so dass sich in die Stadtkritik der bayerischen Bauern ein neuer Akzent, der Hass auf die städtischen Sozialisten, mengte. Kennzeichnend für das Königreich wurde nun der Umstand, dass sich die Stadtkritik durch eine eigene Parteigründung, die des Bayerischen Bauern-Bundes, institutionell verfestigte, und fortan stehen die Entäußerungen dieses Verbandes als ein reichliches Quellenreservoir der Stadtkritik auf niederer Ebene bereit. Es ist ebenso kennzeichnend, dass sich der Bauernbund in der Revolutions- und Inflationsphase zum Bayerischen Bauern- und Mittelstands-Bund umbenannte. Das ist wiederholt, jedoch kaum erst vor dem Hintergrund des Stadt-Land-Gegensatzes untersucht worden. Die Besonderheiten dieser Stadtkritik gipfelten in einer holistischen Wahrnehmung, wonach der »Mangel einer das Gesamtvolksleben umfassenden Kenntnis […] es der bäuerlichen Bevölkerung unmöglich [mache], zu großen politischen Fragen aufgrund zweckrationaler Erwägung ihrer Bedeutung für Volk und eigene Berufsschicht Stellung zu nehmen« – deshalb die populistischen Grundzüge, die Stimmungskonjunkturen zumal in Krisenlagen.45 Ländliche »Vergemeinschaftung« gebar eine völlig andere, in Krisenzeiten hochvirulente politische Wahrnehmung als das geordnet-vereinsorganisierte Partizipationsverlangen der Städter, und zwar, obwohl man sich auf dem bayerischen Land sehr wohl und mächtig in Vereinen organisiert hatte. Das Gerede vom Sittenverfall in den großen Städten rieb sich an Zuständen, wie sie Riehl vorweggenommen hatte und wie sie sich jetzt erst, in der großen Wachstumsphase der Großstädte, einstellen sollten. Das hatte viele Ursachen, darunter nicht zuletzt die Notwendigkeit einer grundlegenden Sanierung der vielfach noch mittelalterlich engen Stadtkerne und die schiere Unmöglichkeit, des unaufhörlichen Zuzugs durch infrastrukturellen Ausbau Herr zu werden. Dabei wird gerade der politischen Verfasstheit der deutschen Großkommunen, 44 Zit. n. Stache, Christa, Bürgerlicher Liberalismus und katholischer Konservatismus in Bayern 1867–1871. Kulturkämpferische Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund nationaler Einigung und wirtschaftlich-sozialen Wandels, Frankfurt a. M. 1981, S. 97; vgl. zum Folgenden Tenfelde, Stadt und Land in Krisenzeiten. 45 Matthes, Wilhelm, Die bayerischen Bauernräte. Eine soziologische und historische Untersuchung über bäuerliche Politik, Stuttgart 1921, S. 27; vgl. Ay, Karl-Ludwig, Volksstimmung und Volksmeinung als Voraussetzung der Münchner Revolution von 1918, in: Karl Bosl (Hg.), Bayern im Umbruch, München 1966, S. 345–386.

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auch in vergleichender Sicht, seitens der Forschung für diese Urbanisierungsphase eine ziemlich hohe Gestaltungs- und Reformkompetenz zugesprochen. Dennoch: Das Elend starrte den verstörten Betrachter aus Hamburger und Berliner Keller- und Mansardenwohnungen so sehr wie im Essener Segeroth an. Weit darüber hinausgehend, nahm die Stadtkritik jedoch die ganz andere Befindlichkeit großstädtischen Lebens ins Visier, wenn vom Sittenverfall die Rede war. Am »Nachtleben in deutschen Großstädten« (»Videant Consules!«) bemerkte man allüberall »Zügellosigkeit im Lebensgenuss« besonders, aber nicht nur in Berlin, und das ließ sich eventuell auf Einflüsse zurückführen, die »zweifellos ungermanischer Natur« seien, darunter auf die »Vergnügungssucht, die gefährlichste Vorfrucht zügelloser Ausschreitungen«, und zwar auch bei Arbeitern. Zur Bändigung der »haltlosen Wüstlinge« forderte dieser Verfasser die Kasernierung der Prostitution und die Vorverlagerung der Polizeistunde: »Vor 60 bis 70 Jahren lebten noch 90 Prozent aller Deutschen auf dem Lande und in kleinen Städten, ohne die Möglichkeit, häufig auf ausschweifende Vergnügungen auszugehen, denn im Heimatstädtchen ging man zeitig schlafen, und der Besuch einer großen Stadt war nur wenigen Leuten selten im Jahr möglich, der Mehrzahl aber überhaupt unmöglich. […] Waren das etwa keine Deutschen? Man hüte sich, den neuzeitlichen Geist wilder Vergnügungssucht und gewohnheitsmäßigen Schlemmertums, das Suchen nach pikanten Abenteuern, kurz alle die Erscheinungen, die unser junger, vorläufig noch etwas kulturarmer Reichtum in Verbindung mit dem neuzeitlichen undeutschen Geist des rücksichtslosesten Materialismus zeitigen, zu verwechseln mit der leicht überschäumenden Lebensfreude germanischer Art!«46 Hier wird deutlich, wie die Stadtkritik eine völkisch-rassistische Note annahm. Das erfasste bekanntlich weite Kreise und landete bei einer für das bürgerliche Krisenbewusstsein der Zwischenkriegszeit markanten Semantik der »Bedrohung« des deutschen Volkes »durch eine ganz bestimmte zersetzte und zersetzende großstädtische Geistigkeit, deren Träger nun einmal in erster Linie jüdisches Volkstum ist.«47 Die lange Reihe stadt­ kritischer Stimmen führte von Wilhelm Heinrich Riehl bis Oswald Spengler, Richard Walther Darrée und Alfred Rosenberg. Am Ende stand die Großstadtdebatte der nationalsozialistischen Mediziner und Demografen. »Zersetzende großstädtische Geistigkeit« bezeichnet nur eine von vielen sprachlichen Verdichtungen, welche die Großstadtkritik schon vor 1914 prägten; ihre Semantik sollte, gerade mit der Reflektionshilfe jüngerer kultur46 Flemming, J., Das Nachtleben in dt. Großstädten. Videant Consules!, in: Zs. F. d. Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Jg. 16, 1915/16, S. 201–216. 47 Althaus, Paul, Kirche und Volkstum, Gütersloh 1927, S.  34; Ferner: Bergmann, Klaus, Agrar­romantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim a. G. 1970. Vgl. v. Eickstedt, Egon, Anthropologie der Großstadt, Breslau 1941, auch Hellpach, Willy, Mensch und Volk der Großstadt, Stuttgart 1939, etwa S. 20 ff.; zur Wirkung der Stadtkritik auf eine ganze Gelehrtengeneration etwa Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001 (S. 29 über Erich Maschke).

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geschichtlicher Sichtweisen, einmal in den Mittelpunkt einer Untersuchung gestellt werden. Ein reiches Quellenfeld fände sich dann auf dem Feld der zeit­ genössischen Großstadtlyrik, die sich in verbreiteten Topoi eines ländlich-dörflichen »locus amoenus« aufruhte und einmal mehr ihre Metaphern im Sittenverfall gipfeln ließ: »Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal, die großen Städte knien um ihn her«, schrieb Georg Heym in sein berühmtes Gedicht, »Der Gott der Stadt«. Ein Theodor Heuss schrieb übrigens 1910 das Vorwort für eine Anthologie mit dem Titel »Im Meer der Städte«.48 In diesen Zeugnissen überwog die Elendskritik bei weitem, und sie verband sich eben gern mit einer ganz voreiligen Sittenkritik, welche ja auch den zeitgenössisch verbreiteten »Moralstatistiken« zugrunde lag. Vermutlich hat das Vokabular der Großstadtkritik vor allem in den Mittelschichten der »German Home Towns« in Deutschland bis 1939 so sehr wie oder noch stärker als das des Antisemitismus zur Alltagssprache gehört. Solche Sprachlichkeit schwoll dann rasch an, wenn wirtschaftliche Krisen in der Gesellschaft Spannungen verursachten. Dennoch, die Teuerungskrisen und -proteste im Vormärz richteten sich vermutlich stärker gegen städtische Obrigkeiten, denen manche Willkür in der Verwaltung von Lebensmittel-Depots unterstellt wurde, als gegen die bäuerlichen Bevölkerungen. Sie trug Grundzüge einer »moralischen Ökonomie« und konnte auch antifeudale Stoßrichtungen herausbilden.49 Außerdem hatten vielfach exorbitante Lebensmittelteuerungen infolge von Missernten in vorindustrieller Zeit zu den regelmäßig wieder­ kehrenden Erfahrungen gehört, und zwar selbstverständlich vorrangig unter den Stadtbevölkerungen. Gerade die Absicht, Marktpreis-Schwankungen auszugleichen und für Versorgungsmängel gewappnet zu sein, hatte ja zur Anlage von Getreidemagazinen geführt. Seit Mitte des 19.  Jahrhunderts minderten sich die Preisschwankungen, weil die Produzentenmärkte zunehmend überregional balanciert wurden, aber Teuerungs­wellen etwa für Getreide, nach der Wende zum 20. Jahrhundert für Fleisch, wirkten weiter auf die städtischen Konsumenten ein – und umgekehrt, ländliche Überproduktion konnte einen Preisverfall auslösen, der dann den Agrarproduzenten zu schaffen machte. Es waren Agrar- bzw. Teuerungskrisen dieser Art, die zu Beginn der 1890er Jahre als Preisverfalls- und Überproduktionskrise, seit etwa 1905 als neuerliche Teuerungskrise, entweder den Bauern und Gutsherren oder den städtischen Konsumenten zu schaffen machten.50 Für die 48 Hübner, Oskar u. Moegelin, Johannes (Hg.), Im steinernen Meer, Berlin 1910; vgl. Wende (Hg.), Großstadtlyrik, Einleitung S. 22, ebd., S. 77 f. Heyms Gedicht. Einen Zugang bietet etwa Schlör, Joachim, Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840–1930, München 1991. 49 Vgl. die Hinweise o. Anm. 3. 50 Zum Folgenden: Nonn, Christoph, Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelmi­ nischen Deutschland, Düsseldorf 1996, u. a. S. 110, 175 ff.; Beckstein, Hermann, Städtische Interessenpolitik. Organisation und Politik der Städtetage in Bayern, Preußen und im Deutschen Reich 1896–1923, Düsseldorf 1991, S. 161 ff.

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wechselseitigen verbalen Ausfälle stand nun das Vokabular der Stadtkritik zur Verfügung; jenes der Kritik am Lande scheint über traditionelle Ressentiments gegen Bauern und Landbewohner nicht hinausgewachsen zu sein. Das sollte sich ab 1914 ändern. In gewisser Weise bedeuteten die Weltkriegsjahre wegen der Verschiebung der Wirtschaft hin zu den Rüstungsgütern einen strukturellen Höhepunkt der Stadt-Land-Differenz: Nie zuvor dürfte die städtische Beschäftigung in Industrie und Handwerk vergleichbar hoch gewesen sein. Ausschlaggebend für die rasch, praktisch mit Kriegsbeginn, spürbaren Verschärfungen der Stadt-Land-Spannungen waren jedoch andere, kriegsbegleitende Umstände: Zunächst die Arbeitsmarktprobleme, bald dann diejenigen der Zwangsbewirtschaftung und des während des Kriegs schleichenden, nach Kriegsende bis zum Höhepunkt im Herbst 1923 stoßartigen Währungsverfalls. Die »gesamte städtische Bevölkerung« schaue, »ohne Unterschied des Besitzes, […] mit Neid auf die ländlichen Verhältnisse, wo offensichtlich die Lebensmittel, die der Städter besonders schmerzlich vermisst, Butter, Milch, Eier, Schweinefleisch noch in vielleicht oft übertriebenen Mengen vorhanden sind«.51 In der großen Stadt-Land-Krise der Kriegs-, Revolutions- und Inflationszeit schossen in Bayern nun merkwürdige Blüten. Bauernräte konnten während der Revolutionsmonate gegen die, aber auch durch die Sozialdemokratie gebildet werden; Ludwig Gandorfer, ein bayerischer Bauer, verkündete am Münchener Revolutionstag, dem 7. November 1918, auf der Theresienwiese gemeinsam mit dem Freund und Parteigenossen Kurt Eisner, dass der Bauer die großen Städte »nicht im Stich lassen« werde,52 aber während der Räterepublik beschlossen etwa die Bauernräte Mittelfrankens, über die Städte eine Lebensmittelsperre zu verhängen; besonders nach München sollte die Lebensmittelzufuhr eingestellt werden. Die Bauern sind denn auch mit der Gegenrevolution gegen München marschiert. Schon während des Krieges hatte man gegen Lebensmittellieferungen nach Norddeutschland protestiert. Gen München marschierte man nun »in heimischer Gebirgstracht mit weißblauen Armbinden«, die Gegner waren »landfremde Aufrührer«, man kämpfte »für das bayrische Vaterland, für bairische Sitte und Art«:53 Die Ideologie der Ordnungszelle kam auf, die bayerischen Einwohnerwehren formierten sich, jener Sumpf von Wehrverbänden und Parteibildungen richtete sich gegen München und entstand doch zugleich in München.54 Lange bevor die Nationalsozialisten sich in entsprechenden Praktiken übten, kamen am 26. September 1920 auf dem Königsplatz in München 40.000 bayerische bäuerliche »Wehrmänner« mit weiß-blauen Fahnen zu einem »Landesschießen«, einer »Heerschau paramilitärischer Verbände« zusammen. 51 Bericht des Generalkommandos 3.12.16, zit. n. Kocka, Jürgen, Klassengesellschaft im Krieg, Göttingen 19782, S. 102; vgl. Beckstein, S. 194–231. 52 Vgl. Tenfelde, Stadt und Land, S. 46 f. 53 Benz, Wolfgang, Süddeutschland in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1918–1923, Berlin 1970, S. 274 f. 54 Vgl. Geyer, Verkehrte Welt, u. a. S. 112 ff. zur »Ordnungszelle«; Large, David Clay, Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung, München 1998, S. 118 ff.

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So entstanden die ländlichen Freikorps als »Mobilisierung des Landvolks zur Selbstverteidigung«; schon der Erlass, mit dem die Bildung von Einwohnerwehren am 17.5.1919 ermöglicht worden war, hatte sich »gegen Diebstahl, Plünderungen und Aufruhr« gerichtet.55 Auf den Höhepunkten der Inflation führte die Störung der arbeitsteiligen Beziehungen zwischen Stadt und Land überall in Deutschland zu scharfen, beinahe militärischen Konfrontationen: In Sachsen zogen proletarische Hundertschaften unter Musikbegleitung plündernd über das Land, in Bayern formierten sich Bauern zur nächtlichen Feldbewachung und gründeten Waffenlager; im Ruhrgebiet reiste man, noch dazu dann in der Besatzungszeit, in kleinen Gruppen übers Land, um Lebensmittel zu ergattern. Es gibt wohl keine deutsche Stadt, aus der nicht solche Konflikte überliefert sind.56 Auf den Höhepunkten der Inflation eskalierten Preiskämpfe zwischen Bauern und Kleinhändlern sowie Verbrauchern auf den Wochenmärkten hin zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Im August 1923 telegrafierte etwa der Aachener Oberbürgermeister: »Ernährung Aachener Bevölkerung bei augenblicklichen Verkehrsverhältnissen unmöglich. Fortgesetzte blutige Zusammenstöße. Bereits über hundert Tote und Verwundete. Plünderung aller Läden und Läger unterschiedslos innerhalb und außerhalb [der] Stadt. Lebensmitteltransporte werden auf Einfuhrstraßen ausgeraubt.«57 Ganz vergleichbare Formen zeitigte die Ernährungs- und Inflationskrise nach dem Zweiten Weltkrieg, in der erneut der Stadt-Land-Gegensatz aufbrach und überall ähnliche Aktionen hervorrief. Die Stadtbevölkerung habe, so beobachtete die Polizeidirektion München in ihrem Stimmungsbericht 1946, »nur den einen Wunsch, dass recht bald wieder die Zeit kommt, wo man auf den Bauern draußen mit seinen Produkten verzichten kann; wo durch aus­reichende Einfuhr billigen kanadischen Weizens, argentinischen Gefrierfleisches und so weiter die Ernährung der Städte unabhängig von Bauern wird. […] So aber müssen Hunderttausende in den Städten darben und hungern.« Wieder bildeten sich untypische politische Koalitionen: Im Mai 1947 entstand wegen der wechselseitigen Drohungen zwischen Stadt und Land eine Arbeitsgemeinschaft ­zwischen dem Bayrischen Bauernverband und dem Bayrischen Gewerk­schaftsbund.58

55 Fenske, Hans, Konservatismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1918, Bad Homburg 1969, S. 56. 56 Vgl. etwa Dobson, Sean, Authority and Upheaval in Leipzig, 1910–1920. The Story of a Relationship, New York 2001, unter Betonung der Legitimationskrise und der politischen Auseinandersetzungen; Schäfer, Michael, Bürgertum in der Krise. Städtische Mittelklassen in Edingburgh und Leipzig 1890 bis 1930, Göttingen 2003, S. 225 ff. u. 314 ff. 57 Zit. n. Beckstein, S. 433. 58 Erker, Paul, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943–1953, Stuttgart 1990, S. 191 ff., Zitat S. 180.

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6. Ausblick In mancher Hinsicht ist die Stadt-Land-Differenz durch den Nationalsozialismus radikalisiert worden. Zu erinnern wäre an stadtfeindliche Überzeugungen und auch Maßnahmen des Regimes vor allem in dessen erster Phase, als die Folgen der Weltwirtschaftskrise die Städte geschwächt hatten – mit der konjunkturellen Erhöhung scheint die Stadtkritik der Nationalsozialisten dann weit­ gehend verstummt zu sein, und das Schwinden der stadtkritischen Semantik in der Nachkriegszeit dürfte auch dem Umstand gedankt sein, dass sie durch die verbrecherische Diktatur desavouiert worden war. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass den ländlichen Bevölkerungen das Leben in den großen Städten während der Bombenkriegsjahre nicht attraktiv erschienen war. Tatsächlich fand ab etwa 1937 auch wieder städtisches Bevölkerungswachstum statt. Es hat sich, nach den kriegs- und nachkriegsbedingten Bevölkerungsumbrüchen, seit den 1950er Jahren bei sehr deutlichen regionalen Abweichungen je nach den Konjunkturen der Industrie und ihrer Leitsektoren insgesamt auf niedrigem Niveau stabilisiert. Die Städte, und vor allem die großen Städte, »wuchern« heute nicht mehr, jedenfalls nicht in ihren Grenzen (auch nach den kommunalen Gebietsreformen der 1970er Jahre); anders vielmehr, in manchen Regionen kämpfen sie mit den Folgen von Bevölkerungsrückgängen. Der englische Stadt- und Kultursoziologe Raymond Williams hatte noch 1973 behauptet, der Kontrast von Stadt und Land sei »clearly […] one of the major forms in which we become conscious of a central part of our experience and of the crisis of our society«; heute dagegen spricht man vom Tod des ländlichen England.59 Auch in Deutschland ist vom Stadt-Land-Unterschied wohl noch in sozial­wissenschaftlichen Untersuchungen, nicht hingegen in den veröffentlichten Meinungen die Rede. Es sind offenbar zwei miteinander eng verwobene Prozesse, welche zum weitgehenden Verlust einer früher stark prägenden Wahrnehmung geführt haben: die Urbanisierung des Landes und die Entgrenzung der Städte. Bei aller Modernisierung der bäuerlichen Lebensstile zumal seit den 1960er Jahren war grundsätzlich die Zurückdrängung der bäuerlichen Existenzform im Zuge des langfristigen Nachkriegs-Strukturwandels entscheidend für die Abschwächung der Stadt-Land-Differenzen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren noch rund 30 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig gewesen; heute dürften es etwa 3 Prozent mit kennzeichnenden regionalen Abweichungen sein. Der bäuerliche Familienbetrieb, der die ländliche Szene jedenfalls in West- und Süddeutschland nahezu ausschließlich beherrscht, mag im Lebensstil eine spezifische Variation der Beziehung von modernen und traditio­ nalistischen Elementen aufweisen. Die Industriefeindschaft, und die d ­ amit 59 Williams, S.  289; Howkins, Alan, The Death of Rural England. A Social History of the Country­side since 1900, London 2003.

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regelmäßig einhergehende Stadtfeindschaft, welche die bäuerlichen Eigen­tümer seit Beginn der Industrialisierung häufig mental umhüllte, ist indessen nach einer langen Phase der Industrialisierung bäuerlicher Produktion kaum noch aufzuspüren. Sie schwingt allenfalls im Protektionsbegehren während allfäl­ liger Absatzkrisen nach. Noch wichtiger ist, dass mit der Dezimierung der bäuerlichen Betriebe und Eigentümer die von dieser Existenzform überprägte ländliche Besitzklassen-Gesellschaft weitgehend entschwunden ist. Das gilt in anderer Weise und aus anderen Gründen gerade auch für die Gebiete der ehemaligen DDR. Seit langem überwiegen gewerbliche Lohn-Arbeits-Verhältnisse auch in ländlichen Regionen die bäuerliche Familienwirtschaft bei weitem. Weitergehend, kann man neuerdings beobachten, dass die Wandlungsprozesse, die in der Industriewirtschaft stattgefunden haben, dieser die Eroberung länd­ licher Regionen als Produktionsstandorte nahegelegt haben. Das lässt sich insbesondere auf die stark zunehmende individuelle Mobilität und die relative Verbilligung der Transportkosten bei immer hochwertigeren Produk­tionsgütern zurückführen. Nachdem seit den 1960er Jahren die infrastrukturellen Voraussetzungen einer hohen individuellen Mobilität anhaltend verbessert worden sind, spielen bei Investitionsentscheidungen offenbar auch für große Betriebe ganz andere Faktoren eine Rolle. Die kommunikative Revolution seit den 1960er Jahren hat, darüber hinaus, die Lebensstile in Stadt und Land einander stark angenähert. Das schließt auch die bäuerlichen Familien ein. Beim Konsumverhalten gibt es nur noch geringe, in der individuellen Mobilität allenfalls Richtungsunterschiede; der tägliche, wochentägliche und jahreszeitliche Daseinsrhythmus hat sich angeglichen. Auch in der Familienbildung und im generativen und religiösen Verhalten sind die ehemals starken Differenzen auf Reste geschrumpft. Diese und eine Fülle weiterer Argumente lassen sich für die These von der Urbanisierung des Landes bemühen. Sie könnte nicht zuletzt durch eine Betrachtung der jüngeren Stadtgeschichte ergänzt werden: Die Siedlungsdichte nimmt eher ab, angelagerte Subzentren entwerten städtische kommerzielle Zentralität, der städtische Reichtum siedelt in der Peripherie. Schon vor zwanzig Jahren wurde beobachtet, Unterschiede »zwischen Räumen mit primär agrarischen und mit primär industriellen Wirtschaftsstrukturen (seien) zunehmend unschärfer geworden.«60 Heute (d. h. Ende 2003) leben nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Deutschland nur noch 12,7 Mio. Menschen »auf dem Lande«, in dünn besiedelten Gebieten, dagegen 40,3 Mio. (48,8 Prozent) in städtischen und weitere 29,5 Mio. in so genannten halbstädtischen Gebieten.61 Messkriterium für diese Verteilung ist allein die Bevölkerungsdichte: Halbstädtische Regionen sind solche mit einer Dichte von 100 bis 500 Ein­ wohnern je Quadratkilometer. Die Wanderungsbewegungen seit der deutschdeutschen Vereinigung zogen eine fortschreitende Entleerung vor allem der öst60 Kötter, S. 119. 61 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 123/31.5.2005, S. 9.

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lichen ländlichen Gebiete nach sich, während der Prozess der Suburbanisierung der westlichen, aber auch der sächsischen Stadtregionen und der Großräume Hamburg und Berlin voranschritt: Man siedelt vor allem mit fortschreitender familiärer Eigentumsbildung in oftmals weiträumigen Einzugsgebieten der alten Stadtlandschaften. Ob man von einem »dritten« Stadttyp, von »Zwischen­ städten« oder von Randstädten redet: Die Entgrenzung der alten und selbst der in den 1970er Jahren neu geformten Stadtgebilde erlaubt nicht mehr, von geografisch getrennten, unterschiedlichen Lebensweisen zu sprechen. Es überrascht deshalb auch kaum, dass die früher so bedeutsamen Topoi einer durch den Stadt-Land-Gegensatz genährten Zivilisationskritik kaum noch aufzufinden sind. Die größte Modernisierungsleistung hat insofern vermutlich die CSU in Bayern vollbracht. Es ist auch kaum zu erwarten, dass etwa in einer tiefgreifenden Krisensituation der Stadt-Land-Gegensatz wieder aufleben würde. Vielleicht ist diese Positionierung in der Gegenwart der Grund dafür, dass, entgegen der vor rund vier Jahrzehnten erschienenen Unter­ suchung von Klaus Bergmann, die beiden jüngeren, maßgeblichen Bücher zur Geschichte der Zivilisationskritik in Deutschland bis 1939 von Jeffrey Herf und Thomas Rohkrämer sich auf den Stadt-Land-Gegensatz überhaupt nicht mehr beziehen.62 Mit dem Marxismus entschwand überdies diejenige Welt von Ideen, die noch am ehesten angetreten war, den auf die fundamentale Arbeitsteilung von Stadt und Land zurückgeführten Gegensatz etwa mittels der bolschewistischen Maßnahmen zur Verstädterung des Landes zu überwinden. Es besteht also Veranlassung für die Annahme, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts der im Jahrtausend des europäischen Feudalismus strukturell, rechtlich und politisch begründete, in der Übergangsphase zur Moderne hochvirulente Stadt-Land-Gegensatz im nördlichen, mittleren und westlichen Europa aus der Geschichte verschwunden ist. Auf einen ehemals wichtigen Spender von Argumenten für die Konstruktion antimoderner Syndrome, die Stadtkritik, muss künftig wohl verzichtet werden.

62 Herf, Jeffrey, Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984; Rohkrämer, Thomas, Eine andere Moderne? Zivilisations­ kritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999.

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Milieus, Generationen und Politik

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X. Historische Milieus – Erblichkeit und Konkurrenz

1. Mit dem Milieubegriff wird in der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung immer häufiger operiert. In den Sozialwissenschaften geht es vorrangig um die vermutlich tief greifenden Veränderungen in den »lebenswelt­ lichen Sozialmilieus der pluralisierten Klassengesellschaft«, die sich immer mehr hin zu einer »Mehrheit in der Mitte« verschoben haben sollen.1 Die So­ zialhistoriker haben das seit mehr als vier Jahrzehnten vorliegende Interpre­ tationsangebot von M. Rainer Lepsius intensiv erörtert und vor allem auf die Sozial­geschichte des 20. Jahrhunderts bezogen.2 Lepsius’ Milieubegriff wird immer wieder zitiert, er soll auch hier nicht fehlen: Milieus seien »soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden. Das Milieu ist ein soziokulturelles Gebilde, das durch eine spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf einen bestimmten Bevölkerungsteil bestimmt wird.«3 Es ist dies letztlich ein ubiquitärer, historisch wenig spezifizierter Milieubegriff, der auf die allgegenwärtige Herausbildung solcher sozialer Konfigurationen, die in gewohnten Kategorien wie Stand, Klasse, Bürger oder Arbeiter nicht aufgehen, in relativ offenen Gesellschaften zielt. Die Bestimmungsgründe solcher Milieus können wechseln. Ihre Ränder sind schon deshalb unscharf. Überall dort, wo in modernen Gesellschaften kollektive Verhaltens- und Wertorientierungen nachweisbar werden, die sich auf eine durchaus unterschiedlich zustande gekommene innergesellschaftliche soziale Konfiguration beziehen lassen, sprechen Sozialwissenschaftler offenbar von Milieus. Konstituierende Bezugsgrößen können dann Ethnien und Genera1 Vester, Michael u. a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration u. Ausgrenzung, Köln 1993, S. 16; Hradil, Stefan, Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen u. Schichten zu Lagen u. Milieus, Opladen 1987, bes. S. 158 ff. 2 Lepsius, M. Rainer, Parteiensystem u. Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56–80 (zuerst 1966 erschienen). 3 Lepsius, S. 68.

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tionen, Geschlechter, Regionen und Konfessionen, Schichten, Klassen und Berufe und manchmal mehrere von diesen sein. Bekanntlich sind diese »sozialmoralischen Milieus«  – Lepsius unterschied vier: das ostelbisch-konservative, das katholische, das liberal-bürgerliche und das sozialistische – wesentlich aus den Fragestellungen der historischen Wahlund Parteienforschung und deshalb vor dem Hintergrund einer lang dauernden relativen Stabilität des Wahlverhaltens und der politischen Lager formuliert worden. Karl Rohe hat diesen Gedanken weiter getragen und mit guten Gründen für die Zwecke der Wahl- und Parteienforschung den Begriff der »politischen Lager« entwickelt. Während in Milieus die »positiven« Gemeinsamkeiten überwögen, mithin Kohäsion dominiere, entstünden Lager auch aus der Notwendigkeit der politischen Abgrenzung und könnten deshalb »im Prinzip sogar sehr heterogene Milieus« enthalten; Lager bedürften des »Gegenüber«.4 Man sollte nicht übersehen, dass Rohe damit den Milieubegriff, so »schwammig« oder »schillernd«5 er auch sein mag, als sozialgeschichtliche Kategorie nicht ersetzen, sondern vielmehr für die Zwecke der Wahlgeschichte präziser formulieren wollte. Rohe hat darüber hinaus den Milieubegriff mit treffenden Hinweisen inhaltlich weiter ausgefüllt. Milieus verwiesen, so Rohe, »auf unterschiedliche kulturelle Manifestationen, auf Lebensweise, Mentalität und Deutungskultur«. »Angehörige unterschiedlicher Milieus denken nicht nur anders und deuten nicht nur die Alltagswelt anders aus, sie leben tatsächlich anders. Ihr Tag ist anders strukturiert, und ihr Verhalten folgt einem jeweils anderen Rhythmus und anderen Mustern.« Während sich dabei die historischen ­Milieus, weil sie starke Elemente der »sozialen Kontrolle« aufwiesen, gegenüber Lebensstilen durch die jenen eher eigenen »Momente der Wahl, des Wechsels, der Mode« einigermaßen sicher abgrenzen ließen,6 hängt es wohl einerseits mit den je unterschiedlichen Bindekräften in den historischen Milieus zusammen, wenn deren Rang als Deutungsmöglichkeit historischer Entwicklungen und ihre Grenzen nicht immer geklärt erscheinen. Andererseits haben die großen historischen Milieus früher oder später eine Neigung zur Untergliederung 4 Rohe, Karl, Wahlen u. Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien u. Parteiensysteme im 19. u. 20. Jh., Frankfurt 1992. Rohe hat das Konzept wesentlich aus der Untersuchung des historischen Wahlverhaltens im Ruhrgebiet entwickelt; s. ders. u. Kühr, Herbert (Hg.), Politik u. Gesellschaft im Ruhrgebiet, Königstein/Ts. 1979. Ferner u. a.: Lässig, Simone u. a. (Hg.), Modernisierung u. Region im wilhelminischen Deutschland. Wahlen, Wahlrecht u. Politische Kultur, Bielefeld 1995. 5 V. Saldern, Adelheid, Sozialmilieus u. der Aufstieg des Nationalsozialismus in Norddeutschland (1930–1933), in: Frank Bajohr (Hg.), Norddeutschland im Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S.  20–52, 21; Gabriel, Karl, Die Erosion der Milieus. Das Ende von Arbeiterbewegung u. politischem Katholizismus?, in: Heiner Ludwig u. Wolfgang Schroeder (Hg.), Sozial- u. Linkskatholizismus. Erinnerung, Orientierung, Befreiung, Frankfurt a. M. 1990, S. 214–60, 242. 6 Zitate: Rohe, S. 19–21; vgl. ferner bes. Mooser, Josef, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur u. Politik, Frankfurt 1984, S. 184 f.

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in Teilmilieus aufgewiesen, die schließlich, aus endogenen wie exogenen Gründen, in einen lang dauernden Prozess der – wie zu sagen üblich geworden ist – »Erosion« gemündet ist.7 Bisher vorgeschlagene Unterscheidungen sind nützlich. Kein Zweifel, dass »parochiale Milieus«, »German Home Towns«, aber auch Dörfer, Vororte und Großstadtquartiere, was immer ihre innere Kohärenz und Abgrenzung nach außen ausgemacht hat und ausmacht, Selbstzuordnungen und Wertorientierungen geprägt haben und prägen.8 Es bleibe dahingestellt, ob sie sich »nationalen« Milieus gegenüberstellen lassen,9 etwa zeitweilig dem ziemlich fragilen »­Milieu« des Bildungsbürgertums, der tendenziell kleinbürgerlichen Kriegervereine und nationalen Massenbewegungen seit Ende der 1890er Jahre. Das berührt schon die Unterscheidung von organisationszentrierten und personen7 Vgl. Gabriel, S.  247 ff.; für die Arbeiterbewegung: Mooser, Josef, Auflösung der prole­ tarischen Milieus. Klassenbildung u. Individualisierung in der Arbeiterschaft vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik Deutschland, in: SozW, Jg. 34, 1983, S. 270–306; Tenfelde, Klaus, Vom Ende u. Erbe der Arbeiterkultur, in: Susanne Miller u. Malte Ristau (Hg.), Gesellschaft­licher Wandel. Soziale Demokratie. 125 Jahre SPD. Historische Erfahrungen, Gegenwartsfragen, Zukunftskonzepte, Köln 1988, S. 155–72; für den Katholizismus: Loth, Wilfried, Integration u. Erosion: Wandlungen des katholischen Milieus in Deutschland, in: ders. (Hg.), Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart 1991, S. 266–81. Loth unterscheidet als Teilmilieus im katholischen Milieu das bürgerliche, das des ländlich-kleinbürgerlichen Populismus u. das der Arbeiter als einer Standesbewegung; s. auch ders., Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs, in: GG, Jg. 17, 1991, S.  279–310. Adelheid v. Saldern unterscheidet im sozialdemokratischen Milieu ein betrieblich-gewerkschaftliches von einem Quartiersmilieu u. einem Milieu der Arbeiterkulturvereine; vgl. dies., Sozial­milieus. Branchenmilieus bzw. »Produktionsmilieus« betont Welskopp, Thomas, Ein modernes Klassenkonzept für die vergleichende Geschichte industrialisierender u. industrieller Gesellschaften. Kritische Skizzen u. vergleichende Überlegungen, in: Karl Lauschke u. ders. (Hg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen u. Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jh., Essen 1994, S. 48–106, 94–97. Mooser, Arbeiterleben, S. 180 f., sieht die Arbeiterschaft in der Zeit des Kaiserreichs in fünf sozialmoralische Milieus fragmentiert, »die durch die Koinzidenz von Religion, regionaler Tradition, wirtschaftlicher Lage, kultureller Orientierung u. schichtenspezifischer Zusammensetzung der sie repräsentierenden Führungsgruppen« markiert wurden: das konservativ-agrarische Milieu Ostelbiens, das (recht kleine) liberale, das Sozialmilieu der nationalen Minderheiten, als wichtigste dann das sozialdemokratische u. das katholische. Andere Begriffe bei Altermatt, Urs, Katholische Subgesellschaft, in: Karl Gabriel u. Franz-Xaver Kaufmann (Hg.), Zur Soziologie des Katholizismus, Mainz 1980, S. 145– 65; Sperber, Jonathan, Popular Catholicism in 19th Century Germany, Princeton 1984, S. 286 u. ö. 8 Vgl. Walker, Mack, German Home Towns. Community, State, and General Estate ­1648–1871, Ithaca 1971; kritisch hierzu Reininghaus, Wilfried, Idylle oder Realität? Kleinstädtische Strukturen am Ende des Alten Reichs, in: Westfälische Forschungen, Jg. 43, 1993, S. 514–29; Bleek, Stephan, Quartierbildung in der Urbanisierung. Das Münchner Westend 1890–1933, München 1991; zum Quartier bes. Strohmeier, Klaus-Peter, Quartier u. soziale Netzwerke. Grundlagen der sozialen Ökologie der Familie, Frankfurt 1983. 9 Vgl. Rohe, S. 20.

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zentrierten Milieus,10 wobei der Organisationsbegriff seiner Art nach nicht festgelegt ist. Aus der Parteien- und Wahlforschung kommend, mag die Unterscheidung der vier großen sozialmoralischen Milieus bei Lepsius oder, eher noch, der drei großen politischen Lager bei Rohe – des katholischen, des sozialistischen und des nationalen Lagers  – jeweils überzeugen. Ob aus sozial­geschichtlicher Sicht neben den beiden großen historischen Milieus, dem katholischen und dem sozialdemokratischen, andere, eher im »nationalen« Bereich angesiedelte ­Milieus wie das des Kulturprotestantismus ähnlichen Rang verdienen,11 leitet sich mittelbar aus den folgenden Überlegungen her. Ich möchte im Folgenden einige bisher weniger gesehene Rahmenbedingungen für die Entstehung und Grundzüge in der inneren Entwicklung der beiden großen historischen Milieus erarbeiten. Das soll deren Besonderheit, ja Unvergleichlichkeit mit anderen, zumal den in den Sozialwissenschaften heute untersuchten Milieus unterstreichen.

2. Es erscheint fraglich, ob der Milieubegriff für die Untersuchung sozialer Konfigurationen in der alteuropäischen Gesellschaft nützlich ist. Betrachtet man deren mitteleuropäische Prägungen, dann fällt auf, dass in gewissem Maße ständische Versäulungen die Bedeutung und Funktionen von Milieus wahrnahmen: Wer zu den Ständen rechnete, gehörte ihnen ganz überwiegend von Geburt an, fügte sich einer abgehobenen Lebensweise ein, unterstand besonderem Recht, hatte in jeweils bestimmtem, gestuftem Maß an Herrschaft teil und ordnete sich, zwischen Pflicht und Ehre, einem ziemlich festgefügten Horizont von Wert- und Verhaltensorientierungen zu. Er grenzte sich darin, ungeachtet der territorial höchst unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Bestimmungen über die Ständequalität, von anderen Ständen und zumal von den unterständischen Sozialschichten ab. Vielleicht ist es unter den letzteren am ehesten zur Ausbildung milieuartiger Selbstzuordnungen gekommen, wenn und soweit die größeren Städte hierfür Raum ließen (deren Unterschichten machten bekanntlich vielfach die Hälfte und mehr ihrer Bevölkerungen aus). Soweit ich sehe, 10 Gemeinhin wird unterstellt, das Bürgertum habe ein »personenintegriertes« oder »-zen­ triertes« Milieu ausgebildet; vgl. etwa Naßmacher, Karl-Heinz, Zerfall einer liberalen Subkultur. Kontinuität u. Wandel des Parteiensystems in der Region Oldenburg, in: Herbert Kühr (Hg.), Vom Milieu zur Volkspartei. Funktionen u. Wandlungen der Parteien im kommunalen u. regionalen Bereich, Königstein/Ts. 1979, S. 29–134, 107. 11 Hübinger, Gangolf, Kulturprotestantismus u. Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus u. Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 305–310, weist dem deutschen Kulturprotestantismus die Qualität eines sozialmoralischen Milieus zu, das freilich schon im Ersten Weltkrieg erodiert sei. Vgl. auch ders., Protestantische Kultur im wilhelminischen Deutschland, in: IASL, Jg. 16, 1991, S. 174–199.

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ist bisher niemand auf den Gedanken gekommen, etwa grund- und gutsherrschaftliche Daseinsformen auf dem Lande bis zum Ende des 18. Jahrhunderts systematisch als Milieus zu beschreiben. Deren Entstehung12 scheint vielmehr ein industriegesellschaftliches, mindestens aber ein urbanes Phänomen zu sein. Industriegesellschaften haben Raum für neue überfamiliale soziale Vernetzungen geschaffen, in denen Menschen besondere Bedürfnisse wahrnahmen, eigene Lebensweisen entfalteten und abgrenzbare Deutungen ihrer Wirklichkeiten für richtig hielten. Bedürfnisse, Lebensweisen und Deutungskulturen waren und werden unterschiedlich konstituiert: vor allem durch die Herkunft der je zusammengehörigen Individuen, durch ihre Glaubensüberzeugungen und die jeweilige soziale Konstellation ihres Glaubens, durch ihre Berufs-, Schicht- und Klassenzugehörigkeit, durch ihre räumlich-territorialen Bindungen und, damit eng verknüpft, durch historisch gewachsene, dominante, meistens vererbte Selbstzuordnungen. Selten reicht eines dieser Merkmale zur Herausbildung von Milieus. Zumeist wirken, heute jedenfalls, in der Milieubildung verschiedene der erwähnten Faktoren zusammen, und neue sind hinzugekommen: Alters- und Geschlechts­gruppen, Ethnien, Armut und Reichtum. Bei den beiden großen historischen Milieus in Deutschland, dem katholischen und dem sozialdemokratischen, war das anders: Hier überwog ein konstituierendes Element die jeweils anderen mög­ lichen. Ausschlaggebend war aber, dass sich diese Milieubildung in einer lang währenden Phase des Übergangs vollzog, die durch besondere gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen gekennzeichnet war. Es waren diese Übergangsbedingungen, die den historischen Milieus ihr besonderes Gewicht verliehen. Die Übergangsphase datiert offenbar zwischen den 1870er Jahren, die oftmals als wichtigste Entstehungszeit bezeichnet werden, und der Nachkriegszeit, in der weithin die Erosion der überkommenen Milieus konstatiert wird. Diese Übergangsbedingungen seien hier, typisierend und verkürzend, zusammenfassend erörtert: a) Die Auflösung der ständischen Welten, die gewiss für sich auf dem Lande, in den Handwerken, den städtischen Hierarchien und gesellschaftlichen Schichten insgesamt über mehrere Generationen anhielt, hinterließ Vakua der Selbst- und Fremdzuordnung, deren rein quantitative Dimensionen durch Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Mobilisierung und soziale Schicht- und Klassen­ bildung ungemein ausgeweitet wurden. Endlos sind die Quellenzeugnisse, die sich zur Dokumentation der neuen, in sehr unterschiedlichem Maß und auf sehr unterschiedliche Art nahezu alle Menschen erfassenden Orientierungs­ bedürfnisse beibringen ließen. Für jeden einzelnen von ihnen, meist aber ver12 Ein Überblick mit anderen Akzenten findet sich bei Gabriel, S. 244–247; vgl. ferner, mit Bezug auf das Saarland, die längeren historischen Rückblicke in Paul, Gerhard u. Mallmann, Klaus-Michael, Milieus u. Widerstand. Eine Verhaltensgeschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bonn 1995, S. 23, 35 ff., 180 ff.

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mutlich in generationellen Übergängen, wurde das Problem der Selbstzuordnung überhaupt erstmals bewusst. Sie lösten es – darauf komme ich zurück – in der Regel in den durch Herkunft und Erziehung bezeichneten Grenzen, das heißt, sie griffen zu den verfügbaren Orientierungsangeboten. Festgefügte Deutungen von Wirklichkeit boten die Kirchen, unter denen die katholische auf die Herausforderungen durch die Industrialisierung flexibler reagierte; sie verfügte über Autorität und eine ziemlich klare Werteordnung und war übrigens in den von ihr dominierten Regionen weithin weniger von Industrialisierung und Urbanisierung betroffen. In beiden Konfessionen bot die pfarrgemeindliche Seelsorge eine zunächst konservative Orientierung, indem sie den Lebens­zyklus rituell begleitete und Sinn stiftete. Die unterschiedlichen Kirchenorganisationen brachten es mit sich, dass sich dabei der Katholizismus eher außerhalb der sich entfaltenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen darzustellen vermochte. b) Die Bedürfnisse und Interessen suchten Wege der Bedürfnis- und Interessenbefriedigung. Das hierzu verfügbare, denkbar flexibelste Instrument war der Verein. Es wird oft übersehen, dass sich in allen historischen Milieus, und zumal in den beiden großen, das Vereinswesen nachgerade zum Rückgrat der Milieuorganisation entwickelte. Vereine waren keine prinzipiell neuen Gebilde, aber ihre äußerst rasche Ausdehnung im Einklang mit den urbanen und konjunkturellen Wachstumsstößen versetzte schon die Zeitgenossen in Erstaunen.13 Während die katholische Kirche den Laienorganisationen, die sich in den Pfarreien und auch in überregionalen Beziehungen wie dem Katholikentag bildeten, anfangs eher skeptisch bis ablehnend gegenüberstand und erst seit den 1860er Jahren eine unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich bejahende Position bezog, gab es im Einzugsfeld der protestantischen Kirchen von Anfang an zahlreiche Vereinsbestrebungen, jedoch eher im »bürgerlichen« Raum, bis in den 1880er Jahren die katholischen Organisationserfolge zumal in den Unterschichten offenkundig wurden und mithin Konkurrenzdruck entstand. Das vielgestaltige Prinzip der Vereinsorganisation war indessen allen neuen sozialen Bewegungen dienstbar, die Industrialisierung und Urbanisierung hervorbrachten, unter ihnen insbesondere der Arbeiterbewegung. Von den vormärzlichen Auslands- und Arbeiterbildungsvereinen über die Organisations­ formen während der Revolutionszeit bis zu den gewerkschaftlichen und parteipolitischen Formierungen der verschiedenen Lager in den 1860er und 1870er Jahren war es der Gedanke der Vereinsbildung, der die arbeitenden Menschen beseelte. Es ist beeindruckend zu sehen, wie sich die Organisationsbildung in jenem »Jahrhundert der Vereine« (Knut Borchardt) ausdehnte und ausdifferenzierte, und hierzu trug gerade die Arbeiterbewegung bei. Von ihren Anfängen an verstand sie sich als Kulturbewegung, und sie verlieh diesem 13 Vgl. Dann, Otto (Hg.), Vereinswesen u. bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984, darin mein eigener Beitrag, der in dieser Aufsatzsammlung S. 174–229 abgedruckt ist.

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Selbstbewusstsein seit den 1890er Jahren durch die Fülle der ihr affiliierten Kulturorganisationen Nachdruck. Dies nun rief, wie eben schon am Beispiel der Konfessionskonkurrenz erwähnt, die konkurrierenden Milieus auf den Plan. Etwa drückte die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung in große sozial­ demokratische und christliche Lager die sich herausbildende Milieukonkurrenz ebenso aus, wie sie sie sehr dauerhaft vertiefte. c) Indessen hatten die beiden großen historischen Milieus eine unverhoffte zusätzliche Legitimation erfahren: Sie hatten – unverdientermaßen – den Ritterschlag zu »Reichsfeinden« erlitten. Das lenkt den Blick auf die Rolle von Verfassung und Politik des neuen Deutschen Reiches: Was der Kulturkampf für das katholische, das bedeutete das Sozialistengesetz für das sozialdemokratische Milieu, und für beide machten diese Ereignisse den Höhepunkt einer schon seit Jahrzehnten, seit dem Kölner Mischehenstreit und der vormärzlichen Demokraten-, bald Sozialistenverfolgung, anhaltenden Verfolgungsgeschichte aus. Ein jedes Milieu gewann sein heroisches Zeitalter, erfuhr die Stiftung von Solidarität durch staatliche Verfolgung – gewiss in sehr unterschiedlicher Weise, aber doch so, dass sich die Menschen eng um ihre verfolgten Pfarrer scharten und enger an die Institutionen ihrer Glaubensüberzeugung banden, dass sie, im anderen Milieu, die Rechtmäßigkeit ihrer Bestrebungen umso nachhaltiger wahrnahmen und sich bereitwilliger dem politischen Ausdruck ihrer Be­ strebungen zuordneten, zumal die Sozialdemokratie, nicht zufällig just in dieser Zeit, ihre eigenen Deutungen der klassengesellschaftlichen Wirklichkeit festschrieb. Nun hatte sich der preußisch-deutsche Staat sozusagen diejenigen Reichsfeinde geschaffen, die er verdiente. Die schwerwiegenden Konflikte um diese innere Reichsgründung drückten nicht nur unterschiedliche Deutungskulturen aus, sondern prägten diese mit.14 Während jedoch das Reich des protestantischen Kaiserhauses gegenüber den Katholiken seit den 1880er Jahren den Kompromiss suchte und weitgehend fand, blieb das sozialdemokratisch-frei­ gewerkschaftliche Lager stigmatisiert. Damit verschob sich das Gewicht der Faktoren, die jeweils zur Milieubildung verholfen hatten und die Milieuerhaltung ermöglichten. Diese sicher allzu knappe sozialgeschichtliche Interpretation der Milieu­ bildung, -ausweitung und -stabilisierung enthält Möglichkeiten, sowohl die Entstehungszeit im Reichsgründungsjahrzehnt als auch das Auslaufen der großen historischen Milieus zu deuten. Das katholische Milieu gründete in der uralten Rolle der Kirche und Religion als Sinnstifterin, in der Geschichte der Konfessionskämpfe, in der minoritären Disposition des Katholizismus durch die Reichsgründung und natürlich in der lebenspraktischen Bedeutung des Glaubens, und der Kulturkampf verlieh dem Milieu schärfere politische Grenzen. Es 14 S. hierzu die Überlegungen von Nedelmann, Brigitta, Das kulturelle Milieu politischer Konflikte, in: Friedhelm Neidhardt u. a. (Hg.), Kultur u. Gesellschaft, Opladen 1986, S. 397–417 (S. 398 zur »zirkulären Interdependenz« nach Lepsius).

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war insgesamt »historischer« als das sozialdemokratische, dessen gesellschaftliche und politische Ausgrenzung deshalb für die Milieubildung wohl eine größere Rolle spielte. Es konnte wegen seiner aus Glauben und Geschichte gespeisten Dignität die in ihm verwurzelten Spannungen zwischen unterschiedlichen Schichten und Interessen überbrücken. Beide Milieus adaptierten das Vereinsprinzip als Organisationsform, aber der Katholizismus genoss den Vorzug einer allseits etablierten Klerikalhierarchie als Korsett im Milieu, weshalb es, man denke an die Präsides-Verfassung des katholischen Vereinswesens und an den Gewerkschaftsstreit, zu Auseinandersetzungen um demokratische Führung und kirchenloyales politisches Verhalten kam. Betrachtet man den Verein sozialgeschichtlich als die typische überfamiliale Kommunikationsform des Industrialisierungsjahrhunderts, so wird verständlicher, warum die Milieus auch mit dem Aufkommen alternativer Kommunikationsformen seit den 1920er Jahren und besonders in der Nachkriegszeit, die das Vereinswesen zurückdrängten, an Bedeutung verloren. Zu diskutieren ist die Frage, ob und in welchem Umfang die vergleichsweise rasche Durchsetzung der industriekapitalistischen Wirtschaftsweise und die gleichfalls rasche Modernisierung der Schichtungen und Lebenslagen zur Spezifität der Milieubildung in Deutschland beitrugen. Man kann diese Frage mit der Beobachtung verbinden, dass die Milieubindung, wie nachfolgend am Beispiel der milieuinternen Sozialisation gezeigt wird, über weite Strecken Züge einer ständischen Vergemeinschaftung aufwies: Man gehörte zunehmend von Geburt zum Milieu, im Katholizismus sogar definiertermaßen; die Milieus begleiteten den Lebenszyklus und entwickelten Wertcodices über das Verhalten der ihnen Zugehörigen; sie deuteten die sie umgebende gesellschaftliche Wirklichkeit in eigener Weise und entfalteten, in gewissem Maße auch bei der Sozialdemokratie,15 Zielvorstellungen, die jenseits dieser Wirklichkeiten lagen. Es waren »männliche«, mindestens männlich geführte Milieus, die in den gängigen Vorstellungen über Autorität, Pflicht und Gehorsam letztlich gesellschaftskonforme Leitbilder spiegelten. Korporative Strukturen wurden durch die deutschen Rechts- und Verfassungsverhältnisse seit Mitte des 19. Jahrhunderts eher gefördert als behindert und gewannen, als Vehikel von Professio­ nalisierung, anderwärts neue Bedeutung. Die katholische Sozialtheorie hat solchen Korporatismus neu untermauert, indem sie ständische Elemente betonte. Für entscheidend halte ich dennoch die politische Affiliierung der Milieus. Das Zentrum und die Sozialdemokratie verstanden sich weitgehend als politischer Ausdruck ihrer Konfessions- bzw. Klassenmilieus, und sie wurden von den Konfessions- und Klassenzugehörigen so verstanden. Die Parteipolitik versäulte sich auf diese Weise in den Lebenslagen und Wertorientierungen; es ist nach wie vor dieser Ausgangspunkt aller Überlegungen zum Begriff der historischen Milieus, der am meisten überzeugt. 15 Hierzu Hölscher, Lucian, Weltgericht oder Revolution. Protestantische u. sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 199 ff.

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3. In der »alteuropäischen« Sozialisation dominierte auf dem Lande die zum Dorf geöffnete, das Dorf strukturierende Familie, und als außer- und überfamiliale Sozialisationsinstanz wurde gemeinhin der allerdings weithin als familienzugehörig begriffene Gesindedienst begriffen. Der Gesindedienst hatte im Dienst­ botendasein städtische Entsprechungen, aber hier trat ihm stärker die gleichfalls weithin als familienförmig begriffene, handwerkliche Sozialisation im Gesellenstatus zur Seite, abgesehen von den eigenen Sozialisationswegen der »besseren Stände«. Diese Königswege alteuropäischer Sozialisation, der Gesinde- und der Handwerkerstatus, haben den Prozess der Familienbildung in ihren demografischen, ökonomischen und kulturellen Kontexten über die Zeit hinaus, bis in das beginnende 20. Jahrhundert, maßgeblich bestimmt. Natürlich war das in den »höheren Ständen« anders; zumal das Bürgertum entwickelte im 18.  Jahrhundert eigene außerfamiliale Sozialisationen: die Bildungsreisen der Bürgersöhne, die Fortbildungsreisen und auswärtigen Beschäftigungen der Kaufmannssöhne (meist nach der oder während der Kaufmannslehre), die universitäre Bildung mit ihren eigenen Kontexten, in der Familie dann das Haustöchterwesen als Ehevorbereitung. Wenn sich hier auch neue Leitbilder einer nachfamilialen Sozialisation entfalteten, die heute eher bestimmend geworden sind, so blieben doch bis ins 20. Jahrhundert weithin, und vor allem innerhalb der Unterschichten, die Sozialisationen im Gesinde- und im Gesellenstatus wichtig, die beiläufig als Erfahrungsphasen auf dem Wege zur Selbständigkeit und Familiengründung galten. Die überfamiliale Sozialisation dieses Typs blieb partikular vernetzt und letztlich familienbestimmt. Der rasche Wandel begann auch sozialisationsgeschichtlich im späten 18.  Jahrhundert und betraf die städtischen, bald alle Unterschichten. Er ließ die ausgetretenen Sozialisationspfade beiseite. Zum einen formierten sich nationale Gesellschaften mit einem spezifischen Sozialisationsbedarf. Diesem So­ zialisationsbedarf konnten die überkommenen Instanzen nicht hinreichend entsprechen, und so wuchsen etwa den Stehenden Heeren wesentliche Funktionen der nationalen Vergesellschaftung zu. Mindestens so wichtig war der sozialisationsgeschichtliche Funktionsverlust der Familie unter genereller Familiarisierung der Gesellschaft. Die größeren und großen Städte füllten sich mit Neubürgern, die schon allein wegen der schieren Zahlen nicht in gewohnte familiale oder kirchengemeindliche Netze eingebunden werden konnten. Eine »Sozialisationslücke« entstand zunächst in den protoindustriellen, bald dann in den frühen fabrikindustriellen Mittelstädten und schließlich ganz besonders in den Industriestädten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Bedeutung des Handwerks als Sozialisationsinstanz nahm ab, und auch der Gesindedienst blieb zwar zunächst wichtig, nahm aber quantitativ nicht mehr zu. Selbst die Dorf- und Kleinstadtgemeinschaften funktionierten oftmals nicht mehr wie früher, und der Einfluss der Kirchen war mindestens gefährdet, während der 351 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Staat (zunächst durch die Bildungsreformen, zunehmend dann durch Einfluss auf alle Sozialisationsinstanzen), bald auch zahlreiche bürgerliche und konfes­ sionelle Anstrengungen zur Sozialreform, die neuen Probleme auf dem bisher so geordneten Weg zum Erwachsensein zu lösen und die Unterschichten zu »veredeln« trachteten.16 Die frühe Fabrik-, später die Industriearbeiterschaft fiel in diese Sozialisationslücke, und das erklärt zum Teil die Empörung der Zeitgenossen über ihr so ganz anderes Verhalten. Die Kirchen waren bestrebt, die Bedrohung und Aushöhlung ihrer Sozialisationsfunktion wahrnehmend, den Zugriff zu wahren, aber sie rieben sich an den neuen Sozialisationsinstanzen: an der Konkurrenz des städtischen Vereinswesens, der emanzipatorischen Arbeiterbewegung, später dann an der gewerbsmäßigen Freizeitindustrie. Die Versuchung für den Staat, die Sozialisationslücke auszufüllen, ist groß gewesen, und Preußen-Deutschland ist ihr, etwa im Bildungswesen und durch Einflussnahme vor allem auf die protestantische Kirche, – mit wohl geringem Erfolg – zeitweise erlegen. In diese Sozialisationslücke sind, vornehmlich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und mit dem Höhepunkt im Wilhelminischen Kaiserreich, zum guten Teil die historischen Milieus getreten. Das hatte natürlich wiederum mit allgemeineren sozialgeschichtlichen, besonders demografischen, Entwicklungen zu tun: Die Lebenserwartung nahm zu, und die Generationen entfernten sich voneinander, bis hin zur »Erfindung« der Jugend gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ganz anders als die alten Territorialgesellschaften brachte die Nationenbildung einen besonderen Sozia­ lisationsbedarf hin zum Bürger der Nation.17 Die an die Individuen, als Bürger in zunehmend komplexen Gesellschaften, zu stellenden Anforderungen der nachfamilialen Akkulturation und gesellschaftlich-politischen Mitwirkung und Mitbestimmung nahmen im 19. Jahrhundert ungemein zu, zu schweigen von den Anpassungszumutungen, die von dem raschen wirtschaftlichen Wandel mit seinen Auswirkungen auf die Berufsstrukturen und Arbeitsplätze ausgingen. Über Jahrzehnte beeinflusste und strapazierte die starke Mobilisierung der Bevölkerungen die Sozialisationsinstanzen; sekundäre Sozialisationen in Sondermilieus wie den Hinterhöfen der Berliner Mietskasernen oder den Zechensiedlungen im Ruhrgebiet bewältigten diesen Anpassungsbedarf ebenso wie die Vereinsbildungen von Zuwanderern. Diese blieben übrigens seit den

16 Vgl. etwa: Jeismann, Karl E. (Hg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jh. Mobilisierung u. Disziplinierung, Stuttgart 1989; Berg, Christa (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991. 17 Vgl. Blessing, Werner K., Staat u. Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität u. mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jh., Göttingen 1982. Blessing hat, im Rahmen der westdeutschen Sozialgeschichtsschreibung sehr früh, die Perspektiven einer Sozial­ geschichte als Sozialisationsgeschichte erarbeitet: Zur Analyse politischer Mentalität u. Ideologie der Unterschichten im 19. Jh., in: ZBL, Jg. 34, 1971, S. 769–816.

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1880er Jahren im Falle der fremdsprachigen Zuwanderung weitgehend außerhalb der sich stabilisierenden, großen historischen Milieus.18 In der Regel überlappten sich, als Folge der Migrationen und sonstigen strukturellen Veränderungen, mehrere, zum Teil widersprüchliche Milieu- als Sozialisationserfahrungen. Zum Hintergrund vieler gehörte die dörfliche und Kleinstadtsozialisation. In diesen parochialen Milieus wurde Zugehörigkeit durch Ansässigkeit definiert. Sanktionen gegen »Zugereiste« waren üblich und drückten sich zum Teil  noch im Bürgerrecht aus. »Parteipolitik« war hier oftmals überflüssig, zumal die kommunalen Wahlrechte den wenigen Honoratioren die Macht überließen, wo nicht sowieso der ländliche Adel das Heft in der Hand behielt. In den größeren und großen Städten entfalteten sich demgegenüber ganz andere Sozialisationsanforderungen, die wesentlich in den Milieus erfüllt wurden: Die Grenzen nach oben waren dort meistens noch stärker ausgeprägt als in den Kleinstädten. Die wahlrechtsbegünstigten kommunalen Führungsschichten hatten längst ihre eigenen Verkehrskreise ausgebildet und vererbten durch Konnubium und elitäres Vereinswesen die kommunalen Ehrenämter in die nächste Generation. Allenfalls hier, im Rahmen der größeren und großen Städte, kam es zur Ausbildung eines eigenen »bürgerlichen Milieus«, das im Privileg einer schon bürgerlichen Geburt und einer entsprechenden Erziehung ruhte. Es blieb schon wegen seines eigenen, stark individualistischen Tugend­ katalogs (»Was du ererbt von deinen Vätern…«) fragil und war wegen der Vielfalt bürgerlicher Berufe stark divergierenden Tendenzen  – etwa infolge von Professionalisierung  – unterworfen. Allerdings nutzte gerade das Bürgertum im kommunalen und überregionalen Rahmen extensiv die wichtigste Milieustütze, das Vereinswesen. Es überlappte sich überdies stark mit der konfessionellen ­Milieubildung. In der Erziehung durch das Milieu verfügte die katholische Kirche erklärlicherweise über einen außerordentlichen Autoritäts-, Organisations- und Erfahrungsvorsprung. Man gehörte der Kirche lebenslang und natürlich entsprechend auch dem Milieu an. Die Funktion des Milieus war nachgerade die Erhaltung und möglichst Stärkung der Kirchenbindung in einer Zeit vermuteter und tatsächlicher Anfeindungen. So verstand es sich, dahingehend wirkte der Klerus in ihm. Teil dieser Funktion war, nach dem Aufstieg des politischen Katholizismus und der Erfahrung des Kulturkampfs, die Sammlung und Stärkung der katholischen Stimmen im politischen Kräftefeld. Die hierzu je für notwendig gehaltenen Laienorganisationen wurden gebildet oder bestanden bereits: der Kirchentag, die katholischen Arbeitervereine im Verband »Arbeiterwohl« in 18 Vgl. etwa Kulczycki, John J., The First Migrants’ Miner Associations in the Ruhr, in: Leo Schelbert u. Nick Ceh (Hg.), Essays in Russian and East European History, New York 1995, S. 101–115; ders., The Foreign Worker and the German Labour Movement. Xenophobia and Solidarity in the Coal Fields of the Ruhr, 1871–1914, Oxford 1994; auch der Versuch von Oenning, Ralf K., »Du da mitti polnischen Farben…«. Sozialisationserfahrungen von Polen im Ruhrgebiet 1918 bis 1939, Münster 1991. Die Zuwanderung wird im Allgemeinen als milieu­schwächend interpretiert; vgl. Rohe, S. 105.

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den 1880er Jahren, der Volksverein für das katholische Deutschland, die christlichen Gewerkschaften. Umfassender als selbst das sozialdemokratische Milieu, band die Kirche via Milieu die Generationen und verband sie oftmals, so in der Mischehenfrage,19 durch scharfe Abgrenzung. Erst seit Kurzem verfügt die Forschung über eine größere Zahl an Regional- und Lokalstudien, mittels derer das katholische Milieu und seine Verästelungen nun ein schärferes Profil erhalten haben.20 Demgegenüber sind die sozialdemokratischen Arbeitermilieus, allerdings zumeist unter den Leitbegriffen »Arbeiterkultur« und »Arbeiterbewegungskultur«, unter unterschiedlichen Gesichtspunkten sehr ausführlich behandelt worden.21 Es interessiert hier nicht der wenig ertragreiche Streit darüber, wann denn die sozialdemokratische Arbeiterbewegungskultur ihren historischen Höhepunkt erreicht habe: Man kann nicht bezweifeln, dass dies, an der Zahl der Mitglieder und der Vielfalt der Organisationen gemessen, erst in den 1920er Jahren der Fall gewesen ist, während diese Frage für die katholischen Arbeitervereine noch nicht geklärt erscheint.22 19 Meiring, Kerstin, Die christlich-jüdische Mischehe in Deutschland 1840–1933, Hamburg 1998. 20 Vgl. etwa – ohne Berücksichtigung der durchaus zahlreichen Untersuchungen zum katholischen Arbeitervereinswesen u. zu den christlichen Gewerkschaften  – Kaufmann, Doris, Katholisches Milieu in Münster 1928–1933. Politische Aktionsformen u. geschlechterspezifische Verhaltensräume, Düsseldorf 1984; Mooser, Josef, Katholische Volksreligion, Klerus u. Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jh., in: Wolfgang Schieder (Hg.), Religion u. Gesellschaft im 19. Jh., Stuttgart 1993, S. 104–156; Rauh-Kühne, Cornelia, Katholisches Milieu u. Kleinstadtgesellschaft. Ettlingen 1918–1939, Sigmaringen 1991; dies., Arbeiterschaft in der katholischen Provinz (1918–1933). Politische Identität zwischen Konfession u. Klassenlage, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter im 20. Jh., Stuttgart 1991, S. 321–342; Blaschke, Olaf, Die Kolonialisierung der Laienwelt. Priester als Milieumanager u. die Kanäle klerikaler Kuratel, in: ders. u. Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996, S. 93–135; Schäfer, Michael, Das Milieu der katholischen Arbeiter im Ruhrgebiet (1890–1914), in: Dagmar Kift (Hg.), Kirmes – Kneipe – Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz u. Kontrolle (1850–1914), Paderborn 1992, S. 196–225; wichtig weiterhin: Blackbourn, David, Class, Religion, and Local Politics in Wilhelmine Germany: The Centre Party in Württemberg before 1914, Wiesbaden 1980. Vgl. ferner die Beiträge von Antonius Liedhegener (über Bochum) u. Frank Nienhaus (Westmünsterland) in: Michael Prinz u. Matthias Frese (Hg.), Gesellschaftlicher Wandel u. politische Zäsuren 1930–1960. Regionale, nationale u. internationale Perspektiven, Paderborn 1996, sowie über »das von kirchlicher Autorität geprägte Sozialisationsmodel«: Klöcker, Michael, Katholisches Milieu im Kaiserreich, in: Zs. f. Religions- u. Geistesgeschichte, Jg. 44, 1992, S. 241–262, 250 (Zitat). 21 Jüngere Regional- bzw. Branchenstudien scheinen sich stärker dem Milieubegriff zuzuwenden. Vgl. etwa Meyer-Lenz, Johanna, Schiffbaukunst u. Werftarbeit in Hamburg 1838–1896. Arbeit u. Gewerkschaftsorganisation im industrialisierten Schiffbau des 19. Jh., Frankfurt 1995, S. 25 f. 22 Das klar erarbeitet zu haben, ist das Verdienst von Lösche, Peter (Hg.), Solidargemeinschaft u. Milieu: Sozialistische Kultur- u. Freizeitorganisationen in der Weimarer Republik, 4 Bde., Bonn 1990/1993. Führender Mitverfasser ist Franz Walter, vgl. Lösche, Peter u. Walter, Franz, Zur Organisationskultur der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in

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Es war bei Weitem wichtiger, dass die beiden historischen Milieus die ihnen in der Zeit des Kaiserreichs über eine Zeitspanne von mindestens zwei Genera­ tionen zugewachsene Sozialisationsfunktion nach 1918 dank ihres inzwischen fein verästelten, ja weiter ausgebauten Vereinsgerüsts perpetuierten. Nicht übersehen werden darf ferner, dass die Generation der zwischen der Jahrhundertwende und dem Kriegsausbruch Geborenen im Altersaufbau der Bevölkerung besonders zahlreich vertreten war und dass der längst begonnene Rückgang der Gebürtigkeit die katholischen Bevölkerungsgruppen und die ungelernten Arbeiter ziemlich zuletzt erreichte. Die sehr weitgehende Selbstzuordnung vor allem von Zugehörigen der Unterschichten zu den beiden Milieus ist, seitdem diese funktional vielfältige Auffangstätten für Kultur- und Freizeitinteressen wie auch im lebenszyklischen Ablauf boten, gut dokumentiert. In beide Milieus wurde man der elter­lichen – hinsichtlich der späteren politischen Orientierung der Kindergeneration wohl entscheidend der väterlichen – Meinungsführerschaft zugeboren23 und sowieso den Kirchen zugeführt, bei den Sozialdemokraten allerdings mehr und mehr unter inhaltsleerer Wahrnehmung des Ritus.24 Nach Kommunion bzw. Konfirmation, zum Teil  auch zuvor für Kinder, standen kirchen- bzw. milieu­ der Weimarer Republik. Niedergang der Klassenkultur oder solidargemeinschaftlicher Höhepunkt?, in: GG, Jg. 15, 1989, S. 511–536; Erwiderung: Wunderer, Hartmann, Noch einmal: Niedergang der Klassenkultur oder solidargemeinschaftlicher Höhepunkt?, in: ebd., Jg. 18, 1992, S. 88–93. Gegen diejenigen, die – wie ich – daran festhalten, dass unbeschadet des Ausbaus der Arbeiterbewegungskultur nach 1918 die maßgeblichen, Bedeutung vermittelnden Fundamente des sozialdemokratischen Milieus im Kaiserreich gelegt wurden, was die Eigenart u. spezifische Geschlossenheit sowie bes. die relativ abgekapselte Sozialisationsfunktion des Milieus begründet hat, hat Walter Modernisierungskritik geltend gemacht: Milieus u. Parteien in der deutschen Gesellschaft. Zwischen Persistenz u. Erosion, in: GWU, Jg. 46, 1995, S. 479–493. Zum kath. Milieu s. die in Anm. 20 genannten Studien, bes. Rauh-Kühne, Arbeiterschaft, S. 327 u. 331, wo – in einer überwiegend kath. Stadt – ein starker Anstieg des kath. Vereinswesens dokumentiert ist; vgl. dagegen Mooser, Auf­lösung der proletarischen Milieus, S. 301 (Stagnation in der Weimarer Zeit); bestätigt durch Haffert, Claus, Die katholischen Arbeitervereine Westdeutschlands in der Weimarer Republik, Essen 1994, S.  36 u. ö. (»eine Periode mühsamer Besitzstandswahrung« ); Aretz, Jürgen, Katholische Arbeiterbewegung u. Nationalsozialismus. Der Verband katholischer Arbeiter- u. Knappenvereine Westdeutschlands 1923–1945, Mainz 1978, S. 15–19 (»organisatorische Krise«, ab 1925 leichte Erholung); Krenn, Dorit-Maria, Die christliche Arbeiterbewegung in Bayern vom Ersten Weltkrieg bis 1933, Mainz 1991, S. 85–104, 597 f. (ebenfalls Stagnation u. Rückgang bis 1924, danach leichte Erholung, ohne den Vorkriegsstand zu erreichen); Müller, Dirk H., Arbeiter, Katholizismus, Staat. Der Volksverein für das katholische Deutschland u. die katholischen Laienorganisationen in der Weimarer Republik, Bonn 1996. 23 Das betont sehr stark Rosenbaum, Heidi, Proletarische Familien. Arbeiterfamilien u. Arbeiterväter im frühen 20. Jh. zwischen traditioneller, sozialdemokratischer u. kleinbürgerlicher Orientierung, Frankfurt 1992, S. 246 f., 254, 261 f. 24 Vgl. Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, Bonn 1992, S. 747 ff.

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orientierte Organisationen bereit, die den Jugendlichen und Heranwachsenden altersstufengemäß offenstanden und im Bereich der katholischen Kirche auch sozial fein ausdifferenziert wurden. »Alltagsprobleme, Religion, Politik und Freizeit (wurden im katholischen) Vereinsleben miteinander verknüpft.«25 Von den Mutterschutzvereinen über Säuglings-Bewahranstalten, Kindergärten, Jugendvereine, Jungarbeiterkongregationen oder marianische Sodalitäten bzw. Falken und Jungsozialisten bis zu den  – in Diözesanverbänden bald eigen­ ständig zusammengefassten, über eine eigene Presse, ein Rednerwesen und überregionale Präsides-Treffen gut vernetzten – Kolping-, Paulus- oder Knappenvereinen und den zahllosen sozialistischen Vorfeldorganisationen, schließlich zu den Gewerkschaften und Parteien weitete sich das Organisationsgerüst für verschiedenste Zwecke: Sparvereine, Genossenschaften für Konsum oder Wohnungsbau, schließlich für das Ende des Lebens die Beerdigungskassen – all das gehörte zu den jeweiligen Milieus, deckte die Bedürfnisse und Interessen im Lebenszyklus ab, und all dies waren Zwecke, mit denen, recht besehen, Kirchen und Parteien nicht notwendig etwas zu tun haben. In beiden Milieus stand, von den vormärzlichen Arbeiterbildungsvereinen und Kolpings Gesellenvereinen bis zu den Programmfolgen der typischen Orts- oder Fachvereinsversammlungen nach der Jahrhundertwende, »Bildung« ganz voran. Neben dem Gedanken der lebenslangen Bildung des Menschengeschlechts, der in Deutschland überall mitschwingt, war es konfessionelle und politische Bildung, was die Milieus bezweckten, zu schweigen von der durchgängig für nötig gehaltenen Verbesserung der Elementarschulbildung und der beruflichen Fortbildung, die zum guten Teil in den Milieus organisiert wurde. Und natürlich entwickelte man beiderseits eine Bildungs- und Beförderungshierarchie für Milieu­manager durch eigene »Führerakademien«: die Gewerkschaftskartelle mit ihren Bildungsveranstaltungen, das Büro des Volksvereins in Mönchengladbach, die sozial­demokratische Parteischule. Ein großer Teil  der sozialdemokratischen und sozialkatholischen politischen Eliten der Weimarer Zeit, ja noch der frühen Bundesrepublik, ist diesen Weg gegangen.26 In diesen Persönlichkeiten manifestierten sich die in den Milieus ausgeformten Deutungsmuster oftmals besonders krass und traten in Konkurrenz zueinander. Man verfügte ja über jeweils sehr eigene und großteils scheinbar nicht in Einklang zu bringende Wertorientierungen und deutete die Wirklichkeit, in der man lebte, sehr unterschiedlich – also auch das Zustandekommen dieser Wirklichkeit, die Geschichte. Es ist vielleicht besonders kennzeichnend, dass in einer Phase weitreichender Homogenisierung der Lebenslagen vor allem in den Unterschichten im Rahmen der Milieus je eigene Geschichtsbilder, das heißt, für richtig gehaltene 25 Rauh-Kühne, Arbeiterschaft, S. 327. 26 Typisch etwa für Aufwachsen u. Wirken im kath. Milieu: Schäfer, Michael, Heinrich Imbusch. Christlicher Gewerkschaftsführer u. Widerstandskämpfer, München 1990. Für entsprechende sozialdemokratische Karrieren vgl. Tenfelde, Klaus, Arbeitersekretäre. Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg 1993.

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Auffassungen über Werden und Wirken der Menschen, in einer Unzahl von Bildungsveranstaltungen, historischen und theoretischen Veröffentlichungen, Kanzel- und Versammlungsreden Verbreitung fanden.27 Nicht zufällig verstand man sich in den Milieus als Zugehöriger einer ganz großen »Familie«.28 Die Verknüpfung von innen und außen im Milieu hatte dabei überall längst schon in der Familie begonnen. Ganze Verwandtschaften organisierten sich milieuintern. »Ja, na, Gott, das ganze Familienleben mit auch die Nachbarschaft, Linden, das war einfach so üblich, es gab nichts anderes…«. »Ja, das, das geht jetzt wieder auf Religion zurück. Denn Schule, Abgang der Schule, dazwischen liegt die Erstkommunion, evtl. auch die Firmung noch, bis zum Schulabschluß, dann gibt’s die Schulentlassung und dann kommt das Angebot, die Übernahme in den Jugend- und Jungmännerverein bzw. … in irgendeine Kongregation.« »Gleichsam automatisch« wuchs man ebenso in das sozialdemokratische Milieu hinein, »das Milieu stabilisiert[e] sich mithin in gewisser Weise selbst«, ein »sozialisatorisches Milieu«, das erblich geworden war.29 Es ist diese Erblichkeit, die die großen historischen Milieus am stärksten von jenen transitorischen Milieubildungen unterscheidet, wie sie für moderne Gesellschaften kennzeichnend geworden sind. Es gelang den Milieus, weil sie generationenübergreifend existieren und sich in Organisationen Strukturen verleihen konnten, den Lebenszyklus der ihnen Zugehörigen in allen Phasen des Werdens und Seins zu organisieren: in der Zeit der Kindheit und Jugend, des Entbindens von den Familien, bei der im Netzwerk vollzogenen Partnersuche, im Ausleben der Kultur-, Bildungs- und Freizeitbedürfnisse, lebenslang bis zum Begräbnis unter der selbstverständlichen Mitwirkung der Vereinsgenossen. Verwandtschaften und Milieus durchwuchsen sich im steten Prozess neuer­licher Familienbildungen. Der Milieuzugehörigkeit lag ein Moment freiwilligen Zwangs bei, denn wer schon entschlüpfte jener Haut, die ihm angeboren war? Sicher, dieser Zwang konnte dominierend und der Austritt sanktioniert werden, so dass ein Renegatenproblem entstand: Vor allem die »klerikalen Milieu­manager« (Olaf Blaschke) litten es nicht, wenn man ihnen entglitt, und das katho­lische Milieu kann immer auch als eine Präventivanstalt gegen Säkularisierung verstanden werden. Man konnte sich eher stillschweigend entziehen. Die Zusammenhänge der Milieuorganisationen waren ja auch nicht strikt definiert, aber sie wurden kennzeichnenderweise ähnlich definiert: Die Altersschwelle von 35 Jahren etwa machte den Übertritt zum wirklichen Erwachsensein aus. Ein Moment freiwilligen Zwangs lag immer auch den Übergängen in 27 Ich habe dies am Beispiel von Otto Hue u. Heinrich Imbusch zu zeigen versucht: Imbusch, Heinrich, Einführung in Leben u. Werk, in: Heinrich Imbusch, Arbeitsverhältnis u. Arbeiterorganisationen im deutschen Bergbau, 1908, ND Berlin 1980, S. V–XXXVIII. 28 Vgl. Rauh-Kühne, Arbeiterschaft, S. 328. 29 Zitate (die ersten beiden Sätze aus Interviews) aus Rosenbaum, Familien, S. 99, 119, 196 f., 319; vgl. die zahlreichen Hinweise auf das Hineinwachsen der Kinder in die Milieus, ebd. S. 110–114, 307, 316 f.

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die jeweils relevanteren, da tendenziell politischen Organisationen bei. Längst nicht alle Mitglieder von katholischen Arbeitervereinen oder sozialdemokra­ tischen Vorfeldorganisationen waren Mitglieder in ihren einschlägigen Gewerkschaften, und noch viel weniger (am wenigsten beim Zentrum) vollzogen den ostentativen Bekenntnisschritt zur Parteimitgliedschaft. Den Milieus unterlag aber eine dahin drängende innere Logik, der man sich entziehen konnte, zumal Parteien nicht eben als notwendig galten und mindestens im Falle der Sozialdemokratie die Mitgliedschaft endgültig stigmatisierte. Das verweist erneut auf die sozusagen konstitutionellen Grenzen der Milieus, besser: auf Abgrenzungen, deren Entstehung und Vertiefung den verfassungspolitischen Rahmenbedingungen im Kaiserreich offenbar mindestens so sehr »zu danken« war wie den typischen Klassenfurchen des Industriekapitalismus in jener Entwicklungsphase. Diese so stark wirksame politische Dimension der Milieubildung und -erhaltung unterstreicht wohl doch die Besonderheit und besondere Bedeutung dieses Prozesses im Vergleich mit ähnlichen Entwicklungen in England, Frankreich, Belgien oder den Niederlanden. Josef Mooser hat meines Wissens als Erster beobachtet, dass die gewiss erst später ausgefüllten »sozialen Grenzen« der Milieus wohl um die Jahrhundertwende schon erreicht wurden und dass, wichtiger noch, diese Grenzen sich nach 1918 »gleichsam als Gefängnis« erwiesen, weil der »innere Kitt« trotz interner Spannungen und Spaltungen noch hielt, »nicht zuletzt auch infolge des Außendrucks eines sich radikalisierenden Nationalismus«.30 Man mag jene »Tradition, die wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden lastet« (Karl Marx), hinzudenken: Erfolgreich, allzu erfolgreich hatten die Vereinsorganisationen die Milieus gegliedert, hatten aus den Milieus sozialisatorische Institutionen gemacht, die, daran zweifle ich nicht, seit 1918 mit neuem Schwung in die Breite wirkten, gar noch, man denke an Kinderfreunde und Freidenker, an den beiden Enden der Sozialisation »von der Wiege bis zur Bahre« vervollständigt wurden. Die Erblichkeit perpetuierte die Milieus, ja stärkte sie noch, solange der Nachschub der Geburten anhielt. Dabei wurde die Milieuzugehörigkeit subjektiv als wahre Bildung, gar Befreiung begriffen und vor allem erinnert, und zwar mit gewisser Inbrunst im Umfeld der Sozialisten. Wer heute mit sehr alten Sozialdemokraten spricht, nimmt immer noch an der großen Anziehungskraft, gar Faszination teil, die von der Sozialisation so vieler in einer eigenen Erlebniswelt ganz offenkundig ausgegangen ist.

30 Mooser, Auflösung, S. 300; vgl. ders., Arbeiterleben, S. 184, 194 u. ö.; Tenfelde, Ende u. Erbe, S. 162.

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4. Diese Sätze umfassen bereits einen Teil der Ambivalenz, zu der das historische Urteil über die Bedeutung der beiden großen Milieus heute gelangen wird. Wer die eigenen Welten der Katholiken und Sozialdemokraten bewundert, sollte auch einräumen, dass sie zwar auch der Modernisierung der Gesellschaft, mindestens so sehr jedoch den »konstitutionellen« Bedingungen dieser Modernisierung in Deutschland zu verdanken war. Bedingungen, die in der Abgrenzung vom Staat und von großen Teilen der Gesellschaft Gräben vertieft und, in der Wechselwirkung von Isolation und Gegenmacht, besondere Eigenständigkeit ermöglicht und eine fatale Dynamik der Milieukonkurrenz in Gang gebracht hatten. Milieus entwickeln in ihren Binnen- und Außenkontakten affektive Dimensionen. Ihre Ab- und Ausgrenzung nährt emotionale Bindungen nach innen, und der Grad der Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Auffassungen begründet Vehemenz in der Ablehnung jeder anderen. Insofern hat die historische Milieubildung politisch radikalisierend gewirkt. In einer – anhaltend für mehrere milieuerbende Generationen scheinbar stabilen – Gesellschaft kumulierten die Wirkungen. Auf verschiedene Aspekte der Milieukonkurrenz  – die Geschichtsbilder, die Sozialisationen – wurde bereits hingewiesen. Die zunehmende soziale Zerklüftung der deutschen Kaiserreichsgesellschaft wird in der beinahe Schritt für Schritt konkurrierenden Selbstorganisation der Milieus offenkundig. Die Christlich-Sozialen der Reichsgründungszeit sahen sich durch Lassalle und die frühen sozialdemokratischen Gewerkschaften, das Zentrum durch die Liberalen, die evangelischen durch die katholischen Arbeitervereine, die christ­lichen Gewerkschaften durch den Internationalismus der freien herausgefordert. Auch andere Milieus grenzten sich voneinander ab, motivierten sich gegenseitig zur Eigenständigkeit  – die Arbeitersportler durch das deutsche organisierte Turnen, die Arbeitersänger durch den organisierten deutschen Chorgesang und sogar die Radfahrer – hier offenbar meistens umgekehrt, weil die Arbeiter schneller zur Stelle waren – »Concordia« gegen »Solidarität«. Wohl keine Kleinstadt, in der sich diese Prozesse nicht in den Akten spiegelten. Wer aus diesen die poli­zeilichen Überwachungsberichte von Gewerkschaftsversammlungen seit den späten 1890er Jahren in Gegenden kennt, wo »Christen« und »Rote« ernsthaft konkurrierten, weiß um das Maß der Hetze. Der Kampf der Milieus gegen­ einander, nicht nur der der beiden großen, hat einen großen Teil  der innenpolitischen Kräfte im späten Kaiserreich und gerade dann in der Weimarer Republik neutralisiert und wohl auch fehlgerichtet. Das ist ein weites Feld, ich kann es hier nur streifen. Bedeutsam ist, dass der Zwang zur Milieukonkurrenz die Kohäsion und das organisatorische Rückgrat der Milieus stärkte. Als Deutungs­instanzen und Handlungsträger wurden die durch das Gerüst ihrer Vereine auch in Krisenjahren stabil gehaltenen Milieus historische Selbstläufer. 359 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Unter den Bedingungen des Lebens in Milieus führte gerade die Milieu­ konkurrenz zur »symbolischen Übersteigerung«31 jener affektiven Dimension. Man denke nur an die gespaltenen Jahres-Festkalender der protestantisch-nationalen, der katholischen und der sozialdemokratischen Kreise und überhaupt an die jeweils besonders geliebten Symbole der öffentlichen Milieupräsenz: Aufmärsche, Vereinsfeste, Fahnen und die milieutypischen Devotionalien bis hin zu den eigenen Grußformeln. Sich auf diese Weise zu bekennen, darin mag auch eine verborgene Abwehr der neuen massengesellschaftlichen Konsum- und Freizeitformen gelegen haben. Übrigens hat sich die Welt der Symbole, was immer deren je eigene Wurzeln nun waren, wohl bereits im Kaiserreich voll entfaltet, um nach 1918 in die Breite getragen zu werden. In ihr verdichtete sich die emotionale Qualität der Milieuzugehörigkeit, damit die Vehemenz des Deutungsanspruchs, die etwa den Wortbekundungen homiletische Züge verleihen konnte. Man müsste einmal systematisch Lebensläufe verfolgen, die an den Grenzen der Milieus stattfanden oder Mischungen etwa durch Eheschließung hervorbrachten. Vermutlich hat das erlernte Rollenverhalten der Geschlechter in solchen Ehen die aus der Milieukonkurrenz fließenden Probleme überdeckt, zumal sich in diesem Punkt die Milieus eben nicht merklich unterschieden.32 Außerhalb der Familien schritt die Entwicklung des milieuverankerten Vereinswesens nach 1918 auch deshalb fort,33 weil die Verkürzung der Arbeitszeit hierfür größeren Raum schuf und weil es den Managern der beiden großen Milieus weithin gelang, die Organisierung der Freizeit – wenn auch mit Ausnahme weiter Bereiche des Sports34 – auf sich zu ziehen. Sicher wird man zumal in kleineren Städten die Milieukonkurrenz nicht überschätzen dürfen: Viele Bindungen und Beziehungen verliefen quer dazu – Nachbarschaften, Bekanntschaften am Arbeitsplatz und anderes. Aber die konfessionelle Landkarte erhielt sich in Bekenntnisschulen, und wenn die Mischehen nun auch zunahmen, so war diese Zunahme doch vorwiegend ein großstädtisches und vielleicht eher ein bürgerliches Phänomen. 31 Rauh-Kühne, Arbeiterschaft, S.  331 f.; zum Folgenden Petzina, Dietmar (Hg.), Fahnen, Fäuste, Körper. Symbolik u. Kultur der Arbeiterbewegung, Essen 1986; Hettling, Manfred u. Nolte, Paul (Hg.), Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jh., Göttingen 1993; Schmid, Hans-Dieter (Hg.), Feste u. Feiern in Hannover, Bielefeld 1995. 32 Hierzu Hagemann, Karen, Frauenalltag u. Frauenpolitik. Alltagsleben u. gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 331–349; ein Hinweis, dass die »christlich-konservative Grundhaltung« der Ehefrau akzeptiert worden sei, S. 338. 33 Vgl. Dussel, Konrad u. Frese, Matthias, Von traditioneller Vereinskultur zu moderner Massenkultur? Vereins- u. Freizeitangebote in einer südwestdeutschen Kleinstadt 1920–1960, in: AfS, Jg. 33, 1993, S. 59–105. 34 Hierzu Eisenberg, Christiane, Massensport in der Weimarer Republik. Ein statistischer Überblick, in: AfS, Jg. 33, 1993, S. 137–177. Der Sport hatte in der Weimarer Zeit demnach zwar »weniger Massen- als Klassencharakter« (S. 171), freilich vornehmlich für Bürger u. bürgernahe Schichten.

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Es bleibe hier dahingestellt, ob sich die Schärfe der politischen Auseinandersetzungen in der Zeit der Weimarer Republik auf die oft konstatierten Gegensätze zwischen den politischen Kulturen und mithin auf Aspekte der Milieukonkurrenz zurückführen lässt. Für die aufbrechenden Kämpfe innerhalb der Milieus, so insbesondere bei den Sozialdemokraten, könnte das der Fall sein. Es gab hier zunächst die Phase der Revolutions- und Spaltungskämpfe, in der die Einflüsse der russischen Revolutionen, die unterschiedlichen Haltungen zunächst zum Krieg, dann zur Revolution und ihren Ergebnissen, bis in die Ortsvereine hinunterwirkten.35 Überhaupt scheint nach 1918 die Reichspolitik der Parteien mit- oder gegeneinander unmittelbarer als vor 1914 bis zur »Basis« der Linksparteien durchgegriffen zu haben, so dass sich die großen Kämpfe rasch in kleinen, lokalen Gefechten widerspiegelten. Und eigenartigerweise scheint sich in der Wahrnehmung der Menschen die Klassenkluft zwischen Arbeitern und Bürgern nach 1918 eher noch vertieft zu haben. Dazu dürften die Inflationsund die Weltwirtschaftskrise das Ihre beigetragen haben. In der Selbstwahrnehmung des Bürgertums und der ihm angrenzenden sozialen Formationen überwog vielfach eine sehr defensive Einstellung in der Erwartung eines unvermeidlichen proletarischen Zukunftsstaats;36 in der Sicht auch der gemäßigten Arbeiterschaft hatte die Revolution nicht die verdienten Erfolge gebracht, und das Wenige an Erfolgen wurde seit 1924 zurückgeschraubt oder in der Arbeitslosigkeit nach 1930 beinahe gegenstandslos. So lässt sich argumentieren, dass die vor 1914 entfalteten milieutypischen Sozialisationen seit 1918 weiterhin und vielleicht noch verstärkt durch die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit gestützt wurden. Schärfer wurde der Ton in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, als die KPD in Ansätzen, allerdings mit sehr unterschiedlichem Erfolg, ein eigenes Milieu durch Vereinsbildungen aufzubauen versuchte.37 Die konkurrierenden Auf­ märsche zu den jeweils ausgerufenen oder bestehenden Gedenk- und Protest­ tagen, die Welt der Symbole, die gegeneinander geschwenkt wurden, die Schärfe der Wortgefechte und die anscheinend zunehmend unüberbrückbaren Glaubens-Gegensätze unter Arbeiterführern, all dies lässt sich auch als Ausdruck affektiver Spannungen verstehen, die sich auftürmten, als die politische Fraktionierung – unter Krisensymptomen – das alltägliche Leben erreichte. Darin gab 35 Vgl. als Regionalstudien Kupfer, Torsten u. Rother, Bernd, Der Weg zur Spaltung: Die Ur­ sachen der Richtungskämpfe in der deutschen Sozialdemokratie am Beispiel der Länder Anhalt u. Braunschweig, in: IWK, Jg. 29, 1993, S. 139–177, zur »Streitkultur« S. 161 f.; Matthiesen, Helge, Zwei Radikalisierungen – Bürgertum u. Arbeiterschaft in Gotha 1918– 1923, in: GG, Jg. 21, 1995, S. 32–62, u. zwar sowohl zur Konkurrenz zwischen den Milieus als auch zu den Folgen der Parteispaltung; Mallmann, Klaus-Michael, Milieus, Radikalismus u. lokale Gesellschaft. Zur Sozialgeschichte des Kommunismus in der Weimarer Republik. Mallmann referiert eine Reihe neuerer Lokalstudien, in: ebd., S. 5–31. 36 Vgl. Tenfelde, Stadt u. Bürgertum im 20. Jh., in diesem Bd. S. 273–311. 37 Vgl. jetzt bes. Mallmann, Klaus-Michael, Milieu u. Avantgarde. Zur Sozialgeschichte des deutschen Kommunismus, Essen 1995.

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es allerdings viele lokale Besonderheiten und Varianten. Je nach den städtischen Traditionen von Politik konnte die Grenze zwischen bürgerlichen und proletarischen Milieuvereinen, wie etwa in Lüdenscheid, weniger scharf ausfallen, und in manchen Städten beschränkte sich der politische Meinungsstreit der Linken wesentlich auf die Presse und die politischen Vereine, ließ aber die Milieuvereine beinahe unberührt. In Gotha hingegen trieb der Streit der Milieus Arbeiter und Bürgertum auch politisch weit auseinander, und der innere Streit der Arbeiterparteien gestaltete sich höchst unerquicklich. Die Milieuvereine dürften übrigens durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise durchgängig geschwächt worden sein, denn gemeinhin folgt die Vereinsfrequenz den konjunkturellen Rhythmen. Zu den Ambivalenzen, zu denen das historische Urteil über die Bedeutung der Milieus gelangen wird, gehört auch deren Rolle in der Zeit des National­ sozialismus. Es ist nunmehr hinreichend belegt, dass sowohl das katholische als auch das sozialdemokratisch-kommunistische Milieu, bei allen zu konstatierenden Ausnahmen, schon in den Krisenwahlen seit 1930 relativ wenig durch den Nationalsozialismus erfasst wurden und dass sie auch in den Erfolgs­jahren des Regimes, wie man seit dem Bayern-Projekt sagt, eher jedenfalls als andere soziale Konfigurationen gegenüber den Verführungen und Anmaßungen der braunen Diktatur resistent blieben.38 Bei der Linken galt dies vor allem für die Kommunisten, und es schließt generell nicht aus, dass es, etwa in protestan­ tischen Gegenden mit hohen Anteilen von Hausbesitzern und Berufspendlern unter der Arbeiterschaft und stärkerer ländlicher Bindung, nationalsozialis­ tische Arbeiter gab. Die Parteienspaltungen hatten im Linksmilieu Misstrauen gesät, das es selbst in der Verfolgung schwer machte, zueinander zu finden, und das nach 1945 noch fortwirkte. Eine Annäherung zwischen Katholiken und Sozialdemokraten hätte mindestens auf der Ebene der Gewerkschaftler im Exil oder im Widerstand nahe gelegen, kam aber über Anfänge vorläufig nicht hinaus. Man kann also einerseits feststellen, dass, wenn überhaupt etwas, dann die frühere, im Falle des Katholizismus ja durchaus anhaltende Milieubindung zur Resistenz, wenn damit auch keineswegs notwendig zum Widerstand, be­f ähigte. Gewiss wurde im Milieu vielfältige Überlebenshilfe geboten, und an vielen Orten hielten die Freundschaften aus den klassischen Arbeiterkulturvereinen auch ohne das formale Vereinsgerüst an. Die Milieukonkurrenz wurde nicht überwunden, aber die Sozialisationsfunktionen im sozialdemokratischen Milieu sind durch Gleichschaltung, Verbot und Verfolgung drastisch abgebrochen worden. Sie ließen sich nach 1945 nicht wiederherstellen. In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik klang das sozialdemo­k ratische Arbeitermilieu aus: Es war vom Nationalsozialismus bedrängt und formal 38 Paul u. Mallmann, Milieus; Möller, Horst u. a. (Hg.), Nationalsozialismus in der Region, darin bes. der Aufsatz v. Rauh-Kühne; Blessing, Werner K., »Deutschland in Not, wir im Glauben…«. Kirche u. Kirchvolk in einer katholischen Region 1933–1949, in: Martin ­Broszat (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, München 1988, S. 3–111.

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durch die Gleichschaltung beseitigt worden, aber viel wichtiger waren die langfristigen strukturellen Veränderungen, die ihm den Boden entzogen: Urbanisierung, wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung, Konsum, Kommunikation, um nur einige Stichwörter zu nennen. Mindestens ebenso wichtig war der Umstand, dass die wichtigen »konstitutionellen Rahmenbedingungen« für die Entstehung der beiden Milieus nun nicht mehr bestanden, so dass selbst einige weitblickende Sozialdemokraten bereit waren, die Milieuverwurzelung der Partei zu opfern. Lange währte die Trauer über den Verlust der wohligen Heimat, und selbst manche Historiker trauerten mit.39 Ganz anders verhält es sich mit dem katholischen Milieu. Abgesehen davon, dass sich die gesellschaftliche Bedeutung von Religionen nicht durch Modernisierung zu erledigen scheint (eher im Gegenteil), war die  – von Resten abgesehen – gelungene Einspeisung des politischen Katholizismus in die christ­ lichen Volksparteien für den Bedeutungsverlust dieses Milieus viel wichtiger. Anders als das sozialdemokratische, besteht es überdies, obzwar bedrängt, fort  – in der angemesseneren Dimension eines Konfessionsmilieus mit mehr oder weniger verdeckten politischen Orientierungen. Nur noch Reste der alten Milieu­konkurrenz sind vornehmlich bei Wahlen spürbar, etwa dann, wenn katholische Pfarrer zur Verbreitung der Flugzettel der CSU beitragen; Milieu­ verwurzelung erweist sich derweil vor allem im kommunalen Rahmen nach wie vor als Voraussetzung politischen Erfolgs. Indessen würde heute niemand mehr, wie das vor 1933 ganz üblich war, die Wahlkampfveranstaltung des politischen Gegners aufsuchen, nur um diesen und seine Anhänger »aufzumischen«. Die angegliederten Organisationen der politischen Parteien beanspruchen nicht länger, das Volk von Kindesbeinen an politisch »richtig« zu erziehen (auch wenn manche Parteigrößen mit diesem Gedanken noch liebäugeln). Sozialisation und Konkurrenz der Milieus haben kein Gewicht mehr. Der Gewinn an politischer Kultur ist beträchtlich.

39 Vgl. Bollenbeck, Georg u. a., Arbeiterkultur  – vom Ende zum Erbe? Frankfurt 1989; Kaschuba, Wolfgang u. a. (Hg.), Arbeiterkultur seit 1945 – Ende oder Veränderung? Tübingen 1991.

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XI. Generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung bis 19331

1. Aktuelle Dimensionen der generationellen Lagerung Ein Feuilletonist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat vor einiger Zeit die seit Ende der 1990er Jahre in der deutschen Bundespolitik zweifellos dominierende »Generation der 68er« als eine Gerontokratie altägyptischen Ausmaßes beschrieben, als diejenigen Wohlstandsfrüchte der frühen Bundesrepublik nämlich, die, selbst »Kinder von Marx und Coca Cola«, »die blühenden Landschaften ihres Ruhestands durch Schröpfung ihrer Nachkommen« finanzierten.2 Schon ein Jahr nach dieser Äußerung war dieselbe politische Führungs­ generation angetreten, diese Aussage Lügen zu strafen, denn dem Jahr 2003 wird künftig sicher die Bedeutung einer »Wendezeit« in einer zuvor auf wirtschaftliches Wachstum abgestellten, so nicht länger funktionierenden Sozial­ politik zugeschrieben werden. Die »Agenda 2010« ist politischer Ausdruck einer so bisher in der deutschen Geschichte – und in der Geschichte der meisten mittel- und westeuropäischen Staaten  – bisher nicht erkennbaren Generationslagerung: Wachstumspotentiale haben sich unter dem Einfluss der wirtschaftlichen Globalisierung erschöpft; man wird sich künftig glücklich schätzen dürfen, wenn der erreichte Wohlstand erhalten werden kann; und was das Wesentlichste ist: die Verschiebungen im demografischen Aufbau der Bevölkerung sind äußerst tiefgreifend und auf mittlere bis lange Sicht selbst durch eine sprunghaft ansteigende Gebürtigkeit nicht korrigierbar. So hat sich seit mehr als zwei Jahrzehnten das Verhältnis der tragenden zu den lastenden Bevölkerungsteilen bisher durch weiteres wirtschaftliches Wachstum, durch Zuwanderung und Verschuldung erhaltenen, aber zunehmend prekären und eben in der Zukunft nicht mehr stabilen Balance entwickelt. Während globale Arbeitsmärkte vor allem steuerpolitische Maßnahmen mit dem Ziel erzwingen, Arbeitsplätze zu sichern und die Kosten der Arbeit zu stabilisieren, müssen zugleich die 1 Überarbeiteter und mit Anmerkungen versehener Text des Eröffnungsvortrags einer Tagung der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg. Jürgen Mittag und Klaus Schönhoven danke ich für Hinweise. 2 Kilb, Andreas, Feierabend. Wie die Regierung eine Generation ausplündert, in: FAZ 274/ 25.11.02, S. 37. Zur seriösen Information: Motel-Klingelbiel, Andreas, Alter und Generationenvertrag im Wandel des Sozialstaats. Alterssicherung und private Generationenbeziehungen in der zweiten Lebenshälfte, Berlin 2000; Hareven, Tamara K. (Hg.), Aging and Generational Relations: Life Course and Cross-Cultural Perspectives, New York 1996.

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sozialpolitischen Folgen der in ein Missverhältnis getretenen Generationslagerung korrigiert werden. Die politische Großwetterlage, der sich die deutsche Sozialdemokratie als eine stets auf wirtschaftliches Wachstum, materiellen, gerecht verteilten Wohlstand und soziale Sicherheit ausgerichtete und seinerzeit mit Regierungsmacht versehene Volkspartei ausgesetzt sah und die sie zum Handeln zwang, war keineswegs neu. Es gab gegen Ende der Weimarer Republik eine ähnliche Situation, der sich die SPD als Regierungspartei durch Aufgabe der Koalition entzog, was den Weg in die Präsidialkabinette der Ära Brüning und zum Regieren mit Notverordnungen möglich machte. Sehr ernsthaft haben Historiker seitdem darüber diskutiert, ob die Weimarer Republik auch an den ihr eventuell vorschnell verordneten sozialen Sicherungen oder gar an zu hohen Löhnen gescheitert ist.3 Das Problem der Generationen beschäftigte die Sozialdemokratie in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, wie gleich zu zeigen ist, in ganz anderer Weise, als ein Problem des Ausbleibens eines angesichts der demografischen Verhältnisse durchaus erwartbaren Partei-, Bewegungs- und auch Wähler-Nachwuchses, mithin als parteiorganisatorisches und wahlstrategisches Jugendproblem. Blickt man wieder in die Gegenwart, so werden darin Aspekte des Vergleichs erkennbar. Denn den Volksparteien, ja, selbst der Partei der »Grünen« bleibt seit geraumer Weile der Parteinachwuchs aus, und zwar weit über das demografisch erwartbare Maß hinaus. Hier entsteht die Frage, in welchem Umfang die Altersschichtung der Parteien jene der Bevölkerung spiegeln sollte, um politische Maßnahmen kommensurabel zu halten. »Politik-« oder »Parteienverdrossenheit« wird in Deutschland seit wohl zwei Jahrzehnten von Bundespräsidenten verschiedener Couleur beklagt.4 Unverkennbar war die Zeit der späten 1960er und der frühen 1970er Jahre eine Phase letzter umfassender, in die Parteien mündender politischer Mobilisierung der Jugend gewesen; seither führt solche Mobilisierung, wo sie denn noch stattfindet, in die Netzwerke sogenannter neuer sozialer Bewegungen, die sich, in der ganzen Vielfalt ihrer Ziele, gerade der parteipolitischen Selbstverortung unter gehörig antibürokratischen Affekten gern entziehen. Dabei ist die Frage, ob und in welchem Umfang die »68er Bewegung« durch generationelle Lagerungen mit verursacht worden ist, durch die Forschung noch keineswegs abschließend geklärt. Eher deutet man ihre Entstehung heute als einen Prozess »kognitiver Konstitution« mit vielfältigen, auch zeitgebundenen Ursachen, darunter aber stets auch als Protestbewegung der 3 Die Debatte wurde durch Knut Borchardt ausgelöst; vgl. ders., Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982, bes. S.  165 ff.; dazu u. a. Abels­ hauser, Werner (Hg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft, Wiesbaden 1987. 4 Vgl. etwa Maier, Jürgen, Politikverdrossenheit in der Bundesrepublik Deutschland. Dimensionen – Determinanten – Konsequenzen, Opladen 2000.

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Jugend.5 Jedenfalls ist unverkennbar, dass die sozialdemokratische Partei damals, an der Wende zu den 1970er Jahren, noch den größten Teil der jugendlichen Protestbewegung auf sich zu lenken und mittelfristig zu integrieren, in die innerparteiliche und politische Elitenbildung einzugliedern verstand. Die Chancen hierzu erscheinen seit den 1990er Jahren für alle politischen Parteien der Republik gering. Das hängt, für die Sozialdemokratie, wohl auch damit zusammen, dass diejenigen Zeiten, in denen die Arbeiterbewegung als »junge Bewegung« mit sehr eigenen politischen Visionen gelten konnte, seit eben jener Protestwelle der späten 1960er und frühen 1970er Jahre vermutlich endgültig vergangen sind.

2. 1931: Jugend und Sozialdemokratie in der Krise Nicht zum ersten Mal, nun jedoch unter den Symptomen einer allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Krise, befasste sich die deutsche Sozialdemokratie auf ihrem Parteitag in Leipzig 1931 mit der Frage der Integrierbarkeit der Jugend und mit dem Problem des Verhältnisses der Generationen zueinander. Dass dabei Probleme der Parteiorganisation im Vordergrund standen, sollte nicht die allgemeinen sozialgeschichtlichen Hintergründe übersehen lassen: Sehr grundsätzlich unterschied sich in jener Zeit die demografische Situation von der heutigen. Sucht man heute die Jugend sozusagen vergebens, und vor allem eine politisch aktivere Jugend, so gab es damals Jugend, eine junge Generation, in Hülle und Fülle, und diese Generation war politisch vergleichsweise hochaktiv. Am Problem der Partei- und Gewerkschaftsjugend hatte man sich in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bereits vor 1914 ereifert, und schon damals war es vor allem um die relative Eigenständigkeit der Jugend in den und am Rande der Parteiorganisationen gegangen. Das war auch 1931 und ist immerfort ein Thema, das aber in Leipzig überwuchert wurde von einer anderen Erfahrung, die sich ebenfalls schon vor 1914 abgezeichnet hatte: Die Jugend entwand sich dem Zugriff jedenfalls der »klassischen« Arbeiterbewegung, sie blieb schlicht weg, und das ließ sich auch nicht mit dem Hinweis auf immer noch beeindruckende Mitgliederzahlen kaschieren. Der Leipziger Parteitag brachte in den drei Leitreferaten durchaus treffend die schwerstwiegenden Problemlagen jener Zeit zur Sprache. Fritz Tarnow hielt das Referat über »Kapitalistische Wirtschaftsanarchie und Arbeiterklasse«, ­Rudolf Breitscheid redete über »Die Überwindung des Faschismus«, nicht ohne die Rolle der Jugend zu behandeln, und Erich Ollenhauer, damals 30-jähriger Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend, behandelte »Partei und 5 Statt vieler Hinweise etwa Gilcher-Holtey, Ingrid, Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001, S. 11 ff.

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Jugend«.6 Zwei verwandte, von Ollenhauer ausgebreitete Gesichtspunkte seien daraus hervorgehoben: das Problem der Einbindung der Jugendorganisationen in die Parteiarbeit und die Suche nach den Gründen dafür, dass diese Einbindung, anders als in den Revolutionsmonaten 1918/19 und bis etwa 1922, nicht mehr recht gelingen wollte. Warum man sich der Jugend zuzuwenden habe, das sprach der Redner ganz klar aus, und er wusste sich darin im Einklang mit dem gesamten Parteitag. Deutschland war bis 1914 eines der Länder mit den höchsten Geborenen-Überschüssen gewesen, und mit den damals Geborenen hatte man es jetzt, 1931, zu tun, nachdem die 20er Jahre »eine wahre Inflation an Jugendorganisationen«, einen »Kampf um die Jugend« gebracht hatten, wie Ollenhauer betonte. Zwischen diesen Organisationen gebe es »kein neutrales Jugendland mehr«, »die Erziehung der Jugend« sei »eine eminent politische Angelegenheit geworden«. Genau so hatte die Sozialdemokratie die Erziehungsaufgabe7 immer schon und vor allem dann begriffen, wenn es um die »eigene« Jugend, die Partei- und Gewerkschaftsjugend, ging: »Planmäßige sozialistische Erziehung« sei unabdingbar. Man könne sich nicht damit begnügen, »die Jugend gegnerischen Einflüssen zu entziehen, sondern wir müssen sie um der Zukunft des Sozialismus willen so erziehen, dass sie die große Aufgabe der Verwirklichung unserer Ideale zu erfüllen vermag.« Eben deshalb sei – Kurt Löwenstein würde sich nach dem Referat zu Wort melden – die Gründung der erfolgreichen Bewegung der Kinderfreunde im Jahre 1923 »eine sehr bedeutsame Erweiterung unseres Erziehungswerkes« gewesen – Erziehung im Sinne der Bewegung mithin von der Wiege wenn nicht bis zur Bahre, so doch bis zum Parteibeitritt und darüber hinaus.8 6 Sozialdemokratischer Parteitag in Leipzig 1931 vom 31. Mai bis 5. Juni im Volkshaus. Protokoll, Berlin 1931, S. 190–206; Auszüge in: Ollenhauer, Erich, Reden und Aufsätze, hg. v. Fritz Sänger, Berlin 19772, S. 147–159, dazu die Einleitung des Hg., S. 26 f. Im Folgenden nicht nachgewiesene Zitate entstammen dem Parteitagsprotokoll. Vgl. aus der Literatur vor allem Winkler, Heinrich August, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Bonn 1990, S. 331–333; Seebacher-Brandt, Brigitte, Ollenhauer. Biedermann und Patriot, Berlin 1984, S. 52–56; generell zur Parteilinken: Klenke, Dieter, Die SPD-Linke in der Weimarer Republik. Eine Untersuchung zu den regionalen organisatorischen Grundlagen und zur politischen Praxis und Theoriebildung des linken Flügels in der SPD in den Jahren 1922–1932, Münster 1989, zu den Entwicklungen 1930/1933 und zur Gründung der SAP S. 105–113. 7 S. jetzt die ergiebige Textsammlung von Lesanovsky, Werner, Den Menschen der Zukunft erziehen. Dokumente zur Bildungspolitik und zum Schulkampf der deutschen Arbeiter­ bewegung 1870–1900, Frankfurt a. M. 2003, etwa S. 374–376 zur ersten Jugendweihe in Berlin 1889. 8 Die Altersgrenzen zwischen den Jugendorganisationen wurden immer wieder diskutiert, aber im Allgemeinen organisierten die »Kinderfreunde« Jugendliche beiderlei Geschlechts im Alter von sechs bis 14 Jahren, die Sozialistische Arbeiterjugend von 14 bis 18 Jahren; mit 18 Jahren konnte man Parteimitglied und Jungsozialist werden oder, das war offenbar die verbreitetste Praxis, in einer der zahlreichen Kulturorganisationen mitwirken.

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Das ist für sich bemerkenswert. Ollenhauer unterschied nämlich die »Jugend« im Alter von 14 bis 20 Jahren von der »jungen Generation« zwischen 20 und 35 Jahren, und darin spiegelte sich eine wichtige generationelle Erfahrung der Arbeiterbewegung jener Jahre. Nicht nur, dass man es bei den jetzt Zwanzig- bis Dreißigjährigen mit besonders vielen Menschen, mit proportional mehr Menschen als je zuvor und je danach in der deutschen Bevölkerungsgeschichte, zu tun hatte.9 Sehr viel präziser kann man feststellen, dass diejenigen, die zuletzt im Kaiserreich 1912 für die Sozialdemokratie gestimmt hatten, damals wegen des Wahlrechts mindestens 25 Jahre alt gewesen sein mussten und jetzt, 1931, also im gesetzteren Alter von mindestens 46 Jahren waren, das heißt vermutlich, verheiratet und angesessen und mit Kindern und Enkeln gesegnet, dabei gut festgelegt im Glauben an politische Ziele. Während der Weimarer Republik trat dann aber eine jeweils sehr viel größere Altersgruppe an die Wahlurnen. 1912 waren, nach einer überschlägigen Berechnung, 28 Prozent der Bevölkerung älter als 25 und bis zu 35 Jahre alt und galten damit als »junge Generation« im »wahlfähigen« Alter. Tatsächlich waren es natürlich wegen des Männerwahlrechts nur rund 14 Prozent, die überdies zumeist, was Ollenhauer vergleichend bemerkte, soeben – und anders als in der Nachkriegszeit – ihren Militärdienst abgeschlossen hatten. Es handelte sich um weniger als 4 Mio. Menschen und rund ein Viertel der Wahlberechtigten. 1930 machten die Wahlberechtigten im Alter zwischen 21 und 35 Jahren trotz Kriegsverlusten unter den Älteren dieser Alterskohorte nicht weniger als 38 Prozent der Wahlberechtigten insgesamt aus. Das waren jetzt aber mehr als 16 Mio. Menschen, zur Hälfte Frauen, zur anderen Hälfte junge Kriegsteilnehmer und »Ungediente«, wohl etwa zu gleichen Teilen. Die Zahl der wahlberechtigten Jungwähler hatte sich mehr als vervierfacht. Das Jugendproblem war also, das zeigt diese knappe Schätzung,10 wegen der demografischen Entwicklung, der Herabsetzung des Wahlalters und der Erweiterung des Wahlrechts auf die Frauen ungleich politischer als je zuvor geworden. »Zum ersten Mal«, so Ollenhauer, »stößt eine junge Generation in voller Breite in die Politik hinein«, eine durchaus richtige Beobachtung. Deshalb gab es gute Gründe, nach den Ursachen dafür zu fragen, weshalb der Sozialdemokratie die Jugend davongelaufen war oder warum sie schlicht wegblieb. Ollenhauer notierte nur noch 80.000 Parteimitglieder unter 25 Jahren, das waren rund 1,5 Prozent dieser Altersgruppe, und da war es etwas tröstlich, 9 Vgl. in diesem Bd. S. 230 ff. 10 Auf der Grundlage der Volkszählungsangaben 1911/1934 und der Wahlen 1912/1930, Daten in: Hohorst, Gerhard u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, München 1975, S. 23; Ritter, Gerhard A. u. Niehuss, Merith, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 42; Falter, Jürgen u. a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S. 72. Der Beitrag von Winkler, Jürgen, Die soziale Basis der sozialistischen Parteien in Deutschland. Vom Ende des Kaiserreichs bis zur Mitte der Weimarer Republik 1912–1924, in: AfS, Jg. 29, 1989, S. 137–171, behandelt leider nur die Wahlergebnisse und betont besonders regionale Unterschiede.

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dass bei den 25- bis 35-jährigen wenigstens noch 2,2 Prozent Parteimitglieder waren.11 Kein Zweifel aber herrschte am rückläufigen Trend, der darin gespiegelt war, und die Reflektion hierüber machte den zweiten wichtigen Punkt der Ollenhauer-Rede aus. Tatsache war für ihn, dass diejenige Jugend, die »zum Sozialismus« tendierte, »sich viel eher zum Nationalsozialismus und Kommunismus« bekenne »als zur Sozialdemokratie«. Das sei schon eine besondere, eine Krisenjugend, mit der man es zu tun habe, eine Jugend, die wie niemals zuvor in einen »ununterbrochenen Kampf um das Dasein« getrieben worden war: Weltkrieg, Revolution, Inflation und bittere Daseinsnot, Rationalisierung und Arbeitslosigkeit, dann jetzt die Weltwirtschaftskrise. Der bürgerlichen Jugend sei gar »in einem Jahrzehnt eine ganze Welt von Vorstellungen zusammen gebrochen«: »Die Erschütterung dieser Jugend ist so groß, dass sie einen Ausgleich nur im schärfsten Radikalismus findet«,12 »diese Rebellion der Jugend richtet sich gegen alles«, sie habe ihre Wurzeln »nicht in der Einsicht, sondern im Gefühl«, ihr bleibe der Glaube an Radikalismen als »letzter Halt«. Da möge man, als Sozialdemokrat, lieber gleich »ganz ehrlich« sein, belehrte Ollenhauer den Parteitag: »Der Sozialismus, wie er durch die Sozialdemokratie politisch verkörpert wird, kann diese Sprache der Jugend nicht sprechen.« Er sah, 1931, ein Menetekel voraus: Entweder gelinge es, die »Machtergreifung«, er benutzte dieses Wort, der Kommunisten wie der Nationalsozialisten zu verhindern, oder jene Radikalen führten »uns in ein Chaos, das der Jugend neues Elend bringt«, und dies sei die schwerste Schuld, die zumal der Nationalsozialismus auf sich lade. Der von den Historikern häufig wohl unterschätzte Ollenhauer13 interpretierte in ganz angemessener Weise den wohl schwersten Bruch in ihren generationellen Erfahrungen  – im Sinne eines politisch brisanten Widerspruchs zwischen eigenem Anspruch und organisatorischer Wirklichkeit  –, den die deutsche Arbeiterbewegung je zu bewältigen hatte. In der Diskussion des Referats betonte Löwenstein, man stehe in der Partei »immer wieder mit ungehemmter Bewunderung vor der organisatorischen Treue und unüberwind­ lichen Hingabe des Stammes unserer alten Parteigenossen.« »Diese Hingabe und diese Treue« leiteten sich von der früheren »gesellschaftlichen wie politischen Ab- und Ausgeschlossenheit der Sozialdemokratischen Partei und der 11 Die Angaben beruhten offenkundig auf einer Erhebung des Parteivorstandes im Jahre 1930; vgl. die Daten bei Klenke, S. 600–602 sowie die Diskussion ebd., S. 324–328; ferner Lösche, Peter u. Walter, Franz, Die SPD: Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S. 14–17. 12 Zu den damit angesprochen, sehr konträren schichtspezifischen Weltkriegs-, Revolutionsund Inflationserfahrungen vgl. Tenfelde, Klaus, 1914 bis 1990: Die Einheit der Epoche, in: APuZ, H. 10/91, 27.9.91, S. 3–11. 13 Vgl. in der Biografie von Seebacher-Brandt bereits das Vorwort von Ernst Nolte, S.  8; im Text schon einleitend, ebd., S. 11 – man gewinnt den Eindruck, dass ein Anderer die Kalamität der Partei besser zu lösen imstande gewesen wäre.

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Arbeiterklasse« her. Heute aber wirke man »an und in der bürgerlichen Gesellschaft. […] Wir kommen daher nicht mehr aus mit der Substanz aus der Heroen­zeit unserer sozialistischen Vergangenheit. Wir brauchen Elastizität, produktive Dynamik in unserem Kampf um das Endziel«, von dem also auch er, wie alle Redner zu Ollenhauers Referat, nicht lassen mochte. Kurt Löwenstein (1885–1939) war sozialistischer Erziehungstheoretiker und Begründer der Kinderfreundebewegung, deren Erfolge auch der Leipziger Parteitag beifällig zur Kenntnis nahm. Seit 1928 fanden, unter zahlreicher Teilnahme, wiederholt sogenannte Kinder-Republiken statt, in denen Lagerromantik und sozialistische Erziehung zu einem republikanischen Konstrukt amalgamierten.14 Es wird Nostalgiker verstören, wenn man immerhin die Annahme erwägt, dass die Kinder-Republiken die merkwürdigste Milieugeburt der Sozialdemokratie waren. Die Märtyrer- und Heroenzeit, die Löwenstein beschwor, kam auf dem Parteitag später noch zu Wort. Wilhelm Bock, als einer der Ältesten von den Delegierten »stürmisch begrüßt«, dankte für diese Anerkennung, indem er seinen Bericht als Leiter der Kontrollkommission mit der Anrede »liebwerte Genossinnen und Genossen!« begann.15

3. Milieu und Generationen Die von Ollenhauer wie von Löwenstein gemeinte sozialistische Erziehung war demnach noch keine Erziehung zur Freiheit der Andersdenkenden, als welche sie nicht hätte Parteiaufgabe sein müssen. Das inbrünstige Ziel, der Sozialismus, blieb, nur dass es seit 1918 auf dem demokratischen Weg erreicht werden sollte. Und es blieb – und wurde nach 1918 sogar möglichst ausgebaut – der Zugriff der Bewegung auf den ganzen Menschen, der lebensabschnittsweise mit je passenden Organisationen zu bedienen war.16 Es kann hier vernachlässigt 14 Bes. hilfreich: Eppe, Heinrich, Datenchronik der deutschen Kinderfreundebewegung 1919– 1939, Oer-Erkenschwick 20002 (Archiv der Arbeiterjugendbewegung); neben versch., in Broschürenform erschienenen Vorträgen des Bearb. dieser Chronik s. auch Brandecker, Ferdinand u. a., Klassiker der sozialistischen Erziehung. Kurt Löwenstein […], Bonn 1989, bes. S.  15 ff. zu Löwenstein. Regional u. a.: Wetzorke, Friederike, Die Braunschweiger Kinderfreundebewegung 1924–1930, Frankfurt a. M. 1992; i. allg.: Heinemann, Manfred (Hg.), Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1976. 15 Parteitag Leipzig, S. 255. 16 Über den sachlich nicht zu bezweifelnden »Massenerfolg« übrigens nicht nur der sozialdemokratischen Milieuorganisationen, sondern auch der Jugend-, Freizeit- und Kulturorganisationen anderer Träger in der Weimarer Zeit hat es eine Forschungskontroverse gegeben, die hier nicht dokumentiert werden soll; vgl. bes. die Ergebnisse des einschlägigen Forschungsprojekts von Peter Lösche und Franz Walter u. a., Sozialistische Akademikerund Intellektuellenorganisationen in der Weimarer Republik, Bonn 1990; ders. u. a., Sozialistische Gesundheits- und Lebensreformverbände, Bonn 1991; Klenke, Dietmar u. a., Ar-

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werden, dass die Parteitagsdebatte in Leipzig selbstverständlich als eine aus unterschiedlichen generationellen Erfahrungen gespeiste Auseinandersetzung mit den Jungsozialisten und  – in Kontinuität zum Magdeburger Parteitag 1929  – im Zusammenhang einer umfassenderen Strategiedebatte gelesen werden muss und in der Forschung gelesen worden ist.17 Selbst wenn man, wie Löwenstein, Zweifel an der Tragfähigkeit der alten Orientierungen äußerte, hielt man vielleicht um so entschlossener fest am sozialistischen Erziehungsziel und am ganzen sozialistischen Menschen. Wir reden über einen in jener Zeit noch schier unauflöslichen Zusammenhang, denjenigen von Milieu und Generation. An dieser Stelle sei in der Absicht einer knappen Besinnung auf die Begriffe eingehalten. Ich habe mich bisher den älteren generationellen Erfahrungen in der deutschen Arbeiterbewegung von deren vorläufigem Ende her genähert, und das ist durchaus in Kenntnis der inzwischen zahlreichen generationellen Deutungen der auf den Zusammenbruch von 1945 folgenden Nachkriegsgeschichte der Sozialdemokratie, weniger der Gewerkschaften, geschehen, von Deutungen also, wie sie von Everhard Holtmann und anderen überzeugend vorgetragen worden sind.18 Denn bis 1933 waren Milieu- und Generationsbildung in der Arbeiterbewegung beinahe untrennbar verschmolzen. Das Milieu hegte die Generationen ein; in ihm focht man Konfliktlagen zwischen den Generationen intern aus. Aber solche Konfliktlagen waren auch bereits Ausdruck allgemeinen gesellschaftlichen Wandels, so im Aufstieg der Jugendbewegungen vor 1914. In nur 14 Weimarer Republikjahren, von denen mindestens die ersten fünf und die letzten drei unter dem Eindruck schwerster politischer und wirtschaftlicher Krisen standen, beitersänger und Volksbühnen in der Weimarer Republik, Bonn 1992; vgl. außerdem in diesem Bd. S. 364 ff. Unsere Löwenstein-Zitate sollen deutlich machen, dass dieser Erfolg ganz wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich auf der nachfolgend besprochenen Milieu­ bindung beruhte, die aus der Disposition der politischen Arbeiterbewegung im Kaiserreich herrührte. 17 Hierzu, die Ergebnisse seiner Diss. zusammenfassend, Lüpke, Reinhard, Zwischen Jugendbewegung und Linksopposition. Die Jungsozialisten in der Weimarer Republik 1919–1931, in: Wolfgang R. Krabbe (Hg.), Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 72–86; als ausführlichere Regionalstudie etwa: »…die treiben es ja auch zu weit«. 75 Jahre Kölner Jusos  – Ein Sammelband, hg. v. d. Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD, Unterbezirk Köln, Dortmund 1996, bes. S. 27; ferner Walter, Franz, Jugend in der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft. Eine organisationssoziologische Studie über die Sozialistische Arbeiterjugend Deutschlands, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 23, 1987, S. 309–376; Überblick: Domansky, Elisabeth u. Heinemann, Ulrich, Jugend als Generationserfahrung: Das Beispiel der Weimarer Republik, in: Sozialwissenschaftliche Informationen, Jg.  13, 1984, S. 14–21; zu den weiteren Zusammenhängen s. die Hinweise oben Anm. 5. 18 Holtmann, Everhard, Die neuen Lassalleaner. SPD und HJ-Generation nach 1945, in: Martin Broszat (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, München 1988, S. 169–210; vgl. u. a. Fichter, Tilman, Die SPD und die Nation. Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit, Berlin 1993.

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konnte die überfällige, im Kaiserreich stark verzögerte Öffnung der Arbeiterbewegung in die Gesellschaft nicht gelingen. Während sich etwa im Freizeitverhalten der Jüngeren die pluralen Orientierungen einer demokratischen Gesellschaft längst abzeichneten, blieb für die Sozialdemokratie der Milieukontext dominant. Es war dann vor allem die Erfahrung der Diktatur, die den Zusammenhang von Milieu und Generation wenn nicht gleich aufgelöst, so doch zutiefst er­schüttert hat. Wir können deshalb überzeugend nur bis 1933 von Bewegungs-, Gewerkschafts- oder Parteigenerationen sprechen. Seit 1945 hat die allgemeine gesellschaftliche Generationsbildung die generationelle Formkraft der Arbeiterbewegung mit dem vorläufigen Höhepunkt 1968 Schritt für Schritt und dann rapide überwuchert. Es sind demnach vor allem zwei historische Generationen, die wir in den Blick zu nehmen hätten: die Helden und ihre Kinder, die ohnmächtigen Sieger über Bismarck und die auf der Woge des Erfolges operierenden Pragmatiker. Beide Generationen hatte Bismarck, hatte das konstitutionelle Kaiserreich und hatten dessen gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen in einem Milieu verschmiedet, das vor 1933 seine Kinder noch nicht entlassen mochte. Das bezeichnet die umfassendere Deutung der Parteiund Bewegungsgenerationen; einer feineren Gliederung werde ich mich noch zuwenden. Beide Begriffe, Milieu und Generation, haben in den letzten beiden Jahrzehnten eine merkwürdige Forschungskarriere erlebt, die hier nicht annähernd entfaltet werden kann. Zur Kenntnis nehmend, dass der von M. R. Lepsius geprägte Milieubegriff jüngst sogar für linke »Zeitschriften- und Intellektuellenmilieus« bemüht wird,19 bin ich versucht, mich gegen Geister zu wehren, die heraufzubeschwören ich selbst beteiligt war. Das trifft auch für liberale und konservative Milieus zu, wie sie bei Lepsius immerhin angelegt sind; man muss sie, wie Frank Bösch das jüngst für die Konservativen getan hat, 1918 beginnen lassen, um Kontexte überzeugend zu deuten.20 Die beiden großen historischen Milieus, das katholische und das sozial­ demokratische, sollten von modernen Milieubildungen, wie Sozialwissenschaftler sie untersuchen, unterschieden bleiben. Wir finden diese großen histo­rischen Milieus in konstitutionell verfassten Übergangsgesellschaften als Wert- und Deutungsgemeinschaften großer Minderheiten, die wegen einer nicht oder nicht hinreichend auf Integration abgestellten Innen- und Gesellschaftspolitik ausgegrenzt und auf sich allein verwiesen werden. Milieubildend 19 Grunewald, Michel u. Bock, Hans Manfred, Zeitschriften als Spiegel intellektueller Milieus. Vorbemerkungen zur Analyse eines ungeklärten Verhältnisses, in: dies. (Hg.), Le Milieu intellectuel de gauche en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960), Bern 2002, S. ­21–32, 22. 20 Bösch, Frank, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ostund westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen 2002, S. 35, zu einer wägenden Diskussion des Begriffs ebd., S. 13–16.

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wirkten der Katholizismus in mehrkonfessionellen Gesellschaften, soweit er ausgegrenzt, und die Sozialdemokratie in industrialisierenden Gesellschaften, soweit sie unterdrückt wurde. Kulturkampf und Sozialistengesetz schufen Märtyrer und Helden und zementierten die Ausgrenzungserfahrung. In dieser neigten die Milieuzugehörigen zu ständischer Vergesellschaftung in nachständischer Zeit, wozu andere soziale Merkmale, Klassenbildung und Wohnweisen, die gesamte Lebenslage, etwa die Vorenthaltung der Teilnahme an Bildung als Aufstiegsschleuse, und vor allem die organisatorische Durchwurzelung maßgeblich beitrugen. Es war diese Durchwurzelung in einem Geflecht von Vereinen, welche vor allem im sozialdemokratischen Milieu als Arbeiterkulturbewegung eine Fülle älterer Teilmilieus – territorial-regionale, kleinstädtische Herkünfte und solche aus den Quartieren der entstehenden Großstädte, Zunfttraditionen und andere handwerkliche Sonderungen, alte und neuere Berufsmilieus wie die Bergarbeiter und die Metallarbeiter – in sich aufzusaugen, diese in gewissem Umfang zu vereinheitlichen vermochte. Das war ein faszinierender Prozess, über den wir durch Thomas Welskopp bestens informiert sind,21 ein Prozess, der über vier Jahrzehnte zwischen der Revolution von 1848/49 und dem Auslaufen des Sozialistengesetzes 1890 in letzterem einen markanten Höhepunkt fand. Gesellschaftliche und politische Ausgrenzung als äußere sowie organisatorische Durchwurzelung als innere Bedingung formten das künftige Klassenmilieu in mancher Hinsicht bereits zu einem Zeitpunkt, als diejenigen, die es füllen sollten, nämlich die Massen an Lohnarbeitern, noch nicht recht vorhanden und um so weniger ihrer Rolle gewiss waren. Die Ausgrenzungserfahrung wuchs über Jahrzehnte und verschwand nicht nach den Ausnahmegesetzgebungen. Sie hielt über zwei Generationen an und vererbte sich deshalb. Die Milieus proliferierten in die zweiten und dritten Generationen, sie wirkten als generalisierte außerfamiliäre Sozialisationsagenturen. Wilhelm Liebknecht hatte schon anlässlich der Reichstagsdebatte über die  – dann gescheiterte  – letzte Verlängerung des Sozialistengesetzes betont, welche außerordentliche Rolle das Ausnahmerecht für die Partei und ihr Milieu hatte und weiterhin haben würde: Es sei eine »gute Schule« gewesen, habe »Helden gebildet«, »Märtyrer« gar, »die das Proletariat verehrt, voll ebenbürtig den größten Helden«.22 Nicht allein die Erfahrungen der Klassenbildung also, stärker vielleicht die politische Erfahrung der Ausgrenzung verschmiedete das Milieu. Diese – im Falle der Sozialdemokratie, und bei allen insoweit anzubringenden Differenzierungen – doch bis 1914 und schon deshalb über 1918 hinaus ganz 21 Welskopp, Thomas, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, etwa S. 49; vgl. ferner, auch zur kritischen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen von Welskopp, Offermann, Toni, Die erste deutsche Arbeiterpartei. Materialien zur Organisation, Verbreitung und Sozialstruktur von ADAV und LADAV 1863–1871, Bonn 2002. 22 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, VII./V. Session 1889/90, Bd. 1, Rede Liebknechts S. 128 ff. (5.11.1889).

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klassenspezifische, politisch überwölbte und eingehegte Sozialisation verbindet den Milieu- mit dem Generationenbegriff.23 Mit Sozialisation und Generation wurde und wird in der modernen Geschichtswissenschaft immer schon allseitig operiert, ohne dass dies immer zum Ausdruck käme. Eine Biografie kann man nicht schreiben, ohne mehr oder weniger nachgewiesene Prägungen durch familiäre und gesellschaftliche Einflüsse in einem bestimmten, gleichsam aufnahme- und anpassungswilligen Alter zu unterstellen. Beweise gibt es dafür nicht, denn Menschen sind so frei, sich auch gegen ihre Herkunft zu stellen, aber es gibt die Denkfigur der Plausibi­lität. Und so sei auch gleich bemerkt, dass gegen alle Argumentationen mit dem Generationenbegriff probate Gegenbeispiele reichlich verfügbar sind. Abgesehen von einer begriffsbedingten Unschärfe entziehen sich der Mensch und seine Kollektive solcher Klassifikation, wie andererseits gerade solche Klassifikationen gerade für das 20. Jahrhundert sonst schwer zu deutende Zusammenhänge plausibel machen. Unübersehbar stand etwa die hier geschilderte Jugend-Diskussion von 1931 am Ende eines breiten Jugend-Diskurses. Dieser fand international statt, wies aber starke nationale Prägungen zumal in demografischen Zusammenhängen auf. Er begann Ende des 19. Jahrhunderts, als »die Jugend«, wie gesagt worden ist, »entdeckt« wurde.24 Für Italien hat zum Thema Maurizio Degl’Innocenti ein Buch mit dem einschlägigen Titel »L’epoca giovane. Generazioni, fascismo e antifascismo« veröffentlicht.25 Die deutsche Jugendforschung hat sich des Generationenbegriffs immer bedient und diesen etwa mit den Untersuchungen von Jürgen Reulecke auch vorsichtig differenziert.26 Die  – allseits anerkanntermaßen –»klassische«, wenn auch bei weitem nicht die erste – da könnte man etwa bis Schleiermacher zurückgreifen – systematische Formulierung des Generationenbegriffs stammt bekanntlich von Karl Mannheim und wurde 1928

23 Vgl. Tenfelde, Historische Milieus, in diesem Bd. S. 343–363; ders., Milieus, politische Sozialisation und Generationenkonflikte im 20. Jahrhundert, Bonn 1998. 24 Gillis, John R., Youth and History. Tradition and Change in European Age Relations 1770-Present, New York 1974, S. 95 ff.: »Discovery of Adolscence« (Dt.: Geschichte der Jugend, Weinheim/Basel 1980). 25 Manduria 2002. 26 Etwa: Reulecke, Jürgen, Neuer Mensch und neue Männlichkeit. Die »junge Generation« im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, München 2002, S. 109–138; s. ders. (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003. Vgl. aus einer Fülle weiterer Literatur etwa den o. zit. Aufsatz von Domansky u. Heinemann sowie Mommsen, Hans, Generationskonflikt und Jugendrevolte in der Weimarer Republik, in: Thomas Koebner u. a. (Hg.), »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 50–67; bes. Peukert, Detlev, Alltagsleben und Generationserfahrungen von Jugendlichen in der Zwischenkriegszeit, in Dieter Dowe (Hg.), Jugendprotest und Generationenkonflikt in Europa im 20.  Jahrhundert. Deutschland, England, Frankreich und Italien im Vergleich, Bonn 1986, S. 139–150, sowie eine Reihe weiterer Beiträge in diesen Sammelbänden.

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erstmals veröffentlicht, in einer Zeit also, in der konträre generationelle Erfahrungen soeben politisch hochvirulent wurden.27 Mannheim unterschied die »Generationslagerung«, in der benachbarte Geburtsjahrgänge Gemeinsamkeiten ihrer Lebens- als Erfahrungswelt individuieren und zu einander ähnlichem Verhalten aktivieren, von dem »Generationszusammenhang«, der aus der gemeinsam prägenden Erfahrung gesellschaftlicher und politischer Großereignisse resultiert.28 Im letzteren Sinn sprach man von der Generation der Befreiungskriege, der Reichsgründungsgeneration, der Weltkriegsgeneration und wird künftig von der deutsch-deutschen Vereinigungsgeneration sprechen. In solchen Generationszusammenhängen verdichten sich gemeinsame Erfahrungen auch organisatorisch in von Mannheim so genannten »Generationseinheiten«, die, wie etwa die weitere politikwissenschaftliche Forschung gezeigt hat, dieselbe generationsprägende Grunderfahrung in höchst konträren politischen Optionen realisieren können.29 Eben dies ist in der historischen Jugendforschung und in der historischen Pädago­gik im Allgemeinen sowie darüber hinaus vor allem in der Forschung zum Nationalsozialismus breit dokumentiert worden. Aus der Sicht jüngster Ergebnisse einer sich mehr und mehr der Problematik der Sozialisation von NSEliten zuwendenden Forschung wird die scharfe Spaltung der Sozialisationserfahrungen und -wirkungen in jener Alterskohorte der etwa zwischen 1890 und 1905 in Deutschland Geborenen immer deutlicher. Das war seit längerem für die Gauleiter und anderes Führungspersonal, die »Goldfasanen« der »Bewegung«, bekannt; es wurde durch Studien über die SA und über das Führungspersonal im Reichssicherheitshauptamt oder durch biografische Untersuchungen bestätigt. Immer kreist die Debatte um jene  – gedient oder eben »nicht mehr« gedient habende  – »Kriegsjugendgeneration«, die auch als »Genera27 Mannheim, Karl, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, Jg.  7, 1928, S.  157 ff., ND: Wolff, K. H.  (Hg.), Wissenssoziologie, Neuwied 19702, S. 509–565; vgl. Herrmann, Ulrich, Das Konzept der »Generation«. Ein Forschungs- und Erklärungsansatz für die Erziehungs- und Bildungssoziologie und die Historische Sozialisationsforschung, überarb. Fassung in ders. (Hg.), Jugendpolitik in der Nachkriegszeit, München 1993, S. 99–117; die Ansätze vor allem der historischen Pädagogik bzw. historischen Bildungsforschung und der Geschichtswissenschaft wägend: Rohlfes, Joachim, Generation: eine gehaltvolle historische Kategorie?, in: Angela Schwarz (Hg.), Politische ­Sozialisation und Geschichte. FS für Rolf Schörken zum 65. Geburtstag, Hagen 1993, S. 19– 35; ferner: Rosemann, Marc (Hg.), Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany 1770–1968, Cambridge 1995, bes. Einl. d. Hg. als Beispiel der Hinwendung der Debatte zum leider sozialgeschichtlich noch viel weniger fassbaren Identitätsbegriff s. Schulz, Andreas, Individuum und Generation – Identitätsbildung im 19. und 20. Jahrhundert, in: GWU, Jg. 52, 2001, S. 406–414; als sozial- und politikwissenschaftliche Einführung: Lüscher, Kurt u. Liegle, Ludwig, Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft, Konstanz 2003. 28 Roseman (Hg.), Generations in Conflict, Einleitung, S. 7, vergleicht die beiden Begriffe mit der Marxschen Unterscheidung der Klasse »an sich« und »für sich«. 29 Vgl. Herrmann, Konzept der »Generation«, S. 107.

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tion des Unbedingten« apostrophiert worden ist;30 zu ihr zählte etwa auch Leni Riefen­stahl, die ein informierter Feuilletonist anlässlich ihres 100-jährigen Geburtstages als Angehörige einer »Generation ohne Halt und Haltung« apostrophiert hat.31 Baldur von Schirach verkündete 1935, man stehe nun zusammen als »ein Volk, das kein Generationsproblem mehr kennt«.32 Ein solches Volk gab und gibt es nicht, und solcher chimärischer Glaube signalisiert einmal mehr die Bedeutung des Problems für die deutsche Sozial­ geschichte des gesamten 20.  Jahrhunderts. Deutschland sei, hat etwa Karl Otto Hondrich betont, »das Land der Legitimationsbrüche«,33 und daraus sind längst, etwa zur Untersuchung der fragmentierten politischen Lager in der Weimarer Republik, forschungsstrategische Konsequenzen gezogen worden.34 Denn eine Generationslagerung und ein Generationszusammenhang folgen zwingend aus Sozialisationen, also solchen Vermittlungen durch Sozialisationsagenturen, die kollektive Orientierungen erst ermöglichen. Das 20.  Jahrhundert war das Jahrhundert der Sozialisationskrisen. Die rasche Abfolge sehr unterschiedlicher politischer Sozialisationseinflüsse veranlasste und befähigte die Menschen zu mehrfach grotesk gegensätzlichen politischen Optionen. Milieuund Generationengeschichte ist deshalb vor allem Sozialisationsgeschichte.35

30 Vgl. Reichardt, Sven, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italie­ nischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002, S. 254 ff. Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 19963; Wildt, Michael, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, bes. S. 24–27. 31 Weidermann, Volker, Jahrgang Riefenstahl, in: Frankfurter Allg. Sonntagszeitung 33/ 18.8.02, S. 20. 32 Zit. n. Reulecke, Neuer Mensch, S. 133. 33 Hondrich, Karl Otto, Katalysator Katastrophe. Betrachtungen über den Generationenkonflikt, in: FAZ 295/19.12.2002, S. 295. 34 S. etwa Lehnert, Detlef u. Megerle, Klaus (Hg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1990. Als vermutlich erster hat Peukert, Detlef, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, in systematischer Absicht die Generationsbildungen in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Sinne von Sozialisationsbrüchen auf die politische Geschichte bezogen. S. auch Reulecke, Jürgen, Generationen und Biographien im 20. Jahrhundert, in: Bernhard Strauß u. Michael Geyer (Hg.), Psychotherapie in Zeiten der Veränderung. Historische, kulturelle und gesellschaftliche Hintergründe einer Profession, Wiesbaden 2000, S. 26–40. 35 Vgl. Gestrich, Andreas, Vergesellschaftungen von Menschen. Einführung in die Historische Sozialisationsforschung, Tübingen 1999. Diese an sich verdienstvolle »Einführung« verzichtet auf eine systematische Erörterung nachfamilialer, nachschulischer Sozialisationsinstanzen, behandelt nicht die Verdichtung kollektiver Sozialisationserfahrungen in Generationslagen und -zusammenhängen und berührt auch nicht das Feld der politischen Sozialisationsforschung.

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4. Drei Pioniergenerationen Systematisch lassen sich mindestens vier Ebenen unterscheiden, auf denen der Einfluss kennzeichnender Sozialisationen in der Generationslagerung von Arbeitern und Arbeiterbewegungen untersucht werden könnte: die Arbeiter selbst, die Mitgliedschaften von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, die über die Mitgliedschaften hinausreichenden Anhänger der Arbeiterbewegungen sowie deren wie immer eingrenzbare Führungsgruppen. Nicht ganz am Rande sei bemerkt, dass sich nähere Untersuchungen nicht auf die sozialdemokratischen Arbeiterbewegungen beschränken dürften, denn die Annahme sehr unterschiedlicher Sozialisationen vor allem in der christlichen Gewerkschaftsbewegung, aber auch etwa im evangelischen Arbeitervereinswesen oder gar bei den »Wirtschaftsfriedlichen« ist gleichsam »mileutheoretisch« nach den bisherigen Ausführungen gut begründet. Dabei liegt auf der Hand, dass je nach Untersuchungsebene sehr unterschiedliche Quellenprobleme zu gewärtigen sind. Im Folgenden sollen knappe Bemerkungen zur Arbeitergeschichte vorangestellt werden. Abgesehen vom oben bereits Gesagten, wird die Generationslagerung der in Wahlergebnissen dokumentierten Anhängerschaften beiseite gelassen; etwas ausführlicher soll es um Mitgliedschaften und Führungsgruppen gehen. Untersuchungen über Lebenserwartung und Lebenszyklus von Arbeiterinnen und Arbeitern liegen längst vor, aber soweit zu sehen, geht es darin nicht um Generationsbildungen; selbst in »Arbeitermemoiren« findet man Reflektionen über die je eigene allgemeine oder »bewegungsbezogene« Generationszugehörigkeit in der Regel nicht.36 Mit Blick auf die Organisationsfähigkeit verschiedener Arbeitergenerationen hat die Forschung zwei miteinander verwandte und wohl am ehesten empirisch nachweisbare Annahmen entwickelt bzw. begründet erscheinen lassen. Hartmut Zwahr hat, erstens, in seiner Geschichte des Leipziger Proletariats die »geborenen«, also in vergleichsweise homogenen, proletarisierten Verhältnissen aufgewachsenen und sozialisierten Arbeiter als Kern der frühen Arbeiterorganisationen ausgemacht.37 Außerdem  – und damit durchaus im Einklang – kann man, zweitens, für die großen Industriestädte und schwerindustriellen Ballungsregionen einigermaßen dicht belegen, dass 36 Vgl. Ritter, Gerhard A. u. Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 647 f. u. passim. 37 Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse: Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin [DDR] 1978, ND München 1981; weiterhin halte ich zwei Aufsätze Zwahrs für besonders wichtig: Die Entwicklung proletarischer Gemeinschaftsbeziehungen im Prozess der sozialen Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse, in: JbG, Jg. 13, 1975, S. 203–241; Die deutsche Arbeiterbewegung im Länderund Territorienvergleich 1875, in: GG, Jg. 13, 1987, S. 448–507. Zur Kritik s. bes. Welskopp, S. 219 u.ö.; W. betont demgegenüber anhand seiner Studien zur »Aktivmitgliedschaft« stärker die handwerkstypische zeitgenössische »Aufstiegs-, Sackgassen- und Degradierungs­ erfahrung« (S. 218) als Organisationsmotiv.

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Zuwanderer ländlich-agrarischer und gar fremdethnischer Herkunft nur ausnahmsweise in dem Umfang integrierbar waren, dass sie schon in der Zuwanderungsgeneration der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zugewachsen wären. Sie verblieben vielmehr zumeist in religiösen, ethnischen oder landsmannschaftlichen Vergesellschaftungen, während die Generation ihrer Kinder sich bereitwilliger organisierte, aber bereits in die Strudel jenes »unberechen­ baren Jahrzehnts« von 1914 bis 1924 gerissen wurde.38 Das ist eine für das Ruhrgebiet, aber auch für die Industrieregionen Mitteldeutschlands und Sachsens wichtige Beobachtung, aus der sich verschiedentlich auch die Schärfe inner­ organisatorischer Auseinandersetzungen erklären lässt. Mit einer so verstandenen Generationsbildung lässt sich Organisations­ fähigkeit im allgemeinen im Einzugsfeld von Bildungsvereinen, Gewerkschaften oder der sozialdemokratischen Partei(en) sozialgeschichtlich offenbar angemessener deuten, und solche Deutungen gehen mit Nachweisen über urbane Herkunft, handwerkliche Bildung und berufliche Qualifikation – oder, aus dem Gegenteil: ländliche Herkunft, geringe Bildung und mangelnde Berufsqualifikation  – einher; im Unterschied der Geschlechter differenziert sich dies weiter. Man kann ferner feststellen, dass die berufliche Mobilisierung der Menschen deutlich auch die »ihrer Köpfe« einschloss und dass also, wer in der Regel zwischen etwa 20 und 35 Jahren den Zugang zu einer sozialdemokratischen Arbeiterorganisation nicht gefunden hatte, diesen auch nicht im späteren Lebensalter realisieren würde. Das stimmt mit weiteren Annahmen über die Schlüssel­bedeutung der ersten Wahlentscheidung für alle weiteren im Lebenslauf überein. Mit all dem ist freilich noch nichts über jeweils zeittypische Generationsbildungen gesagt, über Generationslagerungen also, aus denen sich unterscheidbare Verhaltensweisen und Problemlagen in politischen Entscheidungsprozessen mit gewisser Plausibilität erkennen ließen. Insofern sind wir gehalten, uns auf diejenigen Menschen zu konzentrieren, die Welskopp als »Aktivmitgliedschaften« bezeichnet; diesem Autor ist zugleich die Milderung des Quellenproblems für diese Personengruppe jedenfalls bis 1878 zu verdanken. Umso schärfer tritt es uns verständlicherweise für die Zeit des Sozialistengesetzes, aber auch darüber hinaus mindestens bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908 entgegen. Der Mangel ist seit kurzem ebenfalls gemildert worden: Thorsten Kupfer hat das vereinsrechtlich erzwungene Fehlen genauer Mitglieder-Dokumentationen für die 1890er Jahre anhand der berüchtigten 38 Diese Annahme ist m. W. bisher (schon mangels Quellen) nicht präzisiert worden; man gewinnt sie aus der Kenntnis der Forschungsliteratur zum Ruhrgebiet, etwa zur polnischen Zuwanderung und zum Wahlverhalten (»verspätete Sozialdemokratisierung«): Kleßmann, Christoph, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978; ­Jäger, Wolfgang, Bergarbeitermilieus und Parteien im Ruhrgebiet. Zum Wahlverhalten des katholischen Bergarbeitermilieus bis 1933, München 1996; s. ferner: Hartewig, Karin, Das unberechenbare Jahrzehnt. Bergarbeiter und ihre Familien im Ruhrgebiet 1914–1924, München 1993.

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behördlichen Berichterstattungen wenigstens fallweise zu ersetzen vermocht; hilfreich sind darüber hinaus, neben den Forschungen zur Gewerkschafts­ geschichte, vor allem die biografischen Dokumentationen über die Reichstagskandidaten und -mitglieder, die Wilhelm Heinrich Schröder erarbeitet und interpretiert hat.39 Ich fasse knapp zusammen, was für die Frühzeit, bis zum Ende des Sozialistengesetzes, an Generationsbildung in der Aktivmitgliedschaft der politischen Arbeiterbewegung erkennbar ist.40 Ein Zusammenhang fällt schon seit 1863 auf, das ist die beinahe gesetzmäßige Jugendlichkeit sozialer Bewegungen überhaupt. Die Arbeiterbewegung war bis 1914, sicher im abnehmenden Maß, eine »junge« Bewegung,41 und sie sollte erneut seit 1917 einen »Verjüngungsschub« erleben; dass sich dies nach zehn weiteren Jahren jedoch änderte, gehörte ja zu den Voraussetzungen der Parteitagsdebatte von 1931. Diese relative Jugendlichkeit wird schon vor dem Hintergrund der eben festgestellten politischen Mobilisierungsfähigkeit verständlich; sie nährte sich deshalb nach dem Sozialistengesetz aus dem rhythmisch ansteigenden Mitgliederzustrom, der Entwicklung zur Massenbewegung. Das Auslaufen des Gesetzes brachte für sich einen erheblichen »Verjüngungsschub«. Dass junge Mitglieder noch »unsichere« Mitglieder sind, ist für die Wilhelminische Zeit am Beispiel der Freien Gewerkschaften detailliert nachgewiesen worden.42 Der Umstand der hohen Mitgliederfluktuation ändert nichts am generellen Befund, und sowieso waren Mehrfach-Eintritte auch bei der Sozialdemokratie üblich, zumal bei Ortswechseln. Vergleiche mit anderen Parteien erscheinen kaum möglich,43 zumal die Mitgliedschaft in ihnen oft nur in geringerem Maß formalisiert wurde und vergleichsweise, jedenfalls nach 1890, gering blieb. Mit der anhaltenden relativen Jugendlichkeit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verbinden sich einige Überlegungen. Die Situation der meisten 39 Welskopp; Kupfer, Torsten, Geheime Zirkel und Parteivereine. Die Organisation der deutschen Sozialdemokratie zwischen Sozialistengesetz und Jahrhundertwende, Essen 2003; Schröder, Wilhelm Heinz, Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichsund Landtagen 1867–1933. Biographien  – Chronik. Wahldokumentation. Ein Handbuch, Düsseldorf 1995; für die Gewerkschaften grundlegend: Schönhoven, Klaus, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914, Stuttgart 1980. 40 Vgl. Welskopp, S. 147 f., 204–228. 41 Vgl. neben Welskopp, S. 147, auch Offermann, Toni, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutschland 1850–1863, Bonn 1979, S.  543; ders., Die erste deutsche Arbeiterpartei, S.  224 f. (zu der Annahme, die SAP-Mitgliedschaft sei jünger gewesen als die des ADAV). 42 Schönhoven, S. 169 f. 43 Zum vergleichsweise straff organisierten Nationalverein in den 1860er Jahren s. Biefang, Andreas, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994, S.  105, 108: Man hielt es für die Aufgabe von Männern, die ­Geschicke des Vaterlands in die Hand zu nehmen, nicht für eine Aufgabe etwa der studentischen Jugend.

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Arbeitervereine war vermutlich bis 1878 letztlich zu prekär, um unterschied­ liche Verhaltensweisen von Altersgruppenzugehörigen überhaupt hervortreten zu lassen, und insgesamt war die Bewegung bis dahin so jung, dass selbst zwischen Mitgliedern und Führungen generationelle Spannungen jedenfalls nicht erkennbar sind. Die Zeit des Sozialistengesetzes markierte dann eine wichtige Zäsur. Der Bewegung treu Gebliebene waren danach als zunehmend »verklärte« Altgenossen zunächst einmal für Führungsaufgaben bestens qualifiziert. Schon während des Ausnahmegesetzes, seit etwa 1883, waren den Fachvereinen der Gewerkschaften, soweit diese sich bilden konnten, junge Mitglieder zugeströmt, und dieser Zustrom schwoll seit 1889 stark und hielt bis etwa 1891 an; die folgende Wirtschaftskrise ließ die Zahlen zunächst zurückgehen, aber seit 1895 wurde jedenfalls von den Freien Gewerkschaften ein bis um 1910 anhaltendes, zeitweise außerordentlich starkes Mitgliederwachstum verzeichnet. Die Kampfund Verbotszeit-Aura der Alt- als Führungsgenossen war bis 1914 jedenfalls in der Partei schwer zu erschüttern – anders wohl in den Gewerkschaften, deren wilhelminisches Führungspersonal überwiegend jünger, aber dennoch auch durch ausnahmerechtliche Kampf- und wirtschaftliche Krisenerfahrungen geprägt war. Nicht zuletzt muss man die besondere Situation einer gesellschaftspolitisch ausgegrenzten und dennoch massenhaften, wie immer jugendlichen Bewegung auch für die Zeit nach Bismarck im Auge behalten: Noch jede Differenz innerhalb der Arbeiterbewegung, sei es zwischen Gelernten und Ungelernten, Frauen und Männern oder eben zwischen Jungen und Älteren wurde durch die politische Ausgrenzungserfahrung überwölbt. Der Thronwechsel in Preußen und die Neue Ära begründeten bekanntlich am Beginn der 1860er Jahre einen Frühling der Vereinsgründungen,44 in dem personelle Kontinuität zu jenem vorherigen Frühling des Jahres 1848 trotz erkennbarer Einzelfälle wie Liebknecht oder Tölcke doch gering blieb; man könnte allenfalls von einer »Vorgeneration« der radikalen Demokraten in der Aktivmitgliedschaft sprechen. Welskopp unterscheidet zwei Pioniergenerationen, die der Bewegung in den 1860er Jahren sowie nach der Reichsgründung bis zum Erlass des Sozialistengesetzes zuströmten und die mit der Partei »alterten«. Die Generation Bebels als erste Pioniergeneration war um 1840 bis etwa 1850 geboren, der älteste war Motteler (geboren: 1838), zu ihr gehörten etwa Ignaz Auer und Singer, Pfannkuch, Dreesbach, Dietz, Blos, Mehring, aber auch noch ­Ledebour, Bernstein, Molkenbuhr. Sie war meist selbst noch, man denke an Bebel, in jugendlichem Alter, aber sie trug die Führung in der Partei, in den Gewerkschaften und – seit 1867, in nennenswertem Umfang seit 1877 bzw. 1884, im Reichstag – seit Anbeginn; sie trug auch den Form- und Zielkonflikt zwischen den beiden Gründungsflügeln, nachklingend bis in die frühen 1890er Jahre, in der Bewegung aus. Die zweite Pioniergeneration ist nach 1850 bis etwa 1865 geboren, und in ihr finden wir viele der späteren Gewerkschaftsführer – 44 S. bes. Offermann, Arbeiterbewegung, Gründungsdaten S. 515–522.

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mit einer wichtigen Ausnahme, der des schon erwähnten Wilhelm Bock (1846), der noch der Generation Bebel angehörte und der kurz nach dem Leipziger Parteitag 1931 starb. Bruhns, Schlicke, Segitz, Sachse, Adolf von Elm, Kloss und vor allem Carl Legien gehören dazu, aber auch die SPD-Politiker David, Schönlank, Lütgenau, Adolf Geck, Wurm oder Hugo Haase.45 Ihnen allen war die Reichsgründung ein Kindheits- und Jugenderlebnis gewesen, sie vor allem erlitten die schwere Wirtschaftskrise ab 1874 und die Verfolgungen mit dem Höhepunkt des Sozialistengesetzes; sie, die zum Teil noch in der Weimarer Republik führend tätig waren, trugen die Aura des Märtyrertums, die Liebknecht beschworen und Löwenstein kritisiert hatte. Die Rolle der Gewerkschafter spiegelt sich ebenfalls in der Reichsgründungsgeneration, der »Generation Ebert«, also der Gruppe derjenigen, die zwischen etwa 1865 und 1875 geboren wurden. Wissell, Severing, Sassenbach, Osterroth, Dittmann, Otto Braun und auch noch Hans Böckler gehörten dazu, ferner Gustav Bauer und Hue sowie Scheidemann und Keil, Otto Wels, Noske, Breitscheid, Hermann Müller, aber auch Lensch, Rühle, Südekum und der jüngere Liebknecht. Sie trugen als junge Neumitglieder den Aufschwung der Partei noch vor Ende des Sozialistengesetzes und am Anfang der 1890er Jahre mit, sie wuchsen seit der Jahrhundertwende in führende Funktionen und bestimmten die politische Bewegung bis 1933. Es kamen nur wenige nach, etwa Wilhelm Sollmann (geboren 1883) – und vor allem eine wichtige Gruppe von Sozialtechnologen, die über das Amt des Arbeitersekretärs, insgesamt vielleicht 200 Persönlichkeiten, schon in der Weimarer Republik in Führungsfunktionen rücken und diese teilweise noch nach 1945 wahrnehmen sollten.46 Ebert selbst gehörte übrigens als einer der ersten Arbeitersekretäre dazu. Nachdem diese Reichsgründungsgeneration im letzten Friedensjahrzehnt des Kaiserreichs und im »unberechenbaren Jahrzehnt« seit Kriegsausbruch die Führungsgruppe war, wird man die damals 40- und 50jährigen nicht leicht als eine überalterte Parteielite bezeichnen können. Aber gegen Ende der Weimarer Republik wurde sie dann in der Wahrnehmung seitens der jüngeren, seit 1917 der Bewegung zugeströmten Mitglieder genau das ziemlich rasch. Die Beitrittswelle seit etwa 1889 lässt sich wegen des bis Herbst 1890 fortgeltenden Sozialistengesetzes, der Rechtsbestimmungen über politische Vereine sowie der damit gut begründeten Abneigung der Organisationen, die Mitgliederstände zu dokumentieren, nicht hinreichend präzisieren; es blieb zunächst auch unklar, ob und in welcher Form sozialistengesetzliche Organisations­ formen, vor allem das Vertrauensmännersystem, fortbestehen sollten, und die Geheimhaltungserfordernisse ließen auch die innerparteiliche Demokratie im Sinn von Vorstands- bzw. Delegiertenwahlen jedenfalls bis zur Aufhebung des 45 Zum Alter der amtierenden Gewerkschaftsvorsitzenden im Jahre 1914 s. Schönhoven, S. 245 f. 46 Vgl. Tenfelde, Klaus, Arbeitersekretäre. Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg, ND 1996.

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Verbindungsverbots für politische Vereine (1899) eher dahinkümmern.47 Das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts war insgesamt vor allem für die Sozialdemokratie ein Jahrzehnt der organisatorischen Bereinigung, die von vielen innerparteilichen Konflikten, insbesondere solchen zwischen älteren, noch stärker handwerklich orientierten, und jüngeren, eher als Industriearbeiter zu bezeichnenden Mitgliedergruppen gekennzeichnet war. Man könnte daher fragen, ob denn etwa die Opposition der »Jungen« zu Beginn der 1890er Jahre tatsächlich aus jungen Menschen bestand, aber leider erlauben die Forschungen von Dirk H.  Müller darüber keine genaueren Hinweise48  – einiges spricht indessen dafür, wenn auch die beruflichen Schwerpunkte dieser und späterer Oppositionsgruppen bis hin zum Syndikalismus wohl stärker ausgeprägt waren als generationelle Besonderheiten. Dagegen haben sich die Anarchisten und Anarcho­syndikalisten, die ja im Allgemeinen bis 1917 ziemlich marginal blieben, mit dem Aufbau eigener Jugendorganisationen schwer getan, aus Überzeugungsgründen; man sollte also nicht zwingend »Jugend« an diesem linken Rand der klassischen Arbeiterbewegung vermuten. Der schwierige Prozess des stets auch durch die Ablösung von »Erfahrungswelten« markierten Übergangs zu moderneren, dem raschen Strukturwandel der Industriewirtschaft zumal seit den 1880er Jahren folgenden Mitgliederstrukturen verlief verständlicherweise in den Gewerkschaften schon deshalb eher konfliktarm, weil diese sich als Berufs- und nunmehr auch als Industrieverbände organisierten. Dieser Übergang dokumentierte sich im raschen Aufstieg derjenigen Gewerkschaften, die wachstumsträchtige Branchen organisierten, darunter vor allem die Metallarbeiter mit Ausnahme der Hüttenarbeiter, die Werft- und die Bergarbeiter und in gewissem Umfang die Holzarbeiter. Diese Veränderungen setzten noch während des Sozialistengesetzes ein; die organisatorischen Erfordernisse der Verbotszeit trugen dabei nicht unerheblich zu den Problemen mit den »Jungen« auch in den Gewerkschaften bei. Klassische Organisationsfelder im Umkreis der Handwerke verloren dagegen rasch an Anteilen in den Mitgliedschaften, so in den Berufsbereichen von Leder, Papier, Textil und Tabak. Deshalb ist der deutliche Organisationserfolg der Gewerk47 Hierzu bes. Kupfer, S. 15 ff., zur innerparteilichen Demokratie S. 45; die von Kupfer zusammengetragenen Daten bezeichnen m. E. für die 1890er Jahre den ersten nachhaltigen Erkenntnisfortschritt seit der frühen, weiter einschlägigen Untersuchung von Ritter, Gerhard A., Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890–1900, Berlin 19632. 48 Müller, Dirk H., Idealismus und Revolution. Zur Opposition der Jungen gegen den sozialdemokratischen Parteivorstand 1890–1994, Berlin 1975; nähere Hinweise bei Kupfer, S. 67, 90 f. – In seiner für die Forschung wichtigen Schätzung der sozialdemokratischen Mitgliederentwicklung scheint Kupfer (S. 160 ff.) aus nicht klar ersichtlichen Gründen den starken Anstieg 1889–1892 mit nachfolgendem Rückgang jeweils zu unterschätzen; einen vorübergehenden Rückgang konstatiert er erst für 1894/95, vgl. aber ebd., S. 167, 197. Die auch von den Aufsichts- bzw. Verfolgungsorganen immer wieder konstatierte relative Jugendlichkeit der Mitgliedschaften sieht K. eher skeptisch, räumt aber exemplarische Fälle ein.

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schaften gerade auch unter jungen, jedoch keineswegs unter »jugendlichen«, noch nicht 20jährigen Arbeitern bis 1914 nicht zuletzt aus den Verschiebungen der Gewichte der Branchen sowohl im Erwerbsgefüge als auch in der Verbändestruktur zu erklären.49 Nach einer überschlägigen Subsumtion der Altersangaben für sozialdemokratische Parteimitglieder in 17 dokumentierten Orten, meistens sogenannten »Hochburgen«, waren in den 1890er Jahren mehr als drei Viertel dieser Mitglieder bis zu 40 Jahre alt. Ein genauer Vergleich ist für die Mitgliedschaft in Frankfurt a. M. möglich: Hier waren 1892 mehr als 80 Prozent der Neu-Mitglieder bis zu 35 Jahre alt, und 1901 waren rund 57 Prozent aller Mitglieder in diesem Alter, der wohl vor allem im Aufschwung 1889–1892 gewonnene »Jugendberg« wuchs in der Altersstruktur des Ortsvereins hoch. In drei Berliner und einem Hamburger Wahlverein lag der Anteil der bis zu 40jährigen um die Jahrhundertwende zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der Mitgliedschaften.50 Jüngere Mitglieder waren in der Partei proportional offenbar durchweg stärker vertreten als entsprechende jüngere Altersgruppen in der jeweiligen ört­lichen Arbeiterschaft, aber hier gibt es, schon allein wegen der seit 1895 stark zunehmenden Migrationen und auch wegen der nach wie vor hohen, nicht zuletzt von ört­ lichen Umständen abhängenden Fluktuation der Mitgliedschaften, sicher auch Gegenbeispiele. Wir haben es also am Ende der Bismarckzeit mit einem hinsichtlich des Alters politisch, durch die Wiederzulassung der SPD, hinsichtlich der gewerb­ lichen Zusammensetzung strukturell induzierten, tiefgreifenden Wechsel der Mitglieder-Generationen zu tun, der gewiss oft auch mit schmerzhaften Wechseln der örtlichen, kaum wohl der regionalen und noch weniger der zentralen Führungsgruppen einherging.51 Örtlich könnten die Führungsgruppen in den 1890er Jahren weitgehend ausgewechselt worden sein; das ließe sich durch einen Vergleich der ja zahlreich vorliegenden Regionalstudien vermutlich erhärten. Außerdem war das gesamte Organisationsmilieu noch in einer Ent­faltungsphase begriffen. Die mehr oder weniger fest mit der Sozialdemokratie verbundenen Arbeiterkultur-Verbände hatten sich gleichfalls weitgehend erst nach dem Sozialistengesetz bilden können und wuchsen teilweise rascher als die sozialdemokratischen Vereine. Auch deshalb konstituierte sich im Kern des sozialdemokratischen Arbeitermilieus eine andere, die Wilhelminische Partei, und Welskopps Studien machen ja auch deutlich, dass die ältere Sozialdemokratie mehr als bisher »in eigenem Recht« und eben nicht als bloßer Vorläufer begriffen werden sollte. Um so mehr stellt sich für die Forschung die wichtige Frage nach den gleichsam ungewollt modernisierenden Folgen des Sozialistengesetzes eben nicht nur hinsichtlich der programmatischen Radikalisierung. 49 Hierzu zentral: Schönhoven, S. 68–74. 50 Nach Kupfer, S. 223–226. 51 Kupfer, ebd., S. 200–204, bringt ein vielsagendes Beispiel aus Danzig.

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Und dennoch, die Führungsgruppen der Gesamtpartei aus der Bismarckära blieben weitgehend »am Ruder«, die beiden Pioniergenerationen trugen die Partei bis 1914 sozusagen auf ihren kampferprobten Schultern. Man kann allenfalls sagen, dass die führenden Gewerkschafter der Wilhelminischen Epoche eher der Reichsgründungsgeneration angehörten – vor allem dann, wenn man auf die großen Berufs- und die noch nicht voll entfalteten Branchenverbände schaut.

5. Vorkriegszeit: Elitenwechsel in gewohnten Bahnen Zumindest die erste Pioniergeneration der Arbeiterführer näherte sich nach der Jahrhundertwende ihrer biologischen Erschöpfung, aber es ist letztlich bezeichnend, dass viele der ihr Zugehörigen bis ins hohe Alter Parteifunktionen wahrnahmen, dass ihnen hoher Respekt entgegengebracht wurde und dass – jedenfalls, solange Bebel lebte – nur selten jemand an ihren Stühlen sägte, zu sägen wagte. Dass neue Zeiten heraufzogen, war dennoch unverkennbar; es wurde spätestens durch die Gründung einer rasch in Spannungen zur Mutterpartei tretenden Jugendbewegung deutlich. Sensibler als in der Sozialdemokratie, dürften heraufziehende Generationenkonflikte in den Gewerkschaften verspürt worden sein. Hinter der seit der Jahrhundertwende aufkommenden Masse-Führer-Debatte, die in deren Rängen geführt wurde und die sich auch mit antibürokratischen Affekten verband, könnten, in vergleichsweise milden Formen, auch nachdrängende Generationen vor allem in den mitgliederstarken Verbänden gestanden haben. Allerdings war die Differenz des Durchschnittsalters zwischen Mitgliedern und Funktionären (Vorstandsmitgliedern und festbesoldeten »Gewerkschaftsbeamten«) nicht sehr groß. Eine von Klaus Schönhoven für das Frühjahr 1914 errechnete Zusammenstellung der Vorstandsmitglieder und fest angestellten sonstigen Funktionäre, mit der das Personal von immerhin 40 Verbänden in deren Zentralleitungen erfasst wurde, zeigt, dass es zu fast drei Vierteln zwischen 1860 und 1879 ge­boren war, und zwar mit kennzeichnenden Abweichungen: Vorstandsmitglieder waren älter, Redakteure deutlich jünger.52 Diese Personen waren also im letzten Friedensjahr etwa zwischen 35 und 55 Jahre alt, was schwerlich zulässt, von Überalterung zu reden, aber der Mitgliederzustrom hatte sich in den Vorkriegsjahren, einhergehend mit einer von Kautsky angestoßenen Debatte über die Erfolge der Gewerkschaften, in einer Reihe von Verbänden verlangsamt. Neue, junge Mitglieder sollten vor allem seit 1917/18 wieder in die Gewerkschaften

52 Schönhoven, S. 234; an Schönhovens Klage über den Mangel an »prosopographisch orientierten Analysen der gewerkschaftlichen Führungskader« (S. 224) hat sich bis heute nichts geändert.

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strömen, und nun mochte, auch mit den Kriegserfahrungen im Rücken, der Altersabstand viel deutlicher verspürt werden. Hingegen könnte, neben der gesellschaftlichen Ausgrenzung, auch die Entfaltung der Arbeiterkulturbewegung und überhaupt des in vielerlei Formen blühenden Milieus der politisch-gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich in der Sozialdemokratie generationelle Gegensätze überspielen ließen. Ein Blick auf die Zusammensetzung der Reichstagsfraktion nach den überaus erfolgreichen Wahlen vom 12.  Januar 1912 erlaubt hierzu – und zu anderen Gesichtspunkten – einige Rückschlüsse. Nach zuvor (1903) 81 und (1907) 41 Mandaten erlangte die SPD bei dieser für sie mit Abstand erfolgreichsten Wahl im Kaiserreich vor allem dank eines Stichwahlbündnisses nicht weniger als 110 von 397 Sitzen im Reichstag und wurde erstmals, und dies trotz einer sie immer schon benachteiligenden Wahlkreisgeometrie und anderer, hemmender Einflüsse, zur mit Abstand stärksten Fraktion.53 Die alten und neuen Mitglieder dieser Fraktion waren weit überwiegend mindestens Gewerkschaftsmitglieder, und für 46 Personen lässt sich eine besonders starke Bindung an die Freien Gewerkschaften als Vorstandsmitglied oder festangestellter Redakteur, Arbeitersekretär oder sonstiger »Gewerkschafts­ beamter« feststellen. Von 110 Abgeordneten waren 18, d. h. 16 Prozent, 60 Jahre und älter, vier sogar über 70 Jahre, allesamt also bis 1852 geboren. 31 Abgeordnete (28  Prozent) waren 50 bis 59, 50 Abgeordnete (45  Prozent) waren 40 bis 49 Jahre und nur 11 Abgeordnete jünger als 40 Jahre alt – darunter der jüngste, ein 28-Jähriger. Anders gewendet, 90 Prozent der Abgeordneten waren bis 1872 geboren, verfügten also – etwa je zur Hälfte – entweder über aktive Parteierfahrungen noch aus der Zeit vor dem Sozialistengesetz, sofern sie sich frühzeitig zur SPD bekannt hatten, oder sie hatten, als jetzt 40- bis 49jährige, den Weg zur SPD während des Sozialistengesetzes gefunden und dessen Auswirkungen am eigenen Leibe verspürt und überhaupt das Bismarckreich noch sehr bewusst erlebt, hatten am neuen Beginn der Arbeiterbewegung seit 1888/89 teilgehabt und sich im Jahrzehnt danach in dem tief gegliederten, teilweise noch sehr vertraulich gehandhabten Geflecht der Parteigliederungen, in den Gewerkschafts- und Kulturorganisationen, meistens in Mehrfachfunktionen verankert. Etliche nah53 Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer Auszählung der Liste der sozialdemokra­ tischen Reichstagsabgeordneten in Matthias, Erich u. Pikart, Eberhard (Bearb.), Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918, Düsseldorf 1966, S.  CLIII–­ CLXII. Es wurden nur die bei der Wahl bzw. Stichwahl erfolgreichen Abgeordneten, nicht hingegen die Nachrücker berücksichtigt. Vgl. bes. Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier, S.  62 ff. mit weiteren Literaturangaben; Schröder, Wilhelm Heinz (Bearb.), Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898–1918. Biographisch-statistisches Handbuch, Düsseldorf 1986, bes. Einleitung S.  30 ff.; ders., Probleme und Methoden der quantitativen Analyse von kollektiven Biographien. Das Beispiel der sozialdemokratischen Reichstagskandidaten 1898–1912, in: Heinrich Best u. Reinhard Mann (Hg.), Quantitative Methoden in der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung, Stuttgart 1977, S. 105–107.

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men auch weitere Mandate in Landtagen und Versammlungen von Stadtverordneten wahr, andere vertraten die Arbeiter in den Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungen oder als Beisitzer in den Gewerbegerichten. Die jüngsten Abgeordneten, nur 10  Prozent, dürften der Sozialdemokratie weitgehend bis zur Jahrhundertwende zugewachsen und mithin bereits über das Arbeitermilieu in diese hineinsozialisiert worden sein. Nähme man die wenigen »Intellektuellen« als »Seiteneinsteiger« aus dieser Übersicht heraus, so dürften die aus der Altersverteilung der Mandatsträger zu ziehenden Schlüsse noch deutlicher hervortreten. Es zeigt sich, dass das Führungspersonal der Gewerkschaften um 1912 durchschnittlich etwas jünger als die Mandate wahrnehmende Parteielite war, darin bestätigen sich mindestens der Tendenz nach zuvor getroffene Feststellungen. Der »Elitenwechsel« muss für 1912 in der Reichstagsfraktion eher als Ergänzung der Elite verstanden werden, denn von den 110 Abgeordneten waren nur 64 zuvor schon, teilweise langjährig, Mitglieder des Reichstags gewesen; nicht weniger als 21 von ihnen, darunter prominente Persönlichkeiten wie Blos, Bock, Haase, Herzfeld, Pfannkuch und Wurm, hatten wegen der für die SPD unter besonders schwierigen Rahmenbedingungen abgehaltenen Reichstagswahl von 1907 für fünf Jahre der Mitgliedschaft im Hohen Haus entsagen müssen, ihr Mandat also zwischenzeitlich verloren. Dass sie in ihren Wahlkreisen für 1912 erneut nominiert wurden, unterstreicht ihr Ansehen und die geringe Bedeutung irgendwie generationell gelagerter Konflikte. Denselben Schluss kann man aus der Zusammensetzung der erstmals erfolgreichen 46 Abgeordneten ziehen. Unter ihnen fand sich, das war zu erwarten, keiner im Alter von 60 und mehr Jahren, aber immerhin sieben Erst-Mandatsträger waren bereits in ihren Fünfzigern, und fast zwei Drittel der Neumitglieder gegenüber einem Drittel der Altmitglieder befand sich in den Vierzigern. Im übrigen lag des Durchschnittsalter aller SPD-Reichstagsabgeordneten zwischen 1903 und 1912 ziemlich genau bei 49 Jahren; es war vielmehr zuvor, von 1890 bis 1903, von 41,2 auf 48,4 Jahre gestiegen,54 und das war in erster Linie Folge der nun sehr ausgeprägten Wahlgewinne und des Umstands gewesen, dass sich das neue Führungspersonal eben erst konstituierte. Man wird deshalb insgesamt davon ausgehen können, dass sich auch innerhalb der Fraktion kaum altersabhängige gegenseitige Animositäten entwickeln konnten, und so lassen sich ja auch diejenigen Stimmen, die von den bald anstehenden Fundamentalentscheidungen der Fraktion seit Kriegsbeginn abweichen sollten, nicht durch Altersunterschiede erklären.55 Dass hingegen bei der Kandidatenaufstellung in den Wahl54 Nach Enghausen, Frank, Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion im Wilhelminischen Kaiserreich, in: Klaus Schönoven u. Bernd Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 149 f., 161. 55 Es fällt auf, dass unter den USPD-Abgeordneten die Gruppe der ältesten, über 65-jährigen besonders stark vertreten war. Im allg. s. Miller, Susanne, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974, S. 169–177.

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kreisen und Ortsvereinen gelegentlich das Alter der Kandidaten zumal dann eine Rolle spielte, wenn sich darin und dahinter sonstwie gewünschte Veränderungen verstecken ließen, gehört zu den Selbstverständlichkeiten im Prozess der Eliten-Auslese.56

6. Neue Jugend und Konflikte Entscheidend blieb offenkundig bis zum Kriegsausbruch, dass die beiden Pionier­generationen sich als erfolgreiche Schöpfer einer weltweit vorbildlichen Massenorganisation des Proletariats verstehen konnten und als solche auch anerkannt wurden. Man kann deshalb auch verstehen, dass gerade diese weiterhin wortführenden Persönlichkeiten im August 1914 vor allem um das Erreichte fürchteten und im Burgfrieden endlich Anerkennung und Mitgestaltung erhofften. Dass sich im sozialen Umfeld der Arbeiterbewegungen auch anderes bereits abzeichnete, dass eine selbstbewusste Großstadtjugend der Partei zuwachsen und künftig eigene Bedarfe anmelden würde, war dennoch schon zu erkennen. Sicher hielt mit der sich seit 1904 in Berlin und in Mannheim formierenden Arbeiterjugendbewegung der Generationenkonflikt bereits Einzug in die Ränge der Arbeiterbewegung – freilich in einstweilen domestizier­baren Formen.57 So kann man Karl Liebknecht und die Arbeiterjugendbewegung fraglos, die mühsam gedeckelte Debatte über Massenstreik, Revisionismus, Reformismus und Zentrismus jedoch nur mit großen Vorbehalten auch generationell lesen. Andererseits: Als nach dem Tode Singers 1911 Hermann Molkenbuhr sehr ernstlich als Parteivorsitzender  – neben Bebel  – gehandelt wurde, agitierten und intrigierten selbst die beiden prominenten Damen des linken Parteiflügels, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, nicht mit dem Alter des Kandidaten, der ja der ersten Pioniergeneration angehörte (1851). Sie bedienten sich anderer Mittel, und wenn Bebel sich für Ebert aussprach, dann nicht mit dem Argument der Verjüngung der Parteispitze.58 Eine neue, starke Welle der Verjugendlichung widerfuhr Partei und Gewerkschaften bekanntlich seit 1917. Sie hielt nur bis höchstens 1922 an und wuchs hinein in den Strudel der Spaltungen. Das war die Zeit der von Eduard Bernstein so apostrophierten »Novembermitglieder« (die selbst damals noch ziemlich junge Hedwig Wachenheim sprach von den »Novembergefallenen«).59 Der Weltkrieg mag dabei zunächst jedenfalls eher konfliktverdeckend auf die gene56 S. hierzu bes. Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, S. 31–35. 57 Vgl. Korn, Karl, Die Arbeiterjugendbewegung. Einführung in ihre Geschichte, Berlin 1922; Oschilewski, Walther G., Jugend ist ihr eigener Anfang. 75 Jahre Arbeiterjugendbewegung in Deutschland, in: Neue Gesellschaft, Jg. 26, 1979, S. 958–961. 58 Vgl. die ausführliche Darstellung der Vorgänge bei Braun, Bernd, Hermann Molkenbuhr (1851–1927). Eine politische Biographie, Düsseldorf 1999, S. 268 ff. 59 Wachenheim, Hedwig, Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie, Berlin 1973, S. 94.

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rationellen Beziehungen gewirkt haben,60 aber seit 1917 hörte und sah man die Jugend, zumal in den großen Streikbewegungen. Es spricht sehr viel dafür, in dieser neuen Verjugendlichung den strukturellen Hintergrund nicht der Parteispaltung an sich, sondern der Erhaltung der Parteispaltung auch über 1933 hinaus zu vermuten. Bei der Besetzung der Schlüsselämter der Übergangsperiode behielt ohne Zweifel die zweite Pioniergeneration das Heft in der Hand. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung Anfang 1919 strömten, schon angesichts des großen Erfolgs der Mehrheitspartei wie auch der Unabhängigen, zahlreiche neue, aber meistens doch sehr unerfahrene Abgeordnete in das Parlament, was wiederum die älteren Parlamentarier, sie wurden etwa durch Molkenbuhr, Pfannkuch und Frohme repräsentiert, in das Rampenlicht der politischen Entscheidungen und der Verfassungsdebatte schob.61 Noch war, wie es scheint, der Generationenkonflikt nicht in der Parteielite angekommen. Zehn Jahre später war dies, wie einleitend dargestellt, anders. Nicht erst mit Einbruch der Weltwirtschaftskrise hatten sich separate jugendpolitische Strömungen etabliert, während den Parteien, mit Ausnahme derjenigen am linken und rechten Rand, die Jugend fernblieb; in den Krisenjahren sollten dann die Links- wie die Rechtsradikalen Jugendliche und junge Erwerbslose in großen Zahlen für sich gewinnen. Auch bei den Kandidatenaufstellungen der SPD für Wahlen seit etwa 1930 spielten offenkundig generationelle Polemiken eine wichtige Rolle. Das ist von Jürgen Mittag am Beispiel von Wilhelm Keil gezeigt worden;62 bei ihm handelte es sich immerhin um einen der Väter der repu­ blikanischen Verfassungen, der »erst« 1870 geboren war, also noch der zweiten Pionier-, der Reichsgründungsgeneration zugehörte. Man sprach verbreitet von »Vergreisung«, gar von »Arterienverkalkung«, und neben anderen obsiegte im Südwesten ein Jüngerer, Kurt Schumacher. Vor allem in den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1932 schlugen sich die angedeuteten Trends nieder. Jetzt waren in der Tat die eingangs notierten Verschiebungen in der Zusammensetzung der Altersgruppen der Wählerschaft vollauf wirksam geworden; die Neuwähler hatten schon rein strukturell das Sagen. Sie vor allem ließen die Parteien der »Weimarer Koalition« abschmelzen, und diese Entwicklung zeichnete sich auch in den Mitgliedschaften der Parteien ab. Die neue politische »Verjugendlichung« betraf insbesondere die Parteimitgliedschaften links und rechts außen. Man hat in der jüngeren Forschung festzustellen geglaubt, dass die Parteimitgliedschaft der KPD »nicht wesentlich jünger« war als diejenige der SPD; in beiden Parteien dominierte unter den Mit60 Vgl. etwa Kocka, Jürgen, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914– 1918, Göttingen 19782, S. 105. 61 Dazu Braun, S. 336–338. 62 Mittag, Jürgen, Wilhelm Keil (1870–1968). Sozialdemokratischer Parlamentarier zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Eine politische Biographie, Düsseldorf 2001, S. 315 ff.; im allg. Neumann, Sigmund, Die Parteien der Weimarer Republik, Stuttgart 1973 (zuerst 1932).

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gliedern zweifellos bis etwa 1930 nicht mehr die Reichsgründungs-, sondern die Kriegsgeneration der um 1890 und bis etwa 1900 Geborenen. Immerhin, eine Differenz von knapp 5  Prozentpunkten bei den bis zu 25jährigen sowie von nicht weniger als 17 Prozentpunkten bei den 25- bis 40jährigen zugunsten der KPD gegenüber der Mitgliedschaft der SPD in den Jahren 1926/27 erlaubt wohl nicht mehr, von einer, wie Klaus-Michael Mallmann das tut, nur »leichte[n] Verjüngung« zu sprechen.63 Schwerer wiegt, dass sich die Daten auf die Mitgliederkontrolle von 1927 bei der KPD stützten, aber selbst für die Krisenjahre ab 1930 bezeichnet Mallmann die gut begründete und in der Forschung seit längerem vertretene Annahme, dass sich die Anteile der ganz Jungen in der KPD ziemlich rasch vermehrt hätten, »zumindest als vorschnell«.64 Andere jüngere Untersuchungen über die Gewaltförmigkeit der politischen Auseinandersetzungen vor allem in der Früh- und in der Spätphase der Weimarer Republik neigen ebenfalls zu einer Art revisionistischer Exkulpation der Jugend: Die »politische Gewalt« in der Weimarer Republik sei »nicht primär Jugendgewalt« gewesen.65 In der dieser Stellungnahme zugrunde gelegten Untersuchung waren die Hälfte der an Gewaltakten in Mitteldeutschland Mitte der 1920er Jahre Beteiligten nach 1900 und drei Viertel nach 1890 geboren.

7. Ende von Weimar: ein abgebrochener Generationenkonflikt? Vermutlich erklären sich Interpretationen dieser Art am ehesten aus einer Engführung des Begriffs der Jugend etwa auf die kleine Altersgruppe der 14- bis 18jährigen. Das zeigt, dass eine Betrachtung über generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung jedenfalls über dasjenige hinausgreifen muss, was gemeinhin unter der Arbeiterjugend verstanden wurde und wird. Gewiss sind politische Formkräfte auch in dieser Altersgruppe wirksam, aber die Aus­ prägung der politischen Orientierungen bis hin zu Wahlentscheidungen und bewusst vorgenommenen, nach außen erkennbaren Selbstzuordnungen vollzieht sich, früher wie heute, wohl eher bei den 20- bis 35jährigen. Sie bilden ge63 Mallmann, Klaus-Michael, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S. 106; vgl. schon Wunderer, Hartmann, Materialien zur Soziologie der Mitgliedschaft und Wählerschaft der KPD zur Zeit der Weimarer Republik, in: H.-G. Backhaus u. a. (Hg.), Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 5, Frankfurt a. M. 1975, S. 257–281, 260 f. 64 Mallmann, S. 109. Vgl. dazu Winkler, Weg in die Katastrophe, S. 602; zur strukturellen Entwicklung der Mitgliedschaften insgesamt ebd., S. 585, 595; auch ders., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Bonn 1985, S. 629–660. 65 Schumann, Dirk, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001, S. 241.

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nerationelle Lagerungen aus; auf das Maß ihrer Repräsentanz in gegebenen Entscheidungsgremien lassen sich Richtungsweisungen mit gewisser Plausibilität zurückführen, und deshalb verdient die sozialisatorische Prägung dieser Altersgruppe erhöhte Aufmerksamkeit. Das gilt zumal für an sich tendenziell »jugendliche« soziale Bewegungen, aber wie es scheint, hat die deutsche Sozialdemokratie diese ihre Unschuld gegen Ende der Weimarer Republik gegen ihren Willen verlieren müssen und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nur vorübergehend, am Ende der 1960er Jahre, zurück gewonnen. Von diesem Zustrom rekrutiert sie seit den 1990er Jahren ihr Führungspersonal. Es lohnt sich, einen Gedanken darauf zu verschwenden, welche Entwicklung die Partei genommen hätte, wenn sich die Weimarer Demokratie hätte behaupten können. Es hätte zu einer – übrigens teilweise damals durchaus eingeleiteten66  – Organisationsreform an Haupt und Gliedern kommen müssen, deren Erfolg angesichts der institutionellen Verfestigung von Jugendlichkeit durch die konkurrierende KPD keineswegs gesichert gewesen wäre. Allemal hätte zu den Voraussetzungen unbedingt die Stabilisierung des Arbeitsmarkts gehört. Das Schicksal, an sich und in sich einen scharfen Konflikt der Generationen austragen zu müssen, ist jedenfalls in jener historischen Spanne der SPD durch den Erfolg jenes Regimes erspart geblieben, dass durch sich die Gegensätze der Generationen für überwunden hielt. Die Zerklüftungen der deutschen Arbeitergeschichte durch die politischen Systemwechsel im Allgemeinen und durch besondere Einflüsse wie Reichsgründung und Sozialistengesetz im Besonderen haben die anfängliche Jugendlichkeit der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bewegung letztlich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges maßgeblich moderiert. Darin gab es rhythmische Verzerrungen durch die beiden »Verjugendlichungsphasen« in der ersten und der zweiten Gründungszeit in den 1860er und den 1890er Jahren. Eine Chance zu einem regulären Elitenwechsel mit jeweils einigermaßen kontinuierlich nachwachsenden Mitglieder- und Anhängergenerationen hatte die Arbeiterbewegung in der Zeit des Kaiserreichs noch nicht. Nicht zu über­sehen ist allerdings, dass Milieubildung und politische Ausgrenzung, so verbunden beide miteinander waren, eben auch als eine Art Generationenkitt wirkten, welcher schon vor 1914 die subjektive Wahrnehmung von Überalterung behindert haben könnte. Von einer gewissen »Normalisierung« des Generationentransfers sollte man, wiederum mit der Ausnahme der Willy-Brandt-Generation, erst seit 1945 sprechen. Es ist kaum zu erwarten, dass die Jugendlichkeit der neuen sozialen Bewegungen besonders seit den 1980er Jahren dauerhaft den etablierten Parteien den Wind aus den Segeln zu nehmen vermag, aber es wird erheblicher Anstrengungen bedürfen, um einen solchen Generationstransfer künftig auch dadurch zu sichern, dass die Parteien neue Attraktivität für eine sich politisch sozialisierende Jugend entfalten. 66 Für eine Organisationsreform plädierte Wilhelm Sollmann besonders energisch; vgl. Lösche u. Walter, Die SPD, S. 67 f.

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Abkürzungen

AfS Archiv für Sozialgeschichte AfK Archiv für Kulturgeschichte AHR American Historical Review APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte ASSP Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik BGA Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung DR Deutsche Rundschau FMSt Frühmittelalterliche Studien GG Geschichte und Gesellschaft GW Gesammelte Werke GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HJb Historisches Jahrbuch HSt Handwörterbuch der Staatswissenschaften HZ Historische Zeitschrift IASL Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur IWK Internationale wissenschaftliche Korrespondenz JbG Jahrbuch für Geschichte JbWG Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte JSH Journal of Social History MEW Marx-Engels-Werke MGH Monumenta Germaniae Historica PJ Preußische Jahrbücher PVS Politische Vierteljahresschrift SDR Statistik des Deutschen Reichs SozW Soziale Welt VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ZAA Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie ZBL Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZfGS Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

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Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte I. Ländliches Gesinde in Preußen. Gesinderecht und Gesindestatistik 1810 bis 1861, in: AfS, Jg. 19, 1979, S. 189–229. II. Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich, in: GG, Jg. 18, 1992, H. 2, S. 179–203. III. Klassenspezifische Konsummuster im Deutschen Kaiserreich, in: Hannes Siegrist u. a. (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1997, S. 245–266. IV. Religion und Religiosität der Arbeiter im Ruhrgebiet, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Religion in der Gesellschaft. Ende oder Wende?, Essen 2008, S. 9–38. V. Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzugs, in: HZ, Bd. 235, 1982, S. ­45–84. VI. Die Entfaltung des Vereinswesens während der Industriellen Revolution in Deutschland (1850–1873), in: Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984 (= Beiheft zur HZ), S. 55–114. VII. Großstadtjugend in Deutschland vor 1914. Eine historisch-demographische Annäherung, in: VSWG, Jg. 69, 1982, S. 182–218. VIII. Stadt und Bürgertum im 20.  Jahrhundert, in: Klaus Tenfelde u. Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 317–353. IX. Die Welt als Stadt? Zur Entwicklung des Stadt-Land-Gegensatzes im 20. Jahrhundert, in: Friedrich Lenger u. Klaus Tenfelde (Hg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln u. a. 2006, S. 233–264. X. Historische Milieus – Erblichkeit und Konkurrenz, in: Manfred Hettling u. Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays (Festschrift für Hans-Ulrich Wehler), München 1996, S. 247–268. XI. Generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung bis 1933, in: Klaus Schönhoven u. Bernd Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. ­17–49.

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Sachregister Absolutismus  153, 157, 167 Adel, Gutsadel  27, 30 f., 37, 97, 183, 191 f., 275, 285, 322, 353 Adventus, -Motiv, -Panegyrik, -Zeremoniell (s. auch Empfangszeremoniell, Einholung(en), Herrscherempfang)  5, 7, 12, 143 f., 146, 148 ff., 153 ff., 159 f., 162 ff. Agrarreformen, Agrarrevolution  21 f., 25, 30, 48, 51, 54, 57, 59, 62, 65, 329 Akademiker, akademisch  182 ff., 209, 211, 214, 284 f., 292, 296 f., 299, 306 Aktiengesellschaften, Aktienwesen  178, 202, 205 f., 218, 221 Allgemeines Preußisches Landrecht  29, 31 ff., 36 f., 219 Alltagsgeschichte  14, 105 Analphabetismus  194, 323 Angestellte, Angestelltenschaft  74 ff., 81, 83 f., 109 ff., 120 f., 191, 266, 274, 285 f., 290, 297, 299, 325 Antike (Spätantike), antik  148 f., 152, 156, 163, 165, 173 Arbeit, Arbeiter(schaft) (s. auch Erwerbstätigkeit, Industriearbeiter, Proletariat)  9 ff., 26 f., 34 f., 38, 41, 46 ff., 65, 68, 70, 72, 74 ff., 82 ff., 86 ff., 95 f., 100 ff., 106 ff., 119 ff., 124 ff., 132 ff., 138 f., 165, 168 f., 171, 175, 180 f., 187, 191, 199, 203 ff., 214, 222, 228, 232, 261, 263, 266, 270 f., 274, 283, 285, 289, 294, 325 f., 334, 343, 345, 355, 359, 361 f., 364, 377, 383, 386 Arbeiterbewegung, sozialdemokratische (s. auch soziale Bewegungen)  9 ff., 24, 66, 68, 87, 90, 168, 171, 199, 205, 208 f., 213 f., 219, 227, 266, 270, 293, 296, 307, 348, 352, 364, 366, 368 f., 371 f., 377 ff., 382, 385, 387, 389 f. Arbeiterfamilie (s. auch Sterbegemeinschaft)  14, 70 ff., 82 f., 86 f., 88 f., 91 f., 105, 109, 122, 136, 248, 260, 325 f. Arbeiter(bewegungs)geschichte  9 ff., 71, 377, 390

Arbeiter(bildungs)verein, sozialistischer, katholischer  111, 132, 144, 168, 181, 188, 191, 194, 207 ff., 213, 227, 348, 353 f., 356, 358 f., 380 Arbeitslosigkeit  240, 265, 297, 361, 369 Arbeitsmarkt, Arbeitsmärkte  26, 31, 89, 222, 240, 243, 292, 296, 315, 364, 390 Arbeitsplatz, Arbeitsplätze  11, 265, 352, 360, 364 Arbeitsteilung  26, 112, 196, 277, 288, 298, 303, 318 f., 340 Armenpflege, Krankenpflege  194, 201, 215, 224 Armut (s. auch Pauperismus)  62, 102, 126, 194, 215, 317, 347 Arzt, Ärzte(schaft), ärztlich  76, 85, 182, 210 f., 284, 292, 304 f. Assoziation (s. auch Verein)  12, 174 ff., 188, 190, 195, 199 ff., 203, 205 f., 217 ff., 221 f., 226 Ballungsräume (industrielle)  231, 247, 251, 261, 264, 266 Barock, barock  154 ff., 158, 173 Bauern, Ackerbauern, Bäuerlichkeit, bäuer­ lich  19, 24, 26 ff., 37, 41, 48 ff., 55 ff., 59 ff., 65 f., 72, 75 ff., 81, 87, 91, 107, 121, 131, 139, 182, 189, 203, 274, 301, 315 f., 325 f., 329, 333, 335 ff. Bauernbefreiung  21, 30, 39, 41, 48, 199 Bauernvereine  199, 209, 333 Bayern, bayerisch  21, 57, 127, 160, 165, 182, 204, 213, 219 f., 241 f., 244 f., 324, 329, 332, 336 f., 340 Beamte, höhere, mittlere, niedere, untere  36, 83 f., 96, 99 f., 101, 103, 106, 109 f., 113, 121, 159 f., 182 f., 210, 273 f., 283, 285, 287, 290, 293, 297, 384 f. Bergbau, Bergarbeiter(schaft), Bergmann (s. auch Schwerindustrie)  9 ff., 78, 80 f., 120, 123 ff., 130, 133, 138, 207, 219, 260, 262 f., 318, 373, 382

393 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Berlin(er)  26, 47, 50, 52 f., 74, 85, 90, 106, 111, 125 ff., 131, 161 ff., 172, 186, 231, 241 f., 244 ff., 254, 256 ff., 271, 316, 320 f., 329, 334, 340, 352, 367, 383, 387 Berufe, Berufsgruppen  13 f., 76 ff., 96, 99, 103, 121, 139, 165, 181 f., 186, 191, 193, 210 f., 222, 227, 262 f., 274, 283 f., 297, 301, 304 ff., 325, 344, 353 Besitzbürgertum (s. auch Bürgertum)  191, 197 Bevölkerungswachstum  234, 239, 252, 256, 262 f., 266, 304, 338, 347 Bildung (Bildungswesen, -system)  87 f., 90 f., 100, 183, 204 f., 209, 211, 215, 227 f., 264, 275, 277 f., 290, 292, 294, 298, 300, 307, 319, 328, 351 f., 356, 358, 373, 378 Bildungsbürger(tum), bildungsbürgerlich (s. auch Bürgertum)  12, 96, 100, 193, 280, 284, 289, 292 f., 296 ff., 307 ff., 345 Bourgeoisie (s. auch Bürgertum)  278 Buchdrucker  79, 81, 208, 325 Bürger(tum), Bürgerlichkeit, bürgerlich  7, 12, 22, 36, 70, 88, 90 ff., 96 f., 99 ff., 103 ff., 107 f., 110 f., 113, 119, 128 ff., 134, 139, 144, 157 ff., 163, 166, 168 f., 173, 175 f., 183 f., 188, 191 ff., 195 f., 200, 205, 207 f., 212 f., 215 f., 225 f., 229, 266, 273 ff., 280 ff., 288 ff., 298 ff., 305 ff., 321, 324 f., 328, 334, 343, 346, 348, 351 ff., 360 ff., 369 f. Bürgergesellschaft, bürgerliche Gesellschaft  36, 129, 175, 200, 225, 277, 279 ff., 292, 296, 305, 318, 370 Bürgertumsgeschichte, -forschung  12, 98, 273 f., 279 f., 287, 289, 301, 303 f., 307, 309 f. Christentum, Christlichkeit, christlich (s. auch Kirche)  38, 111 ff., 122, 124, 127, 135, 148 ff., 179 f., 192, 208, 329, 349, 359 f. CSU  340, 363 Demografie, demografischer Wandel  25, 67, 72 f., 87 ff., 91 f., 230 ff., 241, 249 f., 256, 264 ff., 268 ff., 272, 317, 324, 328, 331, 351 f., 364 ff., 368, 374 Demokratisierung (Fundamental-), demokratisch  155, 194, 208, 226 f., 229, 277, 279, 281, 288, 291, 298 f., 301, 350, 370, 372

Deutsches (Kaiser)Reich, Kaiserreich (s. auch Preußen)  9, 13, 70, 74 f., 77, 79, 83, 87 f., 90, 92, 95 f., 100 f., 104, 106, 111, 127, 162, 227, 237, 259, 262, 275 f., 285 f., 293, 297, 302, 308, 328, 345, 352, 355, 358 ff., 368, 371 f., 381, 385, 390 Dienstboten, häusliche, gewerbliche  20, 26, 33, 35 ff., 39 ff., 56, 60, 63, 83 Dienstleistungen, Dienstleistungssektor  25, 27, 40 f., 67, 76, 89, 139, 258, 283, 285, 288, 298, 301, 304, 319, 326 f., 326 ff. Diktatur  281, 338, 362, 372 Ehe, Mischehe, Eheschließung  33, 51, 54, 59, 72 ff., 76 ff., 79 ff., 85 ff., 89 ff., 104 ff., 121, 135 ff., 234, 241, 246, 260, 323, 326, 329, 349, 351, 354, 360 Einholung, Einholungszeremoniell  144, 146 ff., 155, 160 ff., 165, 167, 172 Einkommen (s. auch Lohn)  99 ff., 296 Eliten, Elitenbildung  176, 274 f., 282 f., 287, 293, 297, 302, 306 ff., 356, 366, 375, 381, 386, 388 Empfangszeremoniell  146, 149, 151, 157 f., 160 f. England, englisch  68, 105 f., 153, 193, 201, 209, 236 f., 293, 321, 338, 358 Ernährung, -sverhalten, -sgeschichte  93 ff., 109 f., 314, 337 Erster Weltkrieg  32, 75, 87, 93, 98, 113, 127, 171, 261, 269, 280 f., 327 ff., 336, 346, 369, 375, 387, 390 Erwerbstätigkeit  82, 90, 138, 285, 297, 328 Erziehung  14, 37, 67, 91, 137, 264, 272, 348, 353, 367, 370 f. Facharbeiter (s. auch Arbeit, Arbeiter(schaft)  83 f., 90, 96, 282, 290, 296 Familiarisierung (der Gesellschaft)  14, 88, 104, 298, 351 Familie, Familienbildung, familiär  25 f., 56, 61, 63, 72 ff., 81 ff., 87 f., 90, 92, 100, 102 ff., 106 ff., 110, 112, 121, 132, 134, 137 ff., 140, 164, 196, 198, 225, 256, 286, 290, 298, 301, 305, 317, 319, 325 f., 331, 339 f., 351, 357, 360, 373 f. Fertilität, (Un-)Fruchtbarkeit  54, 247, 262, 265, 267 f., 295, 317, 324, 326 Festzug (s. auch Adventus)  12, 143 f., 151 f., 154 ff., 161, 165 ff., 172 f.

394 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Frankreich, französisch  14, 32, 138, 153,155, 162, 193, 199, 201, 204, 223, 236 f., 315, 329, 358 freie Berufe, Freiberufler, freiberuflich  76, 96, 103, 191, 193, 210 f., 222, 227, 262, 274, 283 f., 297, 299, 304 f. Freizeit  61, 100, 108, 110, 140, 158, 190, 211, 215, 288 f., 326, 352, 355 ff., 360, 370, 372 Geburten, Gebürtigkeit  13, 80, 85 ff., 89, 102, 117, 140, 202, 231, 233 f., 237 ff., 245 ff., 251, 253, 256, 260 ff., 269, 290, 295, 317 f., 323, 325, 331, 346, 350, 353, 355, 358, 364, 370, 375 Geburtenplanung, Geburtenrückgang  81, 88, 90, 231, 239 Generation, generationell  9, 14, 65, 72, 81 f., 86 ff., 99, 103, 111, 121, 129, 134, 140, 166, 185, 246 ff., 253, 256 f., 263, 267 ff., 272, 278, 287, 292, 295, 297 f., 300 f., 305 f., 317, 326, 331, 347 f., 352 ff., 359, 364 ff., 368 ff., 375, 380, 382 ff., 387 ff. Generationenkonflikt, Generationsproblem  232, 271 f., 376, 384, 387 f., 390 Genossenschaften, genossenschaftlich, Genossenschaftswesen  110, 179, 187, 190, 192, 195, 201 ff., 207, 217 ff., 223, 356 Geschlecht, geschlechtlich  11, 46, 51, 72 f., 89, 95, 98 f., 114, 135, 137, 186, 194, 215, 225, 258 f., 266, 298, 317, 337, 344, 347, 356, 360, 367, 378 Geschlechterrollen, Geschlechterbezie­ hungen  10, 89 ff., 317, 331 Gesellschaftsgeschichte (s. auch Sozial­ geschichte)  11, 93, 323 Gesetzgebung  47 f., 50, 198, 201, 206, 217, 219 f., 222 f., 373 Gesinde, Gesindewesen, Gesinde(zwangs) dienst (s. auch Dienstbote(n), Knecht(e), Mägde)  19–69, 315, 332, 351 Gesindeordnung(en), Preußische  19, 22, 25 f., 28 f., 31 ff., 40 f., 59, 281 Gesinderecht, Preußisches  22, 26 f., 29, 31 f., 40 ff., 56, 69 Gesindestatistik (Preußische)  42 f., 46, 51, 54, 56 f. Gewerkschaften, gewerkschaftlich  10, 12, 24, 119, 124 f., 132 f., 168, 171, 207 f., 221, 223, 270 f., 307, 337, 345, 348 ff., 354,

356, 358 f., 362, 366 f., 371 f., 377 f., 384 ff., 390 Gottesdienst, -besuch(er)  34, 112, 131, 137 f., 148, 150, 156, 164, 329 Hamburg(er)  90, 113, 131, 177, 254, 257, 316, 321, 325, 334, 340, 383 Handel, Handelskammern  72, 76 f., 94 f., 190, 201, 204 ff., 209, 218 f., 221 f., 224, 250, 260 ff., 273, 287, 290, 310, 313 Handwerk, handwerklich  66, 72, 75 ff., 79, 96, 113, 191, 202 f., 205, 209, 211, 222, 263, 283 f., 290, 305, 318, 327, 336, 347, 351, 373, 377 f., 382 Handwerker, Handwerksgesellen  24, 49, 77 f., 80 f., 96, 168, 181, 186, 203, 207 Haushalte, Haushaltung  26, 35 f., 50 f., 58, 66, 77, 89, 93, 95 ff., 105 f., 109, 290 ff. Herkunft  12, 63, 76, 81, 88, 91, 96, 105, 114, 117, 121, 123 ff., 139, 234, 260, 263, 306, 308, 347 f., 373 f., 378 Herrschaft, Gutsherrschaft, (guts)herrschaftlich  15, 20 ff., 26–44, 48, 56 f., 62, 64, 67 f., 114, 121, 129, 144, 150 ff., 173, 175, 225, 273, 276, 282, 288 f., 301 f., 315 ff., 323, 328, 346 f. Herrscherempfang  143, 147, 149, 151 f., 159 f. Hüttenwesen, Hüttenarbeiter (s. auch Schwerindustrie)  78, 82, 87, 89, 112, 114, 120, 123, 129, 131, 248, 382 Ikonologie (historische)  144, 169 Industrialisierung (Früh-, Hoch-), Industrielle Revolution (s. auch Soziale Frage)  21, 24, 41, 57, 70, 73 f., 78 f., 82, 87, 96, 137 f., 166, 168, 186, 189, 193 ff., 216, 225 f., 230, 232, 250 f., 260 f., 263 f., 266, 268, 274 f., 284, 299, 302 f., 315 f., 318, 321, 326 f., 330, 339, 348, 350 Industrie, Industriearbeit, Industrie­ arbeiterschaft  11 ff., 24, 49, 56, 58 f., 62 ff., 67, 73, 75 ff., 81 f., 85, 87, 89, 96, 100, 113 f., 124, 129 ff., 136 ff., 160, 173, 175 f., 178, 183, 185, 189 ff., 197, 199, 203, 205 ff., 211, 214 f., 218, 224, 226, 228, 231 ff., 241, 243, 245 ff., 250 ff., 256, 258, 260 f., 263, 266, 271, 274, 278, 280 f., 283, 285, 287 f., 301, 315, 318 ff., 325, 326 ff., 331, 335 f., 338 f., 350 ff., 358, 382

395 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Industriegesellschaft, industriegesellschaftlich  25, 77, 88, 187, 195, 223, 347 Industrieregionen, industrieregional  58 f., 61 f., 176, 234, 246 ff., 265, 378 Industriestadt, industriestädtisch  144, 177, 249, 254, 256 f., 259 ff., 264 ff., 268 f., 271 f., 315, 317 f., 322, 327, 351, 377 Inflation, inflationär  133, 135, 203, 271 f., 281, 284, 294, 306, 310, 314, 333, 336 f., 361, 367, 369 Ingressus  157, 166 Juden(tum), jüdisch  112, 134, 333 Jugend (Großstadt-), Jugendlichkeit  13, 60, 75, 78, 128, 132 ff., 137, 194, 231 f., 234 f., 237 ff., 248 ff., 258, 261, 264 ff., 268 ff., 352, 356 f., 365 ff., 370, 374 f., 379 ff., 383, 387 ff., 390 Jugendbewegung (Arbeiter-)  233, 266, 268, 371, 384, 387 Jungfrauen, Ehrenjungfrau, jungfräulich  144, 148, 154, 157 f., 164 f., 169 f., 180 Kapitalismus, Industriekapitalismus, Kapital  64, 77, 88, 104, 111, 113, 127 f., 195, 203 f., 206, 214 f. 217, 224, 274, 278, 283 f., 288, 301, 314, 350, 358, 366 Katholizismus, Katholiken, katholisch (s. auch Konfession)  82, 87 f., 90, 111, 114 f., 117 f., 119 ff., 124, 126 f., 129 ff., 133, 135 ff., 156, 168, 179 f., 188, 192, 194 f., 214, 260, 330 f., 344 ff., 348 ff., 353 ff., 362 f., 372 f. Kaufmann, kaufmännisch, Kaufleute  96, 99 ff., 104, 106, 155, 162, 191, 204, 209, 218, 224, 274, 285 f., 351 Kirchen, Kirchlichkeit, kirchlich (s. auch Christlichkeit, christlich, Klerus)  38, 61, 87, 111 ff., 117, 122 ff., 134 f., 138 f., 146 f., 152, 219, 225, 270, 329 f., 332, 348 ff. Kirchenferne, Glaubensferne (s. auch Religionslosigkeit)  112, 122, 126 Klassen, Klassenbildung  10 ff., 14, 54, 73, 75 ff., 82, 87 f., 90 f., 93, 95 ff., 100, 102 ff., 110 f., 113, 128, 168, 178, 199, 214, 217, 241, 249 f., 255 f., 270, 272, 274 f., 285, 291, 301, 308, 315, 319, 321, 327 ff., 339, 343 f., 347, 350, 358, 360, 366, 370, 373 ff. Klassengegensätze, -kluft  90, 195, 274 f., 300, 328, 360

Klassengesellschaft, klassengesellschaftlich  104, 195, 290 f., 300, 343, 349 Kleidung  62, 68, 96, 100, 108 f., 147, 157, 310 Kleinbürger(tum), kleinbürgerlich (s. auch Bürgertum)  90, 96, 107, 110, 112, 119, 139, 191, 209, 285, 294, 308, 345 Klerus (s. auch Kirche) 146 f., 150, 152, 154, 353 Knechte (s. auch Gesinde)  25, 28, 30, 33, 42, 54, 57, 59 ff., 65 Kohle (s. auch Schwerindustrie)  207, 285, 327 Kommunikation, kommunikativ  10, 62, 196 ff., 200, 207, 226, 265, 274, 278, 288 ff., 293, 302, 314, 319, 339, 350, 363 Kommunisten, kommunistisch (s. auch KPD)  73, 113, 122, 128, 171, 362, 369 Konfessionen, konfessionell (s. auch Katholizismus, Protestantismus)  22, 70, 75, 89, 91, 111, 113 ff., 126 ff., 130, 133 f., 139, 168, 179, 181, 183, 186, 207 f., 211, 215 f., 266 f., 272, 303, 308, 329 f., 344, 348 ff., 352 f., 356, 360, 363, 373 Konflikt (s. auch Streik)  10, 15, 65 ff., 69, 120 f., 214, 216, 223, 226, 228 f., 232 f., 268, 271 f., 311, 314 ff., 328, 337, 349, 371, 380, 382, 386 f. Konkurrenz (Milieukonkurrenz)  203 f., 206, 208, 229, 289, 308, 348 f., 352, 356, 359 ff., 363 Konstitutionalismus (preußisch-deutscher)  197, 202, 219, 226, 275 Konsum (repräsentativer), Konsumgüter  11, 72, 93 ff., 100 f., 103 ff., 107 f., 110, 140, 179, 203 f., 288, 290 f., 308, 319, 331, 335, 356, 360, 363 Konsumverhalten, -stil  94, 97 f., 103 ff., 109 f., 290, 331, 339 Korporation  200 f., 204, 212, 217 f., 225, 305 KPD  270, 361, 368 f., 390 Kriminalität  265 f., 323 f., 330 Krise (Weltwirtschafts-, Inflations-, Agrarkrise)  62, 87, 119, 124, 129, 133, 139 f., 182, 205, 227, 265, 269, 276, 280 ff., 288, 292 ff., 300, 304, 312, 314 f., 320, 330 f., 333 ff., 355, 359, 361 f., 265 f., 369, 371, 376, 380 f., 388 f. Küche (bürgerliche, proletarische)  65, 106 f., 110, 186, 309

396 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Kultur, kulturell, Kulturkampf  10 ff., 14 f., 70, 74, 97, 100, 110, 118 f., 124, 130 f., 138, 143 f., 153, 155 f., 168, 171, 173, 176, 182 ff., 196, 205, 211, 214, 227 f., 265, 267, 277, 279 f., 287 ff., 293 ff., 299, 303, 310, 312, 319, 324, 328, 333 ff., 338, 343 ff., 351 ff., 357, 361 f., 367, 370, 373, 383, 385 Kulturgeschichte, kulturgeschichtlich  12, 14, 97, 143 f., 153, 299, 310, 312 Landarbeiter, ländliche Arbeit(er)  21 f., 24 ff., 30 f., 40, 50, 55 f., 58 f., 61, 63 f., 65, 68 f., 75, 88 f., 100, 183, 248, 326 Landwirtschaft, landwirtschaftlich  19, 22 f., 25 ff., 43 ff., 59, 61, 63, 76, 182 f., 191, 209 ff., 222, 284, 338 Landflucht  21, 50, 58, 69, 263, 315 f. Lebensweisen  23, 126, 189 f., 193, 282, 288, 302 f., 313, 315 ff., 324, 328 f., 340, 344, 346 f. Lehrer (Gymnasiallehrer)  9, 12, 87, 97, 99, 101, 110, 127, 182, 184, 191, 211, 292, 298 Liberalismus, liberal  32, 63, 112, 119, 168, 176, 185, 207 f., 212 ff., 217, 227, 266, 281, 296 f., 314, 330, 333, 344 f., 359, 372 Lohn, Lohnarbeiter  11, 23, 25, 28 f., 33 ff., 51, 56, 58, 61, 63 ff., 72, 82, 90, 103 f., 114, 191, 214, 262, 269, 275, 290, 327 f., 339, 365, 373 Lohnabhängige, Lohnabhängigkeit  25, 90, 92, 214, 262, 275, 290, 328 Mägde  25, 28, 30, 34, 42 f., 50 f., 54, 57, 59 ff., 65 Manager  274, 280, 287, 356 f., 360 Märtyrer  300, 373, 381 Marxismus, Marxist, marxistisch (s. auch Kommunismus)  128 f., 131, 283, 295, 300, 340 Metallarbeiter  79, 125 f., 373, 382 Migration (s. auch Wanderung)  114 f., 118, 240, 353, 383 Milieu, historisches, katholisches, sozial­demokratisches, Milieubildung, -begriff  10, 12, 14, 24, 42, 86 f., 90, 105, 118 f., 132 f., 282, 285, 308, 343 ff., 352 ff., 370 f., 376, 383, 385 f., 390 Militär(s), militärisch, Militärdienst  60, 152, 154, 160, 164, 167, 172, 221, 234, 260, 270, 325, 336 f., 368

Mittelstand, mittelständisch  87, 97, 109 f., 139, 179, 181, 184, 191, 193, 205, 211, 214, 227, 260, 283 ff., 308, 333 Mobilität  25, 51, 58 f., 63, 68, 72, 90, 104 f., 137, 139, 196 f., 232, 319, 331, 339 Moderne, modern  11 ff., 24, 61, 64, 67, 77, 80, 90, 94, 96, 114, 157, 177, 190, 192, 202, 205 f., 224, 277 f., 288 ff., 300, 308 ff., 313, 318, 322 f., 338, 340, 343, 357, 372, 374, 382 Monarch, Monarchie, monarchisch  37, 111, 134, 160, 167, 172, 281, 293, 333 Montanindustrie  15, 58, 63, 78 f., 82, 85, 87, 89, 114 Mortalität, Sterblichkeit (Säuglings-)  13, 54, 83 ff., 102, 235, 237 ff., 262, 266 f., 317, 324 f., 329, 331 München  12, 90, 160, 165, 177, 254, 257 f., 316, 324, 333, 336 f. Mysterium (im Sinne des Festbrauchs)  143 Nachkriegszeit  115, 118, 120 f., 124, 131 f. 135 f., 240, 296, 298, 306, 319, 328 ff., 338, 347, 350, 368 Nahrung, Nahrungsmittel  74, 79 f., 94 ff., 100 f., 103, 105, 107, 109 f., 315 Nationalsozialismus, nationalsozialistisch  9, 119, 124, 133, 139, 271, 280 ff., 294, 312, 334, 338, 362, 369, 375 Occursus  148, 150, 157, 160 f., 166 Parteien  10, 33, 127, 129, 172, 176, 188, 202, 207 ff., 212, 214, 219, 227, 267, 270 f., 307, 318, 330, 333, 336, 344, 346, 348, 350, 353, 356, 358, 361 ff., 365 ff., 369 ff., 379 ff., 385 ff., 390 Partizipation (politische), partizipatorisch  196, 201, 215, 226 f., 250, 288, 318, 333 Pauperismus  21, 62, 320 politische Kultur  281, 305 Preußen, preußisch  11, 13, 22, 31 f., 36, 42, 44, 46 ff., 52, 54 ff., 61, 63 f., 83, 85, 104, 111, 114, 117, 123 f., 129, 158, 161 f., 166 f., 179, 183, 186, 188, 191, 202, 204, 209, 214, 217 ff., 236, 239, 241 f., 244 ff., 257, 276, 314, 320, 322, 324 ff., 349, 352, 380 Produkte, Produktion, Produktivität  9, 11, 13, 16, 20, 25, 28, 46, 49, 61, 68, 88 ff.,

397 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

100 f., 187, 189, 191, 196 f., 201, 203, 214 f., 226, 231, 234, 250 f., 260 f., 263 f., 283, 304, 318 f., 326, 335, 337, 339, 370 Professionen, Professionalisierung, professionell  96, 105, 227, 285 ff., 301 f., 307 f., 317, 328, 350, 353 Proletariat, Proletarier, proletarisch  12, 24, 72 ff., 85, 89, 91 f., 97, 103 ff., 114, 124, 127 ff., 131 f., 134, 139, 168 ff., 173, 188, 199, 207, 226, 271, 285, 290, 294, 301, 323, 326, 337, 361 f., 373, 377, 387 Protest, -verhalten, -bewegung (s. auch Streik)  15, 24, 64 ff., 259, 265, 272, 335 f., 361, 365 f. Protestantismus, protestantisch, Protes­ tanten  87, 111 ff., 119, 121, 126, 129 f., 132, 134, 156, 194, 213, 297, 330 f., 346, 348 f., 352, 360, 362 Prozession  131, 143 f., 148, 152, 155 Rechtsanwalt, Rechtsanwälte  76, 211, 248, 304 f. Reichsgründung, -generation  73, 111, 124, 159, 165 ff., 167, 174 f., 177, 186, 188, 191 f., 204 f., 207, 209, 214, 216 ff., 221, 225, 234, 236, 238, 266, 268, 316, 329, 349, 359, 375, 380 f., 384, 388 ff. Reichtum  108, 215, 261, 310, 317, 334, 339 Religion, religiös, Religiosität (s. auch Kirchen)  10, 12, 38, 67, 112 ff., 117 ff., 122 ff., 134 ff., 140, 151, 173 f., 177, 219 f., 323, 329 f., 332, 339, 343, 345, 349, 356 f., 363, 378 Religionslose, Religionslosigkeit, Religions­ ferne, religionsfern  112 ff., 117, 122, 128 f., 131 f., 135, 139 Renaissance  153, 173 repraesentatio maiestatis  153, 160 Reproduktion  13 f., 56, 90, 103, 234, 241 Revisionismus, revisionistisch  387, 389 Revolution (Französische, 1848/49, 1918), revolutionär, Revolutionierung  22, 24, 29, 49, 57, 62, 64, 66, 68, 81, 123, 171, 174, 177 f., 180 f., 185 ff., 192, 197, 201, 207, 217, 219, 221, 224 f., 269, 271 f., 278, 281, 289 ff., 294, 296, 307, 322, 333, 336, 339, 348, 361, 367, 369, 373 Ruhrgebiet  12 f., 15, 111, 114 f. 117 f., 120 f., 123 ff., 138 f., 160, 177, 185, 205, 243, 252, 256 f., 315, 321, 330, 337, 344, 352, 378

Sachsen, sächsisch  27, 52, 57 f., 123, 151, 190, 210, 220, 242, 244 f., 251, 321, 326, 337, 340, 378 Säkularisierung, säkular  74, 88, 123, 139, 172, 263, 326, 357 Schichten, Schichtung, soziale (s. auch Stratifikation)  11, 14, 23 ff., 30, 50, 54, 57 f., 63 ff., 67 f., 72 f., 75, 79, 81, 89, 94 ff., 98, 102, 104, 106, 109 f., 113, 132, 134, 138, 156 f., 175, 177, 181 ff., 189, 191, 193, 197, 199, 203 ff., 211 f. 214, 216, 225 f., 228, 262, 268 f., 272 f., 280 ff., 286, 289 ff., 299 ff., 303 f., 306 ff., 317, 319, 327 f., 333, 335, 343 ff., 350 ff., 355 f., 360, 365 Schlesien, schlesisch  24, 28 f., 38, 52, 55 f., 58, 60 f., 65, 82, 84 ff., 114, 125 f., 242 f., 256, 321, 330 Schule  33, 58, 82, 85, 87, 106, 121, 137, 145, 147 f., 158, 160, 163, 165, 226, 270, 298, 332, 356 f., 360, 373, 376 Schwerindustrie, schwerindustriell (s. auch Bergbau, Stahl)  111, 114, 119, 121, 132, 137 ff., 190 f., 207, 252, 256, 259 f., 263, 285, 303, 377 Selbständige, Selbständigkeit, selbständig, Verselbständigung  30, 39, 46, 51, 74 ff., 80, 83, 96, 106, 110, 139, 194, 202, 221, 224, 273, 278, 282 ff., 288, 296 f., 300 f., 352 Sozialdemokraten, sozialdemokratisch  22, 24, 89 f., 113, 119, 122, 124 ff., 130 ff., 139, 168 ff., 222, 248, 322, 330 f., 336, 349 f., 355 f., 358 ff., 365 ff., 373, 377 ff., 382 ff., 390 soziale Bewegungen (neue)  15, 124, 179 f., 208, 229, 269, 345, 348, 365, 379, 388, 390 Soziale Frage  21, 199, 223 Soziale Marktwirtschaft (s. auch Kapitalismus)  275, 288, 310 Sozialgeschichte  9 f., 12 ff., 24 f., 71, 139, 176, 231, 233, 277 ff., 286 f., 295, 300, 304, 331, 343 f., 346, 349 f., 352, 366, 375 f., 378 Sozialisation  13 f., 87 ff., 91, 102, 105, 107, 109, 136 ff., 140, 231, 233, 268 ff., 289, 295, 298, 306, 350 ff., 358 f., 361 ff., 373 ff. Sozialisationsgeschichte  9, 14, 352, 376 Sozialistengesetz  168, 188, 322, 349, 373, 378 ff., 385, 390

398 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Staaten, staatlich, Staatsbürger  10, 42, 57, 67 f., 123 f., 127, 130 f., 143, 145, 147, 151, 153 f., 157, 162, 165 ff., 172, 181, 188, 197 ff., 204 f., 209 f., 214, 217 ff., 231, 236 f., 241 f., 262, 266, 271, 273, 275, 279, 281, 283, 285 f., 288, 290 ff., 296, 298, 300 f., 303, 305 f., 310, 313, 317 f., 326, 349, 352, 359, 361, 364 Stadtbegriff  251, 317 ff. Stadtbildung  17, 151, 190, 318 Stadtbürgertum (s. auch Bürgertum)  27, 158 f., 181, 191, 193, 200, 212, 226, 275, 277, 281, 294, 299 Stadtgeschichte  12, 276, 339 Stadt-Land-Gegensatz, -Differenz  13, 94, 214, 302, 312 ff., 317 f., 320 f., 323 f., 323 ff., 331, 333, 336 ff., 340 Stadtkritik, Stadtfeindschaft  272, 313, 315 f., 320, 322, 326, 333 f., 335 f., 338 ff. Stahl  160, 285, 327 Stand, Stände, ständisch  11, 19 f., 25 f., 31, 36 ff., 54, 61, 66, 87, 110, 123, 127, 131, 153, 161, 183 f., 191, 198 f., 209 ff., 214, 225, 227, 273, 275, 279, 288, 290, 321, 343, 345 ff., 350 f., 373 Sterbegemeinschaft  14, 86 Stratifikation  303, 319 Streik (s. auch Protest)  10, 63 f., 133, 223, 269, 328, 387 f. Strukturwandel  95, 139, 284 f., 293, 301 f., 304, 338, 382 Tagelöhner (s. auch Wanderarbeiter)  24, 28, 30, 37, 39, 41, 46 ff., 55 ff., 61 f., 65, 191 Tod  13, 34, 38, 72, 74, 86 f., 89, 127, 140, 195, 295 f., 338, 387 Triumphus, Triumphzug  149, 163, 165 f., 171 f. Umschichtungen, -sprozesse  21 ff., 30, 297, 300 Ungleichheit (soziale), ungleich  10 f., 15, 72, 83, 87 f., 94, 98, 104, 198, 205, 291, 294 Unternehmer(schaft), Unternehmen, unternehmerisch  10, 76, 96, 106, 121, 123, 159, 181, 187, 193, 204 ff., 209, 214 f., 218, 222, 224, 226, 274, 279, 284, 287 f., 293, 305, 307 f., 322

Unterstützungskassen  134, 186, 205, 208, 219 f., 223 Urbanisierung, urbanisiert  10, 12 f., 70, 74, 87, 94, 105, 120, 126, 131, 138 f., 264, 272 ff., 276 f., 288, 291, 298 f., 301 ff., 313, 316 f., 323, 325 ff., 332, 334, 338 ff., 347 f., 363 Urbanität, urban  19, 129, 137, 232, 264, 285, 288, 290 ff., 301 ff., 308 f., 313, 316 f., 326, 328, 347 f., 378 USA, Amerika, amerikanisch, Vereinigte Staaten  69, 105, 193, 236 f., 264, 267, 303, 323, 329 Utopien, utopisch  168, 173, 175, 206 Verbände, Interessenverbände  127, 132 f., 176, 179, 182, 184 f., 187 f., 190, 192, 204, 207 f., 287, 292, 305, 321, 333, 336 f., 353, 356, 382 ff. Verbürgerlichung  12, 109, 300 Verein (Bildungs-, Geselligkeits-, Gewerbe-, Freizeitverein), Vereinswesen  10, 12, 96, 108, 110 ff., 121, 129 ff., 158 ff., 163, 165, 168, 174–229, 289 f., 305, 318, 333, 345, 348, 350, 352 ff., 373, 378 ff., 387 Vereinsbildung, Vereinsprinzip  176 f., 189, 191, 199, 202, 210, 225 f., 348, 350, 352, 361 Vergesellschaftung (v. a. des Bürgertums)  110, 114, 199, 232, 273 f., 287, 289 f., 300 f., 305, 308 ff., 318 f., 351, 373, 378 Vergreisung  237, 241, 263, 388 Verjüngung (v. a. in der Großstadt), kumulative (s. auch Verjugendlichung)  133, 230, 233, 237, 248, 253, 256, 260, 263 f., 266, 379, 387, 389 Verjugendlichung  14, 139, 234, 387 f., 390 Verkehr  62, 76 f., 82, 189, 196 f., 201, 207, 273, 288, 303, 331, 337, 353 Verrechtlichung (des Vereinswesens)  217 ff., 221 ff., 225 Versicherungen, Versicherungswesen (s. auch Unterstützungskasse)  178, 219, 222 f., 234, 285, 386 Verstädterung  137, 190, 193, 230, 288, 330, 340 Vormärz, vormärzlich  42 f., 57 ff., 62, 123, 174, 176, 183, 185 f., 190, 192, 195 ff., 200, 213, 219, 274, 276, 284, 302, 320, 335, 348 f., 356

399 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156

Wanderarbeit(er)  30, 51, 55 ff., 186 Wanderung (Zuwanderung, Einwanderung)  49 f., 59, 62 f., 69, 76, 78, 114, 117 f., 121, 123, 129, 131 f., 139, 147, 201, 231 f., 233 ff., 237 ff., 243 ff., 250 ff., 256, 258, 260 ff., 268, 272, 308, 316 f., 326, 339, 353, 364, 378 Weimarer Republik, Weimarer Zeit  119, 124, 129, 133, 265, 270, 281, 295, 331, 355 f., 359 ff., 365, 368, 370 f., 376, 381, 388 ff.

Wirtschaftsbürger, Wirtschaftsbürgertum (s. auch Bourgeoisie, Bürgertum)  99, 101, 276, 280, 293, 301, 306 f. Wohlfahrtsstaat, -staatlich  288, 290 ff., 298, 300 Zivilisation, Zivilisationskritik  295, 297, 314, 340 Züchtigungsrecht  36 f., 39, 67 Zweiter Weltkrieg  134, 269, 281, 302, 326, 336 f., 375, 390

400 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370155 — ISBN E-Book: 9783647370156