„Arbeit des Himmels“: Jüdische Konzeptionen rituellen Schreibens in der europäischen Kultur des Mittelalters 3110721902, 9783110721904

Die Studie beschäftigt sich mit Konzeptionen des rituellen Schreibens der STaM (Sifrei Torah, Tefillin, Mezuzot) im plur

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„Arbeit des Himmels“: Jüdische Konzeptionen rituellen Schreibens in der europäischen Kultur des Mittelalters
 3110721902, 9783110721904

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1 Einleitung
2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften
3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive
4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa zwischen Akkulturation und Demarkation
5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie: Die Perspektive der Ḥasidei Aškenaz
6 Der ideale Schreiber
7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens
8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis
9 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot in der aschkenasischen Schriftauslegung des Mittelalters
10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation in der Schreiberliteratur
11 Abschließende Bemerkung
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Quellenregister
Namensregister

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Annett Martini ›Arbeit des Himmels‹

Studia Judaica

Forschungen zur Wissenschaft des Judentums Begründet von Ernst Ludwig Ehrlich Herausgegeben von Günter Stemberger, Charlotte Fonrobert, Elisabeth Hollender, Alexander Samely und Irene Zwiep

Band 115

Annett Martini

›Arbeit des Himmels‹ Jüdische Konzeptionen rituellen Schreibens in der europäischen Kultur des Mittelalters

ISBN 978-3-11-072190-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072206-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072221-5 ISSN 0585-5306 Library of Congress Control Number: 2022930726 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

‫והוא יושב על התורה ועל העבודה בקדושה ובטהרה ומושך בשבט סופר וקושר כתרים לקונו‪...‬‬

‫‪Fürs W.‬‬

Inhalt Danksagung 

 XI

1 1.1 1.2 1.3

 1 Einleitung  Die „Arbeit des Himmels“   1 Forschungen zu mittelalterlichen Artefakten  Thesen, Ziele und Methoden   7

2 2.1 2.2

 14 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften  Die Torarolle als Trägerin jüdischer Identität in der Diaspora   14 Präsenz und Performanz des Evangeliars in der mittelalterlichen Messliturgie und im öffentlichen Raum   26

3

Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive   34 Das rabbinische Ideal   34 Der Beschreibstoff   34 Die Tinte   38 Der qulmus   42 Reinheit und Heiligkeit   43 Die Funktion der Reinheitsvorschriften im Schreibkontext der Antike   48 Das Evangeliar als materialer Gedächtnisträger des christlichen Glaubens   51

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.3 3.4

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.5.1

 3

Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa zwischen Akkulturation und Demarkation   61 Auffassungen über eine koschere Schreibhaut im islamischarabischen Kulturraum   61 Gevil, qelaf und duchsustos vs. Pergament im mittelalterlichen Europa   69 Formen der rituellen Weihe lišmah in der antiken rabbinischen Literatur   72 Positionen zur rituellen Weihe des Schreibmaterials aus dem islamisch-arabischen Kulturkreis   80 Rabbinische Perspektiven auf die rituelle Weihe der Schreibmaterialien im christlichen Europa   82 Hazmanah milta: Die Theorie der frühen Tosafisten Nordfrankreichs   87

VIII  4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.6 4.6.1 4.6.2 4.7

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4

 Inhalt

Exkurs: Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg und die hirschlederne Torarolle   90 Die Schule des Meir ben Baruch von Rothenburg   93 Die Rechtsgelehrten südfranzösischer und nordspanischer Regionen   102 Ursachen und Funktionen der rituellen Weihe im Kontext der Schriftrollenherstellung   111 Die symbolische Bedeutung des Materials in der christlichen Buchherstellung   114 Benediktionen, Heiligungen und Exorzismen in der christlichen Umweltkultur: Eine Inspiration für jüdische Schreiber?   125 Halachische Diskussionen um die Herstellung von Tinte und qulmus   131 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie: Die Perspektive der Ḥasidei Aškenaz   140 Die Ḥasidei Aškenaz: Elitäre Sekte oder Massenbewegung?   141 Sefarim und weniger heilige Schriften   144 Die Metaphysik des Materials   148 Qeduššah vs. sanctitas: Christliche Geistlichkeit und Mönche im Blick der Ḥasidei Aškenaz   153 Götzendienst   155 Ritualgegenstände, Reliquien und andere christliche Symbole   158 Liturgie und hebräische Sprache   159 Heilige Bücher und Grenzgänger   163

6 6.1 6.2 6.3 6.4

 168 Der ideale Schreiber  Kavvanah: Die Intention des Herzens   169 Das Gott geweihte Studium torah lišmah   171 Der fromme Schreiber   175 Die Bedeutung des Schreibers als Hüter der Tradition aus christlicher Perspektive   181

7 7.1

 188 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens  Die kleinen Talmudtraktate Massechet sefer torah und Massechet soferim   188 Exkurs: Maimonides und der „Wahnwitz der  Amulettenschreiber“   191

7.2

Inhalt 

7.3 7.4 7.5

8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.2 8.2.1 8.2.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 9 9.1 9.2 10 10.1 10.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4

 IX

Das Schweigen der Halachisten in Frankreich und  Deutschland   196 Die Renaissance der Gottesnamen bei den Ḥasidei Aškenaz   198 Abschließende Bemerkungen zum Schreibkonzept der Ḥasidei Aškenaz   203 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis   206 Eine Rhetorik der Schrift?   206 Die Schrift   207 Die Kolumnen, Absätze und Pausen   208 Die Lieder   213 Die tagin, Sonderzeichen und otijjot mešunnot   218 Antike Vorgaben zum Schreiben der Buchstaben und tagin zwischen Halacha und Aggada   220 Halachische Weisungen   220 Aggadische Auslegungen   223 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa   227 Raschi und die Schule der tosafot   227 Menachem ben Solomon Meiri zu den Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot   235 Die Schule des Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg   237 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot in der aschkenasischen Schriftauslegung des Mittelalters   246 Der sprachmystische Ansatz der Ḥasidei Aškenaz   246 Ethische Konzepte aus dem rabbinischen Umfeld   253 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation in der Schreiberliteratur   267 Nachmanides an der Schnittstelle zwischen ritualisiertem Schreiben und kabbalistischer Spekulation   267 Mystische Konnotationen in den Schreiberhandbüchern Deutschlands   270 Jom Tov Lipmanns Synthese   272 Die Formen der Buchstaben   279 Rabbinische Welten   282 Kosmologie und Israel   286 Die göttlichen Sphären der sefirot   290

X  11

 Inhalt

Abschließende Bemerkung 

Abbildungsverzeichnis  Literaturverzeichnis  Quellenregister 

 327

Namensregister 

 335

 301  303

 295

Danksagung Die vorliegende Studie zur Herstellung rituell reiner Schriftrollen im mittelalterlichen Europa ist eine überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im November 2018 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität angenommen wurde. An dieser Stelle sei zunächst Katrin Kogman-Appel und Saverio Campanini für ihr Interesse und ihre Sorgfalt gedankt, mit der sie diese frühe Version gelesen haben. Ihre konstruktive Kritik war Anstoß und Inspiration für eine vertiefende Arbeit an der Thematik, durch die sich der erste Entwurf zu einem Buch entwickeln konnte. Dieser Dank gilt auch den Herausgeber*innen der Reihe Studia Judaica, insbesondere Elisabeth Hollender, deren hilfreiche Bemerkungen und Anregungen in die Überarbeitung der Schrift eingeflossen sind. Der Entstehungsprozess des Buches ist von Diskussionen mit Kolleg*innen und Freund*innen geprägt, deren unterschiedliche Perspektiven auf Handschriften, auf Schreibprozesse oder auf die Herstellung heiliger Artefakte enorm bereichernd auf mich wirkte. Ohne diesen kontinuierlichen Austausch – auch jenseits der akademischen Welt  – wäre die Studie früh an innerdisziplinäre Grenzen gestoßen. Ganz besonders dankbar bin ich für die Gespräche mit professionellen sofrei STaM und Kalligraphen wie Dov Laimon, Shoshanna Guggenheim oder Izzy Pludwinski, die mir tiefe Einblicke in die heutige Schreibpraxis gewährten. Schließlich möchte ich meinem Mann danken, der ersten Ideen einen Resonanzraum geschaffen, begrenzte Horizonte erweitert und die Mühsal des Korrekturlesens auf sich genommen hat.

https://doi.org/10.1515/9783110722062-203

1 Einleitung 1.1 Die „Arbeit des Himmels“ Im Babylonischen Talmud findet sich eine kleine und dennoch bemerkenswerte Anekdote. Ein Toraschreiber namens Rabbi Jehuda erinnert sich dort an folgende Begegnung: Als ich zu Rabbi Jischmael kam, fragte er mich: „Mein Sohn, was ist deine Beschäftigung?“ Ich erwiderte ihm: „Ich bin [Tora]schreiber.“ Da sprach er zu mir: „Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist Arbeit des Himmels; wenn du nur einen Buchstaben auslässt oder einen Buchstaben zu viel [schreibst], zerstörst du die ganze Welt.“1

Die Warnung des Rabbi Jischmael aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert könnte mit unverändertem Wortlaut aus dem Munde eines Rabbiners unserer Zeit stammen. In den seither vergangenen zweitausend Jahren hat sich nichts am jüdischen Selbstverständnis als Bewahrer des ursprünglichen Gotteswortes der Heiligen Schrift geändert. Kein Buchstabe darf ausgelassen oder hinzugefügt werden, hätte doch der geringste Fehler eine Zerstörung der ganzen Welt – zumindest jedoch: der jüdischen Welt – zur Folge. Die Verantwortung bei einem solch heiklen Schreibakt ist immens und kann nicht von jedermann getragen werden. Betrachtet man die materialen Eigenschaften von Torarollen und den kleinen beschriebenen Pergamentstücken in den Tefillin und Mezuzot, fällt das ernste Bemühen der Schreiber auf, jegliche Veränderung zu vermeiden. Die Beschaffenheit des Pergaments, die Zusammensetzung der Tinte, das Schriftbild und die festgelegten Formen der Buchstaben, der tagin und Sonderzeichen haben seit der Spätantike einige Veränderungen erfahren.2 Doch anders als bei der Weitergabe 1 bT Erub 13a. 2 Ludwig Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen und zur biblischen Litteratur- und Textgeschichte, Straßburg 1902 (Nachdruck 2012), S. 9–37; John B. Poole und Ronald Reed, „The Preparation of Leather and Parchment by the Dead Sea Scrolls Community“, in: Technology and Culture 3 (1962), S. 1–26; Yigael Yadin, „Tefillin (Phylacteries) from Qumran“ (heb.), in: Eretz-Israel 9 (1969), S. 60–83; Michael L. Ryder, „Remains Derived from Skin“, in: Science and Archaeology, hrsg. von Don R. Brothwell und Eric S. Higgs, London 1970, S. 539–554; Johann Maier, Die Tempelrolle vom Toten Meer, München [u. a.] 1978; Malachi Beit-Arié, Hebrew Codicology, Jerusalem 1981; Menachem Haran, „Scribal Workmanship in Biblical Times: The Scrolls and the Writing Implements“ (heb.), in: Tarbiz 50 (1981), S.  65–87; ders., „Book-Scrolls in Israel in Pre-Exilic Times“, in: Journal of Jewish Studies 33 (1982), S. 161–173; Allan D. Crown, „Studies in Samaritan Scribal Practices and Manuscript History: III. Columnar Writing and the Samaritan Massorah“, in: Bulletin of the John Rylands University Library 67 (1984), S. 349–381; Emanuel Tov, Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart [u. a.] 1997, S. 92–128, 189–241; ders., Scribal https://doi.org/10.1515/9783110722062-001

2 

 1 Einleitung

der Hebräischen Bibel haben die Schreiber bis heute den buchkünstlerischen Versuchungen der Umweltkulturen – etwa in Gestalt prachtvoller Illuminierungen oder kunstvoller Kalligraphie  – erfolgreich widerstehen können. Die verschlossene Welt der sofrei STaM konnte auch von medialen Veränderungen wie dem revolutionären Buchdruck oder von technischen Neuerungen, die etwa die Materialherstellung und die Schreibgeräte betreffen, nicht erschüttert werden.3 Es scheint, als habe sich das Wort Gottes insbesondere in der Torarolle gleichsam zu einem Bild verdichtet, dessen „Sprache“ jenseits der einfachen Textebene in seinen materialen Elementen zu suchen ist. Auch ein Blick hinter die Artefakte in Responsen, halachischen Kommentaren und Schreiberhandbüchern widerspricht dem Anschein einer erstarrten Tradition und zeigt, dass sich gerade in den Diskussionen um die materialen Elemente einer Torarolle innerjüdische Entwicklungen, geistesgeschichtliche Strömungen, politische und soziale Spannungen ebenso wie kulturelle Einflüsse manifestierten, die das jüdische Verständnis von Authentizität hinsichtlich der heiligen Rollen oftmals auf die Probe stellten. Die facettenreiche Schreiberliteratur, die bislang kaum ein Untersuchungsgegenstand der Jüdischen Studien war, reflektiert dabei nicht nur veränderte politische, soziale und ökonomische Bedingungen der Zeit, sondern auch Interaktionen und Spannungen zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaft. Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Untersuchung von rituell reinen Torarollen als ein außerordentliches kodikologisches, theologisches und soziales Phänomen der jüdischen Schrifttradition. Während das Kopieren eines Bibelkodex oder der ausdrücklich auch für die liturgische Lesung in der Synagoge hergestellten Schriftrollen (Megillot4) und Gebetbücher (Machzorim und Siddurim) kaum die Aufmerksamkeit der rabbinischen Autoritäten auf sich zog,

Practices and Approaches Reflected in the Texts Found in the Judean Desert, Leiden [u. a.] 2004, S.  31–55; Yehudah B. Cohn, Tangled up in Text. Tefillin and the Ancient World (= Brown Judaic Studies, Bd. 351), Providence 2008. 3 Vgl. Annett Martini, „Lishmah Qedushat Sefer Torah or the Impossibility for Printing a Torah Scroll from Rabbinic Perspective“, in: The Jewish Book 1400–1600, hrsg. von Katrin Kogmann-Appel und Ilona Steinmann, Brepols 2022 (im Druck). 4 Als Teil der Hagiographen wurde den sogenannten „fünf Megillot“, d. h. den Büchern Ester, Rut, Kohelet, Hohelied und Klagelieder, erst seit der Spätantike eine besondere Rolle in der jüdischen Liturgie an den hohen Feiertagen zugewiesen. Allein das öffentliche Verlesen der Ester-Rolle galt bereits in antiker Zeit als Pflicht, so dass der Begriff megillah – „Schriftrolle“ – zuallererst ein Synonym für das biblische Buch Ester war, das wie alle fünf Megillot bis heute auch einzeln in Rollenform tradiert wird. Das Buch Ester wird an Purim, das Hohelied an Pesach, das Buch Rut an Schawuot, die Klagelieder am Tag der Tempelzerstörung, dem 9. Av, und Kohelet im Zuge des Laubhüttenfests gelesen. vgl. auch Günter Stemberger, „Die Megillot als Festlesungen

1.2 Forschungen zu mittelalterlichen Artefakten 

 3

ist die Abschrift der heiligen Schriftrollen seit der Antike in ein dichtes Geflecht religionsgesetzlicher Regulierungen eingebunden. Die stark idealisierten Vorstellungen und Theorien der rabbinischen Tradition zum Verhältnis von Material, Reinheit und Heiligkeit im Schreibkontext werden durch eine reiche Kommentarliteratur ergänzt, die aus einer ethisch-philosophischen, mystischen oder magischen Perspektive heraus die symbolische Bedeutung der materialen Elemente einer Torarolle, den rituellen Schreibprozess oder die außergewöhnlichen Charakteristika des Schreibers herausstellt. Dieser innerjüdischen Trennung der Schriftrollen von den Kodizes und Megillot trägt die bisherige Forschung zur jüdischen Manuskriptkultur allerdings kaum Rechnung und vernachlässigt dadurch die enorme Bedeutung der Schriftrollenherstellung für die Herausbildung und Festigung von kulturellem Gedächtnis und Identität der Juden in der Diaspora in ihrer ganzen kulturhistorischen Tragweite als einen zentralen Mosaikstein jüdisch-christlicher bzw. jüdisch-islamischer Geschichte. Trotz der immensen Bedeutung, die den Artefakten als Mediatoren zwischen dem Heiligen und Profanen, der Vergangenheit und der Zukunft, aber auch der jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaft beigemessen wurde, beschränkte sich die bisherige Forschung weitestgehend auf die Untersuchung der überlieferten materialen Artefakte selbst. Dieses Desiderat soll in der vorliegenden Studie eingelöst werden. Ziel ist es, den bedeutenden Schatz an vernachlässigten Quellentexten zu heben und die Perspektive auf diesen zentralen Gegenstand der hebräischen Schrifttradition von einer eher textkritischen, kodikologisch-paläographischen Sicht für einen komplexeren kulturhistorischen Ansatz zu öffnen. Der Fokus wird dabei auf die Diasporagemeinden des christlich dominierten mittelalterlichen Europas mit einem besonderen Gewicht auf der aschkenasischen Tradition Nordfrankreichs und Deutschlands gerichtet sein.

1.2 Forschungen zu mittelalterlichen Artefakten Das faszinierende Phänomen der jüdischen Schriftenherstellung, liturgische und nichtliturgische Texte auf horizontale Rollen zu schreiben, wurde von der früheren Forschung vor allem mit Blick auf archäologische Funde der Antike behandelt. Insbesondere die Schriftrollen aus Qumran am Toten Meer standen im Fokus unterschiedlicher Studien, die Textvarianten erhaltener biblischer Schriften, die mate-

der jüdischen Liturgie“, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, hrsg. von Martin Ebner, Irmtraud Fischer und Christoph Markschies, Bd. 18 (2003), S. 261–276.

4 

 1 Einleitung

riale Beschaffenheit der Schreibhäute und der Tinten sowie bestimmte Merkmale des Layouts der Schriftrollen thematisierten.5 Erst in der letzten Dekade warfen Forscher wie Judith Olszowy-Schlanger, Mauro Perani, Jordan Penkower, Josef M. Oesch und Franz D. Hubmann neues Licht auch auf mittelalterliche Torarollen, die vollständig oder häufiger noch als Fragmente in unterschiedlichen Bibliotheken oder Genizot erhalten sind. Die jüdische Tradition sieht für ausgediente Torarollen die Lagerung in einer Geniza und die anschließende Beerdigung auf einem Friedhof vor, wo das organische Material dann schnell verrottet. Unter anderem aus diesem Grund ist nur eine sehr begrenzte Anzahl von vollständig erhaltenen, datierten mittelalterlichen Torarollen überliefert, die im europäischen Kulturraum beinahe ausschließlich in christlichen Bibliotheken überdauerten. Die gut erforschten Torarollen der Erfurter Handschriftensammlung, die sogenannte „Magdeburger Torarolle“ oder die erst kürzlich (als mittelalterlich neu)entdeckte Torarolle aus Bologna sind Beispiele mittelalterlicher sifrei torah aus Europa, die glücklicherweise vollständig überliefert sind.6 Es ist jedoch davon auszugehen, dass eine nicht geringe Anzahl von Torarollen(fragmenten) aus dem Mittelalter noch gänzlich unerforscht auf ihre Entdeckung warten. Ein Beispiel dafür ist die sehr gut und vollständig erhaltene Torarolle aus dem 14.  Jahrhundert, die lange Zeit unbeachtet in der Hallenser Marienbibliothek lagerte. Hinzu kommt

5 Vgl. Anm. 2 und Yaron Nir-El und Magen Broshi, „The Red Ink of the Dead Sea Scrolls“, in: Archaeometry 38 (1996), H. 1, S. 97–102; dies., „The Black Ink of the Qumran Scrolls“, in: Dead Sea Discoveries 3 (1996), H. 2, S. 157–167; Ira Rabin, „On the Origin of the Ink of the Thanksgiving Scroll (1QHodayota)“, in: Dead Sea Discoveries 16 (2009), H. 1, S. 97–106 und die Studie von David Stern, The Jewish Bible. A Material History, Seattle/London 2017. 6 Siehe u. a. Franz Hubmann und Josef M. Oesch, „Betrachtungen zu den Torarollen der Erfurter Handschriften-Sammlung. Untersuchungen zu Gliederung und Sonderzeichen“, in: Die jüdische Gemeinde von Erfurt und die SchUM-Gemeinden. Kulturelles Erbe und Vernetzung (= Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte), hrsg. von Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung, Bd. 1, Erfurt 2012, S.  96–116; Jordan S.  Penkower, „The Ashkenazi Pentateuch Tradition as Reflected in the Erfurt Hebrew Bible Codices and Torah Scrolls“, in: Zu Bild und Text im jüdisch-christlichen Kontext (= Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte), hrsg. von Landeshauptstadt Erfurt, StadtverwaltungundUniversität Erfurt, Bd. 3, Erfurt 2014, S. 118–141; ders., „The 12th–13th Century Torah Scroll in Bologna: How It Differs from Contemporary Scrolls“, in: The Ancient Sefer Torah of Bologna, hrsg. von Mauro Perani, Leiden/Bosten 2019, S. 135–166; Mauro Perani, „Textual and Para-textual Devices of the Ancient Proto-Sefardic Bologna Torah Scroll“, in: The Ancient Sefer Torah of Bologna, hrsg. von Mauro Perani, Leiden/Bosten 2019, S. 53–106; Judith Olszowy-Schlanger, „The Making of the Bologna Scroll: Palaeography and Scribal Traditions“, in: The Ancient Sefer Torah of Bologna, hrsg. von Mauro Perani, Leiden/Boston 2019, S. 107–134; Annett Martini, Zwischen Offenbarung und Kontemplation. Die Wolfenbütteler hebräischen Schriftrollen, mit Beiträgen von Dagmara Budzioch und Ad Stijnman (= Wolfenbütteler Forschungen 163), Wolfenbüttel 2021.

1.2 Forschungen zu mittelalterlichen Artefakten 

 5

eine Reihe von Fragmenten, die beispielsweise in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der Krakauer Jagiellonischen Bibliothek oder in der Reckendorfer Geniza in Franken erst in den letzten Jahren entdeckt wurden.7 Die Erforschung der teilweise abenteuerlichen Reisen dieser Artefakte durch diverse christliche Bibliotheken stellt einen wichtigen Beitrag zur Wissens-, Regional- und Alltagsgeschichte der mittelalterlichen jüdischen Kultur in Europa dar.8 Darüber hinaus bereicherten neue Funde aus der Kairoer Geniza unser Wissen über regional und temporal unterschiedliche Schreibpraktiken. So konnte Olszowy-Schlanger die übliche Auffassung hinsichtlich des Wendepunktes, an dem das Rollenformat durch den viel ökonomischeren und ergonomischeren Kodex ersetzt wurde, durch die Untersuchung einiger Rollen(fragmente) der Kairoer Geniza revidieren.9 Die große Anzahl von nichtbiblischen Rollen innerhalb der berühmten Geniza, die Abschnitte aus Midraschim, dem Talmud oder der Mischna sowie Gebetbücher aus dem 9. – 11. Jahrhundert enthalten, widersprechen der (nun obsoleten) Annahme, dass die Herstellung eines Kodex für profane Texte ab dem 8.  Jahrhundert die übliche Technik und das Rollenformat allein liturgischen Texten für den Ritus vorbehalten gewesen sei. Die neuen Funde ermöglichten auch eine besser begründete Unterscheidung zwischen Torarollen, die in Aschkenas oder Sefarad, im Nahen Osten, dem Byzantinischen Reich oder dem Jemen hergestellt wurden. Varianten des Textes und des Layouts können typologischen Charakteristika regionaler Texttraditionen zugeordnet werden, wobei der berühmte Aleppo-Kodex (ca. 925),10 die entsprechenden Ausführungen 7 Annett Martini, „Die Hallenser Torarolle: Eine seltene Kostbarkeit jüdischer Schrifttradition des Mittelalters“, (in Vorbereitung); dies., „Von der Torarolle zum Schreibbüchlein: Die tagin als Erinnerungsanker der Josefsgeschichte in einem mittelalterlichen Torarollenfragment“, in: GenisaBlätter IV, hrsg. von Rebekka Denz [i.a.], Potsdam 2022 (im Druck); dies., Zwischen Offenbarung und Kontemplation; Judith Olszowy-Schlanger, „Some Palaeographical Observations on the Torah Scrolls from Medieval Cracow: Binding Fragments from Jagellonian Library“, in: Andreas Lehnardt (Hrsg.), European Genizah. Newly Discovered Hebrew Binding Fragments in Context (= European Genizah Texts and Studies, Bd. 5), Leiden/Boston 2020, S. 228–257. 8 Das kann beispielsweise in dem von Andreas Lehnardt 2020 herausgegebenen Band European Genizah. Newly Discovered Hebrew Binding Fragments in Context nachvollzogen werden, in dem Beiträge, die weit über eine philologisch-kritische Textanalyse hinausgehen, zur Rekonstruktion der Geschichte ausgesuchter hebräischer Einbandfragmente versammelt sind. 9 Judith Olszowy-Schlanger, „The Anatomy of Non-biblical Scrolls from the Cairo Geniza“, in: Jewish Manuscript Cultures. New Perspectives, hrsg. von Irina Wandrey (= Studies in Manuscript Cultures 13), Berlin/Boston 2017, S. 49–88. 10 Der Konsonantentext des „Kodex Aleppo“ wurde von Schlomo ben Bujaa geschrieben und von Aaron Ben Ascher um 925 mit Vokalen, Akzenten und masoretischen Anmerkungen versehen. Das Manuskript, von dem nur drei Viertel erhalten sind, galt bereits im Mittelalter jüdischen Gelehrten als die zuverlässigste Quelle des biblischen Textes.

6 

 1 Einleitung

des Moses Maimonides (1135–1204) in seinen Responsen und der Mišneh torah sowie der einflussreiche Šulḥan aruch (1563) des spanischen Halachisten Josef ben Ephraim Caro (1488–1575) die Referenzpunkte darstellen, nach denen ein mittelalterliches Bibelmanuskript – sei es ein Kodex oder eine Schriftrolle – in Raum und Zeit (grob) lokalisiert werden kann.11 Überdies ermöglichen paläographische Untersuchungen der für das Schreiben der STaM obligatorischen Quadratschrift, der tagin und otijjot mešunnot tiefere Einblicke in die Genese mittelalterlicher Schriftrollen.12 In diesem Kontext sind wiederum die Bemühungen von Olszowy-Schlanger herauszustreichen, die erstmalig auch Fragmente der Kairoer Geniza (Taylor-Schechter Geniza Collection) einbezogen und dergestalt unser Wissen um Schreibpraktiken in orientalischen Kulturen erweitert hat.13 Die fragmentarischen Überlieferungen auch aus anderen Sammlungen oder Bibliotheken sind deshalb wichtige Quellen, um die schwierige Datierung und Verortung der seltenen Schriftrollenfunde zu erleichtern.14 Eine umfassende Erforschung der mit den Schriftzeichen verbundenen magischen Schreibpraktiken steht jedoch genauso aus wie eine Untersuchung der Rezeption dieser Schriftelemente als ethische, mystische oder philosophische Gegenstände des jüdischen Denkens. Last but not least seien die Studien von Forschern wie Malachi Beit Arie, Colette Sirat, Gabrielle Sed-Rajna, Ada Yardeni, David Stern oder Katrin Kogman-Appel erwähnt, die viel Licht in das Dunkel mittelalterlicher Schreibstuben brachten.

11 Jordan S. Penkower, „A Sheet of Parchment from a 10th or 11th Century Tora Scroll: Determining its Type among Four Traditions (Oriental, Sefardi, Ashkenazi, Yemenite)“, in: Textus 21 (2002), S. 235–264; ders., New Evidence for the Pentateuch Text in the Aleppo Codex, Ramat Gan 1992 (Heb.) 12 Vgl. Judith Olszowy-Schlanger, „The Making of the Bologna Scroll“, S. 124–133; Schlomo Zucker, „Ha-otijjot ha-mešunnot, kegon lefufot ve-ha-aqummot“, in: Al sefarim ve-anašim (National und University Library in Jerusalem) 12. Mai 1977; Manfred M. Lehmann, „Al pe-in lefufin“, in: Beit Miqra 30/4 (1985), S. 449–455; Isaak Razhabi, „Irregular Letters in the Torah“, in Torah Šelemah, hrsg. von Menachem M. Kasher, Bd. 29, Jerusalem 1978, S. 1–234; Israel M. Ta-Schma, „Al tagin ve-zijjunin šel sefer torah“, in: From the Collection of the Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts, hrsg. von A. David, Nr. 17, Jerusalem 1996. 13 Olszowy-Schlanger, „The Anatomy of Non-biblical Scrolls from the Cairo Geniza“; OlszowySchlanger, „The Making of the Bologna Scroll: Palaeography and Scribal Traditions“, S. 126. 14 Olszowy-Schlanger konnte auf Grundlage der fragmentarischen Artefakte, die in der Krakauer Jagiellonischen Bibliothek aus Einbänden herausgelöst wurden, paläographische Besonderheiten der Schriftrollenherstellung im spätmittelalterlichen Polen herausarbeiten. Vgl. Olszowy-Schlanger, „Some Palaeographical Observations on the Torah Scrolls from Medieval Cracow“.

1.3 Thesen, Ziele und Methoden 

 7

1.3 Thesen, Ziele und Methoden Die jüdische Auffassung von der Herstellung einer rituell reinen Tora durchlief in der Zeit vom 11. bis 15. Jahrhundert einen tiefgreifenden Transformationsprozess, der von einem wachsenden Interesse an der symbolischen Bedeutung der Schriftzeichen begleitet wurde. Es ist ein zentrales Ziel der vorliegenden Studie, diese Neuerungen und Modifikationen im Vergleich mit den antiken Quellen der Schreiberliteratur darzustellen und nach ihren Ursachen zu forschen. Die Untersuchung wird von der Hypothese geleitet, dass es sich bei den veränderten Perspektiven auf die materialen Elemente einer Torarolle keineswegs um eine rein innerjüdische Debatte handelte – auch wenn die Quellentexte oftmals einen solchen Anschein erwecken. Es soll geprüft werden, ob nicht vielmehr die christliche Umweltkultur und das ambivalente jüdisch-christliche Verhältnis als ein wesentlicher Katalysator der Entwicklungen betrachtet werden können. Für diese Argumentation lassen sich zahlreiche Forschungen zum jüdischen Leben im mittelalterlichen Aschkenas heranziehen, die in den letzten Dekaden eine differenziertere Sichtweise auf die jüdische Geschichte im europäischen Mittelalter in Anschlag brachten, um der Ambivalenz des jüdisch-christlichen Miteinanders gerecht zu werden.15 Der Fokus auf die katastrophalen Fixpunkte der Geschichte der Juden im mittelalterlichen Europa – die traumatischen Ereignisse im Zusammenhang mit dem ersten Kreuzzug im Jahre 1096, die Zwangsdisputationen, Bücherverbrennungen, polemischen Debatten und Ritualmordanschuldigungen, die europaweiten Vertreibungen und schließlich die Zerstörung zahlreicher jüdischer Gemeinden Mitteleuropas durch die Pestpogrome in den Jahren 1348– 1351 – wurde geweitet, indem der vielfältige Austausch zwischen der jüdischen und christlichen Gemeinschaft einbezogen wurde. Dieser Austausch formte das Denken intellektueller Eliten16 genauso wie das alltägliche Leben der breiten Bevölkerung17 – eine Annahme, die für das jüdische 15 Vgl. David Berger, „A Generation of Scholarship on Jewish-Christian Interaction in the Medieval World“, Tradition 38,2 (Sommer, 2004), S. 4–14; auch abgedruckt in: David Berger, Persecution, Polemic, and Dialogue. Essays in Jewish-Christian Relations, Boston 2010, S. 40–50. 16 Vgl. u. a. Ephraim Kanarfogel, The Intellectual History and Rabbinic Culture of Medieval Ashkenaz, Detroit 2013, S. 84–110; Haym Soloveitchik, „Three Themes in Sefer Ḥasidim“, in: AJS Review 1 (1976), S. 311–357, hier S. 339–357. 17 Vgl. Elisheva Baumgarten, Practicing Piety in Medieval Ashkenaz. Men, Woman, and Everyday Religious Observance, Philadelphia 2014, S. 1–19; Elisheva Carlebach und Jacob J. Schacter (Hrsg.), New Perspectives on Jewish-Christian Relations, Leiden [u. a.] 2012; Elisheva Baumgarten [u. a.] (Hrsg.), Entangled Histories. Knowledge, Authority, and Jewish Culture in the Thirteenth Century, Philadelphia 2017; Elisheva Baumgarten und Judah D. Galinsky (Hrsg.), Jews and Christians in Thirteenth-Century France, New York 2015, S. 1–14.

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 1 Einleitung

Leben im islamischen Kulturraum oder in der Renaissance längst unbestritten ist.18 Juden und Christen Europas standen in engem kulturellen, ökonomischen und sozialen Kontakt miteinander, lebten in denselben Städten als Nachbarn zusammen und teilten dementsprechend zahlreiche Werte, Ansichten und Erfahrungen miteinander. Die Koexistenz war nicht immer von Feindseligkeiten, Fremdheit und Distanz geprägt, sondern erlaubte einen lebendigen Transfer von Wissen und Bräuchen über religiöse Grenzen innerhalb der europäischen Gesellschaft hinweg. Den Grundstein für diesen Ansatz legten Forscher wie Moritz Güdemann oder Abraham Berliner bereits im späten 19.  Jahrhundert.19 Salo Baron, Israel Abraham und Jakob Katz  – um nur die wichtigsten zu nennen  – vertieften die neue Perspektive auf das jüdisch-christliche Europa mit methodologischen Konzepten, die auch heute noch inspirierend auf sozialgeschichtliche Arbeiten zum mittelalterlichen Judentum wirken.20 An dieser Stelle sei auf die Studien von Israel Yuval, Ivan Marcus und Elisheva Baumgarten hingewiesen, die sich auf originelle und mitunter kontroverse Weise mit jüdisch-christlichen Beziehungen in Aschkenas auf theologischer, ritueller oder sozialer Ebene auseinandergesetzt und auf das methodologische Konzept der vorliegenden Arbeit außerordentlich anregend gewirkt haben. Das trifft insbesondere auf den von Marcus in seiner kulturanthropologischen Studie Rituals of Childhood vorgestellten Begriff der „inward acculturation“ zu. Dabei handelt es sich um einen subtilen Prozess des kulturellen Austauschs, der auf den ersten Blick nicht unbedingt sofort als ein solcher deutlich wird. Jüdische Gemeinschaften in der Diaspora assimilierten sich Marcus zufolge nicht in die Umweltkultur. Sie gaben ihr jüdisches Erbe und damit ihre Gruppenidentität nicht auf, sondern transformierten zu manchen Zeiten Elemente der Majoritätskultur und brachten sie in die eigene Tradition ein. Jews adapted Christian themes and iconography, which they saw all around them every day, and fused them – often in inverted and parodic ways – with ancient Jewish customs and traditions. […] Jews absorbed into their Judaism aspects of the majority culture and understood

18 Vgl. Marcus, Rituals of Childhood. Jewish Acculturation in Medieval Europe, New Haven [u. a.] 1996, S. 1–17. 19 Moritz Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit, Wien 1880; Abraham Berliner, Aus dem inneren Leben der deutschen Juden im Mittealter, Berlin 1871. 20 Salo Baron, A Social and Religious History of the Jews (Bd. 11: Late Middle Ages and Era of European Expansion 1200–1650), New York [u. a.] 1958; Israel Abraham, Jewish Life in the Middle Ages, London 1932; Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, Oxford 1961.

1.3 Thesen, Ziele und Methoden 

 9

the products to be part and parcel of their Judaism, and they continued to think themselves as being completely Jewish.21

Gegenstand seiner Untersuchung waren jüdische Rituale, mit denen Knaben im mittelalterlichen Deutschland der hebräischen Sprache und dem Studium traditioneller Texte näher gebracht wurden. Ein Lehrer schrieb alle Buchstaben des Alphabets mit Honig auf eine Holztafel, die von dem Schüler abgeleckt wurde, um jene auf angenehme Art im Gedächtnis zu verankern. Marcus interpretiert das rituelle Verspeisen des hebräischen Alphabets in Form von Honig oder mitunter hostienähnlicher Süßigkeiten als einen polemischen Gegenentwurf zur christlichen Eucharistie. Rituelle Anleihen aus der christlichen Umweltkultur müssen jedoch nicht immer in einem so paradoxen Gewandt erscheinen, wie Marcus es mit Blick auf Übergangsrituale der Kindheit beobachtete. Ephraim Shoham-Steiner stellte hinsichtlich des weit verbreiteten Phänomens der Pilgerschaft und des Heiligenkults in jüdischen Kreisen Europas fest: Jews lived alongside Christians in medieval Europe and were, in many respects, until their presence was no longer tolerated, an almost inseparable part of the human physical as well as the imagined social fabric of the medieval European community. This is especially true of the medieval urban social component, for Jews were, for the most part, city and town dwellers. Given the size of many of the medieval European towns until the late fourteenth century, Jews and Christians could not avoid being aware of their respective neighbor’s behaviors, actions, beliefs, and customs, nor could they avoid speaking about them.22

Der in der christlichen Gesellschaft des europäischen Mittelalters tief verwurzelte Heiligenkult, so Shoham-Steiner, und die mit einer Pilgerschaft zum Grab oder Schrein des Heiligen verbundenen Hoffnungen auf Heilung von Krankheiten wurde von jüdische Bevölkerungsschichten geteilt, obwohl die rabbinischen Eliten das Beten an einem Ort der Toten, d. h. der Unreinheit, kontrovers diskutierten. Auch Elisheva Baumgarten, die sich u. a. mit Bräuchen und Ritualen der Frömmigkeit im mittelalterlichen Aschkenas befasste, belegt die offensichtlichen transkulturellen Einflüsse. Baumgarten ist davon überzeugt, dass „medieval Jewish piety can only be fully apprehended in the context of practice that was grounded in religious beliefs and social realities, textual heritage and teachings, gender hierarchies and the close quarters of the medieval cities where Jews and

21 Marcus, Rituals of Childhood, S. 12. 22 Ephraim Shoham-Steiner, „,For a Prayer in that Place Would be Most Welcome‘: Jews, Holy Shrines, and Miracles  – A New Approach“, in: Viator 37 (Medieval and Renaissance Studies, 2006), S. 369–393, hier S. 373.

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 1 Einleitung

Christians displayed their beliefs and practiced everyday rituals throughout their lives.“23 Um der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes und seinen vielfältigen Verflechtungen mit der christlichen Kultur gerecht zu werden, wird in der vorliegenden Studie ein breites Spektrum an jüdischen und christlichen Quellen, die mehrheitlich zwischen dem 11. und dem 15. Jahrhundert geschrieben wurden, zur Analyse herangezogen. Ein großer Teil der Abhandlungen stammt aus rabbinischen Schulen, die sich kontrovers mit der Herstellung rituell reiner Schriftrollen in halachischen Werken, Kommentaren zum Talmud oder Responsen befassten. Hinzu kommen die wenigen überlieferten Zeugnisse von eher an der Praxis orientierten Schreiberhandbüchern und deren Kommentierungen aus dem mittelalterlichen Europa. Die Perspektive der rabbinischen Eliten wird durch Bibelkommentare und Exempla aus dem narrativen Schatz der Ḥasidei Aškenaz ergänzt werden. Mit der Diversität der Quellen und Genres werden Fragen nach gegenseitigen Beeinflussungen der unterschiedlichen Gruppierungen verbunden. Welche Bedeutung hatten die rabbinischen Entwürfe für mystische Konzeptionen des Schreibens und umgekehrt, wie wirkten die ethischen und magischen Vorstellungen der Ḥasidei Aškenaz auf halachische Entwürfe? Religionsgesetzliche Theorie und belehrende Exempla sollen schließlich auf ihren Realitätsgehalt geprüft werden. Spiegelt die halachische Norm oder der chassidische Narrativ die Praxis wider oder wurden diese Texte geschrieben, um vielmehr umgekehrt aus einer bestimmten ideologischen, sozialen und religiösen Klasse heraus in das jüdische Leben hinein zu wirken? Bezüglich der christlichen Schreibkultur verdient die reiche Quellensammlung Handschriften im Mittelalter von Martin Steinmann eine besondere Erwähnung. Sie enthält auf über neunhundert Seiten unkommentierte Texte, die sich im weitesten Sinne mit der Herstellung von Handschriften im lateinischen Westen befassen. Die Anthologie Steinmanns dient zusammen mit einer vielfältigen Forschung zum monastischen Skriptorium als Grundlage für vergleichende Darstellungen der jüdischen und christlichen Schriftenherstellung, die sich durch alle Kapitel der vorliegenden Studie ziehen. Wie das Evangeliar in der christlichen Schriftkultur ist die Torarolle wichtigster Träger eines identitätsstiftenden kulturellen Gedächtnisses, dessen symbolischer Wert unter allen Umständen zu erhalten ist. Die enorme Spannung zwischen Juden und Christen im mittelalterlichen Europa – so eine These dieser Studie – entlud sich nicht zuletzt in einer theologischen Apologie der heiligen Bücher, deren Wurzeln in die Antike zurückreichen. Die Abgrenzung des frühen Christentums von den jüdischen Quellen ließen Tora-

23 Baumgarten, Practicing Piety in Medieval Ashkenaz, S. 224.

1.3 Thesen, Ziele und Methoden 

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rolle und Evangeliar auch zum materialen, ikonographisch inszenierten Schauplatz des Ringens um Heiligkeit und Wahrheit der Heilslehren werden. Das zweite Kapitel wird sich deshalb einleitend der Torarolle und dem Evangeliar als materiale Träger eines kulturellen Gedächtnisses widmen. Der Ausgangspunkt einer Untersuchung der rabbinischen Schreiberliteratur des Mittelalters muss das rabbinische Ideal der Antike sein, da es die Grundlage für alle späteren Debatten um die Herstellung einer koscheren Schriftrolle und deren symbolische Aspekte darstellt. Das dritte Kapitel diskutiert dementsprechend die frühen rabbinischen Vorstellungen zu den Schreibmaterialien im Spannungsfeld der Kategorien heilig und profan bzw. rein und unrein. Die komplexen Reinheitsvorschriften werden in diesem und den folgenden Kapiteln unter Einbeziehung von einschlägigen Theorien zur sozialen Dimension von Reinheitsvorstellungen im Anschluss an die richtungsweisenden Arbeiten von Mary Douglas beleuchtet. Darüber hinaus sollen die ritualisierten Handlungsabläufe während der Herstellung einer Torarolle und deren Handhabe jenseits des liturgischen Raums den Quellen entsprechend mit Blick auf die Funktion von Ritualen als ein Ausdruck des Strebens einer sozialen Gruppe nach kultureller Identität und Teilhabe am heiligen Raum betrachtet werden. Von der Annahme ausgehend, dass die mehr oder weniger subtilen Änderungen der Herstellungs- und Schreibrituale Reflexionen des Kontakts mit anderen Kulturen und Kontexten darstellen, wird die Frage aufgeworfen, wie sich diese Rituale im Laufe der Zeit veränderten und was die Ursachen dieser rituellen Dynamiken waren. Das vierte Kapitel präsentiert die rabbinischen Debatten um die Materialien koscherer Schriftrollen im christlich dominierten Europa. Über die Rückschlüsse, die die Materialität eines Gegenstandes auf seinen Hersteller und Rezipienten, dessen Kultur und Identität zulassen, ist in den letzten Jahrzehnten umfassend geforscht worden.24 Der sogenannte „material turn“ hat seit den 1980er Jahren

24 Siehe u. a. Daniel Miller (Hrsg.), Material Cultures. Why Some Things Matter, London 1998; Jules D. Prown und Kenneth Haltman (Hrsg.), American Artifacts. Essays in Material Culture, East Lansing 2000; Philip Bracher, Florian Hertweck und Stefan Schröder, „Dinge in Bewegung. Reiseliteraturforschung und Material Culture Studies“, in: Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge, hrsg. von Philip Bracher, Florian Hertweck und Stefan Schröder, Münster 2006, S.  9–24; Martin Hilgert, „,Textanthropologie‘: Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie“, in: Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft 142 (2010), S. 87–126. Mit Blick auf die Buchherstellung von besonderem Interesse ist die von Martin Schubert herausgegebene Aufsatzsammlung Materialität in der Editionswissenschaft (= Beihefte zu Editio, Bd.  32), Berlin [u. a.] 2010, in der Schubert in seinem Vorwort (S.  1–13) einen Überblick zur Materialforschung gibt. Die Sonderforschungsbereiche Materiale Textkulturen an der Universität in Heidelberg oder Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa an der Universität Hamburg haben ihre Ergebnisse in einigen Forschungsbänden

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 1 Einleitung

zunächst in den USA und dann in den europäischen Geisteswissenschaften neben Sonderforschungsbereichen zahlreiche theoretische Forschungsansätze hervorgebracht, deren Ausgangspunkt die Annahme ist, dass Artefakte keineswegs nur passive, tote Objekte sind, sondern „Aktanten“, die an rituellen, religiösen oder sozialen Praktiken teil haben. In der vorliegenden Studie sollen diese Ansätze um eine Perspektive erweitert werden. Im Zentrum stehen nicht die materialen Zeugnisse selbst, sondern vielmehr jene Regelungen und Konnotationen der Rezipienten bezüglich der Herstellung des Schreibstoffes, der Tinte und der Schreibgeräte sowie solche Diskussionen um die Schriftzeichen und das Schriftbild, die über das Materiale und damit die profane Welt der Dinge hinausweisen. Mit diesem Ansatz sind verschiedene Fragestellungen verknüpft, die wiederum zurück in das jüdische Leben und die jüdische Kultur führen: Welchem theologischen, religionsgesetzlichen, sozialen und emotionalen Aufwand war das unbedingte Festhalten an einer als „ursprünglich“ geschätzten materialen Form geschuldet? Welche Hoffnungen, Befürchtungen und Erinnerungen sind an das Material geknüpft, das als Träger einer kulturellen Identität des Judentums untersucht werden soll? Schließlich muss auch gefragt werden, welche Konsequenzen, Einflüsse und innerjüdischen Spannungen sich aus der starken materialen Präsenz der heiligen Bücher des Christentums ergaben. Bei der Klärung dieser Fragen ist nicht zu vergessen, dass der Torarolle und den Tefillin essentielle Bedeutung im rituellen Leben der jüdischen Gemeinschaft zukommt, dass es sich also bei diesen Schriften – und hier sind die Mezuzot einzubeziehen – eben nicht „nur“ um Kopien bestimmter Abschnitte der Hebräischen Bibel, sondern auch um Kultgegenstände handelt, deren performative Präsenz ohnehin gewisse Anforderungen an ihre materiale Beschaffenheit stellt. Das fünfte Kapitel widmet sich ganz der Schreibkultur im geistigen Umfeld der Ḥasidei Aškenaz. Das reiche Quellenmaterial zu sämtlichen Aspekten der Buch-

herausgegeben, wobei für die vorliegende Studie folgende Aufsatzsammlungen von besonderem Interesse waren: Michael R. Ott, Rebecca Sauer, Thomas Meier (Hrsg.), Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin [u. a.] 2015; Wilfried E. Keil, Tobias Frese, Kristina Krüger (Hrsg.), Verborgen, unsichtbar, unlesbar. Zur Problematik restringierter Schriftpräsenz, Berlin [u. a.] 2014; Joachim Friedrich Quack, Daniela Christina Luft (Hrsg.), Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften, Berlin [u. a.] 2014; Annette Kehnel, Diamantís Panagiotópoulos (Hrsg.), Schriftträger  – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften, Berlin [u. a.] 2014 und Susanne Enderwitz, Rebecca Sauer (Hrsg.), Communication and Materiality. Written and Unwritten Communication in Pre-Modern Societies, Berlin [u. a.] 2015 sowie die vom Sonderforschungsbereich „Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa“ an der Universität Hamburg initiierte und von Michael Friedrich, Harunaga Isaacson und Jörg B. Quenzer herausgegebene Schriftenreihe Studies in Manuscript Culture, in welcher Monographien und Aufsatzsammlungen zum Thema „Manuskripte“ im weitesten Sinne erschienen sind.

1.3 Thesen, Ziele und Methoden 

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bzw. Schriftrollenherstellung wird hier erstmals in seiner ganzen Komplexität diskutiert. Das magische Potential des Materials, der ritualisierte Umgang mit den sefarim, der Entwurf eines idealen Schreibers und die besonderen Vorkehrungen beim Schreiben der Gottesnamen sind Themen, die in diesem Abschnitt sowie in den Kapiteln sechs und sieben unter Einbeziehung der rabbinischen Schreiberliteratur diskutiert werden. Es wird argumentiert, dass die blühende monastische Buchkultur mit ihren hochprofessionellen Skriptorien den entscheidenden Anstoß für die Ḥasidei Aškenaz darstellt, einen breiten Regelkanon für die Herstellung und die Handhabung der sefarim zu entwerfen, der in mancher Hinsicht den rabbinischen Rahmen sprengte. Um diese These zu stützen, wird die generelle Haltung der Chassiden zu christlichen Geistlichen und Mönchen systematisch aus den Narrativen des Sefer ḥasidim herausgearbeitet. Die halachischen, exegetischen und mystischen Debatten um die Formen der Quadratschrift, der tagin und otijjot mešunnot zum Schreiben der STaM bilden das Themenfeld des achten und neunten Kapitels. Die beiden Abschnitte thematisieren zum einen das Streben der aschkenasischen Gelehrten und Schreiber nach einem festen Formenkanon. Zum anderen sollen die Schriftzeichen als Ausgangspunkt einer esoterischen Exegese zur Debatte stehen. Die verschiedenen Elemente der Schrift waren bereits in der antiken jüdischen Literatur eng mit ethischen und mystischen Vorstellungen verbunden. Die europäische Tradition griff diese Tendenz auf und maß insbesondere der symbolischen Deutung der normabweichend geschriebenen Buchstaben und tagin, die in der mittelalterlichen aschkenasischen Schreibpraxis eine Blütezeit erlebten, große Bedeutung bei. Auch diese in der Forschung bislang vernachlässigte Besonderheit der jüdischen Schreibtradition wird mit Blick auf die unterschiedlichen Strömungen bzw. Schulen erstmals exemplarisch untersucht. Das abschließende zehnte Kapitel stellt Jom Tov Lipmanns schmales Schreiberhandbüchlein, den Sefer alfa beta, vor. Die einflussreiche Abhandlung zu den Schreibregeln für die korrekten Formen der Buchstaben aus dem frühen 15. Jahrhundert stellt einen ersten Versuch dar, die unterschiedlichen Schrifttraditionen der Antike und des Mittelalters zusammenzuführen. Den Schreibern wird darin nicht nur eine detaillierte Beschreibung aller Buchstabenformen an die Hand gegeben, sondern auch eine Anthologie von rabbinischen, mystischen und philosophischen Vorstellungen zur symbolischen Bedeutung der Schriftzeichen zum Studium vorgelegt. Als Verbindungsglied zwischen Mittelalter und Moderne stellt Jom Tovs Abhandlung eine wichtige Quelle zur Geschichte der Schriftrollenherstellung in der jüdischen Tradition dar und schließt dementsprechend mit einem eigenen Kapitel diese Studie ab.

2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften 2.1 Die Torarolle als Trägerin jüdischer Identität in der Diaspora Es gibt wohl kaum einen Gegenstand der jüdischen Kultpraxis, an dem der Begriff vom „kollektiven Gedächtnis“1 in seiner vollen Interpretationsbreite so fruchtbar gemacht werden kann wie an einem sefer torah. Inspirierend und herausfordernd zugleich wirken auch heute noch Jan Assmanns auf den Arbeiten von Maurice Halbwachs, Pierre Nora2 und Aby Warburg3 aufbauende Thesen zu den wechselseitigen Beziehungen von Erinnerung, Schrift und Identität, die der Ägyptologe mit Blick auf die alten Hochkulturen in verschiedenen Schriften diskutierte.4 Das kulturelle Gedächtnis schöpfe im Gegensatz zum kommunikativen „Kurzzeitgedächtnis“ der unmittelbar aufeinander folgenden Generationen aus der fernen Vergangenheit, indem es aus Erinnerungsfiguren, Mythen oder Geschichten seine „fortdauernde und formative Kraft“ gewinne. Der kulturellen Erinnerung hafte darüber hinaus etwas Sakrales an: Die Erinnerungsfiguren haben einen religiösen Sinn, und ihre erinnernde Vergegenwärtigung hat oft den Charakter des Festes. Das Fest dient – neben vielen anderen Funktionen –

1 Maurice Halbwachs (1877–1945) gab diesem Terminus Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts theoretisches Gewicht und legte damit den Grundstein für die sogenannten „memory studies“, die dann ab den 1980er Jahren ein erstaunlich breites Forschungsfeld umfassten. Es waren Jan und Aleida Assmann, die die vielfältigen psychologischen, kunsthistorischen, philosophischen, anthropologischen und religionswissenschaftlichen Stränge dieses Forschungsbereichs zu einer umfassenden Theorie des kulturellen Gedächtnisses zusammenführten. Vgl.  Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925; ders., La mémoire collective, Paris 1950. 2 Pierre Nora, Les lieux de mémoire (3 Bde.), Paris 1984–1992. 3 Vgl. u. a. Aby Warburgs 1924 begonnenen Arbeiten zum Bilderatlas Mnemosyne. 4 Assmann greift darin die grundsätzliche Unterscheidung Halbwachs’ zwischen einem „autobiographischen Gedächtnis“ und einem „historischen Gedächtnis“ auf und entwickelt (mit Aleida Assmann) diese Idee von den „zwei Gedächtnisrahmen“ zu einer differenzierten Definition eines „kommunikativen“ und eines „kulturellen“ Gedächtnisses weiter. Das kommunikative Gedächtnis umfasst grob gesprochen „Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen“, oder anders ausgedrückt auf einen sozialen Raum, wo lebendige Erinnerungen und persönliche Erfahrungen interaktiv ausgetauscht werden. Assmann spricht vom Generationen-Gedächtnis, das nicht mehr als 80 Jahre zurückreiche und in der Geschichtsforschung den Forschungszweig der „Oral History“ hervorgebracht habe. Das kommunikative Gedächtnis „wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern“. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 50–55. https://doi.org/10.1515/9783110722062-002

2.1 Die Torarolle als Trägerin jüdischer Identität in der Diaspora 

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auch der Vergegenwärtigung fundierender Vergangenheit. Fundiert wird durch den Bezug auf die Vergangenheit die Identität der erinnernden Gruppe. In der Erinnerung an ihre Geschichte und in der Vergegenwärtigung der fundierenden Erinnerungsfiguren vergewissert sich eine Gruppe ihrer Identität. Das ist keine Alltagsidentität. Kollektiven Identitäten haftet etwas Feierliches, Außeralltägliches an. Sie sind gewissermaßen „überlebensgroß“, überschreiten den Alltagshorizont und bilden den Gegenstand zeremonieller, nicht Alltags-Kommunikation.5

Assmann betont den institutionalisierten Charakter der kollektiven Mnemotechnik, da hier „mit festen Objektivationen sprachlicher und nichtsprachlicher Art: in Gestalt von Ritualen, Tänzen, Mythen, Mustern, Kleidung, Schmuck, Tätowierung, Wegen, Malen, Landschaften usw., Zeichensystemen aller Art, die man aufgrund ihrer mnemotechnischen (Erinnerung und Identität stützenden) Funktion dem Gesamtbegriff ‚Memoria‘ zuordnen darf“6, gearbeitet würde. Diese grobe Definition scheint in Anbetracht zunehmender Globalisierung und Migration, des Postkolonialismus sowie neuer Medien – insbesondere des Internets – heute viel zu kurz gegriffen. Gerade in den letzten Jahren sind die Auswirkungen der genannten Aspekte auf die persönliche, soziale und kulturelle Identitätsbildung in unserer Zeit mannigfaltig diskutiert worden. Doch für die Betrachtung der Funktion und Bedeutung der heiligsten Schriften der Religionsgemeinschaften des Mittelalters erweist sich das Assmann’sche Modell als fruchtbare theoretische Vorlage. Das soll im Folgenden am Beispiel der Torarolle und des Evangeliars dargestellt werden.

Das mimetische, dingliche und kommunikative Gedächtnis einer Torarolle Nach Assmann setzt sich das kulturelle Gedächtnis aus drei miteinander eng verwobenen Bereichen zusammen: dem mimetischen Gedächtnis, dem Gedächtnis der Dinge sowie dem Gedächtnis der Sprache und Kommunikation.7 Welche Erinnerungen sind  – grob gesprochen und ohne auf verschiedene liturgische Strömungen Rücksicht zu nehmen  – mit den Bewegungen, Handlungen bzw. Riten, also dem mimetischen Gedächtnis einer Torarolle verbunden? Eine Torarolle wird zu Beginn des Gottesdienstes von einer ausgewählten Person aus dem Toraschrein „herausgehoben“. Die Rolle wird mit ihrem gesamten Ornat – dem

5 Ebd., S. 52 f. 6 Ebd., S. 52. 7 Ebd., S. 20.

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

Toramantel [me‘il] und den Aufsätzen [rimmonim] – zeremoniell zur Bima getragen, dort ihres Schmuckes entkleidet und für die Lesung aufgerollt. (Abb. 1)

Abb. 1: Torarolle mit Mantel: Forlì Siddur, Add Ms 26968, fol. 139v, Italien 1383 (British Library).

2.1 Die Torarolle als Trägerin jüdischer Identität in der Diaspora 

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Während der Aus- und Wiedereinhebung der Schriftrolle erheben sich die versammelten Gemeindemitglieder von ihren Plätzen und begrüßen die kleine Prozession durch Verbeugungen und Rezitationen. Als Geste der Verehrung und direkten Verbundenheit mit Gott küssen Gemeindemitglieder den Mantel des sefer torah. Die rituelle Dramaturgie der Lesung vertieft den mimetischen Charakter des Vorgangs. Der Aufruf, einen Abschnitt der Tora vorzulesen, heißt „Aufstieg“ (alijjah) und erinnert an die Besteigung des Bergs Sinai durch Moses – performativ durch das Betreten des erhöhten Lesepults nachvollzogen. Im Anschluss an die Lesung des Wochenabschnitts oder gegebenenfalls der Prophetenbücher (hafṭarot) und noch bevor die Rolle wieder bekleidet und an ihren angestammten Platz im Toraschrein zurückgetragen wird, hält der Vorleser die Rolle mit beiden Armen in die Höhe und zeigt sie den versammelten Gemeindemitgliedern, die im Chor sprechen: „Das ist das Gesetz, das uns Moses gegeben hat […]“. Die Gemeinde wiederholt dementsprechend in jeder öffentlichen Lesung das bedeutsame Offenbarungsereignis, das den Glauben und die Identität des jüdischen Volkes begründete, durch einen symbolischen Aufstieg eines „Moses“ aus der Gemeinde zu Gott. Die Geste des Zeigens der Rolle verlegt die Übergabe des Gesetzes von Moses an das Volk Israel in die Gegenwart; durch das gemeinsame Sprechen der Formel erneuern die Anwesenden den Bund des jüdischen Volkes mit Gott und versichern sich dergestalt ihrer sozialen Ordnung. In einem sefer torah fließen die weit entfernte Vergangenheit und die Gegenwart in der Ordnung des Ritus bzw. der Festordnung nahtlos ineinander. Mit der Öffnung des Toraschreins begibt sich die Gemeinde in eine heilige Zeit, die mit Mircea Eliade gesprochen „ihrem Wesen nach reversibel“8 ist. Die Torarolle verkörpert wie kein anderer Kultgegenstand diese heilige Zeit, als Gott in direktem Kontakt mit dem Volk Israel trat, es auserwählte und ein Bündnis mit ihm schloss. Sie ist aber auch immer eine Reminiszenz an die Zeit des Tempels und – wie in den nächsten Kapiteln ausgeführt wird – des ersten Tempelrollenexemplars, das der Hand des „zweiten Mose“, nämlich Ezras entstammt.

8 Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane, Hamburg 1957, S. 40. Diese heilige Zeit ist nach Eliade „eigentlich eine mythische Urzeit, die wieder gegenwärtig gemacht wird. Jedes religiöse Fest, jede liturgische Zeit bedeutet die Wiedervergegenwärtigung eines sakralen Ereignisses aus mythischer Vergangenheit, aus der Zeit ‚zu Anbeginn‘. Zur religiösen Teilnahme an einem Fest gehört das Heraustreten aus der ‚gewöhnlichen‘ Zeitdauer und die Wiedereinfügung in die mythische Zeit, die in diesem Fest wieder gegenwärtig wird. Die heilige Zeit ist somit unendlich oft wiederholbar. Man könnte sagen, dass sie nicht ‚abläuft‘, keine umkehrbare Dauer darstellt. Sie ist eine ontologische, eine ‚parmenideische‘ Zeit, die sich immer gleich bleibt, die sich weder verändert noch erschöpft.“ Ebd.

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

Das Gedächtnis der Dinge spiegelt dem Menschen der Gegenwart verschiedene Schichten seiner Vergangenheit wider.9 Aby Warburg spricht von „Erinnerungsbildern“, in denen mnemische Energie als kollektives Gedächtnis bewahrt wird.10 Noch Jahrhunderte nach Herstellung der Artefakte könne dem Betrachter dieser „Gedächtnisbilder“ die „geschichtete (geschichtliche) Formation  seiner eigenen und seiner Vorfahren Vergangenheit“ aufblitzen. Ganz bewusst stapele der zivilisierte Mensch solche Bilder übereinander und lenke sie durch eine „symbolische Denkform“ ins kollektive Bewusstsein.11 Der Zusammenhang von Medium und Kollektivgedächtnis, die Funktionen der unterschiedlichsten Gedächtnisträger sowie die Nahtstellen zwischen Medium und Gedächtnis sind nach Warburg und dann vor allem wiederum auf Grundlage der Arbeiten von Jan und Aleida Assmann in großer Breite und Tiefe diskutiert worden.12 Die zahlreichen medientheoretischen und kommunikationswissenschaftlichen Konzepte haben auch das kulturwissenschaftliche Interesse am Gedächtnis befeuert und letztlich bestätigt, dass sich Gedächtnismedien „stets im Horizont bestehender, kulturspezifischer Konfigurationen von Kollektivgedächtnis“ materialisieren.13 Welche Wirklichkeitsund Vergangenheitsversion konstruiert nun eine Torarolle mitsamt ihren Behältnissen und Schmuckelementen? Von außen zum eigentlichen Kultgegenstand fortschreitend ist zunächst einmal der Toraschrein sichtbar, der alle Torarollen der Synagoge beherbergt.14

9 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 20. 10 Aby Warburg, „Gedächtnis“, in: Werke, hrsg. v. Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ludwig, Berlin 2010, S. 582. 11 Ebd. 12 Vgl.  den Forschungsüberblick von Astrid Erll, „Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff“, in: Medien des kollektiven Gedächtnisses, hrsg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning, Berlin [u. a.] 2004, S. 3–24. 13 Astrid Erll fasst dieses Phänomen folgendermaßen zusammen: „Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte, Wissensordnungen und Herausforderungslagen, Erinnerungspraktiken und Erinnerungskonkurrenzen prägen die Produktion, Tradierung und Rezeption von Gedächtnismedien. Auch und gerade deshalb ist ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘ ein (erinnerungs-) kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. Denn wann immer Medien als Kollektivgedächtnis vermittelnde Phänomene untersucht werden, müssen sie aus einer generalisierenden, a-historischen Betrachtungsweise herausgelöst und in Relation zu ganz bestimmten erinnerungskulturellen Prozessen gesetzt werden.“ Ebd., S. 18. 14 Vgl. u. a. Steven Fine, This Holy Place. On the Sanctity of the Synagogue during the Greco-Roman Period, Notre Dame 1997; Eric M. Meyers, „The Torah Shrine in the Ancient Synagogue: Another Look at the Evidence“, in: Jewish Studies Quarterly 4 (1997), S.  303–326; Rachel Hachlili, „The Niche and the Ark in Ancient Synagogues“, in: Bulletin of the American Schools of Oriental Research 223 (1976), S. 43–53; dies., „Torah Shrine and Ark in Ancient Synagogues. A Re-evaluation“, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 116 (2000), S. 146–183.

2.1 Die Torarolle als Trägerin jüdischer Identität in der Diaspora 

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Er wird wie die Bundeslade aron ha-qodeš genannt und erinnert dementsprechend an das Behältnis der mosaischen Steintafeln, die das Volk Israel während seiner Wanderung durch die Wüste mit sich trug. Die Lade mit den Gesetzestafeln fand zunächst in dem transportablen Heiligtum, der Stiftshütte, einen festen Ort, später stand sie im Allerheiligsten des Salomonischen Tempels, wo sie selbst dem Hohepriester nur einmal im Jahr zu Jom Kippur zugänglich gewesen sein soll. Archäologische Funde von Synagogen aus dem antiken Israel und der Diaspora legen nahe, dass es ursprünglich zwei unterschiedliche Typen von Toraschreinen gegeben hat: die in die Wand eingelassene offene Nische und den geschlossenen Schrein aus Holz. Für die Lagerung in der Nische wurden die Rollen noch mit einem hölzernen Gehäuse geschützt; für die Aufbewahrung im Toraschrein genügte eine textile Hülle.15 Das Erscheinungsbild eines Toraschreins ist regional sehr unterschiedlich (Abb.  2). Es gibt bewegliche Schreine, die in der Stunde der Gefahr mitsamt ihrem wertvollen Inhalt schnell in Sicherheit gebracht werden konnten. Andere Schreine sind in eine Nische in der Wand fest eingearbeitet oder als Teil einer ganzen Synagogenwand Bestandteil der Innenarchitektur. In jedem Fall ist der Toraschrein das wertvollste Element einer Synagoge, das meist drei oder mehr Stufen erhöht den Blick auf die heiligen Rollen bzw.  – in der aschkenasischen Tradition – die kunstvollen Vorhänge freigibt. Seine Position an der gen Jerusalem gerichteten Wand, die so zum Blick- und Ausrichtungspunkt der liturgischen Praxis wurde, und seine architektonischen Bezüge zur imaginierten Tempelfassade16 betonen einmal mehr die starke ideelle Achse zwischen Tempel und Synagoge. Die angedeutete Muschelkonche über zahlreichen Schreinen ist ebenfalls aus der Ikonographie der Tempelportale entlehnt (Abb.  3), d. h. die rahmende Architektur vermittelt die Tempelassoziation, während der Schrank die Bedeutung der Lade erhält.17 Der Schrein ist zusätzlich oft mit einer Darstellung der Gesetzestafeln gekrönt, während ein ewiges Licht (ner tamid) nah am Schrein von der Decke herabhängend oder davor aufgestellt das Ensemble beleuchtet. Auch der ner tamid ist ein Erinnerungsstück aus der Tempelzeit, da es symbolisch für die Menora des Tempels steht.

15 Bracha Yaniv, Ceremonial Synagogue Textiles. From Ashkenazi, Sephardi, and Italian Communities, übersetzt von Yohai Goell, Liverpool (Littman Library of Jewish Civilization) 2019 (hebräische erste Auflage: Jerusalem 2009), S. 11–14. 16 Hachlili, „Torah Shrine and Ark in Ancient Synagogues“, S. 162 f. 17 Thomas Rainer, Das Buch und die vier Ecken der Welt. Von der Hülle der Thorarolle zum Deckel des Evangeliencodex, Wiesbaden 2011, S. 123.

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

Abb. 2: Torarollen im Toraschrank, Aschkenasischer Machzor aus Ulm 1459/60, Cod. hebr. 3, Bd. 1, fol. 48r (Bayerische Nationalbibliothek München).

2.1 Die Torarolle als Trägerin jüdischer Identität in der Diaspora 

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Abb. 3: Fresko aus der Dura Europos Synagoge, Syrien 3. Jhd.

Außerdem verdeckt ein Vorhang (parochet) den Toraschrein mitsamt den Schriftrollen. Ein solcher parochet aus „purpurrotem und karmesinrotem Garn“ wurde bereits im Stiftszelt an goldenen Haken vor der Bundeslade aufgehängt (Ex. 26,31) – also auch hier ein Verweis auf die Zeit, als Gott das Volk Israel auf wunderbare Weise aus der ägyptischen Knechtschaft führte und seine hervorragende Rolle unter den Völkern neu besiegelte. Darüber hinaus spielt der parochet als textile Grenze zwischen dem heiligen Raum des Tempels und dem Allerheiligsten – dem Tabernakel mit den mosaischen Tafeln bzw. der Torarolle – eine wichtige Rolle in der Tempelikonographie. Diese symbolische Trennung des Heiligen vom Allerheiligsten innerhalb des Tempels wurde in den Synagogen aufgegriffen und unterschiedlich umgesetzt.18 Die Motive auf den Vorhängen assoziieren diese stoffliche Trennlinie – abhängig von Region und Zeit – mit dem Himmelstor, der Bundeslade, dem Tempel oder dem Offenbarungsgeschehen am Berg Sinai.19

18 Yaniv, Ceremonial Synagogue Textiles, S. 29–39. 19 Yaniv, Ceremonial Synagogue Textiles, S. 205–222.

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

Die Torarollen selbst sind zusätzlich durch oftmals sehr wertvolle Stoffhüllen oder Holz- bzw. Metallkästchen geschützt20 (Abb. 4, 5). In Anlehnung an die detaillierte biblische Beschreibung der Priesterkleidung in Exodus 28 umwickelt man in der aschkenasischen, aber auch in der italienischen und türkischen Tradition die Torarollen mit einer Stoffbinde oder einem Wimpel, über den ein Mantel (me‘il, miṭpaḥat oder mappah) gelegt wird.21 Dazu kommen ein metallenes Brustschild (ṭas) und die rimmonim – ein krönender Aufsatz, der Granatäpfel (rimmonim) und kleine Glöckchen darstellt. Auch dieser Schmuck ist eine Reminiszenz an das Gewand des Priesters, dessen Purpurrock am Saum abwechselnd mit Granatäpfeln von blauem und rotem Purpur und Scharlach und goldenen Schellen versehen war, um Aaron akustisch anzukündigen, wenn er aus- und eingeht in das Heilige vor dem Herrn (Ex 28,35).22 Wie ein Hohepriester erscheint die Torarolle in vollem Ornat als Mittlerin zwischen der profanen und der göttlichen Welt. Der Schmuck wird je nach Anlass nicht immer vollständig angelegt. Beim Fest der Torafreude kleidet man die Rolle wie eine Braut in prunkvolle Gewänder. Der Toramantel ist das am engsten mit der Torarolle in Berührung kommende Artefakt und nimmt dementsprechend einen hohen Rang in der Reinheitspyramide der Gegenstände rund um die heilige Schriftrolle ein.23 Wie eine ausgediente Torarolle darf der Stoff nicht einfach weggeworfen werden, sondern sollte auch nach seiner Nutzung mit Würde behandelt, beispielsweise an der Seite eines Talmudschülers – „auch wenn der die Halachot nur wiederholte“24 – begraben werden. Grace Crowfoot erforschte auf Grundlage archäologischer Funde aus der Antike die weit verbreiteten Schutzhüllen der heiligen Schriftrollen und untersuchte die Leinentücher, welche die Schriftrollen aus Qumran umgaben.25 Sie rekonstruierte die in den Stoff mit blau gefärbten Leinenfäden eingearbeiteten,

20 Raphael Patal, Encyclopedia of Jewish Folklore and Traditions, Armonk 2013, 2. Bd., S. 537. 21 Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen, Studien zum althebräischen Buchwesen und zur biblischen Litteratur- und Textgeschichte. Straßburg 1902 (Nachdruck 2012), S. 173–176; Yaniv, Ceremonial Synagogue Textiles, S. 6–8; 85–192. 22 Patal, Encyclopedia of Jewish Folklore and Traditions, S.  538 f.; vgl.  auch Mirjam Gelfer-Jorgensen, „Towers and Bells: The Symbolism of Tora Finals“, in: Studia Rosenthaliana 37 (2004), S. 37–54. Gelfer-Jorgensen untersuchte turmartige Toraaufsätze, die ab dem 15. Jahrhundert zuerst aus Spanien und später aus ganz Europa überliefert sind. Sie konnte zeigen, dass Türme in der jüdischen und christlichen Vorstellung mit Jerusalem und den Türmen des Salomonischen Tempels assoziiert sind. 23 Fine, This Holy Place, S. 38–40, 69–71 und 130–132. 24 bT Meg 26b. 25 Grace M. Crowfoot, „The Linen Textiles“, in: Discoveries in the Judean Desert, Bd. 1: Qumran Cave I, hrsg. von Dominique Barthélemy und Józef T. Milik, Oxford 1955, S. 18–38.

2.1 Die Torarolle als Trägerin jüdischer Identität in der Diaspora 

Abb. 4: Torarollen im Toraschrank, Sarajevo Haggadah, fol. 34r, Barcelona, zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts (Zemaljski Muzej Bosne i Hercegovine, Sarajevo).

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

Abb. 5: Torarolle mit Mantel, Barcelona Haggadah, Add Ms 14761, fol. 65v, Barcelona, Mitte des 14. Jahrhunderts (British Library).

2.1 Die Torarolle als Trägerin jüdischer Identität in der Diaspora 

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ineinander gestaffelten Rechtecke und interpretierte sie als Anspielung auf den Tempelplan.26 Auch der enge Bezug der Schriftenhüllen zum Tempelheiligtum war demzufolge bereits in der Antike angelegt. Im Mittelalter thematisierten die Motive und Embleme der Stoffe auch die Tora, etwa durch die Torakrone (Europa), oder den Lebensbaum (Marokko und Algerien). Später finden sich außerdem die Gesetzestafeln, der Davidstern, die Utensilien des Tabernakels oder die Bindung Isaaks auf den oft wertvollen Hüllen.27 Das synagogale Gebäude, der Toraschrein mit dem Vorhang, der Toramantel und die Schriftrolle im Zentrum paraphrasieren die Heiligkeitssordnung des Jerusalemer Tempels, die sich von den äußeren Gebäudeabschnitten in das innerste Allerheiligste bewegt, das zu betreten dem Hohepriester vorbehalten war. Die Rollenform, das festgelegte, klare Schriftbild, das Schreibmaterial und die gleichbleibende Gestalt der Buchstaben inszenieren auf einer anderen Ebene das hohe Alter und die göttliche Autorität der Schrift. Ein sefer torah zeigt sich unbeeindruckt von den Bewegungen der Geschichte; an dem ideellen Fixpunkt der jüdischen Religion hängend sorgt es für Kontinuität, Orientierung und Identität. Um diesen Eindruck der Zeitlosigkeit hervorzurufen, muss das Geschriebene an der alten Form festhalten. Jede Veränderung oder Anpassung an „moderne“ Entwicklungen der Buchkunst würde den überzeitlichen Charakter der Schriftrolle empfindlich stören. Aus diesem Grund sind in einer Torarolle auch nie der masoretische Kommentar oder exegetische Anmerkungen zu finden. Sie transportiert ausschließlich den göttlichen „Urtext“ und bleibt frei von jeglichen Hinzufügungen der mündlichen Tradition. Das Gedächtnis der Sprache und Kommunikation erlangt vor allem durch die Kanonisierung von Texten Eingang ins kollektive Gedächtnis. Durch die Verschriftlichung mündlicher Tradition überschreitet die Erinnerung den Bereich der Kommunikation „ebenso wie das individuelle Gedächtnis den des Bewußtseins“28. Eine Torarolle enthält mit dem Pentateuch die wichtigsten Bücher der Hebräischen Bibel  – die sogenannte „schriftliche Tora“, die unauflöslich mit Moses verbunden ist. Dieser Text, der als das Heilige und die Wahrheit an die Stelle des Tempels mit seinen Kulten tritt, ist die essenzielle Konstante der jüdischen Liturgie.29

26 Crowfoot, „The Linen Textiles“, S. 25; Rainer, Das Buch und die vier Ecken der Welt, S. 104–114. 27 Yaniv, Ceremonial Synagogue Textiles, S. 133–134. 28 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 23. 29 Wie stark der Kanon an die Identität seiner Stifter gebunden ist, fasst Jan Assmann folgendermaßen zusammen: „Der geheiligte Bestand von Texten, Regeln, Werten fundiert und formt eine (kollektive) Identität. Das Ereignis, das die gesamte Bedeutungsgeschichte des Kanonbegriffs strukturiert, ist das Vordringen der Kategorie der Identität. […] Denn die Heiligung einer

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

Die Torarolle – das konnten die kurzen Ausführungen auf Grundlage des Assmann’schen Modells des kollektiven Gedächtnisses zeigen – kann als das Herzstück des kulturellen Gedächtnisses des jüdischen Volkes betrachtet werden, da hier die grundlegenden Erinnerungsstränge seiner Identität zusammenlaufen und immer wieder neu umrissen werden. Sie ist ein Fenster zur göttlichen Welt und konstruiert einen Ort kultureller Identität jenseits des Profanen. Der heilige Text definiert dabei nicht nur Glaubensinhalte, sondern repräsentiert auch den sinnlichen Ausdruck der göttlichen Offenbarung und wird selbst als Vertreter Gottes im Ritual verehrt. Die in der Rolle transportierte „schriftliche Tora“ ist in jeder Hinsicht konstitutiv. Sie ist von der Antike bis in die Neuzeit die zentrale Konstante, durch die juristische Erweiterungen, gesellschaftliche Wandlungen, philosophische Hypothesen oder auch mystische Spekulationen ihre Legitimation erhalten. Die Bewahrung und Weitergabe der Schrift in ihrer unveränderlichen Form von einer Generation auf die nächste wird insbesondere für das Diasporajudentum zur wichtigsten Aufgabe. Allein dieser Text markiert die geistigen Grenzen des in die unterschiedlichsten Kulturräume der Welt zerstreuten jüdischen Volkes und begründet auch über große geographische Distanzen hinweg eine gemeinschaftliche Identität.

2.2 Präsenz und Performanz des Evangeliars in der mittelalterlichen Messliturgie und im öffentlichen Raum Forscher haben immer wieder die hohe Signifikanz der rituellen Funktion des Buches im Mittelalter betont. Für die große Anzahl der illiterati fungierte die Schrift „im christlichen Kontext weniger als Kommunikationsmedium denn als sakraler Bedeutungsträger“, der „Synonym für Glaubensgeheimnis und Glaubenswahrheit“30 war. Die kirchliche Messfeier war der regelmäßige Höhepunkt der

bestimmten Tradition läuft immer auf die Heiligung einer bestimmten Gemeinschaft hinaus. Aus dem neutralen Orientierungsinstrument Kanon wird dann eine Überlebensstrategie kultureller Identität. Die Juden, die sich der Strenge ihres Gesetzes beugen, tun dies in dem Bewußtsein, ein ‚heiliges Volk‘ zu sein. Wir bestimmen Kanon daher als das Prinzip einer kollektiven Identitätsstiftung und -stabilisierung, die zugleich Basis individueller Identität ist, als Medium einer Individuation durch Vergesellschaftung, Selbstverwirklichung durch Einfügung in ‚das normative Bewusstsein einer ganzen Bevölkerung‘ (Habermas). Kanon stiftet einen Nexus zwischen Ich-Identität und kollektiver Identität. Er repräsentiert das Ganze einer Gesellschaft und zugleich ein Deutungs- und Wertsystem, im Bekenntnis zu dem sich der Einzelne der Gesellschaft eingliedert und als deren Mitglied seine Identität aufbaut.“ Ebd., S. 127. 30 Wenzel, „Die Schrift und das Heilige“, in: Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hrsg. von Horst Wenzel, Wilfried Seipel und Gotthart Wunberg, Wien 2000, S. 15–57, hier S. 34.

2.2 Präsenz und Performanz des Evangeliars in der mittelalterlichen Messliturgie 

 27

bildhaften Inszenierung des christlichen Glaubens. Die Messe ist dem Geheimnis des Leidens und Sterbens, aber auch der Erinnerung an das Wirken Christi gewidmet. Mit dem Brechen des Brotes und dem Reichen des Weins soll nicht nur das letzte Abendmahl als Abbild der christlichen Lehre vergegenwärtigt werden; das Geheimnis der Eucharistie vermittelt in der Verwandlung und Einverleibung des Leibes und Blutes Christi auch dessen Passion. Seit dem frühen Mittelalter verbreitete sich parallel zur verstärkt imaginierten Frömmigkeit der christlichen Kultur eine allegorische Auslegung der Messliturgie, die im 12.–14.  Jahrhundert ihren Höhepunkt fand.31 Diese Symbolik wird nun durch allegorische Liturgiekommentare auf das gesamte Messritual als umfassende „Aufführung“ des Leidens Jesu übertragen: das Zurücktreten der Kleriker am Beginn der Präfation zeigt die Flucht der Jünger, das Ausbreiten der Arme des Priesters inszeniert den Herrn am Kreuz, das Zudecken des Kelches wiederholt die Grablegung Christi – aus der einfachen Lesung der liturgischen Schriften wird ein Mysterienspiel.32 Dass jedes noch so winzige liturgische und materiale Detail des christlichen Gottesdienstes zeichenhaft als Abbild einer höheren Wahrheit gedeutet wurde, belegen beispielsweise die Ausführungen des benediktinischen Theologen Rupert von Deutz (ca. 1070–1129). In zwölf Büchern legte der passionierte Exeget und Musikliebhaber seine Gedanken zur Symbolik der Liturgie dar, wobei ein dichtes Netz von Konnotationen und Analogien das gesamte christliche Kirchenjahr allegorisch umspannt.33 Die Forschung streicht immer wieder den „wundersüchtigen Gebrauch der Heilsmaterie“ im Spätmittelalter heraus. Der emotionale Nachvollzug der Heilsgeschichte während der Messe „etwa in Seufzern, Tränen und Mitleidschreien“34 bekam eine zunehmend psychische Komponente zugewiesen:

31 Arnold Angenendt und Karen Meiners, „Erscheinungsformen spätmittelalterlicher Religiosität“, in: Divina Officia. Liturgie und Frömmigkeit im Mittelalter. Ausstellung der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel und des Dom-Museums Hildesheim in der Bibliotheca Augusta vom 28. November 2004 bis 31. Juli 2005, hrsg. von Patrizia Carmassi, Wolfenbüttel 2005, S. 25–36. 32 Vgl. Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, 2 Bde., Bd. 1: Messe im Wandel der Jahrhunderte, Messe und kirchliche Gemeinschaft, Vormesse, Wien 1948, Freiburg 51962, S. 233–272; Thomas Lentes, „,Textus Evangelii‘. Materialität und Inszenierung des ,textus‘ in der Liturgie“, in: ,Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, hrsg. von Ludolf Kuchenbuch und Uta Kleine, Göttingen 2006, S. 133–148, hier S. 136. 33 Der kommentierte lateinische Text mit deutscher Übersetzung kann eingesehen werden in: Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis. Der Gottesdienst der Kirche, hrsg., übersetzt und eingeleitet von Helmut und Ilse Deutz (4 Bde.), Freiburg [u. a.] 1999. 34 Angenendt und Meiners, „Erscheinungsformen spätmittelalterlicher Religiosität“, S. 31. An dieser Stelle seien nur einige wenige Stichpunkte zu dieser komplexen Thematik gegeben, da

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

Die Vorstellung der Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers in der Messe, dazu die Praxis der Meßliturgie als einer Inszenierung des Kreuzesopfers Christi, wurde in der Frömmigkeit breitenwirksam propagiert, was dem liturgischen Geschehen einen gänzlich neuen Charakter verlieh. Es wandelte sich zunehmend vom Officium Dei – der vor Gott abgeleisteten Pflicht – zum Sacrum Theatrum, zu einer verinnerlichten Dramatik.35

Lektionale, die Missalia und Ritualia, die Bücher für das Stundengebet und insbesondere das Evangeliar fungierten bei dieser Inszenierung „nicht einfach [als] Hüter von Texten“, sondern traten „gleichsam als handelnde Personen in großer und kleiner Öffentlichkeit“36 auf. Es waren Bücher, die „weit über sich hinausstrahlend einen sich kunstvoll bewegenden Kosmos entstehen ließen, dessen Regeln sie enthielten und dessen Gesetzbuch sie waren, zu dem sie aber zugleich auch als wichtige Planeten gehörten.“37 Ein Abdruck dieses Kosmos wird im rituellen Umgang mit den liturgischen Büchern sichtbar, indem sie als Stellvertreter Christi in den Sakramenten und deren Riten verehrt werden. Das Evangelienbuch, dessen liturgische und symbolische Funktion ab dem 12.  Jahrhundert auf das Messbuch übertragen wurde, spielte bei der rituellen Inszenierung der Heilsgeschichte dennoch eine herausragende Rolle. Der mystisch inspirierte Zisterzienserabt Isaak von Stella (ca.  1100–1169) verdeutlichte die Grundlage für diese Mimesis, die auf der Analogie von textus und corpus beruht, in einer Epiphanie-Predigt: Meine Brüder, das wahre Wort Gottes, das Fleisch geworden ist, dieser Herr Jesus, unser einziger Lehrer, wurde für uns auch zum Buch […]. Das heilige Wort selbst, das die Augen der Apostel in seinem Fleisch sahen und mit ihren Händen berührten, ist heute mit uns – sichtbar im Buchstaben, im Sakrament berührbar. Wenn er auch im Fleische abwesend ist, so ist

die Handhabe der Schriften in der Lesung von vielfältigen regionalen, theologischen und liturgischen Unterschieden bzw. Veränderungen bestimmt war, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Vgl. Jungmann, Messe im Wandel der Jahrhunderte; Adolph Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter (= Beiträge zur Geschichte der Liturgie und des religiösen Volkslebens), Darmstadt 1963, hier insbesondere im zweiten Teil „Die mittelalterlichen Messerklärungen“ S. 333–555; Nikolaus Gussone, „Der Codex auf dem Thron: Zur Ehrung des Evangelienbuches in Liturgie und Zeremoniell“, in: Wort und Buch in der Liturgie: Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches, hrsg. von Hanns Peter Neuheuser, St. Ottilien 1995, S. 191–231; Lentes, „,Textus Evangelii‘“; Arnold Angenendt, „Liturgie im Mittelalter“, in: Liturgie, Ritual, Frömmigkeit und die Dynamik symbolischer Ordnungen (= Wolfenbütteler Hefte, Bd. 19), hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer, Wolfenbüttel 2006, S. 35–78. 35 Angenendt und Meiners, „Erscheinungsformen spätmittelalterlicher Religiosität“, S. 32. 36 Martin Mosebach, „Die Kathedrale in einer Nußschale: Das Meßbuch von Trient“, in: Liturgie, Ritual, Frömmigkeit und die Dynamik symbolischer Ordnungen (= Wolfenbütteler Hefte, Bd. 19), hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer, Wolfenbüttel 2006, S. 79–101, hier S. 79. 37 Ebd.

2.2 Präsenz und Performanz des Evangeliars in der mittelalterlichen Messliturgie 

 29

er im Buchstaben doch geblieben […]. In seiner Güte gab er uns sein Heiliges Evangelium, damit der Text des Heiligen Evangeliums der gegenwärtige Körper des sichtbaren Wortes sei [ut sit quasi visibilis Verbi / praesens corpus, sancti Evangelii textus].38

Dementsprechend zeichnet sich der Umgang mit dem sancti Evangelii textus im Lesegottesdienst ähnlich wie die Behandlung der Hostie in der Opferfeier durch Gesten der Verehrung des materiellen Buchkörpers aus. An dieser Stelle seien nur einige zentrale performative Elemente dieser Inszenierung vermerkt. Als Stellvertreter Christi wird der textus Evangelii vom Diakon in einer feierlichen, von Lichtern und Weihrauch begleiteten Prozession zum Altar getragen, wo es auf einem symbolischen Thron in Form eines Kissens bzw. Tuchs platziert wird. Es ist der Einzug Jesu in Jerusalem, der Beginn seines Leidenswegs und damit der Einzug Jesu in die Welt, der hier dargestellt wird. Als symbolischer Statthalter des Himmelskönigs lagert das Evangeliar und später das Messbuch vom Anfang der Messe bis nach Verlesung der Epistel auf einem imaginären Thron, auf dem es den „Vorsitz“ übernimmt.39 Gleich einem römischen Herrscher erfährt nun das Buch durch Licht und Weihrauch Ehrbezeugung; die Gläubigen erheben sich, stehen aufrecht oder verbeugen sich ohne Kopfbedeckung, während die Kleriker das Buch mit „Gloria tibi, Domine“ und anderen Huldigungsrufen begrüßen, die an Christus selbst gerichtet sind.40 Der Lesung folgt das regional variable Küssen des Buches und des Altars durch einen oder mehrere kirchliche Würdenträger – ein Brauch, der ab dem 12. Jahrhundert auch auf das Kruzifix oder das Kreuzigungsbild auf dem Altar übertragen wurde.41 Der einflussreiche Liturgiekommentator Rupert von Deutz kommentierte diesen Prozess in seiner umfassenden Interpretation des Gottesdienstes allegorisch. Um einen Eindruck von den tiefgehenden Konnotationen mittelalterlicher Theologen zu jedem scheinbar noch so geringfügigen Element der christlichen Messe zu vermitteln, sei hier als Beispiel ein längerer Ausschnitt aus Ruperts De divinis officiis zitiert, der das Lesen der Evangelien in den Blick nimmt: Bis dahin saß der Priester gleichsam als Sieger über die bösen Gedanken an der Seite des Altars und stellte durch sein Sitzen zeichenhaft den Sieg des Herrn dar […]. Dann erhebt sich der Priester und tritt an den Altar, so dass uns in entsprechender Weise der Herr Jesus

38 Isaak von Stella, sermo 9, 6–7, in: Isaac de l’Étoile, Sermones (= Sources Chrétiennes, Bd. 130), hrsg. von Anselm Hoste, Paris 1967, S. 208–211; zitiert nach Lentes, „,Textus Evangelii‘“, S. 133. 39 Es ist bereits aus den Antike der Brauch belegt, das Evangelium bei bedeutenden Versammlungen auf den Bischofsstuhl zu legen, wo es als Vertreter Christi den symbolischen Vorsitz übernimmt. Vgl. Wenzel, „Die Schrift und das Heilige“, S. 33 sowie Jungmann, Missarum Sollemnia, S. 571. 40 Jungmann, Missarum Sollemnia, S. 572–574. 41 Ebd., S. 404.

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

in den Sinn kommt, der […] aus der Wüste zurückkehrte, um selbst zu lehren, seine Jünger zu erwählen und zur Verkündigung auszusenden. Der Priester sendet nämlich den Diakon zum Verlesen des heiligen Evangeliums, indem er ihm dazu den erbetenen Segen erteilt, was er vorher gegenüber dem Subdiakon, der die Epistel verlesen sollte, nicht getan hatte. […] Der Diakon nimmt den Text des heiligen Evangeliums, den er zum Lesepult trägt, und tritt so in die Fußstapfen Christi. Voran gehen Kerzenträger mit dem Rauchfaß, wodurch Freude und guter Ruf angezeigt werden. Denn Freude herrscht immer bei einer guten Botschaft. In gutem Rufe wissen sich auch die, die diese gute Botschaft überbringen, die ebenso zuversichtlich sprechen: „Christi Wohlgeruch für Gott sind wir an jedem Ort“ (2 Kor 2,15.14), deshalb beräuchert der Diakon zum Zeichen des guten Rufes die Stelle selbst, an der er das Evangelium zu verlesen hat. […] Dem Diakon geht der Subdiakon voran, der ein kleines Kissen trägt, das er unter das Evangelium legt, weil nämlich für alles, was das Evangelium spricht, das Gesetz ein passendes Zeugnis beibringt. […] Und [der Priester] küsst das ihm vom Subdiakon dargebotene Evangelienbuch innen und außen, außen, wenn es ein in Metall geprägtes Bild des Gekreuzigten besitzt, innen, wenn dieser Schmuck fehlt. Wenn die Folge des heiligen Evangeliums angekündigt wird, stärkt [der Priester] die Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes und wartet bis zum Ende des Evangeliums, wobei der Konvent sich nach Osten wendet bis zum Gruß [des Evangelienabschnittes durch den Kuss] des Priesters, der [der Verlesung] des Evangeliums folgt; dann stellt sich der Chor auf beiden Seiten auf, mit dem Gesicht einander zugewandt. Danach tragen der Subdiakon das Evangelienbuch und der Akoluth das Weihrauchfaß rund um den Konvent, um den Text zu küssen und den Weihrauch als Segen gleichsam riechen zu lassen, nicht täglich, aber an Festtagen […].“42

Die Lektüre solcher Liturgiekommentare hinterlässt einen tiefen Eindruck von der engmaschigen Textur des mittelalterlichen Gottesdienstes, die gleichermaßen aus rituellen, theologischen und philosophischen wie auch aus materialen und künstlerischen, also visuellen Elementen gewebt wurde. Im Evangeliar, so scheint es, laufen alle diese Stränge zusammen. Hier verdichtet sich in dem Leidens- und Erlösungsweg Christi die göttliche Präsenz auf Erden. Als die Texte des Evangeliars längst in das Messbuch eingeflossen waren, vertrat das Buch dennoch Christus in der Welt. Als Vertreter Christi trug man das kostbar illuminierte Evangeliar rituell ins Freie, um es dem Volk zu zeigen. Die Schrift ist hier weniger „Kommunikationsmedium […] als sakraler Bedeutungsträger […], Synonym für Glaubensgeheimnis und Glaubenswahrheit“43. Auch dem Messbuch kam große performative Präsenz in einem Ritus zu, der dem kollektiven Schauen gesteigerte Bedeutung beimaß:

42 Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis, Bd. 1, S. 36–37, 231–239, 281. 43 Wenzel, „Die Schrift und das Heilige“, S. 34.

2.2 Präsenz und Performanz des Evangeliars in der mittelalterlichen Messliturgie 

 31

Es wurde mit rituellen Gebärden getragen, geküsst, geöffnet und verlangte die rhapsodische Sprache. Sein Inhalt war Offenbarung, wenigen zugänglich, seine äußere Gestalt esoterisch. Es war in einer der Menge unverständlichen Sprache geschrieben. Zu den wichtigsten Eigenschaften eines solchen Buches gehörte es, dass es selten oder einmalig war. Die Hände der Kleriker schmückten es zu etwas Einzigartigem aus, verzierten es mit Juwelen, verschwendeten den Schmelz der Farben, die köstlichen Stoffe daran. Auf seinen pergamentenen Folien schimmerten Schrift und Malerei noch ungeschieden, in paradiesischer Vollkommenheit.44

Doch mehr als alle anderen heiligen Schriften symbolisierte das Evangeliar die Gegenwart Christi, die sich durch die Fleischwerdung des Wortes in der Welt als Schrift zeigt und „ikonographisch in der wechselseitigen Stellvertretung von Buch und Corpus manifestiert: Christus erscheint als Buch oder im Buch, das Buch steht für den leibhaftigen Christus“45. Das sprachgewaltige ikonographische Programm der bildenden Künste im christlichen Europa gab der Idee der Verlebendigung des göttlichen Wortes facettenreichen Ausdruck. Horst Wenzel konnte in seiner aufschlussreichen Studie über das Verhältnis von Schrift und Heiligem im Mittelalter durch die Betrachtung der ikonographischen Sprache in der Darstellung der Verkündigung Mariae zeigen, dass auch die Mariendarstellungen von der Idee des fleischgewordenen Gotteswortes beeinflusst sind, „indem Maria selbst zum Buch wird, zur leiblichen Hülle Christi, schwanger mit dem Wort“46. Der Engel Gabriel wird nicht nur mit den Botenzeichen Kreuzstab, Palmzweig oder Lilie visualisiert; er ist ab dem späten 12. Jahrhundert immer häufiger mit Darstellungen der Schrift als Zeichen des Gotteswortes dargestellt. (Abb. 6) Ein weiteres Beispiel für diese Entwicklung ist das Bildprogramm einer Bible moraliseé47 (Abb. 7), die um 1230 entstanden ist. In vier übereinanderliegenden Miniaturen ist auf den oberen beiden Abbildungen Moses zu sehen, wie er in einem Weidenkörbchen auf den Wassern des Nil ausgesetzt wird, während die unteren Bilder das Christuskind beinahe deckungsgleich mit den Mosesdarstellungen, allerdings zwischen den Pergamentseiten eines Buches liegend abbilden. Auch Jesus wird gleichsam ausgesetzt, jedoch nicht auf den Wassern, sondern gekleidet in das göttliche Wort in die Welt. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die auf Altarbildern oder Gemälden ab dem beginnenden 14.  Jahrhundert abgebildeten Hostienmühlen, die sich mit dem eucharistischen Zusammenhang von Wein und Brot und dem Wort Gottes bildsprachlich auseinandersetzen. Die Mühlen werden mit den Worten der Evangelisten, der Kirchenväter oder Apostel 44 Walter Muschg, Die Mystik in der Schweiz, 1200–1500, Frauenfeld [u. a.] 1934, S. 358. 45 Wenzel, „Die Schrift und das Heilige“, S. 15. 46 Ebd., S. 22; vgl. auch Elisabeth Gössmann, Die Verkündigung an Maria im dogmatischen Verständnis des Mittelalters, München 1957. 47 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2554, fol. 16.

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 2 Das kulturelle Gedächtnis der heiligen Schriften

Abb. 6: Mariae Verkündigung, Böhmen 1380 (Leipzig, Sammlungen der Universität).

gespeist und produzieren daraus die Hostie, „das Brot der reinen Lehre […] und andererseits der in der Hostie gespendete Leib Christi.“48 Das ikonographische Programm der Heilsgeschichte und seine Medien (Buch, Bild, Figur) waren innerhalb, aber auch außerhalb des Kirchenraums präsent. Juden hatten dementsprechend vielfältige Gelegenheiten, die künstlerischen Auszeichnungen des Evangeliars und anderer liturgischer Bücher in Augenschein zu nehmen bzw. den feierlichen Umgang mit den Kodizes zu beobachten. Es wird im Laufe dieser Studie diskutiert werden, ob und in welcher Weise solche und andere Rituale rund um die liturgischen Bücher der christlichen Umweltkultur auf die jüdische Herstellungspraxis und Handhabe der heiligen Schriftrollen wirkte.

48 Wenzel, „Die Schrift und das Heilige“, S. 38.

2.2 Präsenz und Performanz des Evangeliars in der mittelalterlichen Messliturgie 

Abb. 7: Moses auf dem Nil, Christus im Buch, Bible moraliseé, Ms 2554, fol. 16r, ca. 1230 (Österreichische Nationalbibliothek, Wien).

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3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive 3.1 Das rabbinische Ideal 3.1.1 Der Beschreibstoff Die Beschreibstoffe der Antike waren ihren verschiedenen Anwendungsbereichen entsprechend vielfältig. Allein die Hebräische Bibel erwähnt Holz (Ez 37,15–20), Ziegel (Ez 4,1), Erde (Jer 17,13), mit Kalk überzogene Steine (Deut 10,3), einfache Steintafeln (Ex 24,12; 31,18; 32,15–19, Deut 4,13 etc.), aber auch Metallplatten (Ex 29,36; 39,30), in die mit einem geeigneten Werkzeug – im Buch Jeremia ist ein eiserner Griffel mit diamantener Spitze erwähnt (Jer 17,1)  – Texte eingeritzt wurden. Dieses aufwendige Verfahren war sicherlich der Verschriftlichung von Gesetzen, historischen Berichten oder der Erinnerung an einen herausragenden Herrscher vorbehalten, während bei privaten Übereinkünften, geschäftlichen Urkunden und eben auch den biblischen Büchern auf einfacher zu verarbeitendes Material zurückgegriffen wurde. Das konnten Blätter oder andere Pflanzenteile, das in der antiken Welt des Mittelmeerraums weit verbreitete Papyrus oder die insbesondere im Orient genutzte Tierhaut sein, die nun nicht mehr geritzt, sondern beschrieben wurde.1 Für das Schreiben eines sefer torah und der kleinen Schriftrollen in den Tefillin und Mezuzot empfiehlt die rabbinische Literatur allerdings ausschließlich bearbeitete Tierhäute und schließt Papyrus ausdrücklich aus dem Bereich der heiligen Schriften aus.2 Das mag zum einen an der im Vergleich zu Leder geringeren Haltbarkeit eines Papyrus gelegen haben; zum anderen beabsichtigten die Rabbinen sicherlich auch eine Abgrenzung gegen den kulturellen Ursprung dieses Schreibmaterials und den damit verbundenen Einfluss der hellenistisch geprägten Welt. Der Talmud spricht von verschiedenen Sorten beschreibbarer Häute, deren unterschiedliche materiale Beschaffenheit von der Bearbeitungsweise der Rohhaut abhängt. Eine Haut besteht im Wesentlichen aus drei Schichten, wobei die in der Mitte liegende Dermis das eigentliche Ausgangsmaterial für

1 Zu den Schreibstoffen der jüdischen Antike siehe u. a. Ludwig Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen und zur biblischen Litteratur- und Textgeschichte, Straßburg 1902 (Nachdruck 2012), S. 9–37; Emanuel Tov, Scribal Practices and Approaches Reflected in the Texts Found in the Judean Desert, Leiden [u. a.] 2004, S.  31–55; Menahem Haran, „Scribal Workmanship in Biblical Times: The Scrolls and the Writing Implements“ (heb.), in: Tarbiz 50 (1981), S. 65–87; ders., „Book-Scrolls in Israel in Pre-Exilic Times“, in: Journal of Jewish Studies 33 (1982), S. 161–173. 2 Vgl. bT Meg 2.2; jT Meg 1.71d . https://doi.org/10.1515/9783110722062-003

3.1 Das rabbinische Ideal 

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die Leder- und auch Pergamentherstellung ist. Die obere Haarlage (Epidermis) und die untere Fettschicht (Hypodermis), von welcher der natürliche Verwesungsprozess seinen Lauf nimmt, müssen sorgfältig entfernt werden. Erst dann wird die Haut durch je nach Kulturkreis unterschiedliche Methoden dauerhaft haltbar und geschmeidig gemacht.3 Der Talmud und andere rabbinische Quellen spiegeln die Gerbpraxis des Nahen Ostens wider, deren Wurzeln sicherlich bis ins mesopotamische Reich zurückreichen. Aus den eher randläufigen Bemerkungen können drei Arbeitsgänge herausgefiltert werden: 1. Das Salzen der oberen Haar- und der unteren Fettschicht befreiten Haut, um den organischen Verfall zu stoppen und das Material zu konservieren. 2. Das Bemehlen derselben, um überflüssige Feuchtigkeit zu entziehen und die Oberfläche angenehm zum Schreiben zu machen. 3. Das Gerben der Haut, um das Material zu festigen; der Talmud empfiehlt dafür Gallapfellösung (‫)מי עפצא‬.4 Für den sakralen Bereich ausdrücklich nicht geeignete Häute sind maṣṣah, ḥippa und diftera, die gar nicht oder wenig aufwendig bearbeitet wurden. Maṣṣah bezeichnet eine unbehandelte Rohhaut, „die weder mit Salz noch mit Mehl noch mit Galläpfeln behandelt ist; ḥippa ist zwar mit Salz, nicht aber mit Mehl und Galläpfeln behandelt, während diftera mit Salz und Mehl, aber nicht mit Galläpfeln behandelt ist“.5 Stattdessen verwiesen die Rabbinen auf den altbekannten Beschreibstoff Leder, wobei sie zwischen gevil, qelaf und duchsustos unterschieden. Unter gevil ist eine Lederhaut zu verstehen, die alle drei Arbeitsstufen des antiken Herstellungsprozesses von beschreibbaren Häuten – Salzen, Bemehlen und Gerben – durchlaufen hat, dann jedoch nicht weiterbearbeitet wurde. Diese

3 Ronald Reed, Ancient Skins, Parchments and Leathers, London/New York 1972; John W. Waterer, Leather Craftsmanship, London 1968; Wilhelm Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter; Peter Rück, Pergament: Geschichte, Struktur, Restaurierung, Herstellung, Sigmaringen 1991; Menahem Haran, „Bible Scrolls in Eastern and Western Communities“; Martin Levey, „Tanning Technology in Ancient Mesopotamia“, in: Ambix 6 (1957), S. 35–46; Peter Schreiner, „Zur Pergamentherstellung im byzantinischen Osten“, in: Codices manuscript 9 (1983), S. 122–127; Gerhard Endress, „Pergament in der Codicologie des islamisch-arabischen Mittelalters“, in: Rück (Hrsg.), Pergament, S.  45–46; Erika Eisenlohr, „Die Kunst, Pergament zu machen“, in: Uta Lindgren (Hrsg.), Europäische Technik im Mittelalter. Tradition und Innovation, Berlin 1996, S.  429–434, hier S. 429 f. 4 Es kamen beim Gerben auch Exkremente von Menschen, Hunden und Schweinen zum Einsatz. Vgl. bT Ber 25a; Ket 77a. 5 bT Šabb 79a; Giṭ 22a; Meg 19a.

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Haut, die auch manchmal nur als or bezeichnet wurde6, muss relativ dick und dementsprechend unbeweglich gewesen sein; zumindest dicker als qelaf und duchsustos, die durch eine weitere Bearbeitung der gegerbten Haut als um einiges feiner beschrieben wurden. Die rabbinische Literatur bringt gevil so selbstverständlich mit der Torarolle in Verbindung, dass Ludwig Blau und die spätere Forschung darin übereinstimmen, dass dieser Beschreibstoff in der Antike der allgemein übliche für die Herstellung der biblischen Schriftrollen war.7 Bezüglich des Unterschieds zwischen qelaf und duchsustos hüllt sich der Talmud zwar in Schweigen, doch füllten spätere halachische Autoritäten diese Lücke mit detaillierten Angaben zur Herstellung dieser Häute.8 Dabei folgten sie in der Regel der Interpretation des Hai Gaon (gest. 1038)9, der qelaf für die obere Schicht und duchsustos für die untere Schicht der Dermis hält und darüber hinaus davon berichtet, dass beide Hautschichten durch Spaltung aus einer einzigen Haut heraus gearbeitet werden. Der einzige rabbinische Hinweis, der Anlass zu dieser Annahme geben könnte, ist die Empfehlung: „Komm und höre: Es ist eine Halacha des Moses vom Sinai, dass Tefillin auf qelaf und eine Mezuza auf duchsustos [zu schreiben sind]. Qelaf auf der Fleischseite und duchsustos auf der Haarseite.“10 Da Tefillin mit Blick auf ihren Heiligkeitsgrad über den Mezuzot stehen, könnte man folgern, dass sich dieser Aspekt in der Qualität des Materials für die Schriftrollen widerspiegelte. Die obere Schicht der Dermis gilt als feiner und atmungsaktiver als die untere und bietet dementsprechend das würdigere Ausgangsmaterial für Tefillin, die die Rabbinen im Idealfall qelaf zuordneten. Geht man nun davon aus, dass duchsustos aus derselben Haut wie qelaf gefertigt wurde, ist es naheliegend, die Schreibgrundlage für Mezuzot als von minderer Qualität, d. h. als die untere Schicht der Dermis anzunehmen. Es spricht nichts dagegen, den Ausführungen des Hai Gaon Glauben zu schenken. Menahem Haran betont in diesem Zusammenhang, dass dem babylonischen Talmudgelehrten die technischen Möglichkeiten der Hautverarbeitung durchaus vertraut gewesen sein konnten. Es sei mehr als wahrscheinlich, so Haran, dass „Jewish artisans in Palestine and Babylonia, and apparently artisans throughout the Near East, were in fact acquainted with a technology of skin preparation, one of the achievements of which was the skill of splitting a hide in two.“11 Dementsprechend habe Hai Gaon einfach die gängige Verfahrensweise wiedergegeben. 6 Haran, „Bible Scrolls“, S. 40; Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen, S. 23–25. 7 Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen, S. 25; Haran, „Bible Scrolls“, S. 40, Anm. 35. 8 Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen, 26–29; Haran, „Bible Scrolls“, S. 40–43. 9 Abraham Harkavy, Responsen der Geonim, Berlin 1887, Nr. 63, S. 28 und Nr. 432, S. 227. 10 Mischna Šabb 8:3; jT Šabb 11b; bT Šabb 79b; bT Menaḥ 32a. 11 Haran, „Bible Scrolls“, S. 44.

3.1 Das rabbinische Ideal 

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Die Zuordnung bestimmter Häute zu den Schriftrollen der STaM war von Beginn an unter Berücksichtigung praktischer Gegebenheiten dennoch relativ offengehalten. Die oben zitierte Diskussion im babylonischen Talmud (bT Šabb 79b) über die Zuordnung der Beschreibstoffe zu den entsprechenden Schriftrollen setzt sich ausgesprochen kontrovers fort und führt letztlich zu keinem eindeutigen Ergebnis. Einhelligkeit scheint nur in Bezug auf gevil geherrscht zu haben, das als der ideale Beschreibstoff für eine Torarolle galt, unter besonderen Umständen jedoch auch für die Herstellung von Tefillin oder Mezuzot verwendet wurde. In den beiden kleinen Talmudtraktaten, dem Massechet sefer torah und dem Massechet soferim, ist wenig über die Herstellungspraxis der Schreibhäute zu erfahren. Allerdings werden hier die Bedingungen für die Reinheit einer Schreibhaut für die STaM festgelegt: Es ist nicht erlaubt, heilige Schriften, Tefillin und Mezuzot auf die Haut rituell unreiner domestizierter Tiere oder auf die Haut rituell unreiner wilder Tiere zu schreiben. Sie sollten nicht mit den Sehnen [unreiner Tiere] vernäht noch mit deren Haar umwickelt werden. Es ist eine mündliche Verordnung von Moses am Sinai überliefert, dass [diese Schriften] auf die Haut eines rituell reinen domestizierten oder wilden Tieres geschrieben und mit deren Sehnen vernäht und [die Tefillin] mit deren Haaren umwickelt sein sollten.12

Im Massechet soferim wird auch die Verwendung der Häute von Tieren, die eines natürlichen Todes oder durch Krankheit gestorben sind, als mögliche Schreibstoffe diskutiert. Obwohl diese Tiere für den Verzehr ungeeignet, d. h. einen gewissen Grad von Unreinheit angenommen haben, dürfen deren Häute zum Schreiben der STaM verwendet werden. Rabbi Joschua untermauert diese Entscheidung mit einer Analogie, die nicht von Menschenhand zu Tode gekommene Tiere gleichsam aufwertet. Es sei vielmehr mit dem Fall zu vergleichen, da „zwei Männer vom Staat zum Tode verurteilt waren; einer hingerichtet durch den König, und der andere durch einen Henker. Welcher von beiden steht höher? Derjenige, der durch den König hingerichtet wurde.“ Auf die mit Verwunderung gestellte Frage seines Gegenübers, weshalb diese Tiere dann nicht gegessen werden dürften, antwortet Rabbi Joschua mit Hinweis auf das entsprechende Verbot in Deuteronomium trocken: „Die Tora hat es verboten“.13 Kurz: das Tier muss nach dem jüdischen Speisegesetz rein aber nicht rituell geschlachtet worden sein. Es gibt auch Häute, die zwar von reinen Tieren stammen, jedoch aus pragmatisch nachvollziehbaren Gründen nicht für das Schreiben der STaM geeignet sind, wie etwa Fischhaut, die ausdrücklich wegen ihres Gestanks aus dem rituellen Bereich verbannt ist.

12 Massechet soferim 1:1 in der Übersetzung von Abraham Cohen. 13 Massechet soferim 1:2.

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

3.1.2 Die Tinte Die rabbinische Literatur berichtet von einem offenbar wohlhabenden Juden namens Alexander, der in einer eigens für ihn angefertigten Torarolle die Namen Gottes in goldener Farbe schreiben ließ. Die „Weisen Israels“ erfuhren von dieser mit goldenen Lettern verzierten Tora und verboten ihren Gebrauch im Ritus.14 Auch andere Quellen legen die Vermutung nahe, dass es in der jüdischen Antike durchaus üblich war, die heiligen Schriften mit farbigen oder sogar goldenen Schreibflüssigkeiten zu kopieren bzw. Wörter, Initialen oder Passagen der biblischen Bücher zu illuminieren.15 Archäologische Funde, wie beispielsweise die Schriftrollen aus Qumran, bestätigen diese Annahme.16 In Anbetracht der reich verzierten heiligen Schriften der Umweltkulturen sollte eine farbig gestaltete biblische Schriftrolle nicht erstaunen, wenn die rabbinische Literatur sich nicht ausdrücklich gegen die Verwendung roter, grüner oder goldener Schreibflüssigkeiten für das Kopieren der STaM ausgesprochen hätte. Offensichtlich kam es auch bei der zum Kopieren der STaM erlaubten Tinten zu einer Abgrenzung von anderen Schreibflüssigkeiten. Doch im Gegensatz zu den Schreibhäuten ist es bei der Tinte kaum möglich, ein klares Konzept aus den Quellen herauszuarbeiten. Es soll ausschließlich dejo verwendet werden, und diese Schreibflüssigkeit ist schwarz – so der Konsens. Doch was genau ist unter dejo zu verstehen? In der hebräischen Bibel ist dejo nur ein einziges Mal erwähnt. Der Prophet Jeremia beauftragte den Baruch, die von ihm empfangenen Worte Gottes aufzu14 bT Šabb 103b, 108a; bT Meg 9a, 19a; Massechet soferim 1:9; Massechet sefer torah 1:10. Vgl. Heinrich Graetz, „Alexander and His Gold-Lettered Scroll“, in: The Jewish Quarterly Review 2 (1889), H. 1, S. 102–104; Ludwig Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen, S. 157–163, Leopold Löw, Graphische Requisiten und Erzeugnisse bei den Juden, Leipzig 1871, Bd. 1, S. 161–164. 15 jT Giṭ 44b; bT Šabb 13d. In bT Giṭ 19a ist ein Fall dokumentiert, aus dem hervorgeht, dass in manchen Fällen – hier ein Scheidebrief – zunächst mit Rötel vorgeschrieben und dann mit Tinte die Schrift nachgezogen wurde. „Es wurde gelehrt: Wenn jemand am Schabbat mit Tinte über Rötel schreibt, so ist er, wie R. Jochanan und Resch Lakisch übereinstimmend sagen, zweimal schuldig, einmal wegen des Schreibens und einmal wegen des Löschens [der mit Rötel geschriebenen Schrift].“ 16 Yaron Nir-El und Magen Broshi, „The Red Ink of the Dead Sea Scrolls; dies., „The Black Ink of the Qumran Scrolls“; Kaare Lund Rasmussen, „The Constituents of the Ink from a Qumran Inkwell: New Prospects for Provenancing the Ink on the Dead Sea Scrolls“, in: Journal of Archaeological Science 39 (2012), H. 9, S. 2956–2968; Bridget M. Murphy, „Degradation of Parchment and Ink of the Dead Sea Scrolls Investigated Using Synchrotron-based X-ray and Infrared Microscopy“, in: Holistic Qumran. Trans-Disciplinary Research of Qumran and the Dead Sea Scrolls, hrsg. von Jan Gunneweg, Annemie Adriaens und Joris Dik (= Studies on the Texts of the Desert of Judah, Bd. 87), Leiden [u. a.] 2010, S. 77–97; Ira Rabin, „On the Origin of the Ink of the Thanksgiving Scroll“.

3.1 Das rabbinische Ideal 

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schreiben und dem Volk aus dieser Schrift vorzutragen. Als Baruch auch vor den Fürsten aus diesem Buch las, fragten sie ihn: „Sage uns, wie hast du alle diese Reden aus seinem Munde geschrieben?“ Baruch antwortete: „Er sagte vor mir alle diese Reden aus seinem Munde, und ich schrieb sie mit dejo ins Buch“ (Jer 36,18). Dejo scheint also prädestiniert für das Schreiben einer göttlichen Offenbarung. Was diese Tinte vor allen anderen auszeichnet, verrät der biblische Text leider nicht. Erst der Talmud differenziert – allerdings recht vage – zwischen „dejo ‫דיו‬, roter Farbe ‫סקרא‬, Gummi ‫ קומוס‬und Vitriol ‫ קלקנתום‬oder sonst etwas, was bestehen bleibt“ und „Getränken ‫משקין‬, Obstsaft ‫ מי פירות‬oder sonst etwas, was nicht bestehen bleibt“17. Die sich daran anschließenden Diskussionen um die richtige Herstellung von dejo wurde in erster Linie zwischen den Polen „wasserlöslich“ und „dauerhaft haftend“ geführt. Die Wurzeln dieser Debatte reichen in die biblische Anweisung zur Herstellung des sogenannten Bitterwassers zurück, womit eine des Ehebruchs verdächtigte Frau auf ihre Schuld geprüft wurde. Dafür schrieb der Priester Flüche auf einen Zettel, wusch denselben mit bitterem Wasser (soṭah) ab und gab das daraus entstandene „fluchbringende und bittere Wasser“ der Frau zu trinken. War sie zu Unrecht verdächtigt, konnten die Flüche ihr nichts anhaben. Hatte sie sich jedoch an ihrem Mann versündigt, so wird das fluchbringende Wasser in sie gehen und ihr zum Verderben werden.18 Wichtig bei diesem erniedrigenden Prozedere war natürlich die Beschaffenheit der Tinte, da sie sich leicht in dem Bitterwasser auflösen musste: „Die Rolle muss verwischt worden sein – denn was sonst sollte er [der Priester] ihr [der beschuldigten Frau] zu trinken geben“19. Dazu eigneten sich vor allem die in Ägypten, Indien und China schon sehr früh verwendeten Rußtuschen, die auf Kohlenstoffpigmenten pflanzlicher Stoffe oder auf Ölen basieren.20 Die für ihre unerreichbare Schwärze berühmte Chinatusche etwa, die bei den Griechen und Römern um den Beginn unserer Zeitrechnung als indische Tinte bekannt war, wurde vorzugsweise aus dem feinen Ruß von Sesamöl hergestellt. Für die Rußherstellung diente je nach Kulturkreis eine 17 mGiṭ 2:3; bT Giṭ 19a; bT Meg19a; bT Šabb 115b; bT Soṭah 17b. 18 Num 5,23–27. 19 bT Soṭah 19b. 20 Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen, S. 150–166; J. C. Wegener (Hrsg.), Neue Rezeptsammlung zu schwarzen, rothen, grünen und andern Tinten, Einbeck 1830; David N. Carvalho, Forty Centuries of Ink, New York 1904; Paul Martell, „Einige Beiträge zur Geschichte der Tinte“, in: Zeitschrift für angewandte Chemie 26 (1913), S.  197–199; Claus Maywald, Schreibtinten. Einführung und Übersicht, Königswinter 2010; Walter Koschatzky, Die Kunst der Zeichnung. Technik, Geschichte, Meisterwerke, München 1981, S.  129–142; Peter Schreiner und Doris Oltrogge, Byzantinische Tinten-, Tuschen- und Farbrezepte, Wien 2011; Armin Schopen, Tinten und Tuschen des arabisch-islamischen Mittelalters: Dokumentation – Analyse – Rekonstruktion. Ein Beitrag zur materiellen Kultur des Vorderen Orients, Göttingen 2006.

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

Vielzahl anderer Ausgangsstoffe. In Ägypten bevorzugte man Öle von Rettichund Leinsamen sowie Kichererbsen, im Irak benutzte man gerne Ruß von Leinöl und Erdöl, während in Byzanz Olivenöl als Ausgangsstoff zum Einsatz kam.21 Es gab aber auch schwarze Tuschen aus fettigem Kerzen- oder Lampenruß, die mit warmen Gummiwasser verrührt beliebte Schreib- und Zeichenflüssigkeiten ergaben. Die zahlreichen Rezepturen für Rußtinten aus verbrannten Hölzern, Harzen oder Kernen bezeugen eine enorme Bandbreite des Schreibstoffs, über die man heute nur noch staunen kann – ganz zu schweigen von den Duftstoffen, z. B. Kampfer, Kümmel, Moschus, Myrrhe, Rosenknospen oder Weihrauch, mit denen Tinten eine zusätzliche olfaktorische Qualität verliehen wurde. Bei jüdischen Schreibern war die im mediterranen Raum weit verbreitete Trockentinte beliebt, für die der Ruß mit einem wasserlöslichen Bindemittel, beispielsweise mit getrocknetem Gummiarabikum, versetzt wurde. Aus der daraus entstandenen zähen Masse wurden kleine Stangen, Pastillen oder Kügelchen geformt, die je nach Bedarf mit einer Flüssigkeit versetzt werden konnte, so dass dem Schreiber schnell Tinte zur Verfügung stand.22 In der jüdischen Antike kam mit der Einführung von Pergament als Beschreibstoff zusätzlich die flüssige Eisengallustinte in Gebrauch. Rußtusche kann sehr leicht von dem extrem haltbaren Material abgewaschen werden, wogegen die neuen, nur schwer löslichen Tinten für ihre Dauerhaftigkeit geschätzt wurden. Die Schwärze der Eisengallustinten entsteht durch die Verbindung von Gallus-Gerbsäure und Eisensulfat (Vitriol), die mit Sauerstoff reagieren. Durch den Zusatz eines Bindemittels entsteht eine ideale Schreibflüssigkeit, deren Eigenschaften allerdings vom Mischungsverhältnis der Zutaten abhängen.23 Ein zu großer Anteil von Vitriol greift den Schriftträger im Laufe der Zeit an oder zerstört sogar das gesamte Schriftbild (Tintenfraß). Ein weiterer Nachteil der Eisengallustinten ist der stetige Oxidationsprozess der Eisenmoleküle, der das ursprüngliche Schwarz im Laufe der Zeit in einen Braunton verwandelt. Darüber hinaus verblasst die Schrift durch UV-Strahlung. Diese ungünstigen Eigenschaften der Eisengallustinten waren sicherlich die Ursache dafür, dass im arabisch-islami-

21 Schopen, Tinten und Tuschen des arabisch-islamischen Mittelalters, S. 10. 22 Siehe auch bT Šabb 18a, wo die Herstellung von Trockentinte am Schabbat diskutiert wird. Zur Untersuchung der Tinten vgl.  Oliver Hahn, Timo Wolff, Hartmut-Ortwin Feistel, Ira Rabin und Malachi Beit-Arié, „The Erfurt Hebrew Giant Bible and the Experimental XRF Analysis of Ink and Plummet Composition“, in: Gazette du Livre Médiéval 51 (2007), S. 16–29; Oliver Hahn, „Zerstörungsfreie naturwissenschaftliche Untersuchung von historischem Schriftgut“, in: Schubert (Hrsg.), Materialität in der Editionswissenschaft (= Beihefte zu Editio, Bd. 32), S. 15–26. 23 Schopen, Tinten und Tuschen des arabisch-islamischen Mittelalters, S. 12.

3.1 Das rabbinische Ideal 

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schen Raum weitere Tintensorten entwickelt wurden, die Ruß- und Gerbstofftinte oder auch Eisengallus- und Rußtinte in einem waren.24 Da davon ausgegangen werden kann, dass im Zusammenhang mit den heiligen Schriftrollen oder im Falle eines Scheidungsdokuments eine lange Haltbarkeit der Schrift im Vordergrund gestanden haben muss, löste die Forderung einer abwaschbaren Tinte für das Bitterwasser auch im Kontext der STaM Irritationen aus, die in vielfältigen halachischen Diskussionen ihren Niederschlag fanden. Das Problem ist zwar an verschiedenen Stellen im Talmud angesprochen – aber nicht gelöst worden. So heißt es im babylonischen Talmud Erubin 13a: Als ich bei Rabbi Aqiva lernte, pflegte ich Vitriol in die Tinte zu tun, und er sagte mir nichts; als ich aber [später] zu Rabbi Jischmael kam, fragte er mich: „Mein Sohn, was ist deine Beschäftigung?“ Ich erwiderte ihm: „Ich bin Toraschreiber“. Da sprach er zu mir: „Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist die Arbeit des Himmels; wenn du nur einen Buchstaben auslässt oder einen Buchstaben zu viel [schreibst], zerstörst du die ganze Welt“. Ich erwiderte ihm: „Ich habe etwas, das ich in die Tinte tue, es ist Vitriol“. Darauf entgegnete er mir: „Darf man denn Vitriol in die Tinte tun, die Tora sagt [hinsichtlich der Fluchschrift für das Bitterwasser]: Er schreibe und er verwische (Num 5,23). „Eine Schrift, die sich verwischen lässt“ (bT Soṭah 20a)“. Er sprach zu ihm wie folgt: „Selbstverständlich bin ich im Schreiben der defekten und vollen [Worte] kundig, aber ich brauche auch nicht zu befürchten, eine Fliege könnte sich auf das Häkchen des dalet setzen, es verwischen und aus diesem ein reš machen, denn ich habe etwas, das ich in die Tinte tue, nämlich Vitriol“.

Die sich anschließende Diskussion, die neben der abwaschbaren Rolle mit dem Fluchtext auch den Scheidebrief (geṭ) behandelt, führt von der eigentlichen Ausgangsfrage, nämlich ob eine Tinte zum Schreiben einer Torarolle nun Vitriol enthalten darf oder nicht, fort und verliert sich in einem gänzlich anderen Thema. Es gibt in der gesamten frühen rabbinischen Literatur keine klare Linie hinsichtlich dieser Frage. Auch was die anderen Ingredienzien von dejo betrifft, ist nur wenig aus den antiken Quellen herauszulesen. So heißt es in einer anderen Passage des Talmud: „Alle Öle sind gut für dejo, doch Olivenöl ist das beste. […] Jeder Ruß ist für dejo geeignet, doch Olivenöl ist das beste [Ausgangsmaterial dafür]. […] Jedes Harz ist gut für Tinte, doch das Harz des Balsambaums ist das beste.“25 Der Talmud berichtet auch von Trockentinten, die genauso wie flüssige Eisengallustinten für das Schreiben der STaM in Gebrauch waren.26 Wie unterschiedlich die Tintenrezepturen auch sein mögen, dejo ist im Schreibkontext ein Synonym für Reinheit und Heiligkeit. Ausschließlich für das Kopieren der heiligen Schriftrollen bestimmt, wird diese Tinte immer wieder als Trägerin 24 Ebd., S. 14. 25 bT Šabb 23a. 26 Vgl. u. a. bT Šabb 80a und 104b, Giṭ 19a.

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göttlicher Weisheit inszeniert. Dementsprechend berichtet der Talmud, dass die Namen auf dem mit Edelsteinen besetzten Brustschild des Hohepriesters (Ex 28,15– 21) mit dejo geschrieben worden seien,27 was den schwarzen Schreibstoff erheblich aufwertet und mit der Aura des Hochheiligen umhüllt. In dem wahrscheinlich aus dem 6.  Jahrhundert stammenden Midraš šir ha-širim rabba findet dejo aufgrund seiner tiefen Schwärze Eingang in das aggadisch-mythologische Gedächtnis der jüdischen Tradition. Die Beschreibung der schwarzen Lockenpracht des Königs Salomon im Hohelied Vers 5,11, wo es heißt: Sein Haupt ist das feinste Gold, seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe, deutet der Autor als Analogie auf die schwarzen Buchstaben der Tora, die auf einem hellen Untergrund klar hervortreten. Das rabbinische Bestehen auf Farb- und Schmucklosigkeit beim Schreiben der STaM ist zum einen sicherlich eine Reminiszenz an das Tempelrollenexemplar, das in seiner Schlichtheit am besten die ursprüngliche Offenbarung Gottes in der Schrift repräsentiert. Zum anderen ist das Festhalten am Einfachen auch als eine bewusste Distanzierung von der Praxis der Umweltkulturen, ihre heiligen Schriften ganz besonders aufwendig zu illuminieren, zu interpretieren. Die farbenprächtig ausgestatteten Korane und wertvoll illuminierten Evangeliare stehen in einem deutlichen Kontrast zur Torarolle, deren schwarz-weißes Erscheinungsbild Authentizität und Ursprünglichkeit ausstrahlt. Die Autoren des Jerusalemer Talmud veranlasste dieses Bild, von dem Gesetz zu sprechen, „das Gott Moses gab, geschrieben mit schwarzem auf weißem Feuer“.28 Die Schwärze des dejo symbolisiert das Feuer, mit dem Gott seinen Schöpfungsplan auf einen weißen Untergrund gleichsam einbrannte.

3.1.3 Der qulmus Der von Zeus in ein Schilfrohr verwandelte Kalamos war Namensgeber für den bis heute in der Schreibpraxis der sofrei STaM verwendeten qulmus, der nun nicht mehr nur das zurechtgestutzte Schilfrohr (‫)קנה‬, sondern auch den bearbeiteten Federkiel bezeichnet. Letzterer sollte idealerweise von einem rituell reinen Vogel stammen, wobei es auch hier verschiedene Meinungen gab. Während der qalam in der arabischen Welt oft Gegenstand von Lobeshymnen auf das Schreiben war29, 27 bT Soṭah 48b. 28 jT Šeq 6,1; Tanḥuma, Gen 1; vgl. auch Raschi zu Deuteronomium 33:2. 29 Solveigh Rumpf-Dorner, „,Bei der Feder und bei dem, was wir schrieben …‘. Schreiben und Schreibgerät im islamischen Kulturkreis“, in: Vom Griffel zum Kultobjekt. 3000 Jahre Geschichte des Schreibgerätes, hrsg. von Christian Gastgeber und Herrmann Harrauer, Wien 2001, S. 51–64. Im Islam gilt das Schreibrohr (qalam) als das erste von Gott geschaffene Ding, das die Ereignis-

3.2 Reinheit und Heiligkeit 

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fand der jüdische qulmus in Antike und Mittelalter eher nüchterne Betrachtung. Immerhin wird die Sanftheit und Biegsamkeit eines Schilfrohrs vor dem steifen Stolz der Zeder gepriesen. Der Mensch solle sich an dem Schilfrohr orientieren, das ausgezeichnet wurde, dem qulmus als Ausgangsmaterial zu dienen, um die heiligen Schriftrollen zu schreiben.30 Erst im Kontext der Lurianischen Kabbala erfahren Tinte und qulmus eine mystische Überhöhung, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausgeführt werden soll.

3.2 Reinheit und Heiligkeit Die Reinheit des Materials und Lauterkeit des Herzens spielen bei der Herstellung der heiligen Schriftrollen eine zentrale Rolle. Es ist daher lohnenswert, nach den möglichen Funktionen dieser im Judentum generell stark ausgeprägten Ordnungskategorie „Reinheit“ bzw. „Verunreinigung“ oder „Pollutio“ in diesem speziellen Zusammenhang zu fragen. Obwohl sich die Trennung von Reinem und Unreinem „von den ältesten Quellen Ägyptens und Mesopotamiens bis in die Gegenwart sowohl der sogenannten Hoch- und Weltreligionen als auch der Kulturen schriftloser Völker verfolgen lässt“31, ist die vergleichende Religionswissenschaft wegen der Komplexität dieses Phänomens bei dem Versuch einer kulturübergreifenden Darstellung schnell an ihre Grenzen stoßen. Mit der Idee von „rein“ und „unrein“ ergeben sich dem jeweiligen Kulturkreis entsprechend unterschiedliche Positionen im Religionsgesetz, in Fragen der Ethik und innerhalb des Ritus, die wiederum weitreichende Konsequenzen für das soziale Zusammenleben, wie auch für jeden einzelnen Menschen der Gemeinschaft nach sich ziehen, so dass „Versuche, religionsgeschichtliche Zusammenhänge, Entlehnungen oder Abhängigkeiten aufgrund äußerlicher Ähnlichkeiten zu konstruieren oder die bestehenden Unterschiede zwischen den einzelnen Kulturen durch den Rückgriff auf eine vereinheitlichende Terminologie („Mana“, „Tabu“ usw.) zu nivellieren […], in jedem Fall mit Vorsicht zu beurteilen sind“32. Dennoch sind im Vergleich

se der Welt eigenständig notiert. Der türkische Autor Nafasîzâde beschreibt diese erste Feder folgendermaßen: „Man sagt auch, dass der qalam ein grüner Smaragd ist, tausend Tagesreisen lang, und dass er mit Licht zurechtgeschnitten wurde. Als Gott der Erhabene ihn ansah, wurde er durch die ehrfurchtsvolle Scheu vor seinem Blick in zwei Hälften gespalten, eine etwas größer als die andere.“ Ebd. S. 51 f. 30 Vgl. u. a. bT Ta‘anit 20b. 31 Bernhard Maier, „Reinheit I“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin [u. a.] 1997, S. 473–477, hier S. 476. 32 Ebd. 477.

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

der verschiedenen Auffassungen interessante Muster und Dynamiken zu beobachten, die mit Blick auf die strengen Reinheitsvorschriften für die Herstellung und Handhabung der STaM durchaus aufschlussreich sind. Aus der Distanz betrachtet ist mit der Kategorie „Reinheit“ ein dichotomes Symbolsystem verbunden, dass zwischen „rein“ und „unrein“, „heilig“ und „profan“, zwischen „guter Schöpfung“ und „böser Schöpfung“, zwischen „kosmischer Ordnung“ und „Chaos“, zwischen Gesundheit und Krankheit, Zeugung, Leben, Geburt und Tod unterscheidet. Wir bewegen uns hier immer in Grenzgebieten bzw. an Übergängen, deren prekärer Charakter durch Reinheits- bzw. Reinigungsregelungen Struktur und Ordnung erfährt. Wie diese Struktur aussieht und was für eine Art Ordnung etabliert wird, ist kulturell sehr unterschiedlich und wird je nach historischer Situation immer wieder neu justiert. Die engste Korrelation besteht zwischen den beiden Ordnungen „Reinheit“ und „Heiligkeit“, da der Ursprung der Reinheitsbestimmungen sehr wahrscheinlich in der Kultpraxis zu suchen ist. Bereits im alten Ägypten, in Mesopotamien oder im alten Griechenland33 ordnete die Vorstellung von „rein“ und „unrein“ das rituelle Leben im Tempel und die unterschiedlichsten Aspekte der Opfergaben. Kultgegenstände, Opfertiere aber auch Menschen, die sich innerhalb dieser heiligen Räume bewegten, sollten sich durch Unbeflecktheit auszeichnen bzw. „mit reinen Händen“34 agieren. Welche Art von Pollutio die kultische Reinheit störte,

33 Siehe u. a. Robert Parker, Miasma. Pollution and Purification in Early Greek Religion, Oxford 1983; E. Jan Wilson, „Holiness“ and „Purity“ in Mesopotamia (= Alter Orient und Altes Testament, Bd. 237), Kevelaer 1994; Christian Frevel und Christophe Nihan (Hrsg.), Purity and the Forming of Religious Traditions in Ancient Mediterranean World and Ancient Judaism, Leiden 2013. Ganz ähnliche Vorstellungen sind auch im afrikanischen oder asiatischen Raum zu finden. Siehe u. a. J. Omosade Awolalu, „Sin and its Removal in African Traditional Religion“, in: Journal of American Academy of Religion 44 (1976), S.  275–287; Walter O. Kaelber, „Tapas and Purification in Early Hinduism“, in: Numen 26 (1979), S. 192–214. Neuere Ansätze finden sich in den Artikeln von Paolo Santangelo („From ‚Clean‘ to ‚Pure‘ in Everyday Life in Late Imperial China: A Preliminary Enquiry“), Stefan Köck („Washing Away the Dirt of the World of Desire. On Origins and Developments of Notions of Ritual Purity in Japanese Mountain Religions“) oder Sven Bretfeld („Purifying the Pure: The Visuddhimagga, Forst-Dwellers and the Dynamics of Individual and Collective Prestige in Theravada Buddhism“). Alle drei Beiträge sind erchienen in Discourses of Purity in Transcultural Perspective (300–1600), hrsg. von Matthias Bley, Nikolas Jaspert und Stefan Köck (= Dynamics in the History of Religions, Bd. 7), Leiden [u. a.] 2015. 34 Die reinen Hände sind nicht nur im Judentum, sondern auch im Christentum und im Islam von großer Bedeutung. Siehe u. a. Arnold Angenendt, „,Mit reinen Händen‘. Das Motiv der kultischen Reinheit in der abendländischen Askese“, in: Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters, hrsg. von Georg Jenal (= Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag), Stuttgart 1993, S. 297–316; Stephan Conermann, „Reinheitsvorstellungen im Islam“, in: Reinheit, hrsg. von Peter Burschel und Christoph Marx, Wien [u. a.] 2011, S. 73–93.

3.2 Reinheit und Heiligkeit 

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war regional gar nicht so weit voneinander entfernt und vor allem an körperliche bzw. als kontaminierend vorgestellte Erscheinungen geknüpft. So befleckte der Kontakt mit einem Toten oder einer Begräbnisstätte, Sexualität, bestimmte Speisen, Geburt, Körperflüssigkeiten wie Samen und Menstruationsblut oder Aussatz. Wie stark sich die Ideen von einer kultischen Reinheit und die Vorstellungen über die Arten der Verunreinigung in der Antike glichen, zeigen die Ausführungen Walter Burkerts, der mit Blick auf die griechische Kultpraxis erläuterte: Der Begriff der speziell kultischen Reinheit wird definiert, indem gewisse mehr oder weniger gravierende Störungen des normalen Lebens als míasma [Befleckung] aufgefasst werden. Solche Störungen sind Geschlechtsverkehr, Geburt, Tod und insbesondere Mord. Hagnós [rein] im exemplarischen Sinn ist darum, wer den Kontakt mit Blut und Tod vermeidet, insbesondere die Jungfrau. Jungfrauen spielen in vielen Kulturen tragende Rollen, Priesterinnen müssen oft zumindest für die Zeit ihrer Priesterschaft Keuschheit bewahren; aber auch Priester und Tempeldiener müssen gelegentlich, besonders zur Vorbereitung auf ein Fest, einen bestimmten Grad der hagneía [Reinheit] erreichen. Dazu gehört, außer dem Vermeiden von Geschlechtsverkehr und Kontakt mit einer Wöchnerin oder einem Trauerhaus, auch das Einhalten von Speiseverboten […].35

Demzufolge bildet der Zustand der Reinheit in Altgriechenland wie in allen anderen Kulturen auch die Grundvoraussetzung für jegliche Kommunikation mit den Göttern – ganz gleich ob beim Tempeldienst, beim Opferkult oder dann später im schlichten, ethischen Sinne als „Reinheit des Herzens“ gedeuteten Gebet – und kann als Synonym für „kulttauglich“ gelesen werden. Auch der Ursprung der jüdischen Vorstellung von „rein“ [‫ ]טהר‬und „unrein“ [‫ ]טמא‬ist stark von priesterlichen Konzeptionen geprägt, deren gedankliches Zentrum der Jerusalemer Tempel war.36 Um der „Heiligkeit des Tempels zu entsprechen, müssen alle Menschen und Dinge, die in Kontakt mit dem Heiligtum stehen, im Zustand der Reinheit sein“37. Der Begriff „Heiligkeit“ sollte hier im Sinne der biblischen Verwendung der hebräischen Wurzel qdš in seiner Bedeutung als „bestimmt sein für“, „zugehörig sein zu“ und „getrennt sein von“ gedacht werden.38 Der Aspekt des Trennens im Zusammenhang mit „heilig“ (qadoš) setzt 35 Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (= Die Religionen der Menschheit, Bd. 15), Stuttgart [u. a.] 1977, S. 133; vgl. auch Angenendt, „,Mit unreinen Händen‘“, S. 301–307. 36 Beate Ego, Stichwort „Reinheit / Unreinheit / Reinigung (AT)“, in: WiBiLex (www.bibelwissenschaft.de/stichwort/33086/; erstellt: April 2007; zuletzt abgerufen: 2.9.2021). 37 Ebd. 38 Baruch J. Schwartz, „Israel’s Holiness: The Torah Traditions“, in: Purity and Holiness. The Heritage of Leviticus, hrsg. von Marcel J. H. M. Poorthuis und Joshua Schwartz (= Jewish and Christian Perspectives, Bd. 2), Leiden [u. a.] 2000, S. 47–60; weiterführende Studien zum Wortstamm qdš siehe ebd., Anm. 2, 3 und 4.

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

sich in der rabbinischen Literatur und bei den halachischen Autoritäten des Mittelalters fort und schwingt – wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird – bei der Herstellung der heiligen Schriftrollen immer mit. Etwas Heiliges gehört ganz der göttlichen Welt an und ist gleichzeitig von der geschaffenen Welt oder Minderheiligem zu trennen. Die weniger geläufige Verwendung des Terminus qiddeš im Sinne von „reinigen“ ist hier nicht zutreffend: […] it refers to washing, laundering and refraining from sexual activity in order to achieve a state of bodily cleanness, and by extension to the removal of idolatrous objects metaphorically thought of as „pollutants“ in order to „purify“ the Temple and its precincts. In this use it is completely unrelated to the idea of designation, separation, belonging. The acts of purification it includes do not consecrate, that is they do not confer any lasting status of belonging to the divine sphere.39

Etwas Reines muss dementsprechend nicht zwingend heilig sein. Reinheit ist jedoch unabdingbare Voraussetzung für Heiligkeit.40 Das enge Verhältnis von Heiligkeit und Trennung veranlasste die Religionsund Kulturwissenschaftlerin Mary Douglas41 zu tiefergehenden Überlegungen hinsichtlich der sozialen Funktion der Reinheitsgebote in den Kulturen. Auf dem funktionalistischen Ansatz Émile Durkheims aufbauend interpretiert Douglas Rituale als „die Darstellung sozialer Beziehungen“ und folgert weiter, sie seien „das symbolische Medium des physischen Körpers auf den politischen Körper“42. Douglas betont in ihren einflussreichen Studien die Vorstellung vom „Heiligen als etwas Ganzem und Vollkommenem“43, mit der der Wunsch nach Makellosigkeit des menschlichen Körpers einherginge. Sie überträgt dieses Bild auf den sozialen Körper, der sich durch symbolische Reinigungsriten von äußeren Gefahren abgrenzen möchte. Die in allen Reinheitskonzeptionen festzustellende intensive, wenn nicht exzessive Beschäftigung mit verletzlichen Stellen des Körpers und die Tendenz, Körperflüssigkeiten, die die Begrenzung des Körpers überschreiten – wie beispielsweise Speichel, Blut, Urin, Stuhl, Samenflüssigkeit – aus dem heiligen Bereich des Tempels zu verbannen, ist nach Douglas dem Drang jeder Gemeinschaft geschuldet, eine innere soziale Ordnung zur Sicherung ihres Fort39 Schwartz, „Israel’s Holiness“, S. 48. 40 Jacob Milgrom, „The Dynamics of Purity in the Priestly System“, in: Poorthuis und Schwartz (Hrsg.), Purity and Holiness, S. 29–45. 41 Mary Douglas, Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, New York 1966, dt. als Reinheit und Gefährdung, Berlin 1985; dies., „Pollution“, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, hrsg. von David L. Sills, New York [u. a.] 1968, Bd. 12, S. 336–342; dies., Leviticus as Literature, Oxford 1999. 42 Douglas, Reinheit und Gefährdung, S. 169. 43 Ebd., S. 71.

3.2 Reinheit und Heiligkeit 

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bestandes aufrecht zu erhalten. Douglas schlägt daher folgenden methodischen Ansatz vor: Jede Kultur hat ihre je besonderen Risiken und Probleme. Welchen der körperlichen Randzonen in ihren Glaubensanschauungen Kraft zugeschrieben wird, hängt davon ab, welche Situation der Körper gerade wiedergeben soll. Offenbar können sich unsere verborgensten Ängste und Wünsche mit großer Beredtheit Ausdruck verschaffen. Um die körperliche Verunreinigung zu verstehen, sollten wir, ausgehend von den bekannten gesellschaftlichen Gefahren, die bekannten Motive aus den Körperbereichen ansehen und dann festzustellen versuchen, welche Entsprechungen es gibt.44

Darüber hinaus betont Douglas, dass gerade kulturell und politisch hart bedrängte Minoritäten mit verstärkten Reinheitsregelungen um den Schutz ihrer sozialen Grenzen kämpften. Die besonders strengen jüdischen Reinheitsvorschriften des Diasporajudentums bezeugten symbolisch „ihre Sorge um Integrität, um die Einheit und Reinheit des physischen Körpers“ und seien „ein angemessener Ausdruck für die bedrohten Grenzen ihres [des jüdischen] politischen Gemeinwesens“45. Die soziale Dimension von Reinheitsvorschriften ist im Anschluss an die richtungsweisenden Arbeiten von Douglas aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet worden.46 Zahlreiche Fallstudien aus unterschiedlichen Fachrichtungen zum Phänomen „Reinheit“ untermauern die These, dass es sich bei der Unterscheidung von „rein“ und „unrein“ um ein bewegliches System handelt, das sehr empfindlich auf bestimmte Einflüsse von „außen“ reagiert. Als kulturunabhängig haben sich vor allem zwei zentrale Bausteine der Theorie von Douglas bestätigt: zum einen die zentrale Funktion der Reinheitsordnung als Mittel der Grenzziehung zwischen Kulturen, Religionen oder bestimmten sozialen Gruppierungen; zum anderen aber auch die Etablierung einer hierarchischen Abgrenzung innerhalb der Gesellschaft. Die Spielformen der Reinheitsdebatten sind dementsprechend so variabel wie soziale Konstellationen beweglich sind.47

44 Ebd., S. 161. 45 Ebd., S. 164. 46 Siehe die bereits genannten Aufsatzsammlungen von Frevel und Nihan (Hrsg.), Purity and the Forming of Religious Traditions und von Bley, Jaspert und Köck (Hrsg.), Discourses of Purity sowie Arnold Angenendt, „Reinheit und Unreinheit. Anmerkungen zu ,Purity and Danger‘“, in: Reinheit, hrsg. von Peter Burschel und Christoph Marx, Wien [u. a.] 2011, S. 47–56. 47 Was die jüdischen Ausformungen der Reinheitsvorstellungen in der Antike betrifft, hat die Forschung bereits umfangreiches Material aufgearbeitet. Dazu gehören „Klassiker“ wie die Arbeiten von Jacob Neusner, The Idea of Purity in Ancient Judaism, Leiden 1973; Jacob Milgrom, Leviticus. A Book of Ritual and Ethics, Minneapolis 2004; Hyam Maccoby, Ritual and Morality: The Ritual Purity System and its Place in Judaism, Cambrige [u. a.] 2009; Jonathan Klawans, Impurity and Sin in Ancient Judaism, Oxford 2004; ders., Purity, Sacrifice, and the Temple. Symbolism and Superses-

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

Welche Schlussfolgerungen lassen nun die antiken Regelungen zur materialen Reinheit der heiligen Schriftrollen hinsichtlich ihrer sozialen bzw. politischen Funktion zu? Die frühe rabbinische Literatur lässt keinen Zweifel: Dem Tempelrollenexemplar kam hochheiliger Charakter zu und es war denselben rituellen Regeln wie die hochheiligen Tempelgeräte unterworfen. Der Tempel war bei der Abfassung der Schreiberregeln längst zerstört; dennoch gelten für die Herstellung der heiligen Schriftrollen mit Blick auf die zu verwendenden Materialien dieselben strengen Reinheitsvorstellungen.

3.3 Die Funktion der Reinheitsvorschriften im Schreibkontext der Antike Ein Blick in die reichhaltige Forschungsliteratur zu den Schriftrollenfunden aus Qumran zeigt, dass die ersten rabbinischen Regulierungen zur Herstellung einer rituell einwandfreien Torarolle nicht aus dem Nichts entstanden sind. Forscher wie David Stern haben bereits darauf hingewiesen, wie stark diese normative und anfangs eher homiletisch angelegte Schreiberliteratur von ideologischen Überlegungen geprägt ist.48 Während die Mischna Anfang des dritten Jahrhunderts ihre Ausführungen zur Herstellung von Schriftrollen auf die Ester-Rolle sowie die Tefillin und Mezuzot beschränkt, reflektieren die beiden Talmudim erstmals, allerdings noch unsystematisch die Schreibpraxis von Torarollen.49 Die sogenannten sionism in the Study of Ancient Judaism, Oxford 2006. Einzelstudien zu den Reinheitsvorstellungen, wie sie uns in den Schriftrollen von Qumran entgegentreten, zeigen weitere Mosaiksteine der großen Varianz der Reinheitsvorstellungen selbst in ein und demselben Kulturkreis. Vgl. u. a. Ian C. Werrett, Ritual Purity and the Dead Sea Scrolls, Leiden [u. a.] 2007; Lawrence H. Schiffman, The Courtyards of the House of the Lord. Studies on the Temple Scroll, Leiden [u. a.] 2008; Hannah Harrington, The Impurity System of Qumran and the Rabbis. Biblical Foundations, Atlanta 1993. Neuere Forschungsarbeiten weisen auf Verschiebungen und Ausformungen innerhalb dieser Reinheitsvorstellungen im Mittelalter hin. Vgl. Discourses of Purity in Transcultural Perspective (300–1600), hrsg. von Matthias Bley, Nikolas Jaspert und Stefan Köck, Leiden/Boston 2015. 48 Stern, The Jewish Bible, S. 27 f. 49 Über die Frage, weshalb sich die Autoren der Mischna zum Schreiben von Torarollen in Schweigen hüllen, kann nur spekuliert werden: „Does the Mishnah’s silence reflect the fact that the rabbis themselves did not yet have fixed views on the subject? Or is it because they realized that they did not have the power to regulate the practice of scribes who were not necessarily part of the rabbinic class and may have had their own traditions with their own conventions? Does the Mishnah’s focus on the reader of the megillah and his audience reflect a tacit acknowledgement on the rabbi’s part that these were the only persons (or some of them) whom they felt they could influence through their legislation? We have no answers to these questions.“ Stern, The Jewish Bible, S. 29.

3.3 Die Funktion der Reinheitsvorschriften im Schreibkontext der Antike 

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„kleinen Talmudtraktate“ Massechet sefer torah und Massechet soferim erweitern diese versprengten Hinweise zu einem Regelkanon, dessen detaillierte Zusammenstellung aller materialer Elemente eines sefer torah – der Schreibhaut, der Tinte, dem Schriftbild etc. – sicherlich auf der antiken Schreibkultur basiert und daher durchaus einen realistischen Einblick in die Schreibpraxispraxis der Region gibt. Forschungen an überlieferten materialen Objekten legen nahe, dass die Rabbinen aus der zeitgenössischen Schreibpraxis heraus eine ideale Torarolle konstruierten. Es ist sicher kein Zufall, dass dies zu einer Zeit geschah, als die religiöse Identität des Judentums eine Neudefinition erfuhr. In der aufschlussreichen Studie Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum der Antike50 untersucht Johann Maier innerjüdische Spannungen und Abgrenzungstendenzen gegen das Christentum und andere Umweltkulturen der Antike im Zusammenhang mit den rabbinischen Schreibvorschriften. Maier argumentiert aus der rabbinischen Literatur heraus überzeugend, dass mit der Kanonisierung der Torarollenherstellung Grenzen gezogen werden sollten, die nicht nur die Autorität des pharisäischen Judentums gegenüber anderen jüdischen Gruppierungen der Antike stärken, sondern auch vor Einflussnahme auf die von Gott geoffenbarte Schrift durch Nichtjuden schützen sollten. Die gewollte Distanzierung zur Umweltkultur – so Maier – träte beispielsweise in der talmudischen Diskussion über die Schreibbefugten deutlich zum Vorschein. Um sicherzustellen, dass Bibelexemplare im „rabbinisch kontrollierten Bereich“51 hergestellt wurden, empfiehlt der Talmud (bT Giṭ 45b): War der Schreiber ein min, ist das Exemplar zu verbrennen, war der Schreiber ein Nichtjude (Götzendiener), ist das Exemplar nach einer Ansicht Geniza-pflichtig, nach andrer Ansicht zu verbrennen. War der Besitzer (aber nicht der Schreiber) ein min, ist das Exemplar Geniza-pflichtig, war der Besitzer ein Nichtjude, so ist es nach einer Ansicht Geniza-pflichtig, nach andrer Ansicht jedoch das Lesen statthaft. (bT Giṭ 45b, Übersetzung Maier)

In der Tosefta (tḤul 2, 20) werden sifrei minim als „Zauberbücher“ abgeurteilt.52 Die Frage nach der Identität dieser minim – Häretiker – ist nicht zweifelsfrei geklärt. Maier nimmt an, dass es sich bei den minim um eine innerjüdische Gruppierung handeln musste, die das Schriftmonopol der Rabbinen in Frage stellte. Er diskutiert Judenchristen und gnostisch beeinflusste Gruppierungen, die die starke Abwehrhaltung des rabbinischen Judentums mit ihrer Kritik an dessen Umgang mit der Bibel und Auslegung der Schrift herausforderten. Ein anschauliches Exempel für einen Besitzer solcher sifrei minim bietet der Talmud mit der fragwürdigen Figur des Elischa ben Abuja im Traktat Ḥagigah. Elischa ben Abuja tritt in 50 Johann Maier, Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum der Antike, Darmstadt 1982. 51 Ebd., S. 25. 52 Ebd.

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

der Traditionsliteratur bald nur noch mit seinem Beinamen „Aḥer“, der „Andere“, in Erscheinung  – eine Bezeichnung, die auf sein Anderssein und einen Standpunkt außerhalb der jüdischen Gemeinschaft hindeutet. Fügt man nun die rabbinischen Bemerkungen zum „Fall“ Elischa ben Abuja alias Aḥer zusammen, verdichtet sich das Bild eines Sünders oder sogar Häretikers. Es wird ihm das Singen griechischer Lieder und der Besitz zahlreicher fremder Bücher vorgeworfen: „Griechischer Gesang wich nicht aus seinem Mund. Man sagt über Aḥer: Wenn er aufstand (um) aus dem Lehrhaus (wegzugehen), fielen viele sifrei minim aus seinem Schoß“. Elisha ben Abuja störte mutwillig die Unterweisung von Schülern in die Tora und verletzte wiederholt das Gesetz, indem er etwa die Ruhe am Schabbat durch das Reiten auf einem Pferd störte. Darüber hinaus heißt es: „Aḥer haute die jungen Triebe nieder“, das heißt, er verdarb die Jugend.53 Auch im Kontext der Schreibvorschriften für den Fluchtext der wegen Untreue verdächtigte Frauen ist die eindeutige Empfehlung zu finden: „sifrei minim – wie behandelt man sie? Man schneidet die Gottesnamen aus und verbrennt das Übrige. Rabbi Aqiva sagt: Man verbrennt sie völlig, denn sie sind nicht in Heiligkeit geschrieben.“54 Für die Tatsache, dass buchtechnische Vorschriften durchaus als Mittel im Kampf um das rabbinische Monopol der Textgestaltkontrolle der Bibel und als Abgrenzung gegen die Umweltkultur gebraucht wurden, spricht auch das Festhalten an der traditionellen Buchrollenform. Für den rituellen Gebrauch ist bis heute ausschließlich die Torarolle erlaubt, was insofern bemerkenswert ist, als der Kodex als Buchform große Vorteile mit sich brachte. Er ist einfacher zu handhaben als eine Schriftrolle und weniger empfindlich. Eine Textstelle ist durch Blättern viel schneller zu finden als durch das umständliche Abrollen einer einige Meter langen Rolle, die man darüber hinaus nur auf der Innenseite beschreibt. Die Seiten eines Kodex können dagegen auf der Vorder- und Rückseite beschriftet und dementsprechend um einiges kostengünstiger hergestellt werden. Im Unterschied zum Mittelalter, wo es neben Bibelrollen längst Kodizes für den Privatgebrauch gab, hielten die Juden der Antike lange an der Schriftenrolle für alle biblischen Bücher fest. Da die Rolle auch im griechischsprachigen Bereich des östlichen Mittelmeerraums bis ins 5. Jahrhundert die übliche Buchform gewesen ist, gehen Forscher wie Maier davon aus, dass „das rabbinische Insistieren auf der Rollenform nicht einfach aus einem Gegensatz zum Heidentum erklärbar ist“.55 53 vgl.  u. a. Awot de Rabbi Natan B 1 und Midraš berešit rabba 19:3. Eine tiefgehende Studie zur Figur des Elisha ben Abuja in der rabbinischen Literatur bietet Alon Goshen-Gottstein, The Sinner and the Amnesiac. The Rabbinic Invention of Elisha ben Abuya and Eleazar ben Arach, Stanford 2000. 54 Midraš sifre bamidbar 16. 55 Ebd., S. 38.

3.4 Das Evangeliar als materialer Gedächtnisträger des christlichen Glaubens 

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Er weist nicht nur auf die große Anzahl gnostischer Kodizes aus Nag Hammadi, sondern auch auf die Tendenz der frühen Christen hin, den Kodex für ihre heiligen Schriften zu wählen. Das könnte die Rabbinen, trotz der Vorteile, die ein Kodex mit sich brachte, dazu veranlasst haben, an der Rollenform festzuhalten, um sich auf diese Weise gegen christliche und gnostische Strömungen abzugrenzen. Die Diskussionen um den Heiligkeitsgrad bestimmter Textsorten, die Definition von Reinheitsvorschriften für die Herstellung der STaM sowie die Kanonisierung von materialen Eigenschaften der liturgischen Schriftrollen durch das formative Judentum der Antike ist von inneren und äußeren Spannungsfeldern der jüdischen Gesellschaft geprägt. Die Rabbinen ordneten, begrenzten und definierten die jüdische Gemeinschaft in einer Zeit der Krise, da mit der Zerstörung des Zweiten Tempels nicht nur die Rechtshoheit und die politische Identität, sondern auch die rituelle Kontinuität abhanden gekommen war.56 Mit der Herausbildung der Schreiberregeln ging die buchstabengetreue Festlegung des jüdischen Kanons einher, dessen Erhalt und Weitergabe von einer Generation auf die nächste zur wichtigsten Aufgabe für das Diasporajudentum wurde. In die unterschiedlichsten Regionen verstreut markiert nun allein dieser Text – als eine Art kultureller Anker in die Vergangenheit – die geistige Grenze des jüdischen Volkes. Die über Jahrhunderte hinweg bewahrte Form eines sefer torah ist immer auch eine Reminiszenz an das hochheilige Tempelrollenexemplar. Die Schriftrolle ist das Verbindungsglied zu einer idealisierten Vergangenheit, das Pfand Gottes in der Gegenwart und zugleich ein Versprechen für die Zukunft, da der Wiederaufbau des Tempels die messianische Zeit besiegelt. Die Authentizität dieses zentralen Kultgegenstandes über die Jahrhunderte hinweg zu bewahren ist demzufolge der identitätsstiftenden Pflege eines kollektiven Gedächtnisses geschuldet, das die jüdischen Gemeinden in der Diaspora verbindet.

3.4 Das Evangeliar als materialer Gedächtnisträger des christlichen Glaubens In der christlichen Schriftkultur spielt das exakte Kopieren bestimmter Textsorten keine so zentrale Rolle wie das Schreiben der STaM in der jüdischen Tradition, wo die Idee der Vorlagentreue, Textqualität und insbesondere der Textidentität im Vordergrund steht.57 Dennoch gibt es Bücher, die Texttreue oder zumindest Ähnlichkeit der 56 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 106. 57 Otto Ludwig, Geschichte des Schreibens, Bd. 1: Von der Antike bis zum Buchdruck, Berlin [u. a.] 2005; Wilhelm Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 31896 (Nachdruck 1958); Horst Wenzel, Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995;

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

äußeren Gestalt verlangen. Hierzu gehören die biblischen Schriften, insbesondere Psalter und Evangeliar, aber auch liturgische Bücher, die wie Perikopenbuch, Sakramentar und Stundenbuch buchkünstlerisch eine besonders aufwendige Ausstattung erfuhren.58 Die Herstellung dieser sakralen Schriften galt als gottgefälliges Werk, wobei eine Hierarchie der Bücher nach Heiligkeitsgrad den finanziellen Aufwand bei der Herstellung der zum Teil üppig ausgestatteten Manuskripte bestimmte.59 Dem Evangelium wurden als symbolische Wohnstätte Gottes mit der meist bilderreich illuminierten Schilderung der Heilsgeschichte die größte Sorgfalt und der prächtigste Buchschmuck zuteil. Auch wenn das Evangeliar als Einzelbuch ab dem 12. Jahrhundert keine eigentliche Funktion mehr in der Liturgie innehatte, da es in das Messbuch eingegangen war, bezeugen zahlreiche Prachtevangeliare dieser und späterer Zeit die außerordentliche Bedeutung dieses Buches für die christliche Kultur. Das „Buch des Lebens“ enthält die vier Lebensberichte Jesu, mit denen das frühe Christentum eine Zeitenwende konstruierte, die mit der Ablösung des „alten Gesetzes“, das nun als Allegorie der Ankündigung des Messias und als Vorbote der christlichen Wahrheit gelesen wurde, einherging. An die Stelle der messianischen Utopie von der Erfüllung des göttlichen Gesetzes und dem Wiederaufbau des Tempels tritt der Opfertod Christi und der Bau eines neuen Tempels, „entkoppelt vom wirklichen Gebäude, als frei schwebende Metapher auf [die] neuen HeilsMartin J. Schubert (Hrsg.), Der Schreiber im Mittelalter (= Das Mittelalter: Perspektiven mediävistischer Forschung, Bd. 7, H. 2), Berlin 2002, darin insbesondere die Aufsätze von Jürgen Wolf, „Das ‚fürsorgliche‘ Skriptorium. Überlegungen zur literarhistorischen Relevanz von Produktionsbedingungen“, S. 92–109 und Hildegard Elisabeth Keller, „Kolophon im Herzen. Von beschrifteten Mönchen an den Rändern der Paläographie“, S.  157–182; Anton Legner, „Illustres manus“, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romantik (= Katalog zur Ausstellung des SchnütgenMuseums in der Josef-Haubrich-Kunsthalle), hrsg. von Anton Legner, Köln 1985, Bd. 1, S. 187–262; Franz Ronig, „Bemerkungen zur Bibelreform in der Zeit Karls des Großen: Funktion und Ikonologie“, in: Kunst und Kultur der Karolingerzeit und Papst Leo III. in Paderborn (= Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999), hrsg. von Cristoph Stiegemann und Matthias Wemhoff, Mainz 1999, S. 711–717; Jan-Dirk Müller, „Aufführung – Autor – Werk: Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion“, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster (= Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997), hrsg. von Nigel F. Palmer und Hans-Joachim Schiewer, Tübingen 1999, S. 149–166; Hagen Keller, „Vom ‚heiligen Buch‘ zur ‚Buchführung‘: Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter“, in: Frühmittelalterlicher Studien 26 (1992), S. 1–32; Arnold Angenendt, „Libelli bene correcti“, in: Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Vorträge gehalten anlässlich des 26. Wolfenbütteler Symposions vom 11.–15. September 1989 in der Herzog-August-Bibliothek (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 5), hrsg. von Peter Ganz, Wiesbaden 1992, S. 117–135; Ilona Opelt, „Der antike Autor und sein Buch“, in: Das Buch in Mittelalter und Renaissance (= Studia humaniora, Bd. 19), hrsg. von Rudolf Hiestand, Düsseldorf 1994, S. 17–31. 58 Vgl. Christine Jakobi-Mirwald, Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung, Stuttgart 2004, S. 75–95. 59 Ludwig, Geschichte des Schreibens, S. 120.

3.4 Das Evangeliar als materialer Gedächtnisträger des christlichen Glaubens 

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grundlagen der Kirche, Evangelium und Opfer“60. Die Evangelien traten als Niederschriften der göttlichen Offenbarung in direkte Konkurrenz zur Hebräischen Bibel und insbesondere zur Tora. Diese war bereits in der Antike durch Philo von Alexandria, dessen philosophisches Konzept immensen Einfluss auf die frühen Kirchenväter ausgeübt hatte, im geistigen Umfeld des hellenistischen Judentums auf eine neue, allegorische Bedeutungsebene gehoben worden. In der Tora manifestierte sich – gleich einem ewigen Naturgesetz – die göttliche Ordnung, deren kosmischer Plan im Aufbau des Tempels und in der Form des Tabernakels ein sinnliches Abbild in der Welt gefunden habe.61 Für das frühe Christentum war es von existentieller Bedeutung, die Evangelien als neue Eckpfeiler des Kosmos zu etablieren. Dies geschah nicht nur in Form von philosophischen Abhandlungen oder exegetischen Kommentaren, sondern auch mit den Mitteln der Buchkunst. Thomas Rainer beispielsweise ist davon überzeugt, dass in der ikonographischen Entwicklung des Buchdeckels des Evangeliars die Rechtfertigung und Repräsentation des neuen Glaubens eine entscheidende Rolle gespielt haben. Es sei eine große Herausforderung des antiken Christentums gewesen, so Rainer, die Heiligkeit, Authentizität und Autorität der Tora auf das Evangelium zu übertragen. Dabei musste zunächst ein offensichtliches Manko der Überlieferung, nämlich die uneinheitliche Vierteilung der Schrift, positiv umgedeutet werden. Der frühe Kirchenvater Irenäus von Lyon (ca. 135–ca. 200) lieferte in seiner einflussreichen Schrift Adversus haereses eine erste Apologie der vier Evangelien: Da es in der Welt, in der wir leben, vier Himmelsrichtungen gibt und auch vier Hauptwinde, und die Kirche über die ganze Welt verbreitet ist, und das Evangelium die Säule und Stütze der Kirche und der Lebenshauch ist, so ist es natürlich, dass sie vier Säulen hat, die von allen Seiten Unverweslichkeit ausströmen und die Menschen wieder mit Leben erfüllen. Auf Grund dessen ist es einleuchtend, dass der das All schaffende Logos, der über den Cheruben thront und das All zusammenhält, nachdem er den Menschen offenbar wurde, uns das Evangelium in vierfacher Gestalt gab, das aber von dem Geist zusammengehalten wird.62

60 Rainer, Das Buch und die vier Ecken der Welt, S. 93; vgl. auch Christfried Böttrich, „,Ihr seid der Tempel Gottes‘. Tempelmetaphorik und Gemeinde bei Paulus“, in: Gemeinde ohne Tempel. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, hrsg. von Beate Ego, Armin Lange und Peter Pilhofer, Tübingen 1999, S. 411–425. 61 Charles A. Anderson, Philo of Alexandria’s Views of the Physical World, Tübingen 2011, S. 84; Karl-Heinz Uthemann, Christus, Kosmos, Diatribe: Themen der frühen Kirche als Beiträge zu einer historischen Theologie (= Arbeiten zur Kirchengeschichte, hrsg. von Christian Albrecht und Christoph Markschies, Bd. 93), Berlin [u. a.] 2005, S. 467–497. 62 Die Übersetzung stammt von Helmut Merkel, Die Pluralität der Evangelien als theologisches und exegetisches Problem in der alten Kirche, Bern [u. a.] 1978, S. 7. Zitiert nach Rainer, Das Buch und die vier Ecken der Welt, S. 94. Merkel verweist im Kommentar zu dieser Rechtfertigung des Ire-

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

Andere Theologen der alten Kirche wie beispielsweise Hieronymus oder Gregor der Große63 interpretierten das viergeteilte Buch des Lebens als eine Metapher für die vier Ringe in den Ecken der Bundeslade, die als Halterung für die Tragestangen in Exodus 25, 11–15 beschrieben sind. Diese Interpretationsstrategie, deren Wurzeln tatsächlich in der jüdischen Theologie – nämlich in der kosmologischen Konzeption der Tora bei Philo – zu suchen sind, verwandelt die Bundeslade als Zeichen des Bundes von Gott mit den Israeliten in ein Zeugnis des durch Christus erlösten Kosmos. (Abb. 8)

Abb. 8: Transport der Bundeslade, Ms Vat. gr. 746. pt. 2, fol. 331r, 12. Jhd. (Biblioteca Apostolica Vaticana).

Das neue theologisch-kosmologische Programm fand in der Gestaltung des sakralen Raums auf unterschiedliche Weise künstlerischen Ausdruck,64 und Rainer ist davon überzeugt, dass die symbolische Verquickung von Tora, Bundeslade und Tempel, deren Zusammenspiel die synagogale Architektur bis heute prägt, dabei als ideelle Vorlage diente. Ab der Spätantike habe der Buchdeckel des Evangeliars den „Schmuck näus auf spätere Analogien zur Vierzahl der Evangelien. So assoziiert Origenes die vier Evangelien mit den vier Elementen, Hippolyt und Viktorin von Pettau erinnern an die vier Paradiesströme. 63 Hieronymus, Commentariorum in Matheum, Libri 4 (= Corpus Christianorum, Series Latina, Bd. 77), hrsg. von D. Hurst und M. Adriaen, Turnhout 1969, S. 2: „Ecclesia autem, quae supra petram Domini uoce fundata est quam introduxit rex in cubiculum suum et ad quam per foramen descensionis occultae misit manum suam similis dammulae hinuloque ceruorum quattuor flumina paradisi instar eructans, quattuor et angulos et anulos habet, per quos quasi arca testamenti et custos legis Domini lignis inmobilibus uehitur.“ Und Gregor dann expliziter: „Quid per arcam, nisi sancta Ecclesia figuratur. Cui quatuor circuli aurei per quatuor sancti Evangelii libris accincta praedicatur.“ In: Sancti Gregorii Papae I cognomento Magni, Regulae Pastoralis Liber, Pars II, Cap. XI [Al. XXII] (= Opera Omnia, Bd. 3), PL 77, Sp. 49A. 64 Rainer, Das Buch und die vier Ecken der Welt, S. 133.

3.4 Das Evangeliar als materialer Gedächtnisträger des christlichen Glaubens 

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jener Scheidelinie zwischen Allerheiligstem und Heiligem, den Türen und der Vorhang des Thoraschranks bzw. die Hülle der Thorarolle repräsentieren“65, übernommen. Dieser Auffassung zufolge vereint der Buchdeckel die Funktion des Toramantels und der Lade als materielle Grenze zur göttlichen Offenbarung – den Evangelien: In der Konkurrenz um Authentizität und Heiligkeit des Textes kam diesem Element entscheidende Bedeutung zu. Es unterscheidet Codex und Rolle. Während dort die Hülle der Niederschrift, sei es ein die Rolle umgebender lederner bzw. textiler Schutz oder eine feste Schale aus Holz oder Ton, abnehmbar, ja bis zu einem gewissen Grade austauschbar blieb, war der Einband des Codex mit dem Textblock meist untrennbar verbunden. Diese Eigenart steigerte seine Signifikanz bei der Bestimmung der Wertigkeit des Textes, zumal dann, wenn die umschlossene Niederschrift einem inhaltlichen Zusammenhang folgt. Der Buchdeckel übernahm repräsentative Funktionen, die bei einem zusammenhängenden Textcorpus in Form mehrerer Rollen in der Regel allein ein ihnen gemeinsamer Aufbewahrungsort, Buchkasten oder Bücherschrank, erfüllen konnte.66

Rainer beruft sich auf Forscher wie Irven Resnick, der sich mit der religiösen Symbolik von Schriftrolle und Kodex im jüdisch-christlichen Kontext auseinandergesetzt und gefragt hat, weshalb die frühen Christen nicht auf die altehrwürdige Rolle als traditionellen Schriftträger für das Heilige zurückgriffen, sondern im dramatischen Kontrast zur jüdischen und paganen Praxis den Kodex vorzogen.67 Dieser riskante Wechsel zu einer Form der Textüberlieferung, die ursprünglich ausschließlich für profane, weniger bedeutsame schriftliche Bemerkungen genutzt wurde, ist kaum aus der kostengünstigeren Herstellung und der einfacheren Handhabung eines Kodex abzuleiten. Stattdessen ist eine ganz bewusste Distanzierung von der jüdischen und paganen Tradition festzustellen, um eine eigene religiöse Identität zu kreieren.68 Die synagogale Architektur des symbolischen Tempels mit der Bundeslade und dem Toraschrein im Allerheiligsten sollte aufgebrochen und durch das Medium des mobilen Kodex als eine in sich geschlossene Einheit den Menschen zu Gehör und – in der Kultur des mittelalterlichen Europas außerordentlich wichtig – bildhaft vor Augen geführt werden. Auf Grundlage einer umfassenden Diskussion des Materials beschreibt Rainer die ikonographische Verwandlung vom offenen Kodex, der in der antiken Darstellung zum Symbol der beweglichen, gelebten Offenbarung wurde, hin zum offenen „Toraschrank“, der das Aussehen der Bundeslade imitiert69 und – 65 Ebd. 66 Ebd., S. 100. 67 Irven M. Resnick, „The Codex in Early Jewish and Christian Communities“, in: The Journal of Religious History 17 (1992), H. 1, S. 1–17; zum Festhalten an der Rolle in der jüdischen Tradition vgl. auch Maier, Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum der Antike, S. 38–40. 68 Resnick, „The Codex in Early Jewish and Christian Communities,“ S. 7. 69 Vgl. auch Elisabeth Revel-Neher, L’Arche d’Alliance dans l’art juif et chrétien du second au dixième siècles, Paris 1984.

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

wie beispielsweise in den Mosaiken Ravennas  – nun ganz offensichtlich nicht mehr die Torarolle, sondern die vier Evangelien beherbergt. Der Schrank schloss sich im Laufe der Kunstgeschichte und präsentierte Paneelen mit einer christologischen Interpretation des Kosmos. Die von byzantinischen Darstellungen der Bundeslade bekannten vier Ringe zur Befestigung der Tragestangen stehen nun wahlweise für die vier Evangelisten, die vier Paradiesflüsse oder als Eckpunkte einer christlichen Topographie, dessen Zentrum Christus selbst ist. Erst in der Spätantike wanderte das Bild des kosmischen Türpaneels auf den Buchdeckel des Evangelienkodex, wo nunmehr Winkel in den Ecken die Grenzen der Welt schematisch darstellten. Christusdarstellungen im Zentrum des Buchdeckeldekors, an deren Stelle mitunter wertvolle Medaillons oder Edelsteine treten, ersetzten Lade, Toraschrein und jüdisches Gesetz durch den Körper Christi als Symbol der erlösten Welt.70 Was der christlichen Gemeinde mittels des ikonographischen Programms der prächtigen Einbände ins Bewusstsein gerufen wurde, war nichts weniger als die Überlegenheit des christlichen Glaubens, der mit dem Anspruch einherging, einen Schlusspunkt hinter das Judentum zu setzen. (Abb. 9–15)   

Abb. 9: Evangelien verwahrender Bücherschrank, Ravenna Mausoleum der Galla Placidia, Mosaik der Lünette im südlichen Kreuzarm, 425–450.

Abb. 10: Fußbodenmosaik der Synagoge Hammath, Israel 4. Jhd.

70 Rainer, Das Buch und die vier Ecken der Welt, S. 192.

3.4 Das Evangeliar als materialer Gedächtnisträger des christlichen Glaubens 

Abb. 11: Bundeslade der Beth Alpha Synagoge, 6. Jhd., Kollektion Erich Lessing.

Abb. 12: Ezra der Schreiber, Codex Amiatinus, frühes 8. Jhd. England.

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

Abb. 13: Buchdeckel des Evangeliars der Königin Theodelinda, 7. Jhd. (Monza, Museo e Tesoro del Duomo).

3.4 Das Evangeliar als materialer Gedächtnisträger des christlichen Glaubens 

Abb. 14: Einband des Codex Aureus, KG 1138, Trier 10. Jhd. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum).

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 3 Das Schreibmaterial der STaM als Träger kultureller Identität aus antiker Perspektive

Abb. 15: Einband des Evangeliars des Roger von Helmarshausen, Ms 139/110/68, Kat. 500, Abtei Helmarshausen 1120–1130 (Trier, Domschatz).

4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa zwischen Akkulturation und Demarkation Die weitverzweigte jüdische Diaspora stellte eine besondere Herausforderung für die Durchsetzung eines einheitlichen Religionsgesetzes dar, das schon seit dem frühen Mittelalter nicht mehr won den zentralen „Akademien des Ostens“ in Sura, Pumbedita und den Jeschiwot in Palästina aufrecht erhalten werden konnte. In Nordafrika, Spanien, Frankreich, Deutschland und allen anderen Teilen der Zerstreuung begann Ende des 10. Jahrhunderts ein Ablösungsprozess der lokalen intellektuellen Eliten von den Zentren der religiösen Gelehrsamkeit und damit einhergehend auch die Etablierung ganz eigener Positionen zu religionsgesetzlichen Fragen wie etwa der Herstellung rituell einwandfreier STaM. Die jahrhundertealten Vorgaben wurden von ihrer historischen „Patina“ befreit und den neuen Verhältnissen angepasst. Doch Ausgangspunkt der halachischen Diskussionen blieben die Traditionsliteratur der Antike und die Responsen der Geonim, der Leiter der babylonischen Akademien.1

4.1 Auffassungen über eine koschere Schreibhaut im islamisch-arabischen Kulturraum Die Geonim Vergleicht man Schriftrollenfunde aus dem Nahen Osten mit den im Talmud versprengten Vorgaben zur Herstellung eines sefer torah, zeigen sich wesentliche Übereinstimmungen. Die gut erforschten Schriftrollen vom Toten Meer, deren Herstellung in den Zeitraum vom dritten vorchristlichen bis ins erste nachchristliche Jahrhundert datiert werden konnte, bestätigen die bereits erwähnte Tatsache, dass die rabbinische Tradition frühere Praktiken reflektierte – beispielsweise die dreigeteilte Praxis der Beschreibstoffherstellung durch Salzen, Bemehlen

1 Im 10. und 11. Jahrhundert wurde dieser Titel auch von geistigen Führern Palästinas geführt; nach der sogenannten „gaonäischen“ Periode (Ende des 6.–Mitte des 11. Jhds.) auch von halachischen Autoritäten der Schulen in Bagdad, in Damaskus und Ägyptens. Siehe Jehoshua Brand, Simcha Assaf und David Derovan, „Gaon“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 7, 2. Auflage), Macmillan Reference USA [u. a.], 2007, S. 380–386. https://doi.org/10.1515/9783110722062-004

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

und Gerben der Schreibhäute.2 Allerdings beweisen eine Anzahl von auf Papyrus geschriebenen Zeugnissen biblischer Bücher aus Qumran, dass es offensichtlich auch Schreibtraditionen gab, die von den Rabbinen nicht in den Regelkanon zur Herstellung liturgischer Schriftrollen aufgenommen wurden.3 Auch das Schriftbild der am Toten Meer gefundenen biblischen Textrollen weist Übereinstimmungen mit aber viel mehr noch Differenzen zu der spätantiken rabbinischen Vorstellung davon auf, wie das Layout und die Buchstabenformen zum Schreiben der STaM auszusehen haben. Das Insistieren auf die ausschließliche Benutzung von schwarzen Tinten für diese Textsorten ist ebenso neu wie die Forderung der Rabbiner, dass eine rituell reine Torarolle den gesamten Text und nicht nur ein einzelnes Buch des Pentateuch enthalten sollte. Letztere Neuerung kann aus verschiedenen Passagen des Talmud, insbesondere einem Passus in bT Giṭṭin 60a entnommen werden, wo das Lesen der Liturgie aus einem ḥumaš oder aus fragmentarischen bzw. segmentierten Torarollen ausdrücklich untersagt wird. Mit der Umfangerweiterung einer Torarolle auf den gesamten Text der fünf Bücher Mose muss deren Ausschluss aus dem Bereich des privaten Lernens einhergegangen sein, da die extreme Unhandlichkeit einer solchen Rolle das normale Lesen praktisch unmöglich machte. Leider sind keine vollständigen Artefakte aus dem ersten nachchristlichen Jahrtausend erhaltenen, doch bezeugen Fragmente aus dieser Zeit auch eine enorme Größe der für die liturgische Lesung vorgesehenen Schriftrollen.4

2 Emanuel Tov, Scribal Practices and Approaches Reflected in the Texts Found in the Judean Desert. Leiden [u. a.] 2004, S. 33; Poole und Reed, „The Preparation of Leather and Parchment by the Dead Sea Scrolls Community“, in: Technology and Culture 3 (1962), S. 1–26; Ryder, „Remains Derived from Skin“, in: Science and Archaeology, hrsg. von Don R. Brothwell und Eric S. Higgs, London 1970, S. 539–554; Yigael Yadin, „Tefillin (Phylacteries) from Qumran“ (heb.), in: Eretz-Israel 9 (1969), S. 60–83; Menahem Haran, „Bible Scrolls in Eastern and Western Communities“, in: Hebrew Union College Annual 56 (1985), S. 21–62, hier S. 37–40. 3 Tov, Scribal Practices, S. 32 f; ders., Textual Criticism of the Hebrew Bible, 2. rev. Auflage Minneapolis [u. a.] 2001, S. 201 (Bibliographie zur Benutzung von Papyrus zur Zeit des ersten und zweiten Tempels); June Ashton, Scribal Habits in the Ancient Near East, Sydney 2008; Naphtali Lewis, Papyrus in Classical Antiquity, Oxford 1974. 4 Michelle P. Brown (Hrsg.), In the Beginning: Bibles Before the Year 1000, Wahington, DC 2006, S. 110–111, 248–49; Colette Sirat, „Rouleaux de la Tora anterieurs à l’an mille“, in: CRAI 5 (1994), S. 861–887; dies., Hebrew manuscripts of the Middle Ages, herausgegeben und übersetzt von Nicholas de Lange, Cambridge 2002, S. 27–28; Solomon A. Birnbaum, „A Sheet of an Eight century Synagogue Scroll“, in: Vetus Testamentum 9 (1956), S. 122–129; Paul Sanders, „The Ashkar-Gilson Manuscript: Remnant of a Proto-Masoretic Model Scroll of the Torah“, in: Journal of Hebrew Scriptures 14 (2014), S. 1–15, Olszowy-Schlanger, „An Early Palimpsest Scroll of the Book of Kings from the Cairo Genizah“, in: Ben Outhwaite und Siam Bhayro, From a Sacred Source: Genizah Studies in Honour of Professor Stefan C. Reif, Leiden 2010, S.  237–247; Penkower, „A Sheet of

4.1 Auffassungen über eine koschere Schreibhaut 

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Mit der wachsenden Bedeutung von Torarollen im synagogalen Ritus nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 ging sicherlich eine enorme symbolische Aufwertung der Schriftrollen einher, die sich auch in den materialen Elementen der Artefakte selbst bzw. in den damit verbundenen rabbinischen Vorstellungen von einer idealen Torarolle niederschlug. Dieser Prozess muss im Zusammenhang mit der generellen „Ikonisierung“ der Schriftrollen und ihrer – in Kapitel 2 beschriebenen – architektonischen und textilen Umgebung betrachtet werden. David Stern hat in diesem Zusammenhang bereits auf „para-materiale“ Elemente hingewiesen, „that came to endow the Sefer Torah with the status of a cult object“: first, its physical location within the synagogue; second the liturgy of the Torah reading, specifically the rituals surrounding the procession of the Sefer Torah in the synagogue before and after its public chanting, as it is taken out of the ark and then returned to it; and third, the ways the Torah Scroll is cased and costumed.5

Textliche Quellen aus der Spätantike legen nahe, dass eine einheitliche materiale Form der Schriftrollen zu dieser Zeit noch viel mehr rabbinisches Ideal als praktizierte Realität gewesen ist. Der berühmte Brief des Pirqoi ben Baboi (8.–9. Jhd.),6 geschrieben an die Gemeinden Palästinas, macht sehr deutlich, dass das Streben nach ritueller Reinheit mit Blick auf die Beschreibstoffe für Torarollen für rabbinische Autoritäten im islamisch-arabisch geprägten Kulturraum Anfang des neunten Jahrhunderts nicht ohne Widerstände verlief. Das polemische Pamphlet des Talmudgelehrten aus der gaonäischen Zeit enthält einen ausführlichen Bericht über die Herstellungspraxis von Torarollen im Heiligen Land. Pirqoi klagt darin über den vollständigen Verlust der mündlichen Tradition hinsichtlich der korrekten Herstellung der heiligen Schriftrollen. Er empört sich darüber, dass die Schreiber anstelle von gevil das „raq7 der Nichtjuden benutzen, die darauf Bücher der Götzenverehrung“ schrieben. Pirqoi fährt mit der Feststellung fort, dass die benutzten Häute „weder gegerbt“ noch „für ihren heiligen Zweck geweiht seien, wie es die talmudische Tradition verlangt“8. Wegen des Verlusts jeglicher hala-

Parchment from a 10th or 11th Century Torah Scroll: Determining its Type among Four Traditions (Oriental, Sefardi, Ashkenazi, Yemenite)“, in: Textus 21 (2003), S. 18–48. 5 Stern, The Jewish Bible. A Material History, Seattle/London 2017, S. 41. 6 Luis Ginzberg, „Pirqoi ben Baboi“, in: Ginzei Schechter. Geniza Studies in Memory of Solomon Schechter, hrsg. von Luis Ginzberg und Israel Davidson, New York 1928, Bd. 3, S. 561–562. 7 Das ist der arabische Begriff für eine spezielle Sorte Pergaments. Vgl. Haran, „Bible Scrolls“, S. 50–56; ders., „Technological Heritage in the Preparation of Skins for Biblical Texts in Medieval Oriental Jewry“, in: Peter Rück (Hrsg.), Pergament: Geschichte, Struktur, Restaurierung, Herstellung, Sigmaringen 1991, S. 35–43. 8 Ginzberg, „Pirqoi ben Baboi“, S. 560.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

chischer Orientierung schrieben die Juden Palästinas ihre Rollen „ohne dejo auf der Fleischseite eines unreinen Tieres“ und missachteten dergestalt das jüdische Gesetz. Hinsichtlich der Ursache dieses religiösen Verfalls besteht für Pirqoi kein Zweifel: Es war die Praxis des bösen Edom [Rom, Byzanz], religiöse Unterdrückung gegen das Land Israel anzuordnen, damit sie nicht in der Tora lesen sollten. Und so verbargen sie alle Torarollen, da man sie verbrennen würde. Doch als die Ismaeliten [Muslime] kamen, besaßen sie nicht eine Torarolle und es waren keine Schreiber mehr da, die in ihren Händen das geltende Gesetz hielten.9

Die Klage des Pirqoi bezeugt – wie einige andere Responsen aus dem Nahen Osten auch – das Ringen einer halachisch geschulten Elite um eine verbindliche Praxis für die Herstellung von Schreibhäuten für den rituellen Bereich. Offensichtlich war die Versuchung im arabisch-islamischen Kulturkontext groß, auf den in der arabischen Welt weit verbreiteten Beschreibstoff raq zurückzugreifen und so die rabbinischen Vorgaben zu umgehen. Im Unterschied zu den im Talmud empfohlenen Beschreibstoffen gevil, qelaf und duchsustos wurde raq sehr wahrscheinlich zwar mit Salz, aber weder mit Mehl noch mit Gerbstoffen behandelt, weshalb die meisten halachischen Autoritäten aus dem orientalischen Raum es mit dem talmudischen ḥippa, das ausschließlich mit Salz in Berührung kam, verglichen.10 Vermutlich ersetzte – ähnlich wie bei der europäischen Pergamentherstellung – auch im arabisch-islamischen Raum eine Kalklösung den talmudischen Gallapfel, um der Schreibhaut die nötige Festigkeit zu verleihen. Responsen aus der Region geben unterschiedliche Haltungen zu dieser Diskrepanz zwischen rabbinischem Ideal und praktischer Realität wieder, die von einer Akzeptanz des regionalen Beschreibstoffs über ein ausdrückliches Verbot desselben bis hin zu Vorschlägen von Mischformen reichen. Bei letzteren kam es scheinbar vor allem darauf an, die von den Rabbinen geforderte Gallapfellösung – wenn auch in geringer Dosierung – zum Einsatz zu bringen.11

9 Ebd., S. 561 f. 10 Vgl. u. a. Hai Gaon in: Harkavy, Responsen der Geonim, Nr. 63; Rav Sherira in: Sefer ha-eškol, hrsg. von Shalom und Hanoch Albeck, Jerusalem 1934, Bd. 1, S. 147–148. 11 Haran, „Bible Scrolls“, S.  50–56; ders., „Technological Heritage“, S.  35–43; siehe auch Endress, „Pergament in der Codicologie des islamisch-arabischen Mittelalters“, in: Pergament. Geschichte, Struktur, Restaurierung, Herstellung. Hrsg. von Peter Rück, Sigmaringen 1991, S. 45–46, hier S. 45. Endress führt aus, dass Pergament in den ersten zwei Jahrhunderten des Islams ein beliebter Beschreibstoff war, der erst nach dem Siegeszug des chinesischen Papiers ab dem 9. Jahrhundert besonders wertvollen Koranhandschriften vorbehalten war. Zur Ausbreitung des Papiers im islamisch-arabischen Raum vgl. Robert I. Burns, „Paper Comes to the West, 800–1400“,

4.1 Auffassungen über eine koschere Schreibhaut 

 65

Eine umfassende vergleichende Studie über Torarollen aus dem arabischmuslimischen Kontext steht noch aus. Doch man kann davon ausgehen, dass es regionale Unterschiede bezüglich der Auffassung und Umsetzung der talmudischen Gerbpraxis gab. Tatsache ist, dass Juden in diesem Kulturraum viel eher als ihre Glaubensgenossen in Aschkenas die Möglichkeit hatten, die talmudischen Herstellungsabläufe, die möglicherweise nicht den gängigen handwerklichen Gepflogenheiten entsprachen, in eigener Regie umzusetzen und die kritisierte halachische Diskrepanz zwischen einem koscheren gevil, qelaf oder duchsustos und einem profanen Pergament oder einem minderwertigen Schreibleder zu überwinden. In diesem Zusammenhang wies bereits Haran darauf hin, dass the autonomous, selfsustaining Jewish community of the talmudic period in Babylonia, maintained in its midst a full range of professions, many of which were entirely unknown in the reality of Jewish Life in medieval Europe. Even in the Islamic age, when the structural and social distinctiveness of this community weakened in some degree and the Jews became economically more dependent on their neighbours and became submerged more deeply in Islamic society at large, their distinctiveness did not vanish altogether and they still continued to pursue the various crafts they had known.12

Abgesehen von der für das jüdische Leben positiven politisch-sozialen Situation im islamischen Kulturkreis war die Benutzung von Gerbstoffen bei der Herstellung von Schreibleder im Nahen Osten bis ins Mittelalter hinein durchaus üblich, wie man beispielsweise aus den Ausführungen des Tamin ibn al Mu’izz ibn Badis (1008–1062) über die Herstellung von Büchern in seiner Zeit entnehmen kann. Badis diskutiert die unterschiedliche Qualität von Beschreibhäuten und deren letzte Vorbereitung für das Beschreiben. Jemenitisches Leder, so Badis, sei wegen der sorgfältigen Gerbung zu empfehlen, wobei auch in Ägypten hergestellte Schreibhäute, welche nach jemenitischer Weise mit Gallapfel behandelt seien, durch hohe Qualität überzeugten. Er rät den Schreibern, „when the gallnut leather is washed, it is rubbed well on the surface with a potsherd to get rid of what remains of the gallnut and the gnawed.“ Falls es notwendig sei, Öl von der Haut zu entfernen oder andere Verbesserungen vorzunehmen, two ounces of powdered gallnut [should be] thrown on every layer. The piece is stretched between the hands. The gallnut is spread and all of it is moistened over and over again. […] As to the nature of the gallnut in the leather, which is supple, it hardens it; if it is hard, it softens it. If there is fat, it removes it; if it is without fat, it provides some. Understand that.13

in: Europäische Technik im Mittelalter. Tradition und Innovation, hrsg. von Uta Lindgren, Berlin 1996, S. 413–422. 12 Haran, „Bible Scrolls“, S. 60. 13 Tamin ibn al Mu’izz ibn Badis, Staff of the Scribes and Implements of the Discerning with Description of the Line, the Pens, Soot Inks, Liq, Gall Inks, Dyeing, and Details of Bookbinding, über-

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

Während im europäischen Mittelalter Leder beinahe ausschließlich für Kleidung oder Gebrauchsgegenstände hergestellt wurde, spielte es im islamischen Kulturraum offensichtlich noch eine große Rolle in der Schreibpraxis. Auch diese Tatsache erleichterte es den Juden, ihre Torarollen entsprechend der Halacha zu produzieren.

Maimonides Die zum Teil recht widersprüchlichen Angaben der Rabbinen und späterer Kommentatoren, insbesondere der Geonim, zur Herstellung koscherer Schreibhäute für den rituellen Gebrauch erzeugten einen großen Raum für Interpretationen, der von späteren halachischen Autoritäten nicht ungenutzt blieb. In dieser Studie sollen die Positionen des Moses Maimonides zur Herstellung der STaM exemplarisch für die Entwicklungen im arabisch-islamischen Raum des Mittelalters angeführt werden. Im Vergleich mit den in den folgenden Kapiteln diskutierten rabbinischen Positionen aus dem aschkenasischen Kulturraum  – mit besonderem Gewicht auf Frankreich und Deutschland – machen die Ausführungen des Maimonides sehr deutlich, wie tiefgehend die Debatten um die Herstellung koscherer STaM von theologischen und soziopolitischen Einflüssen aus der Umweltkultur geprägt wurden. Darüber hinaus übte das halachische Werk des Maimonides, insbesondere seine Mišneh torah (1178), spätestens ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts enormen Einfluss auf das rabbinische Denken Europas aus. Ephraim Kanarfogel konnte in seinen Arbeiten zur halachischen Welt des mittelalterlichen Europas überzeugend darlegen, dass die in einem klaren rabbinischen Hebräisch abgefasste und gut strukturierte Mišneh torah entgegen der vorherrschenden Forschungsmeinung bereits Anfang des 13. Jahrhunderts von den Tosafisten Frankreichs intensiv rezipiert wurde, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit der sogenannten „Auferstehungs-Kontroverse“, die von Passagen aus dem halachischen Werk Maimonides’ entfacht wurde.14 So diskutiert bereits der nordfran-

setzt von Martin Levey in Martin Levey, Mediaeval Arabic Bookmaking and its Relation to Early Chemistry and Pharmacology (= Transactions of the American Philosophical Society, Bd. 52, 4), Philadelphia 1962, S. 1–79, hier S. 43. 14 Ephraim Kanarfogel, „Assessing the (Non-) Reception of Mishneh Torah in Medieval Ashkenaz“, in: Yitzhak Berger und Chaim Milikowsky (Hrsg.), ‘In the Dwelling of a Sage Lie Precious Treasures’: Essays in Jewish Studies in Honor of Shnayer Z. Leiman, New York 2020, S. 123–145; ders., The Intellectual History and Rabbinic Culture of Medieval Ashkenaz, Detroit 2013, S. 494, 511, 515, 538. Zu den unterschiedlichen Stadien des Maimonidesstreits und der damit verbundenen „Auferstehungs-Kontroverse“ siehe u. a. Joseph Sarachek, Faith and Reason: The Conflict

4.1 Auffassungen über eine koschere Schreibhaut 

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zösische Gelehrte Moses ben Jakob aus Coucy in seinem 1240 vollendeten Werk Sefer miṣvot gadol (SeMaG) Abschnitte der Mišneh torah und beeinflusste dadurch seine Schüler bzw. Leser in ihrem Umgang mit Maimonides, beispielsweise den Autor des schmalen Kommentarwerks Qiṣur Semag (ca.  1260), Abraham ben Ephraim.15 In Deutschland wurde das rabbinische Werk Maimonides’ ebenfalls zunächst zögerlich aufgenommen. Einer der frühesten Rezipienten war Eleazar ben Jehuda von Worms (gest. 1230), der sich von dem ethisch-philosophisch motivierten ersten Buch der Mišneh torah, dem Sefer ha-madda, inspirieren ließ, um in sein eigenes halachisches Werk, den Sefer ha-roqeaḥ), einzuführen.16 Der erste rabbinische Gelehrte aus Deutschland, der nachweislich die Mišneh torah in einem halachischen Kontext rezipierte, war der Talmudgelehrte Isaak ben Moses aus Wien, ein Zeitgenosse des bereits erwähnten Moses ben Jakob aus Coucy und Autor des enorm einflussreichen Kompendium Or zaru’a. Doch tatsächlich wies erst Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg (Maharam) und seine Schule etwa einhundert Jahre nach dem Erscheinen der Mišneh torah, Maimonides’ (neben Alfasis) halachischem Werk einen zentralen Stellenwert innerhalb der Argumentationskultur der deutschen Jeschiwot zu. Das bezeugen nicht zuletzt einige halachische Werke der Schüler des Maharam, wie das Pisqei ha-Roš, der Sefer Mordeḥai oder das Werk Haggahot Maimunijjot des Meir ben Jekutiel ha-Kohen, das die Mišneh torah systematisch glossiert. Dementsprechend ist Maimonides ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert auch aus den europäischen Diskussionen um die Herstellung koscherer Schriftrollen, auf die er im zweiten Buch seiner Mišneh torah, dem Buch der Liebe17 ausführlich eingeht, nicht mehr wegzudenken. Maimonides fasste die rabbinische Diskussionen zur Herstellung von gevil, qelaf und duchsustos nach dem Muster Salzen, Bemehlen und Gerben zusammen und legte den kontrovers diskutierten Unterschied zwischen duchsustos und qelaf folgendermaßen fest:

over the Rationalism of Maimonides, New York 1970, S. 27–65; Daniel J. Silver, Maimonidean Criticism and the Maimonidean Controversy, 1180–1240, Leiden 1965. 15 Kanarfogel, „Assessing the (Non-) Reception of Mishneh Torah in Medieval Ashkenaz“, S. 126 f; Haym Soloveitchik, „The Halakhic Isolation of the Ashkenazic Community“, in: Simon Dubnow Institute Yearbook 8 (2009), S. 41–47; ders., „Mishneh Torah, Polemic and Art“, in: Jay M. Harris (Hrsg.), Maimonides 800 Years After, Essays on Maimonides and his Influence, Cambridge 2007, S. 339–355. 16 Kanarfogel, „Assessing the (Non-) Reception of Mishneh Torah in Medieval Ashkenaz“, S.  128; Jeffrey Woolf, „Admiration and Apathy: Maimonides’ Mishneh Torah in High and Late Medieval Ashkenaz“, in: Jay M. Harris (Hrsg.), Be’erot Jiṣḥaq, Cambridge 2005, S. 427–447. 17 Moses Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahava, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

Wenn, nachdem die Haare entfernt wurden, die Haut in ihrer Dicke in zwei Teile gespalten ist, so wie die Lederarbeiter es zu tun wissen […] und wenn diese [zwei Teile] dann zuerst mit Salz, dann mit Mehl und dann mit Gallapfel oder ähnlichen Substanzen bearbeitet wurden, dann nennt man [den abgespalteten Teil mit] der Haarseite duchstustos und [den mit] der Fleischseite qelaf.18

Maimonides greift auch die Unsicherheit bezüglich der Frage auf, welche der Schriften auf welche Haut zu schreiben sei, und versucht die Konfusionen bezüglich dieses Problems auszuräumen: Es ist ein Gesetz, überliefert von Moses vom Sinai, dass eine Torarolle auf der Haarseite von gevil geschrieben sein sollte; dass Tefillin auf der Fleischseite von qelaf und eine Mezuza auf der Haarseite von duchsustos geschrieben sein sollte. Alles, was auf der Haarseite von qelaf oder auf der Fleischseite von gevil und duchsustos geschrieben wurde, ist untauglich. Auch wenn das ein Gesetz vom Sinai ist, ist [auch] eine auf qelaf geschriebene Torarolle tauglich. Gevil wurde nur angegeben, um duchsustos auszuschließen, denn eine darauf geschriebene Torarolle ist nicht tauglich. Ebenso verhält es sich, wenn jemand eine Mezuza auf qelaf oder duchsustos geschrieben hat: sie ist tauglich; duchsostos wurde nur als bevorzugtes [Material] benannt.19

Was die Tintenherstellung betrifft, die – wie weiter oben gezeigt – bereits in der frühen rabbinischen Debatte keine klare Linie aufweist, schlägt Maimonides eine offene Vorgehensweise als maßgebend vor und spiegelt damit sicherlich die eigentliche Praxis im arabisch-islamischen Kulturraum wider: Wie ist dejo herzustellen? Man sammle das Ruß von verbranntem Öl, Teer oder Wachs oder Ähnlichem und knete es mit dem Harz eines Baumes und etwas Honig. Es wird dann gut eingeweicht und so lange zerstampft, bis man daraus Plätzchen formen kann. Man trockne sie und bewahre sie auf. Wenn man schreiben will, weiche man sie in Gallapfellösung [‫]מי עפצים‬ oder Ähnlichem ein und schreibe. Falls [die Tinte] gelöscht werden soll, wird sie gelöscht werden können. Diese Tinte (dejo) ist die beste Wahl, um damit Torarollen, Tefillin und Mezuzot zu schreiben. Wenn eine der drei mit Gallapfellösung oder Vitriol [‫ ]קנקנתום‬geschrieben wurde, so dass sie permanent und nicht auszulöschen ist, ist sie [auch] geeignet. Wenn dem so ist, was schließt die Tora des Moses vom Sinai, wonach sie mit dejo geschrieben sein sollen, aus? Es schließt andere Farben wie beispielsweise rot und grün oder Ähnliches aus, denn wenn in den Torarollen, Tefillin oder Mezuzot auch nur ein Buchstabe farbig oder mit Gold geschrieben wurde, siehe, sie sind nicht geeignet.20

18 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, I:7. 19 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, I:8 und 9. 20 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah I:4,5.

4.2 Gevil, qelaf und duchsustos vs. Pergament im mittelalterlichen Europa 

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Maimonides besteht demzufolge nur auf die Schwärze der Tinte und akzeptiert Ruß- wie auch Eisengallustinten für das Schreiben der STaM, wobei eine Rußtinte zu bevorzugen sei.

4.2 Gevil, qelaf und duchsustos vs. Pergament im mittelalterlichen Europa Die Diskussion um die halachisch einwandfreie Herstellung der Schreibhäute im islamisch-arabischen Kulturraum hallte in der frühen religionsgesetzlichen Literatur Frankreichs und Deutschlands nach – doch mit einer gewissen Distanz. In Europa setzte sich bereits in der Antike Pergament, das erst ab dem 13. Jahrhundert langsam vom Papier verdrängt wurde, als Beschreibstoff durch. Der wesentliche Unterschied zum Leder ist der Verzicht auf Tannine, deren festigende Wirkung durch eine Behandlung der Häute mit einer Kalklösung und langsames Trocknen an der Luft ersetzt wird. Es sind nur sehr wenige Rezepturen zur Pergamentherstellung aus dem europäischen Mittelalter überliefert. Die meisten davon stammen aus dem Spätmittelalter und beschreiben in erster Linie das Entfetten und Einfärben von Beschreibhäuten sowie die Herstellung von Pigmenten.21 Drei Quellen über die europäische Pergamentkunst stammen aus der Zeit vor dem 13. Jahrhundert. Dazu gehört das Rezept des Züricher Kantors und Chorherrn Konrad von Mure, der das Herstellungserfahren seiner Zeit folgendermaßen beschreibt: Die Blätter der Bücher werden aus Rindshäuten gemacht. Die abgezogene Haut des Kalbes wird in Wasser gegeben, Kalk wird beigemischt, der alles Rohe zersetzt, die Haut reinigt und die Haare entfernt. Ein Reifen wird gemacht, in welchem die Haut ausgespannt wird. Sie wird an die Sonne gestellt, damit die Feuchtigkeit entweicht. Dann kommt das Messer und entfernt Fleisch und Haare, macht die Haut dünn und glatt. Für die Bücher wird es bereitgemacht, zuerst wird es zu rechtwinkligen Bogen zugeschnitten, die Bogen werden zu gleich großen Lagen zusammengefügt. Dann folgt der Bimsstein, welcher alles Überflüssige weg-

21 Reed, Ancient Skins, S. 132–168; Leandro Gottscher, „Ancient Methods of Parchment-Making Discussion on Recipes and Experimental Essays“, in: Marilena Maniaci und Paola F. Munafò (Hrsg.), Ancient and Medieval Book Materials and Techniques, Vatikanstadt 1993, Bd. 1, S. 41–56; Stefan Janzen, „Pergament: Herstellung, Bearbeitung und Handel in Bildern des 10. bis 18. Jahrhunderts“, in: Peter Rück (Hrsg.), Pergament. Geschichte, Struktur, Restaurierung und Herstellung heute (= Historische Hilfswissenschaften, Bd.  2), Sigmaringen 1991, S.  391–414; Robert Fuchs, Christiane Meinert und Johannes Schrempf, Pergament. Geschichte – Material – Konservierung – Restaurierung (= Kölner Beiträge zur Restaurierung und Konservierung von Kunst- und Kulturgut, Bd. 12), München 2001, S. 31–39; Beit-Arié, Hebrew Codicology. Tentative Typology of Technical Practices Employed in Hebrew Dated Medieval Manuscripts, Jerusalem 1981, S. 20–25.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

nimmt; Kreide wird darüber gestreut, damit das Werk nicht zerfließt. Zirkellöcher werden eingestochen, welchen mit Blei die Linie folgt, nach deren Anweisung die Zeile ihren Weg nimmt.22 (Abb. 16)

Abb. 16: Darstellung eines Pergamenters im Hausbuch der Mendel-Landauer Zwölfbrüderstiftung in Nürnberg, 15. Jhd. (Nürnberg, Stadtbibliothek).

Ganz ähnlich notierte ein unbekannter Autor am Ende einer Theophilus-Handschrift ein Rezept zur Herstellung von Pergament aus Ziegenhaut: Nimm Ziegenhäute und lege sie in Wasser einen Tag und eine Nacht. Dann zieh sie heraus und spüle sie so lange, bis das Wasser klar abfließt. Dann nimm ein ganz neues Gefäß, gib nicht frischen [ungelöschten] Kalk hinein samt Wasser, mische beides gut, so dass das Wasser recht dicklich wird, und lege dann die Häute hinein, von der Fleischseite her zusammengefaltet. Später sollen sie mit einem Stock gerührt werden, täglich zwei bis drei Mal, und so sollen sie bleiben, im Sommer acht Tage, im Winter doppelt so lang. Nachher muss man sie herausnehmen und die Haare entfernen. Dann muss alles, was im Gefäß geblieben ist, weggeworfen werden, dieselben Substanzen in gleicher Menge werden nochmals genommen, wieder werden die Häute hineingegeben und bewegt und täglich gewendet wie zuvor, während weiteren acht Tagen. Dann muss man sie herausziehen und kräftig spülen, bis das Wasser ganz klar abfließt. Darauf lege man sie in reines Wasser in einem anderen Gefäß und lasse sie zwei Tage stehen. Sodann ziehe man sie heraus, bringe Bindfäden an und schnüre sie in Ringe, dann werden sie mit einem gut geschärften Eisen bearbeitet. Darauf müssen sie während zwei Tagen ruhen, vor Sonne geschützt. Wenn dann das Wasser herausgezogen und mit Bimsstein das Fleisch gut entfernt ist, sollen sie nach [besagten] zwei Tagen wiederum angefeuchtet werden, indem man sparsam Wasser darüber sprengt 22 Conradus de Mure, De naturis animalium, vs. 417–430, zitiert nach Martin Steinmann, Handschriften im Mittelalter. Eine Quellensammlung, Basel 2013, S.  374 f. (lat. Text und dt. Übersetzung).

4.2 Gevil, qelaf und duchsustos vs. Pergament im mittelalterlichen Europa 

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und sie mit Bimsstein sorgfältig vom derart befeuchteten Fleisch vollständig reinigt. Darauf sollen die Häute mit Hilfe des Bindfadens besser und gleichmäßig gespannt werden, so wie sie als Pergament bleiben sollen und dann bleibt nichts mehr zu tun, sobald sie trocken geworden sind.23

Die hier dargestellte Verfahrensweise entspricht keineswegs der rabbinischen Vorstellung; und dennoch: Europäische Juden übernahmen das Pergament für die STaM – auch weil sie ab dem 12. Jahrhundert zunehmend aus dem Gerberhandwerk verdrängt und weitestgehend von christlichen Pergamentern abhängig waren. Halachische Größen aus Frankreich wie Jakob ben Meir Tam (Rabbenu Tam, gest. 1171) oder dessen Schüler Rabbi Eliezer ben Samuel aus Metz (gest. ca. 1198), deren Autorität weit über die Landesgrenzen hinaus nach Deutschland reichte, waren sich weitestgehend darüber einig, dass „Kalk, mit dem wir unsere qelafim behandeln, genauso akzeptabel ist wie Gerbstoff.“24 Auch Simcha ben Samuel aus Vitry (gest. vor 1105) nimmt in seinem berühmten Maḥzor Vitry eine pragmatische Haltung an: Mir scheint, dass wenn die Haut gemäß der richtigen Methode so wie unsere präpariert ist, was besser als salzen, bemehlen und gerben ist, ist es dem Gesetz entsprechend und benötigt keine Gerbstoffe. Doch [Häute, die] durch salzen und bemehlen [bearbeitet wurden] benötigen Gerbstoffe, da salzen und bemehlen nicht so wirkungsvoll wie unser Kalk und das Einweichen im Wasser ist.25

Diese offene Position mit Blick auf die Herstellungsweise des europäischen Pergaments wurde im Wesentlichen von allen halachischen Autoritäten in Frankreich und Deutschland übernommen.26 Doch ist der Auffassung Menachem Harans nicht zuzustimmen, der aus diesem Grund von einer „easy adoption without hesitation“27 sprach. Vielmehr schuf die Abhängigkeit von christlichen Pergamentern eine Atmosphäre des Misstrauens, die sich auch in der Schreiberliteratur niederschlug, denn für einen sofer STaM ist der Pergamentkauf nicht

23 Ad faciendas cartas de pellibus caprinis more Bononiensi, zitiert nach: Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 457 f. (lat. Text und dt. Übersetzung). 24 Jakob ben Meir Tam zu bT Meg 19a. 25 Maḥzor Vitry, Abschnitt 517. 26 Vgl. u. a. Baruch b. Isaak aus Worms, Sefer ha-terumah, Abschnitt 190; Abraham b. Nathan ha-Jarchi, Sefer ha-manhig, Abschnitt 60; Isaak b. Moses aus Wien, Sefer or zaru‘a, Abschnitt 535; Rabbenu Jacob Tam, Hilchot [tiqqun] sefer torah, hrsg. von Solomon A. Wertheimer in Ginzei Jerušalajjim, Jerusalem 1896, Bd. 1, S. 95; Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg, Haggahot Maimunijjot, Hilchot tefillin, ve-mezuzah, ve-sefer torah, I:4; Jerocham b. Meshullam, Sefer toledot Adam ve-Ḥavvah, 19d; Isaak b. Abba Mari, Sefer ha-ittur, Hilchot Tefillin I:55; Jakob ben Ascher, Arba’ah ṭurim, Joreh de‘ah, Hilchot sefer torah, Abschnitt 271. 27 Haran, „Bible Scrolls“, S. 60.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

nur eine Frage der feinen Qualität, sondern der rituellen Reinheit. Aus dem Herstellungsprozess eines wesentlichen Elements der Schriftrollen ausgeschlossen zu sein, bedeutet einen Verlust an Kontrolle in einem Bereich von existentieller Bedeutung. So kann etwa die Pflicht, bei bestimmten Gebeten Tefillin zu tragen, nicht erfüllt werden, wenn die Schriftrollen in den batim nicht koscher sind  – auch wenn ihr Träger nichts von dem Makel weiß. Dasselbe gilt umso mehr für das Lesen der Torarolle im synagogalen Ritus. Beim Studium der jüdischen Quellen fällt auf, dass die Begriffe „Pergament“ bzw. „pergamentum“, „membrana“ oder das althochdeutsche „pergement/perment“ nie genannt werden. Stattdessen sprechen die Autoren ganz selbstverständlich von „unseren qelafim“ (‫)קלפים שלנו‬, meinen aber eigentlich, zumindest mit Blick auf die Herstellung, Pergament. Besitzen diese qelafim Eigenschaften, die sie vom Pergament – etwa auf einer immateriellen, metaphysischen Ebene – unterscheiden? Die vielfältige Schreiberliteratur aus dem europäischen Mittelalter gibt genügend Anlass für die Behauptung, dass eine solche Ebene durch eine rituelle Heiligung der Häute für ihren Zweck erreicht wurde, bei der ein profanes Pergament in gevil, qelaf oder duchsustos verwandelt wurde. Der neue Status, auf den die Häute gehoben werden, ist permanent und kann nicht rückgängig gemacht werden. Insofern fassen die Begriffe „Konsekration“ oder „Dedikation“ das Phänomen sehr gut. Zur Beschreibung des Vorgangs der rituellen Weihe einer Schreibhaut für ihren heiligen Zweck verwendet die Schreiberliteratur den Begriff ibbud lišmah. Um die Idee hinter diesem Terminus technicus im Schreiberkontext zu verstehen, ist es notwendig, seine Verwendung in der frühen rabbinischen Literatur ins Auge zu fassen.

4.3 Formen der rituellen Weihe lišmah in der antiken rabbinischen Literatur Eine Sache lišmah zu verrichten oder zu bearbeiten, ist innerhalb der frühen rabbinischen Literatur im Wesentlichen mit vier Themenfeldern verbunden: dem Konzept der torah lišmah, der korrekten Erstellung einer Trauungsurkunde und eines Scheidebriefs, dem rituellen Opfer innerhalb und außerhalb des Tempels sowie der Herstellung der STaM.

Torah lišmah Die gebräuchlichste Verwendung des Begriffs ist im ideellen Umfeld des Torastudiums und im Zusammenhang mit der korrekten Ausführung der miṣvot zu

4.3 Formen der rituellen Weihe lišmah in der antiken rabbinischen Literatur 

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finden. Die heiligen Schriften sollen lišmah, d. h. hier „um ihrer selbst willen“ studiert und die Gesetze „um ihrer selbst willen“ ausgeübt werden.28 Die ganz auf die Tora ausgerichtete Haltung des Gläubigen wird gegen das stumpfe Ausführen der Gebote aufgewogen und als Ideal für religiöses Handeln gesetzt. Der babylonische Amoräer Nachman ben Isaac (gest. ca. 356) schätzt sogar die lišmah durchgeführte Übertretung eines Religionsgesetzes höher ein als das nicht lišmah ausgeführte Werk29, was allerdings durch die Empfehlung, „Übertretung“ [‫]עבירה‬ doch besser durch „Werk“ [‫ ]מצוה‬zu ersetzen, relativiert wird. Der Konsens besteht darin, dass „man sich stets mit der Tora und guten Werken befasse, auch nicht um ihrer selbst willen, denn dadurch kommt man dazu, es um ihrer selbst willen zu tun.“30 Die Gedanken sollen ganz bei der heiligen Sache und nicht durch profane Belange getrübt sein. Dementsprechend empfehlen die Rabbinen auch den Schreibern der STaM, den weltlichen Lohn für ihre Arbeit nicht zu hoch anzusetzen, damit die Schreiber der [heiligen] Bücher [‫]כותבי ספרים‬, Tefillin und Mezuzot nicht reich werden mögen, denn wären sie reich, so würden sie sie nicht schreiben. Die Rabbanan lehrten: Schreiber der [heiligen] Bücher, Tefillin und Mezuzot, sie selbst, die damit handeln, und alle anderen, die sich mit Ritualien [‫ ]במלאכת שמים‬befassen – dies schließt die Purpurfädenverkäufer ein – sehen nie ein Zeichen des Segens. Befassen sie sich damit der Sache wegen [‫]לשמה‬, so sehen sie wohl [ein Zeichen des Segens].31

Dieses Konzept des heiligen Handelns, das insbesondere von den Ḥasidei Aškenaz im Mittelalter (siehe Kapitel 5) und dann von den Chassidim in der Neuzeit aufgegriffen und gedanklich vertieft wurde,32 hat auf den ersten Blick wenig mit der rituellen Weihe eines Objekts zu tun. Dennoch scheint der Grundgedanke derselbe zu sein: etwas, in diesem Fall der Mensch, löst sich von der Welt des Profanen und widmet sich ganz der heiligen Welt Gottes. Dass der sofer STaM zu denjenigen gezählt wird, die lišmah handeln sollten, ist kein Zufall, da er sich als Kopist der heiligen Schriftrollen in einem Bereich göttlicher Präsenz bewegt, einem Raum also, der jenseits von allem Profanen liegt und dem sich der Schreiber in gewisser Weise anzupassen sucht.

28 Vgl. u. a. bT Ber 17a; bT Sanh 99a u. 105b; bT Hor 10b; bT Sukkah 49b; Pirqe de Rabbi Eliezer 13; jT Ḥag 1,1. 29 bT Naz 23b .‫גדולה עבירה לשמה ממצוה שלא לשמה‬ 30 bT Naz 23b .‫לעולם יעסוק אדם בתורה ובמצות אפי’ שלא לשמן שמתוך שלא לשמן בא לשמן‬ 31 bT Pesaḥ 50b. 32 Vgl. Norman Lamm, Torah Lishma. Torah for Torah’s Sake in the Works of Rabbi Hayyim of Volozhin and His Contemporaries, New York 1989.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

Antrauungs- und Scheidedokument Auch in der rabbinischen Diskussion um die urkundliche Bestätigung einer Antrauung und Scheidung ist der Begriff lišmah ein fester Terminus technicus, da das entsprechende Dokument „auf ihren Namen“ (lišmah), nämlich den Namen der betreffenden Frau, ausgestellt sein muss.33 Das trifft vor allem auf das Schreiben des geṭ, des Scheidungsbriefes, zu, der vom Ehemann unter Zeugenschaft auszustellen und zu überreichen ist. Das Prozedere ist in der Mischna und dann im Talmud unter Berücksichtigung aller möglichen Eventualitäten detailliert dargelegt und spiegelt sicherlich das antike Rechtsverständnis von gültigen Urkunden auch im Zusammenhang von Kaufverträgen, Schuldscheinen oder bei der Freilassung eines Sklaven wider. Mit der durch klare Richtlinien geregelten Einschreibung des Namens der Frau in den geṭ sollte dementsprechend zunächst einmal Verwechslungen, Fälschungen und anders geartetem Betrug vorgebeugt werden. Im Kontext des rituellen Schreibens ist interessant, dass auch der immer gleiche Haupttext des geṭ idealerweise von Anfang an für eine bestimmte Frau lišmah aufgesetzt sein sollte. Bereits vorgeschriebene Formulare, die aus Sicht der Schreiber von praktischem Vorteil wären, diskutierten die Rabbinen kritisch.34 Auch wenn ein geṭ durch Zufall rein äußerlich die richtige Form und den korrekten Namen aufweist, ist doch letztlich die Intention beim Schreiben von entscheidender Bedeutung.35 Das Dokument kann nicht umgewidmet werden, da ihm die Absicht des ersten Schreibers bzw. Auftraggebers quasi unauslöschbar anhaftet. Die Verwendung des Begriffes lišmah im Zusammenhang der Eheschließung bzw. -trennung scheint im Gegensatz zu den anderen Anwendungsbereichen letztlich doch eher einem gewissen Pragmatismus zur Vermeidung

33 Zur Antrauungsurkunde, die „ihrem Namen“ lišmah geschrieben werden muss, siehe u. a. bT Qidd 9 und bT Ketub 102b. 34 Mischna Giṭ 3:2; bT Giṭ 26. 35 Vgl. Mischna Giṭ 3:1 bzw. bT Giṭ 24a,b: „Jeder Scheidebrief, der nicht auf den Namen der Frau geschrieben ist, ist ungültig. Wenn jemand beispielsweise über die Straße geht und einen Schreiber vorlesen hört: N. lässt sich von seiner Frau N. aus der Ortschaft N. scheiden, und sagt: Das ist mein Name und das ist der Name meiner Frau, so ist [dieser Scheidebrief] für ihn zur Scheidung ungültig. Noch mehr: wenn jemand [einen Scheidebrief] geschrieben hat, um sich von seiner Frau scheiden zu lassen, und davon abgekommen ist, und ein Mitbürger ihn trifft und zu ihm spricht: mein Name gleicht deinem und der Name meiner Frau gleicht dem deiner Frau, so ist dieser für ihn zur Scheidung ungültig. Noch mehr: wenn jemand zwei Frauen gleichen Namens hat und [einen Scheidebrief] geschrieben hat, um sich von der Größeren scheiden zu lassen, so darf er sich damit nicht von der Kleineren scheiden lassen. Noch mehr: wenn jemand zum Schreiber gesagt hat, dass er für ihn [einen Scheidebrief] schreibe, er wolle sich von einer nach Belieben scheiden lassen, so ist er zur Scheidung ungültig.“

4.3 Formen der rituellen Weihe lišmah in der antiken rabbinischen Literatur 

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von Betrug geschuldet zu sein – auch wenn der Bund der Ehe in der jüdischen Tradition als etwas Heiliges erachtet wird und der Eintritt in dieselbe auch als ein Übergang in eine heiligere Sphäre betrachtet werden kann, der durch ein lišmah ausgestelltes Dokument quasi besiegelt wird.

Opfer Der dritte Zusammenhang, in dem der Begriff lišmah von essentieller Bedeutung ist, handelt vom Opfer innerhalb und außerhalb des Tempels. Die Bestimmung eines Tieres oder einer Speise zum heiligen Opfer wird durch die rituelle Benennung bzw. Widmung desselben für eine ganz bestimmte Opferart reguliert. Bereits bei der Schlachtung eines Opfertieres muss es verbal seiner rituellen Bestimmung lišmah beispielsweise dem Pesachopfer, Brandopfer, Schuldopfer, Heilsopfer oder Dankopfer gewidmet werden. Diese Opfer unterscheiden sich in ihrem Heiligkeitsgrad voneinander und die Rabbinen entwickelten auf der Grundlage der biblischen Opfer- und Tempelgesetze des Priestertums ein komplexes Abstufungssystem, das die Opfer als Ganzes, aber auch die einzelnen Schritte des jeweiligen Opferrituals bestimmten Heiligkeitsräumen zuordnet. Das komplizierte und zum Teil widersprüchliche System basiert auf der Voraussetzung, dass etwas von minderer Heiligkeit nicht auf etwas von höherer Heiligkeit übertragen werden kann – in umgekehrter Richtung ist das allerdings durchaus möglich. Ein Tier, das beispielsweise zum Zwecke [‫ ]לשמה‬eines Heilsopfers geschlachtet wurde, entspricht nicht dem Heiligkeitsgrad eines Brand- oder Sündopfers. Umgekehrt kann ein zum Zwecke eines Schuldopfers geschlachtetes Tier für ein Heilsopfer, Dankopfer oder – wenn es am 14. Nisan geschlachtet wurde – auch für ein Pesachopfer verwendet werden.36 Bei der Differenzierung der Speiseopfer, bei dem pflanzliche Materialien wie Mehl, Öl, Brot oder Weihrauch zu unterschiedlichen Anlässen dargebracht bzw. rituell verbrannt wurden, entschieden die Rabbinen die Frage der korrekten Widmung weniger strikt, da „Speiseopfer nicht den Schlachtopfern gleichen“37. Allein das Prozedere im Zusammenhang mit dem Schlachtopfer unterliegt weiteren Trennungen, die auch die einzelnen Arbeitsgänge – das Schlachten, die Blutaufnahme, das Tragen des Opfers zum Altar, das Blutsprengen – betreffen.38 Bei 36 bT Zebaḥ 2. 37 bT Menaḥ 2b. 38 Vgl. z. B.: „Wenn man ein Pesachopfer auf einen anderen Namen [‫ ]לא לשמה‬geschlachtet, auf einen anderen Namen [‫[ ]לא לשמה‬das Blut] aufgenommen, es [zum Altar] gebracht oder gesprengt hat, oder auf seinen Namen [‫ ]לשמה‬und auf einen anderen Namen [‫]לא לשמה‬, oder auf

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all diesen Vorgängen ist die klare und vor allem durchgängige Absicht des Ausführenden, ein ganz bestimmtes Opfer [‫ ]לשמה‬darzubringen, von entscheidender Bedeutung, da sich die Heiligkeitsbereiche idealerweise nicht überschneiden sollten.39 Dementsprechend war ein während des Rituals umgewidmetes Opfer nicht gültig und fällt in den profanen Bereich zurück bzw. wird für Minderheiliges verwandt. Hochheiliges büßte darüber hinaus durch zeitweiliges Hinaustragen aus dem Tempelareal seinen reinen Status ein und verlor auf diese Weise die heilige Aura seiner spezifischen Widmung.40

STaM Im Schreiberkontext wird der Begriff lišmah nur in einigen wenigen Fällen benutzt. Die meisten dieser Fälle sind in eine generelle Diskussion des religionsgesetzlichen Sachverhalts hazmanah milta hi, lit. „hazmanah ist eine Sache“ eingebettet. Hazmanah bedeutet „[für etwas] bestimmen“ oder „vorsehen [für]“, dementsprechend geht es hier um die grundsätzliche Frage, „whether an object that acquires a certain status in law when used for a particular purpose acquires that status even when it has only been designated for that purpose.“41 Insbesondere im Abschnitt Sanhedrin 47b–48b präsentiert der Talmud unterschiedliche Argumente für und gegen die Ansicht, dass die ausdrückliche Bestimmung eines Gegenstandes oder einer Sache für einen bestimmten Zweck [lišmah] allein wirksam sei bzw. ob erst mit der vorbestimmten Nutzung selbst das Objekt für alle weitere Handhabung tabuisiert sei. Damit verbunden ist die Frage, ob ein für einen Zweck bestimmtes Objekt vor oder sogar nach seiner Bestimmung für etwas anderes gebraucht werden dürfe. Kann beispielsweise ein Grab, das für eine bestimmte Person ausgehoben wurde, für einen anderen Leichnam benutzt werden? Welchen Status

einen anderen Namen [‫ ]לא לשמה‬und auf seinen Namen [‫]לשמה‬, so ist es untauglich.“ Vgl. u. a. bT Pesaḥ 59b; bT Zebaḥ 3, 4, 7, 10, 11, 13, 36b, 84a, 103b, 114; bT Menaḥ 2, 47b, 48; bT Pesaḥ 59b, 60, 62b, 63. 39 Demensprechend ist beispielsweise in Bezug auf das Wochenfest, bei dem Lämmer geschlachtet und deren Blut auf den Altar und das Brot gesprengt wurde, bemerkt, dass allein durch die rituell einwandfreie Schlachtung und Sprengung das Brot geheiligt würde: „Hat man sie auf ihren Namen [‫ ]לשמן‬geschlachtet und das Blut auf ihren Namen gesprengt, so ist das Brot heilig; hat man sie auf einen anderen Namen [‫ ]לא לשמן‬geschlachtet und das Blut auf ihren Namen [‫ ]לשמן‬gesprengt, so ist das Brot nicht heilig.“ (bT Jebamot 104b). Vgl. u. a. auch bT Zebaḥ 3, 11a, 36b, 84a, 103a; bT Menaḥ 26, 47a, 48, 78b; bT Pesaḥ 60, 62. 40 Vgl. u. a. bT Menaḥ 47. 41 Luis Jacobs, The Talmudic Argument. A Study in Talmudic Reasoning and Methodology, Cambridge 1984, S. 122.

4.3 Formen der rituellen Weihe lišmah in der antiken rabbinischen Literatur 

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haben Steine, die für ein bestimmtes Grab herangeschafft wurden, aber nun, da der Leichnam doch woanders begraben wurde, ihren vorbestimmten Zweck nicht erfüllen werden?42 Ist das für einen Opferritus bestimmte Tier bis zu seiner Opferung für alle anderen Verwendungen ausgeschlossen? Es geht hier um die entscheidende Frage, ob die rituelle Bestimmung eines Objekts lišmah auf einer Stufe mit der Weihe steht, deren Wirkung unabhängig von der Benutzung für alle Zeiten gleichsam in das Material eingebrannt ist und nur durch eine rituelle Entweihung von seiner Bestimmung befreit werden kann. Oder handelt es sich um eine weniger wirkmächtige Form der Zuschreibung wie etwa die Segnung, die sich eben nicht unauslöschbar im Material manifestiert? Die Meinung der Rabbinen darüber, ob eine hazmanah bleibende Spuren im Materialen hinterlässt, geht auch mit Blick auf die Herstellung der STaM und der Artefakte rund um die heiligen Schriftrollen auseinander. Auf der einen Seite steht der Tannait R. Simon ben Gamliel (2. Jahrhundert), der für eine hazmanah milta argumentiert. Er spricht sich explizit für die Notwendigkeit einer rituellen Weihe der Häute aus – unabhängig davon, ob diese Häute für die Schriftrollen selbst oder deren Hüllen verwendet werden sollen. Eine Haut, die nicht rituell für den Zweck ihrer weiteren Nutzung behandelt wurde, sei auch dann nicht zulässig, wenn sie von einem reinen Tier stammt: In Zidon war ein Nichtjude, der Torarollen schrieb, und R. Simon b. Gamliel erlaubte, sie von ihm zu kaufen. Muss denn nach R. Simon b. Gamliel nur die Bearbeitung zu diesem Zweck [‫]עיבוד לשמן‬, nicht aber das Schreiben zu diesem Zweck erfolgen [‫ ?]כתיבה לשמן‬Es wird nämlich gelehrt: hat man [Tefillin] mit Gold verkleidet oder mit der Haut von einem unreinen Tier überzogen, so sind sie untauglich, wenn aber mit der Haut von einem reinen Tier, so sind sie tauglich, selbst wenn sie nicht zu diesem Zweck bearbeitet worden sind [‫לא‬ ‫ ;]עיבדן לשמן‬R. Simon b. Gamliel sagt: auch wenn mit der Haut von einem reinen Tier, sind sie untauglich, außer sie wurden zu diesem Zweck bearbeitet [‫]עד שיעבדן לשמן‬.43

Simon ben Gamliel unterscheidet klar zwischen den beiden Kategorien Reinheit und Heiligkeit. Eine für den rituellen Gebrauch bestimmte Haut sollte nicht nur von einem koscheren Tier stammen, sondern zusätzlich ihrem heiligen Zweck entsprechend geweiht worden sein. Eine Schriftrolle, die zwar den Reinheitsvorschriften entspricht, deren Heiligung jedoch für ihren rituellen Zweck nicht vollzogen wurde bzw. im Dunkeln liegt, wird von der Schule Simon ben Gamliels für nicht tauglich befunden. Die Schreibhäute und die Schrift selbst sollten von ihrem profanen Status getrennt und auf eine heilige Stufe gehoben worden sein. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Fragen im Zusammenhang mit dem Erwerb von

42 bT Sanh 47b, 48a. 43 bT Giṭ 45b, vgl. auch bT Menaḥ 42b.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

Schriftrollen aus der Hand von Nichtjuden besprochen wurden, da hier nicht nur der Heiligkeitsstatus festgelegt, sondern auch zwischen befugten und unbefugten Schreibern unterschieden werden musste. Es lag im Interesse der Rabbinen, ihren Anspruch auf das Monopol der Bibeltextkontrolle und der Bibelauslegung durch strikte Kriterien der Textüberlieferung sicherzustellen und andere Gruppierungen auszuschließen. Das betraf zunächst Nichtjuden, die zwar die Reinheit des Materials nicht zwingend gefährden, aber der Heiligkeit der Schriftrollen durch ihre religiöse Ausrichtung durchaus Abbruch tun und diese für ihren rituellen Gebrauch untauglich machen konnten, wie in dem bereits zitierten Abschnitt (vgl. Kapitel 3.3) aus dem Abschnitt Giṭṭin 45b deutlich wird.44 Der Talmud führt noch einen weiteren Fall an, bei dem ein bereits lišmah geheiligtes Objekt vor der Entweihung durch Nichtjuden bewahrt werden soll. Die purpurblaue Färbung der Zizit des Tallit sollte nach bestimmter Rezeptur lišmah erfolgen.45 Um Entweihung und Betrug vorzubeugen, empfahlen die Rabbinen, besser „kein mit Zizit versehenes Gewand an einen Nichtjuden [zu] verkaufen, es sei denn, dass man die Zizit entfernt“, denn er könnte eine Prostituierte damit entlohnen oder „sich jemandem [einem Juden] auf der Reise anschließen und ihn ermorden“46. Die Grenze, die durch die Bearbeitung lišmah zwischen heilig und profan gezogen wird, kann – und darauf wird noch zurückzukommen sein  – also als Trennlinie zwischen jüdischer und nichtjüdischer Gesellschaft verlaufen. Andererseits findet sich im Talmud auch die entgegengesetzte Position, nämlich dass eine für das Schreiben einer Gesetzesrolle oder für die Hülle eines Paars Tefillin vorgesehene Haut durchaus für profane Zwecke verwendet werden darf, und zwar bis zu dem Zeitpunkt da sie tatsächlich für ihren heiligen Zweck gebraucht wird.47 In diesem Fall wird eine hazmanah als nicht wirksam und somit auch nicht als zwingend notwendig erachtet: Komm und höre: Wenn jemand einen Handwerker beauftragt, für ihn ein Futteral für ein [heiliges] Buch oder einen Behälter für Tefillin zu fertigen, so dürfen sie, solange sie für

44 Vgl.  auch bT Menaḥ 42b: „Die von einem Nichtjuden gefertigten Tefillin sind untauglich, denn R. Henana, Sohn des Raba aus Paschronja, lehrte, eine Torarolle, Tefillin und Mezuzot, die ein Minäer, ein Samaritaner, ein Nichtjude, ein Sklave, eine Frau, ein Minderjähriger oder ein Abtrünniger geschrieben hat, seien untauglich.“ 45 bT Menaḥ 42b. 46 bT Menaḥ 43a. 47 Für eine ausführliche Darstellung aller Positionen und deren rechtlicher Konsequenzen siehe Jacobs, The Talmudic Argument, S. 122–132.

4.3 Formen der rituellen Weihe lišmah in der antiken rabbinischen Literatur 

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heilige Dinge nicht verwandt worden sind, für profane Dinge verwendet werden; sobald sie aber für heilige Dinge verwandt worden sind, dürfen sie nicht mehr für profane Dinge verwendet werden!48

In einem anderen Kontext wird die Weihe der Schreibhäute jedoch als notwendig erachtet: Einst kam jemand vor R. Abahu und sprach zu ihm: Das Pergament [‫ ]גוילין‬für die Torarollen, die ich für N. geschrieben habe, habe ich nicht zu diesem Zweck gefertigt [‫]לא עיבדתים לשמן‬. Dieser fragte: Bei wem befindet sich die Torarolle? Jener erwiderte: Beim Käufer. Da sprach dieser: Da du glaubhaft bist, deinen Lohn zu verlieren, so bist du auch glaubhaft, die Torarolle untauglich zu machen.49

Ein Toraschreiber, der die Behandlung der Häute lišmah nicht garantieren kann, sollte also nicht nur auf seinen Lohn verzichten, sondern ist auch verpflichtet, die betroffenen Schriftrollen aus dem „rituellen Verkehr“ zu ziehen. Im Spannungsfeld von heilig und profan verläuft auch die Diskussion um die korrekte Weihe der Gottesnamen in den Torarollen. Jeder einzelne Name Gottes muss vom sofer STaM lišmah geschrieben sein, da „eine Torarolle, in der die Gottesnamen nicht mit der richtigen Intention geschrieben sind, nichts wert [‫ “]הפסיד‬sei und der Schreiber dafür auch keinen Lohn verlangen könne. Auf den Einwand, dass der Schreiber im Nachhinein über die Namen „mit einer Feder fahren und sie heiligen [‫ “]ליעבר עלייהו קולמוס וליקדשיה‬könne, reagierten die Autoritäten abweisend, denn „ein solcher Gottesname ist nicht vorzüglich“50. In der zitierten Passage tritt das Verb qiddeš, heiligen, direkt an die Stelle der rituellen Weihe durch das Schreiben lišmah und macht den inneren Zusammenhang der beiden Begrifflichkeiten einmal mehr deutlich. Mit den hier vorgestellten Fällen aus Mischna und Talmud ist die Verwendung des Begriffs im Schreiberkontext, aus den antiken Quellen herausgelesen, bereits erschöpft. In den beiden kleinen Talmudtraktaten Massechet sefer torah und Massechet soferim ist von einer Zuschreibung lišmah nicht mehr die Rede – weder das Material noch die Schrift oder den Schreibakt betreffend. Die Texte legen zwar großes Gewicht auf die Kategorie der Reinheit, nehmen das Moment einer Weihe jedoch nicht in ihr Konzept auf. Zusammenfassend kann mit Blick auf die rabbinischen Literatur der Antike schließlich festgestellt werden, dass der Begriff lišmah – abgesehen von seiner Verwendung im Ehe- und Scheidungsrecht  – einen Grenzbereich markiert, der

48 bT Sanh 48b. 49 bT Giṭ 54b. 50 bT Giṭ 54b.

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zwischen heilig und profan bzw. unterschiedliche Heiligkeitsstufen trennt. Kultobjekte wie das Opfer, die Schaufäden im Gebetsmantel und die heiligen Schriftrollen sind Teil einer komplexen Heiligkeitstopographie, deren magisches Zentrum das Allerheiligste des Jerusalemer Tempels war. Aber auch der Mensch kann durch ein auf Gott konzentriertes Studium der Tora (torah lišmah) den Übertritt aus einem profanen in einen heiligen Raum vollziehen. Etwas lišmah zu tun bzw. zu bearbeiten, ist im Prinzip nichts anderes als der rituelle Vollzug dieses Übertritts. Hinsichtlich der Schreiberbelange ist allerdings festzustellen, dass die Rabbinen keine klare Vorstellung davon vermitteln, unter welchen Umständen und auf welche Weise bzw. ob überhaupt eine Haut oder ein mit den heiligen Rollen in Beziehung stehender Gegenstand für seinen rituellen Gebrauch vorbereitet werden sollte. Das Konzept einer ibbud lišmah erscheint in der frühen rabbinischen Literatur nicht ausgeformt und uneinheitlich.

4.4 Positionen zur rituellen Weihe des Schreibmaterials aus dem islamisch-arabischen Kulturkreis Während die rituelle Weihe der Beschreibhäute in den kleinen Talmudtraktaten keine Erwähnung fand, nahmen die Geonim das antike Konzept wieder auf. Der bereits zitierte Talmudgelehrte Pirqoi ben Baboi drang auf die Bearbeitung der Schreibhäute lišmah und schloss damit den Gebrauch von Schreibstoffen aus arabischer Hand für die heiligen Bücher als eine Art Götzendienst kategorisch aus.51 In diesem Sinne entschied auch Natronai bar Hilai (von 853–858 Gaon in Sura), dass „ein qelaf für ein sefer torah wenn möglich von einem Juden lišmah bearbeitet werden sollte“. Ansonsten „gehe man zu einem Nichtjuden [‫ ]גוי‬und sage ihm: ‚Ich brauche ein qelaf für ein sefer torah’. Doch wenn der Nichtjude den sefer torah für diesen Zweck herstellt [‫ ]לשם ספר תורה‬assistiere ihm der Jude ein wenig [‫“]יסייע עמו ישראל מעט‬52. Qelaf – so Natronai in einem anderen Responsum – sei koscher wenn es nur lišmah bearbeitet wurde, während gevil zusätzlich in jedem Fall mit Tanninen behandelt werden müsse.53 Auch die Gehäuse und Lederriemen der Tefillin müssen lišman gearbeitet sein, da die Buchstaben šin, dalet und jud, die den Gottesnamen Šaddai ergeben, in das Material eingearbeitet seien.54

51 Ginzberg, „Pirqoi ben Baboi“, S. 561–562. 52 Tešuwot Raw Natronai Gaon, § 264. 53 Tešuwot Raw Natronai Gaon, § 265. 54 Tešuwot Raw Natronai Gaon, § 8.

4.4 Positionen zur rituellen Weihe im islamischen Kulturkreis 

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Hai Gaon, der vierzig Jahre die rabbinische Akademie in Pumbedita leitete und enormen Einfluss auch auf das Denken im mittelalterlichen Aschkenas ausübte, bezieht auf eine Anfrage hin eine differenziertere Stellung und führt aus, dass Häute für Tefillin in jedem Fall, solche für sifrei torah jedoch bevorzugterweise aber nicht unbedingt lišmah behandelt sein sollten.55 Diese Haltung ist als ein Zugeständnis an das arabische raq zu verstehen, dessen Verwendung Hai Gaon zwar beklagt, aber nicht gänzlich ausschloss. Als Kompromiss zu einwandfreien, nach rabbinischem Religionsgesetz hergestellten Beschreibhäuten schlägt er mit Blick auf das weit verbreitete raq vor: Doch wenn die Möglichkeit besteht, die Häute [‫ ]יריעות‬zurück in den Spannrahmen zu bringen und sie mit etwas Kalk lišmah zu bearbeiten, dann ist die [Vorschrift der] Bearbeitung lišmah erfüllt. Doch wenn diese Möglichkeit nicht besteht, [ist es erlaubt] auf ihnen auch ohne Bearbeitung lišmah zu schreiben und aus ihnen öffentlich zu lesen.56

Für den arabisch-islamischen Kulturraum fand letztlich Maimonides eine klare Linie, die das Material für die heiligen Schriftrollen des STaM gegen Beschreibstoffe der Umweltkultur rituell abgrenzte: Gevil für ein sefer torah und qelaf für Tefillin oder ein sefer torah müssen für diesen Zweck [‫ ]צריך לעבד אותן לשמן‬bearbeitet sein. Wenn sie nicht für diesen Zweck bearbeitet wurden, sind sie untauglich. Deshalb sind sie, wenn von einem Nichtjuden [‫ ]הכותי‬hergestellt, untauglich; auch wenn wir den Nichtjuden angewiesen haben, die Haut für [‫ ]לשם‬ein sefer torah oder Tefillim zu bearbeiten, sind sie untauglich, denn der Nichtjude hat seine eigenen Intentionen [‫ ]שהכותי על דעת עצמו‬und handelt nicht nach den Intentionen desjenigen, der ihn beauftragt. Deshalb ist jedes Ding, das lišmah hergestellt werden muss, wenn es von einem Nichtjuden getan wurde, nicht tauglich. Doch eine Mezuzah muss nicht für ihren Zweck gearbeitet sein.57

Reinheit und Heiligung der Häute lišmah sind zumindest für ein sefer torah und die Tefillin nicht verhandelbar.58 Das trifft auch auf die Riemen der Tefillin zu, während die Gehäuse der kleinen Schriftrollen zwar von der Haut eines koscheren Tieres stammen, aber nicht lišmah bearbeitet sein müssen.59 Trotzdem sieht Maimonides die am Kopf zu befestigende Gebetskapsel mitsamt ihren Riemen auf „einer höheren Stufe der Heiligkeit“ stehend als die Tefillin für den Arm, und empfiehlt entsprechend dem rabbinischen Reinheitskonzept, wonach „der Status eines Objektes nicht von einer höheren Heiligkeitsstufe auf eine niedri-

55 Tešuwot ha-Gaonim, § 63. 56 Tešuwot ha-Gaonim, § 432. 57 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, I:11. 58 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, I:14. 59 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, III:15.

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gere Heiligkeitsstufe herabgesetzt werden kann“, sie nicht als tefillin šel jad zu nutzen.60 Auch diese Ritualgegenstände entsprechen nach Maimonides, sofern sie von einem Nichtjuden hergestellt wurden, keineswegs den geforderten Richtlinien hinsichtlich Reinheit sowie Heiligkeit und sind in diesem Fall als nicht tauglich [‫ ]פסול‬zu betrachten. Andere Autoren aus dem sefardischen Raum trugen kaum etwas Neues zum Thema rituelle Weihe im Schreibzusammenhang bei; vielmehr reflektierten sie auf einer theoretischen Ebene über den weiter oben dargelegten Sachverhalt einer hazmanah milta oder schlossen sich dem Standpunkt des Maimonides an.61 Das Konzept des ibbud lišmah im Kontext der Herstellung der STaM und nahe stehender Artefakte – das kann hier abschließend festgestellt werden – war kein zentraler Diskussionsgegenstand innerhalb der halachischen Literatur des islamischen bzw. sefardischen Kulturkreises. Ganz anders stellt sich die Problematik in der Schreiberliteratur aus dem aschkenasischen Raum dar. Vor dem Hintergrund der präsentierten Debatten über eine obligatorische Weihe des Schreibmaterials im rabbinischen Umfeld der Antike sowie im sefardischen Raum sollen im Folgenden die Positionen der halachischen Autoritäten Frankreichs und Deutschlands dargestellt und Modifikationen diskutiert werden. Darüber hinaus soll der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss die christliche Schreibkultur im monastischen Umfeld der Skriptorien auf die neuen Auffassungen zur Schriftrollenherstellung im mittelalterlichen Frankreich und Deutschland ausgeübt haben könnte.

4.5 Rabbinische Perspektiven auf die rituelle Weihe der Schreibmaterialien im christlichen Europa Die rabbinischen Schulen Frankreichs und Deutschlands waren vom 12. bis ins 14. Jahrhundert hinein wesentlich von den Methoden der sogenannten „Tosafisten“ geprägt, deren Name sich von ‫„ – להוסיף‬hinzufügen“ – ableitet und ihre Tätigkeit als Kommentatoren des Talmud bzw. der Kommentare früherer Kommentatoren des Talmud beschreibt. Als tosafot werden Sammlungen von Talmudkommentaren bezeichnet, deren Ausgangspunkt nicht der Talmud selbst,

60 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, III:17. 61 Siehe beispielsweise den spanischen Talmudgelehrten und Schüler des einflussreichen Solomon ben Abraham Adret (gest. 1310), Jom Tov b. Abraham von Sevilla (gest. ca. 1330) zu bT Giṭ 54b, bT Mak 11a, bT Sukkah 9a und bT Erub 12b; Solomon ben Abraham Adret in seinem Kommentar zu bT Giṭ 54b; oder Nissim ben Reuven Gerondi (gest. ca. 1375) zu bT Giṭ 45b, Sanh 48b und Meg 24b – um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

4.5 Rabbinische Perspektiven auf die rituelle Weihe der Schreibmaterialien 

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sondern vielmehr die Bemerkungen des Begründers dieser halachischen Schule zum Talmud war – nämlich die knappen Glossen des wohl einflussreichsten Bibel- und Talmudkommentators Solomon ben Isaak, kurz Raschi (gest. 1105), der „zu den großen Gestalten der europäischen Geistesgeschichte“62 gezählt wird. Seine Schüler und Nachkommen überarbeiteten, erklärten und entwickelten die Argumente ihres Lehrers weiter und wogen sie gegen die Lehrmeinungen anderer halachischer Autoritäten auf. Die herausragenden Figuren dieser neuen Bewegung  – „with all the spiritual implications of the word“63  – waren die Enkel Raschis, Samuel ben Meir (Raschbam, gest. ca.  1174), Isaak ben Meir (Ribam, 12. Jhd.) und Jakob Tam (Rabbenu Tam, gest. 1171). Letztgenannter Rabbenu Tam, der die „hegemoniale Stellung, die die Champagne-Gemeinden zwischenzeitlich erlangen konnten“64, erhalten und weiter ausgebaut hat, gilt als der führende Architekt der tosafot. Als treibende Kraft nachfolgender Generationen von Tosafisten wirkte er aus dem Norden Frankreichs mit seinen Lehrmeinungen in den Süden bis nach Spanien und Italien, aber auch in die deutschen, österreichischen und böhmischen Gemeinden hinein. Unter den Händen seiner Schüler (und Gegner) aus allen Regionen Europas verwandelten sich seine Kommentare zum Talmud in unterschiedliche Richtungen weiter, so dass man heute nur noch schwer sagen kann, welche Argumente tatsächlich auf Rabbenu Tam zurückgehen und welche in den unterschiedlichen Jeschiwot aus der Diskussion seiner Glossen heraus entstanden sind. Die Schwierigkeit, einzelne Autoren aus dem dichtgewebten Netz der tosafot herauszufiltern, trifft im Grunde genommen auf das gesamte Korpus dieser Gattung zu, deren wesentliches methodologisches Lehr- und Lernmerkmal der diskursive, dialektische Charakter einer sich stetig weiter entwickelnden Gemeinschaftsarbeit ist, in der gerne auch „im Namen des Rabbi …“ ein Gedanke – sozu-

62 Johannes Heil, „Raschi – Der Lebensweg als soziale Landschaft“, in: Raschi und sein Erbe. Internationale Tagung der Hochschule für jüdische Studien mit der Stadt Worms, hrsg. von Daniel Krochmalnik, Hanna Liss und Ronen Reichman, Heidelberg 2007, S. 1–22. Heil rekonstruiert in diesem Aufsatz den Lebensweg Raschis, über den erstaunlich wenige Zeugnisse überliefert sind. Sein umfangreiches Werk, das Kommentare zu Bibel und Talmud, Responsen, Briefe und Gedichte umfasst, ist Ausgangspunkt zahlreicher Superkommentare und dementsprechend von enormen Einfluss auf Studenten der Bibel und des Talmud. Siehe auch Aaron Rothkoff, Avraham Grossman, Menahem Zevi Kaddari, Jona Fraenkel, Israel M. Ta-Schma und Judith R. Baskin, „Rashi“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica, Detroit 2007, (Bd. 17, 2. Auflage), S. 101–105. 63 Israel M. Ta-Schma, „Tosafot“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 20, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 67–70, hier 68. 64 Heil, „Raschi – Der Lebensweg“, S. 13.

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sagen mit autoritativem Rückenwind – weitergesponnen wird.65 Die Terminologien ve-im tomar  – „wenn du sagen würdest“  – und ve-ješ lomar  – „und dann würde man antworten“  – bilden die gedanklichen Klammern, zwischen denen die Diskussionen gewöhnlich stattfinden. Ephraim Urbach war einer der ersten Forscher, der in seiner erweiterten Ausgabe von Ba’alei ha-tosafot (1980) auf die methodologischen Parallelen zwischen jüdischen und christlichen Autoritäten des Rechts hingewiesen hat: das kritisch-genaue Lesen eines Textes, der folgende Prozess des Vergleichs mit anderen Texten bzw. Textpassagen des Talmud sowie das Konzept des argumentativen Hinterfragens scheint den Zeitgeist in den entsprechenden Kreisen widerzuspiegeln.66 Doch es sind auch einige substantielle Werke aus der Feder bekannter Größen dieser Schule erhalten, die das Gedankengebäude eines bestimmten Autors klar umreißen, beispielsweise der Sefer jere’im des Eliezer ben Samuel aus Metz (gest. 1198), der Sefer miṣvot gadol des Moses ben Jakob aus Coucy (13. Jhd.), der Sefer ha-terumah des Baruch ben Isaak aus Worms (spätes 12./frühes 13. Jhd.) oder der Sefer ha-roqeaḥ des Eleazar ben Jehuda aus Worms (gest. ca. 1230) – um nur einige der Werke zu nennen, auf die in dieser Studie noch zurückzukommen sein wird. Es sei an dieser Stelle auch erwähnt, dass die Tosafisten sich nicht auf das Kommentieren des Talmud beschränkten, sondern auch Bibelkommentare verfassten und insbesondere in Deutschland pijjutim  – liturgische Gedichte  – schrieben oder interpretierten.67 Hinzu kommen eine große Anzahl Responsa (še’elot u-tešuwot), die bestimmte Fragestellungen des jüdischen Religionsgesetzes mit einem starken Bezug zur tatsächlichen Religionspraxis beinhalten. Diese Responsa kursierten vor allem in den rabbinischen Schulen Deutschlands und wurden vorwiegend auch dort zu Sammlungen zusammengefügt.68 Obwohl es einen regen Austausch zwischen den rabbinischen Schulen Frankreichs und Deutschlands gab, entwickelten sich im Laufe der Zeit auch unterschiedliche methodologische Charakteristika, die den logistischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Region geschuldet waren. Einige davon werden in 65 Ephraim E. Urbach stellt in seiner bahnbrechenden Arbeit Ba’alei ha-tosafot (Jerusalem 1955) in chronologischer Ordnung die wichtigsten Tosafisten und ihre Werke vor. 66 Siehe auch Ephraim Kanarfogel, The Intellectual History, S.  84–110; Jose Faur, „The legal Thinking of Tosafot: An Historical Approach“, in: Dinei Israel 6 (1975), xliii–lxxii und Abraham Grossman, Early Sages of Ashkenaz. Their Lives, Leadership and Works (900–1096) (heb.), Jerusalem 1981; Talya Fishman, Becoming the People of the Talmud: Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures, Philadelphia 2011, Kapitel 4. 67 Siehe Elisabeth Hollender, Piyyut Commentary in Medieval Ashkenaz (= Studia Judaica, Bd. 42), Berlin [u. a.] 2008, insbesondere S. 28–58. 68 Haym Soloveitchik, Halachah, kalkalah ve-dimmui aṣmi, Jerusalem 1985, S.  82–85, 97–100; Kanarfogel, The Intellectual History, S. 71.

4.5 Rabbinische Perspektiven auf die rituelle Weihe der Schreibmaterialien 

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den folgenden Kapiteln im Kontext der Diskussionen um koschere STaM näher beleuchtet werden. Schließlich sei noch auf ein Phänomen innerhalb der rabbinischen Schulen nach dem zweiten Kreuzzug (1147–1149) hingewiesen, dem sich Ephraim Kanarfogel in seiner Studie „Peering through the Lattices“: Mystical, Magical, and Pietistic Dimensions in the Tosafist Period widmete. Ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist im Kreis der Tosafisten ein wachsendes Interesse an mystischen Studien, Traumdeutungen, Engeln und Formen der chassidischen Ritualpraxis zu beobachten. Auch wenn man nicht direkt von einer Frömmigkeitsbewegung unter den Tosafisten sprechen kann, die sich doch teilweise explizit gegen Praktiken der Askese ausgesprochen haben, entdeckten Forscher wie Kanarfogel „forms of self-denial, ḥasidut, and even tiqqunei teshuva (which have been associated heretofore only with Ḥasidei Ashkenaz)“69 in den Schriften der Talmudgelehrten. We have seen that considerations of perishut and ḥasidut did have an impact, at times, on the Talmudic interpretations and legal rulings of these tosafists. […] Mystical and magical dimensions remain, however, mostly behind the scenes. They do not occupy a prominent place in tosafist writing, although they become more easily recognizable by the middle of the thirteenth century. […] This revision of the dominant perception of tosafist spirituality constitutes a significant shift in the perceived balance of intellectual proclivities displayed by medieval rabbinic figures. According to the prevailing view, tosafists were uniformly halakhocentric. They occupied a kind of middle ground between the outstanding rishonim, led by Maimonides, who supplemented their Talmudic and rabbinic studies with philosophical studies and investigation, and those, led by Naḥmanides, who were devotees of mysticism and Kabbalah.70

Mit Blick auf die Herstellung und Handhabe der sifrei ha-qodeš ist die von Kanarfogel weichgezeichnete Grenze zwischen den rabbinischen und pietistischen Bewegungen im mittelalterlichen Aschkenas erhellend, da hier – wie in den folgenden Kapiteln gezeigt werden wird – ähnliche Tendenzen zu beobachten sind. Die jüdischen Zentren in Südfrankreich (Provence, Languedoc und Roussillon) bildeten zwischen Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien das Zentrum des jüdischen Universums Europas. Ihre geographische Lage begünstigte eine Verschmelzung der dialektischen Methode der nordfranzösischen Toasafisten mit der jüdischen Kultur Spaniens, die viel mehr von wissenschaftlichen und philosophischen Ansätzen geprägt war.71 Doch entwickelten die jüdischen 69 Ephraim Kanarfogel, „Peering through the Lattices“: Mystical, Magical, and Pietistic Dimensions in the Tosafist Period, Detroit 2000, S. 10. 70 Kanarfogel, „Peering through the Lattices“, S. 251 f. 71 Ram Ben-Shalom, „Translatio Andalusiae. Constructing Local Jewish Identity in Southern France“, in: Revue de l’histoire des religions 234,2 (= Les juifs et la nation au Moyen Âge/Jews and

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Gemeinden Narbonnes, Montpelliers, Béziers’ oder Lunels durchaus eine eigene kulturelle Identität, die mit den ersten Werken der Kabbala und der progressiven Haltung der südfranzösischen Rabbiner im Maimonidesstreit einen originellen Ausdruck fand. Die starke Verbindung zu den jüdischen Zentren Nordspaniens wurde auch durch politische Gegebenheiten begünstigt: Die Regionen Südfrankreichs gehörten im Laufe des Mittelalters dem Haus Anjou, dem Königreich Frankreich, dem Königreich Aragon und dem Königreich Mallorca an. Zwischen den Alpen und den Pyrenäen gab es zahlreiche politische Grenzen, die von jüdischen Gelehrten regelmäßig überschritten wurden. Anlass waren oft Vertreibungen ganzer Gemeinden aus einer bestimmten Region; dazu gehört die von Philipp II. angeordnete Ausweisung der französischen Juden nach einer langen Zeit von Verfolgungen und Anschuldigungen wegen angeblicher Ritualmorde im Jahre 1182. Im Jahre 1306 folgte die zweite traumatische Vertreibung der französischen Juden, die u. a. in der von dem Haus Anjou regierten Provence, die bis 1501 noch unabhängig von Frankreich war, oder in Nordspanien eine vorläufige Heimat fanden.72 Die brutale Verfolgung der Katharer und Waldenser durch die französische Krone und die Inquisition im 13. Jahrhundert stieß bei christlichen und jüdischen Bewohnern Südfrankreichs gleichermaßen auf Unverständnis und Widerstand.73 In dieser „multikulturellen“ Atmosphäre entstanden exegetische Schulen des Torastudiums (Narbonne), Talmudschulen (Lunel, Posquière, Béziers und Ramah, Toledo und Burgos), pietistische Bewegungen innerhalb der rabbinischen Zirkel und kabbalistische Strömungen, die bald auch in Nordspanien (Barcelona, Gerona) aufblühten, d. h. Schulen, die über regionale Grenzen hinweg in einem regen kulturellen Austausch standen. Darüber hinaus konnte Ephraim Kanarfogel zeigen, dass gerade auch mit der wachsenden Etablierung des Genre „Responsum“ und der Responsa-Sammlungen im 13.  Jahrhundert durch deutsche Tosafisten, vor allem innerhalb die Schule des Maharam, der Austausch zwischen den aschkenasischen und sefardischen Gemeinden enorm gefördert wurde.

the Nation in the Middle Ages (April–Juni 2017), S. 273–296; Pinchas Roth, „Regional Boundaries and Medieval Halakhah: Rabbinic Responsa from Catalonia to Southern France in the Thirteenth and Fourteenth Centuries“, in: The Jewish Quarterly Review 105,1 (2015), S. 72–98; Ephraim Kanarfogel, „Between Ashkenaz and Sefarad: Tosafist Teaching in the Talmudic Commentaries of Ritva“, in: Ephraim Kanarfogel und Moshe Sokolow (Hrsg.), Between Rashi and Maimonides. Themes in Medieval Jewish Thought, Literature and Exegesis, Jersey City, NY 2010, S. 237–273. 72 Susan L. Einbinder, No Place of Rest: Jewish Literature, Expulsion, and the Memory of Medieval France, Philadelphia 2009. 73 Ben-Shalom, „Translatio Andalusiae. Constructing Local Jewish Identity in Southern France“, S. 278; Roth, „Regional Boundaries and Medieval Halakhah“, S. 73.

4.5 Rabbinische Perspektiven auf die rituelle Weihe der Schreibmaterialien 

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When the progress of these genres is charted, it appears that Sefardic rabbinic scholarship becomes, in effect, Ashkenazic-like, while the Ashkenazim, in turn, start to follow Sefardic literary patterns. Although there are likely some larger literary tendencies at work here as well, it may be suggested that this role-reversal (or genre-reversal) is one of the (few) positive by-products of the tumultuous Maimonidean controversy. The controversy, which begins to percolate in earnest during the early years of the thirteenth century, brought the rabbinic cultures of Ashkenaz and Sefarad into close contact, more than any other single event or issue. The shift in genres that has been outlined may have resulted, in no small measure, from these contacts.74

Ram Ben-Shalom spricht aufgrund der zustimmenden Aufnahme der Maimonidischen Philosophie und der wissenschaftlichen Methodik überhaupt über die südfranzösischen Schulen als die eigentlichen Erben des intellektuellen Geistes von Al-Andalus und der jüdisch-islamischen Symbiose Spaniens.75 Das Schicksal der mittelalterlichen jüdischen Gemeinden Südfrankreichs und Nordspaniens war jedoch – wie das der aschkenasischen Gemeinden auch – vor allem von jüdisch-christlichen Spannungen geprägt, die sich durch politische Vertreibungen, Pogrome, Talmudverbrennungen oder Zwangsdisputationen in das kollektive Gedächtnis der europäischen Juden einbrannten. In den folgenden Kapiteln sollen ausgesuchte rabbinische Positionen zur Herstellung rituell reiner STaM aus südfranzösischen und nordspanischen Regionen in die Diskussion einfließen, um eine zentrale These dieser Studie, nämlich dass Modifikationen der Regeln zum Schreiben der heiligen Schriftrollen im mittelalterlichen Europa maßgeblich von der christlichen Umweltkultur beeinflusst waren, zu belegen.

4.5.1 Hazmanah milta: Die Theorie der frühen Tosafisten Nordfrankreichs Die frühen Tosafisten Nordfrankreichs gaben erste Impulse für eine tiefergehende halachische Auseinandersetzung mit der rituellen Weihe. Ihre Diskussionen über die Bearbeitung bestimmter Objekte lišmah im Schreibkontext finden auf einer von der religionsgesetzlichen Theorie geprägten Ebene statt, die nur sehr wenige Einsichten in die eigentliche performative Praxis zulässt. Rabbenu Tam bespricht die Thematik mit einem generellen Blick auf den Status eines für seinen bestimmten Zweck geweihten Objekts, das noch nicht benutzt wurde. Die Argumentation des nordfranzösischen Tosafisten beginnt mit dem Kommentar seines berühmten Großvaters Raschi zum talmudischen 74 Kanarfogel, „Between Ashkenaz and Sefarad“, S. 242. 75 Ben-Shalom, „Translatio Andalusiae. Constructing Local Jewish Identity in Southern France“, S. 294.

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Abschnitt Giṭṭin 45b, wo die Rabbinen – wie weiter oben bereits dargelegt – die Wirksamkeit und die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Bestimmung von Schreibhäuten für das Kopieren von Torarollen sowie die Erfordernis einer solchen Weihe für den Schreibakt selbst diskutieren. Raschi assoziiert mit einer hazmanah  – einer rituellen Bestimmung eines Objekts für einen spezifischen Zweck  – keine dauerhaften Konsequenzen für das Material. Aus diesem Grund sieht er auch keine Veranlassung gegeben, eine entsprechende Widmung der Häute oder der Schrift für zwingend notwendig zu erklären. Dagegen schließt sich Rabbenu Tam nach einer breiten Diskussion der im Talmud und von den Geonim in diesem Zusammenhang angebrachten Argumente für und wider einer obligatorischen Weihe der entgegengesetzten Meinung an, nach der eine hazmanah bzw. ein ibbud lišmah durchaus von bleibender Wirkung sei und daher obligatorischer Bestandteil des Herstellungsprozesses der heiligen Schriftrollen sein sollte. Er empfiehlt ausdrücklich eine Bearbeitung der Häute und der Schrift lišmah für ihren besonderen Zweck und wiederholt den Vorschlag der Geonim, dass ein Jude in dem Fall, dass eine andere Möglichkeit der Schreibmaterialbeschaffung ausgeschlossen ist, dem nichtjüdischen Pergamenter bei der Herstellung beschreibbarer Häute assistieren solle, um den Beschreibstoff für seine Verwendung im liturgischen Rahmen mittels einer Formel zu weihen. Auch das Schreibens des heiligen Texts und der göttlichen Namen solle lišmah „zum Zwecke der Tora Israels“ durchgeführt werden.76 Der Diskurs des Rabbenu Tam zu dieser Problematik fand große Beachtung bei anderen halachischen Autoritäten Frankreichs und Deutschlands, wahrscheinlich auch, weil seine Ausführungen als Teil des einflussreichen Maḥzor Vitry weite Verbreitung fanden.77 Das bereits erwähnte Werk wird Simchah ben Samuel aus Vitry (gest. vor 1105) zugeschrieben, der ein Zeitgenosse und Schüler Raschis war.78 Es handelt sich bei der Schrift um eine Sammlung von halachisch-liturgischen Regeln aus der Schule des Raschi bezüglich des gesamten liturgischen Zirkels, wobei der Text durch spätere Tosafisten mit weiterführenden Diskussionen, wie beispielsweise die Vorstellungen des Rabbenu Tam zur Herstellung eines sefer torah, bereichert wurde. In den deutschen Gemeinden setzten sich die Diskussionen um die Notwendigkeit einer rituellen Weihe im Schreibkontext fort, wobei ab dem 13. Jahrhundert eine bemerkenswerte rituelle Dynamik festzustellen ist. Der direkte Schüler französischer Tosafisten, Eliezer ben Samuel aus Metz, der noch im 12. Jahrhundert 76 Rabbenu Jacob Tam, Hilchot [tiqqun] sefer torah, 92–94. 77 Maḥzor Vitry § 517. 78 Ernst Daniel Goldschmidt, „Mahzor Vitry“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 13, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 366–367.

4.5 Rabbinische Perspektiven auf die rituelle Weihe der Schreibmaterialien 

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vermittelnd zwischen den französischen und deutschen Schulen wirkte,79 thematisierte in seiner halachisch-ethischen Abhandlung, dem Sefer jere’im, auch die Weihe der Materialien zum Schreiben der STaM. Eliezer bezieht sich dabei auf den Talmud, die Geonim und insbesondere auf seine Lehrer, ohne etwas wesentlich Neues beizutragen. Auch der aus Böhmen stammende Rabbi Isaak ben Moses aus Wien (gest. ca. 1250), der in einem regen Austausch mit französischen und deutschen halachischen Autoritäten stand, gibt kaum Einblick in die tatsächliche Praxis seines regionalen Umfelds, sondern reflektiert die Lehrmeinungen zu der Thematik auf einer theoretischen Ebene.80 Doch andere Tosafisten aus dem deutschen Raum überschreiten den engen halachischen Rahmen, der von Rabbenu Tam und seinem Kreis gesetzt wurde. So verfolgt der Schüler des französischen Tosafisten Isaak aus Dampierre (Ri, gest. ca. 1185), Baruch ben Isaak aus Worms, in seinem Sefer ha-terumah einen mehr an der Praxis orientierten Ansatz. Zunächst einmal plädiert er in Übereinstimmung mit Rabbenu Tam (und im Gegensatz zu Raschi) für ein Ritual, das obligatorisch bei der Schwarzfärbung der Gehäuse und Riemen der Tefillin, der Herstellung der Häute für die STaM und dem Schreiben des Textes und der Namen Gottes sein soll. Für den rituellen Akt der Weihe legt er darüber hinaus eine Art Choreographie fest, die das ganze Prozedere erstmals genauer beschreibt. Besondere Bedeutung in diesem Ritual misst Baruch der laut auszusprechenden Formel bei. Wegen der großen Heiligkeit der STaM sei es notwendig, dass man laut vernehmbar spreche: „Ich schreibe zum Zwecke Israels und seiner Heiligkeit“. Und wenn das so [gemacht wird], sollte derjenige der [die Formel] ausspricht, das nicht für jeden einzelnen Buchstaben tun, sondern am Beginn der Schreibarbeit […]. Es reicht auch nicht aus, dies in Gedanken zu tun, vielmehr muss [die Formel] laut und vernehmbar ausgesprochen werden.81

Der Schreibablauf ist hier in einzelne Sequenzen unterteilt, die dem Schreiber einen performativen Rahmen für seine Tätigkeit geben. Diesen ersten Anzeichen einer stärkeren Gewichtung des rituellen Charakters der Schriftrollenherstellung folgten ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zahlreiche Rechtsgelehrte aus dem deutschen Raum mit weiteren Details.

79 Eliezer b. Samuel aus Metz, Sefer jere’im, Abschnitt 399. Eliezers Lehrer waren Rabbenu Tam, Samuel ben Meir (Raschbam, gest. ca. 1174) und Hajjim Cohen aus Paris (12. Jhd.); vgl. Israel M. Ta-Schma, „Eliezer ben Samuel of Metz“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), in: Encyclopaedia Judaica (Bd. 6, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 329. 80 Isaak b. Moses Wien, Or zaru‘a, Abschnitt  533, 534; Shlomoh Zalman Havlin, „Isaac ben Moses of Vienna“, in: Encyclopaedia Judaica (Bd. 10, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 45–46. 81 Baruch b. Isaak von Worms, Sefer ha-terumah, Hilchot sefer torah, Abschnitt 192.

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Der Schule des Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg (MaHaRaM, gest. 1293) kommt bei dieser Entwicklung eine wesentliche Rolle zu, da sie nicht nur das rituelle Konzept der Weihe im Kontext der Schriftrollenherstellung erheblich erweiterte, sondern mit expliziten Bezügen zur christlichen Umweltkultur auch Anhaltspunkte für die Klärung der Ursachen dieser rituellen Dynamiken gibt.

4.5.2 Exkurs: Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg und die hirschlederne Torarolle Am 10.  November 1938 verbrannte im Museum der alten Synagoge von Worms eine hirschlederne Torarolle, über deren Herkunft eine erstaunliche Geschichte überliefert ist. Der Legende nach stammte die Handschrift aus der Feder des großen Rechtsgelehrten Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg. Er habe die heilige Schriftrolle während seiner Gefangenschaft im elsässischen Ensisheim geschrieben, in einer Kiste verborgen und diese in den Rhein werfen lassen. Kaum im Wasser steuerte die Torarolle auf Worms, die Geburtsstadt des Rabbi Meir zu, wobei sie einige Hürden zu nehmen hatte. Auf ihrem Weg in den Gründungsort aschkenasischer Gelehrsamkeit versuchten immer wieder Christen, den seltsamen Gegenstand vom Uferrand aus dem Wasser zu fischen. Doch vergebens: Die Torarolle wich vor ihnen in die Mitte des Flusses zurück und setzte ihren Weg unverdrossen fort, um schließlich wohlbehalten in die Hände der Juden von Worms zu gelangen. Für diese soll es ein Leichtes gewesen sein, der Kiste mit dem wertvollen Inhalt habhaft zu werden.82 Rabbi Meir erscheint in Legenden, Hagiographien und sogar Romanen als eine Art Heiliger, der  – wie in der oben mitgeteilten Legende  – mit gleichsam magischen Kräften einer Torarolle seinen Geist einhauchen und die Gesetze der Natur außer Kraft setzen konnte. Zeitgenossen berichten darüber hinaus von religionsgesetzlichen Entscheidungen, über die sich „die ganze Welt wundere“. So drückte es Rabbi Eliezer ben Ephraim – ein Tosafist aus Frankreich oder Deutschland – aus, der zudem bemerkte, dass Meir von Rothenburg „die Räder der Thora

82 Die Wurzeln dieser Geschichte führen gar nicht so weit zurück, nämlich zu Eliah ben Azriel aus Wilna in das beginnende 18. Jahrhundert. Vgl. Samuel Baeck, R. Meir ben Baruch aus Rothenburg. Sein Leben und Wirken, seine Schicksale und Schriften, Frankfurt a. M. 1895; Abraham Epstein, „Die Wormser Thora-Rolle auf Hirschpergament und ‫“ספר ר מאיר‬, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 48 (1904), S. 604–609; Lucia Raspe, Jüdische Hagiographie im mittelalterlichen Aschkenas, Tübingen 2006, S. 123–126; Johannes Heil, „Der Maharam – Rabbi Meir von Rothenburg und seine Schule“, in: Geschichte und Kultur der Juden in Rothenburg o. d. T., hrsg. von Andrea M. Kluxen und Julia Krieger, Würzburg 2012, S. 33–46.

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dorthin lenken kann, wohin er will, so daß dadurch seine Worte unfassbar und dem Minderbegabten räthselhaft erscheinen“83. Bei allem Respekt vor der Gelehrsamkeit des Rothenburger Rabbis mahnt er ihn, sich doch bitte nicht „gegen die Entscheidungen der Lehrer Frankreichs aufzulehnen“, da dies nur zu Streit in den jüdischen Gemeinden führe.84 Die Forschung entwirft dagegen das Bild eines Traditionalisten, der durch seine religionsgesetzliche Kompetenz, sein enormes Wissen und seine diplomatischen Fähigkeiten eine große Anzahl von Schülern um sich versammeln konnte. Rabbi Meir sei jedoch „kein Neuerer“ gewesen. Vielmehr könne man sein Werk „als konsequente Fortschreibung innerhalb der ererbten gelehrten Tradition des Rheinlands mit den ShUM-Gemeinden im Zentrum und den wachsenden Gemeinden in deren Umgebung […] betrachten.“ Die Leistung des Rabbi Meir bestehe dementsprechend in der „systematischen Erfassung, Inventarisierung, auch Anwendung und Transformierung dieses Erbes.“85 Dass Meir zu den herausragenden Gelehrten des mittelalterlichen Ashkenaz gezählt wird,86 liegt zum einen an dem großen Schatz an Responsen, die von ihm überliefert sind. Er war der erste Tosafist, der nicht nur seine eigenen Rechtsentscheide, sondern auch die seiner Kollegen und Lehrer aufbewahrte und in großem Umfang sammelte. Kanarfogel ist davon überzeugt, dass „these activities were undoubtedly undertaken as a result of the increased pressures of the time. Legal decisions, preserved fully and authoritatively in the form of responsa, left little room for uncertainty, debate, or modification.“87 Zum anderen ist es Rabbi Meir und seinen Schülern gelungen, die klar umrissenen Lehrmeinungen der großen sefardischen Halachisten Maimonides und Isaak Alfasi kreativ mit der diskursiven dialektischen Methode der Tosafisten zu verbinden: „Maharam and his students venerated these two pillars of halakhah from the Sefardic orbit precisely because they provided additional stability and finality for their own rulings.“88 Die besonders angespannte Situation, der aschkenasische Juden in Frankreich und Deutschland im 13. Jahrhundert ausgesetzt waren und die letztlich auch zu neuen Formen und Sichtweisen innerhalb des rabbinischen Denkens geführt

83 Baeck, R. Meir ben Baruch aus Rothenburg, S. 32. 84 Ebd. 85 Heil, „Der Maharam“, S. 41. 86 Ephraim Kanarfogel, „Preservation, Creativity, and Courage: The Life and Works of R. Meir of Rothenburg“, in: Jewish Book Annual 50 (1992–1993), S. 249–259. 87 Kanarfogel, „Preservation, Creativity, and Courage: The Life and Works of R. Meir of Rothenburg“, S. 251. 88 Kanarfogel, „Preservation, Creativity, and Courage: The Life and Works of R. Meir of Rothenburg“, S. 252.

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hat, spiegelt sich in den Lebensumständen Meirs wider. Meir ben Baruch, der in der jüdischen Literatur meist mit dem Akronym MaHaRaM – Morenu ha-Rav Meir („unser Lehrer der Rabbi Meir“) – benannt wird, wurde wahrscheinlich 1220 als Nachkomme einer langen Linie von Rabbinern in Worms geboren. Sein Vater, Rabbi Baruch, wirkte dort als Richter an einem Rabbinatsgericht, und man kann davon ausgehen, dass Meir sich unter der Anleitung seines prominenten Vaters schon sehr früh mit der Welt des jüdischen Religionsgesetzes und der Praxis seiner mitunter schwierigen Umsetzung innerhalb einer christlichen Umweltkultur vertraut gemacht hat. Der noch junge Meir setzte die in Worms begonnenen Studien der jüdischen Traditionsliteratur in Würzburg in der Schule des Rabbi Samuel ben Menachem und des Rabbi Isaak ben Moses aus Wien fort. Mit letzterem verband Meir eine Affinität zu den Ḥasidei Aškenaz, die wahrscheinlich schon von seinem Vater, der ein Schüler des Eleazar aus Worms war, angelegt wurde.89 Meir studierte eine Zeit lang in Mainz unter Anleitung von Rabbi Judah ben Moses ben Salomon ha-Kohen und wahrscheinlich auch von Rabbi Samuel von Bamberg Gemeinderecht, bis es ihn in die berühmten Tosafistenschulen nach Frankreich zog. Dort setzte er bei Rabbi Jehiel ben Josef aus Paris (gest. ca. 1265) – einem engen Kollegen seines Jugendlehrers Isaak ben Moses aus Wien  –  seine Studien fort. Meir arbeitete mit Rabbi Ezra aus Montcontour (12./13. Jhd.), Rabbi Samuel ben Solomon aus Falaise (13. Jhd.) und Rabbi Samuel aus Evreux (13. Jhd.) und machte sich so auf seinen vielen Reisen zwischen etwa 1240 und 1245 mit der jüdisch-rabbinischen Elite Frankreichs und Deutschlands vertraut, bevor er sich in Rothenburg ob der Tauber niederließ. Weshalb Rabbi Meir nach Rothenburg kam, einem – wie Johannes Heil bemerkte – „bis dahin auf der jüdischen Landkarte völlig unbeschriebenen Blatt […] und intellektuell noch in keiner Weise bestellten Ort abseits der älteren jüdischen Schulen“90 wie Worms, Speyer oder Mainz, ist schwer zu sagen. Vielleicht war in dieser Zeit schon die Tendenz zu spüren, dass sich die „traditionellen Königslandschaften vom Rhein allmählich weg an den Main und weiter nach Franken hinein“91 verschoben. Mit Rabbi Meir kam die jüdische Gelehrsamkeit nach Rothenburg. Er gründete dort eine Schule, die bald Studenten aus allen Gemeinden Deutschlands und den Nachbarländern anzog. Seine herausragenden Schüler waren Rabbi Meir ha-Kohen, Mordechai ben Hillel ha-Kohen und Rabbi Ascher ben Jehiel Aschkenazi, der nach seiner Flucht aus Deutschland den Einflussbereich des Rechtsgelehrten bis nach

89 Vgl. Kanarfogel, „Peering through the Lattices“, S. 21, 47, 61 und 252. 90 Heil, „Der Maharam“, S. 37. 91 Ebd.

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Spanien ausweitete. Viele Ansichten und Entscheidungen des Meir sind in den Schriften seiner Schüler überliefert. Meir erlebte in seinen jungen Jahren als Zeuge der öffentlichen Talmudverbrennung in Paris 1242 die gewaltsame Bedrohung der jüdischen Kultur in Aschkenas und sah die jüdischen Gemeinden auch in den folgenden Jahrzehnten einem wachsenden Antijudaismus ausgesetzt. Unter der Herrschaft Rudolfs I. (1273–1291) sahen sich viele Juden veranlasst, Deutschland aufgrund außergewöhnlich hoher Steuerforderungen, Ritualmordbeschuldigungen, angeblichen Hostienschändungen und der massiven Gewalt gegen jüdische Gemeinden zu fliehen. Auch Meir und seine Familie brachen aus spirituellen Gründen, aber sicher auch wegen der zunehmenden Einschränkungen im Jahre 1286 nach mehr als vierzig Jahren Arbeitsleben aus Rothenburg auf, um – wie berichtet wird – ins Heilige Land zu ziehen. Der unglückliche Verlauf dieses fluchtartigen Aufbruchs ist bekannt: Rabbi Meir wurde unterwegs erkannt, denunziert und von König Rudolf I. in Kerkerhaft gesetzt. Im Jahr 1280 hatte der König die Bewegungsfreiheit „seiner Juden“ stark eingeschränkt und ein Edikt erlassen, das mit seiner drakonischen Interpretation des servi camerae nostrae Juden das freie Reisen enorm erschwerte. Der Inhalt der Anklage, die König Rudolf gegen Rabbi Meir erhob, ist nicht überliefert. Doch es ist sehr wahrscheinlich, dass Meir wegen unerlaubten Verlassens des Landes den Rest seines Lebens – sieben Jahre – im Gefängnis, die meiste Zeit davon in Ensisheim, verbrachte.

4.5.3 Die Schule des Meir ben Baruch von Rothenburg Obwohl der Maharam wahrscheinlich nie  – wie in der Legende überliefert  – eine Torarolle selbst geschrieben hat, setzten er und vor allem seine Schüler doch wichtige Impulse für die Herstellungspraxis der heiligen Schriftrollen. Der Rothenburger Kreis diskutierte die weiter oben dargestellten rabbinischen Positionen in bemerkenswerter Breite. Die Ausführungen zur korrekten Herstellung von rituell reinen STaM beinhalten nicht nur weitgehende halachische Konsequenzen für die Schreiber, sondern geben auch neue Einblicke in die Praxis und die damit verbundenen Berührungspunkte mit der christlichen Umweltkultur. Das Weiheritual gewann mit Blick auf die Bestimmung der Schreibmaterialien für ihren Zweck und den Schreibprozess selbst enorm an Bedeutung. So legte Ascher ben Jehiel Aschkenazi (Ascheri oder Rosch, gest. 1327) großes Gewicht auf ein Weiheritual nicht nur bei der Herstellung koscherer Schreibhäute, sondern auch mit Blick auf den Schreibprozess. Ascher studierte in den Talmudschulen Frankreichs, wahrscheinlich auch in Troyes, und wirkte später in Köln, Koblenz und Worms, wo er seinem Lehrer Meir ben Baruch von Rothenburg begegnete.

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1303 verließ er aufgrund der Folgen des sogenannten Rindfleischmassakers (1298) Deutschland und wurde von Solomon ben Abraham Adret mit offenen Armen in Barcelona aufgenommen, den er in seiner kritischen Haltung hinsichtlich der Maimonidischen Philosophie im Streit mit den südfranzösischen Gelehrten unterstützte.92 Ascher konstatiert in seinen Ausführungen zu den Halachot qeṭannot, dass „am Beginn des Schreibens eines sefer torah [der Schreiber verlauten lassen solle]: ‚Dieses sefer torah schreibe ich im Namen der Heiligkeit der Tora des Moses‘.“93 Der Talmudgelehrte betont auch an anderer Stelle, dass eine verbale Deklaration vor dem Schreiben einer heiligen Schriftrolle durchaus notwendig sei.94 Beim Kopieren des Gottesnamen erachtet er es allerdings als ausreichend, die Formel „im Namen der Heiligkeit des Namens“ [‫צריך שיחשוב לשם‬ ‫ ]קדושת השם‬in Gedanken zu sprechen, auch wenn wegen der großen Heiligkeit des Gottesnamens diesem Akt besonderes Gewicht zukomme. Ascher versichert jedoch, dass obwohl der gesamte Prozess des Schreibens der Tora lišmah zu erfolgen habe, das Schreiben der göttlichen Namen lišmah auf einer anderen, höheren Stufe stehe und eine Torarolle, die ohne die Heiligung des Namens hergestellt wurde, wertlos sei.95 Auch Mordechai ben Hillel ha-Kohen (gest. 1298 mit seiner Frau und fünf Kindern in der Folge des sogenannten „Rindfleischmassakers“)  – ein Schüler der Tosafisten Meir ben Baruch von Rothenburg, Isaak ben Moses aus Wien und Perez ben Elijah aus Corbeil (RaF, gest. ca. 1295) – befürwortet mit Blick auf die Schreibhäute das laut vernehmbare Aussprechen einer Weiheformel, deren Effekt von der richtigen Intention des Schreibers abhinge. Eine Haut, die für die heiligen Schriftrollen reserviert sei, solle durch einen Juden lišmah bearbeitet sein, indem der Jude die Häute lišmah behandelt oder assistiert. Es ist notwendig, dass er eine Formel spricht: „Ich gebe [die Haut] zur Bearbeitung im Namen der Sache der Heiligkeit [‫]לשם דבר קדושה‬.“ Und so [ist auch bezüglich] der Schaufäden [zu verfahren]. Und am Beginn des Schreibens eines sefer torah, der Tefillin und Mezuzot ist es notwendig, eine Formel zu sagen: „Ich schreibe alles im Namen der Tora Israels und die Namen Gottes im Namen der Heiligkeit.“ […] Und es reicht nicht, all dies in Gedanken zu tun. [‫ואין די בכל אלו‬ ‫]במחשבה‬.96

92 David Derovam, „Asher ben Jehiel“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 2, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 563–564. 93 Ascher ben Jehiel, Halachot qeṭannot, Hilchot sefer torah, Abschnitt 4. Die Halachot qeṭannot sind Teil seines Werks Pisqei ha-Roš (auch Hilchot ha-Roš oder Sefer Ašeri genannt) und wesentlich von den aschkenasischenTosafisten-Schulen geprägt. 94 Ascher ben Jehiel, Halachot qeṭannot, Hilchot Tefillin, Abschnitt 3. 95 Ebd. 96 Mordechai ben Hillel ha-Kohen, Halachot qeṭannot, (Menaḥot) 966. Die Halachot qeṭannot sind Teil des umfangreichen Talmudkommentars des Modechai, dem Sefer Mordechai. Samuel Schlett-

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Mordechai schließt auch die Heiligung des Namens in den akustischen Raum ein.97 Auch Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg (Ende des 13. Jhds.) plädiert in seinem opus magnum Haggahot Maimunijjot, seinen Ergänzungen zu Maimonides’ Mišneh torah, für eine obligatorische Weihe der Häute. Darüber hinaus betont der bedeutende Schüler des Maharam, dass, wenn ein Nichtjude [‫ ]כותי‬die Häute für das Schreiben präpariere, ein Jude ihm assistieren solle, um im richtigen Moment das Material „zum Zwecke der Heiligkeit“ mit einem für alle Anwesenden zu hörenden Ausspruch zu weihen. Dies solle vorzugsweise am Beginn des Gerbprozesses stattfinden, während alle anderen Arbeiten auch der nichtjüdische Handwerker ausführen könne. Rabbi Meir ha-Kohen gibt außerdem zu bedenken, dass Nichtjuden die Zeichen gefälscht haben könnten, die ein Pergament als „koscher“ auszeichnen.98 Das offen ausgesprochene Unbehagen jüdischer Halachisten hinsichtlich christlicher Pergamenthersteller setzt sich innerhalb der deutschen Schreiberliteratur des späten 13./frühen 14.  Jahrhunderts fort. Ein besonders eindrückliches Zeugnis dafür ist die in Schreiberkreisen bis heute einflussreiche Schriftensammlung Baruch še-amar, deren ältester Bestandteil aus dem späten 13. oder stadt gab 1376 eine Zusammenfassung des Werkes (Mordechai ha-qatan) heraus und es wird diskutiert, ob Samuel Schlettstadt auch diesen Abschnitt die Halachot qeṭannot er- bzw. bearbeitet hat. Vgl. Israel M. Ta-Schma und Yehoshua Horovitz, „Mordecai ben Hillel ha-Kohen“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 14, 2. Auflage) 2007, S. 480–481, hier 481; Shlomoh Z. Havlin, „Schlettstadt, Samuel ben Aaron“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 18, 2. Auflage, 2007, S. 142–143, hier 143. 97 Dieses große Gewicht auf der Weiheformel wurde von folgenden Generationen mit kleinen Varianten übernommen. Das einflussreichste rabbinische Werk der frühen Neuzeit, der Šulḥan aruch (1565) des Josef b. Efraim Caro aus Toledo, übernahm diese Besonderheit und verlangte die performative Deklaration am Anfang des Schreibprozesses einer Schriftrolle, während des Kopierens der Namen Gottes und während der Bearbeitung der Schreibhäute. Die Formeln zur Heiligung der Häute [‫]עורות אלו אני מעבד לשם‬, dem Schreiben der Torarollen und Tefillin [‫אני כותב‬ ‫ ]לשם קדושת‬und der Heiligung der Namen [‫ ]אני כותב לשם קדושת השם‬entsprechen den Mustern, die sich am Ende des 12. Jahrhunderts bzw. am Anfang des 13. Jahrhunderts in Aschkenas etablierten. Abgesehen von kleinen Veränderungen sind sie auch in späteren Schreiberhandbüchern zu finden, wie beispielsweise im Sefer bnei Jonah des Böhmischen Talmudisten und sofer STaM Jonah ben Elijah Landsofer (gest. 1712), in dem Sefer melechet šamajim des Isaak Dov Halevi Bamberger (gest. 1879), oder im Qeset ha-sofer des Solomon Ganzfried. Ganzfried erklärt in seiner späten Schrift, warum die Formel laut auszusprechen sei: „Einige sagen, dass es notwendig ist, die Formel über die Lippen zu bringen […], den man kann nicht Heiligkeit erzeugen durch Denken allein [‫]אין הקדושה חלה במחשבה‬, sondern durch Sprechen, da Sprechen einen tieferen Eindruck hinterlässt [‫]שהדיבור עושה רושם גדול‬.“ 98 Rabbi Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg, Haggahot Maimunijjot, Hilchot tefillin, ve-mezuzah, ve-sefer torah, I:11.

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frühen 14.  Jahrhundert stammt. Das umfangreiche Schreiberhandbuch enthält die von Rabbi Abraham ben Moses aus Sinsheim (gest. 1320), einem Schüler des Maharam, gesammelten und neu formulierten Regelungen zur Herstellung von Tefillin Tiqqun tefillin mit einem essentiellen Kommentar des Rabbi Samson ben Eliezer (geb. ca. 1330), der das Regelwerk zwischen 1380 und 1383 überarbeitete, erweiterte und den heutigen Titel beisteuerte.99 Der aus Sachsen stammende Schreiber Samson war eine Autorität wenn es um das Schreiben von Tefillin ging und vertrat auf seinen Reisen durch europäische Zentren jüdischen Lebens, aber auch nach seiner Emigration nach Palästina die deutsche Tradition des jüdischen Religionsgesetzes, wobei ihm Meir ben Baruch von Rothenburg als Maßstab diente. Samson ist als „Baruch še-amar“ in das Gedächtnis der jüdischen Geistesgeschichte eingegangen, da er in seiner Funktion als Chazzan den gleichlautenden Eröffnungssegen des Schacharit (Morgengebets) auf außerordentlich melodiöse Weise vorzutragen imstande gewesen soll.100 Anfang des 15. Jahrhunderts hat wiederum der Schüler Samsons, Rabbi Jom Tov Lipmann Mühlhausen (14./15. Jhd.), die Vorschriften zur korrekten Form der Buchstaben um einen weiteren Kommentar, dem Sefer alfa beta, bereichert. Auf den Beitrag von Jom Tov wird in Kapitel 10 näher eingegangen werden. Das über einen Zeitraum mehrerer Dekaden entstandene Baruch še-amar ist das früheste aschkenasische Zeugnis eines praktikablen Schreiberhandbuches – einer neuen Literaturgattung, die sich vor allem vom 15.–17.  Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute.101 Die Autoren solcher Handbücher waren meist selbst professionelle 99 Vgl. Sefer baruch še-amar, in: Qoveṣ Sifrei STaM, Menachem M. Meschi-Sahav (Hrsg.), Jerusalem 1970, S. 13–194; Israel Ta-Schma, „Erez Israel Studies“ (heb.), in: Šalem 1 (1974), S. 94–95; ders., „Towards a Characterisation of 14th Century German Rabbinic Literature“ (heb.), in: Alei sefer 4 (1977), S. 37–41. In seinem Kommentar zum Sefer baruch še-amar bemerkte Jom Tov Lipmann, dass er das Wissen um die Formen der Buchstaben vor 33 Jahren von Rabbi Samson erhalten habe. Da er das Sefer alfa beta nach seiner 1413 vollendeten Schrift Sefer ha-eškol verfasste (vgl. Judah Kaufmann, Rabbi Jom Tov Lipmann Mühlhausen (heb.), New York 1927, S. 121), geht die Forschung davon aus, dass der Sefer baruch še-amar nicht vor 1380 entstanden ist. Wie auch Israel Yuval bemerkte, stammt das früheste handschriftliche Zeugnis des Buches aus dem Jahre 1383 (Vatican Ebr. 283); vgl. Israel Jacob Yuval, „Magie und Kabbala unter den Juden im Deutschland des ausgehenden Mittelalters“, in: Judentum im deutschen Sprachraum, hrsg. von Karl E. Grözinger, Frankfurt a. M. 1991, S. 173–189, hier S. 186 (Anm. 12). 100 Israel M. Ta-Schma, „Samson ben Eliezer“, in: Encyclopaedia Judaica (Bd. 17, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 753. 101 Zu dieser aus der Praxis heraus geschriebenen Literatur gehört auch der Sefer bnei Jonah des Böhmischen Talmudisten Jonah ben Elijah Landsofer (1678–1712), dessen Vater und Großvater bereits professionelle Schreiber waren. Wie Jom Tov Lipmann war auch er mit der Kabbalah vertraut – jedoch ein offener Gegner der sabbatianischen Bewegung. Landsofers Sefer bnei Jonah soll auch für den aus Ungvar (heutige Ukraine) stammenden Solomon Ganzfried den Ausschlag

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Schreiber, die ihr Wissen an Schüler oder nachfolgende Generationen weitergeben wollten und auf diese Weise ein sehr lebendiges Bild aus der Welt der sofrei STaM zeichneten. Rabbi Abraham ben Moses aus Sinsheim behandelt in seinem Tiqqun tefillin auch die korrekte Herstellung der Schreibhäute für rituell reine Schriftrollen. Seine Ausführungen sind in ihrer Ausführlichkeit außerordentlich interessant. In Anbetracht der wenigen uns erhaltenen Pergamentrezepturen aus der Zeit ist dieses Zeugnis von jüdischer Hand in allgemein kodikologischer Hinsicht besonders wertvoll. Es gibt wertvolle Einblicke in die mittelalterliche Pergamentkunst Europas und zeigt gleichzeitig, wie groß die Akzeptanz des europäischen Pergaments innerhalb der jüdischen Schreiberzunft tatsächlich war. Darüber hinaus gewährt die Schrift Auskunft über die mitunter problematische Zusammenarbeit jüdischer Schreiber mit christlichen Pergamentern. Hier sei ein längerer Abschnitt zur Herstellung koscherer Schreibhäute für Tefillin zitiert: Zunächst nehme man die Häute eines Kalbs, um aus ihnen qelafim zu machen […]. Dann sollte man sie kennzeichnen indem man auf der Innenseite oben den Namen des Abschnittes schreibt, um sie von den [Häuten] zu trennen, auf denen das Zeichen mit einer Nadel oder einer Ahle gemacht ist, denn der Nichtjude fälscht [‫]כי הגוי מזייף‬. Dann lege man die Häute in klares Wasser, ohne Kalk, denn die Haut für die batim würde sonst nicht gut trocknen. Auch die qelafim wären überhaupt nicht gut, wenn man sie nicht für mindestens einen oder zwei Tage in klares Wasser legte – entsprechend der Trocknungs-

gegeben haben, sich mit den Regeln des rituellen Schreibens tiefgehend zu befassen. Ganzfried deutete seine zufällige Entdeckung des Buches auf einem Markt als Fingerzeig Gottes, der ihn dazu veranlasste, das wohl einflussreichste Handbuch für Schreiber der Neuzeit, den Sefer qeset ha-sofer, zu verfassen. In der systematischen Abhandlung zum Schreiben der STaM und der Esterrollen, das 1835 in Buda (Ofen), wo sich der einzige hebräische Verlag Ungarns befand, gedruckt wurde, zeigt sich wie in Ganzfrieds anderen halachischen Arbeiten auch, der Wille, das rabbinische Gesetz für die praktische Anwendung verstehbar zu machen. Das Tintenfässchen des Schreibers (Qeset ha-sofer) wäre sicherlich nicht so schnell in den Kanon der halachischen Schriften aufgenommen worden, hätte es nicht das in einigen Ausgaben mit abgedruckte Empfehlungsschreiben des Moses Sofer aus Pressburg (Bratislava) gegeben, indem der orthodoxe Rabbiner Ganzfrieds Gelehrsamkeit und die Wichtigkeit des Buches für die Schreiberzunft anpries. Der Sefer qeset ha-sofer wurde 1851 in Zolkiew, 1857 in Königsberg und 1860 in Warschau neu aufgelegt und 1871 durch eine wesentlich umfangreichere Version, in der die ursprüngliche Abhandlung von 1835 mit einem Kommentar Ganzfrieds – Liškat ha-sofer – erweitert und durch zusätzliche Bestimmungen ergänzt erneut erschien. Wie sein Vorgänger Landsofer, und wahrscheinlich die meisten Autoren der Schreiberhandbücher der Moderne auch, ist Ganzfried eher dem konservativen Lager zuzurechnen. Er positionierte sich offen gegen die in Ungarn ab dem 19. Jahrhundert stärker werdenden Neologisten, zeigte sich jedoch tolerant gegenüber der chassidischen Bewegung, mit deren prominentem Vertreter Zvi Hirsch Friedmann ihn eine tiefe Freundschaft verband.

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zeit. In dem Moment, da sie in klares Wasser gelegt werden, sage man: „Im Namen der Heiligkeit der Tora Israels, zum Zweck [der Herstellung von] Tefillin, Mezuzot und Amuletten lege ich diese Häute ins Wasser“ [‫לשם קדושת תורת ישראל לשם תפילין ומזוזות וקמיעין אני משים אלו‬ ‫]העורות במים‬. Nachdem sich die Häute einen oder zwei Tage im Wasser vollgesogen haben, hole man sie aus dem Wasser heraus und schabe sie mit einem scharfen Messer auf der Fleisch- und Blutseite ab. Danach lege man sie in Wasser mit Kalk, fett und gut. Doch bevor [die Häute] in Kalk eingelegt werden, sollte der Kalk in dem Gefäß durchgeschüttelt werden, damit er fett werde, und man sage: „Im Namen der Heiligkeit der Tora Israels, im Namen der Tefillin, Mezuzot und Amulette bearbeite ich diese Häute“. Und es genügt nicht, in Gedanken [zu sprechen]. Auch wenn [die Häute] ins klare Wasser gelegt werden, soll man auf diese Weise sprechen, denn all diese Dinge sind für die Bearbeitung notwendig. […] Man lege nun die Häute in diesen Kalk und lasse ihn einwirken, bis das Haar von ihnen abgefallen ist. Holt man sie heraus, bevor das Haar abgefallen ist, kann man nicht auf ihnen schreiben, denn es ist diftera. Die Erklärung dafür ist, dass [die Haut] nicht so vollständig bearbeitet wurde, wie es notwendig ist und [dadurch für den rituellen Gebrauch] inakzeptabel [‫ ]פסול‬ist. Dementsprechend ist in der Gemara erklärt, dass [die Häute für die heiligen Rollen] mit Gerbstoffen behandelt sein sollten. Oder aber es erfolgt eine Bearbeitung mit etwas [der Gallapfellösung] Vergleichbarem, wie aus dem Kommentar des Rabbenu Tam102 hervorgeht. […]. Du solltest Dich fernhalten von qelafim, die in Thüringen hergestellt wurden – am ersten Tag aus dem klaren Wasser geholt und ohne Kalk behandelt –, da sie schlechter als diftera und weder für einen sefer torah noch für Tefillin und Mezuzot, Megillot und Amulette akzeptabel sind. Wie in der Gemara gesagt ist: „Auf diftera geschrieben sind sie nicht akzeptabel“103. Und wenn nach acht oder neun Tagen das Haar von [den Häuten] abgefallen ist, hole man sie aus dem Kalk und entferne das Haar mit einem scharfen Messer. Danach lege man sie zurück in die Kalklösung, rühre jedoch vorher [die Kalklösung] mit einem Stab und sage laut vernehmbar: „Im Namen der Heiligkeit der Tora Israels usw.“ Wenn die Häute groß sind, müssen sie, nachdem das Haar entfernt wurde, fünf oder sechs weitere Tage in dem Kalk bleiben. Bei [der Haut] eines Fötus reichen drei oder vier Tage. […] Nachdem sie aus der zweiten Kalklösung herausgeholt wurden – falls ein Nichtjude derjenige ist, der arbeitet –, assistiere ihm nun ein Jude beim Aufspannen der Haut, die qelaf sein wird. Er soll die Haut der Länge nach mit seiner ganzer Kraft spannen, damit das qelaf lang genug sein wird, um darauf die vier Abschnitte eines tefillin šel jad in einem Stück schreiben zu können […]. Und wenn die Haut gespannt ist, nehme man ein scharfes Messer und bringe so viel Wasser wie möglich zu beiden Seiten der Haut. Dann lässt man den Nichtjuden alles Notwendige tun […].104 102 Jakob ben Meir Tam zu bT Meg 19a. 103 bT Šabb 79a; Giṭ 22a; Meg 19a. 104 Abraham ben Moses aus Sinsheim, Tiqqun Tefillin, S. 27–37. Abraham bespricht an anderer Stelle auch die rituelle Weihe des beginnenden Schreibprozesses und der göttlichen Namen. Der

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Das Regelwerk des Rabbi Abraham ben Moses aus Sinsheim deutet wiederholt auf die Gefahr hin, dass ein Nichtjude die Kennzeichnung einer koscheren Haut „gefälscht“ haben könne. Offensichtlich kennzeichneten Juden Schreibhäute mit Lochmustern, die den Käufer darüber informierten, ob ein Pergament koscher und damit für das Schreiben der heiligen Rollen geeignet ist oder nicht. Welche Probleme die Beschaffung von koscheren Schreibhäuten aus jüdischer Perspektive mit sich brachte, lässt die Bemerkung des Rabbi Abraham aus Sinsheim aus dem zitierten Abschnitt nur erahnen. Samson ben Eliezer gibt tiefere Einblicke, wenn er diesen Abschnitt dahingehend kommentiert, dass das Streben nach finanziellem Gewinn den Nichtjuden [‫ ]כשיש לגוי ריוח בדבר‬zu einer bewussten Täuschung bewege. Es sei „besser, wenn dem Nichtjuden kein finanzieller Gewinn aus der Sache erwüchse, denn wozu solle er fälschen; welchen Vorteil zöge er aus dieser Fälschung?“105 Er empfiehlt daher mit einem Verweis auf Maimonides’ strikte Position, wonach man besser keine heiligen Schriften auf von Nichtjuden hergestellten Schreibstoffen kopiere, nach den Worten des Rabbi Abraham aus Sinsheim zu handeln und den Herstellungsprozess von koscherem Pergament durch einen Juden begleiten zu lassen: denn auch wenn man die Häute mittels einer Ahle durch Löcher in Buchstabenform gekennzeichnet, ist es für den Nichtjuden sehr leicht, zu fälschen. Er könnte Löcher dort hinzufügen, wo noch keine Löcher sind und mit einer Ahle in der Weise Löcher stechen, wie es ein Jude tut, [und das obwohl] der Nichtjude einsieht, dass der Jude den Betrug durch Inaugenscheinnahme der Zeichen erkennen kann oder auch weil diese Löcher neueren Datums sind.106

Andere Quellen berichten von christlichen Pergamenthändlern, die Flicken auf Löcher gesetzt haben sollen, um ihre jüdische Klientel zu täuschen.107 Es ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass nicht nur jüdische, sondern auch christliche Quellen ab dem 13.  Jahrhundert die geringe Vertrauenswürdigkeit von Pergamentern beklagen. Nikolaus aus Bibra (13. Jhd.) lässt genau wie Rabbi Abraham aus Sinsheim kein gutes Haar an den Pergamentherstellern Erfurts, die

Schreiber soll „bevor der qulmus zu schreiben beginnt, mit dem Mund [laut] aussprechen ‚im Namen der Heiligkeit der Tora Israels schreibe ich diese Tefillin‘.“ Das gleiche Prozedere gilt für das Schreiben der Gottesnamen und jeden einzelnen Abschnitt der Tefillin. Abraham ben Moses aus Sinsheim, Tiqqun Tefillin, S. 66. 105 Samson ben Eliezer, Baruch še-amar, S. 28 f. 106 Ebd. 107 Der Autor des Sefer maḥaṣit ha-šeqel empfiehlt noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, eine Haut vor dem Kauf gegen das Licht zu halten, um einen solchen Betrug aufzudecken. Samuel ben Neta ha-Levi Kolin, Sefer maḥaṣit ha-šeqel al šulḥan aruch joreh de’ah, New York 1977.

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ein habgieriges Pack [seien], welches sich keine Mühe gibt, sondern betrügerisch verkauft und schwört, es sei fein, was vollkommen minderwertig ist. Auf diesem Blatt hier, hat er gesagt, zerfließe die Schrift nicht und hat sich noch verschworen bei dem, welcher es geschaffen hat. Dabei hat es sie so zerfließen lassen, dass man es den Buchstaben jetzt noch ansieht. Denen kann ich kein Lob zollen, denn ich merke, dass sie voll Betrug sind.108

Erlasse aus der Zeit, die (nicht nur) das Pergamentgeschäft reglementieren sollten, legen beredtes Zeugnis von den Missständen innerhalb dieses Berufszweigs ab. In dem Pariser Dekret Statutum universitatis Parisiensis de pergamenariis vom 30. Oktober 1291 heißt es etwa: Im Kirchenrecht steht geschrieben: „Es ist ein göttlicher Vorteil, das Recht öfters zu überprüfen“. Denn es ist etwas vom Besten auf der Welt, die Gerechtigkeit zu pflegen und jedem sein Recht zu geben, ob einer eine Belohnung verdient oder Strafe oder den Tod. Da also zwischen uns auf der einen Seite und den Pergamentern von Paris auf der anderen seit langer Zeit Unfrieden herrscht, weil die Pergamenter vielfach Betrug und häufig Unredlichkeit geübt haben beim Kauf und Verkauf von Pergament, zum Nachteil und Schaden von Universität und Gesellschaft, deshalb haben wir sie einst schwören lassen, dass sie bei Kauf und Verkauf nichts Unrechtes tun, vielmehr treulich kaufen und treulich verkaufen würden. Das aber haben sie, so hat sich bei einer Untersuchung wiederum gezeigt, nicht pflichtgemäß gehalten, wie sie es im Eid versprochen hatten. Vielmehr haben sie Betrug auf Betrug, Bosheit auf Bosheit gehäuft und unter Gefahr für ihr Seelenheil, zum Schaden und Nachteil für andere gegen ihren eigenen Eid immer wieder allerlei Machenschaften betrieben. Und weil geschrieben steht, dass den Demütigen ihre Demut wenig nützt, wenn den Verstockten nicht Widerstand entgegengesetzt wird, und dass Übeltaten bestraft werden müssen, wo immer sie sich zeigen, vielmehr feststeht, dass derjenige sich im Versteckten gegen die Gesellschaft verfehlt, welcher im Offenen den Widerstand gegen ein Vergehen aufgibt, deshalb wollen wir ihren vielen großen Ränken nach Kräften entgegen halten und haben also zum Nutzen der Universität gewisse Artikel aufgestellt, welche wir ihnen zuerst in die romanische oder französische Sprache übersetzt und sie dann öffentlich haben beschwören lassen.109

108 Nicolaus de Bibera, Carmen occulti auctoris, vs. 1719–1725, ca.  1280, in: Constantin von Höfler, Carmen historicum occulti autoris saec. XIII. Aufgefunden in einer Handschrift der Prager Universitätsbibliotek, Wien 1861, S. 241, übersetzt von Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 425 f. Die Qualität des Pergaments hängt von verschiedenen Faktoren ab. Natürlich spielt das Ausgangsmaterial  – die Tierart, dessen Alter, Geschlecht und Ernährung  – eine entscheidende Rolle. Der Pergamenter kann aber auch durch die Qualität der Lauge und die richtige Einschätzung der Dauer des Kalkbads, die von äußeren Umständen wie der Temperatur abhängt, oder durch kunstfertiges Schleifen der Haut mit grob- und feinkörnigem Bimsstein Einfluss auf die Güte des Pergaments nehmen. Vgl. Erika Eisenlohr, „Die Kunst, Pergament zu machen“, in: Uta Lindgren (Hrsg.), Europäische Technik im Mittelalter. Tradition und Innovation, Berlin 1996, S. 429–434, hier S. 430. 109 Statutum universitatis Parisiensis de pergamenariis, 30.  Oktober 1291, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 445 f.

4.5 Rabbinische Perspektiven auf die rituelle Weihe der Schreibmaterialien 

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Es folgt eine Reihe von Regelungen, die für mehr Transparenz hinsichtlich der Qualität und des Preises im Pergamenthandel sorgen sollen. Unehrliche Pergamenter waren dementsprechend auch für christliche Schreiber ein Ärgernis. Doch für einen sofer STaM ist der Pergamentkauf nicht nur eine Frage der feinen Qualität, sondern der rituellen Reinheit, die auch an die materialen Eigenschaften einer Schreibhaut geknüpft ist. Das Studium der Textquellen aus der Rothenburger Schule offenbart ein umfassendes Konzept der Heiligung, das die Schriftrollenherstellung für die profane Welt gleichsam tabuisierte. Im Vergleich mit der antiken rabbinischen Schreiberliteratur und deren Diskussion innerhalb der islamisch-arabischen Welt sowie zu den stark theoretisierenden Kommentaren der frühen Tosafisten Nordfrankreichs ist festzustellen, dass die rituelle Weihe lišmah in den jüdischen Gemeinden Deutschlands ab der zweiten Hälfte des 13.  Jahrhunderts ein immer breiteres Arbeitsspektrum einschloss. Die Herstellung der Schreibhäute, das Kopieren des Textes, das Schreiben der Gottesnamen behandelten die Schriftgelehrten zunehmend im Kontext der rituellen Weihe, und das in ungewohnt elaborierter Weise. Auch der ursprünglich von Maimonides beschworenen Intention des Herzens (kavvanah), die einen sofer STaM auszeichnen sollte, wurde mehr und mehr Gewicht beigemessen. Damit einhergehend ist ein starker Bezug zur Schreibpraxis zu bemerken, was sicherlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass manche Autoren wie etwa Abraham ben Moses aus Sinsheim oder Samson ben Eliezer selbst praktizierende Schreiber waren, die in ihren handbuchartigen Abhandlungen keine theoretischen Debatten fortführen, sondern eine einheitliche Herstellungspraxis der STaM anstrebten. Als Motivation für ihre Schriften beklagen sie unisono regional uneinheitliche Schreibtraditionen bzw. nicht korrekt ausgeführte Verfahrensweisen bei der Materialherstellung. Die elaborierten Ausführungen zur rituellen Weihe der Schreibhäute, des Schreibaktes und der Gottesnamen legen die Vermutung nahe, dass es in den jüdischen Schreibstuben Europas verschiedene Ansichten dazu gegeben hat. Leider lässt sich die Durchführung einer Weihe an den überlieferten Artefakten nicht nachprüfen und verbleibt so im spekulativen Raum der Textquellen. Doch erwecken die zahlreichen und sehr konkreten Bezüge zur christlichen Umweltkultur in diesen Schriften den Eindruck, dass die rituelle Dynamik innerhalb der Schriftrollenherstellung nur mit einem Blick auf das ambivalente jüdisch-christliche Verhältnis zu verstehen ist. Die Rothenburger Schule – diese These wird in den folgenden Kapiteln geprüft werden – übersetzte mit der starken Erweiterung des Konzepts der rituellen Weihe im Schriftrollenkontext die Sehnsucht des Diasporajudentums nach einem für die nichtjüdische Umwelt unantastbaren Ort der gemeinsamen Identität in das jüdische Religionsgesetz.

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4.5.4 Die Rechtsgelehrten südfranzösischer und nordspanischer Regionen Judah ben Barzillai Al Bargeloni (ha-Nasi, spätes 11./frühes 12. Jahrhundert), der als Rabbiner in Barcelona wirkte, hinterließ ein breit gefächertes Oeuvre, das ihn als Experten des jüdischen Religionsgesetzes, aber auch als einen philosophischen und mystischen Exegeten auszeichnete. Ihm wird die Abhandlung Ginzei miṣrajim: Hilchot sefer torah zugeschrieben,110 die sich mit halachischen Regeln zur Herstellung von koscheren Torarollen befasst. Judah führt im Wesentlichen die antiken Diskussionen der Rabbinen und Geonim zusammen, wenn er die Herstellung und Verwendung der Schreibhäute für liturgische Rollen, die Besonderheiten der Schrift und des Layouts für Torarollen und Bibelabschriften sowie deren Handhabe im synagogalen Ritus beschreibt. Die Schreibhäute sollten nach der dreigeteilten Verfahrensweise gesalzen, bemehlt und mit Gallapfellösung gegerbt werden, ansonsten seien sie nicht für den rituellen Gebrauch geeignet und bestenfalls mit dem arabischen Beschreibstoff raq zu vergleichen, der von Judah ausdrücklich aus dem rituellen Bereich verbannt wird.111 Die rituelle Weihe für den besonderen Zweck der Häute wird von Judah zwar erwähnt und mit Verweis auf die antiken rabbinischen Autoritäten ausdrücklich befürwortet, doch gehen seine Ausführungen dazu nicht über seine Quellen hinaus.112 Dasselbe trifft auf den rituellen Aspekt des Schreibens der Gottesnamen zu, deren korrekter Abschrift er – im Gegensatz zu den aschkenasischen Gesetzesgelehrten – ansonsten enorm viel Aufmerksamkeit schenkt.113 Abraham ben Isaak aus Narbonne (Rabbi Abad, gest. 1179), der als ein Mediator zwischen der dialektischen Methode der Nordfranzosen und dem eher wissenschaftlichen Ansatz der spanischen Gelehrten betrachtet werden kann, fügte in seinem halachischen Werk Sefer ha-eškol verschiedene methodologische Ansätze der aschkenasischen und sefardischen Kulturen zusammen. Tatsächlich ist die Abhandlung eine gekürzte Version des Sefer ha-ittim des bereits vorgestellten Judah ben Barzillai al-Bargeloni mit Ergänzungen von Raschi, Rabbenu Tam und anderer Zeitgenossen. Mit Judah ben Barzillai soll er einige Zeit in Barcelona studiert haben.114 Im Gegensatz zu seinem Lehrer aus Barcelona thematisiert der südfranzösische Gelehrte die Möglichkeit einer nachträglichen Weihe der Schreibhäute. Eine nicht geheiligte Haut kann zurück in den Rahmen gespannt, 110 Elchanan N. Adler (Hrsg.), Ginzei miṣrajim: Hilchot sefer torah, Oxford 1897. 111 Ebd., S. 13–14. 112 Ebd., S. 18. 113 Ebd. 25–29. Auf Judahs Behandlung der Gottesnamen wird im Kapitel 7 näher eingegangen. 114 Simcha Assaf, „Abraham ben Isaac of Narbonne“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 1, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 302–303.

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mit etwas Kalk bestäubt und durch die entsprechende Formel lišmah behandelt werden.115 Damit ist den spätantiken Ausführungen der Geonim nicht viel Neues hinzugefügt. Doch Abraham befasst sich mit dem Schreibprozess näher und zeigt hier mehr Nähe zu zeitgenössischen aschkenasischen Gelehrten. So legt er fest, dass „wenn ein Schreiber beginnt zu schreiben, sage er: ‚Siehe, ich schreibe im Namen der Heiligkeit der Tora Israels‘“116. Auch die Gottesnamen – so der südfranzösische Talmudgelehrte – seien zu heiligen „bevor die Feder das Pergament berührt“. Der Talmudkommentator und Poet Rabbi Meir ben Todros Ha-Levi Abulafia (Ramah, gest. 1244), der den größten Teil seines Lebens in Toledo wirkte, spielte eine enorm wichtige Rolle als geistiger Führer der jüdischen Gemeinden Spaniens.117 Meir positionierte sich kritisch zu einigen Aspekten der Maimonidischen Philosophie – insbesondere zu dessen Vorstellung von der Auferstehung118 – und entwarf mit seinem umfangreichen Kommentar zum Talmud ein wichtiges Kompendium halachischer Schulen Frankreichs und Spaniens, wobei er den Positionen der Geonim eine besondere Stellung in seiner Argumentation beimaß. Meir war allerdings auch der Autor des einflussreichen masoretischen Handbuchs, dem Masoret sejag la-torah, in dem der spanische Gelehrte auf der Grundlage älterer Handschriften eine nach Wortstämmen geordnete Zusammenstellung der masoretischen Anmerkungen zum Pentateuch mit besonderer Rücksicht auf volle und defektive Schreibweisen. Die Schrift ist unvollständig überliefert und enthält im Florentiner Druck aus dem Jahre 1750 spätere Ergänzungen, z. B. die Liqqutei ha-masoret, die Tiqqunei soferim und eine Liste der petuḥot und setumot.119 Letztere Sammlungen und Listen entsprechen der aschkenasischen Schrifttradition und sollen nach Jom Tov Lipmans Tiqqun sefer torah erst im 16. Jahrhundert zu den ursprünglichen Ausführungen Meirs hinzugefügt worden sein. Ein historisch-kritischer Blick auf die überlieferten Textzeugen wäre sicher lohnenswert, um die unterschiedlichen Texttraditionen nachzuvollziehen. Die Herstellung der Schreibmaterialien wird in dieser Schrift nicht thematisiert. Im Kontext dieser Studie ist die Tatsache bemerkenswert, das Meir selbst eine Torarolle schrieb und diese lange Zeit als Musterkodex verschiedener Schreiber unterschiedlicher Regionen galt. Das Manuskript erreichte in den jüdischen

115 Abraham ben Isaak aus Narbonne, Sefer ha-eškol, Hilchot sefer torah, Abschnitt 57b. 116 Ebd. 117 Israel Ta-Schma, „Abulafia, Meir“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 1, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 341–342. 118 Vgl. Bernard Septimus, Hispano-Jewish Culture in Transition: The Career and Controversies of Ramah (= Harvard Judaic Monographs, Bd. 4), Cambridge, Mass. 1982. 119 Ta-Schma, „Abulafia, Meir“, S. 342.

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Gemeinden Deutschlands und den nordafrikanischen Ländern einige Berühmtheit. Ein Rabbi Samuel ben Jakob soll im Jahre 1250 nur für eine Abschrift dieses Musterexemplars aus Deutschland nach Toledo gereist sein. Rabbi Isaak ben Solomon aus Marokko kopierte 1273 in Burgos eine Rolle nach der Vorgabe Meirs. Bis zum Jahr 1410 sind weitere Zeugnisse überliefert, die Abschriften in Spanien und der Provence nahelegen.120 Eines davon legte Menahem ben Solomon ha-Meiri (gest. 1316) ab, der sein berühmtes Schreiberhandbuch Qirjat sefer auf der Grundlage des Musterkodex des Meir ben Todros Ha-Levi Abulafia verfasste und die Ankunft der Handschrift in Perpignan mit der Vertreibung der Juden aus Frankreich im Jahre 1306 in Zusammenhang brachte. Menahem ben Solomon ha-Meiri wirkte sein gesamtes Leben im südfranzösischen Perpignan, das zur Zeit des Talmudgelehrten unter spanischer Krone stand. Seine beeindruckende literarische Tätigkeit umfasst gleichermaßen das Gebiet der Halacha, der Bibelexegese, der Ethik und Gebräuche sowie der Philosophie. Der Forschung ist seine für die Zeit außergewöhnliche Haltung zu Nichtjuden und Frauen aufgefallen. Meiri unterscheidet zwischen Götzendienern und Menschen, die durch die Ethik einer Religion geleitet sind. Zu Letzteren zählt er auch Christen und zieht daraus auch Konsequenzen hinsichtlich religionsgesetzlicher Fragen rund um das Thema „Götzendienst“ (awodah zarah). Seine Wertschätzung von Frauen als intellektuelle und moralisch hochstehende Wesen ist für seine Zeit eher ungewöhnlich.121 Das Qirjat sefer aus der Feder Meiris ist ein Schreiberhandbuch, das nicht nur masoretische Erläuterungen, Listen von plene und defektiv geschriebenen Wörtern, petuḥot und setumot sowie detaillierte Erläuterung zur korrekten Form und Anzahl der tagin und otijjot mešunnot enthält. Meiri diskutiert darin auch die rabbinischen Vorgaben zur Herstellung der Schreibmaterialien und der rituellen Weihe der Schreibhäute und des Schreibaktes lišmah in großer Ausführlichkeit. In dem Vorwort zu den fünf Kapiteln des Schreibhandbuchs macht Meiri seine Motivation für die Abfassung dieses Kompendiums an Herstellungs- und Schreibregeln deutlich: [Obwohl] ich all meine Tage inmitten von Weisen aufwuchs, fand ich bei ihnen nicht genug Interesse am Gegenstand eines vollkommenen sefer torah und an einer lückenlosen Regelung der Ausbesserungen. Daher waren es meiner Ansicht nach unsere Rabbinen, seligen

120 Ebd.; vgl. auch Olszowy-Schlanger, „The Making of the Bologna Scroll: Palaeography and Scribal Traditions“, in: The Ancient Sefer Torah of Bologna, hrsg. von Mauro Perani. Leiden/Boston 2019, S. 107–134, hier S. 131. 121 Israel M. Ta-Schma und David Derovan, „Meiri, Menahem ben Solomon“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd.  13, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 785–788.

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Andenkens, die es […] erschwert haben, ein sefer torah auf viele Weisen und unterschiedliche Arten für untauglich zu erklären. Und ich sah keine achtsamen Schreiber wie es angemessen wäre. Ich lernte aus den Büchern der früheren [Rabbinen], durch die Abhandlungen der geonim und ich strengte mich an und bemühte mich, in dieser Schrift all das zusammenzustellen, was für die Erklärung dieser Dinge notwendig ist: durch was ein sefer untauglich wird, wenn er nicht gemäß der Halacha hergestellt wurde; was [einen sefer torah] tauglich macht, hergestellt auf die Weise, wie darüber im Talmud oder gemäß der Abhandlungen der frühen [Rabbinen] geschrieben ist […] und was sich hinsichtlich des Gegenstandes aus der Halacha erklären lässt – entweder aus der Tora oder aus den Worten der Schreiber oder das, was sich darüber aus den Worten der geonim und den frühen und späteren Rabbinern ableiten lässt. [Dazu kommt] das, was sich darüber aus den Gebräuchen der sorgfältigen Schreiber erklären lässt und [schließlich das,] was ich über den Unterschied zwischen den Gesetzesgelehrten, den gewissenhaften Schreibern und den [regionalen] Schreibbräuchen herausfinden werde […].122

Als Ursache für die uneinheitlichen Regelungen und die Herausbildung regionaler Schreibtraditionen nennt Meiri die „stürmischen Zeiten der frühen [Gesetzesgelehrten], als die Torarollen verloren gingen, die Weisen verstreut und die Experten der Schriften hinweggefegt wurden.“123 Im ersten Kapitel seines Qirjat sefer widmet sich Meiri auf der Basis ausgewählter Positionen der rabbinischen Kommentar- und Responsenliteratur der generellen Problematik, welche Beschreibstoffe für das Kopieren der STaM geeignet und auf welcher Seite diese dann zu beschriften sind und referiert weitestgehend – wie in seinem Vorwort angekündigt – zunächst die Positionen bekannter halachischer Autoritäten. Im zweiten Teil dieses Kapitels geht er jedoch weit über seine antiken Vorgänger hinaus, indem er die Bedingungen und den Prozess der rituellen Weihe sehr ausführlich beschreibt. Meiri stellt einige Fragen hinsichtlich der rituellen Weihe lišmah bei der Herstellung der STaM: Für welche der drei Textsorten ist eine Weihe notwendig? Sollte diese lediglich an einigen oder doch an allen Rollen ausgeführt werden? Was genau ist mit lišmah gemeint und bei welchen Tätigkeiten wird es angewandt? Außerdem sei festzulegen, wer die rituelle Weihe bei der Herstellung der Schreibmaterialien, beim Kopieren des Textes oder beim Schreiben der Gottesnamen auszuführen hat. Meiri spricht an dieser Stelle auch von einer kavvanah des Schreibens, d. h. einer inneren Ausrichtung des Schreibers auf seine Kopierarbeit. In einer differenzierten Diskussion der einschlägigen Abschnitte aus dem Talmud stellt Meiri zunächst die – weiter oben bereits dargestellten – Lehrmeinungen zu einer Notwendigkeit der Bearbeitung lišmah für Torarollen, Tefillin

122 Menahem ben Solomon Meiri, Qirjat sefer, Einleitung. 123 Ebd.

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und Mezuzot vor. Die Rabbinen seien zwar darin überein gekommen, dass eine ausdrückliche Bestimmung der Häute für ihren rituellen Zweck notwendig ist, doch hinsichtlich des Schreibaktes und des Kopierens der Gottesnamen gäbe es widersprüchliche Ansichten.124 Meiri führt  – leider ohne konkrete Quellen zu nennen – dazu aus: Es wird gesagt, dass auch das Schreiben der Gottesnamen gewöhnlich lišmah zu erfolgen hat und dass sich am Beginn des Schreibens [der Schreiber] darauf konzentrieren soll, dass er ein sefer im Namen der Tora Israels und die Gottesnamen im Namen der Heiligkeit des Namens schreiben wird.125

Meiri bemerkt dazu, dass die Konzentration des Schreibers vor allem der richtigen Schreibweise des jeweiligen Namens gelten sollte, so dass keine nachträglichen Korrekturen notwendig werden. Für eine Torarolle und die Tefillin ist die rituelle Weihe bei der Herstellung der Häute, beim Schneiden der Lederriemen und beim Schreiben des Textes, insbesondere der Namen obligatorisch. Nachdem wir geklärt haben, dass ein sefer torah und Tefillin lišmah bearbeitet werden müssen […], sollten wir klären, was ibbud lismah bedeutet. Du solltest wissen, dass manche strikt sind und sagen, dass es notwendig ist, dass alles durch die Hand eines Juden [‫]על יד ישראל‬ geschieht und alles, was der Nichtjude bearbeitet hat, nicht tauglich [‫ ]פסול‬ist. [Das gilt] sogar, wenn er es nach dem Gesetz des Juden und gemäß dessen, der ihn beauftragte, hergestellt hat und ihm erklärt wurde, dass er zum Zweck [der Herstellung] eines sefer torah oder Tefillin arbeiten soll. […] Und so ist hinsichtlich der Schrift gesagt, wenn von einem Nichtjuden oder einem getauften [Juden] geschrieben – auch wenn er kein Häretiker ist –, von einem Sklaven, einer Frau, einem Minderjährigen oder einem Abtrünnigen, so ist sie zu verbergen.126

Meiri betont, dass „auch wenn ein Jude assistiert bei dem Hineinlegen [der Häute] in die Lösung oder im Augenblick, da die Haut gewendet wird, darin keine Wahrhaftigkeit sei“. Vielmehr müsse ein Jude im Augenblick, da er die Haut in die Lösung legt, die Formel aussprechen, dass er die Häute im Namen eines sefer torah oder im Namen von Tefillin oder allgemein im Namen der Heiligkeit der Schriftsache, in das Gefäß, in dem sie einweichen, legt. Und das hat nicht in Gedanken zu erfolgen. […] Auch beim Schreiben muss [der Schreiber] am Beginn des Schreibprozesses sagen, dass er lešem schreibt. Aber auch bei den Gottesnamen muss er sich auf die Einzigartigkeit des Einen konzentrieren. […] Im Allgemeinen sagt [der Schreiber] am Beginn

124 Menachem ben Solomon Meiri, Qirjat sefer 1:2. 125 Ebd. 126 Vgl. Giṭ 45b; bT Menaḥ 42b.

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des Schreibens, dass er sich darauf konzentriert, eine Torarolle im Namen der Tora Israels und die Gottesnamen im Namen der Heiligkeit des einzigartigen Namens zu schreiben.127

Dagegen ist alles, was von einem Nichtjuden beigetragen wurde, nicht tauglich, abgesehen von den Schreibhäuten, bei deren Herstellung ein Jude assistierte – so Meiri. Doch „einige wenige Rabbiner Frankreichs fordern, ein Zeichen darauf [i. e. die Haut] zu machen, da man in einen Nichtjuden kein Vertrauen setzen kann.“128 Meiri ergänzt, dass auch Frauen am Beginn ihrer Knüpfarbeit an den Zizit aussprechen sollen, dass sie diese Fäden zu Zizit verknüpfen werden. Auch im Verlauf eines Opfers und bei der Erstellung eines geṭ – assoziiert Meiri weiter – müssen bestimmte Abläufe bei der rituellen Bestimmung des Zwecks eingehalten werden. Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, auf wen genau sich Meiri bezieht, wenn er bei seinen Ausführungen auf die „Rabbiner Frankreichs“ verweist, doch spricht Einiges dafür, dass ihn das enorm einflussreiche halachische Werk Sefer miṣvot gadol (SeMaG) des Moses ben Jakob aus Coucy (13. Jhd.) in seinen Ansichten beeinflusst hat. Moses ben Jakob aus Coucy war ein französischer Gelehrter und Tosafist, der als Wanderprediger durch Städte und Länder zog, um die jüdischen Gemeinden zu einem aktiven Leben im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes zu bewegen. Seine öffentlichen Predigten begannen 1236 in Spanien nach eigenem Zeugnis aufgrund einer mystischen Offenbarung, die ihm Wege der Erlösung über die Erfüllung der Gebote aufzeigte.129 Moses aus Coucy war auch 1240 an der bekannten Talmuddisputation in Paris beteiligt, die der Apostat Nicholas Donin mit der Unterstützung Papst Gregors IX. am Hof des frommen Königs Louis IX. initiierte, um die Schädlichkeit des Talmud für die christliche Gesellschaft zu beweisen. Die größte Wertschätzung innerhalb der jüdischen Gemeinden ganz Europas gewann er jedoch durch den Sefer miṣvot gadol, der eine fruchtbare Synthese zwischen Maimonides’ Mišneh torah und den aschkenasischen Tosafisten herstellte. In dem halachischen Werk, das als ein wichtiger Grundpfeiler auch der Rothenburger Schule betrachtet werden kann, befasst sich Moses aus Coucy mit den Regeln zur Herstellung der STaM und den dazugehörigen rituellen Weihen. Er führt in die Thematik mit einer Referenz an die talmudische Diskussion der Verse Deuteronomium 17,15–18 ein, in denen der ideale König Israels als ein Mann

127 Menachem ben Solomo Meiri, Qirjat Sefer, 1:2; Siehe auch Sefer miṣvot gadol, Abschnitt 25: ‫צריך שיאמר בפירוש בתחלת הכתיבה‬. 128 Menachem ben Solomo Meiri, Qirjat Sefer, 1:2. 129 Israel M. Ta-Schma, „Moses ben Jacob of Coucy“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 14, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 549–550.

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vorgestellt wird, der nicht viele Pferde hält – dass er nicht zurückführe das Volk nach Ägypten, – nicht viele Frauen und Besitztümer hat – dass sein Herz nicht abtrünnig werde – und dass er sobald er auf dem Throne seines Königreichs sitzt […] sich die Wiederholung dieser Lehre in ein sefer schreiben solle. Im Talmud heißt es diesbezüglich weiter: Er schreibe eine Torarolle auf seinen Namen. Es wird gelehrt: Er darf aber nicht mit einem von seinen Vorfahren prunken. Rabbah sagte: Obgleich einem seine Eltern eine Torarolle hinterlassen haben, so ist es dennoch Gebot, sich selber eine zu schreiben, denn es heißt (Deut 31,19): Und nun denn, schreibet euch diesen Gesang auf. Abbaje wandte gegen ihn ein: Er schreibe eine Torarolle auf seinen Namen; er darf nicht mit einer von anderen geschrieben prunken. Nur ein König, ein anderer aber nicht? Dies besagt, dass er zwei Torarollen [schreiben müsse], wie gelehrt wird (Deut 17,18): So soll er sich die Wiederholung dieser Lehre in ein sefer schreiben. Er schreibe auf seinen Namen zwei Torarollen: eine, die er in seiner Schatzkammer verwahre. Die er bei sich führt, fertige er nach der Art eines Amuletts und trage sie am Arm, denn es heißt (Ps 16,8): Ich nehme den Ewigen mir stets vor Augen; denn ist er zu meiner Rechten, wanke ich nicht. Er darf damit weder in ein Badehaus, noch in einen Abort eintreten usw.130

Es ist bemerkenswert, dass Moses aus Coucy eine Quelle rezipiert, die den magischen Aspekt einer Torarolle als Schutzamulett sowie ihre besondere Behandlung im privaten Raum ins Zentrum stellt. Diese Aspekte spielen in der rabbinischen Schreiberliteratur des Mittelalters eine eher untergeordnete Rolle, gewinnen bei den Ḥasidei Aškenaz allerdings an Bedeutung. Auf die magischen Aspekte der Torarollenherstellung wird in Kapitel  5 zurückzukommen sein. Tatsächlich hat Kanarfogel bereits darauf hingewiesen, dass Moses aus Coucy zu denjenigen Halachisten gezählt werden kann, die in ihren Werken den Einfluss der Ḥasidei Aškenaz spüren lassen.131 Moses aus Coucy präsentiert in seinem Sefer miṣvot gadol neben religionsgesetzlichen Diskussionen auch eine pietistische Grundhaltung, in der das Schreiben einer Torarolle nicht nur die Sphäre des Gesetzes, sondern auch die der religiösen Erfahrung berührt. Torarollen, Tefillin und Mezuzot sind auf die Haut eines reinen Tieres oder reinen Lebewesens zu schreiben, da gesagt ist [Ex 13,9]: Damit die Lehre des Ewigen sei in deinem Munde. Nur auf das, was in deinen Mund kommen darf. Und auch wenn es nicht rituell geschlachtet wurde, darf man auf ihr schreiben, da sie rein ist. […].132 Doch es ist notwendig, dass die Häute in die Bearbeitung lišmah gegeben werden bzw. dass dem Nichtjuden in dem Moment der Bearbeitung lišmah assistiert wird.133

130 bT Sanh 21b. 131 Kanarfogel, ‚Peering through the Lattices‘, S. 68–72, 75–80. 132 Vgl. bT Šabb 108a. 133 Moses ben Jakob aus Coucy, Sefer miṣvot gadol, Abschnitt 25.

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Moses aus Coucy fährt mit einer Diskussion der einschlägigen Abschnitte des Talmud über die Wirkung und Anwendungsbereiche einer hazmanah milta fort, um eine Weihe der unterschiedlichen Herstellungsstufen ausdrücklich als obligatorisch zu befürworten. Schließlich greift er die Überlegungen der Rabbinen zum Status einer Torarolle, die von einem Nichtjuden geschrieben wurde, auf und betont, dass es notwendig ist, am Beginn des Schreibens zu sagen, dass alles im Namen der Tora Israels geschrieben wird und ihre Gottesnamen im Namen der Heiligkeit, denn dort ist es nicht genug, [es] in Gedanken [zu tun]. Und auch hinsichtlich eines geṭ, der für seinen Zweck bestimmt werden muss, ist es notwendig, etwas laut auszusprechen. Und es entschied Rabbenu Jakob (Tam), dass unsere qelafim, die mit Kalk und Salz behandelt wurden, für Tefillin, Mezuzot, eine Megillah und eine Torarolle koscher sind, obwohl sie nicht mit Gallapfellösung gegerbt wurden. […]134

Dementsprechend legt Moses aus Coucy großen Wert auf die rituelle Weihe und assoziiert dieses Verfahren einerseits mit der Tatsache, dass das europäische Pergament nicht den Richtlinien der antiken Traditionsliteratur entspricht. Andererseits spielt der „Nichtjude“ eine wichtige Rolle in seiner Argumentation für eine rituelle Weihe. Die von Moses aus Coucy neu gewichtete Lehrmeinung bezüglich der Schriftrollenherstellung lässt auf eine erhöhte Sensibilität gegenüber der christlichen Umweltkultur schließen. Die Forschung hat Letzteres mit Blick auf das gesamte Werk Moses’ aus Coucy bereits feststellen können. So verglich Jacob Katz in seinen Studien zu jüdisch-christlichen Beziehungen im Mittelalter und der Neuzeit die Ansichten des französischen Gelehrten zum Verhältnis von jüdischer und nichtjüdischer Gesellschaft mit der Haltung der Ḥasidei Aškenaz, die moralische Perfektion – wenn nicht sogar Überlegenheit gegenüber der christlichen Umweltkultur – anstrebten.135 Bei Moses aus Coucy ist dieses Streben mit der Sehnsucht nach Erlösung des jüdischen Volkes verbunden, wie man auch in seinem halachischen Werk lesen kann: Ich predigte bereits der zerstreuten Gemeinde Jerusalems, die in Spanien ist, und anderen Diasporagemeinden der christlichen Welt, denn nun, da die Zerstreuung so lang angedauert hat, sollte sich Israel von den Nichtigkeiten der Welt lösen und sich an das Siegel des Heiligen, gesegnet sei Er, halten, denn es [Israel] ist die Wahrheit, lügt niemanden an  – weder einen Juden noch einen Nichtjuden und führt sie in keiner Sache in die Irre, um sich

134 Moses ben Jakob aus Coucy, Sefer miṣvot gadol, Abschnitt  25. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts zu den Schreibhäuten diskutiert Moses aus Coucy Maimonides und Rabbenu Tam, um die richtige Beschriftungsseite einer Haut für die STaM festzulegen. 135 Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, Oxford 1961, S. 102–105.

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selbst zu heiligen, wie gesagt ist (Zeph 3,13): Der Überrest Israels wird kein Unrecht tun und keine Lügen reden, und es wird sich nicht finden in ihrem Munde eine Zunge des Truges …, so dass, wenn der Heilige, gesegnet sei Er, kommen wird, um sie zu retten, die Nichtjuden sagen werden: „Er hat gerecht gehandelt, denn sie sind Menschen der Wahrheit und das Gesetz der Wahrheit ist in ihren Mündern“.136

Diese eschatologisch gestimmte Haltung schwingt sicherlich auch in den Herstellungsvorschriften für Torarollen mit, die mit dem göttlichen Offenbarungstext beschriftet nicht nur das Heilsversprechen für die jüdische Religionsgemeinschaft enthalten. Auch aus christologischer Perspektive birgt der Text messianisches Potential  – als Ankündigungszeugnis des bereits erschienenen Messias Jesus Christus. Die enorme Spannung im Kampf um die Deutungshoheit der Hebräischen Bibel konnte Moses aus Coucy im 13. Jahrhundert beispielsweise als Zeuge der Talmuddisputation in Paris, aber sicher auch während seiner Zeit in Spanien, wo Zwangsdisputationen, Zwangspredigten und der Missionseifer der Dominikaner das Klima zwischen Juden und Christen wesentlich bestimmten, nicht entgangen sein. Sie ist vielmehr in seine Aufzeichnung der Herstellungsvorschriften für die STaM eingeflossen. Anfang des 14.  Jahrhunderts befasste sich Aaron ben Jakob ha-Kohen aus Lunel (13./14. Jhd.)  – als letztes Beispiel aus dem südfranzösisch-spanischen Raum – in seinem Hauptwerk Orḥot ḥajjim mit aschkenasischen und sefardischen Lehrmeinungen zur rituellen Weihe der Schreibhäute für das Kopieren der STaM. Aaron gehörte zu den 1306 aus Frankreich vertriebenen Juden. Er floh zunächst nach Spanien und emigrierte weiter nach Mallorca, wo er wahrscheinlich sein halachisches Kompendium zusammenstellte.137 Aaron betont, dass am Beginn des Bearbeitungsprozesses einer Schreibhaut ein Jude die bekannte Weiheformel „über die Lippen kommen“ muss, genauso wie der Schreiber vor Inangriffnahme seines Werks „durch seinen Mund“ mit den entsprechenden Worten die heiligen Schriftrollen ihrem rituellen Zweck weihen und auch die Gottesnamen vor ihrer Niederschrift konsekrieren solle.138

136 Moses ben Jakob aus Coucy, Sefer miṣvot gadol, Abschnitt 74. Auch zitiert in Katz, Exclusiveness and Tolerance, S. 104. 137 Shlomoh Zalman Havlin, „Aaron ben Jacob Ha-Kohen of Lunel“, in: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 1, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 213–214. 138 Aaron ben Jakob ha-Kohen, Orḥot ḥajjim, Abschnitt 24, 25.

4.6 Ursachen und Funktionen der rituellen Weihe 

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4.6 Ursachen und Funktionen der rituellen Weihe im Kontext der Schriftrollenherstellung Die Analyse der rabbinischen Quellen des europäischen Mittelalters zeigt im Vergleich mit der antiken Schreiberliteratur, dass in Aschkenas und den christlich dominierten Regionen Südfrankreichs und Nordspaniens dem Ritual bzw. der ritualisierten Handlung im Kontext der Schriftrollenherstellung eine erhöhte Bedeutung beigemessen wurde. Das trifft insbesondere auf den Prozess der Gerbung rituell reiner Beschreibhäute zu, bei dem nichtjüdische Handwerker problematisiert wurden.139 Die Elemente eines Rituals – wie Zeit, Raum, Performanz, Objekt, Klang – werden in Schreiberhandbüchern und rabbinischen Abhandlungen aus dem 12. bis 14. Jahrhundert zunehmend deutlich definiert und betreffen nun auch den Schreibprozess und die Handlungsweise des Schreibers selbst. Aus dieser Beobachtung erwächst die Frage, welche Funktionen den ritualisierten Handlungen in der Praxis der Schriftrollenherstellung zugesprochen werden können. Sagen sie etwas über soziale, religiöse und kulturelle Zeitumstände aus? Was machte ihre Erweiterung bzw. ihre Neuentwicklung aus rabbinischer Perspektive notwendig? Aus dem weiten Feld der Ritualforschung sind seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene methodologische Überlegungen hervorgegangen, die sich mit der Deutung kommunikativer, innovativer, symbolischer, performativer oder ästhetischer Dimensionen von Ritualen auseinandersetzen. Eine große Anzahl von Einzelstudien untersuchte aus sozialer, psychologischer, phänomenologischer oder religionshistorischer Perspektive die Hintergründe ritueller Dynamiken, welche oftmals in Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen festzustellen sind.140 In dieser Studie sind die Thesen Christine Bells von besonderem Inter-

139 Unter „Ritual“ soll hier eine vorgeschriebene, wiedererkennbare Handlung verstanden werden, deren Durchführung nicht von der Intention des Akteurs abhängt. Der Ablauf ist in vorgegebene Sequenzen unterteilt, auf deren performative Vorgaben ein Ritualteilnehmer zurückgreift, um ein Geschehen wiederholt neu „aufzuführen“. Er entbindet sich und alle Ritualteilnehmer damit der gegenwärtigen Zeit und knüpft an eine höhere identitätsstiftende Wirklichkeit an. Für eine solche Handlung gilt die „Erfahrung, dass bei der Ausführung eines Rituals mehr geschieht, als man eigentlich sieht“. Caroline Humphrey und James Laidlaw, „Die rituelle Einstellung“, in: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, hrsg. von Andréa Belliger und David J. Krieger, Wiesbaden 42008, S.  135–155, hier S.  148; siehe auch Claudia Bergmann und Benedikt Kranemann (Hrsg.), Ritual Dynamics in Jewish and Christian Contexts, Leiden 2019. 140 Christine Bell, Ritual. Perspectives and Dimensions, Oxford 1997, S. 3–89; Andréa Belliger und David J. Krieger, Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 42008; Gerald A. Klingbeil, „Ritus/Ritual“, in: Michaela Bauks, Klaus Koenen und Stefan Alkier, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/

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esse. Sie untersucht Rituale im Zusammenhang mit kulturellen und religiösen Veränderungen ihrer Entstehungszeit und argumentiert anhand zahlreicher Beispiele überzeugend, dass durch die „Erfindung“ von Ritualen solche Veränderungen auch gezielt herbeigeführt werden können.141 Daraus folgt mit Blick auf die rabbinische Darstellung der rituellen Weihe die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis bzw. Text und ritualisierter Handlung. Es ist zu überlegen, ob die rabbinische Schreiberliteratur historisch objektiv eine Beobachtung der Herstellungspraxis im zeitgenössischen Kontext wiedergibt oder ob es sich hier nicht vielmehr um den Ausdruck eines bestimmten sozialen Milieus, nämlich einer jüdischen, rabbinisch gelehrten Elite handelt, die aus ideellen Gründen eine Neuformulierung sozialer Interaktionen bei der Schriftrollenherstellung vornimmt. Die überlieferten mittelalterlichen Artefakte selbst geben kaum Auskunft über rituelle Aktivitäten bei ihrer Herstellung und können dementsprechend nur bedingt in die Diskussion einbezogen werden.142 Eine weitere Herausforderung bei der Erforschung ritueller Innovationen stellt die Tatsache dar, dass Wandlungsprozesse weder in den Texten noch im Ritual thematisiert bzw. sichtbar werden, sondern im Gegenteil als etwas schon-immerDagewesenes vorgestellt werden: Questions of ritual density and style are not far removed from questions of ritual change, that is, the way in which rituals change over time. […] Part of the dilemma of ritual change lies in the simple fact that rituals tend to present themselves as the unchanging, time-honored customs of an enduring community. Even when no such claims are explicitly made within or outside the rite, a variety of cultural dynamics tend to make us take it for granted that rituals are old in some way.143

sachwort/anzeigen/details/ritus-ritual/ch/6e0db3e8d7cfc6309eab36bfc3233845/), 2010 (Zugriffsdatum: 20. April 2021). 141 Bell, Ritual, S.  210–252; dies., „Ritualization of Texts and Textualization of Ritual in the Codification of Taoist Liturgy“, in: History of Religions 27.4 (1988), S. 366–392. 142 Es sind Schriftrollenzeugnisse aus dem Mittelalter erhalten, in denen der Name Gottes mit einer anderen Tinte als der restliche Text, das heißt sehr wahrscheinlich in einem separaten Schreibgang geschrieben wurde. Auf dieses vereinzelte Phänomen wird in Kapitel 7 zurückgekommen. 143 Bell, Ritual, S. 210. An anderer Stelle schreibt Bell: „The tendency to think of ritual as essentially unchanging has gone hand in hand with the equally common assumption that effective rituals cannot be invented. Until very recently, most people’s commonsense notion of ritual meant that someone could not simply dream up a rite that would work the way traditional ritual has worked. Such a phenomenon, if it could happen, would seem to undermine the important roles given to community, custom, and consensus in our understanding of religion and ritual.“ Ebd., S. 223–224.

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Tatsächlich ist das innovative Moment innerhalb der rabbinischen Quellen als Teil der mündlichen Tradition, die Moses am Berg Sinai neben der schriftlichen empfangen habe, formelhaft kaschiert und auf diese Weise vom historischen Zusammenhang losgelöst.144 Die Aktualität der erweiterten Weihepraxis wird erst im Vergleich mit den antiken Vorlagen deutlich. Die enorme Gewichtung der laut auszusprechenden Weiheformel, in der Schrift und Schreiber der Heiligkeit Israels zugeordnet werden, geht über die antiken Diskussionen ebenso hinaus wie die Neudefinition des Anteils christlicher Handwerker an der Herstellung rituell reiner STaM. Die Assistenz eines Juden bei der Behandlung der Schreibhäute wird als obligatorisch festgelegt. Das kommunikative Muster der weiter oben besprochenen rituellen Abläufe beinhaltet eine deutliche Botschaft der jüdischen an die nichtjüdische, hier christliche Gemeinschaft: Letztere hat keinen Anteil an der Heiligkeit der jüdischen Schriften und der Heiligkeit des jüdischen Volkes überhaupt. In der Sorge vor „Kontaminierung“ der Schreibmaterialien durch christliche Handwerker schwingt der Wunsch nach Ausgrenzung (zumindest eines Teils) der christlichen Umwelt aus dem innersten Bereich jüdischer Identitätsbildung mit. In Kapitel 3 ist im Zusammenhang mit der Entwicklung der Schreibvorschriften in antiker Zeit bereits auf das enge Verhältnis von Heiligkeit und Trennung hingewiesen worden. Die wachsende Aufmerksamkeit, die im christlichen Europa auf der Erzeugung von Reinheit und Heiligkeit im Schriftrollenkontext festzustellen ist, lässt Rückschlüsse auf ein erhöhtes Bedürfnis nach Trennung zu. Die rabbinischen Eliten begegneten dabei den Zeitumständen dynamisch mit einer erweiterten Weihepraxis, die ein klares Konzept der Abgrenzung in die Schreibpraxis transportiert. Auf der Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung entsteht kein monokausales Bild. Der thematische Rahmen bietet vielmehr Raum für die ganze Komplexität des jüdisch-christlichen Verhältnisses mit all seinen widersprüchlichen Aspekten. Sicherlich stellte der wachsende Antijudaismus in den christlich dominierten Regionen Frankreichs, Deutschlands und Spaniens einen wichtigen Auslöser für das Streben der rabbinischen Elite dar, „einen Zaun um die Tora“ zu bauen. Angriffe auf die jüdische Traditionsliteratur in der Folge von Talmuddisputationen, christologische Interpretationen der Bibel und rabbinischer Texte sowie massive Missionsbestrebungen der neu gegründeten christlichen Ordensgemeinschaften 144 Zum generellen Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation innerhalb der rabbinischen Literatur vgl. u. a. Aaron D. Panken, The Rhetoric of Innovation. Self-Conscious Legal Change in Rabbinic Literature, Lanham, Md. 2005; Albert I. Baumgarten und Marina Rustow, „Judaism and Tradition: Continuity, Change, and Innovation“, in: Ra’anan S. Boustan, Oren Kosansky und Marina Rustow (Hrsg.), Jewish Studies at the Crossroads of Anthropology and History. Authority, Diaspora, Tradition, Pennsylvania 2011, S. 207–237.

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im Hochmittelalter forderten insbesondere die jüdische Gelehrtenwelt heraus, dem theologischen und politischen Expansionsdrang der christlichen Welt mit einem klar definierten Selbstbild zu begegnen. Die meisten Autoren der weiter oben vorgestellten Schreiberliteratur waren direkt von Vertreibung oder Pogromen betroffen. Die erhöhte Frequenz der Heiligungsrituale im Zuge der Schriftrollenherstellung kann demzufolge als ein Versuch der Ausbalancierung der Ohnmacht gegenüber der dominierenden christlichen Gesellschaft interpretiert werden. Im Ritual erscheint das Judentum als rechtmäßige Erbin der göttlichen Offenbarungslehre, deren materielle Manifestation in der Welt – die Torarolle – ausschließlich von einem Juden in größter Heiligkeit hergestellt werden kann.

4.6.1 Die symbolische Bedeutung des Materials in der christlichen Buchherstellung Die enorme Aufladung des Beschreibstoffes für die Herstellung der heiligen Schriftrollen kann aber auch als eine parallele Entwicklung zur theologischen Konzeption des heiligen Buches im Christentum betrachtet werden. Die europäische Buchkunst blühte bis ins 13. Jahrhundert hinein beinahe ausschließlich im monastischen Umfeld des Skriptoriums und der Domschulen. Das hochprofessionelle Skriptorium bekam ab dem frühen Mittelalter einen zentralen Platz innerhalb des Klosters.145 Von Anfang an standen heilige Bücher und liturgische Schriften im Zentrum der Kopier- und Restaurationsarbeit: Als Träger göttlicher Offenbarung hatten Schrift und Buch durch das Christentum eine Erhabenheit und Würde gewonnen, die der paganen Literatur unerreichbar war, und zugleich eine Bedeutung für das Leben aller Menschen, die kein Text in lateinischer Sprache vorher je besessen hatte. Das Wort, der genaue Wortlaut bis in den Buchstaben hinein, war lebensentscheidend, das Buch der Offenbarung als „Weg zum Leben“ unentbehrlich.146

Es wurden qualitativ hochwertige Schreibmaterialien wie Pergament, Tinte und Farben hergestellt oder eingekauft und exzellent verarbeitet. Alte Manuskripte wurden auf höchstem handwerklichen Niveau restauriert bzw. erhalten, neue Handschriften zuverlässig kopiert. Erst ab dem 13. Jahrhundert ist eine grundsätzliche inhaltliche Verschiebung der christlichen Schriftkultur in Europa zu beob-

145 Vgl. Wolf, „Das ‚fürsorgliche‘ Skriptorium“; Udo Kühne, „Bücher und Schreibtätigkeit als kulturelle Werte im Spiegel früh- und hochmittelalterlicher Bischofsviten“, in: Philobiblon 38 (1994), S. 207–216. 146 Keller, „Vom ‚heiligen Buch‘ zur ‚Buchführung‘“, S. 16.

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achten. Das überaus große Gewicht, das auf den sakralen Schriften lag, verschob sich zunehmend zu Gunsten einer Gebrauchsliteratur, die nun vor allem administrative Bereiche abdeckte. Die Forschung hat in diesem Zusammenhang auf neue Bedürfnisse hingewiesen, die zu diesem Wandel – letztlich nicht nur innerhalb der Buchkunst, sondern in der europäischen Gesellschaft überhaupt – geführt haben. „Bevölkerungswachstum“, „gesteigerte soziale Mobilität“, „städtisches Wachstum und zunehmende verkehrswirtschaftliche Verflechtung“, „Neuorganisation der Herrschaft“147, aber auch eine neue Lesekultur im Zuge der Universitätsgründungen sind Entwicklungen eines kulturell aufblühenden, fortschrittlicheren Europas, die zu einer gewissen Entmystifizierung der Schreiberzunft geführt haben. An die Stelle des klerikalen Skriptoriums treten am Markt orientierte professionale Schreibwerkstätten, die die heterogen gewordene Schreiblandschaft prägten148 und letztlich auch das Verhältnis zum Buch tiefgreifend veränderten. Jürgen Wolf stellt diesbezüglich fest, dass „in den illuminierten Evangeliaren, Psalterien, Sakramentaren, Legendaren und Chroniken des 13.  Jahrhunderts […] die sakralen Implikationen zwar noch durch[scheinen], [das Buch] seine Rolle als reliquienartiges Bindeglied zu Gott […] allerdings zusehends ein[büßt].“149 Diese Tendenz manifestierte sich durch den Buchdruck mit allen positiven und negativen Konsequenzen für die Schriftkultur in gesellschaftlicher Breite, so dass das Schreiberlob des Johannes Trithemius Ende des 15. Jahrhunderts beinahe anachronistisch anmutet.150 Noch einmal wird die Nützlichkeit der Schreiber, die ihr Leben dem Studium und der Weitergabe der Heiligen Schriften widmen, beschworen. Bildung, Bewahrung der Lehre, Selbsterziehung, Askese, Lohn nach dem Tod sind auch hier noch die Stichworte einer Theologie des Schreibens, die „von allen Handarbeiten“ den Mönchen am meisten entspräche.151 Mit einem bedauernden Blick auf die Blütezeit der monastischen Schreibkultur preist Trithemius die Schreibarbeit als Gottesdienst, der zwischen den Stundengebeten die angemessenste Tätigkeit in klösterlicher Abgeschiedenheit sei:

147 Ebd., S. 20–28. 148 Jürgen Wolf, „Das ‚fürsorgliche‘ Skriptorium. Überlegungen zur literarhistorischen Relevanz von Produktionsbedingungen“. Der Schreiber im Mittelalter, hrsg. von Martin J. Schubert (= Das Mittelalter: Perspektiven mediävistischer Forschung, Bd. 7, H. 2), Berlin 2002, S. 92–109, hier S. 100 f. 149 Wolf, „Das ‚fürsorgliche‘ Skriptorium“, S. 99. 150 Johannes Trithemius, De Laude Skriptorum. Zum Lobe der Schreiber, eingeleitet, hrsg. und übersetzt von Klaus Arnold (= Mainfränkische Hefte, Bd. 60), Würzburg 1973. 151 Ebd., S. 49.

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Durch nichts vermag sich ein Mönch tätig mehr der Vollkommenheit zu nähern als dadurch, dass er sich aus Nächstenliebe dem Abschreiben der göttlichen Texte widmet. Wovon soll er denn anders ein Almosen geben, der er nichts besitzt? Ein hingebungsvoller Schreiber erfüllt die Werke der Barmherzigkeit nachweislich überreich, sein Werk ist sogar von höherem Wert. Jemand hat es einmal so ausgedrückt: „Der Schreiber predigt und forscht, er betet und gibt großzügig weiter; er übt sich in Askese, gibt den Künftigen Verständnis, ist ihnen Quelle und Licht; er bereichert, er wappnet, bewahrt und ehrt die Kirche“ (Johannes Gerson, De laude scriptorum). Was ist nützlicher als eine Arbeit, die solche Vorzüge aufzuweisen hat? […] Dies haben die Mönche früherer Zeiten bedacht, und mit unglaublichem Eifer Bücher abgeschrieben; in der Gewissheit, dass diese Tätigkeit in einzigartiger Weise das Gefallen des allmächtigen Gottes findet. Er wünscht, dass wir seinen Willen erfahren und erfüllen und darauf bedacht sind, seine Gebote einzuhalten. Doch würde sein Wille niemals zu unserer Kenntnis gelangen, hätte ihn nicht der Eifer der Schreiber den Buchstaben anvertraut. Die Schreiber sind daher Künder des göttlichen Willens, den sie uns mit Hilfe des geschriebenen Wortes überliefern.152

In der besonderen Atmosphäre der monastischen Schreibstube häufen sich ab dem 10.  Jahrhundert allegorische Darstellungen vom fleischgewordenen Logos und dessen Materialisierung in den heiligen Büchern der Christenheit. Nach dem Tod des Gottessohnes überträgt sich dessen Präsenz auf das Buch, nämlich das Evangelium, das nun stellvertretend für Christus die göttliche Gegenwart in der Welt repräsentiert. Das liber vitae symbolisierte auch im Mittelalter Logos und Christus auf eine ausgesprochen körperhafte Art und Weise, was zahlreiche Gleichsetzungen des heiligen Buches mit dem geschundenen Leib Christi bezeugen. Dabei assoziierten verschiedene Autoren den gesamten Herstellungsprozess des Kodex und die dazu verwendeten Materialien mit der Heilsgeschichte. Ein poetisches Zeugnis für die Wahrnehmung einer tiefgreifenden Metamorphose eines profanen Materials zum heiligen Objekt findet sich bereits in dem berühmten Exeterbuch, das eine Anthologie altenglischer Dichtungen beinhaltet. Die Sammlung ist in einer Handschrift aus dem späten 10. Jahrhundert oder frühen 11. Jahrhundert überliefert, die der Kathedrale von Bischof Leofric (gest. 1072) geschenkt wurde.153 Das Gedicht ist eines der Rätsel des Exeterbuch, in dem sich ein Gegenstand folgendermaßen vorstellt: Mich beraubte des Lebens einer der Feinde, nahm mir die Lebenskraft, benetzte mich dann, tauchte mich ins Wasser, tat mich wieder von dort weg, setzte mich an die Sonne, wo ich rasch verlor die Haare, die ich hatte. Hierauf schnitt mich die scharfe Schneide eines Messers, mit Hammerschlag geschliffen;

152 Ebd., S. 55; vgl. auch S. 58 f. 153 Exeter Cathedral Library, Ms. 3501.

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Finger falteten (mich), und des Vogels Wonne Eilte über mich mit Tropfen, reiste oft über den dunkelbraunen Rand, verschluckte Baumfarbe, Eine Menge Flüssigkeit, stieg wieder auf mich, reiste schwarzspurig. Mich umhüllte hierauf ein Mann mit Schutzbrettern, bespannte (mich), schmückte mich mit Gold. Fortan leuchteten auf mir die schönen Werke der Schmiede, mit Golddraht eingefaßt. Nun mögen dieser Schmuck und die rote Farbe Und die herrliche Gestalt weithin verherrlichen den Schützer der Menschen und keineswegs Abenteurer. Wenn mich die Kinder der Menschen gebrauchen wollen, werden sie desto gesünder und desto siegreicher sein, an Herzen desto tapferer und desto frohgemuter, in ihrer Seele desto klüger. Sie werden desto mehr an Freunden haben, an lieben und engverbundenen, an wahrhaftigen und guten, an tüchtigen und treuen, die ihren Ruhm und Besitz mit Wohlwollen vermehren und sie freundlich mit Zuneigung umgeben und sie mit der Umarmung der Liebe fest umschließen. Forsche, wie ich heiße, den Menschen zum Nutzen; mein Name ist berühmt, bei den Menschen bekannt, ich (selber) heilig.154

Die Lösung des Rätsels ist entweder die Bibel oder das Evangeliar. Der Leser wird Zeuge einer dramatischen Metamorphose eines Tieres zum heiligen Buch. Die Diskrepanz zwischen dem profanen Tier, das gewaltsam zu Tode kam, und dem Buch, das den Menschen Glück, Gesundheit und Liebe bringt, wird durch einen Bearbeitungsprozess schrittweise überwunden. Es beginnt mit der groben Behandlung der Haut zu einem feinen Pergament, das beschnitten und gefaltet der Beschriftung durch eine schwarze Tinte dient und endet mit einem kunstvollen Einband aus Holz, Gold und Ziselierwerk. Der äußeren Transformation des Materials entspricht ein innerer Prozess des Tieres. Die anfängliche Klage um das eigene Leben wird im Laufe des Gedichts von einem Bewusstsein um die eigene Heiligkeit und die damit verbundene Hoffnung für die Menschen ersetzt. Das Schicksal des Tieres erinnert – ohne dass diese Assoziation ausgesprochen würde – an den Leidensweg Christi, der erst nach seinem gewaltsamen Tod den Menschen in Form der Schrift begegnet und in dieser Form das Heil in die Welt

154 Die altenglisch-deutsche Textausgabe ist von Hans Pinsker und Waltraud Ziegler herausgegeben und aus der westsächsischen Sprache mit nordhumbrischen Dialektformen übersetzt und kommentiert worden: Die altenglischen Rätsel des Exeterbuchs. Text mit deutscher Übersetzung und Kommentar (= Anglistische Forschungen 183), Heidelberg 1985, S. 51.

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bringt. Das Gedicht stammt wie einige andere Rätsel des Exeterbuchs, in denen die Buchkunst beschrieben wird, sehr wahrscheinlich aus dem Milieu des Skriptoriums. Es bezeugt nicht nur die enorme Wertschätzung des heiligen Buches im frühen Mittelalter, sondern auch die sehr bewusste Wahrnehmung der buchhandwerklichen Arbeit als eine gottgefällige Tätigkeit der Mönche und Geistlichen.155 Die Vorstellung von einem Tier, das sich freudig in sein Schicksal als Materialspender für ein liturgisches Buch fügt, findet sich auch in dem Streitgedicht Du denier et de la brebris, das in einer französischen Handschrift aus dem 13. Jahrhundert überliefert ist. Ein Schaf und ein Denar streiten um den Vorrang der Natural- bzw. der Geldwirtschaft. Als ein Argument für die Vorzüge von Naturalien hält das Schaf dem Denar Folgendes vor: Doch du bist immer draussen und schmutzig. Ich will dir sagen, was deine ganze Ehre ist: Das ist, wenn man dich eines schönen Tages darbringt Auf dem Altar; aber dort bleibst du nicht. Ich dagegen bleibe dort, denn ich enthalte Stundengebete, auf meiner Haut sind die Gebete und alle Segnungen, mit denen man der heiligen Kirche dient.156

Spätere Textquellen interpretieren den Herstellungsprozesses eines heiligen Buches ganz direkt als eine Allegorie auf das Kreuzigungsgeschehen. In der berühmten Exempla-Sammlung Dialogus Miraculorum identifizierte beispielsweise der Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach (gest. nach 1240) in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts das „Buch des Lebens“ mit dem Opfertod des Erlösers: Auf die Haut seines Leibes sind die kleinen schwarzen Buchstaben geschrieben worden durch die dunklen Striemen der Peitschen, die roten Buchstaben und Kapitalen durch die eingeschlagenen Nägel, die Punkte und Kommata durch Striche der Dornen. Tüchtig ist seine Haut vorher mit vielen Schlägen geschliffen, mit Fäusten und Speie geglättet, mit dem Rohr liniert worden.157

155 Dieser Punkt wird in Kapitel 6 wieder aufgegriffen. Vgl. Pinsker und Ziegler, Die altenglischen Rätsel des Exeterbuchs, S. 203. 156 Zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 458–459. Vgl. auch Victor Sallentin, „Handel und Verkehr in der altfranzösischen Literatur“, in: Romanische Forschungen 31 (1912), S. 1–154, hier S. 38–39. 157 Zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S.  347. Im 15.  Jahrhundert übertrug Johannes Hartlieb diese Passage mit einigen antijüdischen Einschüben ins Deutsche: „Auch was die selbe heylig hawt und sein chlares fel seins mynniklichen anplicks vor hin und des ersten mit manigerlay achtung, verratung und smehung durchpunctirt und durchstopphet, mit halsslegen, packenslegen und mit verspiczen der unflatigen, falschen juden spaicheln bestrichen und beflecket und mit den roren durchzeilet und lyniert […].“ Zitiert nach Dieter Richter, „Die Allegorie der

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Caesarius löst den vermeintlichen Widerspruch zwischen Schmerz, Folter, Tod und der heiligen Schrift auf und erzeugt auf diese Weise ein drastisches Bild von der Passion Jesu und der damit verbundenen Hoffnung für die Christenheit. Die Schrift des Caesarius diente der erbaulichen Unterweisung der Novizen in das Ordensleben des Zisterzienserklosters Heisterbach. Aus dem Orden der Zisterzienser heraus entstanden im späten 12. und frühen 13.  Jahrhundert einige Sammlungen erbaulicher Exempla, zu denen auch Caesarius’ Dialogus Miraculorum gehört. Die darin vorgestellten Narrative thematisieren meist das Klosterleben und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Sie sollen den Mönchen als gute Beispiele für ein tugendhaftes Leben dienen und „die Sinnhaftigkeit ihres eigenen Lebens bestätigen“158. Das Schreiben eines Buches kann den Ausführungen Caesarius’ entsprechend als eine Form der imitatio Christi aufgefasst werden, bei der ein Kopist der Evangelien zumindest in seiner Vorstellung den Leidens- und Sterbeweg Christi nachvollziehen und mit dem heiligen Kodex verbinden kann. Auch der französische Benediktiner Petrus Berchorius (gest. 1362) vergleicht in seinem bibelmoralischen Wörterbuch Repertorium morale Christus mit einem Buch, geschrieben auf jungfräulichem Pergament […], geschabt in der Geißelung, durchstochen [zur Markierung des Liniensystems], als ihm Wunden beigebracht wurden, aufs Pult gelegt in der Kreuzigung, illuminiert durch das Vergießen seines Blutes, eingebunden bei der Auferstehung und disputiert bei der Himmelfahrt […].159

Ganz ähnliche Assoziationen stellt der ebenfalls aus Frankreich stammende Theologe und Prediger Jakobus von Lausanne (gest. ca. 1321) her: Wenn ein Pergamenter viele Häute schaben und reinigen will, spannt er sie zuerst zwischen vier Hölzern und macht sie fest […]. So wollte Gott Vater den mächtigen Christus auf das Holz des Kreuzes spannen und festmachen lassen, damit wir Schwachen mit seiner Hilfe vom Überfluss unserer Sünden gereinigt werden könnten.160

Pergamentbearbeitung. Beziehungen zwischen handwerklichen Vorgängen und der geistlichen Bildersprache des Mittelalters“, in: Gundolf Keil, Rainer Rudolf, Wolfram Schmitt und Hans J. Vermeer (Hrsg.), Fachliteratur des Mittelalters. Festschrift Gerhard Eis, Stuttgart 1968, S. 83–92, hier S. 88. 158 Vgl.  Nicole Eichenberger, Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters, Berlin 2015, S. 94–96. 159 Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 508 f. 160 Ebd., S. 492 f.

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Die christologische Allegorisierung des Pergaments ist von einer drastischen Bildhaftigkeit, die der Idee vom Buch als Stellvertreter Gottes auf eine sehr konkrete Weise Ausdruck verschafft. Im südeuropäischen Raum finden sich Zeugnisse, in denen die Arbeitsgänge der Pergamentherstellung mit den Tugenden Marias assoziiert werden. Der italienische Franziskaner Servasanctus Tuscus aus Faenza, setzte im 13. Jahrhundert die Herstellung eines geweißten Pergaments mit der Empfängnis Mariae gleich: So wird die Heilige Jungfrau Buch des Lebens genannt. […] Dieses Buch war zuerst Haut, getrennt vom Rind in ihrer Empfängnis, gereinigt in ihrer Heiligung, ausgespannt durch Zucht, getrocknet durch Enthaltsamkeit, weiß gemacht durch Selbstzucht, geschabt durch Armut, geschmeidig durch Milde, zart durch Demut, im Gruß des Engels geglättet und durch seine Botschaft liniert, und so ist in ihr durch den Finger Gottes jenes verkürzte Wort geschrieben worden, welches Gott ausgeführt hat auf der Erde, Jesaja 9. Dieses Buch ist auf wundersame Weise rubriziert worden durch das rote Blut Christi in der Passion, und mit vielen Farben gemacht, d. h. mit vielen Schmerzen vollbracht, Jeremia 9. Durch die Lesung aller Gebote, d. h. durch Christi Gehorsam bis in den Tod vollendet. Schließlich ist dieses Buch mit Blut besprengt worden, als einer der Soldaten ihn mit der Lanze in die Seite stach, und Blut und Wasser trat heraus.161

In der mariologischen Allegorese des Pergaments bildet der Gedanke von Maria als Buch und Wohnstätte Gottes die Grundlage der Ausführungen. Dieses Gleichnis scheint in den für diese Studie relevanten Regionen nicht sehr verbreitet gewesen zu sein. Doch taucht auch in Quellen aus Deutschland die Idee vom jungfräulichem Pergament auf, das gleich Maria durch das Wirken des Heiligen Geists den Quell der Passionsgeschichte darstellt; etwa in einem Passionstraktat aus dem 15. Jahrhundert mit dem Titel „Buch des Lebens“, in dem der Autor einleitend erklärt: Ez wirt auch gehaissen dez lebens, wan es von dem iunckfrawenlichen permant durch wurken dez heiligen gaistes hubslich aussgeczogen ist. Daz selbig puch vnsser her Ihesus Christus verspot ist [worden] vnd hertiglich geslagen mit spiczigen dornern, sein haut durch stochen mit gaisseln vnd ruten durch hawen vnd mit den haubpt pustaben der heiligen fundbunden durch graben vnd mit lewchtenden pustaben mancherley rot vnd swarcz durch schreiben vnd mid eisenen stilen, alz der lieb Job begeret, vnd auf dem pulpet dez heiligen crewcz [awf gestellet], daz ietczunt nit verslossen noch bezaichnet oder verporgen ist, sunder auf getan vnde enplost ist mit allen sigellen vns czu lesen, daz in im beslossen hat vil vnd mancherlay heilikait vnd haimlickait daz weder menslich noch engeli[s]ch vernunft begraiffen kann. In dem puch wer do stetiglich vnd vil lesen oder studiren ist ains in dr Wochen andechtiklich an czwaifel, wen der alt der tagen czu richten kumen wirt vnd der

161 Mariale. Liber de laudibus beatae Mariae Virginis, 85. Zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 464.

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thron den richtern geseczet wirt vnd die pucher der gewissen auf werden getan, so wirt auch geoffnet daz puch dez lebens, in dem sein nam geschriben ist.162

Neben der Schreibhaut bietet auch die Feder des Schreibers Anlass zu ethischen Ausführungen. Der englische Theologe, Philosoph und Bischof von Lincoln, Robert Grosseteste (gest. 1253), gibt ein Beispiel dafür: Die Zunge eines weisen Menschen ist gleich der Feder eines Schreibers, wie der Psalmist sagt: Meine Zunge ist die Feder eines raschen Schreibers. Diese Feder wird ausgehöhlt durch Demut […]. Sie muss beschnitten werden, indem auf der rechten Seite alles Träge, Liederliche und Unbesonnene entfernt wird, auf der linken Seite das Falsche, Unreine und ätzend Verleumdende. Gespalten werden muss sie durch Urteilskraft, gekürzt von lästiger Weitschweifigkeit, geschliffen durch die Klarheit kurzer Rede. Steif sei sie und biege sich nicht in doppelzüngiger Zweideutigkeit, noch sei sie allzu weich in anbiedernder Schmeichelei.163

Wir wissen nicht, ob sich diese Gedankenspiele rund um das Pergament und die Schreibutensilien auch auf performativer Ebene niederschlugen. Es gibt keine Zeugnisse dafür. Sehr wahrscheinlich kursierten die allegorischen Ausführungen zum Gerben, Linieren und Beschriften der Häute vor allem im monastischen Umfeld der Skriptorien zur spirituellen Vorbereitung von Schreibern oder dienten in sowohl klerikalen als auch laikalen Kreisen der Erbauung. (Abb. 17–19) Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die religiösen Assoziationen, die von christlicher Seite an die Schreibmaterialien geknüpft waren, von rabbinischen Gelehrten und Schreibern nicht wahrgenommen wurden – auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass die schriftlichen Zeugnisse dieser Allegorese des Buches den meisten Juden schon durch die lateinischen Sprachbarrieren verschlossen blieben.164 Die Verlebendigung des Heiligen Buches ist allerdings auch ein Motiv in der christlichen Kunst des Mittelalters und konnte von der nichtchristlichen Minderheit visuell in Büchern, auf Gemälden oder als Bestand-

162 Zitiert nach Richter, „Die Allegorie der Pergamentbearbeitung“, S. 88, Anm. 32. 163 Robertus Grosseteste, Dictum 54, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 368. Vgl. auch Joseph Goering und Randall Rosenfeld, „The Tongue is a Pen: Robert Grosseteste’s Dictum 54 and Scribal Technology“, in: Journal of Medieval Latin 12 (2002), S. 114–140, hier S. 119. 164 Kanarfogel, The Intellectual History, S. 87. Sicherlich gab es auch im aschkenasischen Raum Juden, die der lateinischen Sprache mächtig waren. Für sefardische Juden sind gute Kenntnisse des Lateinischen und in manchen Fällen Übersetzungstätigkeiten vom Arabischen ins Lateinische belegt. Vgl.  Andreas Speer und Lydia Wegener (Hrsg.), Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter (= Miscellanea Mediaevalia 33), Berlin 2006. Judith OlszowySchlanger vermutet in mittelalterlichen jüdischen Gemeinden Englands eher geringe Kenntnisse des Lateinischen. (Judith Olszowy-Schlanger, Hebrew and Hebrew-Latin Documents from Medieval England: A Diplomatic and Palaeographical Study, Turnhout 2015, Bd. 1, S. 17–36.)

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Abb. 17: Jesus im Buch, Ms. NAF 4338, fol. 141v, c. 1325–1350 Frankreich (Bibliothèque nationale de France, Paris).

4.6 Ursachen und Funktionen der rituellen Weihe 

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Abb. 18: Moses wird von der Tochter des Pharaos aus dem Nil gezogen; Jesus entspringt einem Buch, Ms. Fr 9561, fol. 47r. (Bibliothèque nationale de France, Paris).

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Abb. 19: Jesus im Buch, RB. Msc. 166, fol. 81v (Staatsbibliothek Bamberg).

4.6 Ursachen und Funktionen der rituellen Weihe 

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teil eines christlichen Sakralgebäudes aufgenommen werden. Und schließlich bezeugt eine bemerkenswerte Anzahl halachischer, exegetischer und polemischer Abhandlungen aus dem mittelalterlichen Aschkenas ein waches Bewusstsein für christliche Argumente.165 Eine besondere Herausforderung für jüdische Gelehrte stellten christliche Polemiken dar, die auf Grundlage der Hebräischen Bibel die Identität des „wahren Israel“ für sich beanspruchten. Die Forderung der rabbinischen Schulen des europäischen Mittelalters, die Materialien, den Text und den Namen Gottes laut und vernehmlich der „Heiligkeit Israels“ zu weihen, kann durchaus als ein performativer Fingerzeig darauf gelesen werden, wo die jüdischen Eliten das „wahre Israel“ verorteten. Die Weihepraxis ist jedoch auch als eine parallele Entwicklung zur enormen spirituellen Aufwertung des heiligen Buches und seiner materialen Elemente in der christlichen Umweltkultur zu verstehen.

4.6.2 Benediktionen, Heiligungen und Exorzismen in der christlichen Umweltkultur: Eine Inspiration für jüdische Schreiber? Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass zur selben Zeit, als die Halachisten und Schreiber des christlich geprägten Europas die rituelle Weihe so stark ins Zentrum der Schreibvorschriften rückten, der consecratio (Weihe von Personen) und dedicatio (Weihe von Realien) ebenfalls ein zunehmend wichtiger Platz in der religiösen Praxis zugesprochen wurde, um Personen oder Gegenstände mit der göttlichen Transzendenz zu verbinden bzw. aus dem profanen Bereich herauszuheben.166 Darüber hinaus bezeugen Quellen, dass die Funktion der Segnung im christlichen Mittelalter kaum noch von der Weihe zu unterscheiden ist. Eine befugte Person kann nun auch mittels der benedictio eine „Wirkung bleibender Art, die auch rechtliche Folgen haben“167 konnte, hervorrufen, obwohl die eigentliche Bedeutung der Benediktion lediglich im Lobpreis Gottes „angesichts seiner Taten in Schöpfung und Erlösung“168 liegt, bei der die Sache nicht

165 Jacob Katz war mit seiner bahnbrechenden Studie Exclusiveness and Tolerance einer der ersten, der die große Empfindlichkeit jüdischer Exegeten für anti-jüdische Polemik im christlichen Europa analysiert. Auf diesen Punkt wird zurückzukommen sein. 166 Markus Ladstätter, „Weihe, Weihung“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, hrsg. von Michael Buchberger und Walter Kapser, Freiburg [u. a.] 32004, Bd. 10, Sp. 1004. 167 Ebd. 168 Rupert Berger, Benediktionen, in: Lexikon für Theologie und Kirche, hrsg. von Michael Buchberger und Walter Kapser, Freiburg [u. a.] 32004, Bd. 2, Sp. 221–223, hier Sp. 221.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

verändert, sondern ihr Bezug auf Gott hergestellt wird. Man kann durchaus von einer regelrechten „Inflation der Heiligung“ sprechen. Angesichts dieser Entwicklung erscheint die Frage berechtigt, ob sich die christliche Leidenschaft für rituelle Weihen auf die jüdische Religionspraxis übertragen hat. Haben die jüdischen Rechtsgelehrten vielleicht sogar ganz bewusst diese Form der Heiligung rund um die Schriftrollenherstellung erweitert, da sie den in der breiten Bevölkerung tief verankerten Glauben an die Wirkmacht der Weihe und Benediktion tagtäglich in ihrem Umfeld beobachten konnten? Sollte mit den im Zuge der Schriftrollenherstellung angewandten rituellen Handlungen auch ein Signal an Teile der christlichen Gesellschaft gesandt werden: Die Heiligkeit insbesondere der Torarolle steht über derjenigen der Bücher der christlichen Liturgie? Diesen Fragen soll mit einem tieferen Blick in die mittelalterliche Weihe- und Segnungspraxis nachgegangen werden, wobei zunächst geklärt werden muss, welche Formen der christlichen Weihepraxis von der jüdischen Bevölkerung überhaupt wahrgenommen werden konnten. Adolph Franz stellt in seiner bis heute grundlegenden Studie Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter auf der Grundlage des umfangreichen von ihm zusammengestellten Quellenmaterials fest, dass „in der Tat das ganze öffentliche und private Leben der mittelalterlichen Christenheit von den kirchlichen Segnungen begleitet“169 war. Dabei wurden eine Reihe klassischer Weihezeremonien wie Taufe und Eucharistie innerhalb der Kirchenmauern und somit vor den Augen der meisten Juden verborgen zelebriert. Das trifft auch auf einen Teil der sogenannten Sakramentalien oder sacramenta minora zu, zu denen beispielsweise Exorzismen gehörten, die zur Austreibung von Dämonen gesprochen wurden. Geistliche behandelten von Dämonen Besessene vorzugsweise innerhalb von Kirchen oder Klöstern in der Nähe von Altar und Weihwasserbecken, wo man den Kranken mitunter tagelang ausharren ließ.170 Bemerkenswerterweise waren einige Beschwörungsformeln „mit kabbalistischen Gottesnamen reich ausgestattet“171. Es sind Anweisungen aus dem 14.  Jahrhundert überliefert, in denen geraten wird, „den Kopf des Besessenen mit der linken Hand zu fassen, den Daumen der rechten Hand in den Mund des Besessenen zu stecken und dann in beide Ohren eine Reihe kabbalistischer Worte zu rufen und eine Beschwörung [per nomen magnum et ineffabile tethragrammathon] zu sprechen“172, um den Namen des Dämons oder der Dämonen in Erfahrung zu bringen. Offenbar – das 169 Adolph Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909 (Nachdruck Graz 1960), Bd. 1, S. 38–39. 170 Ebd., Bd. 2, S. 545–615, hier S. 555. 171 Ebd., S. 573. 172 Ebd., Bd. 2, S. 570.

4.6 Ursachen und Funktionen der rituellen Weihe 

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sei hier nur am Rande erwähnt – ist hier Jüdisches in die christliche Ritualpraxis eingeflossen. Die jüdische Bevölkerung konnte die kirchlichen Weihen eines Herrschers oder eines Ritters und seines Schwerts, bestimmte Öl- und Wasserweihen, die Segnung von Pilgern sowie zahlreiche Benediktionen im privaten Leben wahrnehmen.173 Die von Franz in zwei umfangreichen Bänden zusammengestellten Weihe- und Segnungsrituale enthalten auch zahlreiche Szenarien, die unter freiem Himmel stattfanden. Dazu gehört die Segnung eines neuen Hauses, die Benediktion der Felder, des Brunnens oder des Viehs, die mittels laut ausgerufener Formeln wirkkräftig wurden. Die Erstlinge des Feldes und des Gartens, aber auch Heilkräuter brachte man zur Segnung in die Kirche; die festlich begangene Traubenweihe war ein weit verbreiteter Brauch. Selbst Steine, denen heilende Kräfte zugesprochen wurden, erhielten Benediktionen. Im Falle von Seuchen war die Kirche ebenso mit Segnungen zur Stelle wie bei alltäglichen Unbilden: Wenn Wetterwolken der Saat und Frucht Verderben drohten, dann musste der Priester auf dem Kirchplatz, umgeben von der beängstigten Gemeinde, einen jener Wettersegen sprechen, deren Macht nach dem Glauben des Volkes die Wetterdämonen weichen mussten. Kam Mäuse- oder Insektenplage, so gab es Exorzismen, die das Ungeziefer vertrieben. Drohten Überschwemmungen, so vertraute man auf einen kirchlichen Segensspruch; herrschte Feuersbrunst, so mußten die Pallen des Kelches und andere geweihte Gegenstände helfen.174

Aus Charmville, einer Pfarrei im Berner Jura, ist folgende Inszenierung überliefert: Bei Wettergefahr zog [der Priester] mit seinem Küster in Begleitung von Gläubigen aus dem Pfarrorte unter Gesang und Gebet zu der auf der Höhe gelegenen Kapelle des hl. Imier (Himerius), des Apostels des schweizerischen Juragebiets, wo bereits Gläubige aus den umliegenden Orten versammelt waren. Kreuz und Weihwasser waren zur Stelle. Der Küster war überdies mit einer Armbrust und mit Pfeilen bewaffnet, die der Priester segnete. Während dieser die Gebete sprach, setzte der Küster seine Waffe in Bereitschaft, und wenn der Priester zum dritten Male rief: „Wiederum beschwöre ich euch, Hagel und Unwetter“, so schoß der Küster seinen Pfeil gegen die schwarzen Wolken. Unter Glockengeläute kehrten nun die Gläubigen beruhigt in ihr Heim zurück.175

Berichte über die Palmweihe am Sonntag vor der Karwoche lassen erahnen, wie dramatisch die dazugehörigen Prozessionen inszeniert und von der Bevöl-

173 Ebd., Bd. 1, S. 39. 174 Ebd., Bd. 1, S. 39. 175 Ebd., Bd. 1, S. 470–507.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

kerung aufgenommen wurden.176 Dazu gehört auch die Sakramentsprozession, während derer an verschiedenen Stationen (Altären) mittels konsekrierter Hostie der sakramentale Segen gespendet wird. Trotz Missbilligung durch einige christliche Gelehrte trugen Geistliche die Monstranz bei Bränden, Unwettern oder Epidemien sogar aus der Kirche hinaus, um beispielsweise zum Zweck eines Wettersegens „unter Verlesung der vier Evangeliumanfänge“177 in eindrucksvollen Prozessionen „über Berg und Tal“ mit dem „Leibe des Herrn die Luft zu exorzieren“178. Solche Flur- und Bittprozessionen waren keine Seltenheit und gaben allen Zuschauern Gelegenheit, den tiefen Glauben der christlichen Gemeinschaft an die Wirkmacht der laut vorgetragenen Formel mitzuerleben. Andrea Löther hat in ihrer umfassenden Studie Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten mit Blick auf das Hochmittelalter dargestellt, wie stark Prozessionen das gottesdienstliche Leben von Stiftskirchen, Klöstern, Pfarreien sowie der nichtklerikalen Stadtbevölkerung prägten. Auch wenn Laien nicht immer aktiv an solchen Prozessionen teilnahmen, gehörten „Prozessionen vorwiegend von Kanonikern und Mönchen […] zum fast alltäglichen Bild“179 einer mittelalterlichen Stadt. Die liturgisch-sakramentale Handlung, die neben den heilsgeschichtlichen Ereignissen das „gegenwärtige Mysterium der Begegnung zwischen Gott und dem Menschen“180 zelebriert, wurde durch die Prozession in den öffentlichen Raum über die Kirchengrenzen hinausgetragen. Darüber hinaus dürfte auch die Weihe von Schiffen und öffentlichen Gebäuden ein gewohntes Bild für die jüdische Bevölkerung gewesen sein. Die teilweise engen geschäftlichen und privaten Beziehungen zwischen Juden und Christen im mittelalterlichen Aschkenas lassen keinen Zweifel daran, dass die zahllosen im 176 Ebd., Bd.  2, S.  71. Über regionale liturgische Praktiken und Prozessionsordnungen siehe beispielsweise Wilhelm Kohl, Das Kollegiatstift St. Mauritz vor Münster (= Germania Sacra. Historisch-Statistische Beschreibung der Kirche des Alten Reiches, Neue Folge 47: Die Bistümer der Kirchenprovinz Köln: Das Bistum Münster, Bd. 9), Berlin [u. a.] 2006. In dieser Prozessionsordnung stechen Klagen über den exzessiven Charakter solcher Prozessionen ins Auge, bei denen „ein oder ander sich vollgesoffen und hin und wieder beliggen plieben“ und von „Ärgernissen und Schlägereien“ die Rede ist (S. 177); vgl. auch Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hrsg. von Kurt Köster, Stuttgart 122006, S. 3 f. 177 Franz, Die kirchlichen Benediktionen, Bd. 2, S. 112. 178 Ebd., S. 108. 179 Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten: politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit, Köln [u. a.] 1999, S. 37. 180 Herman J. Selderhuis, „Materielle Dimensionen der liturgischen Feier“, in: Divina Officia: Liturgie und Frömmigkeit im Mittelalter (= Ausstellung der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel und des Dom-Museums Hildesheim in der Bibliotheca Augusta vom 28. November 2004 bis 31. Juli 2005), hrsg. von Patrizia Carmassi, Wolfenbüttel 2004, S. 328–340.

4.6 Ursachen und Funktionen der rituellen Weihe 

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privaten Raum durchgeführten Benediktionen den jüdischen Nachbarn zumindest zu Ohren gekommen sind. Franz trägt zahllose außerkirchlichen Anwendungen des Weihwassers innerhalb des Hauses – z. B. im Falle von Krankheiten und Schwangerschaften sowie bei Anwendungen bestimmter Heilmittel  – und im öffentlichen Raum – z. B. zum Schutz gegen Wölfe oder Schlangen, bei neuen Pflanzungen oder gegen Ungeziefer  – zusammen, die den Eindruck einer ausgesprochen lebendigen Kultur des rituellen Besprechens verstärken. Die daraus entstandene Flut immer neuer Weiheformeln konnte erst mit der Herausgabe gedruckter Ritualien Ende des 15.  Jahrhunderts eingedämmt und in kirchliche Bahnen gelenkt werden.181 Selbstverständlich ist die Weihe auch integraler Bestandteil des jüdischen Ritus. In biblischen Zeiten weihte man Priester, Könige, Krieger, Altäre, Tempelgeräte und Opfer. Später gab es neben der feierlichen Einweihung von Friedhöfen und Synagogen auch bei anderen Ereignissen des kommunalen Lebens Anlass zu Initiationen und Riten der Heiligung. Einige der antiken Weihrituale (Besprengung, Weihe der Erstlinge usw.) sind in die christliche Praxis eingeflossen und demzufolge nicht als etwas spezifisch Christliches zu betrachten. Darüber hinaus begleiten zahlreiche berachot  – kurze Gebete oder Preisungen  – sowohl das private als das öffentlich-liturgische Leben. Vor dem Essen, dem Schlafengehen, dem rituellen Bad, der Erfüllung einer miṣvah, dem Besuch eines Wunderortes, bei extremen Wetterphänomenen, dem Hören einer guten Neuigkeit und natürlich während des synagogalen Ritus – um nur einige Anlässe zu nennen – dient eine beracha der Erinnerung Gottes oder der Heiligung einer bestimmten Handlung. Im Zusammenhang mit der Herstellung der STaM ist jedoch eine erhöhte Frequenz der rituellen Heiligung zu beobachten, die – wie oben beschrieben – mit einer generellen Tendenz im religiösen Leben der christlichen Umwelt konform läuft. Die jüngeren Forschungen zur jüdischen Ritualpraxis im mittelalterlichen Europa182 legen nahe, die Neuformulierungen der Schreibregeln zwischen dem 181 Franz, Die kirchlichen Benediktionen, Bd. 2, S. 641–649. 182 Ivan G. Marcus, Rituals of Childhood. Jewish Acculturation in Medieval Europe, New Haven [u. a.] 1996, S.  12; vgl.  auch Israel Yuval, „Vengeance and Damnation, Blood and Defamation: From Jewish Martyrdom to Blood Libel Accusations“ (hebr.), in: Zion 58 (1993), S. 33–90; Talya Fishman, „The Rhineland Pietists’ Sacralisation of Oral Torah“, in: Jewish Quarterly Review 96 (2006), H. 1, S.  9–16; dies., „The Penitential System of Hasidei Ashkenaz and the Problem of Cultural Boundaries“, in: The Journal of Jewish Thought and Philosophy 8 (1999), S. 201–229, hier Anm. 3; Ze’ev W. Falk, Jewish Matrimonial Law in the Middle Ages, Oxford 1966; Esther Cohen und Elliot Horowitz, „In Search of the Sacred: Jews, Christians and Rituals of Marriage in the Later Middle Ages“, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 20 (1990), H. 2, S. 225–249; Elisheva Baumgarten, „Circumcision and Baptism: The Development of a Jewish Ritual in Chris-

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

11. und 14. Jahrhundert mit einem Blick auf die christliche Umweltkultur als Ausdruck eines Zeitgeistes zu überdenken. Das wachsende Bemühen jüdischer Halachisten und Schreiber, beinahe sämtliche Arbeitsschritte im Herstellungsprozess der heiligen Schriftrollen in ein dichtes Netz von Heiligungsritualen einzubetten, kann dann durchaus mit dem in der Einleitung vorgestellten Begriff der „inward acculturation“ beschrieben werden, mit dem Ivan Marcus in seiner bahnbrechenden Studie Rituals of Childhood die Auffassung von einem europäischen Judentum, das von seinen christlichen Nachbarn isoliert ein kulturelles Eigenleben führte, in Frage stellte. Die rabbinischen Autoritäten ließen es auf einen „Wettstreit der Heiligkeit“ ankommen, der zwar mit den gleichen rituellen „Waffen“ ausgetragen wurde, jedoch letztlich die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum herausstellen sollte. Er speiste sich aus dem starken Wunsch der rabbinischen Gelehrten, das zentrale Symbol des jüdischen Glaubens, die Torarolle, rituell in die alleinige Obhut der jüdischen Gemeinschaft zu geben. Es ist ein inszenierter Akt des Erinnerns an das besondere Verhältnis von Gott und dem als heilig ausgezeichneten Volk Israel. Dabei wurde eine Vorstellung ritualisiert, die das Diasporajudentum in zahlreichen textlichen Varianten  – etwa in der Liturgie, der Poesie und der Schriftauslegung – begleitet hat. Die religiöse und soziale Funktion heiliger Bücher innerhalb der christlichen Gesellschaft sowie die Affinität des lateinischen Westens zu allen Arten der Heiligung sind nur einige wenige Aspekte eines komplexen sozialen, religiösen und politischen Systems, das als Auslöser für die rituellen Dynamiken betrachtet werden kann. Die spirituelle Aufwertung der Schreibmaterialien und des Schreibprozesses in der jüdischen Traditionsliteratur wächst parallel zur allegorischen Interpretation der Schreibmaterialien in klerikalen Kreisen und den aufblühenden Mönchsorden der christlichen Gesellschaft. Es erscheint paradox, doch Abgrenzung und Akkulturation sind bei der „Arbeit des Himmels“ zwei Seiten derselben Medaille.

tian Europe“, in: The Covenant of Circumcision: New Perspectives on an Ancient Jewish Rite, hrsg. von Elizabeth Mark, Lebanon 2003, S. 114–127; dies., „A Tale of a Christian Matron and Sabbath Candles: Religious Difference, Material Culture and Gender in Thirteenth Century Germany“, in: Jewish Studies Quarterly 20 (2013), S. 83–99; dies., Mothers and Children: Jewish Family Life in Medieval Europe, Princeton 2004; Elisheva Baumgarten und Judah D. Galinsky (Hrsg.), Jews and Christians in Thirteen-Century France, New York 2015.

4.7 Halachische Diskussionen um die Herstellung von Tinte und qulmus 

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4.7 Halachische Diskussionen um die Herstellung von Tinte und qulmus Die in Kapitel 3 beschriebenen widersprüchlichen Angaben der Rabbinen bezüglich der für den rituellen Gebrauch zu verwendenden Tinten erzeugten einen großen Raum für Interpretationen, den spätere halachische Autoritäten nicht ungenutzt ließen. Im christlichen Europa stehen sich unterschiedliche Positionen gegenüber.183 Die halachischen Größen in Frankreich lehnen – im Gegensatz zu den deutschen Autoritäten – zum Schreiben der STaM die in Europa sehr beliebte Eisengallustinte kategorisch ab. Der französische Gelehrte Jakob ben Meir Tam und mit ihm einige seiner Schüler distanzieren sich ausdrücklich von der in Deutschland auch im rituellen Bereich verwendeten Eisengallus- bzw. Vitrioltinten. Er argumentiert auf der Grundlage von Talmudpassagen, in denen von einer Trockentinte die Rede ist (Eisengallustinte wird als flüssiger Schreibstoff verwendet). Darüber hinaus folgert der Tosafist aus der Aufzählung der Schreibstoffe in bT Giṭṭin 19a, dass auch der beliebte Gallapfel, da er dort neben dejo als eigenständige Substanz aufgeführt wird, kein Bestandteil der koscheren Tinte sein könne.184 Stattdessen empfiehlt er für das Schreiben der STaM die Verwendung einer „getrockneten Tinte aus Nadeln“ oder der „Rinde eines Baumes“185. Für eine solche Tinte überliefern die Tosafisten folgende Rezeptur: Man weiche die Rinde eines Baumes in Wasser ein und entzieht so deren Saft. Man kocht sie nun so lange bis sie dickflüssig wird. Dann gerinnt die Flüssigkeit und trocknet gänzlich. Die Tinte ist bereit.186

Leopold Löw vermutet hinter diesem Baum entweder Fichte oder Rottanne, deren duftendes Holz in Europa auch als Weihrauch genutzt wurde.187 Der Saft der Baumrinde ersetzt Jakob ben Meir zufolge das talmudische Klebemittel Kumus

183 Eine (unvollständige) historische Untersuchung zur Tintenherstellung in Aschkenas bietet auch Chaim E. Twerski, „The Use of Modern Inks for Sifrei Torah“, in: Journal of Halachah and Contemporary Society 15 (1988), S. 68–76. Zu regionalen Unterschieden vgl. auch Abraham ben Nathan ha-Jarchi, Tešuwot še’alot le-ha Rabbi Abraham ben Nathan ha-Jarḥi , hrsg. von Simon A. Wertheimer, Ginzei Jerušalajjim, Jerusalem 1896, Bd. 1, S. 107. 184 Tosafot zu Meg 19a und Giṭ 19a. 185 Zitiert nach: Isaak ben Moses aus Wien, Sefer or zaru‘a, Hilchot Tefillin, § 542. 186 Vgl.  u. a. Tosafot zu Šabb 23a und Giṭ 19a. Löw zählt noch weitere Erwähnungen dieser Baumrindentinte und deren Varianten auf (vgl. Löw, Graphische Requisiten und Erzeugnisse bei den Juden, S. 153). 187 Ebd. Meir ha-Kohen aus Rothenburg empfiehlt die Rinde eines „Duftbaumes“ [‫]עץ בושם‬. Rabbi Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg, Haggahot Maimunijjot, Hilchot tefillin, vemezuzah, ve-sefer torah, I:3.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

(Gummiarabikum), mit dem die Tintenflüssigkeit gebunden wurde. Es ist nicht klar, ob zum Auflösen der pulverisierten Tinte eine Kupfervitriollösung benutzt wurde, um die gewünschte Schwärze zu erzeugen. Hierzu ist zu bemerken, dass der bedenkliche (weil nicht lösliche) Stoff kalkantum (Vitriol) von Raschi als atramentum eingeführt und zu den gebräuchlichen Zutaten der koscheren Tinte für die STaM gezählt wurde. Um die offensichtliche Diskrepanz zwischen Gesetz und Praxis zu überbrücken und ohne dabei die Autorität Raschis unnötig in Frage zu stellen, deklarierte Rabbenu Tam einen Unterschied zwischen kalkantum und atramentum, wobei letzteres kein Eisenvitriol wie das talmudische kalkantum, sondern eine Kupfervitriollösung sei, die durchaus Verwendung bei der Tintenherstellung finden dürfe. Die sich daran anschließenden Diskussionen – etwa im Maḥzor Vitry oder dem Sefer or zaru‘a188 – sind dementsprechend Drahtseilakte auf Grundlage der Definitionen unterschiedlicher Termini technici. Ein Autor, der tief in diese Debatte eingedrungen ist und die Positionen ausführlich dargestellt hat, ist der bereits erwähnte Tosafist Baruch ben Isaak aus Worms. Er legt in seinem Sefer ha-terumah eine Rezeptur für dejo vor, die „die Rinde des Zauberbaumes, der ‚Prunellier‘ [‫ – פרונלייר‬Schlehdorn] genannt wird, oder eines anderen Baumes“ enthält. Die Baumrinden werden mit Wasser solange gekocht, bis „die Flüssigkeit aus der Rinde ins Wasser herausgetreten ist“. Aus dem Sud wird dann eine Trockentinte extrahiert, die, wie Baruch ben Isaak betont, keinerlei Harze als Bindemittel benötigt. Wie Rabbenu Tam schließt auch dieser Gelehrte Gallapfel für die Herstellung von dejo aus, erlaubt jedoch „arment [‫ ]ארמאנט‬in der Tinte, um sie zu schwärzen, […] und es handelt sich hier nicht um kankantum [‫“]קנקנתום‬.189 Der bereits mehrfach erwähnte Moses ben Jakob aus Coucy argumentiert in seinem Sefer miṣvot gadol ganz auf Linie der französischen Tosafisten, beschreibt allerdings die materiale Beschaffenheit von kankantum – leider nicht auch die von arment – genauer, wenn er ausführt, dass dieser Stoff „Vidriol“ [‫]וידריאול‬ genannt, „grün und leuchtend wie Glas“ sei. Erst wenn man „etwas davon zerreibt, nimmt es die schwarze Farbe, so wie in Niddah beschrieben, an“. Moses 188 Isaak ben Moses aus Wien, Sefer or zaru‘a, Hilchot Tefillin, § 542; Simcha ben Samuel aus Vitry, Maḥzor Vitry, Abschnitt  517; Abraham ben Isaak aus Narbonne, Sefer ha-eškol, Hilchot sefer torah, Abschnitt 12. 189 Baruch ben Isaak aus Worms, Sefer ha-terumah, Hilchot sefer torah, Abschnitt 195. Aus dem Holz des Schlehdorns wurde in Europa traditionell Tinte hergestellt. Dessen magische Konnotation hat eine lange Tradition in Europa. Der Schlehdorn galt als Schutzpflanze gegen dämonische Kräfte; Gegenständen aus Schlehenholz wurden übernatürliche Kräfte nachgesagt. Vermutlich ist auch unter dem in verschiedenen Quellen auftauchenden ‫ – משרף קוצים‬aus dem Harz von (wörtl.) Stacheligen – der Schlehdorn bzw. eine Akazienart mit Dornen zu verstehen. Siehe beispielsweise Eliezer b. Samuel aus Metz, Sefer jere’im, Abschnitt 299.

4.7 Halachische Diskussionen um die Herstellung von Tinte und qulmus 

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ben Jakob spielt hier auf die Diskussion im Talmud (bT Nid 19a,b; 20a) über die Definition unterschiedlicher Schwarztöne im Zusammenhang mit der Farbpalette von Menstruationsblut an. Es gibt Blut „schwarz wie ein Tintensediment“, welches der Talmud für besonders unrein hält. Moses ben Jakob stellt diese Assoziation offensichtlich her, um ein weiteres Argument gegen Vitrioltinten im rituellen Bereich vorzubringen.190 Anlass für halachische Diskussionen gab auch die Tatsache, dass einige Schreiber ihre Tinten nicht selbst herstellten, sondern von ihren nichtjüdischen Nachbarn kauften. Der aus der Provence stammende Abraham ben Nathan ha-Jarchi (gest. ca.  1215), der in seiner zweiten Lebenshälfte ab dem Beginn des 13.  Jahrhunderts in Nordspanien wirkte, bezeugt diese Gepflogenheit für Schreiber aus Frankreich mit Sorge. Er erinnert mit explizitem Verweis auf die entsprechende halachische Diskussion in Awodah Zarah (bT 71a) daran, dass diese Tinten Wein oder Essig aus nichtjüdischer Produktion enthalten können – also Lebensmittel, deren Erwerb aus nichtjüdischer Provenienz und folgender Verzehr durch Juden in den meisten Fällen untersagt ist. Wein spielt in der christlichen Kultur eine zentrale Rolle im „Götzendienst“. Aus diesem Grund muss sichergestellt werden, dass er nicht aus einer Charge bzw. einem Fass stammt, dem bereits eine bestimmte Menge für die Verwendung im Ritus entnommen wurde  – was sicherlich nicht ganz einfach nachzuvollziehen ist. Tinte für das Schreiben der heiligen Schriftrollen, so betonten Abraham ben Nathan und viele halachische Gelehrte nach ihm, ist von diesem „einfachen Wein der Nichtgläubigen“ unbedingt zu trennen.191 Die Forschung hat gezeigt, dass sich der Umgang mit dem „Wein der Nichtjuden“ im mittelalterlichen Aschkenas weitaus komplexer darstellt, als einige rabbinische Empfehlungen glauben machen.192 Die Produktion, der Konsum und der Handel von Wein war ein fester Bestandteil des ökonomischen und sozialen Lebens in Europa  – trotz seiner schlechten Reputation bei manchen Vertretern des jüdischen Religionsgesetzes. Die jüdischen Gemeinden lagen in den besten Weingebieten Frankreichs und Deutschlands. Vom lukrativen Geschäft mit Wein auch aus nichtjüdischer Hand abzusehen, war kein leichtes Unterfangen. Tatsächlich wurden halachische Empfehlungen von den jüdischen Händlern geflissentlich ignoriert oder von den rabbinischen Autoritäten selbst aufgeweicht, etwa indem

190 Moses ben Jakob aus Coucy, Sefer miṣvot gadol, Abschnitt 25. Vgl. auch Eliezer b. Samuel of Metz, Sefer jere’im, Abschnitt 299. 191 Abraham ben Nathan ha-Jarchi, Tešuwot še’alot le-ha Rabbi Abraham ben Nathan ha-Jarḥi, hrsg. von Simon A. Wertheimer, Ginzei Jerušalajjim, Qoveṣ divrei torah ve-ḥochmah meliṣah va-šir, ve-korot ha-jehudim be-jemei kedem, Jerusalem 1896, Bd. 1, S. 107. 192 Vgl. insbesondere die umfangreiche Studie von Haym Soloveitchik, Jeinam. Saḥar be-jeinam šel gojim al gilgulah šel halachah be-olam ha-ma‘aśeh, Tel Aviv 2003.

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

sie bei finanziellen Investitionen in das Weingeschäft mit ihren christlichen Nachbarn ein Auge zu drückten.193 Jacob Katz belegt mit einer bemerkenswerten Diskussion der Tosafisten Rabbenu Tam und dessen Neffen Rabbi Isaak eine weitere Besonderheit in der aschkenasischen Debatte über den Kontakt mit christlichem Wein. Die beiden Gelehrten tauschten sich über ihre Bedenken aus, die sie mit Wein hatten, der von Christen hergestellt oder berührt wurde.194 Rabbenu Tam erlaubte den Handel mit der Begründung, dass es sich bei den Nichtjuden seiner Zeit keineswegs um die Art von Götzenanbeter handelte, mit denen der Talmud jeglichen Weinhandel verboten hat. Rabbi Issak fragte weiter, ob man dann konsequenterweise nicht auch das Trinken dieses Weins erlauben müsse. Daraufhin modifizierte Rabbenu Tam sein Urteil; er bestätigte die Erlaubnis zum Handel, aber verbot den Genuss desselben. Katz ist der Meinung, dass die erst im mittelalterlichen Aschkenas vorgenommene Trennung von Handel und Genuss des christlichen Weins freundschaftliche oder gar sexuelle Kontakte zwischen der jüdischen und christlichen Gesellschaft erschweren sollte. Eine breite Umsetzung der strengen Empfehlung ist zu bezweifeln. Doch kommen wir zurück zum Einsatz von Vitriol in Tinten zum Schreiben des STaM. Gelehrte wie Moses ben Nachman (gest. 1270) aus Nordspanien oder Menachem ben Solomon Meiri folgten der Argumentation Jakob ben Meirs nicht und befürworteten Gallapfelextrakt in dejo. Nachmanides legt in seinem Kommentar zu Giṭṭin 19a dar, dass in einer Passage des Jerusalemer Talmud ein dejo ohne Gallapfel erwähnt ist und folgert aus der expliziten Feststellung dieses Umstandes, dass der Stoff normalerweise sehr wohl Bestandteil koscherer Tinten sei.195 Er betont darüber hinaus mit kritischem Blick auf den Standpunkt Jakob ben Meirs, dass auch eine Tinte mit Gallapfel für die Herstellung von Trockentinte geeignet sei, wenn man den Gallapfelauszug nur lange genug koche und das Substrat zu einer trockenen bzw. teigigen Substanz verarbeite. Diese würde mit Wasser vermischt einen gut brauchbaren Schreibstoff ergeben. Menachem ben Solomon Meiri ist in diesem Punkt mit Nachmanides einer Meinung, ergänzt jedoch, dass dejo vielmehr eine Zusammensetzung aus Gallapfelextrakt, Gummiarabikum und Wasser sei, was tatsächlich der Rezeptur einer „klassischen“ Gerbstofftinte entspricht.196 Auch Meir ha-Kohen aus Rothenburg möchte die strikte Position der französischen Tosafisten nicht einfach übernehmen und bemerkt mit einem polemischen Seitenblick auf die vorgeschlagenen Rezepturen der französischen Gelehrten,

193 Soloveitchik, „Jeinam“, S. 68–90. 194 Katz, Exclusiveness and Tolerance, S. 46–47. 195 Twerski, „The Use of Modern Inks“, S. 69–72. 196 Menachem ben Solomon Meiri, Qirjat sefer 1:4.

4.7 Halachische Diskussionen um die Herstellung von Tinte und qulmus 

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dass dort „kein Tropfen Öl enthalten“ sei, so wie es „in den Tagen der Weisen“ für dejo üblich war und fährt fort: „Ich denke, dass jede schwarze Farbe, die auf qelaf bestehen bleibt, als dejo bezeichnet wird, denn wir haben keine Halacha von Moses vom Sinai überliefert, dass das nicht koscher ist. Nur [dass] dejo heilig ist [ist überliefert].“197 Er legt schließlich – ganz im Einklang mit Maimonides – fest, dass Tinten mit und auch ohne Gallapfel koscher seien. Französische Gelehrte wie Aaron ben Jakob ha-Kohen umgingen diese Diskussionen und übernahmen einfach die Position des Maimonides.198 197 Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg, Haggahot Maimunijjot, Hilchot tefillin, ve-mezuzah, ve-sefer torah, I:3. 198 Aaron ben Jakob ha-Kohen, Orḥot ḥajjim, Halachot Tefillin, Abschnitt 1:25. Die großen Regelwerke der frühen Neuzeit schwanken zwischen den verschiedenen Optionen, tendieren wie der Šulḥan aruch im Zweifelsfall aber doch zu einer relativ offenen Position. Auch im 19. Jahrhundert lehnten sich jüdische Schreiber wie Solomon Ganzfried im Wesentlichen an die Vorgaben des großen Halachisten des Mittelalters an. In seinem bei heutigen Schreibern einflussreichen Schreiberhandbuch Sefer qeset ha-sofer (3:1) kann diese auf Praktikabilität ausgerichtete Haltung zum Schreiben beispielsweise mit Blick auf dejo gut nachvollzogen werden: „Es ist eine Halacha des Moses vom Sinai, dass sifrei torah, Tefillin und Mezuzot mit nichts anderem als mit dejo geschrieben werden. Idealerweise wird die Sache so gehandhabt: sammle den Ruß von Ölen, Teer oder Wax oder Ähnliches (das ist Kienruß ‫ קיהנרוס‬oder Flammruß ‫ )פלאמרוס‬und verknete es mit dem Harz eines Baumes (Gummi) und etwas Honig […] und zerstoße es gut bis man Plätzchen daraus machen kann. Vor dem Schreiben löst [der Schreiber] es in Gallapfellösung oder Ähnlichem auf und schreibe damit, denn falls er [die Schrift] löschen will, wird es auszulöschen sein. Das ist eine ausgezeichnete Tinte zum Schreiben der STaM. Doch wenn jemand eine der drei [Schriftrollen] mit Gallapfellösung und Kankantum (Kupfervitriol ‫)קיפפערוואססר‬ schreibt, was dauerhaft und nicht auszulöschen ist, ist es rein. Und so ist es Brauch heutzutage Tinte herzustellen, nämlich aus Gallapfellösung, Qumus (Gummi) und Kankantum. Man sollte nur aufpassen, dass die Schwärze so wie am Anfang bleiben wird. Die Halacha, die Moses am Sinai empfangen hat, spezifiziert, dass mit dejo geschrieben werden soll, da der Rest der Farben, wie rot, grün usw., ausgeschlossen ist, denn wenn auch nur ein Buchstabe mit einer anderen Farbe oder mit Gold geschrieben wurde, siehe: es ist nicht tauglich. Daher ist es verboten, irgendetwas aus dem Tanach mit etwas anderem als Tinte zu schreiben. Manche sagen, dass die Angelegenheit des dejo nur den sefer torah betrifft. Wenn die Tinte anfangs schwarz schreibt und nach einiger Zeit verdirbt und rot wird, ist sie nicht tauglich.“ Obwohl dejo bestimmten Reinheitsgeboten entsprechen sollte, musste es nicht rituell seinem heiligen Zweck lišmah geweiht werden. Anders als bei den Schreibhäuten waren die Schreiber bei der Tintenherstellung nicht unbedingt auf nichtjüdische Händler angewiesen. Jeder sofer konnte seine eigene Tinte leicht herstellen und so der Forderung nach Reinheit des Materials Rechnung tragen. Auch in der Neuzeit wird geraten, die Tinte für die STaM in jüdischer Hand zu belassen, um Ingredienzien, die nicht den Kaschrut entsprechen, zu vermeiden. Dementsprechend rät Isaak Dov Bamberger (1808–1879) noch einige Jahrhunderte nach den rišonim: „Nimm kein dejo von einem [gewöhnlichen] Markt, denn es könnte etwas Unreines darin sein. Auch andere Irrtümer können vermieden werden, wenn nicht alles, was Wasser schwärzt, dejo genannt wird. Daher sollte ein sofer sein dejo selbst herstellen, damit er sicher sein kann, dass die Ingredienzien geeignet sind, um daraus koscheres

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

Zahlreiche, bislang nicht aufgearbeitete handschriftliche Zeugnisse vor allem aus der frühen Neuzeit bestätigen, dass nicht nur auf spekulativer Ebene zwischen schwarzer Tinte und dejo unterschieden wurde. Wie in den weiter oben vorgestellten Rezepturen aus Frankreich und Deutschland sind jedoch auch hier vielfältige Anpassungstendenzen an die materialen Gegebenheiten der Umweltkultur festzustellen. In einer italienischen Handschrift aus dem 17./18. Jahrhundert finden sich beispielsweise einige Tintenrezepte, die neben „sehr guter“ und „goldener“ Tinte auch die Zusammensetzung „koscherer Tinte“ preisgeben. Unter der Überschrift: „Und so geht die Herstellung koscherer Tinte“ ist folgende Rezeptur notiert (Abb. 20): Sammle zunächst den Ruß von Öl […] und vermenge ihn mit Honig. Bearbeite ihn mit einem Mörser […] dann nimm gutes zerstoßenes Gummiarabikum und vermische es mit dem Ruß und einem Tropfen Honig. Tue alles in ein neues Gefäß und erhitze es auf dem Feuer, bis es stark reduziert ist. Dann bearbeite es zum zweiten Mal mit dem Mörser bis es weich und auf ein Zehntel (reduziert) ist und bewahre es für sich auf. [Wenn du mit der Tinte schreiben möchtest] nimm ein anderes Gefäß mit Wasser gefüllt und etwas zerstoßenem Gallapfel […] und tue pulverisiertes Glas in die Flüssigkeit zu demselben Anteil wie das Gummi […], bringe das Gefäß zum Kochen bis ein Drittel der Flüssigkeit aus ihm gewichen ist. Dann nimm den Ruß, den Honig und das Gummi, das bereits zu einer Trockenmasse verarbeitet wurde und hole diese Trockenmasse aus dem ersten Gefäß und siebe sie in die Gallapfellösung mitsamt dem Glas. Mische alles zusammen und es ist letztendlich an dir, das Gefäß zurück auf das Feuer zu tun bis [der Inhalt] den höchsten Siedepunkt erreicht hat. Dann wende es vom Feuer und es wird zu einer sehr guten Tinte werden und sie ist gesegnet und erprobt.199

Hier wird in der Tradition Maimonides’ eine Mischtinte aus Ruß und Gerbstoffen empfohlen, die mit Honig und zerstoßenem Glas versetzt zu einer Trockentinte verarbeitet wurde. Glas ist insbesondere in europäischen Rezepturen der Neuzeit ein beliebtes Mittel zur Glanzerzeugung, und die Schreiber sahen offensichtlich kein halachisches Problem in seiner Verwendung für dejo  – auch wenn diese Zutat in den klassischen Quellen nicht erwähnt wird. Die Handschrift enthält auf derselben Seite auch die Rezeptur einer Vitrioltinte, die offenbar nicht die Bezeichnung „koscher“ verdient. Dass jedoch auch Vitrioltinten als koschere Schreibflüssigkeit in neuzeitlichem Gebrauch waren, bezeugt eine andere Quelle aus dem 17./18. Jahrhundert, wo folgende Rezeptur zur Herstellung von „koscherem dejo“ notiert ist (Abb. 21):

dejo zu machen. Und nimm ausschließlich Dinge, die dir bekannt sind.“ Gaon Isaak Dov Halevi Bamberger, Melechet šamajim, 4:3; Siehe auch Jack E. Friedman, Rabbi Shlomo Ganzfried. His Kitzur and His Life, Northvale [u. a.] 2000 . 199 Ms. Los Angeles, University of California 779 bx. 3.5, fol. 14.

4.7 Halachische Diskussionen um die Herstellung von Tinte und qulmus 

Abb. 20: Tintenrezepturen, Ms. 779 bx. 3.5, fol. 14 (Los Angeles, University of California).

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 4 Die Herstellung rituell reiner Beschreibstoffe im mittelalterlichen Europa

Nimm eine Unze Gummiarabikum, zwei Unzen vitriolum romanum, drei Unzen zerstoßenen Gallapfel, zweieinhalb Liter Wein, Essig oder Wasser. […] Vermenge das Wasser mit dem Gallapfelpulver und setzte es aufs Feuer bis es ein wenig kocht. Danach lasse alles 24 Stunden ruhen, damit es schwarz wird. Danach sollte das Ganze durch weiteres Kochen auf ungefähr zwei Liter reduziert werden. Tue Vitriol dazu während es noch kocht, und lasse es noch eine Zeit weiterkochen. Wenn es so schwarz ist wie du möchtest, tue das gesamte zerstoßene Gummi in das Kochgefäß und nimm es vom Feuer und es ergibt wunderbares dejo und alles ist nach deinem Willen.200

Der Autor dieser Rezeptur hält auch die Verwendung von Wein und Essig als Zutat für nicht problematisch. Wein aus nichtjüdischer Hand wird an dieser Stelle nicht thematisiert. Tintenanalysen an aschkenasischen Torarollen des Mittelalters haben den Eindruck eines gelassenen Umgangs mit Schreibflüssigkeiten aus christlicher Produktion bestätigt. So waren die vier Torarollen aus dem Besitz der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde Erfurts Teil einer breiter angelegten Studie, in der 13 hebräische Handschriften der Erfurter Handschriftensammlung, sieben lateinische Manuskripte, eine weitere hebräische sowie eine lateinisch-deutsch-hebräische Handschrift mit Erfurter Provenienz untersucht wurden.201 Die Analyse offenbarte für einige Manuskripte aus dem 13. bis 15. Jahrhundert – darunter die Torarolle Ms. or. fol. 1215 – eine Tinte mit ungewöhnlich hohem Anteil an Zink, die sowohl in den hebräischen als auch in den lateinischen Handschriften ihren chemischen Fingerabdruck hinterlassen hat. Auch die meisten der zahlreichen lateinischen und deutschen Glossen in der Bibelhandschrift Ms. or. fol. 1212 wurden mit dieser speziellen Tinte geschrieben. Der Untersuchungsfall bekräftigt die Annahme, dass es in der Schreibpraxis auch im hochheiligen Bereich der Schriftrollenherstellung zu einem regen Austausch von Materialien zwischen jüdischer und christlicher Gesellschaft kam  – auch wenn das nicht unbedingt dem rabbinischen Ideal entsprach.

200 Ms. London Montefiore Library 482, fol. 132. 201 Ein Artikel dazu ist in Zusammenarbeit mit u. a. Ira Rabin, Zina Cohen und Olivier Bonnerot in Vorbereitung.

4.7 Halachische Diskussionen um die Herstellung von Tinte und qulmus 

Abb. 21: Tintenrezepturen, Ms. 482, fol. 132 (London, Montefiore Library).

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5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie: Die Perspektive der Ḥasidei Aškenaz Die Ḥasidei Aškenaz  – die „Frommen Deutschlands“  – bilden einen eigenen Kosmos innerhalb der mittelalterlichen jüdischen Kultur. Ihre ausgesprochen differenzierte Haltung zur Herstellung und Handhabung der sifrei ha-qodeš  – der heiligen Bücher – verlangt im Wesentlichen aus zwei Gründen nach einem eigenen Kapitel: Zum einen bietet die Literatur aus diesem Kreis Konzepte jenseits der halachischen Welt, in denen sie ethische Aspekte, performative Elemente, soziale Faktoren, zeitgenössische magisch-volkstümliche Perspektiven wie auch Positionen der christliche Umweltkultur in eine – überspitzt formuliert – umfassende Theologie des Schreibens einbezieht. Es eröffnet sich eine Art Gegenwelt zur spekulativ-dialektischen Sichtweise der Halachisten, deren Wurzeln zwar in das Religionsgesetz zurückreichen, die darauf aufbauend jedoch neue Prioritäten setzt und eigene Positionen entwickelt. Der Sefer ḥasidim, das Hauptwerk aus diesem Kreis, reflektiert in hunderten Paragraphen alle möglichen Angelegenheiten der Buchkunst, des Umgangs und Handels mit heiligen, aber auch profanen Schriften. Die Autoren wählten die literarische Form der ma‘aśeh – des Exemplums –, das in einer kurzen Geschichte verpackt ein moralisches Lehrstück transportiert. Im Unterschied zu einer Fabel gibt ein solches Exempel vor, sich tatsächlich so wie hier erzählt ereignet zu haben. Im jüdischen Mittelalter wurde diese Form der ethischen Unterweisung, die ihre Wurzeln im Talmud und den antiken Midraschim hat, sehr geschätzt, sicherlich auch, weil diese Gattung eine breite jüdische Leserschaft fand.1 Als eine der reichsten mittelalterlichen Quellen dieses Genres kommuniziert der Sefer ḥasidim ein ganzes Universum an sozialen, ethischen und magischen Einblicken in die Buchherstellung, das in der rabbinischen Literatur bestenfalls erahnt werden kann. Bei der Analyse der Erzählungen ist nicht zu vergessen, das sich hier eine Gemeinschaft präsentiert, deren ethisch-religiöse Ideale von ihren Gründern ganz bewusst als den aschkenasischen Gemeinden überlegen dargestellt wurde. Dieser reiche Wissensschatz um die Welt des geschriebenen Wortes ist nicht verborgen geblieben. So haben einige Forscher, allen voran Malachi Beit Arié, bereits darauf hingewiesen, dass „der Sefer ḥasidim tatsächlich die reichste

1 David Stern, „Just Stories: Medieval Hebrew Narrative“, in: Tikkun 5,6 (1990), S. 41–43; 110–112. https://doi.org/10.1515/9783110722062-005

5.1 Die Ḥasidei Aškenaz: Elitäre Sekte oder Massenbewegung? 

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singuläre Quelle des Mittelalters für realistische Informationen über Schreibpraktiken überhaupt“ sei.2

5.1 Die Ḥasidei Aškenaz: Elitäre Sekte oder Massenbewegung? Seit Beginn der Erforschung der pietistischen Gemeinschaft, die ab dem späten zwölften Jahrhundert für etwa einhundert Jahre der jüdischen Geistesgeschichte eine ganz eigene Prägung verlieh, stehen zwei gegensätzliche Ansichten im Raum.3 Forscher wie Isaak Bear und Gershom Scholem entwarfen das Bild einer revolutionären Glaubensbewegung, die sich mit einer sozialen Reform „an die Juden Deutschlands am Beginn des 13. Jahrhunderts“ richtete, um sie auf einen gemeinsamen Weg der Buße und Umkehr zu leiten. Die selbsternannten Frommen Deutschlands prangerten soziale und politische Missstände auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft an und entwarfen, so Bear, ein Konzept der Gerechtigkeit, dass den Abgrund zwischen arm und reich überwinden sollte.4 Auch Scholem ist von dem breiten Wirkungsfeld der Ḥasidei Aškenaz, deren Bedeutung innerhalb der jüdischen Geistesgeschichte er vor allem in der mystisch-religiösen Praxis sah, überzeugt. Doch im Gegensatz zur spanischen Kabbala, die ebenfalls im 13.  Jahrhundert ihre klassische Blüte entwickelte, zeichnete sich der „deutsche Chassidismus“ dadurch aus, dass er schon im Mittelalter selbst sich mindestens für eine ganze jüdische Gemeinschaft, eben die in Deutschland, siegreich als Trägerin der vom Volksbewußtsein anerkannten religiösen Werte und Ideale durchgesetzt hat. […] Die Chassidim blieben also nicht etwa eine relativ kleine Gruppe von Aristokraten, die der Bestätigung durch das allgemeine Bewußtsein breiter Kreise entraten mußten wie die alten Kabbalisten.5

Scholem, Bear, aber auch Joseph Dan und Moritz Güdemann wiesen außerdem schon sehr früh auf Parallelen zwischen der monastischen Kultur der christlichen

2 Malachi Beit-Arié, „Ideal versus Reality: Scribal Prescriptions in ,Sefer Ḥasidim‘ and Contemporary Scribal Practices in Franco-German Manuscripts“, in: Rashi 1040–1990: Hommage à Ephraïm E. Urbach, hrsg. von Gabrielle Sed-Rajna, Paris 1993, S. 559–566, hier S. 560; vgl. auch Colette Sirat (Hrsg.), La conception du livre chez les piétistes ashkenazes au moyen âge, Genf 1996; Talya Fishman, „The Rhineland Pietists’ Sacralization of Oral Torah“, S. 9–16. 3 Für eine vollständigere Darstellung der früheren Diskussion siehe Ivan G. Marcus, Piety and Society. The Jewish Pietists of Medieval Germany, Leiden 1981, S. 1–20. 4 Isaak Bear, „Ha-megamah ha-datit ha-ḥevratit šel Sefer ḥasidim“, in: Zion 3 (1937), S. 1–50, hier S. 20 und 30. 5 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1980, S. 88.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

Umwelt und den jüdischen Pietisten hin6 – ein in der Forschung kontrovers diskutierter Aspekt, auf den noch ausführlicher zurückzukommen sein wird. Joseph Dan war es auch, der anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Erstausgabe von Scholems bahnbrechender Studie „Major Trends in Jewish Mysticism“ in dem Titel seines Beitrags „Was there really a Hasidic Movement in Medieval Germany?“ Zweifel an einer pietistischen Volksbewegung des Mittelalters zum Ausdruck brachte.7 Diese bewusst provokant formulierte Frage wurde von Jakob Simhoni Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ausdrücklich verneint.8 Es handele sich bei den Ḥasidei Aškenaz vielmehr um einen elitären Zirkel, der Positionen vertrat, die für die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft zu extrem waren. Simhoni führt Zeugnisse der Respektlosigkeit und des Unverständnisses der jüdischen Mehrheit gegenüber der aus seiner Sicht sehr unpopulären extremistischen Sekte an, deren literarische Aktivitäten auf das Innere der Gruppe gezielt hätten und ganz und gar nicht an die gesamte jüdische Gesellschaft gerichtet gewesen seien.9 Durch die eingehende Betrachtung einiger zentraler Themen aus dem eher unsystematisch angelegten Gedankenkomplex der Ḥasidei Aškenaz hat die Forschung im Laufe der letzten Jahrzehnte die Einzigartigkeit und Originalität dieser Gruppierung aus unterschiedlichen Perspektiven herausarbeiten können, wobei der Sefer ḥasidim das größte Interesse auf sich zog. Mit diesen Arbeiten schärfte sich das Bild einer Sekte, die sich von der christlichen Umweltkultur abzugrenzen suchte. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Studien von Ivan Marcus zu nennen, der aus religionssoziologischer Perspektive den elitären Charakter der pietistischen Gemeinschaft betont und das Spannungsfeld zur christlichen Umweltkultur auslotet.10 Marcus vertritt die Auffassung, dass die Ḥasidei Aškenaz

6 Isaak Bear, „Ha-megamah“, S. 18; Scholem, Die jüdische Mystik, S. 104–106, 113; Joseph Dan, „Rabbi Judah the Pious and Caesarius of Heisterbach. Common Motifs in their Stories“, in: Studies in Aggadah and Folk-Literature, hrsg. von Joseph Heinemann und Dov Noy, Jerusalem 1971, S. 18–27; Moritz Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Frankreich und Deutschland, Wien 1880, Bd. 1, S. 178–198 und 281–291; Ascher Rubin, „The Concept of Repentance Among the Ḥasidey ’Ashkenaz“, in: The Journal of Jewish Studies 16 (1965), S. 161–176; Talya Fishman, „The Penitential System of Ḥasidei Ashkenaz and the Problem of Cultural Boundaries“, in: The Journal of Jewish Thought and Philosophy 8 (1999), S. 201–229. 7 Joseph Dan, „Ashkenazi Hasidim, 1941–1991: Was there Really a Hasidic Movement in Medieval Germany?“, in: Gershom Scholem’s Major Trends in Jewish Mysticism 50 Years After, hrsg. von Peter Schäfer und Joseph Dan, Tübingen 1993, S. 87–102. 8 J. N. Simhoni, „Ha-ḥasidut ha-aškenazit bi-me ha-benajim“, in: Ha-Zefirah (1917). 9 Simhoni, „Ha-ḥasidut“, § 23, 7a. 10 Vgl. die Aufsatzsammlung Ivan G. Marcus, Jewish Culture and Society in Medieval France and Germany, Farnham 2014, die 16 Aufsätze aus den Jahren 1978 bis 2006 enthält. Hier insbesondere die Beiträge im zweiten Teil.

5.1 Die Ḥasidei Aškenaz: Elitäre Sekte oder Massenbewegung? 

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als eine Art Gegenbewegung zum zeitgenössischen Establishment zu verstehen seien. Einflussreiche Figuren wie Jehuda der Fromme hätten ihre „soziale und religiöse Weltanschauung zu einem politischen Programm ausgeweitet“ und es der jüdischen Gesellschaft als Kritik vorgehalten. Sein Modell war nicht die apostolische christliche Armut, ein Rückzug in die Wüste oder ein millenarisches Reich. Für ihn war vielmehr ein organisiertes Gemeindewesen die Norm jüdischen Lebens, jedoch betrachtete er einzig seine „pietistische“ Gruppe als die legitime Form des jüdischen religiösen Gemeindewesens. Seine Schriften bedeuteten eine direkte Herausforderung für das bestehende rabbinische und kommunale Establishment […]. R. Jehuda der Fromme nahm an, dass die Nichtpietisten einen dominierenden Einfluss auf die „Frommen“ ausüben würden, wenn sie ohne Kontrolle blieben. Daher sollten die Frommen nicht in der Nähe der nicht-pietistischen Juden wohnen, beziehungsweise keine Ehen mit ihnen eingehen, ihnen keine Almosen geben oder ihren Kindern nicht erlauben, zusammen mit deren Kindern zu spielen, ja sie sollten nicht einmal neben ihnen beerdigt werden.11

Die Idee Scholems von einer in breiten Kreisen des mittelalterlichen deutschen Judentums gelebten mystischen Frömmigkeit wird u. a. durch die Tatsache gestört, dass es selbst innerhalb der nur über drei Generationen wirkenden Bewegung wenig Austausch zwischen vereinzelten Untergruppierungen gab und die überlieferten Texte kaum ein wiederspruchloses Bild von der Bewegung als Einheit geben.12 Es gab allerdings auch Bemühungen, die Fronten zwischen einem mystisch inspirierten jüdischen Pietismus und einem eher nüchternen, allein an halachischen Fragen interessierten französischen und deutschen Judentum aufzuweichen. Ephraim Kanarfogel hat beispielsweise die auch in der jüdischen Historiographie lange Zeit gepflegte stereotype Darstellung der sicherlich viel komplexeren Realität überzeugend in Frage gestellt und gezeigt, dass es durchaus auch innerhalb der strengen Schule der Tosafisten Gelehrte gab, die eine stark ausgeprägte Frömmigkeit praktizierten bzw. magische und mystische Dimensionen in ihr halachisches Konzept einbezogen.13

11 Ivan G. Marcus, „Die politischen Entwicklungen im mittelalterlichen deutschen Judentum, ihre Ursachen und Wirkungen“, in: Judentum im deutschen Sprachraum, hrsg. von Karl E. Grözinger, Frankfurt a. M. 1991, S. 60–88, hier S. 73. 12 Das konnte Joseph Dan in seinen zahlreichen Einzelstudien überzeugend darstellen. Vgl. auch Karl E. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Frankfurt a. M. [u. a.] 2005, S. 65–70, Anm. 132. 13 Vgl. u. a. Kanarfogel, „Peering through the Lattices“. Mystical, Magical, and Pietistic Dimensions in the Tosafist Period. Detroit 2000, S. 36.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

5.2 Sefarim und weniger heilige Schriften Frühere Forschungsarbeiten haben immer wieder auf den großen Respekt und die bemerkenswerte Ehrfurcht hingewiesen, die die Ḥasidei Aškenaz den sefarim entgegenbrachten.14 Doch welche Schriften fallen unter den Begriff „sefarim“? Mit sefer und natürlich mit sefer torah bezeichnet die rabbinische Literatur in den allermeisten Fällen die Torarolle, einen Pentateuch oder allgemein Bücher der Hebräischen Bibel. Zum würdevollen Umgang mit diesen Schriften mahnt bereits der Talmud.15 Der Sefer ḥasidim dehnt den Begriff „sefarim“ jedoch auch auf nichtbiblische Bücher aus, insbesondere auf den Talmud und die Mischna, die – wegen der Namen Gottes – wie ausgediente Torarollen im Falle ihrer Unbrauchbarkeit in einer Geniza verborgen werden müssten.16 Talya Fishman hat sich in ihrer wegweisenden Studie Becoming the People of the Talmud mit der pietistischen Sichtweise auf die sefarim auseinandergesetzt und die enorme Aufwertung der sogenannten „mündlichen Tora“ herausgestrichen. Diese Neubewertung der schriftlich überlieferten Tradition der jüdischen Antike entsprach durchaus der generellen Tendenz innerhalb der europäischen jüdischen Kultur.17 14 Vgl. Beit-Arié, „Ideal versus Reality“, S. 560; Sirat (Hrsg.), La conception du livre; Fishman, „The Rhineland Pietists’ Sacralization“; Hanna Liss, „Vom Sefer Tora zum sefer. Die Bedeutung von Büchern im ,Buch der Frommen‘ des Rabbi Yehuda ben Shemu’el he-Ḥasid“, in: Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften, hrsg. von Joachim Friedrich Quack und Daniela Christina Luft (= Materiale Textkulturen, Bd. 5), Berlin 2014, S. 207–228. 15 Vgl. Simcha Assaf, „Am ha-sefer ve-ha-sefer“, in: Ders., Be-Ohole Ja’akov. Essays on the Cultural Life of the Jews in the Middle Ages, Jerusalem 1943, S. 1–26; bT Ber 19b; bT Šabb 21b, 94b; bT Menaḥ 38a; Meg 3b. 16 Ich verwende die in der Database der Princeton University digital edierten Ausgaben der verschiedenen Textzeugen (vgl. https://etc.princton.edu/sefer_hasidim), wobei ich mich in erster Linie auf die Handschrift Parma 3280 beziehe. Im Folgenden werden daher nur die von der Parmeser HS abweichenden Quellen näher bezeichnet. SḤ § 698; Talya Fishman, Becoming the People of the Talmud: Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures, Philadelphia 2011, S. 201. 17 Ebd., S. 213–17. „In setting forth the rationale for expanding the domain of sacred texts, Sefer Ḥasidim invokes a law pertaining to ritual impurity, notwithstanding the fact that laws of this sort do not apply in the absence of the Temple. The Talmud (BT Shab.14a) had forbidden the storage of sacred (scriptural) writings in the place of the terumah, the heave offering of grain or wine or oil, lest the texts be nibbled by mice. Noting that inscriptions of Oral Torah contain the Divine Name, Sefer Ḥasidim asserts that the same rule applies to texts of Oral Torah [Sefer Ḥasidim § 698]: ,And even though [laws of] ritual impurity do not apply in our time […] so, too, nowadays, one must not put books [sefarim] with foods, so that the mice not eat them. And it says [Deut 12,4], ,You shall not do this to the Lord your God,‘ and in order that one not cause God’s Name to be erased [cf. bT Shab. 120b], as in [Lev 22,21], ,No blemish shall be upon it‘ – that he not cause this to happen to God’s Name.‘“ (S. 201).

5.2 Sefarim und weniger heilige Schriften 

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An die Wertschätzung der sefarim ist ein deutlich intensivierter Verhaltenskodex im Umgang mit diesen Texten geknüpft, der als eine Intensivierung der talmudischen und posttalmudischen Vorstellungen sowohl zum kewod sefer torah, „der Ehrfurcht vor der Torarolle“, und dem kewod ha-sefer, „der Ehrfurcht vor dem Buch“, wie auch zum bizajon ha-sefer, „der Herabwürdigung des Buches“ wie es im Talmud und in den spätantiken Schreiberhandbuch, dem Massechet soferim, vorgestellt wurde, betrachtet werden kann. Die Ḥasidei Aškenaz kannten auch Maimonides’ Ausführungen zum Umgang mit den sefarim,18 wobei Maimonides genau wie seine rabbinischen Vorlagen ausschließlich ein sefer torah und gegebenenfalls die beschriebenen Pergamentstreifen in den Tefillin und Mezuzot und deren Handhabung in der Synagoge, in der Schule und zu Hause im Fokus hatte.19 Es wäre sicher lohnenswert, die chassidischen Varianten mit den rabbinischen Quellen zu vergleichen, doch an dieser Stelle soll es genügen, einige Exempla aus dem Sefer ḥasidim anzuführen, um die wachsende Ehrfurcht, die den sefarim auch im privaten Bereich entgegengebracht wurde, zu illustrieren. Die oft zitierten Passagen vermitteln tatsächlich den Eindruck eines etwas sorglosen Umgangs mit den Heiligen Schriften in jener Zeit: Ein sefer darf nicht zum Schutz gegen neugierige Blicke, Rauch oder die Sonne gehalten werden (SḤ § 504–506). Ein Lehrer werfe es nicht gegen seine Schüler, noch wehre ein Schüler das auf ihn geschleuderte Buch mit einem sefer ab. (SḤ § 276, § 662) Man berührt ein sefer nicht, nachdem man sich die Nase gewischt hat (SḤ § 252) und küsst es nicht, nachdem man seine Kinder oder seine Frau geküsst hat (SḤ § 274, § 639). Ein sefer ist kein Aufbewahrungsort für Notizen (SḤ § 499) oder Rechnungen (SḤ § 649). Während der Talmud (bT Šabb 14a) verbietet, nackt mit einer Torarolle in einem Zimmer zu sein, untersagt der Sefer ḥasidim sogar das Ablegen von sefarim auf Kissen und Bettdecken, da dort wahrscheinlich schon einmal eine Person nackt gesessen hat (SḤ § 648). Zu diesem Reinheitsanspruch gehört das Verbot, ein sefer unter eine Schürze zu deponieren, da sich dort diverse Ausflüsse befinden könnten (SḤ § 651, § 654).20 Aus demselben Grund lege man Bücher besser auf den Boden als auf das Bett (SḤ § 661). Wie eine Synagoge kein Fenster gegenüber „einem Ort des Götzendienstes“ aufweisen soll, so ist es nicht gestattet, ein sefer auf eine Fensterbank mit Ausblick auf eine Kirche zu platzieren (SḤ § 1353). Die Beispiele deuten auf das große Bemühen der Ḥasidei Aškenaz, höchste Ehrfurcht vor der Tora in die Herzen der Gläubigen zu pflanzen – für die schriftliche gleichermaßen wie für mündliche Überlieferung. Der respektvolle, sich ins 18 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, Abschnitt 10; Vgl. auch Assaf, „Am ha-sefer we-ha-sefer“, S. 17. 19 Fishman, Becoming the People of the Talmud, S. 199. 20 Vgl. Liss, „Vom Sefer Tora zum sefer“, S. 219.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

Rituelle neigende Umgang mit den Schriften betrifft nun nicht mehr nur den liturgischen, sondern auch den öffentlichen und privaten Raum. Mit didaktischem Eifer suchten die Frommen ein tieferes Bewusstsein der gesamten jüdischen Gemeinschaft für die Notwendigkeit einer strikten Trennung des Heiligen vom Profanen im alltäglichen Leben zu verankern. Es manifestiert sich in diesen Empfehlungen für die richtige Handhabe der sefarim auch die Sehnsucht oder sogar die Utopie von einer Gemeinschaft, die – ganz ähnlich der christlichen Geistlichkeit und der klösterlichen Lebensentwürfe – ihr Leben ganz dem Heiligen widmet. Beim Kopieren der Schriften wie auch im Umgang mit ihnen ist dennoch eine dem Heiligkeitsgrad der Bücher entsprechende Ordnung einzuhalten. Der Talmud (bT Meg 27a) legte eine solche Abstufung fest – absteigend von der Tora als heiligstem Bestandteil der Bibel über die Propheten (newi’im) bis hinab zu den Schriften (ketuwim).21 Texte der schriftlichen Tora stehen auch im Sefer ḥasidim in ihrem Wert noch etwas über den Büchern der mündlichen Tora und sollten dementsprechend im Fall einer Feuersbrunst als erstes gerettet werden;22 bei finanzieller Not verkaufe man zuerst Bücher, deren Inhalt auf mündlicher Tradition beruht;23 auch wenn beiden Traditionen Heiligkeit innewohnt, ist eine Abschrift der schriftlichen Tora nicht mit einer Abschrift der mündlichen Tora in einem Behältnis aufzubewahren.24 Ganz unten in der Heiligkeitspyramide der Ḥasidei Aškenaz stehen die profanen Schriften der Umweltkultur, etwa die Romanzen, die sich vor allem im 13.  Jahrhundert in Frankreich (Chrestien de Troyes) und Deutschland (Hartmann von der Aue, Wolfram von Eschenbach) auch in jüdischen Kreisen großer Beliebtheit erfreuten. Aus der strikten Trennung von Büchern der Heiligen Schrift und christlichen oder profanen Literaturen ergeben sich allerdings auch für den Schreiber praktische Konsequenzen: Wenn einer eine Lage […] des Pentateuch, der Schriften oder der Propheten verloren und [deshalb] ein neues [Exemplar] zu schreiben begonnen hat, und sich, wenn die Hälfte geschrieben ist, das erste wieder anfindet: Es ist verboten, im übrigbleibenden Teil andere Dinge zu schreiben – auch keine Worte der soferim, denn dann würde [dies] Hauptsache und der Pentateuch nebensächlich genannt werden. So soll man [auch] keine Bücher des Talmud auf die Bücher der Bibel legen. Und man soll sein sefer nicht mit Pergamentseiten einschlagen, auf denen Romanzen geschrieben sind. [Davon erzählt] eine Begebenheit mit einem, der seinen Pentateuch in Leder einschlug, und darauf war in fremden Sprachen von

21 Carsten L. Wilke, „Les degrés de la sainteté des livres“, in: La conception du livre chez les piétistes ashkénazes, hrsg. von Colette Sirat [u. a.], Genf 1996, S. 37–63, hier S. 50; vgl. auch Fishman, People of the Talmud, S. 201 f. 22 SḤ § 603. 23 SḤ § 666. 24 SḤ § 646.

5.2 Sefarim und weniger heilige Schriften 

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den Nichtigkeiten der Kämpfe der Könige der Völker geschrieben. Und es kam ein Gerechter, zerriss [diesen Einschlag] und nahm ihn weg.25

Ivan Marcus verweist auf dieses Narrativ, wenn er die „relativ friedliche Koexistenz von Juden und Christen“ im mittelalterlichen Europa betont und darauf hinweist, dass die Leidenschaft für leichtere Lektüre keine genuin christliche war. Hinter der ostentativen Trennung von heiligen Schriften und den „Romanzen“ der Umweltkultur durch die Ḥasidei Aškenaz stecke auch die Lust jüdischer Leser auf Abenteuer- und Liebesgeschichten, wie sie etwa in den in Frankreich und Deutschland ungemein beliebten Romanen um König Artus und seinen Hof geboten wurden.26 Diese Art von Literatur sollte in keiner Weise mit den Heiligen Schriften in Berührung kommen. Dasselbe gilt für Chroniken, die „die Kämpfe der Könige der Völker“ beinhalten. Sie gehörten vom Schreibtisch eines sofer verbannt und durften auch nicht als Materialquelle zum Einbinden von heiligen Schriften verwendet werden.27 In der halachischen Tradition ist das Lesen am Schabbat ein Diskussionsgegenstand, der dahingehend geregelt wurde, dass es zwar erlaubt war, heilige Texte zu lernen, privaten Schriftangelegenheiten in dieser Zeit jedoch keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt werden durfte.28 Was nun genau mit „privaten Schriftangelegenheiten“ gemeint ist – Briefe, Rechnungen oder Schuldscheine –, wird unterschiedlich ausgelegt, und das Lesen derselben auch an Werktagen verglichen manche rabbinische Autoritäten mit „einem Zusammensitzen mit gedankenlosen Menschen“.29 Auch Maimonides empfiehlt, sogar an Werktagen „populäre arabische Bücher über Geschichte, die Herrschaft von Königen und Genealogien, aber auch Musikbücher und Ähnliches, das nicht der Aneignung von Wissenschaft 25 SḤ Bologna § 142. 26 Ivan G. Marcus, „A Jewish-Christian Symbiosis: The Culture of Early Ashkenaz“, in: Cultures of the Jews: A New History, hrsg. von David Biale, New York 2002, S. 449–516, hier S. 486. 27 Robert Bonfil, „Jewish Attitudes Toward History and Historical Writing in Pre-Modern Times“, in: Jewish History 11 (1997), H. 1, S. 7–40, hier S. 12 f. 28 Vgl. bT Šabb 116b. 29 Tosafot zu Šabb 116b. Vgl. Bonfil, „Jewish Attitudes Toward History and Historical Writing“, S. 13. Bonfil vertritt in seinem Aufsatz die These, dass „the concern over engaging in ,useless‘ profane intellectual activities was not considered as calling for a normative ruling before the sixteenth century. […] As is well known, the authoritarian control over knowledge characteristic of the Middle Ages and particularly of frames of mind such as Maimonides’, made possible a wide range of medieval production of profane Hebrew literature, including of course historical writings. I suggest that such a cohabitation of sacred and profane, licit and illicit, was no longer possible now that, in the wake of the printing revolution, effective control over reading material had been lost“ (S. 15). Diesem Standpunkt ist mit Blick auf die Ḥasidei Aškenaz nur mit Vorbehalt zu folgen.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

oder der physischen Gesundheit dient“, als pure Zeitverschwendung zu ignorieren. Der Sefer ḥasidim überträgt die rabbinische Ablehnung einer Beschäftigung mit privaten bzw. geschäftlichen Angelegenheiten am Schabbat auch auf andere bei den Zeitgenossen beliebte Genres, die die Chassiden aus dem heiligen Raum des Schreibens verbannt wissen wollten.

5.3 Die Metaphysik des Materials Die berühmte Legenden- und Geschichtensammlung Das Maysebuch oder Ma‘assebuch, das erstmals 1602 in Basel in den Druck gelangte, entwirft eine fiktionale Begegnung des Vaters der chassidischen Bewegung, Samuel he-Ḥasid, und der einflussreichen rabbinischen Autorität aus Frankreich, Jakob ben Meir Tam. In der Geschichte reist Samuel incognito zur Schule des großen Tosafisten Rabbenu Tam. Dort angelangt stellt er sich „nach seinem Handwerk“ als „Samuel, der Pergamenthersteller“ vor, woraufhin ihn die Gelehrten „keinen größeren Respekt als irgendeinem anderen Gast gegenüber entgegenbrachten“. Denn sie realisierten nicht, dass Samuel in Wirklichkeit genauso gelehrt war wie sie. Die Geschichte fährt fort: Als R. Samuel ging, leisteten ihm R. Jakob [Rabbenu Tam] und seine Schüler für eine kurze Weile Gesellschaft, wobei R. Samuel mit einem Schüler R. Jakobs in einigem Abstand voranging. Als sich R. Jakob wieder der Stadt zuwendete, sagte R. Samuel zu dem jungen Mann: „Dein Meister fragte mich gestern, was mein Name sei, und ich sagte ihm, dass er Samuel, der Pergamenter sei. Ich gab mir selbst diesen Namen wegen meines Berufs, denn ich kenne die gesamte Tora, die auf Pergament geschrieben ist, tiefgehend.“ Mit diesen Worten verließ R. Samuel den jungen Mann und ging seines Weges.30

Erst dann erkannten der halachische Meister und seine Schüler, wer der stille Gast tatsächlich gewesen war. Ivan Marcus interpretiert diese Geschichte dahingehend, dass die konkurrierenden Werte der Ḥasidei Aškenaz und der französischen Tosafisten darin gegenübergestellt seien.31 In diesem Zusammenhang erscheint vor allem der Umstand von Bedeutung, dass Samuel als ein frommer Handwerker vorgestellt ist, während seine französischen Kollegen als gelehrte

30 Moses Gaster, Ma’aseh Book: Book of Jewish Tales and Legends, Philadelphia 1934, Bd.  1, S. 317–319, zitiert nach Fishmann, Becoming the People of the Talmud, S. 202; Ivan G. Marcus, „History, Story, and Collective Memory: Narrativity in Early Ashkenazic Culture“, in: The Midrashic Imagination: Jewish Exegesis, Thought, and History, hrsg. von Michael Fishbane, Albany 1993, S. 255–279, hier S. 266–267. 31 Marcus, „History, Story, and Collective Memory“, S. 267–268.

5.3 Die Metaphysik des Materials 

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Theoretiker auftreten. Wie die halachischen Autoritäten ihrer Zeit maßen die Ḥasidei Aškenaz den materialen Komponenten bei der Herstellung der sifrei ha-qodeš große Bedeutung bei  – sie gingen jedoch in manchen Aspekten weit über die rabbinischen Bemühungen um rituell reines Schreibmaterial hinaus. Samuels Berufswahl im Ma‘assebuch deutet bereits darauf hin, dass aus Perspektive der Pietisten jedes noch so kleine materiale Element, das zur Herstellung der sefarim notwendig war – Tinte, Pergament, Schreibfedern, Sehnen zum Vernähen der Pergamentbögen und Farben usw. – ausschließlich aus jüdischer Hand stammen sollte. Die Autoren des Sefer ḥasidim setzten sich nicht systematisch, d. h. auf rein religionsgesetzlicher Ebene mit den Schreibregeln der STaM auseinander, obwohl sie die relevanten rabbinischen Vorschriften des Talmud und der kleinen Talmudtraktate zur Thematik sehr wohl kannten und explizit darauf Bezug nahmen. Dementsprechend findet sich in diesem Werk weder eine theoretische Betrachtung des Sachverhaltes hazmanah milta, die den dialektischen Ehrgeiz der Tosafisten herausforderte, noch sind Anweisungen zur Durchführung eines Weiherituals darin überliefert. Für die Materialien zum Schreiben der heiligen Schriftrollen gibt es im Sefer ḥasidim und auch in den halachischen Schriften des pietistischen Kreises keine konkreten Vorgaben für die Schreiber, doch zahlreiche versprengte Ermahnungen, Anekdoten und Exempla, die die ethische und sogar magische Natur des Materials zum Ausdruck bringen. Grundsätzlich stimmen die Ḥasidei Aškenaz mit den Rabbinern darin überein, Material von geringer Qualität zur Herstellung der sifrei ha-qodeš auszuschließen. Die Reste eines qelaf beispielsweise, „oder schlechte Tinte, die zu Auslöschungen führt“, sollten für diese Art Schriften nicht verwandt werden. Im Einklang mit der rabbinischen Tradition steht auch der Ruf nach Lesbarkeit. Aus diesem Grund müssten die Buchstaben genügend Abstand voneinander haben, denn wenn „ein Kind, dass nicht weise ist […] aber das alef beit kennt“ Buchstaben nicht lesen kann, verschiedene Wörter miteinander verschmilzt oder neu zusammensetzt, ist [die Schriftrolle] pasul – d. h. nicht für den rituellen Gebrauch erlaubt.32 Der Sefer ḥasidim bezieht sich auch auf die halachische Forderung nach verschiedenen Schreibinstrumenten, mit denen ein sofer je nach Texttypus kopieren sollte: Jemand der schreibt, sollte mehrere qulmusim besitzen, wenn der qulmus schnell über das qelaf gleiten soll, nimmt man qulmusim aus den Beinknochen eines Kranichs. Doch wenn jemand Mezuzot schreibt, sollte er mit nichts anderem als einem qulmus aus Schilfrohr schreiben, während die Worte der mündlichen [Tradition] mit einem qulmus aus Knochen

32 SḤ § 712.

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geschrieben werden können. Wenn es um Schönheit geht, schreibe mit einem qulmus aus Knochen […] mit einer Feder [‫ ]עט‬aus Eisen und Blei schreibst du für die Ewigkeit fest eingraviert.33

Dieser Paragraph ist einer der wenigen Anhaltspunkte innerhalb des Sefer ḥasidim, der die materiale Zusammensetzung eines Schreibutensils thematisiert. Bei der Betrachtung der zahlreichen Bemerkungen der Frommen hinsichtlich der sefarim wird offensichtlich, dass all die Herstellungsaspekte, die in den rabbinischen Quellen eine so herausragende Rolle spielen, keinen Eingang in diese Literatur fanden. Es beinhaltet keine Rezepte für koschere Tinten oder rituell reine Schreibhäute. Allerdings tritt ein Aspekt in den Vordergrund, der bei den Rechtsexperten durch die strengen Reglementierungen lediglich hindurchschimmert: nämlich das magische Potential des Materials. Im Sefer ḥasidim wächst die Aura der Reinheit und Heiligkeit zu einem starken magischen Feld um die heiligen Schriften herum in einem Ausmaß an, das weit über die rabbinische Kultur des Mittelalters hinausgeht. Die Magie der Heiligkeit der Schrift wirkt nicht nur auf die Materialien, die zum Schreiben der STaM tatsächlich verwendet wurden. Sie strahlt auch auf das Schreibgerät und sogar auf Abfallprodukte aus, die dementsprechend respektvoll behandelt werden müssen. Ein qulmus und – wie das folgende Exemplum zeigt – auch ein Zeigestock, der in Berührung mit dem Offenbarungstext oder den Namen Gottes stand, ist unwiderruflich mit der Heiligkeit des Gotteswortes behaftet: Einer machte sich einen kleinen Holzstab, um mit ihm der Jugend die Buchstaben und Wörter […] zu zeigen. Er machte [jedoch] nicht am Beginn [des Unterrichts] den Zeiger spitz [‫ ]שפיץ‬wie es auf Deutsch heißt. [Sondern] er zeigte mit ihm die Wörter und Buchstaben und schabte danach dessen Spitze, um ihn zu trimmen, wobei die Späne auf den Boden fielen. Da sagte eine Weiser zu ihm: „Das solltest du nicht so machen. Mache das Ende [des Zeigers] besser am Beginn [des Unterrichts] spitz und zeige dann sogleich mit ihm in ein Buch“. Und so verhält es sich auch, wenn man mit einem qulmus die Worte der Tora und den Namen [Gottes] schreibt und der qulmus dabei stumpf wird. Wenn [der Schreiber] ihn ausbessert und gut anspitzt, um mit ihm zu schreiben, sollte er achtgeben, dass nichts von den Spänen auf den Boden herabfällt, denn alles, was mit dem Heiligen in Berührung kommt, ist auch heilig.34

Ist ein für das Schreiben einer Tora verwendeter qulmus beschädigt, sollte er wie eine unbrauchbar gewordene Torarolle in einer Genisa oder an einem sicheren Ort verborgen werden:

33 SḤ § 732, § 1753. 34 SḤ § 1757.

5.3 Die Metaphysik des Materials 

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Einem, dem ein qulmus beim Schreiben zerbrochen ist und der danach mit dem qulmus eine andere Sache macht, sagt ein Weiser: „Du hast damit heilige Worte geschrieben. Wenn er zerbrochen ist, solltest du ihn verbergen und keineswegs auf den Boden werfen, wo man darauf treten kann“.35

Ganz ähnlich sollte Tinte, die für das Schreiben von sefarim bestimmt war, später nicht für das Schreiben profaner Dokumente wie Briefe oder Schuldscheine benutzt werden: Wenn einer einen qulmus in die Tinte [dejo] taucht, um den [heiligen] Namen zu schreiben und es wird an ihn [das Anliegen] herangetragen, einen Schuldschein oder ein anderes Schriftstück mit dem just eingetauchten qulmus zu schreiben, dann sollte er das nicht tun, sondern zunächst den Namen [zu Ende] schreiben und dann ein weiteres Mal eintauchen, um das zu schreiben, was gewünscht wird.36

Ganz ähnlich verhält es sich in folgendem Fall: Schimon schreibt Tefillin, Mezuzot und andere Schriften der Tora. Einmal benötigte Reuven Tinte und qulmus, um einen Brief zu schreiben. Er sollte nicht den qulmus und die Tinte von Schimon nehmen, da er so die Arbeit des Himmels unterbräche.37

Ist eine Tinte erst einmal für das Schreiben des göttlichen Namens bestimmt, sollte damit nicht etwas anderes geschrieben werden. Umgekehrt sollte überschüssige Tinte nicht für das Schreiben eines Gottesnamen verwendet werden: Gibt es an einem Buchstaben ein Zuviel an Tinte, schreibe nicht den Namen Gottes damit. Und [nimm keine Tinte] vom Namen Gottes, um damit einen anderen Buchstaben zu schreiben.38

Generell sollte überschüssige Tinte, die beispielsweise von einer Schrift mit den Fingern wieder abgenommen wurde, nicht unwürdig behandelt und „unter die Schuhsohle“39 abgestreift werden. Sogar Gott selbst hat eine außergewöhnliche Verwendung für dejo: Ein zaddiq [Gerechter] nahm ein Bad in einer mit Wasser gefüllten Wanne, während seine Frau bei ihm saß. Und siehe es war ein Glanz am Kopf des zaddiq und [reflektierend] im Wasser. Da fragte ihn seine Frau: „Was ist das für ein Glanz?“ Der antwortete: „Wenn der

35 SḤ § 1754. 36 SḤ § 725. 37 SḤ § 724. 38 SḤ § 716. 39 SḤ § 714.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

Heilige, gesegnet sei Er, schreibt, streift er die überflüssige Tinte an den Häuptern der zaddiqim ab, deren Zeit gekommen ist, zu sterben.“ In derselben Woche noch starb der zaddiq.40

Alle für das Schreiben der heiligen Schriften notwendigen Materialien sollten selbstverständlich nicht mit unreinen Orten und Dingen in Berührung kommen: Jemand der schreibt und dem von der Tinte auf die Hände tropft, sollte, falls er seine Notdurft verrichten muss, seine Hände [vorher] reinigen, damit, bewahre, die Tinte nicht mit dem Ort der Unordnung und Nacktheit in Verbindung kommt.41

Zu den unreinen Dingen, die nach Ansicht der Ḥasidei Aškenaz besser nicht mit einem heiligen Buch in Kontakt kommen sollten, zählen auch Nichtjuden, insbesondere Geistliche und Mönche. Jüdisch-christliche Kooperationen bei der Herstellung eines Kodex und vor allem eines sefer torah waren in der Hochzeit des Skriptoriums  – in der der Sefer ḥasidim entstand  – sicherlich problematischer als in späteren Jahrhunderten, als sich laikale Werkstätten jenseits des Klosters im Umkreis städtischer und fürstlicher Machtzentren etablierten. Für diese Annahme sprechen die zahlreichen Zeugnisse der hebräischen Schriftkultur, die ab dem 13. Jahrhundert vielfältige Spuren der europäischen Buchkunst aufweisen. Der buchtechnische Einfluss der Umweltkultur betrifft das Material und dessen Verarbeitungsweise genauso wie das Layout, die Schrift und insbesondere die Illuminierung der Manuskripte.42 Selbst Bibelhandschriften erinnern oftmals an ihre lateinischen Pendants aus der christlichen Umweltkultur und deuten auf einen regen Austausch zwischen Buchherstellern jüdischer und christlicher Konfessionen hin. Die fromme Gemeinschaft der Ḥasidei Aškenaz kritisierte solche jüdisch-christlichen Oszillationen hinsichtlich der heiligen Schriften offen und verbannte konsequent jegliche Kooperation mit Nichtjuden aus dem Bereich der sefarim. Von diesem Ausschluss war nicht nur der Kauf von Schreibmaterialien aus christlicher Hand betroffen; er erstreckte sich auch auf verschiedene Arbeiten

40 SḤ § 1059. 41 SḤ § 1758. 42 Vgl. u. a. Katrin Kogman-Appel und David Stern, The Washington Haggadah. A Fifteenth-Century Manuscript from the Library of Congress. Cambridge (MA) 2011; dies., A Mahzor from Worms: Art and Religion in a Medieval Jewish Community. Cambridge (MA) 2012; dies., Illuminated Haggadot From Medieval Spain: Biblical Imagery and the Passover Holida, Pennsylvania 2006; dies., Jewish Book Art Between Islam and Christianity: The Decoration of Hebrew Bibles in Spain, Leiden 2004; Aliza Cohen-Mushlin, The Making of a Manuscript. The Worms Bible of 1148 (= Wolfenbüttler Forschungen, Bd. 25), Wiesbaden 1983; Colette Sirat, Hebrew Manuscripts of the Middle Ages, Cambridge [u. a.] 2002; Malachi Beit-Arié, Unveiled Faces of Medieval Hebrew Books: The Evolution of Manuscript Production – Progression or Regression?, Jerusalem 2003; Gabrielle Sed-Rajna, Die jüdische Kunst, Freiburg 1997.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas 

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an den Schriftrollen bzw. Kodizes. Die Pietisten treten dabei als selbsternannte Hüter einer religiösen Tabuzone auf, die von reiner Heiligkeit erfüllt vor christlicher „Kontamination“ geschützt werden muss. Mit dieser kompromisslosen Haltung gegenüber der christlichen Buchkunst entsprachen die Ḥasidei Aškenaz sicherlich nicht der Meinung der jüdischen Mehrheit. Die strenge Auslegung der Ḥasidei Aškenaz hinsichtlich des Schreibmaterials unterscheidet sich von der rabbinischen Position insbesondere durch die Betonung der gleichsam magischen Komponente des Materials. Die Auffassung von Heiligkeit in der Materie hat ein kraftvolles Gegenüber in der mittelalterlichen christlichen Religionspraxis, in der Bücher, Heilige, Reliquien und alle möglichen materialen Objekte als Symbole bzw. Vertreter des Göttlichen verehrt wurden.43 Es kann davon ausgegangen werden, dass sich diese Kultur der heiligen Dinge mit magischer Aura in der pietistischen Konzeption der sifrei ha-qodeš niedergeschlagen hat. Andererseits erscheinen die starke Tendenz zum ritualisierten Umgang mit den sefarim selbst im privaten Raum sowie die Zurückweisung von christlicher Expertise in Sachen Buchkunst durchaus als eine Form der Abgrenzung: der Abgrenzung von einer christlichen Kultur der „professionellen Geistlichkeit“ und des Klosterlebens, die alle Lebensbereiche durchdringt und gerade in Form der Mönchsorden eine wirkliche Herausforderung für die fromme jüdische Gemeinschaft darstellte. Dieser Gedanke soll im folgenden Kapitel mit einem Blick auf das generelle Verhältnis der Ḥasidei Aškenaz zu klerikalen Vertretern der Christenheit weiter ausgeführt werden.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas: Christliche Geistlichkeit und Mönche im Blick der Ḥasidei Aškenaz Der Sefer ḥasidim enthält ein Narrativ, das ein aufschlussreiches Bild für die Haltung der Frommen Deutschlands zum Stand der christlichen Geistlichkeit und der Mönche findet. Dort heißt es: Ein Vater zweier Söhne hinterlässt einen Hund und ein Buch. Der eine [Sohn] soll nicht zu seinem Bruder sagen: „Nimm du das Buch und ich den Hund“. So gilt auch für zwei

43 Vgl. u. a. Hans Belting, Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; Hans Belting, Herbert L. Kessler, Spiritual Seeing: Picturing God’s Invisibility in Medieval Art, Philadelphia, PA 2000; Martina Bagnoli, i.a. (Hrsg.), Treasures of Heaven: Saints, Relics, and Devotion in Medieval Europe, Cleveland/Baltimore/London 2010; Cythia Hahn, Strange Beauty: Issues in the Making and Meaning of Reliquaries, 400–circa 1204, Pennsylvania 2012; Renana Bartal, Neta Bodner und Bianca Kühnel, Natural Materoals of the Holy Land and the Visual Translation of Place, 500–1500, London/New York 2017; David Morgan (Hrsg.), Religion and Material Culture: The Matter of Belief, London 2010.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

Freunde, die kamen, um [etwas] aufzuteilen: Sie sollen keine schändliche Sache untereinander aufteilen. Sie sollen einem Hund und einem Abort kein Buch oder einen Ort der Gebetsriemen gegenüberstellen. Man soll auch kein Buch als Gewicht verwenden. Nach dem Motto: „Nimm du entsprechend dem Gewicht des Buches Silber oder Gold, und ich werde dafür das Buch nehmen“. Und genauso soll man in die beiden Packtaschen eines Esels kein zusammengebundenes Buch der Heiligen Schriften [auf der einen] und ein unreines Buch der Mönche auf der anderen Seite des Esels oder des Pferdes tun. Man soll [heilige] Bücher – sefarim – und Schriften der Mönche auch nicht in ein und derselben Kiste aufbewahren, denn es ist geschrieben: Darum sollst du nicht in dein Haus den Greuel bringen (Deut 7,26).44

Der Topos vom Hund, der in einem Handel als Ausgleich seinen Gegenwert herabsetzt, basiert auf dem in Deuteronomium 23,19 erwähnten ‫ – מחיר כלב‬dem sogenannten „Hundepreis“, der neben dem „Hurenlohn“ „Gott ein Gräuel“ und aus dem „Haus des Herrn“ fernzuhalten sei. Die Mischna greift diesen Sachverhalt im Traktat Temurah 6:3 – Vertauschung – im Kontext der erlaubten und verbotenen Tiere für das Tempelopfer auf und schreibt vor, dass ein Lamm, welches für einen Hund eingetauscht wurde, als Opfertier nicht mehr in Frage kommt. Ebenso ist ein Tier oder eine Speise, wenn sie vom „Lohn einer Hure“ erworben wurde, für das heilige Opferritual untauglich. Der Sefer ḥasidim führt das Gleichnis von der Schieflage der Waagschalen fort, indem er den Wert eines heiligen Buches als nicht mit Gold und Silber aufzuwiegen preist. Dass es schlichtweg nicht möglich ist, Heiliges gegen Profanes oder gar gegen eine „schändliche Sache“ aufzuwiegen, ist ein Grundsatz der jüdischen Religionspraxis, dem die Ḥasidei Aškenaz eine neue Facette hinzufügen. An die Stelle des unreinen Hundes treten die „unreinen Bücher der Mönche“, die kein adäquates Gegengewicht zu den Büchern der Hebräischen Bibel darstellen. Mehr noch: sie sind es nicht wert, an einem Ort mit den sefarim, ja noch nicht einmal in einem jüdischen Haus aufbewahrt zu werden. In der chassidischen Erzählwelt nehmen unreine Bücher und christliche Geistliche und Mönche eine besondere Stellung ein – meist in Form gemeinsamer Auftritte. Der Mönch oder Geistliche [‫ גלח‬oder ‫ ]כומר‬wird anders als der einfache „Nichtjude“ [‫ ]גוי‬ganz bewusst als Vertreter der christlichen Glaubenslehre und als Träger einer dezidiert antijüdischen exegetischen Tradition in Szene gesetzt. Der Sefer ḥasidim entwirft zahlreiche Szenarien, die eine spezifische Spannung zwischen den frommen Juden und den Klerikern vorführen. Es ist erhellend, in welchen Themenfeldern sich Juden und Mönche bzw. Priester hier gegenüberstehen. Obwohl der Sefer ḥasidim eine der ergiebigsten historischen Quellen für eine jüdische Perspektive auf die christliche Geistlichkeit und die Mönche darstellt, ist diese Thematik bislang noch nicht Gegenstand einer eigenen Untersuchung 44 SḤ § 668.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas 

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gewesen. Auch deshalb sollen an dieser Stelle einige dieser Begegnungsbilder, die jedes für sich tief in das jüdisch-christliche Verhältnis im mittelalterlichen Aschkenas blicken lassen, exemplarisch vorgestellt und kommentiert werden. Ziel ist es, die im vorangegangenen Abschnitt aufgeworfene Frage, inwiefern die spirituell aufgeladene Buchkunst aus dem Umfeld des Skriptoriums die chassidische Perspektive auf das Schreiben der sefarim beeinflusst haben könnte, zu vertiefen. Dafür ist es notwendig, sämtliche Positionen der Sefer ḥasidim zu diesem Thema einzubeziehen, da nur in der Komplexität des Gesamtbildes der Aspekt der Buchherstellung ausgewogen beurteilt werden kann.

5.4.1 Götzendienst Die Welt der Mönche und Priester erscheint im Sefer ḥasidim als eine Art Tabuzone, in der Täuschungen und diverse Gräuel vorherrschen. Dabei sticht insbesondere die inflationäre Verwendung des Begriffs awodah zarah  – Götzendienst  – ins Auge. Die rabbinische Literatur behandelt in einem so betitelten Traktat Restriktionen hinsichtlich verschiedener Interaktionen zwischen Juden und den „Götzenanbetern“ der Umweltkultur, wobei die Regelungen direkten oder indirekten Götzendienst ausschließen und vor unbeabsichtigten Kontakten mit Götzendienst bzw. vor unmoralischen Praktiken bewahren wollen. In seinen wegweisenden Studien zur jüdischen Perspektive auf die christliche Umweltkultur im mittelalterlichen Europa vertritt der bereits erwähnte Jacob Katz die These, dass Teile der antiken Vorgaben zugunsten eines offeneren Umgangs mit den nichtjüdischen Nachbarn aufgeweicht, Christen damit jedoch keineswegs vom Ruch des Götzenanbeters befreit wurden. Am Beispiel der halachischen Positionen zum Handel mit Nichtjuden während der christlichen Feiertage vergleicht Katz die Argumente mittelalterlicher Halachisten mit den rabbinischen Vorgaben der Antike. Der Talmud (bT Awodah Zarah 6a) verbietet aus zwei Gründen den Handel mit Nichtjuden: Einmal, weil der „Götzenanbeter“ sich während der Feiertage bei seinem Gott für diese Transaktion bedanken wird. Zum anderen, da er die von einem Juden erworbenen Artikel bzw. die geliehenen Geldmittel bei einem oder für einen Opferritus verwenden kann.45 In beiden Fällen spielt der Jude – wenn auch ungewollt – eine ungebührliche Rolle im fremden Gottesdienst und macht sich quasi der „Beihilfe zum Götzendienst“ schuldig.

45 Ephraim Kanarfogel, „The Image of Christians in Medieval Ashkenazic Rabbinic Literature“, in: Jews and Christians in Thirteenth-Century France, hrsg. von Elisheva Baumgarten und Judah D. Galinsky, New York 2015, S. 151–168, hier S. 151.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

Katz stellt eine gewisse Auflösung der strengen Regelung durch aschkenasische Halachisten fest und resümiert, dass Christen durchaus als Götzenanbeter betrachtet wurden, „but that their actions do not count as such in its strict halakhic sense“46. Er trat mit dieser These der in der Forschung vertretenen Position entgegen, die auf der Grundlage einiger weniger halachischer Entscheidungen den Juden in Aschkenas eine tolerante bzw. liberale Haltung ihren christlichen Nachbarn gegenüber zuschrieb. Der jüdische Abscheu gegenüber christlichen Riten und Symbolen, die Beurteilung der christlichen Religionspraxis als awodah zarah  – Götzendienst – mit allen legalen Konsequenzen sei, so Katz, ein instinktiver, emotionaler Reflex, der kaum abgeschwächt letztlich zur drastischsten Form der Ablehnung, dem Märtyrertum im Zuge des ersten Kreuzzugs 1096, geführt habe.47 Diese These ist von verschiedenen Seiten relativiert worden. David Berger etwa beantwortet die von ihm (rhetorisch) gestellte Frage „Did medieval Ashkenazic halakhists ever mean to say – even in narrow applications – that Christianity is not awodah zarah?“ einerseits dahingehend, dass „the answer to this question may very well be no“48. Andererseits möchte er jedoch verschiedene Sachverhalte stärker differenziert wissen und verweist darüber hinaus mit Blick auf die begrenzte politische Macht der europäischen Juden im Exil auf den Unterschied, der zwischen theoretischer und praktischer Toleranz bzw. Intoleranz besteht: Powerlessness confers freedom to express hostility without the need for a real confrontation with the consequences. One can curse one’s enemies, condemn them to hellfire. List the innumerable offenses for which they should be executed and the many obligations that they must be compelled to discharge – and then go to bed. […] Powerlessness provides the luxury of both untested tolerance and untested zealotry. Neither the tolerance nor the zealotry may survive the transition to power.49

Auf Katz bezugnehmend widmete sich auch Ephraim Kanarfogel dezidiert der rabbinischen Position zu awodah zarah in der mittelalterlichen europäischen Kultur. Kanarfogel führt durch die vielfältigen Diskussionen der Rabbiner, die im Ergebnis doch alle von einem gewissen Pragmatismus im Umgang mit Nichtjuden zeugen. Er stellt fest, dass bei der Frage, ob und was man einem Christen an Feiertagen verkaufen dürfe, von dem allgemeinen Verbot meist nur Dinge, die im „Götzendienst“ tatsächlich zum Einsatz kommen könnten, übrig blieben. Etwas stren46 Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance: Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, London 1961, S. 33 f. 47 Ebd., S. 128. 48 David Berger, „Jacob Katz on Jews and Christians in the Middle Ages“, in: The Pride of Jacob. Essays on Jacob Katz and His Work, hrsg. von Jay M. Harris, Cambridge [u. a.] 2002, S. 41–65, hier S. 60. 49 Ebd., S. 63.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas 

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ger als die französischen Tosafisten seien deutsche Rechtsgelehrte aufgetreten, die generell von jeglicher Art Geschäften und dem Verleihen von Geld an christliche Geistliche abrieten.50 Diese Politik der Distanz ist eine Tendenz, die sich mit der immensen Machterweiterung der religiösen Elite innerhalb der christlichen Gesellschaft noch verstärkte. Auch in der rabbinischen Literatur wusste man nun zwischen Laien und Klerikern zu unterscheiden und verortete awodah zarah bei Letzteren. Dementsprechend sind zwei parallellaufende Entwicklungen festzustellen: zum einen das Abrücken der breiten Masse der christlichen Laien aus dem inneren Bannkreis des Götzendienstes, und zum anderen die Fokussierung religionsgesetzlicher Restriktionen auf den Umgang mit Mönchen, Priestern oder sonst direkt an der kirchlichen Praxis beteiligten Personen.51 Diese Tendenz ist auch im Sefer ḥasidim zu beobachten. Mönche und Priester sind mit Themenfeldern verknüpft, die das jüdisch-christliche Zusammenleben eher von seiner konfliktreichen bzw. zumindest von seiner herausfordernden Seite beschreiben. Dazu gehört auch der Sachverhalt des Götzendienstes. Ein gutes Beispiel für die empfindliche Wahrnehmung insbesondere der Kleriker in diesem Zusammenhang ist ein in psychologischer Hinsicht bemerkenswertes Narrativ, das die jüdische Leserschaft vor einer indirekten Unterstützung des Götzendienstes und vor der großen Wirkmacht der selbsterfüllenden Prophezeiung warnt. Ein „Mönch erzählt einem Juden seinen Traum“, heißt es da, wobei der Inhalt dieses Traums dem Leser leider vorenthalten wird. Der Jude schlüsselt den Traum auf und prophezeit dem Mönch, „dass sie dir viele Kirchen geben werden, wo gepredigt und die Gesetze der Nichtjuden gelehrt werden“. Ein Freund des jüdischen Traumdeuters wirft ihm daraufhin Förderung des Götzendienstes vor, denn auch wenn jemand einem Juden [einen Traum dahingehend] deutet, dass dieser sündigen werde, stiftet er diesen zum Sündigen an […]. Ungeachtet der Weisheit des Interpreten sollte er [den Traum] nicht in dieser Weise deuten. Obwohl er weiß, dass die Dinge so eintreten werden, sollte er [den Traum] nicht dermaßen auslegen, dass [der Träumer] in die Hände der Sünde fallen könnte.52

Stellt der jüdische Traumdeuter einem Mönch viele Kirchen und erfolgreiche Lehre in Aussicht, beflügelt er den Geistlichen möglicherweise durch eine solche Vision und macht sich auf diese Weise – wenn auch indirekt – des Götzendienstes mitschuldig. Diese Traumdeutergeschichte lässt erahnen, dass der Sachverhalt

50 Kanarfogel, „The Image of Christians in Medieval Ashkenazic Rabbinic Literature“, S. 154. 51 Ebd., S. 159. 52 SḤ §  389.  Zur Stellung und Funktion des Traumes im SḤ vgl.  Monford Harris, „Dreams in ‚Sefer Hasidim‘“, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 31 (1963), S. 51–80.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

einer awodah zarah von den Ḥasidei Aškenaz zumindest mit Blick auf klerikale Kreise der christlichen Umwelt sehr eng ausgelegt wurde. An anderer Stelle werden Mönche mit Dieben in einen Topf geworfen, da sie einen bestimmten Brunnen benutzten und ihn damit für das rituelle Tauchen von Frauen und Geschirr untauglich machten. Auch hier ist awodah zarah als indirekte Quelle der Verunreinigung erwähnt.53 Den Ḥasidei Aškenaz lag diesem und anderen Narrativen entsprechend viel an einer strikten Trennung von jüdischer Religionspraxis und dem „Götzendienst“ der christlichen Umweltkultur.

5.4.2 Ritualgegenstände, Reliquien und andere christliche Symbole Die ablehnende Haltung der Pietisten trifft auch auf Handelsbeziehungen mit Mönchen zu, auf die generell zu verzichten sei, da sie am Ende des Tages mehr Schaden als Nutzen brächten. Eindringlich warnen die Chassiden vor Beleihungen und dem Weiterverkauf von Heiligenbildern und sonstiger Ritualgegenstände aus der Hand christlicher Würdenträger. Wer mit Sakralgegenständen der Mönche ein Geschäft mache, sei wie jemand zu beurteilen, der das Land, auf dem er sitzt, durch Raub gewonnen habe.54 Die Mahnung zur Vorsicht im Umgang mit christlichen Ritualgegenständen gewinnt vor dem Hintergrund folgenschwerer Anschuldigungen von christlicher Seite, die Juden schlügen Heiligenbilder, zerstörten sakrale Objekte der Kirche oder schändeten Hostien, historische Brisanz. Die Ḥasidei Aškenaz reflektierten über sakrale Artefakte jedoch nicht nur mit Blick auf die reale Bedrohung, die sie für Juden in dieser Zeit bedeuten konnten; sie nahmen auch die wundertätige Aura von Reliquien polemisch aufs Korn. Mit spöttischem Ton berichtet der Sefer ḥasidim über die Entlarvung einer vermeintlichen Reliquie durch einen listigen Juden. Da behauptet ein Christ, im Besitz des Mantels Jesu Christi zu sein, und zum Beweis seiner Echtheit setzt er denselben in Flammen, ohne dass er verbrennt. [Da] sprachen die Mönche und Geistlichen zu den Juden: „Seht ihr die Heiligkeit des Mantels?“ Ein Weiser antwortet: „Gib uns doch mal den Mantel und ich werde euch zeigen, was mit ihm passiert, wenn er in starken Essig gelegt und mit Seifenkraut gewaschen wird“55.

53 SḤ § 1369; vgl. auch § 544; in § 1362 wird eindringlich davor gewarnt, einem Mönch, der Geld schuldig ist, in die Kirche zu folgen, um den Schuldner direkt anzumahnen. 54 SḤ § 1349. 55 SḤ § 1809. Vgl. Joseph Shatzmiller, „Jews, Pilgrimage, and the Christian Cult of Saints: Benjamin of Tudela and his Contemporaries“, in: After Rome’s Fall: Narrators and Sources of Early Medieval History. Essays Presented to Walter Goffart, hrsg. von Alexander C. Murray, Toronto [u. a.] 1998, S. 337–347, hier S. 339 f.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas 

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Der jüdische Zuschauer dieser wundersamen Nichtverbrennung des lodernden Mantels durchschaut den Betrug, der hier in Form einer speziellen Salbung, die den vermeintlichen Wundermantel vor dem Verbrennen schützt, vorliegt. Der geforderten Distanz zu christlichen Ritualgegenständen und Reliquien tritt im Sefer ḥasidim eine Warnung vor weiteren Symbolen der Christenheit, insbesondere der Kleriker an die Seite, der ebenfalls sehr reale Ursachen zugrunde liegen. Die historische Dimension der Exempla wird in dem folgenden Narrativ über den Nutzen und die Schmach christlicher Kennzeichen deutlich: Wenn sich ein Heer von Soldaten [Kreuzzügler?] nähert, soll man nicht an der Kleidung ein Kreuz anbringen und so tun, als wäre man ein Geistlicher. [Und man soll auch] nicht an den Häusern Kreuze anbringen oder sich eine Tonsur, wie sie die Mönche oder Priester haben, rasieren. […] Und wenn Nichtjuden den Weg kreuzen und Juden ihnen begegnen, wenn sie gerade in das Haus des Götzendienstes gehen, dann sollen die Juden nicht mit ihnen gehen und so tun, als seien sie keine Juden, da geschrieben ist: Wenn wir des Namens unsres Gottes vergessen hätten und unsre Hände aufgehoben zum fremden Gott, [würde das Gott nicht finden? Er kennt ja unsres Herzens Grund] (Ps 44, 21,22).56

Die Pietisten lehnten dementsprechend auch den Schutz, den christliche Symbole in gewissen Notsituationen bieten konnten, kategorisch ab.

5.4.3 Liturgie und hebräische Sprache Die Ḥasidei Aškenaz verbanden mit dem Blick auf Geistliche und Mönche auch eine Gefahr für die strikte Trennung von jüdischem Gottes- und christlichem Götzendienst. Die Sorge übertrug sich auf liturgische Elemente wie die Melodien zur Kantillation des heiligen Textes. So empfiehlt ein Exemplum: Man sollte einen Mönch nicht die [hebräischen] Buchstaben lehren oder ihm eine schöne [jüdische] Melodie vorsingen, da der Mönch die Melodie während des Götzendienstes singen könnte. Und das Liedgut, das während des Götzendienstes gesungen wird, soll nicht von einem Juden aufgegriffen und zum Preise des Herrn, gesegnet sei Er, gesungen werden.57

Die synagogalen Melodien, die die pijjutim durch den Gottesdienst tragen, müssen vor Herabsetzung durch christliche Geistliche geschützt werden. Heiliges kann durch die Verwendung durch „Götzendiener“ rituell untauglich, liturgische Lieder entweiht werden. Andererseits warnt der Sefer ḥasidim vor der Verfüh-

56 SḤ § 260; vgl. auch § 202, § 259. 57 SḤ § 348.

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 5 Das Schreiben der sifrei ha-qodeš zwischen Halacha und Magie

rungskraft christlicher Melodien, die fremde Glaubenssätze durch ihre Schönheit verhüllen und dergestalt verharmlost unbemerkt in das Bewusstsein und Gedächtnis der Juden tragen können.58 Diese Bemerkung ist aufschlussreich, da sie die längst für viele Bereiche des jüdisch-christlichen Miteinanders überprüfte These eines regen Austauschs über konfessionelle Grenzen hinweg, wie z. B. die Verwendung von Melodien aus der christlichen Umgebung innerhalb des jüdischen Gottesdienstes oder im privaten Gebet, möglich erscheinen lässt.59 Auch die hebräische Sprache, die nach Ansicht der Chassiden weder im Badehaus noch auf dem Abort gesprochen, ja am besten überhaupt nicht im profanen Bereich benutzt werden sollte,60 ist als wesentlicher Träger der göttlichen Offenbarung von größter Heiligkeit und daher vor wissbegierigen Christen zu schützen. Die mittelalterliche christliche Hebraistik, die ab dem 13. Jahrhundert zunächst in Spanien und dann in Frankreich von den neu gegründeten Mönchsorden wiederbelebt und insbesondere zur Entwicklung neuer Strategien der Missionierung genutzt wurde, spielte zur Zeit der Abfassung des Sefer ḥasidim noch keine große Rolle. Bis zum 12.  Jahrhundert schöpften christliche Theologen ihre Hebräischkenntnisse in erster Linie aus antiken Überlieferungen der Kirchenväter, die wie Hieronymus hebräische Etymologien oder schwierige Textstellen im Zuge ihrer Übersetzungsarbeit schriftlich niederlegten.61 Forscher wie Marianne Awerbuch, Anna Abulafia, Judith Olszowy-Schlanger oder Gilpert Dahan62 – um nur einige wenige zu nennen – konnten jedoch mit Blick auf das 12. Jahrhundert insbesondere im Umfeld der Kathedral- und Ordensschulen von Paris, Troyes und Sens den Beginn eines regen Austauschs zwischen christlichen 58 Vgl. SḤ § 346, § 347, § 348, § 469, § 199, § 1368. 59 Vgl. Peter Schäfer, „Jews and Christians in the High Middle Ages: The ,Book of the Pious‘“, in: The Jews of Europe in the Middle Ages. Proceedings of the International Symposium Held at Speyer, 20–25 October 2002, hrsg. von Christoph Cluse (= Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, Bd. 4), Turnhout 2004, S. 29–42, hier S. 36. 60 SḤ § 799. 61 Vgl.  hierzu auch die zusammenfassende Darstellung von Regina Heyder, Auctoritas Scripturae. Schriftauslegung und Theologieverständnis Peter Abaelards unter besonderer Berücksichtigung der ,Expositio in Hexaemeron‘, Münster 2010, S. 173–188. Weiterführende Studien zu dieser Thematik sind u. a. Matthias Thiel, Grundlagen und Gestalt der Hebräischkenntnisse des frühen Mittelalters, Spoleto 1973; Bruno Chiesa, Filologia storica della Bibbia ebraica, Bd. 1: Da origene al medioevo, Brescia 2000, Bd. 2: Dall’età moderna ai nostri giorni, Brescia 2002; Judith Olszowy-Schlanger, Hebrew and Hebrew-Latin Documents from Medieval England: A Diplomatic and Palaeographical Study, Turnhout 2015. 62 Gilbert Dahan, Les intellectuels chrétiens et les juifs au Moyen Âge, Paris 1990; Marianne Awerbuch, Christlich-jüdische Begegnung im Zeitalter der Frühscholastik, München 1980; Anna Sapir Abulafia, Christians and Jews in Dispute. Disputational Literature and the Rise of Anti-Judaism in the West (c. 1000–1150), Aldershot [u. a.] 1998.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas 

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Exegeten und rabbinischen Gelehrten feststellen. Der Frühscholastiker und Philosoph Peter Abelard (1079–1142) beispielsweise interessierte sich zwar brennend für jüdische Schrifterklärung, doch waren seine Hebräischkenntnisse kaum ausgebildet.63 Auch Sigebert von Gembloux (c. 1030–1112) „konsultierte Juden zu Textproblemen“64; andere christliche Gelehrte, allen voran der Theologe Hugo und seine Schule des Chorherrenstifts von St. Victor, machten sich mit dem jüdischen Exegeten Raschi vertraut und überprüften ihre eigenen Auslegungen am hebräischen Originaltext.65 Das Interesse am Hebräischen speiste sich hier noch nicht ausschließlich aus Bestrebungen, der Heiligen Schrift (und auch der rabbinischen Tradition) Argumente für die Feststellung der Wahrheit des christlichen Glaubens zu entlocken, sondern wurde durchaus von philologischen Fragen geleitet.66 Dennoch schwebte der „Pugio fidei“ – der „Dolch des Glaubens“, wie 63 Vgl. Thiel, Grundlagen und Gestalt der Hebräischkenntnisse, S. 10; Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1941, S. 78 f; Heyder, Auctoritas Scripturae, S. 183–195. 64 Thiel, Grundlagen und Gestalt der Hebräischkenntnisse, S. 11. 65 Vgl. Awerbuch, Christlich-jüdische Begegnung, S. 197–204. 66 Ein Zeugnis für dieses rein philologische Interesse, korrupte Texttraditionen der Heiligen Schrift auszuschließen, ist der Bericht des Stephan Harding, der von 1109 bis 1134 der Abtei Cîteaux nahe Dijon als Abt vorstand: „Bruder Stephan, Abt des Neuen Klosters, den gegenwärtigen und künftigen Dienern des Herrn zum Gruß. Als wir diesen Text schreiben wollten und aus verschiedenen Gotteshäusern zahlreiche Exemplare sammelten, um dem besten zu folgen, da kamen wir auf eines, welches von fast allen anderen stark abweicht. Und weil wir fanden, dass es vollständiger sei als die anderen, haben wir auf dieses vertraut und diesen Text so geschrieben, wie wir ihn in jenem Buch gefunden haben. Bei dieser Entscheidung verwirrten uns die Unterschiede in den Texten nicht wenig, denn die Vernunft sagt uns doch ganz klar, dass das, was ein einziger Übersetzer, nämlich der heilige Hieronymus, welchem allein unsere Kirche seit alters folgt, während sie die anderen Interpreten nicht berücksichtigt, was dieser aus der reinen Quelle des hebräischen Urtextes übertragen hat, einen einheitlichen Wortlaut haben müsste. Es gibt allerdings gewisse Bücher des Alten Testaments, welche nicht aus dem Hebräischen, sondern aus dem Aramäischen von unserem Übersetzer übertragen worden sind, weil er sie so bei den Juden vorgefunden hat, wie er selber im Prolog zu Daniel sagt, und auch diese haben wir wie die übrigen Bücher in seiner Übertragung aufgenommen. Weil wir uns aber sehr wunderten über die Unterschiede in unseren Büchern, welche wir doch von einem einzigen Übersetzer übernommen haben, wandten wir uns an einige schriftgelehrte Juden und fragten sie sehr gründlich in romanischer Sprache über alle Stellen der Schriften aus, in welchen die Passagen und Verse stehen, welche wir in unserem oben erwähnten Exemplar vorgefunden und schon in dies unser Werk aufgenommen hatten, die aber in vielen anderen lateinischen Texten nicht anzutreffen waren. Diese Schriftgelehrten haben zahlreiche ihrer Bücher vor unseren Augen nachgeschlagen, und als sie an den Stellen, nach welchen wir fragten, uns den hebräischen oder aramäischen Text in romanischer Sprache erläuterten, da haben sie die Passsagen und Verse, derentwegen wir unsicher waren, überhaupt nicht angetroffen. Deshalb haben wir den hebräischen und chaldäischen Urtext und die vielen lateinischen Exemplare, welche jene Passagen nicht enthalten, sondern in allem mit jenen zwei Sprachen übereinstimmen, für richtig erachtet und all jene zusätzlichen

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der spanische Dominikaner Raimundus Martini (1220–1285) seine einflussreiche hebräische Zitatsammlung jüdischer Literatur treffend nannte, über solchen christlich-jüdischen Kontakten. Der Sefer ḥasidim erwähnt zwar Mönche, die die Heiligen Schriften der Hebräischen Bibel kopierten und des Hebräischen offensichtlich mächtig waren. Doch es ist durchaus möglich, dass es sich in diesem Zusammenhang um einen rhetorischen Rückgriff auf den rabbinischen Ausschluss bestimmter Personengruppen  – darunter auch die Götzendiener  – vom Schreiben der biblischen Bücher handelt.67 In Deutschland waren Hebräischkenntnisse in christlichen Kreisen bis ins 16.  Jahrhundert eher die Ausnahme, weshalb man die „heilige Sprache“ durchaus als Ausgrenzungsinstrument benutzen konnte. Dennoch warnt der Sefer ḥasidim vor Mönchen, die hebräisch sprechende Juden belauschen könnten: Ein guter Jude rezitierte Lobeshymnen – śalmeś [‫ ]שלמש‬in der fremden Sprache – in der Synagoge, und Segnungen mit lauter und breiter Stimme. Da bekam er Husten, ṭoś [‫ ]טוש‬in der fremden Sprache, und konnte nicht mehr sprechen und hustete auch68. Da fragte er einen Arzt, was zur Heilung zu tun sei, damit er in der Synagoge wieder Lobeshymnen singen könne. Und da saß ein Mönch, der die fremde Sprache wohl verstand, die der Jude sprach. Ein Weiser sagte zu dem Arzt in der heiligen Sprache: „Sage ihm [dem Juden] nicht die Medizin bis der Mönch gegangen ist.“ Als der Mönch gegangen war, sagte der Weise: „Wenn dich der Mönch nach dieser Medizin fragt, verrate es ihm nicht, denn er wird die Medizin für Mönche herstellen, die in ihrem Haus der Nichtigkeiten lobpreisen.“ Und der Mönch fragte den Juden, was ihm der Arzt gesagt habe. Doch der wollte es nicht preisgeben.69

Es entsteht der Eindruck, dass das Hebräische aufgrund seiner Heiligkeit generell vor den Ohren der Mönche geschützt werden sollte. Der heiligen hebräischen Sprache stand das Lateinische als lešon galaḥim – „Sprache der Geistlichen“ – gegenüber, die im Übrigen von kaum einen Juden beherrscht wurde.70 Gänzlich inakzeptabel war das gemeinschaftliche Gebet oder die Beschwörung Gottes in einer Zwangslage. So berichtet der Sefer ḥasidim von Zeiten großer Trockenheit, „wegen derer Mönche, Priester und Nichtjuden zusammenkamen, um zu fasten und ihre Götter um Regen anzuflehen“. Als dies keinen Regen einbringt, bitten sie die Juden um Beteiligung. Doch die verweigern das gemeinschaftliche Gebet

Passagen völlig ausgeschabt, wie man an vielen Stellen dieses Buches sieht, vor allem in den Königsbüchern, in welchen der größte Teil jener Fehler enthalten ist.“ Stephan Harding, Encyclica de editione sua Bibliorum sacrorum, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 250 f. 67 Vgl. SḤ § 1348 und bT Giṭ 45a,b; bT Menaḥ 42a,b; mGiṭ 4:6. 68 SḤ § 552. Ms Parma liest ‫ חקק‬statt ‫ רקק‬in Ms JTS Boesky 45. 69 SḤ § 1368. 70 Vgl. Kanarfogel, The Intellectual History, S. 87.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas 

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und flehen vielmehr den Gott ihrer Väter um ein Ende der Trockenheit an – „und es fiel Regen“.71

5.4.4 Heilige Bücher und Grenzgänger Der Mönch und seine „unreinen Bücher“ werden im selben Atemzug mit „Götzendienst“ und verschiedenen Insignien des christlichen Glaubens genannt. Diese „religiöse Hypersensibilität“72 der deutschen Frommen im Hinblick auf Ritualobjekte aus dem christlichen Bereich übertraf talmudische Vorgaben ebenso wie zeitgenössische Positionen zum Umgang mit Nichtjuden. Das betrifft auch die Herstellung der sefarim. Der Sefer ḥasidim geißelt das Übertragen auch nur der geringsten Arbeit an einem sefer torah an einen buchhandwerklich versierten Mönch mit aller Schärfe. Das betrifft unter anderem das Vernähen der Pergamentbögen einer Torarolle. Exemplarisch wird ein Torabinder vorgeführt, der das Angebot eines Mönchs, ihm bei seiner Arbeit behilflich zu sein, kategorisch ablehnt: Einer nähte ein sefer torah zusammen. Da kam ein Mönch [‫ ]גלח‬und wollte ihm helfen. Doch der Jude wollte das nicht, da geschrieben steht: Und wir sind deine Knechte, wir wollen gehen und bauen, ihr aber habt weder Anteil noch Recht oder Andenken an Jerusalem (Neh 2,20).73

Andere Fallbeispiele aus dem narrativen Schatz der Ḥasidei Aškenaz legen nahe, dass es neben Kooperationen mit professionellen Schreibern des Skriptoriums auch zu einem regen Erfahrungsaustausch über konfessionelle Grenzen hinweg kam: Einer ging zu einem Mönch, um Bücher zu binden. Er fragte den Weisen und sagte: „Der Mönch hielt mich an, zunächst vor seinen Augen ein unreines Buch von ihm zu binden, und wenn er sähe, dass ich mich nicht gut anstelle, werde er mir sagen, tue es so und so.“ Der Weise sagte zu ihm: „Du sollst nicht einmal eine Lage [bei dem Mönch] binden und ihm nicht beim Binden helfen“.74

In jedem Fall sei ein ungeschickter jüdischer Buchbinder einem in der Buchkunst erfahreneren Mönch vorzuziehen: Zwei Fromme hatten Bücher und mussten sie binden lassen. Und es gab einen Mönch [‫]כומר‬ in der Stadt, der war im Bücherbinden geschickter als die Juden. Ein Frommer gab seine 71 SḤ § 402. 72 Katz, Exclusiveness and Tolerance, S. 97. 73 SḤ § 680. 74 Vgl. SḤ § 280a.

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Bücher zum Binden einem Juden, der nicht so geschickt wie der Mönch war, denn er sagte: „Wie sollte er [d. h. der Mönch] ein Buch anrühren, da geschrieben ist: Denn es wird nicht mehr zu dir kommen der Unbeschnittene oder Unreine (Jes. 52,1). Umso mehr [gilt dies für] eine Torarolle [‫]בספר‬. Wenn der Nichtjude [‫ ]הנכרי‬bindet, setzt er die Bücher und auch die Reste herab [‫]מבזה‬, denn womöglich bessert er mit dem Abgeschnittenen seine unreinen Bücher aus.“ Sein Gefährte sagte: „Ohne Zweifel ist es ihnen [den Christen] nicht erlaubt, eine Torarolle mit Sehnen zu nähen; alles was eine öffentliche Lesung verhindert, ist verboten, wie etwa das Schreiben und Nähen mit Sehnen [durch Christen]. Aber [mit Blick auf] das Binden der übrigen [profanen, für geschäftliche Angelegenheiten verwendeten] Bücher zu Listen, von denen man lernt, so ist es nicht verboten, sie ihnen [den Christen] zum Binden zu geben.“ Und er bestand darauf, dass er [d. h. der Mönch] die Reste nicht für ein [kirchliches] Buch verwende.75

Ein für den rituellen Gebrauch geweihtes Pergament, das mit der göttlichen Überlieferung beschriftet den Händen und nicht zuletzt den Intentionen eines christlichen Geistlichen überlassen wird, könnte auf unterschiedliche Weise herabgesetzt und für die rituelle Nutzung unbrauchbar gemacht werden. Herabsetzen meint hier im wörtlichen Sinne die Enthebung der heiligen Rolle aus ihrem heiligen, reinen Status in einen unreinen, profanen Bereich, also eine Profanierung bzw. Entweihung. Das betrifft auch die im Sefer ḥasidim erwähnten Ränder der für ihren heiligen Zweck geweihten Pergamentbögen, die von den Mönchen abgeschnitten und zur weiteren Beschriftung verwendet werden könnten. Auch dies käme einer Profanierung des Materials gleich, die unbedingt vermieden werden sollte. Umgekehrt kann ein Palimpsest in keiner Weise Anteil am heiligen Raum haben. Im Sefer ḥasidim wird sogar das Schreiben eines gewöhnlichen Briefes auf den abgeschabten Seiten der „Bücher der Mönche, in denen Nichtigkeiten für den Götzendienst“ standen, als nicht angemessen erachtet: Wenn da Bücher von Mönchen sind, in denen Nichtigkeiten für den Götzendienst stehen und diese dann ausradiert wurden, so soll man auf ihnen nicht einmal einen Brief schreiben. Und wenn da Lagen aus unreinen Büchern sind, so soll man sie nicht mit den Büchern der Kinder Israels zusammenbinden. Und wenn da die 24 Bücher [des Tanach] sind, die ein Mönch oder ein Priester geschrieben hat und darin keinerlei Götzendienst und kein Heiliger erwähnt ist, dann bewahre man sie [trotzdem] nicht mit [unseren heiligen] Büchern auf. Denn der Gottlosen Zepter wird nicht bleiben über dem Erbteil der Gerechten (Ps 125,3). Wenn es einen Mönch gibt, der einen pijjut für den Götzendienst verfassen möchte, oder einen Nichtjuden, der ein Lied für die Übertretung [schreiben will] und er sagt zu einem Juden: „Sing mir eine schöne Melodie, mit der ihr euren Gott lobt!“, so soll er ihm nichts vorsingen, damit er es nicht verwenden kann.76

75 SḤ § 280. 76 SḤ § 1348.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas 

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Im Umgang mit den „unreinen Büchern“ der Mönche ist Vorsicht geboten. Sie gehören nicht zu den Dingen, die ein Jude einfach käuflich erwerben und dann in seinen Besitzstand aufnehmen kann. Sie sind Teil der christlichen Welt, und ihr Wert lässt sich nicht beziffern. Auch die Pfandleihe auf lateinische Bücher beurteilen die Ḥasidei Aškenaz kritisch: Es gab einen Vater, der Söhne hatte. Und siehe, der Vater sündigte, da er gegen ein unreines Buch Geld verlieh und dann verstarb. Und siehe, die Mönche sagten, dass [das unreine Buch] so und so viel wert sei. Er besaß aber auch ein heiliges Buch von uns. Man soll nun nicht sagen: „Weil die Juden für das heilige Buch so [viel] geben würden wie die Mönche für das unreine Buch, soll das heilige Buch dir und im Ausgleich dazu das unreine Buch mir gehören.“77

Ein Erbe sollte von einem solchen gegebenenfalls wertvollen, aber unreinen Buch keineswegs profitierten: „Einer erbte ein unreines Buch. Er wollte aber nicht verkaufen und verbrannte es.“78 Juden wussten sehr wohl um die spezielle Bedeutung dieser Bücher in der christlichen Religionspraxis, doch es scheint, als hätten die Ḥasidei Aškenaz ihre Vorstellung von der heiligen, gleichsam magischen Aura der sefarim auf diese Schriften übertragen  – allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Statt „die Bücher der Mönche zu studieren […] und in ihrer Sprache zu singen“79, um keinen Schaden zu erleiden, solle ein Jude vielmehr für seine Herkunft und Religion einstehen.80 In der direkten Konfrontation mit religiösen Handlungen oder theologischen Argumenten der Geistlichen sei die größte Zurückhaltung geboten. Wer keine Bildung besitzt, solle sich nicht auf Diskussionen mit „Mönchen, Priestern oder Häretikern“ einlassen, damit er nicht in seinem Glaubend schwankend werde, warnen die Ḥasidei Aškenaz.81 Setzt man die vielen kleinen Mosaiksteine aus dem narrativen Flickwerk der Ḥasidei Aškenaz zusammen, entsteht ein von Ambivalenz geprägtes Bild der christlichen Geistlichen und Mönche. Einerseits wird die Stärke und Wahrhaftigkeit der eigenen Tradition beschworen und vor „Kontamination“ durch die Vertreter der christlichen Heilslehre gewarnt. Polemische Darstellungen der christlichen Religionspraxis wie des Reliquienkults oder der im Mittelalter so beliebten Wetterbeschwörungen führen eindringlich die vermeintlichen Schwächen der christlichen Ansichten vor Augen. Andererseits kann der polemische Ton jedoch kaum über die Sorgen hinwegtäuschen, die in vielen dieser Miniaturen zum Aus-

77 SḤ § 1350; vgl. auch § 689. 78 SḤ § 1351. 79 SḤ § 259. 80 SḤ Bologna § 117. 81 SḤ § 811.

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druck kommen. Es ist jedoch nicht nur Angst vor Verfolgung, Demütigung und falschen Anschuldigungen, die hier häufig mitschwingt. Vielmehr scheint von den gebildeten Klerikern durchaus auch einige Anziehungskraft ausgegangen zu sein, da sie Schutz,82 theologische Argumente gepaart mit rhetorischer Finesse und tiefe Frömmigkeit zu bieten hatten. Ivan Marcus äußerte unter Berücksichtigung verschiedener jüdischer und christlicher Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts bereits die Vermutung, dass es nicht nur vielfältige soziale Kontakte zwischen Juden und Christen gab, sondern „einige Juden ambivalent hinsichtlich ihrer Loyalität dem Judentum gegenüber waren und sich vom Christentum angezogen fühlten83. Marcus führt dieses Schwanken auf die wachsenden Möglichkeiten des Einzelnen zurück, der seit dem 12. Jahrhundert eine zunehmende Zahl von Optionen für seine Wahl einer Gruppenidentität hatte: The possibility of Jews and Christians being attracted to the other culture is an expression of the great cultural and social transformation of the twelfth century and is related to the subject of the ‘individual in the twelfth century’. As Carolyn Bynum has observed, this phenomenon was not about the autonomous individual but about how people could now choose among different group identities. For example, Christians who wanted to become monks could now join several new orders in addition to a Benedictine house; and Jews could become Pietists or non-Pietists, mystics or Tosafists in newly conscious ways. One of the new options confronting both Christians and Jews in the twelfth century was an attraction to the other’s religious culture.84

Es ist bemerkenswert, dass die mittelalterliche jüdische Gemeinschaft mit den erstaunlichsten Parallelen zur Mönchskultur zugleich die größte Abneigung gegen die christlichen Kleriker und Mönche aufweist. Die eingangs präsentierte Geschichte von dem Esel, der auf der einen Seite die heiligen Schriften der Juden und auf der anderen Seite „die unreinen Bücher der Mönche“ trägt, könnte auch als ein Sinnbild für ein Abwägen der Ḥasidei Aškenaz gelesen werden, die ihre „jüdische Frömmigkeit“ ganz bewusst mit den erstarkenden Mönchsbewegungen ins Verhältnis zu setzen suchten. Die Bewegung der Ḥasidei Aškenaz erblühte nicht zufällig im Zentrum der christlichen Vorherrschaft, die mit den Kathedralen von Speyer (1061), Mainz (1036) und Worms (1181) gleichsam als Hauptstädte der deutschen Christenheit gekrönt wurden. Regensburg, ein wichtiger Sitz der Chassiden, entwickelte sich im 12. und 13. Jahrhundert zu einer zentralen politi82 Vgl. auch SḤ Bologna § 703; Parma § 262. Dort thematisiert der Sefer ḥasidim die Möglichkeit jüdischer Frauen, zum Schutz von Leib und Leben in ein Kloster zu fliehen, um Vergewaltigung und anderer Gewalt durch Kreuzfahrer zu entgehen. 83 Ivan G. Marcus, „Jews and Christians Imagining the Other in Medieval Europe“, in: Prooftexts 15 (1995), S. 219–226, zitiert nach ders., Jewish Culture and Society, S. 216. 84 Ebd., S. 211.

5.4 Qeduššah vs. sanctitas 

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schen und kulturellen Handelsmetropole, in der Franziskaner, Benediktiner und Augustiner-Eremiten das Stadtbild prägten. Das chassidische Konzept der Frömmigkeit, das durchaus im Widerspruch zum jüdischen Mainstream der Zeit stand, ist zweifelsohne in Reibung mit christlichen Konzeptionen der frommen Gemeinschaft entstanden. Das Gegeneinander-Aufwiegen der heiligen Bücher, das sich als Motiv in verschiedenen Varianten durch die gesamte chassidische Literatur zieht, kann dementsprechend auch als ein symbolisches Aufwiegen der jüdischen und der christlichen Heiligkeit gelesen werden. Aus Sicht der Chassiden gibt es keinen Zweifel: Die qeduššah steht über der sanctitas.

6 Der ideale Schreiber Dem Sefer ḥasidim zufolge sind es die soferim, die in den zukünftigen Welten des gehinnom und Garten Eden die Sitze der Verstorbenen beschriften.1 Schreiber erscheinen in der chassidischen Welt als machtvolle Grenzgänger zwischen der göttlichen und profanen Welt. Sie müssen sich nicht durch hohe Bildung auszeichnen.2 Ausgehend von den Schriftversen Die Lehre des Weisen ist eine Quelle des Lebens, zu meiden die Stricke des Todes (Prov 13,14) und Die Furcht des Herrn ist eine Quelle des Lebens, dass man meide die Stricke des Todes (Prov 14,27) diskutiert der Autor der entsprechenden Textstellen im Sefer ḥasidim unterschiedliche Bildungsstufen, die an die intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen geknüpft sind. Er unterscheidet zwischen denjenigen, die erfolgreich die Tora studieren und Neues aus ihr ziehen und denjenigen, die sich dem Gesetz ohne eigene Position unterordnen. Letztere beschäftigen sich zwar mit dem Talmud, doch vergessen schnell, müssen oft wiederholen und sollten sich auf kleinere Themengebiete beschränken. Wen das Religionsgesetz überfordert, der sollte sich der Aggada oder der Heiligen Schrift zuwenden. Wer auch aus dieser Lektüre keinen Nutzen zieht, kopiere wenigstens Bücher für die Höherbegabten, verleihe oder verkaufe Bücher, dass sie anderen „eine Quelle des Lebens“ seien. Hier sind allerdings Kopisten im Allgemeinen und nicht ausschließlich sofrei STaM gemeint. Bildung gehört jedoch nicht zu den Voraussetzungen, das Schreiberhandwerk erfolgreich auszuführen. Im Vordergrund steht vielmehr die innere Einstellung des Schreibers, denn die Ḥasidei Aškenaz sind davon überzeugt, dass sich die moralische, emotionale und charakterliche Disposition des sofer auf geheimnisvolle Weise auf das Geschriebene und die Schreibgerätschaft überträgt. Mit der magischen Aufladung der Schreibmaterialien durch die Ḥasidei Aškenaz ging auch eine Neubewertung des Schreibortes und des Schreibers einher. Die ernste Sorge um rituelle Reinheit und Heiligkeit im engen Umfeld eines sofer muss Konsequenzen hinsichtlich der Anforderungen an die inneren Werte eines Schreibers und dessen Arbeitsweise gehabt haben. Tatsächlich enthält der Sefer ḥasidim eine große Anzahl von Narrativen, die einen Eindruck davon vermitteln, wie sich die fromme Gemeinschaft einen idealen Schreiber vorstellte. Dieser doch so zentrale Aspekt der „Arbeit des Himmels“ ist innerhalb der rabbinischen Literatur kein Diskussionsgegenstand. Die frühe rabbinische Literatur ist doch in erster Linie mit den materialen Eigenschaften der STaM und deren Zuweisung in eine komplexe Heiligkeitstopographie beschäftigt. Über den 1 SḤ § 33. 2 SḤ § 745. https://doi.org/10.1515/9783110722062-006

6.1 Kavvanah: Die Intention des Herzens 

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sofer erfährt man abgesehen davon, dass er jüdisch, männlich und volljährig sein soll, kaum mehr, als dass es Regelungen gibt, die er bezüglich des Materials und der Schrift einzuhalten hat. An der inneren Einstellung des Schreibers, den charakterlichen Voraussetzungen für diesen Beruf oder der Psychologie des Schreibens hatten die Rabbinen offensichtlich kein großes Interesse; zumindest ist aus den Quellen kaum etwas über diese Aspekte zu erfahren. Dieser Eindruck bleibt auch bestehen, wenn entsprechende Passagen aus dem Talmud und den kleinen Traktaten Massechet sefer torah und Massechet soferim mit Blick auf die Regelungen zum Schreiben der Gottesnamen hinzugezogen werden. Auch hier gilt, dass die heiligen Namen lišmah zu schreiben sind,3 wobei der Schreiber sich keineswegs – auch nicht von einem König – ablenken lassen sollte.4 Doch steht dabei nicht die innere Haltung des Schreibers, sondern vielmehr die Fehlervermeidung beim Schreiben der heiligen Namen Gottes zur Debatte, die durch erhöhte Aufmerksamkeit des sofer erreicht werden soll. Allerdings fließen zwei rabbinische Konzepte in die chassidische Psychologie des Schreibens ein, die in aller Kürze näher beleuchtet werden sollen: die kavvanah des Schreibers und die Idee der torah lišmah.

6.1 Kavvanah: Die Intention des Herzens Es war Maimonides, der den bedeutungsvollen Begriff der kavvanah in den Schreibkontext einführte. Der große Gelehrte aus Cordoba maß dem rabbinischen Konzept der frommen „Intention“ bzw. „Konzentration“ auf eine rituelle Handlung insbesondere im Zusammenhang mit dem Gebet und der Ausführung der Gebote eine außerordentlich hohe Bedeutung bei und vertiefte diese Idee in seinem halachischen und philosophisch-ethischen Denken. Im zweiten Buch seiner Mišneh torah, ahawah, beschreibt er im Abschnitt Tefillah ve-birkat kohanim, was er unter einer richtigen kavvanah beim Gebet versteht: Was bedeutet die Konzentration des Herzens/Geistes [‫ ?]כוונת הלב‬Jedes Gebet, das ohne kavvanah rezitiert wurde, ist kein Gebet. Wer ohne kavvanah betet, kehre um und bete mit kavvanah. Wer verwirrt oder wessen Geist beschäftigt ist, sollte nicht beten bis dass er seinen Geist beruhigt hat. […] Wie erreicht man kavvanah? Wenn man sein Herz/seinen Geist von allen Gedanken befreit und sich selbst sieht als stünde man vor der göttlichen Präsenz [‫]השכינה‬. Deshalb sollte man sich vor dem Gebet einige Zeit setzen, um sein Herz/seinen Geist zu fokussieren [‫]לכוון את ליבו‬

3 bT Giṭ 54b. 4 Massechet sefer torah 5:7, Massechet soferim 5:6.

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 6 Der ideale Schreiber

und dann bete man ruhig und flehentlich. Und man bete nicht als ob es eine Bürde wäre, nach deren Beseitigung man seinen Weg fortsetzt. Daher sollte man auch nach dem Gebet eine Weile sitzen und erst dann seiner Wege gehen.5

Die spirituelle Dimension des Gebetes steht hier über der reinen Pflichterfüllung. Ein Gebet ohne die richtige Konzentration des Geistes hat keinen Bestand auf seinem Weg zu Gott, ist vergeblich gesprochen. Nur das bewusst gelenkte, frei von alltäglichen Sorgen auf Gott ausgerichtete Gebet erhebt den Menschen in einen Raum göttlicher Präsenz. Ganz ähnlich wie beim Konzept des Studiums der Tora lišmah geht es Maimonides um eine bewusste Lenkung des menschlichen Geistes hin zur göttlichen Welt. Wie der Betende muss sich nach Maimonides auch der sofer STaM beim Schreiben vom Profanen lösen und sich auf das Heilige, das ihm in der Schrift, aber insbesondere in den Gottesnamen begegnet, konzentrieren. Wenn das Schreiben einer Torarolle, Tefillin oder einer Mezuzah ohne kavvanah erfolgte, und einer der Gottesnamen nicht lišman geschrieben wurde, sind [diese Schriften] untauglich. Denn beim Schreiben des Namens muss man nichts erwidern, selbst wenn der König Israels grüßte.6

Der Begriff lišmah wird an dieser Stelle durch kavvanah ersetzt, wodurch der Schreibakt und der Schreiber selbst an Konturen gewinnen. Der Begriff kavvanah öffnet im Maimonidischen Verständnis einen bis dahin kaum beachteten Aspekt des rituellen Schreibens, der die Metaphysik des Materials um die Spiritualität des Schreibers erweitert.

5 Maimonides, Mišneh torah, Hilchot Tefillah u-birkat kohanim, IV:15,16. 6 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, I:15. Vgl. auch ebd. I:18: [The following rule applies when] a scribe who wrote a Torah scroll, tefillin, or mezuzah states: „I did not write the names of God with the proper intent.“ Once they have left his hand, his statements are not believed with regard to the disqualification of the scroll. They are, however, accepted to the extent that he must forfeit his entire wage.    Why isn’t he believed with regard to the disqualification of the scroll? Because it is possible that he wanted to cause a loss to the purchaser or to the person who hired him, thinking that with this statement all that he would be required to forfeit would be the payment for the names of God. Accordingly, were he to say that the parchment of this Torah scroll or tefillin was not processed with the proper intent in mind, his statements are accepted with regard to the disqualification of the sacred articles because, [by virtue of these statements,] he forfeits his entire wage. Everyone knows that if the parchments were not processed with the proper intent, he does not deserve any payment.

6.2 Das Gott geweihte Studium torah lišmah 

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6.2 Das Gott geweihte Studium torah lišmah Mit Blick auf den Schreiber rückt ein weiteres Thema ins Zentrum dieser Studie, das durch die Ḥasidei Aškenaz eine immense Erweiterung erfährt – das Konzept der torah lišmah. Die Autoren des Sefer ḥasidim unterscheiden zwei Arten von Gelehrten. Zur ersten zählen diejenigen, die gelehrte Kommentare verfassen, viele Schüler um sich scharen und deren Andenken auch post mortem bestehen bleibt – und das obwohl sie ganz und gar nicht lišmah, d. h. mit ganzem Herzen und aller Liebe bei der Sache waren. Auf der anderen Seite stehen die weniger Erfolgreichen, die sich „mit aller Kraft lišmah [der Sache Gottes widmen], jedoch keine Auszeichnung erfahren, weder Schüler ausbilden noch Kommentare und tosafot schreiben, um die Gemeinde noch nach dem Hinscheiden zu fördern“7. Dennoch ist ein Schüler aus letzterer Gruppe als höher stehend zu bewerten, da er sein ganzes Wesen „zum Himmel ausrichtete und der Gemeinde damit wirklichen Nutzen brachte – allein keinen [sichtbaren] Erfolg damit hatte“. Wer lišmah mit Liebe das Wort Gottes studiert, „sitzt im Schatten der šechinah und erfährt Freude vom Glanz der Herrlichkeit [‫“]הכבוד מזיו‬8 heißt es in einem Exemplum. Mehr noch als der Talmud betonen die Autoren des Sefer ḥasidim das Losgelöstsein des wahren Toraschülers von allem weltlichen Streben nach Anerkennung, Ruhm und Reichtum, wie folgende Anekdote belegt: Reuben sagt zu Schimon: „Komm und gib dieses Geld an Schüler, die die torah lišmah [um ihrer selbst willen studieren]“. Schimon war nun in einem Dilemma. Er hatte arme Verwandte, die Schimon bedrängten: „Gib uns [das Geld] und wir werden uns mit der Tora beschäftigen“. Es gab [jedoch] Fremde, die sich schon seit längerer Zeit mit der Tora beschäftigten. Er gab [das Geld schließlich] den Fremden, die sich bereits mit der Tora beschäftigt haben. Zu seinen Verwandten sollte er jedoch sagen: „Da ihr bis heute kein Torastudium betrieben habt, sondern euch nur des Geldes wegen mit der Tora beschäftigen wollt und die Tora nicht lišmah [um ihrer selbst willen studiert] habt, werde ich lieber diejenigen unterstützen, die sich schon mit der Tora [lišmah] beschäftigen“.9

Lišmah zu lernen schafft inneren Reichtum, der mit der tiefen Freude verglichen wird, die die Erfüllung der Gebote und damit einhergehend die Verwirklichung des göttlichen Willens in einem Menschen auslöst, der aus der Mitte seines Herzens heraus handelt.10 Mit großem Gespür für soziale Ungerechtigkeit plädieren die Pietisten beim Verleih von Büchern für eine Bevorzugung der Armen und

7 SḤ Parma 3280 H § 15. 8 SḤ § 753. 9 SḤ § 919, vgl. § 1737, § 862, § 860. 10 SḤ § 744.

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 6 Der ideale Schreiber

derjenigen, die lišmah studieren.11 Sie unterstellen den finanziell Minderpriviligierten eine moralische Überlegenheit, die sich in geringer Streitlust, Ehrlichkeit und einem respektvollen Umgang mit Büchern Ausdruck verschafft. Wer sich auf geradem Weg lišmah auf das Göttliche richte, sei eben nicht wie ein verkehrt herum getragenes Buch durch verdrehte Motive geleitet.12 Der Bologneser Druck aus dem Jahre 1538 beinhaltet einen Paragraphen, in dem die Autoren eine Definition von torah lišmah geben, die den Handlungsaspekt herausstreicht: Der Mensch sollte die Tora in [ihrer ganzen] Tiefe studieren und dabei den praktischen Aspekt der ganzen Sache im Bewusstsein haben. Wie gesagt ist: Wer danach handelt, dem ist gutes Verstehen. [Ps 111,10] Es heißt dort nicht „alle, die studieren“, sondern „die handeln“ [vgl. bT Ber 17a], denn es gibt keinen Menschen, der die schriftliche und mündliche Tora [studieren und gleichzeitig] gegen seine Väter, Lehrer oder diejenigen, die größer sind als er, angehen kann. Vielmehr sollte er mit dem Ziel studieren, [das Gesetz] zu lehren, zu wahren und in die Tat umzusetzen. Und das nennt man torah lišmah. Und für jeden, der sich nicht um ihrer selbst willen (lišmah) mit der Tora beschäftigt, gilt, es wäre besser, er sei nicht geschaffen worden [vgl.  bT Ta‘anit 7a]. Und wehe demjenigen, der sich mit der Tora beschäftigt und die Kraft der Gesetze kennt, sie jedoch nicht einhält. […] Wenn der Mensch das begreift, muss er seine Worte erklären und darf nicht im Schweigen verharren. Er sollte seine Ohren und Augen vollständig der Sache öffnen, um während des Studiums gänzlich für die Tora wach zu sein. Dementsprechend ist in Ezechiel [40,4] geschrieben: Du Menschenkind, siehe und höre fleißig zu und merke auf alles, was ich dir zeigen will. Siehe diese Worte [von Ezechiel] und [bedenke,] um was für ein Gebäude [i. e. der Tempel] es sich handelte, das ja mit Ellen gemessen werden kann […]. Um wie viel mehr sollten sich Augen und Ohren den Worten der Tora [öffnen], die doch an der Majestät des Himmels aufgehängt sind. Daher sollst du während des Tages und auch des Nachts Zeiten für [das Studium] der Tora festlegen, entsprechend den Worten: [Und lass dieses Buch des Gesetzes nicht von deinem Munde kommen,] sondern betrachte es Tag und Nacht. [Jos 1,8] [Studiere] mal mehr, mal weniger. Allein wenn das Herz ganz auf das Himmlische ausgerichtet ist, sei das kurze [Studium] mit Gottesfurcht dem der sündigen Masse vorzuziehen, die den ganzen Tag studiert, doch ohne [das Gelernte] in die Tat umzusetzen.13

Das Studium der Tora erfährt eine qualitative Intensivierung, die nicht durch mehr Zeitaufwand oder besonders breite Kenntnisse der Kommentartradition erreicht werden kann. Vielmehr soll der Gerechte das Gelernte der theoretischen Ebene entheben und in seinem Herzen bzw. in seinen Handlungen verankern. Der Terminus torah lišmah fällt bei den Ḥasidei Aškenaz auf sehr fruchtbaren Boden, da hier auf allen Ebenen des Lebens nach religiöser Tiefe, authenti-

11 SḤ § 676. 12 SḤ § 754. 13 Bologna SḤ § 17.

6.2 Das Gott geweihte Studium torah lišmah 

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scher Frömmigkeit und innerem Wachstum gesucht wird. Dazu gehört auch das Zurücksetzen der eigenen Person, deren Streben nach weltlicher Anerkennung und Profilierung im Sefer ḥasidim unermüdlich verurteilt wird. Der Weise sitzt im Gegensatz zu einem nach persönlichem Vorteil strebenden Gelehrten Tora lišmah studierend im Schatten der šechinah, da er seine engen individuellen Grenzen zugunsten eines größeren göttlichen Erlebnisraums aufgelöst hat: Er ist nicht enttäuscht, in einer Debatte mit einen Gelehrten zu unterliegen, denn seine Weisheit wächst dadurch. Wäre er überlegen, gewänne er nichts, doch wenn der Gelehrte gewinnt, weiß er etwas, was er vorher nicht wusste. Rabbi Adda bar Ahavah führt den Vers [Malachi 3,18] an: Und ihr sollt dagegen wiederum den Unterschied sehen, was für ein Unterschied sei zwischen dem Gerechten und dem Gottlosen, und zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient. [Es gibt einen Unterschied] zwischen dem Diener Gottes, der dem göttlichen Willen folgt, und einem, der dem Willen Gottes nicht entspricht: „Der Mensch mache aus der Tora keinen Spaten, mit dem er gräbt oder eine Krone der Selbstverherrlichung“ [bT Abot 4,7].14

Die Idee von torah lišmah ist eng mit dem Streben des chassidischen Kreises nach einem tieferen Verständnis der Gebote verbunden, deren Ausführung – ähnlich dem inbrünstigen Gebet – die Anwesenheit Gottes in der Welt erfahrbar macht. Als letztes Beispiel für das Konzept torah lišmah sei das Exemplum 1589 angeführt. Ausgangspunkt ist eine Aggada aus dem in chassidischen Kreisen sehr beliebten Midraš pesiqta rabbati, in der erzählt wird, wie König David um Mittenacht am Kopfende seiner Liegestatt zu sitzen und die Harfe zu spielen pflegte, während er die Psalmen sang. Die Toraschüler Israels hörten den Klang seiner Stimme und sagten sich: „Wenn David, der König, sich mit der Tora beschäftigt, um wieviel mehr sollten wir das tun.“ Ganz Israel vertiefte sich daraufhin in das Studium der Tora.15 So wie David ganz Israel mit seinem frommen Gesang zum eifrigen Studium der Tora anregte, soll der Chassid, wenn er „die Tefillin anlegt, sich in die Zizit hüllt, und Tora in seinem Haus studiert,“16 den Menschen ein Vorbild sein, da er mit ganzem Herzen und höchster Hingabe auf sein Tun konzentriert ist. Er soll auf diese Weise die Liebe zu den heiligen Büchern zum Wachsen bringen und die Schwäche seiner Generation für Geld und andere weltliche Dinge auf das geringste Maß schrumpfen lassen, dass es sei wie in früheren Zeiten, da die Gläubigen noch mit dem Herzen bei der Sache gewesen seien. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Konzept torah lišmah in den Schriften der Ḥasidei Aškenaz eine Aufwertung und Erweiterung erfährt. 14 SḤ Bologna 1538 § 289, vgl. auch SḤ § 774, § 756, § 1046; Eleazar aus Worms, Sefer ha-roqeaḥ, Hilchot Ṣiṣit, Abschnitt 261 und Hilchot ḥasidut, šoreš ha-Torah. 15 SḤ § 1589; vgl. Midraš pesiqta rabbati § 17. 16 SḤ § 1589.

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 6 Der ideale Schreiber

Auf die chassidische Kultur des Lernens hat die Forschung bereits hingewiesen. So arbeitete Elliot Wolfson den rituell-mystischen Aspekt des Torastudiums anhand eines breiten Quellenspektrums aus den chassidischen Texten heraus und wies auf die enge Beziehung von torah, šechinah und kawod (Herrlichkeit Gottes) hin. Der kawod  – die Herrlichkeit oder Glorie Gottes  – spielt in diesem Zusammenhang eine außerordentliche Rolle. Er stellt die dem Menschen zugewandte Seite Gottes dar, die in unterschiedlicher Gestalt den Propheten, aber auch dem im Gebet Versunkenem sichtbar wird.17 Durch das Torastudium kann eine fassliche Manifestation der Herrlichkeit Gottes evoziert werden. Ähnlich wie bei einem Gebet erlangt ein Chassid durch die Versenkung in die Worte der Offenbarung tiefe Einsichten in den kawod und damit in die Geheimnisse des verborgenen Wesens Gottes. Wolfson wies darauf hin, dass bei den Ḥasidei Aškenaz die Tora mit der šechinah und dem kawod Gottes gleichsam verschmelzen: d. h. wo die Tora ist, ist Gott in der Welt präsent und zeigt sich dem Menschen in einer Form, die dessen Auffassungsgabe widerspiegelt.18 Wer sich dem Studium der Tora widmet, gewinnt darüber hinaus Anerkennung in der kommenden Welt, wie es im Sefer ha-kawod heißt: „Die Tora schuf er zum Verdienst in der kommenden Welt für diejenigen, die sich um sie bemühen.“19 Der Begriff lišmah erfährt im Schreiberkontext keine theoretische religionsgesetzliche Klärung durch die Ḥasidei Aškenaz. Er taucht genau genommen nur zweimal auf: einmal im Zusammenhang mit dem Schreiben der Gottesnamen, worauf noch einzugehen sein wird. In dem anderen Fall wird das mögliche Fehlen der Weihe als Ursache für die unglückliche Zerstörung von sefarim dargestellt: Wenn du verbrannte Bücher gesehen hast, wisse, dass sie [vielleicht] durch eine Sünde herabgefallen sind oder durch eine Sünde in den Besitz der Väter gelangt sind oder dass sie nicht verliehen wurden, damit aus ihnen freudig gelernt würde oder aber sie wurden nicht lišmah geschrieben.20

Es sei an dieser Stelle nur am Rande erwähnt, dass eine ganz ähnliche Haltung zum Lernen, Tradieren und Umgang mit dem Religionsgesetz in der monastischen Kultur der christlichen Welt festzustellen ist. Auch hier wandten sich Gruppen explizit gegen die rationalistisch-logischen Methoden der Scholastiker,

17 Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 79. 18 Elliot R. Wolfson, „The Mystical Significance of Torah Study in German Pietism“, in: The Jewish Quarterly Review 84 (1993), H. 1, S. 43–78, hier S. 71. 19 Eleazar ben Jehuda von Worms, Hilchot ha-kawod. Die Lehrsätze von der Herrlichkeit Gottes, hrsg. von Hanna Liss, Tübingen 1997, (§ 50) S. 76; vgl. auch den Sefer ha-roqeaḥ (Hilchot Ḥasidut) und den Sefer ḥochmat ha-nefeš. 20 SḤ § 677.

6.3 Der fromme Schreiber 

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die ganz ähnlich wie die Tosafisten einen Text kritisch unter Bezugnahme auf sich wiedersprechende Meinungen anderer Autoritäten lasen.21 Auch in deutschen Klöstern kritisierten ab dem frühen 12. Jahrhundert Geistliche wie der Benediktinermönch und spätere Abt (von Deutz nahe Köln) Rupert von Deutz die dialektischen Methoden der Kathedralschulen und die Bevorzugung herausragender Lehrer vor der Gemeinschaft. Wie die jüdischen Pietisten gab er der Heiligkeit und der einfachen göttlichen Wahrheit den Vorzug vor einer Wissenskultur, die dem Göttlichen nichts hinzufügen, sondern vielmehr auf Irrwege führen kann.22 Auch in den Klöstern setzte man auf mystische Kontemplation mit dem Ziel, Gott zu erfahren statt seine Existenz nur auf intellektueller Ebene zu erfassen. Haym Soloveitchik betont ganz richtig in diesem Zusammenhang, dass die Ḥasidei Aškenaz anders als die polnische Bewegung der Chassidim des 18. Jahrhunderts das Torastudium nicht seiner intellektuellen Elemente zu entleeren versuchten. Sie strebten vielmehr ein ausgeglichenes Verhältnis von Wissen und der rechten Intention des Herzens [lišmah] an, wobei praktische Aspekte der Religionsausübung – die Erfüllung der Gebote, das inbrünstige Gebet sowie eine tiefe religiöse Innerlichkeit – große Bedeutung gewannen.23 Der Sefer ḥasidim bannt generell die dialeqtiqa šel gojjim, die „Dialektik der Nichtjuden“24 und stellt im selben Atemzug die Assoziation mit Tora lišmah her.25 Der Schreiber, das wird das folgende Kapitel zeigen, entspricht diesem Idealtypus des frommen Toraschülers auf vielfältige Weise. Er ist ein vollendeter Chassid.

6.3 Der fromme Schreiber Im Sefer ḥasidim begegnet der Leser einem frommen Mann, der es gewohnt war, dass seine mit tiefer Konzentration durchgeführten Gebete erhört wurden. Eines Tages musste er jedoch feststellen, dass seine Bitten keinen Widerhall mehr fanden. Er fastete ohne Erfolg und wandte sich mit seinem Kummer an einen Weisen. Dieser klärte ihn auf:

21 Kanarfogel, The Intellectual History, S. 84–110; Haym Soloveitchik, „Three Themes in Sefer Ḥasidim“, in: AJS Review 1 (1976), S. 311–357, hier S. 339–357. 22 Kanarfogel, The Intellectual History, S. 93; weiterführende Literatur: siehe dort Anm. 202. 23 Soloveitchik, „Three Themes in Sefer Ḥasidim“, S. 344 f. 24 SḤ § 752. 25 Vgl. SḤ § 753.

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 6 Der ideale Schreiber

Du betest und flehst aus einem Buch, das ein böser Mensch geschrieben hat. Da sprach [der fromme Beter]: „Aber ich beauftragte den Schreiber so und so, dass er schön schreibe auf meinem Pergament [qelafim]“. Da sagte [der Weise]: „Als er [das Gebetbuch] für dich schrieb, war sein Herz voller Bitterkeit und Ärger. Aus diesem Grund wirst du nicht mehr erhört, wenn du daraus betest.“ Und so verhält es sich auch, wenn jemand [Seiten] eines unreinen Buches ausradiert und auf ihnen schreibt und aus diesen betet.26

Die Anekdote schließt mit der Empfehlung, die Überreste eines unreinen Buches dem Feuer zu übergeben. Das Herz des Schreibers sollte demzufolge mit Liebe und Milde gefüllt sein. Andere Narrative warnen vor der Schreibfeder oder der Tinte eines solchen bösartigen Schreibers. Es wird geraten, keinen Gegenstand aus seinem Besitz, ja nicht einmal seinen Stuhl zu benutzen: Es gab einmal einen von Boshaftigkeit und Sünde geleiteten Schreiber, der saß in der Synagoge auf einem Gelehrtenstuhl, vorgebend, er sei ein zaddiq. Da kam ein Weiser in jene Stadt. Und es sagte der Weise zu einem aus der Stadt: „Ich möchte in der Synagoge einen Platz zum Sitzen“. Jener antwortete ihm: „Der Schreiber hat sich in einer anderen Stadt niedergelassen, du kannst den Platz, auf dem jener sofer gesessen hat, einnehmen. Er hat auf seinem Platz seinen qulmus und die Tinte liegen gelassen.“ Da sprach der Weise: „Ich werde mich nicht auf diesen Platz setzen und auch nicht mit dessen qulmus schreiben oder die Tinte, die in seinem Besitz war, benutzen. Ich werde auch nicht mit dem Siddur beten, den er geschrieben hat, denn ‚aus einem Angeklagten wird kein Verteidiger‘ (bT Ber 59a).“27

Die Persönlichkeit eines Schreibers glänzt durch Bescheidenheit, Mäßigkeit, Selbstverneinung und Wahrhaftigkeit. Er strebt nicht nach Reichtum, Ruhm und oberflächlichem Wissen. Allein vom Fasten soll er sich genau wie Lehrer und Arbeiter zurückhalten, „da es seine Arbeitskraft schmälert“.28 Zur Begründung wird angeführt, dass „wenn eine Person fastet, sie aufpassen muss, nicht von Ärger übermannt zu werden, da eine hungrige Person zu Wut neigt.“29 Ungeduld oder gar Wut sollte die fromme Intention im Herzens des Schreibers nicht stören. Malachi Beit-Arié hat auf die vielfältigen Ermahnungen an Schreiber im Sefer ḥasidim hingewiesen, mit denen persönliche Notizen in den von ihnen kopierten Büchern unterbunden werden sollten.30 Es geht in diesen Fällen nicht primär um das Schreiben von Schriftrollen (STaM), in denen Kolophone oder sonstige Signaturen generell nicht üblich sind. Dennoch wirft die Ablehnung der weit verbreiteten Schreiberglossen, die sich auch in Bibelkodizes und Abschriften des Penta26 SḤ § 405, vgl. auch § 1211 und § 886. 27 SḤ § 404. 28 SḤ § 66. 29 Ebd. 30 Malachi Beit-Arié, „Ideal versus Reality“.

6.3 Der fromme Schreiber 

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teuch sowie in Kopien einzelner biblischer Bücher für den Hausgebrauch finden lassen, ein Schlaglicht auf das Idealbild eines sofer, so wie ihn die Chassiden sich vorstellten. Ein Schreiber solle davon absehen, nach Fertigstellung eines Projekts seinen Namen oder den seiner Auftraggeber zu nennen und die Umstände oder den Ablauf der Arbeit näher zu beschreiben, denn er werde sich dadurch keine Bekanntheit in den nachfolgenden Generationen sichern können.31 Ein Schreiber, der mit dem Kopieren der heiligen Schriften betraut ist, solle sich vielmehr hinter das Wort Gottes stellen und keinerlei Aufmerksamkeit auf seine Person lenken. Er solle davon absehen, sich dem Auge des Lesers durch Segnungen oder gute Wünschen zu erkennen zu geben.32 Es werde auch nicht der „Würde eines Buches gerecht“, wenn ein Schreiber „Rechnungen in ein Buch schreibt oder einen qulmus […] oder die Tinte ausprobiert“33. Darüber hinaus ergeben sich aus der Heiligkeit der Schrift für den Schreiber gewisse Regeln, die seine Arbeit in gleichmäßige Bahnen lenkt und ihr damit einen stark ritualisierten Charakter verleiht. Auch wenn im Sefer ḥasidim vor allem das notiert ist, was sich für den Schreibprozess nicht geziemt, entsteht doch der Eindruck von einer stark ritualisierten Performanz des Schreibens. Zunächst sei die Aufmerksamkeit auf die spezielle Ordnung gelenkt, durch die sich eine Schreibumgebung auszeichnen sollte: Wenn er [seine Schreibtätigkeit unterbricht und] geht, lege er nicht den qulmus oder das Messer auf den sefer, damit es leicht zu finden sei, [wenn er die Arbeit fortführt]. Es war einmal ein Schreiber, der legte [noch nicht beschriebene] Buchlagen auf den sefer [aus dem er die Tora kopierte], damit er sich nicht in der Zeile irrte. Da sagte ihm sein Meister: „Wenn es nicht eine Missachtung des sefer wäre, dann müsste man dich mit dem sefer schlagen. Es ist nicht richtig, dass ein sefer für ein anderes sefer in dieser Weise benutzt wird. Nicht einmal einen Talmud sollte man [als Werkzeug zur Herstellung eines] sefer nutzen“.34

In der 1538 gedruckten Version aus Bologna (§  908) ist mit Blick auf profane Schriften ergänzt: „Doch wenn er kopiert, kann er [seinen qulmus] so auf die Linie legen, dass er sofort das Wort findet [bei dem er fortfahren muss].“ Das gesamte Schreibumfeld sollte der würdevollen Arbeit des Schreibers entsprechen, damit nicht durch Unordnung der Eindruck von Respektlosigkeit vor „der Arbeit des Himmels“ entstehe. Es gibt eine Reihe von Narrativen im Sefer ḥasidim, die eine „heilige Ordnung“ durch einen strukturierten Schreibplatz sichtbar machen, an dem das Heilige vom Profanen getrennt ist. So heißt es:

31 SḤ § 707, § 700. 32 SḤ § 705, § 1750. 33 SḤ § 1347. 34 SḤ § 1748.

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 6 Der ideale Schreiber

Ein Weiser betrat das Haus eines sofer, der mit der Abschrift heiliger Schriften beschäftigt war. Er sah [ausrangierte] Schreibfedern [qulmusim] auf dem Boden herumliegen. Da sprach er zu ihm: „Missachte nicht den qulmus, mit dem du die Heilige Schrift und den heiligen Namen Gottes geschrieben hast“.35

Dieser Abschnitt des Paragraphen ist in materialer Hinsicht interessant. Er legt noch einmal Zeugnis ab für den tiefen Respekt der Ḥasidei Aškenaz für alles, was mit den heiligen Schriften in Berührung kommt. Selbst an einem ausgedienten qulmus haftet noch die Heiligkeit der Schrift und des göttlichen Namens. Das Schreibgerät verdient dafür auch nach seiner Nutzung einen respektvollen Umgang; dessen sollte sich der Schreiber bewusst sein. Jener Weise machte bei dem unordentlichen sofer allerdings noch eine weitere Beobachtung, die mit Blick auf den rituellen Charakter des Schreibprozesses aufschlussreich ist: [Der Weise] sah, dass, als der sofer ein sefer zu schreiben begann, jener zu Beginn auf einem Stück Papier „im Namen des Herrn“ [schrieb]. Da fragte er: „Warum tust du das?“ Jener antwortete: „Wegen des Namens, dass er [das Vorhaben] unterstützt. [Der Weise] sagte daraufhin: „Der Spruch ist zu lesen: ‚Im Namen des Herrn ist dieses sefer‘, denn es muss gebetet werden, dass wir erfolgreich sind und es fertig stellen. Doch man soll nicht in den sefer schreiben: „Im Namen des Herrn“, da geschrieben steht: Füge ihm nichts hinzu und lasse nichts weg nach dem Vers: Tue nichts zu seinen Worten, dass er dich nicht strafe und werdest lügenhaft erfunden [Prov 30,6]“.36

Hier offenbart sich sich ein interessantes rituelles Detail aus der aschkenasischen Schreibpraxis, das leider nicht weiter erörtert oder durch weitere Exempla bereichert wird. Vor dem Beginn eines Projekts ist eine Art Weiheformel zu äußern. Allerdings wird diese Formel nicht – wie von den Halachisten der Zeit empfohlen – laut ausgesprochen, sondern auf einem separaten Blatt schriftlich niedergelegt. Diese Modifizierung rechtsgelehrter Praxis kann durchaus als eine Intensivierung der ursprünglich gedachten oder gesprochenen Weihe betrachtet werden. Das geschriebene Wort wirkt durch seine visuelle Präsenz länger, kann während der gesamten Schreibarbeit sichtbar auf dem Schreibpult liegen oder sogar wie ein Amulett am Körper getragen werden. Der ohnehin starke Eindruck einer magischen Konnotation des Schreibprozesses, der sich aus diesem Narrativ ergibt, wird beim Lesen des folgenden Paragraphen noch verstärkt: Einer kopierte aus Büchern und Kommentaren und las am Beginn laut und erst dann schrieb er es nieder. Alles was er schrieb, las er zuerst laut vor. Man fragte ihn: „Weshalb

35 SḤ § 731. 36 SḤ § 731.

6.3 Der fromme Schreiber 

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liest du laut, bevor du schreibst?“ Er antwortete: „Ich habe überliefert bekommen, dass wenn eine Person laut liest und mit seinem Mund die Dämonen austreibt, dann hört und segnet man ihn. Darüber hinaus wird man sich dessen, was er schreibt, erinnern, wie es heißt: … damit die Tora des Herrn in deinem Mund sei. [Ex 13,9] Und es steht geschrieben: zum Gedächtnis [u. a. Ex 12,14].37

Dieses Exemplum stellt explizit eine Verbindung zwischen dem Kopieren der Tora und einem Exorzismus her. Das laute Vorlesen ist eine traditionelle mnemotechnische Methode der jüdischen Bildung und, andererseits, auch das performative Zentrum einer Beschwörung. Offensichtlich wurden hier die rituelle Weihe eines bestimmten Schriftstücks für seine spezielle Verwendung, wie sie in rabbinischen Quellen beschrieben wurden, mit populären Formen des Dämonenglaubens und der Dämonenaustreibung verbunden. Es ist keine Überraschung, in den Positionen der Pietisten Schreiberbelange mit magischen Praktiken überkreuzt vorzufinden, da die chassidische Gemeinschaft generell magischen Denkweisen nicht abgeneigt war. Abgesehen davon ist der innere Zusammenhang von magischer Beschwörungsformel und heiliger Schrift mit Blick auf Mezuzot und Tefillin ganz besonders sinnfällig. Beide Artefakte enthalten einen kurzen, formelhaften Ausschnitt aus der Bibel und können aufgrund ihrer handlichen Größe wie ein Amulett leicht am Körper getragen bzw. an prominenter Stelle im und am Haus angebracht werden. Die materialen Eigenschaften einer Mezuzah legen im Vergleich mit ähnlichen Gegenständen der Umweltkulturen eine Funktion der Schriftkapsel als Abwehr negativer Kräfte von einem Wohnort nahe.38 Für eine ursprüngliche Nutzung der Tefillin als Amulette sprechen die für den rituellen Umgang bestimmte Form und natürlich auch der kurze, prägnante Textabschnitt. Beide Schriftrollen enthalten den Namen Gottes  – das Tetragramm. Yehudah Cohn untersuchte Tefillin als Ritualgegenstände zwischen ca.  300 Jahre vorchristlicher bis ca.  300 Jahre nachchristlicher Zeit und kam auf der Grundlage umfassenden Quellenmaterials zu dem Schluss, dass sich die Tradition um die kleinen Textrollen aus dem Umgang mit Amuletten heraus entwickelt habe. An der magischen Funktion der Tefillin 37 SḤ § 733, § 1763. 38 Meir Bar-Ilan, „The Writing of Torah-Scrolls, Tefillin, Mezuzot, and Amulets on Deer Skin“, in: Bet Miqra 30 (1984/85), S. 375–381; Erwin R. Goodenough, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, Bd. 2: The Archeological Evidence from the Diaspora, New York 1953, S. 209 f. Eine andere Position vertritt Martin L. Gordon in seinem Artikel „Mezuzah: Protective Amulet or Religious Symbol?“, in: Tradition 16 (1976/77), S. 7–40. Er argumentiert gegen eine magisch-beschützende Funktion der Mezuzah und der Tefillin und ist davon überzeugt: „The function of mezuzah, together with that of tefillin, is to arouse the religious consciousness, just as diligently teaching these words to one’s children“. (S. 9); auch zitiert in: Catherine Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine, Tübingen 2001, S. 213.

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 6 Der ideale Schreiber

bestehe kein Zweifel39, so Cohn, wobei das magische Potential beider Ritualgegenstände aus der Tatsache erwüchse, dass sie den Namen Gottes beinhalten – eine signifikante Eigenschaft, die sie mit jüdischen Amuletten der Antike gemein haben.40 Doch auch dem biblischen Text und seiner Trägerin, der Torarolle selbst, wurden übernatürliche Kräfte zugesprochen. Die heiligen Schriften dienten als Orakel- und Losbücher, indem sie wahllos aufgeschlagen werden und der ins Auge fallende Vers mantisch bzw. prognostisch interpretiert wird. Für den gleichen Zweck ist es auch möglich, einen Kodex oder einen Druck mit einer Nadel zu durchstechen, um auf diese Weise den Vers zu finden, der die gewünschte Deutungsqualität aufweist. Die Heiligen Schriften können auch für ein Ordal zur Wahrheitsfindung verwendet werden, um über Schuld und Unschuld zu entscheiden.41

Der physischen Präsenz einer Torarolle wurden überdies beschützende Kräfte nachgesagt, die über den liturgischen Radius hinaus ins private Leben eines Einzelnen hinein reichen konnte. Der Talmud (jT Sanh 4,7) berichtet beispielsweise von einem König, der das Artefakt als Talisman für einen erfolgreichen Kriegszug mit sich führte. Man konnte sich Gesundheit für die Familie, Unterstützung für schwierige Aufgaben oder Glück bei einer beruflichen Unternehmung von einer Torarolle erbitten. Karel van der Toorn vergleicht die Torarolle in der Antike mit einem Kultbild der antiken Babylonischen Kultur.42 Er kommt zu dem Schluss: The transformation of the religion of the Israelites was far-reaching, to the point where it must surely have been completely alien to a culture in which the cult of statues and images was the dominant form of religion. A closer study of the evidence reveals a structural similarity behind the evident difference. Both the Icon and the Book cater to the human need for the Absolute; they elicit similar responses, both in religious practice and in mythological imagination.43

Das Absolute tritt dem Gläubigen in der Torarolle, aber auch in den Tefillin und Mezuzot durch die Namen Gottes entgegen. Sie sorgen für die magische Aura 39 Cohn, Tangled Up in Text. Tefillin and the Ancient World (= Brown Judaic Studies, Bd. 351), Providence 2008, S. 2: „Tefillin were particularly associated with circumstances in which the related practice of mezuzah did not provide adequate protection“. 40 Ebd. 41 Bill Rebiger im Vorwort zur Edition und kommentierten Übersetzung des Sefer Shimmush Tehillim (= Text and Studies in Ancient Judaism, Bd. 137), Tübingen 2010, S. 1. 42 Karel van der Toorn, „The Iconic Book: Analogies between the Babylonian Cult of Images and the Veneration of the Torah“, in: The Image and the Book: Iconic Cults, Aniconism and the Rise of Book Religion in Israel and the Ancient Near East, Leuven 1997, S. 229–248. 43 Ebd., S. 248.

6.4 Die Bedeutung des Schreibers als Hüter der Tradition aus christlicher Perspektive 

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der STaM. Es ist aus diesem Grund kein Widerspruch, neben den Anweisungen zum Schreiben der Gottesnamen innerhalb der STaM auch Ausführungen zum magischen Umgang mit den Namen zu finden (vgl.  Kapitel  7). In den antiken Schreiberbüchern ist der magische Aspekt des Schreibens nicht als Magie oder Götzendienst negativ gebrandmarkt. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass das Schreiben magischer Amulette oder Talismane ein marginaler, aber dennoch natürlicher Bestandteil der Schreiberwelt gewesen war.

6.4 Die Bedeutung des Schreibers als Hüter der Tradition aus christlicher Perspektive Die besondere Aura der liturgischen Schriften in der christlichen Buchkultur übertrug sich in gewisser Weise auch auf den Schreiber und den Akt des Schreibens. Insbesondere in Klöstern bedeutete das Schreiben von Stundenbüchern, Gebeten, Heiligenlegenden und vor allem die Anfertigung eines neuen Evangeliars mehr als schlichtes Kopieren. Schreiben wurde zur gottgefälligen Tätigkeit, die einer Art Gottesdienst als asketischer Übung oder einem Akt der Buße gleichkam.44 Bereits in der Antike wurden die Kopisten heiliger Bücher hoch geschätzt, denn „sie belehren durch wiederholtes Lesen der heiligen Schriften ihren eigenen Geist in heilbringender Weise, und durch das Kopieren verbreiten sie die Gebote des Herrn allerorten,“45 schrieb der römische Staatsmann Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator Mitte des 6. Jahrhunderts in seiner nicht nur für die Kopistenzunft wichtigen Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften. Er lobt darin den Schreiber als Prediger, der „den Sterblichen schweigend das Heil zu reichen und gegen des Teufels Einflüsterungen mit Schreibrohr und Tinte zu kämpfen“ und „dem Satan eine Wunde“ zu schlagen vermöge. Er ahme in seiner Tätigkeit gleichsam „das Walten des Herrn“ nach, der „sein Gesetz  – der bildhafte Ausdruck sei gestattet  – mit ‚allmächtigem Finger‘ niederschrieb.“ Die drei Finger, die ein Kopist zum Schreiben benutzt, seien gar ein Sinnbild für die „Heilige Dreifaltigkeit in ihrer Herrlichkeit“46. Doch erst im frühen Mittelalter fokussierte sich die christliche Schriftkultur auf Werke

44 Vgl. Otto Ludwig, Geschichte des Schreibens, Bd. 1: Von der Antike bis zum Buchdruck, Berlin [u. a.] 2005, S. 121. 45 Flavius Magnus Aurelius Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum. Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, übersetzt und eingeleitet von Wolfgang Bürsgens, Freiburg [u. a.] 2003, Bd. 1, S. 267. 46 Ebd., S. 269.

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 6 Der ideale Schreiber

des Glaubens und schuf die einzigartige Einrichtung des Skriptoriums, wo das Schreiben religiöser Texte im Zentrum stand. Die Nähe des Schreibers zu den heiligen Schriften brachte ihm den Nimbus eines Heiligen ein, dem, wie einige mittelalterliche Legenden bezeugen, auch Wunder passieren konnten. Es gibt Erzählungen über auf wunderbare Weise zustande gekommene Manuskripte47, in denen die Schreiber wie die Evangelisten, die in der Ikonographie immer wieder als Prototypen des Schreiber erscheinen, als von den Engeln inspirierte Gefäße Gottes dargestellt wurden.48 Auch die ikonographische Ausstattung eines heiligen Buches durch einen Künstler erschien mittelalterlichen Kommentatoren von Gott inspiriert. Der Theologe und Historiker Gerald von Wales (1146–1223) staunt bei der Beschreibung eines Evangeliars, der zu Lebzeiten der heiligen Brigitta (6. Jhd.) hergestellt worden sei, über die wunderbar dargestellten „mystischen Gestalten der Evangelisten“, die doch „eher durch die Kunst von Engeln als von Menschen geschaffen worden“ seien49. Der fromme Gerald schildert, wie der Schreiber bzw. der Illuminator die Vision der Bilder empfangen haben soll. Diese Darstellung macht deutlich, wie nah – im Gegensatz zur jüdischen Tradition – das Bild in der christlichen Buchkunst dem von Gott geoffenbarten Text stand. Das Bild und die Schrift geben gemeinsam die Heilsgeschichte wieder, wobei das Bild „in diesem Zusammenhang der Statthalter oder das Symbol für etwas [ist], das in der Gegenwart nur mittelbar erfahren werden konnte: die einstige und künftige Präsenz Gottes im Leben der Menschen“.50 Doch nicht nur der Betrachter, sondern auch der Illuminator macht eine unmittelbare Gotteserfahrung:

47 Anton Legner, „Illustres manus“, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romantik (= Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der Josef-Haubrich-Kunsthalle), hrsg. von Anton Legner, Köln 1985, Bd. 1, S. 187–262, S. 195–203. 48 Siehe u. a. Claudia List und Wilhelm Blum, Buchkunst des Mittelalters. Ein illustriertes Handbuch, Stuttgart 1994; Jeffrey F. Hamburger, „,Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit‘: Der Evangelist Johannes und die Bildsprache der Vergöttlichung im Graduale von St. Katharinenthal“, in: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz, 6.–8.  April 2000, hrsg. von Hans Jochen Schiewer und Karl Stackmann, Tübingen 2002, S. 131–176; ders., „Brother, Bride and alter Christus. The Virginal Body of John the Evangelist in Medieval Art, Theology and Literature“, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, hrsg. von Ursula Peters, Stuttgart 2001, S. 296–328. 49 Giraldus Cambrensis, Topographia Hiberniae, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 319. 50 Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990 (72011), S. 21.

6.4 Die Bedeutung des Schreibers als Hüter der Tradition aus christlicher Perspektive 

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In der ersten Nacht, bevor der Schreiber dieses Buch beginnen wollte, stand im Traum ein Engel vor ihm, zeigte ihm ein Bild auf einer Tafel, welche er in der Hand hielt, und fragte: „Denkst du, dass du dieses Bild auf der ersten Seite des geplanten Buches wiedergeben kannst?“ Der Schreiber traute sich die Kenntnis einer derart feinen Technik, einer so unbekannten und ungewohnten Sache nicht zu und antwortete: „Nimmermehr.“ Darauf der Engel: „Morgen sag deiner Herrin, sie solle für dich Gebete zum Herrn senden, dass er dir zu schärferem Blick und tieferem Verständnis die geistigen wie die leiblichen Augen öffne und zur richtigen Ausführung die Hand leite.“ Das geschah, und in der folgenden Nacht war der Engel wieder zur Stelle und zeigte ihm dasselbe und noch viele andere Bilder. Die alle konnte er mit Hilfe der göttlichen Gnade sogleich erkennen und dem Gedächtnis treulich einprägen und gab sie in seinem Buch an den passenden Stellen ganz genau wieder. So also ist nach der Vorlage des Engels, dank den Gebeten Brigittas und durch die Nachbildung des Schreibers dieses Buch entstanden.51

Die Parallele zwischen heiligem Buch und Ikone ist offenkundig. Gottgefälliges Schreiben ist auch nach dem Tod ein gewichtiges Argument gegen Sünden. Der bereits vorgestellte Caesarius von Heisterbach berichtet in seinem Dialogus miraculorum von einem Schreiber namens Richard, der aus England stammte und zahlreiche Bücher schrieb: […] den Lohn seiner Arbeit erhoffte er sich im Himmel. Als er nun gestorben und an einem bestimmten Ort bestattet worden war, wurde nach zwanzig Jahren sein Grab geöffnet. Da fand man seine rechte Hand so unverändert und frisch, als wäre sie erst neulich vom lebenden Körper abgeschnitten worden.52

Solche wundersamen Geschichten über Schreiber, deren Verdienste über den Tod hinaus belohnt wurden, sind keine Seltenheit.53 Das berühmteste Bild dafür ist sicherlich die Darstellung des Isidor-Schreibers Braulio aus Saragossa in der Eingangsminiatur der Münchner Isidor-Handschrift, die um 1160 hergestellt wurde. Die Abschriften des auf dem Totenbett liegenden Braulio werden in Gegenwart Christi und der Engel gewogen und sind so gewichtig, dass der Teufel am rechten Rand des Bildes wieder abziehen muss. Ein weiteres Schreiberlob ist von Petrus Venerabilis (ca. 1092–1156) in Form eines Briefes an Giselbert, den Inklusen von Senlis überliefert. Der im klösterlichen Umfeld von Cluny wirkende Theologe vergleicht das Abschreiben von heiligen Büchern mit dem Bestellen eines Feldes, wobei die Buchstaben dem „Samen des göttlichen Wortes“ gleichzusetzen seien, die reifen und „mit vielfältiger 51 Cambrensis, Topographia Hiberniae, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 319. 52 Cecarius Heisterbacensis, Dialogus miraculorum, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 348. 53 Vgl. Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 31896 (Nachdruck 1958), S. 428–456.

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Frucht die hungrigen Leser speisen“ und zu himmlischen Brot geworden „den lebensbedrohenden Hunger der Seele zu stillen“ vermögen.54 Der Schreiber wird so zum stillen Verkünder des Gotteswortes, der bescheiden und in aller Zurückgezogenheit hilft, den Hochmut, den Zorn, die Wollust und die Habsucht in der Welt durch sein vorbildliches Tun zu schmälern. Diese „unverweslichen Früchte“ seiner Arbeit sorgen auch dafür, dass ein solcher Schreiber „selbst im Tod nicht sterben“ werde.55 Das Schreiben und Illuminieren der liturgischen Bücher etablierte sich in den mittelalterlichen Skriptorien zu einer mit dem Gottesdienst zu vergleichenden Tätigkeit. Bücher „vorzubereiten, zu verfertigen, zu korrigieren, zu rubrizieren, auszumalen, mit Titeln zu versehen […] ist für jeden Orden passend und angemessen“56 und gehörte zum Klosterleben wie das regelmäßige Gebet.57 Wie im Kreuzgang solle beim Schreiben „das Schweigen eingehalten werden“58. Beim Eintritt in die klösterliche Gemeinschaft wird die weltliche Kleidung abgelegt und man erhält die Werkzeuge des monastischen Lebens:

54 Petrus Venerabilis, Epistula 20 an Gislebert den Inklusen von Senlis, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 292. 55 Ebd. 56 Adam de Dryburgh, De quadripartito exercitio cellae 36, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 315. 57 Vgl.  auch Nicolaus Claraevallensis in einem Brief, Mitte des 12.  Jahrhunderts: „Ich habe ein Schreibstübchen in meinem Clairvaux, von allen Seiten eingeschlossen von Räumen für himmlische Tätigkeiten, hinter denen es verborgen liegt. Seine Türe öffnet sich in den Raum der Novizen, wo eine Vielzahl von Adeligen und Gebildeten in einem neuen Leben den neuen Menschen hervorbringen […]. Auf der rechten Seite vom Kreuzgang der Mönche liegt es, wo jene blühende Gemeinschaft derjenigen zu wandeln pflegt, welche in glücklicher Sicherheit oder sicherer Glücklichkeit zu etwas Besserem und Erfreulicherem fortgeschritten sind und sich ergeben haben an der Schwelle des Herrn. Dort schlagen sie Bücher der göttlichen Botschaft unter strengster Zucht jeder für sich auf, nicht um die Schätze des eigenen Wissens zu häufen, sondern um Liebe, Zerknirschung und Demut anzufachen. Links erheben sich Haus und Wandelhalle der Kranken, wo der von der strengen Regel erschöpfte und zerbrochene Leib mit feineren Speisen wieder hergestellt wird, bis er geheilt oder erholt zurückfliegt zur Herde der Arbeiter und Beter, welche das Himmelreich bedrängen und es mit Gewalt an sich reißen. Auch darfst du meine Behausung nicht gering schätzen, denn sie ist der Vorliebe erstrebenswert, erfreulich anzusehen und erholsam zur Einsamkeit. Voll ist sie von ausgesuchten und frommen Büchern; wenn ich heiter darin lese, erkenne ich die Verächtlichkeit des irdischen Trugs und betrachte, dass ‚alles eitel ist, alles nichtig‘. Und da nichts nichtiger ist als die Eitelkeit, ist mir dies gegeben worden zum Lesen, zum Schreiben, zum Verfassen und zur Betrachtung, zum Gebet und zur Anbetung der göttlichen Erhabenheit […].“ Vgl. Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 290. 58 Institutia generalis capituli apud Cistercium 80, vgl. Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 276.

6.4 Die Bedeutung des Schreibers als Hüter der Tradition aus christlicher Perspektive 

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Zum Schreiben aber Schreibpult, Federn, Kreide, zwei Bimssteine, zwei Tintenhörnchen, ein Messer, zum Schaben des Pergaments zwei Schabmesser oder Radiermesser, ein Stecheisen, eine Ahle, Blei, ein Lineal, ein Brett zum Linieren, Schreibtafeln und einen Griffel. Sollte ein Bruder eine andere Tätigkeit ausüben, was bei uns sehr selten vorkommt – denn fast alle, welche wir aufnehmen, leiten wir wenn immer möglich zum Schreiben an –, soll er die zu seiner Tätigkeit geeigneten Werkzeuge erhalten. […] Denn mit jedem Buch, das wir schreiben, schaffen wir uns einen Zeugen der Wahrheit, und wir erhoffen vom Herrn Lohn für alle, welche durch sie vom Irrtum geheilt oder in der wahren Lehre gestärkt werden, für alle überdies, welche ihre Sünden und Laster bereuen oder in welchen die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat entfacht wird.59

In diesem geistigen Umfeld ist es nur ein kleiner Schritt zu der Auffassung, dass sich die Frömmigkeit des Schreibers, die göttliche Empfänglichkeit des Mönchs oder der Genius eines prophetischen Geistes auf die Schrift selbst überträgt und Konsequenzen für die Besitzer einer solchen Handschrift nach sich zieht. Insbesondere aus dem Hochmittelalter ist eine Vielzahl von Zeugnissen überliefert, die dieser Ansicht Ausdruck verleihen. Der Beruf des Kopisten hat durch die Einrichtung des Skriptoriums eine erhebliche Aufwertung erfahren. Der Lebenswandel, die ethische Integrität und die innere Haltung des Schreibers zum göttlichen Wort ist von größter Bedeutung. Schreiben wird zur heiligen Handlung und der Schreiber selbst zu einem Mediator zwischen profaner und göttlicher Welt. In der Predigt Audivi vocem de caelo aus dem 12. Jahrhundert findet sich eine tropologische Allegorisierung der Pergamentherstellung, anhand derer deutlich wird, welch tiefgehenden Prozess der Schreiber bei der Herstellung eines heiligen Buchs durchleben kann, indem sein Leben mit demjenigen Christi gleichgesetzt wird. Auf die Frage, wie man ein Schreiber Gottes werden könne, antwortet der Autor: Das Pergament also, auf welches wir für Gott schreiben, ist das reine Gewissen, in dem all unsere guten Werke zu unvergänglichem Gedächtnis festgehalten werden und uns bei Gott angenehm machen. Das Messer zum Schaben ist die Furcht Gottes, welche alle rauen Stellen der Sünde und Knoten der Laster durch die Buße aus dem Gewissen entfernt. Der Bimsstein zum Glätten ist die Zucht in der Sehnsucht nach dem Himmel, welche auch die kleinsten Verirrungen zu eitlen Gedanken entfernt, so dass nichts darin der Heiligen Schrift widerstrebt. Die Kreide, deren Partikel weiß machen, bedeutet die ständige Beschäftigung mit geistlichen Gedanken, welche das Gewissen erglänzen lässt. Das Lineal, mit dem die Linie gezogen wird, damit die Schrift gerade laufe, ist der Wille Gottes, nach welchem das Streben unseres Herzens ausgerichtet wird, damit es durch aufrichtige Gerechtigkeit geziert sei. Das Werkzeug, welches dem Lineal entlang die Linie zieht, ist die Hingabe an das heilige Werk, welche am göttlichen Willen ausgerichtet das Streben unseres Herzens leitet und bestärkt.

59 Guigo I. Cartusiensis, Consuetudines Cartusiae 28, 2–4, vgl. Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 260.

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 6 Der ideale Schreiber

Die Feder, welche zweigeteilt und so zum Schreiben hergerichtet wird, ist die Liebe zu Gott und dem Nächsten, welche in uns alles Gute wirkt. Die Tinte zum Schreiben ist die Demut, welche in allem heiligen Bemühen bekanntlich an erster Stelle steht. Die verschiedenen Farben, mit welchen das Buch ausgemalt wird, bezeichnen mit gutem Grund die vielfältige Gnade der göttlichen Weisheit, welche für alle Guten das Licht ist. Das Pult, auf welchem geschrieben wird, ist die Gemütsruhe, in welcher wir all unser Gutes verankern müssen. Die Vorlage, nach der wir schreiben sollen, ist das Leben unseres Erlösers, das er uns selber zum Vorbild gegeben hat, als er sagte: „Wer mir dienen will, der folge mir nach.“ Der Ort, wo wir schreiben, ist die Verachtung der Welt, die uns aus niedrigen Begierden erhebt und in der Sehnsucht nach dem Himmel gleichsam auf Bergeshöhen versetzt, damit wir unser Vorbild im Himmel freier sehen können, Christus Jesus in allem nachfolgend […].60

Beim direkten Vergleich der mittelalterlichen Schreibkultur im monastischen Umfeld der Skriptorien mit den Positionen der Ḥasidei Aškenaz zum Schreiben und Bewahren der heiligen Schriften fallen verblüffende Übereinstimmungen auf. Eine Parallele betrifft den Schreiber selbst. Seine Tätigkeit ist in beiden religiösen Strömungen als essentieller Bestandteil eines ethischen Gesamtkonzepts vorgestellt, in das die Tradierung des heiligen Textes eingebettet ist. Der Schreiber wird zum Prototyp des jeweiligen religiös-sozialen Programms stilisiert – er ist der ideale Mönch bzw. Chassid, dessen innere Haltung sich sowohl im positiven als auch negativen Sinn gleichsam in das Artefakt einschreibt. Ein solcher Schreiber erfüllt nicht nur einfach die Vorgaben für die Herstellung einer korrekten Abschrift einer heiligen Schrift. Er tritt  – in dieser Deutlichkeit erstmals in der jüdischen Geschichte – als ethisch handelnde Person in Erscheinung. Diese Beobachtung fügt sich in eine Reihe früherer Forschungsarbeiten, die phänomenologisch auf kulturelle Parallelen zwischen den Frommen Deutschlands und der Mönchsbewegung hingewiesen und eine gegenseitige Einflussnahme in Betracht gezogen haben.61 Die hypersensible Wahrnehmung der „Anderen“, insbesondere der christlichen Geistlichkeit und der Mönche, verlieh der jüdischen Einstellung zum Heiligsten zweifellos eine spezielle Prägung. Das monastische Ideal in der Person des moralisch überlegenen Mönchs könnte dabei auch im Zusammen60 Audivi vocem de caelo, zitiert nach Steinmann, Handschriften im Mittelalter, S. 282 f. Für andere Beispiele vgl. auch Dieter Richter, „Die Allegorie der Pergamentbearbeitung. Beziehungen zwischen handwerklichen Vorgängen und der geistlichen Bildersprache des Mittelalters“, in: Gundolf Keil, Rainer Rudolf, Wolfram Schmitt und Hans J. Vermeer (Hrsg.), Fachliteratur des Mittelalters. Festschrift Gerhard Eis, Stuttgart 1968, S. 83–92, hier S. 87. 61 Talya Fishman, Becoming the People of the Talmud: Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures, Philadelphia 2011, S. 183–188; Ephraim Kanarfogel, Jewish Education and Society in the High Middle Ages, Detroit 1992, S. 70–71; Scholem, Die jüdische Mystik, S. 104–106, 113; Josef Dan, „Rabbi Judah the Pious and Caesarius of Heisterbach“; Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens, Bd.  1, S.  178–198, 281–291; Rubin, „The Concept of Repentance“; Talya Fishman, „The Penitential System of Hasidei Ashkenaz and the Problem of Cultural Boundaries“.

6.4 Die Bedeutung des Schreibers als Hüter der Tradition aus christlicher Perspektive 

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hang mit der Buchherstellung eine Herausforderung, man möchte fast sagen eine Provokation dargestellt haben, die nicht mit bloßem Rückgriff auf „eigene“ Formen der Frömmigkeit, so wie man sie in der jüdischen Tradition seit der Antike in unterschiedlichen Ausformungen finden kann, beantwortet wurde. Vielmehr scheint das Ideal des schreibenden Mönchs zu einem gewissen Grad als Folie für einen in der jüdischen Tradition bislang nicht gekannten Schreibertypus gedient zu haben.

7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens 7.1 Die kleinen Talmudtraktate Massechet sefer torah und Massechet soferim Mit bemerkenswerter Sorgfalt wenden sich die beiden kleinen Talmudtraktate Massechet sefer torah und Massechet soferim einem heiklen Thema der Schreiberliteratur zu  – dem Schreiben der Namen Gottes.1 In einem eigenen Kapitel unterscheiden die Autoren zunächst penibel zwischen heiligen und nicht heiligen Namen. Mit Blick auf Elohim, Adonai, JHWH, Ehijeh Ašer Ehijeh und Šaddai besteht kein Zweifel darüber, dass sie vom Schreiber nicht gelöscht, aus der Schreibhaut herausgeschnitten oder gar mitsamt Schreibhaut verbrannt werden dürfen. Auch die auf zwei Buchstaben zusammengeschmolzenen Namen EL für Elohim oder JH für JHWH sind von diesem Tabu betroffen, während ŠD für Šaddai oder ṢBA für Ṣebaot nicht zu den heiligsten Namen Gottes gezählt und somit von den strengsten Schreibvorschriften ausgenommen werden. Auch die biblischen Präfixe und Suffixe der Gottesnamen sind eher in der profanen Welt zu verorten und dementsprechend mit einem anderen Maßstab als die Namen selbst zu behandeln. Sie besitzen auch in der Verbindung mit den Gottesnamen kein eigenes göttliches Potential. Die in den Gottesnamen vorkommenden Buchstaben selbst entfalten ihre Heiligkeit ausschließlich im Kontext der Namen und müssen daher innerhalb profaner Worte nicht mit besonderer Rücksicht behandelt werden. Die Quellen führen verschiedene Positionen zu diesen Fragen an. Manchen Rabbinen gelten bestimmte Suffixe dennoch als heilig. Andere Autoritäten ziehen den Kreis der allerheiligsten Namen enger und grenzen dafür Namen aus: Rabbi Jose sagt: „Ṣebaot ist ein gewöhnlicher Name“. Auch Rabbi Schimeon sagt: „Die Jerusalemer Familie Birah schrieb und radierte den Namen Ṣebaot aus, da sie ihn wie einen gewöhnlichen Namen behandelte“.2

Bei der Entscheidung zwischen heilig oder profan gibt in manchen Fällen auch der historische bzw. theologische Kontext den Ausschlag. Göttliche Namen in der biblischen Geschichte von Lot (Gen 19) und dem Götzendiener Micha (Richter 17) sind nicht von derselben heiligen Potenz wie dieselben Namen an anderer Stelle. Die moralischen Defizite der Protagonisten, in deren Umfeld sie auftreten, färbt gleichsam auf sie selbst ab.

1 Massechet sefer torah und Massechet soferim, Kapitel 4 und 5. 2 Massechet soferim 4:1. https://doi.org/10.1515/9783110722062-007

7.1 Die kleinen Talmudtraktate Massechet sefer torah und Massechet soferim 

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Beide Talmudtraktate besprechen darüber hinaus die Maßnahmen, die bei einem versehentlichen Schreibfehler anzuwenden sind. Was ist zu tun ist, wenn der Name Gottes vom Schreiber vergessen wurde? Wie verfährt er, wenn er einen Namen zweimal hintereinander geschrieben hat? Welche Korrekturregeln hat der Schreiber in diesem Falle zu beachten? Wenn beispielsweise ein Schreiber den Namen JHWH schreiben sollte und aus Versehen „stattdessen Jehudah schrieb, sollte er aus dem dalet ein he machen und das letzte he ausradieren.“3 Im umgekehrten Fall, wenn der Schreiber also statt Jehudah ein Tetragrammaton schreibt, sollte er [das gesamte Wort] ausradieren und den Namen neu schreiben. Rabbi Judah sagte dazu: „Er sollte mit dem qulmus darüberstreichen und so heiligen.“ Doch [die Weisen] sagten zu ihm: „Das ist nicht die beste Verfahrensweise“.4

Beim Schreiben der Gottesnamen sind einige Eventualitäten in Betracht zu ziehen, und nicht immer sind die Rabbinen einer Meinung. Einigkeit herrscht darüber, dass dem Tetragramm JHWH die peinlichste Sorgfalt der Schreiber und die größten Umstände bei der Korrektur zu gelten haben. Das Ausradieren des ganzen Namens oder das Überschreiben einzelner Buchstaben ist unter allen Umständen zu vermeiden, denn „jemand, der auch nur einen einzigen Buchstaben des Namens [JHWH] auslöscht, übertritt ein negatives Gebot. Rabbi Simeon sagte: ‚Daher ist geschrieben (Deut 12,3–4): […] und vertilgt ihren Namen aus demselben Ort. Ihr sollt dem Herrn, eurem Gott, nicht also tun.‘“5 Das magische Zusammenspiel der Buchstaben des Namens sollte nicht durch einen unkonzentrierten Schreiber oder weltliche Ordnungen gestört werden. Selbst ein König hat seine Zweitrangigkeit im Anbetracht des himmlischen Herrschers zu akzeptieren, wie die kleine Parabel vom irdischen König, der geduldig den Gruß des Schreibers abwartet, sehr schön versinnbildlicht: Derjenige, der den Namen [JHWH] schreibt und just in diesem Moment von einem König gegrüßt wird, muss den Gruß nicht erwidern. Doch wenn einer zwei oder drei Namen schreibt, darf er nach einem eine Pause machen und den [königlichen Gruß] erwidern.6

Die Gottesnamen geben auch den Anstoß für die Diskussion, wie mit unbrauchbar gewordenen Torarollen umzugehen ist. Aus Respekt vor den göttlichen Namen dürfen sie nicht einfach weggeworfen werden, sondern müssen genau wie andere Schriftstücke, die den Gottesnamen enthalten, in einer Geniza rituell verborgen oder in einer Ecke auf dem Friedhof vergraben werden. Um den bereits 3 Massechet soferim 5,3. 4 Ebd. 5 Massechet soferim 5,6. 6 Ebd.

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 7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens

geschriebenen Gottesnamen zu schützen, muss auch eine unvollständige, fehlerhafte oder rituell unreine Torarolle dementsprechend behandelt werden. Beide Talmudtraktate enthalten jedoch zwei Paragraphen, die aus dem thematischen Rahmen der rabbinischen Diskussion um die Herstellung der STaM herausfallen und den Blick auf ein anderes Themenfeld lenken, das in der Antike offensichtlich nicht so weit von der Welt der sofrei STaM entfernt war. Zusammen mit den konkreten Argumenten aus der Schreibpraxis eines sofer STaM, der mit der Herstellung des wichtigsten Kultgegenstandes der jüdischen Religionspraxis betraut ist, können folgende Empfehlungen zunächst etwas irritieren: [Die Begriffe] Barmherzigkeit und Gnade, Langmütigkeit und Großmütigkeit, König, Könige, erhaben, groß, Höchster, gerecht und geradlinig, fromm, perfekt, makellos, kraftvoll, siehe alle diese dürfen ausradiert werden. Und derjenige, der sich selbst oder seine Nachbarn mit diesen [Attributen Gottes] verflucht, macht sich schuldig. [Falls er] jedoch Heiden oder Tote [mit diesen Namen] verflucht, macht er sich nicht schuldig. [Verflucht er] einen Richter oder einen Prinzen macht er sich zweifach schuldig; nach [der Meinung] Anderer macht er sich sogar dreifach schuldig, wenn er einen Prinzen verflucht. Wenn eine Person seinen Vater oder seine Mutter mittels des Tetragramms verflucht, macht er sich der Bestrafung durch Steinigung schuldig, falls er [seine Eltern nur] mittels der Attribute [verflucht] gilt noch eine Verwarnung.7

Einige Abschnitte weiter findet der Leser folgende Empfehlungen: Wenn eine Person einen [göttlichen] Namen auf ihren Körper schreibt, darf sie sich weder baden noch einsalben. Rabbi Jose sagt: „Es ist erlaubt, solange die Person [den Namen] nicht abschrubbt.“ [Wenn eine Person den Namen] auf das Horn einer Kuh oder auf das Bein eines Betts [schreibt], dann soll sie ihn entfernen und verbergen. [Wenn sie den Namen] auf einen Stein [schreibt] soll sie ihn entfernen und verbergen.8

Wie kommen diese Anspielungen auf magische Praktiken in eine halachische Abhandlung zum Schreiben der STaM? Die kleinen Talmudtraktate gehören zu einer Reihe von Textzeugen der Spätantike (mit späteren Zusätzen aus dem frühen Mittelalter), die von einer magischen Benutzung der Gottesnamen berichten. Die machtvollen Namen konnten als Fluch Schaden auf Personen bringen oder – direkt auf den Körper oder auf ein Möbelstück geschrieben – Schutz gegen Krankheit, böse Mächte oder ein widriges Schicksal erwirken.9 Die jüdische Kultur adaptierte den Glauben an das magische Potential der göttlichen Namen 7 Massechet soferim, 4:9. 8 Massechet sefer torah 5:12; Massechet soferim 5:12 und 13. 9 Gideon Bohak, Ancient Jewish Magic, Cambridge 2008, S. 117 f.

7.2 Exkurs: Maimonides und der „Wahnwitz der Amulettenschreiber“ 

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aus der kulturellen Umgebung und integrierte ihn mehr oder weniger offen in die religiöse Praxis. Die Forschung hat längst die noch von Ludwig Blau so konsequent vertretene Ansicht eines „volksthümlichen jüdischen Dämonen- und Zauberwesens“10, das sich als Aberglaube in einer primitiven Parallelwelt zum überlegenen monotheistischen Glauben entwickelte, ad acta gelegt und gerade in den letzten Jahrzehnten gezeigt, wie tief magisches Denken in ganz unterschiedlichen Formen mit der jüdischen Religion selbst verwoben ist.11 Das geschriebene machtvolle Wort ist dabei nur eine Spielart der Magie, die – wie die oben zitierten Passagen aus den beiden Talmudtraktaten zeigen – im Gegensatz zum gemeinen Fluch mittels des Gottesnamens durchaus auf Akzeptanz in rabbinischen Kreisen stieß.

7.2 Exkurs: Maimonides und der „Wahnwitz der Amulettenschreiber“ Maimonides stellte im Zuge seiner Attributenlehre nüchtern fest, dass „es ja nicht in unserer Macht steht, dass die Wesenheit des Namens mit der Realität des Dinges übereinstimme“12. Mit dieser nominalistischen Haltung nimmt er der magischen Namensverehrung innerhalb und außerhalb des Schreibkontextes jeglichen Wind aus den Segeln. Der große Rationalist macht dabei keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen das Eigenleben, das die Gottesnamen in bestimmten Kreisen führten. Allein dem Tetragramm gesteht er eine Sonderstellung zu. JHWH sei der ontologische Abdruck der göttlichen Essenz, schreibt er in seinem 10 Ludwig Blau, Das altjüdische Zauberwesen, Budapest 1898, S. 9. 11 Vgl. u. a. Joshua Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion, New York 8 1987; Michael D. Swartz, „Scribal Magic and Its Rhetoric: Formal Patterns in Medieval Hebrew and Aramaic Incantation Texts from the Cairo Genizah“, in: Harvard Theological Review 83 (1990), S. 163–180; ders. „Book and Tradition in Hekhalot and Magical Literatures“, in: Journal of Jewish Thought and Philosophy 3 (1994), S. 189–229; ders., Scholastic Magic. Ritual and Revelation in Early Jewish Mysticism, Princeton 1996; Giuseppe Veltri, „Jewish Traditions in Greek Amulets“, in: Bulletin of Judaeo-Greek Studies 18 (1996), S. 33–47; ders., Magie und Halakhah. Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum, Tübingen 1997; Peter Schäfer, „Magic and Religion in Ancient Judaism“, in: Envisioning Magic, hrsg. von Peter Schäfer und Hans G. Kippenberg (= Studies in the History of Religions, Bd. 75), Leiden 1997, S. 19–43. 12 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Übersetzung und Kommentar von Adolf Weiß, mit einer Einleitung von Johann Maier, Hamburg 21995, II:12, S. 86. Auch wenn Maimonides’ philosophisches opus magnum schnell in hebräischer Übersetzung als Moreh Newuchim in Aschkenas für Aufsehen sorgte, wurde das Werk nicht in demselben Maße wie seine auf Hebräisch abgefasste Mišneh torah rezipiert. Seine Einstellung zu den Gottesnamen schwingen jedoch auch in seinem religionsgesetzlichen Werk mit.

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 7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens

Führer der Unschlüssigen, es bezeichne das ureigene Wesen Gottes in einer Bedeutung, die keines der geschaffenen Dinge mit ihm gemein habe. Das Tetragramm ist der ausschließlich Gott zukommende Name, der „deshalb šem ha-meforaš genannt wird, und dies bedeutet, dass dieser Name das Wesen Gottes in einer klaren, jede Gemeinschaft mit irgendeinem anderen Wesen ausschließenden Weise bezeichnet“13. Maimonides schildert die Tradition des Priestersegens, bei dem der Name Gottes anfangs ausgesprochen werden durfte. Das Wissen um die richtige Aussprache und die Bedeutung von JHWH sei alle sieben Jahre einem Würdigen mündlich mitgeteilt worden. Doch bald musste dieser Name ersetzt werden, „denn selbst im Heiligtum hatte man bereits aufgehört, sich des šem ha-meforaš zu bedienen, weil einzelne in ihrem Glauben Schaden genommen hatten“14. An seine Stelle trat der Name von zwölf Buchstaben, der zunächst vor niemandem verborgen wurde. Vielmehr lehrte man ihn jeden, der ihn lernen wollte […]; erst als sittenlose Menschen den Gottesnamen mit den zwölf Buchstaben erfuhren und […] die Glaubenslehren zerstörten, haben sie auch diesen geheim gehalten und nur den Würdigsten unter den Priestern mitgeteilt, damit sie das Volk im Heiligtum mit diesem Namen segnen.15

Auf welche Weise das Wissen um diese Namen derart negative Auswirkungen haben konnte, lässt Maimonides ebenso offen wie seine Ansicht zur Wirkmacht des nur schriftlich tradierten Namens JHWH. Alle anderen Namen, die Gott zugewiesen wurden, interpretiert Maimonides im Kontext seiner Attributenlehre. Sie seien lediglich von dessen Wirkungen in der Welt abgeleitet und „können daher zum Glauben an eine Vielheit in Gott führen, nämlich zu dem Glauben, dass es ein Wesen gebe und etwas zum Wesen Hinzukommendes“16. Die Einheit Gottes darf jedoch nicht von seinen Attributen angetastet werden, denn diese Namen sind alle den in der Welt vorhandenen Wirkungen Gottes entsprechend angenommen worden. Betrachtest du aber sein reines, ihm allein eigentümliches Wesen von jeder Wirkung abgesehen, so kommt ihm in keiner Weise ein abgeleiteter Name zu, sondern nur ein einziger, ihm ausschließlich eigentümlicher, der sein Wesen bezeichnet. Es gibt jedoch, wie wir glauben, keinen anderen unabgeleiteten Namen als JHWH, der der šem ha-meforaš schlechthin ist17.

13 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, I:61, S. 222. 14 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, I:62, S. 229. 15 Ebd. 16 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, I:61, S. 225, oder auch I:35, S. 111: „[…] die Gottesnamen, die, wenn sie auch zahlreiche sind, dennoch nur den Einzigen bezeichnen.“ 17 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, I:61, S. 226.

7.2 Exkurs: Maimonides und der „Wahnwitz der Amulettenschreiber“ 

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Trotzdem könne der Mensch – je nach intellektueller Reife – wichtige Erkenntnisse aus den abgeleiteten Namen gewinnen. Maimonides fragt beispielsweise, weshalb Gott auf die Frage von Moses nach seinem Namen nicht das zu erwartende JHWH, sondern ehijeh ašer ehijeh (Ex 3,13) antwortete. Er argumentiert, dass das Wissen um das Tetragramm für die Israeliten keinen Sinn gemacht hätte. Die Frage nach dem Namen drücke vielmehr die Suche nach dem Wesen Gottes aus, denn die Israeliten hatten zu diesem Zeitpunkt noch „kein Bewusstsein von dem Dasein Gottes“. Sie standen auf einer unteren Erkenntnisstufe und bedurften deshalb „einer Wissenschaft, die er [Moses] ihnen beibringen sollte, um ihnen das Dasein Gottes glaubhaft zu machen“18. Die Worte ehijeh ašer ehijeh sollten dem Volk die Ewigkeit Gottes vor Augen führen und als Beweis für Gott als das „notwendig Seiende“ dienen. Es ergibt sich also der Sinn und die Erklärung der Worte ‫ אהיה אשר אהיה‬folgendermaßen: Ich bin das Seiende, welches das Seiende ist, nämlich das notwendig Seiende. Und dies sollte Mose den unwiderlegbaren Beweis erbringen, dass es ein notwendig Seiendes gibt, welches niemals nichtseiend war und zu sein niemals aufhören wird […].19

Maimonides begründet seine Argumentation mit dem Verweis auf die grammatikalische Wurzel des Namens ehijeh, nämlich ‫היה‬, das ebenso „das Dasein“ wie auch „das Existierende“ ausdrücken kann, und übersetzt den mehrdeutigen biblischen Ausdruck mit „Ich bin der Seiende, der existiert“. Selbst der Gottesname von zweiundvierzig Buchstaben20 drückt Maimonides zufolge das Wesen Gottes nur in negativem Sinne aus, indem er nämlich durch verneinende Aussagen jede Unvollkommenheit ausschließt. Das Studium dieser Namen dient nichts anderem als der Gewinnung von metaphysischen Einsichten und schließlich der Erkenntnis der aktiven Vernunft. Ihnen mehr Bedeutung oder gar magische Kräfte beizumessen, verurteilt Maimonides auf das Schärfste: Als aber jene ruchlosen Toren diese Dinge fanden, hatten sie noch weiteren Spielraum für ihre Lügen und behaupteten, es entstehe, wenn sie irgendwelche Buchstaben dieses Namens nach Belieben zusammensetzten, ein Gottesname, welcher, auf die oder die Art geschrieben oder ausgesprochen, tätig sein und wirken könne.21

18 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, I:63, S. 236. 19 Ebd. 20 Zu den Quellen und der Geschichte dieses Namens vgl. Blau, Das Altjüdische Zauberwesen, S. 128–146. Hier wird auch das Tetragramm, der zwölfbuchstabige Name und der 72buchstabige Name behandelt. 21 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, I:61, S. 232.

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 7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens

Der verbalen Abrechnung mit jenen Zirkeln, die mit der Wirkkraft der Gottesnamen experimentierten, schließt sich eine Zurechtweisung der Amulettenschreiber an, die keinen Raum für Zweifel an Maimonides’ Abneigung gegen etwaigen magischen Gebrauch der Gottesnahmen lässt: Du darfst außer diesem [JHWH] an keinen anderen glauben und den Wahnwitz der Amulettenschreiber in deinem Denken nicht aufkommen lassen, ebenso wenig aber das, was du von ihnen sagen hörst oder in ihren verderblichen Schriften über die Gottesnamen findest, die sie zusammengestellt haben, die jedoch schlechterdings nichts bedeuten, von denen sie aber, indem sie sie als Gottesnamen ausgeben, glauben, daß sie Heiligkeit und Reinheit erfordern und Wunder wirken können. Für einen vollkommenen Menschen ziemt es sich nicht, irgendeine dieser Behauptungen anzuhören, geschweige denn daran zu glauben.22

Doch selbst ein so vehementer Gegner magischer Praktiken und überzeugter Kämpfer gegen Aberglauben konnte nicht umhin, die Wirksamkeit „erprobter Amulette“  – hierunter versteht Maimonides „ein Amulett, das drei Personen geheilt oder das von einer Person hergestellt wurde, die drei Personen durch andere Amulette geheilt hat“23 – in Erwägung zu ziehen. Obwohl oder vielleicht gerade weil Maimonides das Schreiben von Amuletten so kategorisch ablehnte, kann von einer regen Nutzung der Gottesnamen als Schutzsiegel vor bösen Mächten o. ä. im islamischen Kulturkreis ausgegangen werden. Studien legen zudem eine Auffassung von der Torarolle als einer Art Schutzheiligen nahe, der man sich im Falle von Krankheit, erwünschter Schwangerschaft oder im Falle schwerer Schicksalsschläge zuwenden und seine Bitten vortragen kann. Das heißt, die Torarolle wird unter dem Einfluss der altorientalischen Umweltkultur zur Zeit ihrer Etablierung in der jüdischen liturgischen Praxis noch immer auch als Anbetungsobjekt mit magischer Aura wahrgenommen.24 Das Nebeneinander von halachischen Herstellungsregeln für die heiligen Schriftrollen der rituellen Praxis und Empfehlungen für den magischen Gebrauch der Gottesnamen, so wie man es in den beiden spätantiken kleinen Talmudtraktaten finden kann, war Maimonides sicherlich ein Dorn im Auge. Der auch für die europäische Schreibpraxis des Mittelalters so einflussreiche Halachist steht für eine strikte Trennung der beiden Bereiche, was in seinen Ausführungen zum Schreiben der göttlichen Namen deutlich wird. Statt magischer Elemente etabliert Maimonides – wie in Kapitel 6 ausgeführt – die kavvanah aus dem Bereich

22 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, I:61, S. 226 f. Vgl. Israel Finkelscherer, Mose Maimunis Stellung zum Aberglauben und zur Mystik, Breslau 1894. 23 Maimonides , Mišneh torah, Hilchot Šabbat 19,15. Vgl. bT Šabb 61a–b. 24 Shalom Sabar, „Torah and Magic: The Torah Scroll and Its Appurtanances as Magical Object in Traditional Jewish Culture“, in: European Journal of Jewish Studies 3 (2009), S. 135–170.

7.2 Exkurs: Maimonides und der „Wahnwitz der Amulettenschreiber“ 

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des inbrünstigen Gebets in den Schreibstuben. Wie bei einem Gebet soll der Schreiber seinen Geist bewusst von den profanen Dingen lösen und sich ganz der heiligen Welt zuwenden. Der Moment, in dem ein sofer einen der Gottesnamen, insbesondere das JHWH, auf das Pergament bringt, wird von Maimonides zu einer religiösen Handlung deklariert und damit enorm aufgewertet. Es ist ein nach innen gerichteter Augenblick, in dem sich der Schreiber seiner selbst in seinem Verhältnis zu Gott bewusst wird. Der Unterschied zur Magie, die immer auf eine äußere Wirkung abzielt, kann kaum größer sein. Auch mit Blick auf esoterische Spekulationen zum Schriftbild, den Pausen, Buchstabenformen der Quadratschrift und Krönchen nahm Maimonides erwartungsgemäß eine eher nüchterne Haltung ein. Er strebte nach Einheitlichkeit und wollte regionalen Varianten vorbeugen: Da ich bezüglich dieser Angelegenheit [der offenen und geschlossenen Abschnitte] ein großes Durcheinander in den von mir gesehenen Torarollen vorfand und weil auch die Masoreten, die schrieben und bekannt machten, welche geschlossene und welche offene Paragraphen sind, in ihrer Meinung genau wie die Rollen, auf die sie sich bezogen, auseinandergehen, sah ich mich veranlasst, hier alle geschlossenen und offenen Paragraphen der Tora und die Form der poetischen Passagen zusammenzustellen, damit alle Torarollen nach dieser Liste korrigiert und kontrolliert werden können.25

Auch für die Darstellung der Lieder Exodus 15 (Meerlied) und Deuteronomium 32 (Moselied) entwickelte Maimonides Richtlinien, die in einigen europäischen Torarollen des Mittelalters nachzuvollziehen sind.26 Doch bezüglich der Buchstaben gab Maimonides keine konkreten Anweisungen, die über die im Talmud hervorgebrachten Ermahnungen hinausgingen. Es solle in assyrischer Schrift kopiert werden, die Buchstaben dürften sich nicht berühren, bei sich ähnelnden Schriftzeichen sei größte Aufmerksamkeit angebracht, Löcher in der Schreibhaut dürften in keiner Weise die exakte Gestalt des Buchstaben beeinträchtigen.27 Maimonides thematisiert auch die korrekte Ausführung der aussergewöhnlichen Buchstaben und Krönchen: Man muss sehr sorgsam bezüglich der vergrößerten Buchstaben, der verkleinerten Buchstaben, der Buchstaben mit Punkten darüber, und den ungewöhnlich geformten Buchstaben – wie dem geringelten pe und den gekrümmten Buchstaben sein, so wie sie die Schreiber

25 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, I: 19, 20; II: 8–11; VII: 5–9. 26 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, VII:10, VIII:7. Eine einheitliche Gliederung und Kennzeichnung der Leseabschnitte für den aschkenasischen Raum, wo die maimonidischen Regeln in manchen Fällen nur teilweise übernommen wurden, legt erst der Šulḥan arukh im 16. Jahrhundert vor. 27 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, I:18–20.

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 7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens

einer von dem anderen kopiert haben. Man sollte auch bezüglich der tagin sorgfältig vorgehen, bezüglich ihrer Anzahl; einige gekrönte Buchstaben haben einen [tag], andere haben sieben. Alle Krönchen sind wie ein haardünner Buchstabe zajin geformt.28

Halacha, Mystik und Ethik finden hier nicht zusammen, doch an dem göttlichen Ursprung der tagin lässt auch Maimonides keine Zweifel aufkommen. In einem Responsum antwortet er auf die Frage nach dem Ursprung der tagin, dass „sie tatsächlich kein Brauchtum [‫ ]מנהג‬seien, [sondern] schon in den ersten von Moses selbst geschriebenen Rollen zu finden“ und – mit Verweis auf Rabbi Aqiva und dessen himmlische Schule – dementsprechend Teil der göttlichen Offenbarung seien.

7.3 Das Schweigen der Halachisten in Frankreich und Deutschland Die magische Dimension des Schreibens der STaM erlebte in der halachischen Schreiberliteratur Frankreichs und Deutschland keine neue Blüte. Im Gegenteil, die Ausführungen zur korrekten Behandlung falsch geschriebener Gottesnamen, der Umgang mit ausgedienten Torarollen oder die generelle Unterscheidung von profanen und heiligen Namen sind bei den tosafot und auch bei den aschkenasischen rabbinischen Schulen im Vergleich zu den antiken Vorgaben erstaunlich knapp gehalten. Viele rabbinischen Autoritäten behandeln das Themenfeld gar nicht. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig. Eine Ursache mag jedoch das generell geringe Interesse an den Gottesnamen als magische Schriftzeichen gewesen sein. In der Forschung wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass innerhalb aschkenasischer Rabbinerkreise die Namen Gottes und der Engel eher im Zusammenhang mit dem Gebet zum Einsatz kamen, als dass ihre übernatürlichen Kräfte für Talismane, Amulette oder andere magische Objekte genutzt wurden. Der Name entfaltet nach diesem Verständnis seine Wirkung im akustischen Raum und nicht auf der sinnlichen Basis der Schrift.29 28 Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, VII:8. Vgl. auch ebd. II:8–11, wo die Krönchen (tagin) der Tefillin aufgelistet sind. 29 Ephraim Kanarfogel, „Peering through the Lattices“. Mystical, Magical, and Pietistic Dimensions in the Tosafist Period. Detroit 2000, S. 29. Vgl. auch u. a. Israel Ta-Schma, „Meqorah u-meqomah šel tefillat aleinu le-šabeaḥ be-siddur ha-tefillah: seder ha-ma‘amadot u-še’elat sijjum ha-tefillah“, in: Barry Walfish (Hrsg.), The Frank Talmage Memorial Volume, Haifa/Hanover, NH 1992, Bd. 1, S. 88–90; Gerrit Bos, „Jewish Traditions on Strengthening Memory and Leone Modena’s Evaluation“, in: Jewish Studies Quarterly 2 (1995), S. 39–58, hier S. 41–45; Richard Kieckhefer, Magic in the Middle Ages (= Cambridge Medieval Textbooks), Cambridge 1989, S. 69–80; Judah

7.3 Das Schweigen der Halachisten in Frankreich und Deutschland 

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Ephraim Kanarfogel stellte darüber hinaus fest, dass ein Teil der rabbinischen Gelehrten durchaus „ein substantielles Interesse an der torat ha-sod [der Tora des Geheimnisses]“ und den göttlichen Namen zeigte  – jedoch außerhalb des halachischen Bereiches.30 Die rabbinische Affinität zu mystischen und magischen Konzepten ist vor allem in der liturgischen Dichtung aus der Feder rabbinischer Denker aus der Region um Mainz ab dem 11.  Jahrhundert belegt. Die Forschungen zu diesem Phänomen konnten dabei Einflüsse der Hechalot-Mystik nachweisen.31 Diese wurde von der ursprünglich aus Italien stammenden Familie der Kalonymiden aus dem Orient über die Alpen oder mit einer Zwischenstation in der Provence nach Deutschland gebracht, wo sie in unterschiedlichen Kreisen mehr oder weniger große Wirkung entfaltete.32 Ein zentrales Element dieser Literatur ist eine stark ausgeprägte Namensmystik, die weniger philosophisch-spekulativ als magisch-beschwörend erscheint. Über ganze Seiten hinweg fließen Namenslitaneien durch den Text, die dem Himmelsaufsteiger bei seiner Reise durch die Hallen des göttlichen Reiches Schutz und Einlass sichern. Diese Art der Namensmystik hat kaum Spuren in der europäischen Schreiberliteratur hinterlassen – sicherlich auch, weil sich die magische Technik des Beschwörens im Gegensatz zum Schreiben von Amuletten weitestGoldin, „The Magic of Magic and Superstition“, in: Barry L. Eichler und Jeffrey H. Tigay, Studies in Midrash and Related Literature, Philadelphia 1988, S. 337–357. 30 Ebd., S.  131–143. Vgl.  Joseph Dan, Torat ha-sod šel ḥasidut aškenaz, Jerusalem 1968; ders., „The Beginnings of Jewish Mysticism in Europe“, in: The Dark Ages, hrsg. von Cecil Roth, Ramat Gan 1966, S. 282–290; Avraham Grossman, Early Sages of Ashkenaz. Their Lives, Leadership and Works (900–1096) [Heb.], Jerusalem 1981. 31 Vgl.  u. a. Hollender, Piyyut Commentary in Medieval Ashkenaz (= Studia Judaica, Bd.  42), Berlin [u. a.] 2008, S. 134; Moshe Idel, „Ha-maḥšawah ha-ra‘ah šel ha-El“, in: Tarbiz 49 (1980), S. 356–364, hier S. 356–357; ders., „Tefisat ha-torah be-sifrut ha-hechalot ve-gilgulehah ba-qabbalah“, in: Meḥqerei Jerušalajim be-maḥševet Jisra’el 1 (1981), S.  23–84; Abraham ben Azriel, Arugat ha-bośem. Colel perušim le-pijjutim, hrg. von Ephraim E. Urbach, Jerusalem 1939–1963, Bd. IV, S. 78, 270; Zur Hechalot-Literatur siehe die Textausgaben von Peter Schäfer (Hrsg.), Genizah-Fragmente zur Hekhalot-Literatur, Tübingen 1984; Peter Schäfer (Hrsg.), Synopse zur Hekhalot-Literatur, unter Mitarbeit von Margarete Schlüter und Hans-Georg Mutius, Tübingen 1981; Peter Schäfer (Hrsg.), Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. II–IV, in Zusammenarbeit mit Hans-Jürgen Becker, Klaus Herrmann, Lucy Renner, Claudia Rohrbacher-Sticker und Stefan Siebers, Tübingen 1987–1991; Klaus Herrmann (Hrsg.), Massekhet Hekhalot. Traktat von den himmlischen Palästen, Edition, Übersetzung und Kommentar, Tübingen1994. 32 Vgl. Kenneth R. Stow, „By Land or by Sea: The Passage of the Kalonymides to the Rhineland in the Tenth Century“, in Michael Goodich [u. a.] (Hrsg.), Cross Cultural Convergences in the Crusader Period. Essays Presented to Aryeh Grabois on His Sixty-Fifth Birthday, New York [u. a.]: Peter Lang 1995, S. 319–333; Ivan G. Marcus, „The Foundation Legend of Ashkenazic Judaism“, in: Jodi Magness und Seymour Gitin (Hrsg.), Hesed Ve-Emet. Studies in Honor of Ernest S. Frerichs, Atlanta/Georgia 1998, S. 409–418.

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 7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens

gehend auf den akustischen Raum beschränkt. Abschließend sei daran erinnert, dass Rabbi Abraham ben Moses aus Sinsheim in seiner Schrift Sefer tiqqun tefillin die rituelle Weihe nicht nur für die Schreibhäute der STaM vorschreibt, sondern ausdrücklich auf die Beschreibstoffe von Amuletten ausweitet.33 Eine vergleichende Untersuchung zur rituellen Beschriftung von Amuletten wäre sicherlich lohnenswert.

7.4 Die Renaissance der Gottesnamen bei den Ḥasidei Aškenaz Die Position der Ḥasidei Aškenaz zum Schreiben der Gottesnamen ist im Kontext dieser Studie von großem Interesse, da die fromme Gemeinschaft unter dem Einfluss der spätantiken Hechalot-Mystik stehend den Namen Gottes – aber auch den Namen der Engel und Dämonen – enormes Gewicht beimaß.34 Es kann durchaus etwas zugespitzt behauptet werden, dass die gesamte mystische Theologie der pietistischen Bewegung in einer Namensmystik kulminierte, die im Spannungsfeld von Magie, Philosophie und Kosmologie zu einer neuen Blüte gelangte. Einer der kreativsten Rezipienten der antiken Namensmystik war zweifellos Eleazar aus Worms, dessen mystische Kommentare und Abhandlungen vom Glauben an die Wirkmacht des Namens durchtränkt sind.35 Doch konnten die mystischen Spekulationen die Welt der sofrei STaM beeinflussen? In den halachischen Ausführungen aus dem Kreis der Ḥasidei Aškenaz wird das Thema geflissentlich vermieden, und auch im Sefer ḥasidim ist eine gewisse Zwiespältigkeit in Bezug auf den Namen Gottes zu spüren. Einerseits bestand hinsichtlich des magischen Potentials der göttlichen Namen kein Zweifel, andererseits wurde der magische Gebrauch derselben verurteilt. Die Zweischneidigkeit dieses heiklen Gegenstandes offenbart sich sehr eindrücklich in einer Geschichte, die im Maysebuch im Rückblick auf Samuel ben Kalonymus he-Ḥasid, dem Vater des Jehuda he-Ḥasid überliefert ist. Dort heißt es über den Begründer der Ḥasidei Aškenaz: Rabbi Samuel der Fromme ging einmal zu einer Mühle, um für seinen Vater, Rabbi Kalonymos, das Pesachmehl zu mahlen. Und während er in der Mühle den Weizen mahlte, gab es einen Wolkenbruch, und die Wasser stiegen so hoch, daß die Esel das Mehl nicht heim

33 Sefer baruch še-’amar , S. 25–37. 34 Vgl. Joseph Dan, „The Book of the Divine Name by Rabbi Eleazar of Worms“, in: Frankfurter Judaistische Beiträge 22 (1995), S. 27–60; Elliot R. Wolfson, „The Mystical Significance of Torah Study in German Pietism“, in: The Jewish Quarterly Review 84 (1993), H. 1, S. 43–78. 35 Vgl. Dan, „The Book of the Divine Name“ und Wolfson, „The Mystical Significance“.

7.4 Die Renaissance der Gottesnamen bei den Ḥasidei Aškenaz 

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tragen konnten, ohne daß es naß geworden wäre und für Pesach nicht mehr zu gebrauchen. R. Samuel war sehr traurig und wußte zuerst nicht, was er tun sollte. Dann machte er mit dem Namen [Gottes], daß ein riesiger Löwe daher kam, der war größer als ein Kamel. Er legte dem Löwen den Mehlsack auf den Rücken, setzte sich selber auf den Sack und ritt so auf dem Rücken des Löwen durch das Wasser, bis zum Hause seines Vaters.36

Doch der Vater Samuels verurteilte das Vorgehen seines Sohnes: […] er erkannte, daß sein Sohn den heiligen Namen benutzen mußte. Daher wurde er sehr zornig und sprach zu ihm: „Du hast eine schwere Sünde begangen, als du den Löwen mit Hilfe des Namens erschaffen hast, und zur Strafe für diese große Sünde wirst du niemals Kinder haben“.

Das Maysebuch blickt zweihundert Jahre nach dem Aufblühen der chassidischen Bewegung auf ihre wichtigsten Köpfe und sollte dementsprechend vor dem kulturhistorischen Hintergrund seiner Entstehung gelesen werden.37 An dieser Stelle muss die Feststellung genügen, dass die in dieser Geschichte wunderbar zum Ausdruck gebrachte Haltung des alten Kalonymos zum Umgang mit den Gottesnamen auch im Sefer ḥasidim zu finden ist. Der Gebrauch der Gottesnamen zum eigenen Vorteil ist keineswegs zu tolerieren. Vielmehr sollte im Wissen um seine Heiligkeit und seine Wirkmacht ein respektvoller Umgang mit den Namen geübt werden. Dem Schreiben der Gottesnamen im konkreten Kontext des Kopierens der heiligen Schriften widmen die Ḥasidei Aškenaz erhöhte Aufmerksamkeit. Der Sefer ḥasidim greift das von den halachischen Autoritäten der Zeit kaum beachtete rabbinische Material der Spätantike zu den Namen Gottes wieder auf und verhilft ihm zu einer wenngleich unsystematischen Renaissance. Im Vordergrund stehen die hohe Qualität des Schreibmaterials bzw. der Schreibstoffe rund um den Gottesnamen und die Pflicht der Schreiber, die Vorstellung von der absoluten Vollkommenheit des Namens in keiner Weise durch unangemessene Schreibgewohnheiten zu stören. Der Name Gottes darf kein Loch in seinem näheren Umfeld aufweisen oder gar selbst perforiert sein. Gesetzt den unglücklichen Fall einer notwendigen Aus-

36 Zitiert nach Karl E. Grözinger, „Wundermann, Helfer und Fürsprecher. Eine Typologie der Figur des Ba’al Schem in aschkenasisch-jüdischen Volkserzählungen“, in: Der Magus. Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, hrsg. von Anthony Grafton und Moshe Idel, Berlin 2001, S. 169–192. 37 Vgl.  Jakob Meitlis, Das Ma’assebuch. Seine Entstehung und Quellengeschichte, Berlin 1933; Moses Gaster, „The Maassehbuch and the Brantspiegel“, in: Jewish Studies in Memory of George A. Kohut (1874–1933), hrsg. von Salo W. Baron und Alexander Marx, New York 1935, S. 270–278.

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 7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens

besserung, „nähe man nicht da, wo der Name ist, damit der Name nicht [mit der Nadel] durchstoßen wird, sondern da, wo das gevil nicht beschrieben ist.“38 Eine besondere Sorgfalt im Schriftbild betrifft zu einem gewissen Grad auch die Wörter vor und nach dem Gottesnamen: Ein sofer, der den Namen Gottes geschrieben und das Wort vor dem Namen Gottes nicht gut herausgebracht hat, sollte mit dem qulmus noch einmal darüber gehen damit die Buchstaben des Wortes vor dem Namen Gottes gut lesbar sind. Doch wenn er bereits begonnen hat, den Namen Gottes zu schreiben und [ihn] noch nicht vollendet hat, unterbreche er nicht [das Schreiben] der Buchstaben des Namens, um ein anderes Wort auszubessern.39

Doch nicht nur das Material, sondern auch der Schreibfluss selbst verträgt keine Lücken bzw. Unterbrechungen. Der Sefer ḥasidim greift das aus der antiken Schreiberliteratur bekannte Bild vom Schreiber auf, da ein König geduldig den Gruß eines sofer abwartet, der gerade den Namen des himmlischen Königs auf der Schriftrolle festhält.40 Der Schreiber darf in einem solch heiklen Moment auch nicht aufsehen, wenn ein Geringerer die Schreibstube betritt und ihn anspricht.41 Wenn er schon nicht auf die Bedürfnisse anderer eingehen darf, um wieviel wichtiger ist es dann, dass der Schreiber auch seine eigenen Bedürfnisse unterdrückt: Wenn ein sofer den Namen Gottes schreibt, bevor er nicht damit fertig ist, darf er nicht ausspucken, sondern erst nachdem er alles geschrieben hat.42

Schließlich gibt der Sefer ḥasidim dem Schreiber noch Lösungen für den Fall an die Hand, wenn ein Name versehentlich falsch geschrieben wurde.43 Eine außerordentlich interessante Schreibanweisung, die den Rahmen der rabbinischen Vorlagen durchaus sprengt, findet sich im Kontext des folgenden Exemplum: Es steht geschrieben: Und sie schrieben darauf eingravierend den Schriftzug Heilig dem Herrn [‫]יהוה‬. (Ex 39,30) [Der angewandte Plural] und sie schrieben lehrt, dass der Name in Gegenwart einer größeren Anzahl von Anwesenden geschrieben werden soll, nämlich [im Beisein von mindestens] zehn Personen. Die Schrift (Lev 22,32) sagt: [Dass ihr meinen heiligen Namen nicht entheiligt,] und ich geheiligt werde unter den Kindern Israel; [denn ich bin der Herr, der euch heiligt]. Dementsprechend sind die früheren Rechtsgelehrten so verfahren, dass wenn ein sefer torah geschrieben wird, die Namen durch zehn Gerechte geschrieben

38 SḤ § 697. 39 SḤ § 715. 40 SḤ § 722. 41 SḤ § 723. 42 SḤ § 719. 43 Vgl. u. a. SḤ § 717, § 1761.

7.4 Die Renaissance der Gottesnamen bei den Ḥasidei Aškenaz 

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werden. Und es gibt welche, die sagen: „Es ist notwendig [den Namen Gottes] in Gegenwart eines Quorums zu schreiben, um daran zu mahnen, dass er lišmah geschrieben wird. Denn falls er nicht lišmah geschrieben ist, sollte [die Rolle] in einer Geniza verborgen werden. Das gilt auch für jeden einzelnen Buchstaben.“ Es gab früher Experten, die schrieben auf qelaf […] gemäß der Halacha: und sie schrieben darauf eingravierend den Schriftzug Heilig dem Herrn. (Ex 39,30) Warum ist gesagt und sie schrieben [da doch] „er schrieb“ die singuläre Form gewesen wäre? [Der Plural] soll lehren [dass] nicht nur einer schreibt und sie [das Schreiben des Gottesnamens] in früheren Zeiten aufteilten. […] Und einer schrieb den Namen und was für eine oder zwei Zeilen nötig ist, jedoch nicht alle Worte. Es schreiben zwei […]: einer schreibt ‫ קדש‬und der andere schreibt ‫ליהוה‬, so dass der Beginn des Namens durch eine Hand und ‫ קדש‬durch eine andere Hand [geschrieben wird].44

Dieser Abschnitt ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen, weil der Autor (Jehuda he-Ḥasid) eine Zeugenschaft für die rituelle Heiligung des Gottesnamens beim Schreiben eines sefer torah einfordert. Eine Gruppe von zehn „Gerechten“ soll sich zur Abschrift eines jeden Namens, womit wahrscheinlich allein das Tetragramm JHWH gemeint ist, in der Schreibstube des sofer STaM versammeln, um die Weihe des Namens lišmah sicherzustellen. Die „zehn Gerechten“ wecken Assoziationen zur Geschichte Sodoms, das durch die Anwesenheit von nur zehn Gerechten hätte gerettet werden können. Dem Gerechten – zaddiq –, von dem es in jeder Generation nur einige wenige gibt, wird ein makelloser Lebenswandel und ein inniges Verhältnis zu Gott nachgesagt. Seine Anwesenheit beim Schreiben der Namen Gottes garantiert nicht nur die Heiligkeit dieses Moments, in dem Gott stellvertretend durch seinen Namen in die Welt tritt, sondern verweist auch auf die Gnade Gottes, der durch die Gerechten den Bestand der Welt sichert. Zum anderen hebt sich der oben zitierte Paragraph von den gängigen Schreibvorschriften mit der Vorstellung ab, dass bestimmte Textpassagen mit Tetragramm – explizit ist nur Heilig dem Herrn, ‫ליהוה קדש‬, aus dem Vers Ex 39,40 erwähnt – durch zwei Schreiber auf das Pergament gebracht werden sollten. Wir wissen nicht, inwiefern diese Verfahrensweisen tatsächlich in der Praxis umgesetzt wurden. Allerdings ist davon auszugehen, dass der erhöhte personelle, mentale und rituelle Aufwand einen auf diese Weise geschriebenen sefer torah enorm aufgewertet hätte. Gleichzeitig entspräche ein solches nach allen Regeln der heiligen Kunst hergestelltes Ritualobjekt durchaus der elitären Selbstwahrnehmung der Ḥasidei Aškenaz. Als eine Art heilige Gemeinschaft von Gerechten bzw. Chassidim wollten sie sich selbst durch ihre Reinheits- und Heiligungspraktiken vor allen anderen – inklusive den christlichen Geistlichen – auszeichnen. Die Herstellung eines rituell einwandfreien sefer torah bot hierzu die beste Gele44 SḤ § 1762.

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 7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens

genheit. Es sei hier nur am Rande erwähnt, dass es mittelalterliche Torarollenzeugen gibt, in denen Gottesnamen aus dem Text visuell herausstechen. Ein Beispiel dafür ist die Handschrift Ms. or. fol. 121645, eine aschkenasische Torarolle aus dem Besitz der mittelalterlichen Erfurter Gemeinde, die wahrscheinlich im 13. Jahrhundert geschrieben wurde (Abb. 22). Auf dem ersten Blatt der Rolle sind die Namen ‫ יהוה‬und ‫ אלהים‬mit einer anderen Tinte geschrieben, die im Vergleich zur ins Bräunliche tendierenden Schriftfarbe des restlichen Textes dunkler erhalten ist. Blatt 19 und 20 mit Exodus 22,11–30,10 sowie Blatt 26 mit Leviticus 9,10–13,29 sind durch eine spätere Hand ersetzt, deren Schrift ebenfalls durch eine besonders schwarze Tinte auffällt. Es ist möglich, dass der Schreiber dieser Blätter die Leserlichkeit der Gottesnamen sicher stellen wollte. Die Tatsache, dass Überschreibungen dieser Art nur auf dem erstem Blatt zu finden sind, könnte allerdings auch für eine rituelle Praxis beim Schreiben der Namen Gottes sprechen, die – aus welchen Gründen auch immer – nur das erste Blatt betrifft. Da der Abstand zu den vorangehenden und folgenden Wörtern als etwas größer aus dem Schriftfluss herausfällt, scheint es wahrscheinlich, dass der Schreiber den Platz für die Gottesnamen zunächst freigelassen und erst in einem späteren Arbeitsgang eingefügt hat. Vielleicht suchte der Schreiber vor dem Kopieren der heiligen Namen eine Mikwe auf, um mit besonderer Reinheit in den Schreibprozess zu gehen.46 Oder ein besonderes Schreibritual forderte die ungeteilte Aufmerksamkeit eines oder mehrerer soferim. Einen weiteren Fall hat Judith Olszowy-Schlanger dokumentiert.47 In einem mittelalterlichen aschkenasischen Torarollenfragment, das als Einband für ein Buch in der Krakauer Jagiellonischen Universitätsbibliothek erhalten ist, heben sich einige Gottesnamen ebenfalls durch eine andere Tinte und kleine paläographische Besonderheiten

45 Moritz Steinschneider, Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Bd. 2: Verzeichnis der Hebräischen Handschriften, Berlin 1878, Nr. 134, S. 3; siehe auch Franz Hubmann und Josef M. Oesch, „Betrachtungen zu den Torarollen der Erfurter Handschriften-Sammlung. Untersuchungen zu Gliederung und Sonderzeichen“, in: Die jüdische Gemeinde von Erfurt und die SchUM-Gemeinden. Kulturelles Erbe und Vernetzung (= Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte), hrsg. von der Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung, Bd.  1, Erfurt 2012, S. 96–116; Jordan S. Penkower, „The Ashkenazi Pentateuch Tradition as Reflected in the Erfurt Hebrew Bible Codices and Torah Scrolls“, in: Zu Bild und Text im jüdisch-christlichen Kontext, hrsg. von Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung und Universität Erfurt (= Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte), Bd. 3, Erfurt 2014, S. 118–141. 46 Das tun auch einige heutige Schreiber*innen. 47 Judith Olszowy-Schlanger, „Some Palaeographical Observations on the Torah Scrolls from Medieval Crakow: Binding Fragments from the Jagellonian Library“, in: Andreas Lehnardt, Newly Discovered Hebrew Binding Fragments (= European Geniza Texts and Studies, Bd. 5), Leiden/Boston 2020, S. 228–257, hier S. 239.

7.5 Abschließende Bemerkungen zum Schreibkonzept der Ḥasidei Aškenaz 

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von dem restlichen Schriftbild ab. Auch hier liegt eine spätere Einsetzung der Gottesnamen nahe.

Abb. 22: Die Torarolle „Erfurt 7“ weist in den drei Kolumnen des ersten Pergamentbogens die Besonderheit auf, dass die Namen Gottes noch einmal mit einer Tinte überschrieben wurden, die weniger oxidierte als die Originaltinte. Ms or fol 1216, fol. 1 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).

7.5 Abschließende Bemerkungen zum Schreibkonzept der Ḥasidei Aškenaz Die Analyse der vielfältigen Bezüge des Sefer ḥasidim zur Herstellung und Handhabe der sifrei ha-qoddeš konnte das lückenhafte, einseitig aus rabbinischen Quellen abgeleitete Bild von der Herstellung rituell reiner Schriftrollen im mittelalterlichen Aschkenas um einige Mosaiksteine bereichern. Die Drehund Angelpunkte der aufschlussreichen Exempla rund um den Arbeitsplatz der Schreiber sind – wie in der rabbinischen Schreiberliteratur auch – Reinheit und Heiligkeit. Das Bedürfnis nach einer erhöhten Gewichtung dieser beiden Komponenten der Schriftrollenherstellung im mittelalterlichen Europa ist in rabbinischen wie in chassidischen Quellensorten gleichermaßen nachzuvollziehen. Die Abhandlungen und Schreiberhandbücher aus dem rabbinischen Milieu gewäh-

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 7 Der Name Gottes oder die Magie des Schreibens

ren Einblicke in eine erweiterte Ritualpraxis der Heiligung, die diesem Bedürfnis Ausdruck verlieh. Die Exempla des Sefer ḥasidim gehen hierüber in unterschiedlichen Richtungen hinaus. Materialien und Werkzeuge, die in der halachischen Literatur der Antike und in den Kommentaren der rišonim eine eher marginale Rolle spielten, wie beispielsweise die Tinte oder der qulmus, werden von den Ḥasidei Aškenaz durch kleine Narrative in eine Welt der Wunder und der göttlichen Präsenz eingeflochten. Sogar Abfallprodukte des Schreibens – etwa Tintenklekse oder Späne des zurechtgestutzten Schreibgeräts – sind nun Bestandteil des Heiligen. Darüber hinaus gewinnt der Leser des Sefer ḥasidim eine Vorstellung von der inneren Welt eines Schreibers – so wie ihn sich die Chassiden idealerweise vorstellten. Die Kurznarrative über unterschiedliche Schreiberpersönlichkeiten und die magische Aura der von ihnen geschriebenen Texte sind von ganz besonderem Interesse, da die rabbinische Literatur dem Schreiber als Person kaum Aufmerksamkeit widmet. Der Schreiber heiliger Texte beeindruckt im Sefer ḥasidim mit einem ausgeprägten ethischen Bewusstsein. Ähnlich demjenigen, der torah lišmah studiert, zeichnet er sich nicht durch einen breiten Bildungshorizont, sondern vielmehr durch Lauterkeit des Herzens aus. Diese innere Reinheit überträgt sich auf den Text und wirkt im Geschriebenen ebenso weiter wie negative Gefühle und falsche Absichten, die einer Schrift die Wirkkraft rauben können. Mit dieser Redlichkeit im Inneren geht die Schaffung einer heiligen Ordnung im Äußeren einher. Zahlreiche Exempla regen eine den heiligen Schriften würdige Ordnung im Arbeitsbereich an, die der Schreibtätigkeit eine im weitesten Sinne rituelle Färbung verleiht. Darüber hinaus führen die Protagonisten der Kurznarrative eine erheblich intensivierte Choreographie des Umgangs mit den heiligen Schriften vor, die „die Zone des Heiligen innerhalb des sozialen Raums sichtbar macht“48. Der Sefer ḥasidim mit seinen facettenreichen Referenzen zur Buchherstellung gibt dem rabbinischen Konzept der Weihe durch die Einbeziehung magischer Praktiken eine neue Richtung. Insbesondere die Ausführungen zum Schreiben der göttlichen Namen offenbaren den ausgesprochen schmalen Grat zwischen Halacha und Magie. Schließlich ergab die Untersuchung der für den Schreibkontext relevanten Kurznarrative des Sefer ḥasidim, dass die Ḥasidei Aškenaz die große Bedeutung der monastischen Buchkultur wahrgenommen und mit starken Abgrenzungsreflexen beantwortet haben. Zahlreiche Positionen der Ḥasidei

48 Talya Fishman, „The Rhineland Pietists’ Sacralisation of Oral Torah“, in: Jewish Quarterly Review 96 (2006), H. 1, S. 9–16, S. 10; dies., Becoming the People of the Talmud: Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures, Philadelphia 2011, S. 198–213.

7.5 Abschließende Bemerkungen zum Schreibkonzept der Ḥasidei Aškenaz 

 205

Aškenaz zur Herstellung und Handhabe der sifrei ha-qodeš sind tatsächlich nur im Kontext der generell außerordentlich ablehnenden Haltung der Pietisten gegenüber der christlichen Umweltkultur zu verstehen,49 die in der Person des schreibenden Mönchs einen Archetypen des christlichen Glaubens hervorgebracht hat.

49 Vgl. Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance: Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, London 1961, S. 93–105.

8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis 8.1 Eine Rhetorik der Schrift? Der große Lehrer der antiken Rhetorik, Marcus Fabius Quintilianus, zeigte sich davon überzeugt, dass ein „Gemälde, ein Werk, das schweigt und immer die gleiche Haltung zeigt, so tief in unsere innersten Gefühle eindringen kann, dass es ist, als überträfe es selbst die Macht des gesprochenen Wortes“1. Die rein visuelle Wahrnehmung einer Torarolle ist zweifellos von tiefer Eindrücklichkeit für die Sinne, doch weshalb? Als eine Diskurstechnik entfaltet sich die Rhetorik im Zusammenhang mit Kommunikation und Sprache – einem Medium also, das sich ähnlich der Musik in zeitlichen Abläufen argumentierend vollzieht. Kann in diesem Sinne auch von einer Rhetorik der Architektur, der Malerei oder eben der Schrift gesprochen werden? In der Forschung ist diese Frage immer wieder aufgeworfen und den Gestaltungsräumen entsprechend unterschiedlich beantwortet worden.2 Ausgehend von der Annahme, dass ein Schriftbild tatsächlich eine inszenierte Dimension des Geschriebenen darstellen kann, in der sich rhetorische Konstruktion und zeremonielle Abwicklung widerspiegeln, soll im Folgenden die Frage nach dem äußeren Eindruck und der Wirkungsweise des Schriftbildes einer Torarolle gestellt werden. Welche Funktion haben die Elemente der visuell wahrnehmbaren Oberfläche einer Torarolle? Wie wurden sie von den Betrachtern aufgefasst? Rhetorik soll hier in Ihrem normativen Sinne verstanden werden, da im Kontext der Schriftrollenherstellung die Freiheit fehlt, die sie als „Kunst“ in der Wahl der Figuren, der Tropen und der Affekte erlaubt. Trotz des großen Einflusses der Umweltkulturen

1 Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners (Institutio oratoria), hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 1998, Buch 11, Kap. 3.67; zitiert nach Gert Ueding, „Beredsamkeit der Formen – Anmerkung zu einer Rhetorik des Designs“, in: Design als Rhetorik. Grundlagen, Positionen, Fallstudien, hrsg. von Gesche Joost und Arne Scheuermann, Berlin [u. a.] 2008, S. 81– 88, hier S. 81 f. 2 Vgl. Charles Jencks, „Rhetorik und Architektur“, in: Archithese 2 (1972), S. 19–29; Andri Gerber, „Die Rhetorik der Architektur. Peter Eisenman und das architektonische Element“, in Archithese 34 (2004), H. 2, S. 50–55; Wolfgang Ullrich, „Die Bilder des Architekten. Überlegungen zur Rhetorik imaginierter Architektur“, in: Werk, Bauen + Wohnen. Schweizer Ausgabe 9 (2004), S. 14–21; Marcel Dolega, Gedächtnis: Architektur. Eine Kulturgeschichte der Mnemotektur, Bochum 2004. Für weitere Ansätze und Forschungsberichte siehe die Aufsatzsammlung Design als Rhetorik, insbesondere Ulrich Heinen, „Bildrhetorik der Frühen Neuzeit – Gestaltungstheorie der Antike. Paradigmen zur Vermittlung von Theorie und Praxis“, S. 142–189. https://doi.org/10.1515/9783110722062-008

8.1 Eine Rhetorik der Schrift? 

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auf die jüdische Buchkunst – einschließlich der Herstellung von Bibelkodizes – hat das Schriftbild der STaM mit seinen vielfältigen metatextlichen Elementen abgesehen von kleinen Varianten zumindest seit der Spätantike kaum Veränderungen erfahren. Welche Rückschlüsse lässt dieses gleichsam eingefrorene Bild auf diejenigen zu, die es seit Generationen in sich tragen? Was ist seine Funktion innerhalb der jüdischen Gemeinschaft? Zur Beantwortung dieser Fragen soll das Schriftbild der Torarolle als eine Art Sonderfall der Rhetorik betrachtet werden.3

8.1.1 Die Schrift Die Mischna legte im 3. Jahrhundert fest, dass für das Schreiben der STaM ausschließlich die sogenannte assyrische Quadratschrift geeignet sei.4 Diese Schrift basiert auf dem aramäischen Alphabet, welches das althebräische Schriftsystem, das sich ursprünglich aus dem phönizischen Alphabet ableitete, etwa im fünften vorchristlichen Jahrhundert verdrängt hatte. Das Attribut „assyrisch“ weist noch auf ihre Ursprünge im babylonischen Exil hin, von wo sie sich allmählich weithin ausbreitete. Den späteren Talmudgelehrten war durchaus bewusst, dass diese Schrift nicht dem althebräischen Alphabet entsprach, doch sahen sie damit der Heiligkeit des Textes keinen Abbruch getan: Zuerst wurde den Israeliten die Tora in der [alt]hebräischen Schrift und in der heiligen Sprache gegeben, sodann wurde sie ihnen in den Tagen Ezras wiederum gegeben in der assyrischen Schrift [aramäische Quadratschrift] und in der aramäischen Sprache. Die Israeliten wählten sodann die assyrische Schrift und die heilige Sprache und überließen den einfachen Leuten [Samaritanern] die hebräische Schrift und die aramäische Sprache. […] Rabbi Jose sagte: Ezra war würdig, dass durch ihn die Tora an Israel übergeben würde, wäre ihm nicht schon Moses vorausgegangen.5

Die beiden kleinen Talmudtraktate Massechet soferim und Massechet sefer torah folgten den talmudischen Vorgaben, die die aramäische, altpersische oder griechische Sprache zum Schreiben des heiligen Textes als vollkommen ungeeignet geißelten und auch althebräische Schriftzeichen konsequent ausschlossen.6 Den Namen „Quadratschrift“ bekam diese Schrift, da jeder Buchstabe ein ganzes bzw. halbes Quadrat ausfüllt und sich die Linienführung der Zeichen mit

3 Über die Wirkung von Schrift hat Andreas Koop in Die Macht der Schrift. Eine angewandte Designforschung, Zürich 2012, Interessantes zusammengetragen. 4 mJad 4:5. 5 bT Sanh 21b–22a; jMeg 71b–c. 6 Vgl. Massechet soferim 1:6; Massechet sefer torah 1:6.

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

hauptsächlich waagerechten und senkrechten Strichen meist am Quadrat orientiert. Paläographen sehen sich mit der außergewöhnlichen Tatsache konfrontiert, dass die assyrische Quadratschrift, wie sie in den STaM und Bibelkodizes verwendet wird, bis heute nur geringfügige Veränderungen erfuhr. Die Schreiber der unterschiedlichsten Regionen der Diaspora gaben den Verlockungen weder der arabischen Kalligraphie noch denen der lateinischen Schreibkunst nach, was die Datierung und die Feststellung des Herstellungsortes der wenigen erhaltenen Torarollen aus dem Mittelalter enorm erschwert. Die gleichmäßigen geometrischen Formen strahlen Sachlichkeit, Feierlichkeit, Klarheit und Einfachheit aus. Doch gerade durch dieses reduktive Moment bergen die Buchstaben ein beträchtliches theatralisch-appellatives Potential, da sich dem damit verbundenen Pathos der Ewigkeit, Unveränderlichkeit und Unergründbarkeit – alles auch Attribute des Göttlichen – kaum ein Betrachter entziehen kann. Wie der „Auftraggeber“ selbst steht auch diese Schrift über der Zeit. Der Eindruck der Zeitenthobenheit verstärkt sich durch den bewussten Verzicht auf die Abbildung philologisch-textkritischer Bemerkungen. Im Gegensatz zur hebräischen Bibel enthält eine Torarolle bis heute keine Elemente der masoretischen Tradition. (Abb.  23) Dazu zählen die Vokalzeichen und Kantilationsanweisungen über und unter dem Konsonantentext sowie der gesamte kritische Apparat der Massoreten, der in manchen Bibelhandschriften für ästhetische Blüten in Form von kunstvollen Mikrographien sorgte. Der Verzicht auf Opulenz, Verspieltheit und jegliche Formen der Illuminierung betont den strengen, reinen und ernsten Charakter der Schrift. Ein Jude auf Reisen wird in allen jüdischen Versammlungsorten der Welt immer das gleiche Schriftbild vorfinden und zumindest mit Blick auf die Torarolle alle kulturellen Unterschiede schnell vergessen können. Die Unveränderlichkeit des Schriftbildes verheißt Kontinuität und weist auf den gemeinsamen Ursprung und die gemeinsame Geschichte hin. Die Schrift stellt dementsprechend das über alle Grenzen hinaus verbindende Element der jüdischen Religionspraxis dar. Neben der Schrift selbst ist es deren Anordnung auf den Pergamentbögen, welche die Betrachter aus Spanien, dem Jemen oder Frankreich als starker visueller Anker mit einem gemeinsamen Erinnerungsort verbindet.

8.1.2 Die Kolumnen, Absätze und Pausen Die Wahl des Schriftbildes – die Zusammensetzung der Buchstaben zu Wörtern, die Anordnung der Wörter in den Sätzen, die Festlegung der Absätze und Textlücken sowie die Darstellung der Kolumnen auf einem Bogen Pergaments –lässt sich im rhetorischen Sinne als inventio bezeichnen und sagt viel über die Absicht

8.1 Eine Rhetorik der Schrift? 

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Abb. 23: Begin von Genesis der Torarolle Ms or fol 1215, fol. 1 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).

des „Herausgebers“ aus. Beim Kopieren der biblischen Bücher (und der Tefillin und Mezuzot) ist kaum etwas dem Zufall oder dem künstlerischen Ingenium des Schreibers überlassen. So ist in den kleinen Talmudtraktaten ein „haaresbreiter“ Abstand zwischen den Buchstaben, eine „Buchstabenbreite“ zwischen den Wörtern, „eine Zeilenhöhe“ zwischen den Zeilen und „zwei Daumenbreiten“ zwischen den Kolumnen, „eine Handbreit unterhalb und drei Fingerbreit oberhalb“ des Textes und „vier Zeilenhöhen“ zwischen den einzelnen Büchern der Tora vorgeschrieben. Das Schriftbild folgt einem in sich geschlossenen System, dessen Beschreibung repetitive, gleichsam poetische Züge annimmt, wenn die Maße durch die Breite eines Haars, eines Fingers oder die Dicke der Schreibfeder bestimmt werden. Eine Kolumne sollte immer als rechteckiger Block mit möglichst geraden Rändern erscheinen. Der Schreiber erfährt neben Empfehlungen für die ideale Anzahl von Kolumnen je Bogen auch „Tricks“ für die nicht ganz einfache Realisierung eines „Blocksatzes“. Selbstredend hat der eigentlichen Kopierarbeit eine gut durchdachte Linierung vorauszugehen. Empfehlungen für diesen wichtigen Arbeitsschritt finden sich in vielen Schreiberhandbüchern und halachischen Abhandlungen.7 Das nüchterne Schriftbild einer Tora erinnert an einen Vertrag

7 Für die historische Entwicklung, die Veränderungen und Varianten des Textbildes vgl.  u. a. Ludwig Blau, „Massoretic Studies III/IV: The Division into Verses“, in: Jewish Quarterly Review

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

oder eine Urkunde, bei denen es in erster Linie auf Lesbarkeit ankommt. Bei der Wahl des Schriftbildes (inventio) stand sicherlich die Absicht zu belehren (docere) im Vordergrund und nicht die Intention der Unterhaltung(delectare) oder Leidenschaftserregung (movere). Das graphische Grundkonzept eines Textes – die „Ordnung des Stoffes“ – lässt sich als dispositio fassen, da es als konkrete Definition des Schriftsystems Texthierarchien festlegt und auf diese Weise die Rezeptionsform bestimmt. Das Schriftbild einer Torarolle ist ihrer Funktion als Lesevorlage im Ritus geschuldet. Die größeren Abschnitte orientieren sich an den Lesezyklen, die dem einjährigen babylonischen Zyklus entsprechend 54 (oder 53) Abschnitte der wöchentlichen Schabbatlesung bzw. die heute nicht mehr verwendete Ordnung von 154 oder 167 Abschnitten nach dem dreieinhalbjährigen palästinensischen Zyklus umfassen.8 Kleinere (setuma) und größere Pausen (petucha), optisch durch kleine Spatien innerhalb der Zeile bzw. durch offene Zeilenreste oder Leerzeilen gekennzeichnet, leiten den Redefluss des qore oder ḥazzan durch die Liturgie.9 Diese Lücken im Text, ohne die eine Torarolle für den rituellen Gebrauch nicht genutzt werden darf (und kann), markieren dementsprechend den Rhythmus der heiligen Ordnung des Lesezyklus, aber auch kleinere Sinneinheiten des biblischen Textes. In der Forschung wird davon ausge9 (1897), S. 122–144, 471–490; Joachim Conrad, „Die Entstehung und Motivierung alttestamentlicher Paraschen im Licht der Qumranfunde“, in: Bibel und Qumran. Beiträge zur Erforschung der Beziehung zwischen Bibel- und Qumranwissenschaft, hrsg. von Siegfried Wagner (= Festschrift für Hans Bardtke), Berlin 1968, S.  47–56; Christian D. Ginsburg, Introduction of the Massoretico-critical Edition of the Bible, London 1897, S. 9–108, 977–982; Yeshayahu Maori, „The Tradition of Pisqa’ot in Ancient Hebrew MSS  – The Isaiah Texts and Commentaries from Qumran“, in: Textus 10 (1982), S. 1–50; Malachi Martin, The Scribal Character of the Dead Sea Scrolls, Louvain 1958, Bd. 1, S. 122; Josef M. Oesch, Petucha und Setuma: Untersuchungen zu einer überlieferten Gliederung im hebräischen Text des Alten Testaments, Freiburg [u. a.] 1979; ders., „The Reading of the Bible in the Ancient Synagogue“, in: Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Judaism and Early Christianity, hrsg. von Martin J. Mulder und Harry Sysling, Assen [u. a.] 1988, S. 137–159; Emanuel Tov, Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart [u. a.] 1997, S. 40–43. 8 Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, S. 42; Ginsburg, Introduction, S. 32–65. 9 Josef M. Oesch, „Metatextelemente in hebräischen Torarollen“, in: Von Sumer bis Homer. Festschrift für Manfred Schretter zum 60. Geburtstag am 25. Februar 2004, hrsg. von Robert Rollinger (= Alter Orient und Altes Testament, Bd. 325), Münster 2005, S. 521–533; ders., „Skizze einer formalen Gliederungshermeneutik der Sifre Tora“, in: Unit Delimitation in Biblical Hebrew and Northwest Semitic Literature, hrsg. von Marjo C. A. Korpel und Josef M. Oesch (= Pericope. Scripture as Written and Read in Antiquity, Bd.  4), Assen [u. a.] 2003, S.  162–203; Franz Hubmann und Josef M. Oesch, „Betrachtungen zu den Torarollen der Erfurter Handschriften-Sammlung. Untersuchungen zu Gliederung und Sonderzeichen“, in: Die jüdische Gemeinde von Erfurt und die SchUM-Gemeinden. Kulturelles Erbe und Vernetzung (= Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte, hrsg. von der Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung, Bd. 1), Erfurt 2012, S. 96–116.

8.1 Eine Rhetorik der Schrift? 

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gangen, dass „das freie Zeilenende bzw. die Leerzeile der petucha den gewichtigeren, das Spatium in der Zeile der setuma den leichteren Texteinschnitt anzeigt“10. Die Tradierung dieser Pausen fand erst im Mittelalter durch Maimonides zu einer einheitlichen Form, die mit kleineren Abweichungen und nach einigen rechtsgelehrten Diskussionen zum Teil auch in Europa übernommen wurde.11 (Abb. 24) Die Varianten der Pausensetzung können durchaus als „Ergebnis bewusster Exegese“12 interpretiert werden und spiegeln dementsprechend auf der schriftbildlichen Ebene die Geisteshaltung der Rezipienten wider. Im antiken Midrasch zum Buch Levitikus, sifra, kommt sogar die Ansicht zum Ausdruck, dass die Abschnitte innerhalb der Tora die Pausen der göttlichen Rede an Moses anzeigten. Sie seien notwendig, „damit Moses eine Pause bekomme, um seine Gedanken zwischen dem Gesagtem einer Passage und der nächsten, zwischen der Präsentation eines Themas zum nächsten zu sammeln.“13 Das Schriftbild steht hier ganz im Zeichen einer göttlichen Matrix. Man sieht Gott förmlich sprechen, oder anders ausgedrückt: die Tora enthält auch einen visuellen Abdruck des Offenbarungsgeschehens, in dem Gott auf dem Berg Sinai von Angesicht zu Angesicht zu Moses sprach. Die eher von pragmatischen Fragen geleiteten Autoren der antiken Schreibvorgaben legten großen Wert auf die Angemessenheit, gewissermaßen das aptum der Darstellung des heiligen Textes und die ausgewogene Ordnung seiner syntaktisch-funktionalen und theatralisch-affektiven Kräfte. Es waren die frühen Schreibexperten, die den Grundstein für eine Auffassung des Schriftbilds legten, in der Form und Inhalt eine Symbiose bilden. So heißt es im kleinen Talmudtraktat Massechet soferim bezüglich der Kolumnenformen: Der Bogen einer Torarolle sollte nicht weniger als drei Kolumnen und nicht mehr als acht enthalten. Bezüglich der Zeilen wurde eine Auslegung [‫[ ]םעט‬für vier verschiedene Zahlen] gegeben: entsprechend der Reisen zweiundvierzig, entsprechend der Myriaden Israels sechzig, entsprechend der Ältesten Israels zweiundsiebzig und entsprechend der Lehren in Deuteronomium achtundneunzig – all das ist abhängig von [der Größe] der Schrift.

10 Josef M. Oesch, „Petucha / Setuma“, in: WiBiLex, erstellt im Juni 2011 (letzter Zugriff am 8. September 2021). 11 Jakob ben Ascher (1270–1340) und Meir ben Todros Ha-Levi Abulafia (1170–1244) verfolgten beispielsweise eine andere Tradition. Eine endgültige Festlegung der petucha und setuma erfolgte im 16. Jahrhundert durch den Šulḥan aruch. Maimonides, Mišneh torah, Sefer ahawah, Hilchot tefillin ve-mezuza ve-sefer torah, VII, 1–2.4; Hubmann und Oesch, „Betrachtungen zu den Torarollen“, S. 99 f. 12 Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, S. 41. 13 Sifra, Nedava, 1:9, 13. Übersetzung ist angelehnt an die Übertragung von Jacob Neusner in: Sifra: An Analytical Translation I–III, translated by Jacob Neusner, Atlanta 1988.

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Abb. 24: Erstes Blatt der Torarolle Ms or fol 1216, fol.1 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz). „Entsprechend der Reisen“ da geschrieben steht [Num 32,2]: Und Moses schrieb ihren Auszug […]. „Entsprechend der Myriaden Israels“ da geschrieben steht [Ex 34,27]: Schreibe diese Worte […] mit Israel. Da Israel sechzig Myriaden zählt, mögen die Zeilen [einer Kolumne] sechzig sein. „Gemäß der Ältesten zweiundsiebzig“, da geschrieben steht [Num 11,16 und 26]: Sammle mir siebzig Männer; es blieben zwei Männer im Lager; und sie wurden mitgezählt [lit. aufgeschrieben] zweiundsiebzig. „Entsprechend der Belehrungen achtundneunzig“, da geschrieben steht [Deut 28,58]: Wenn du nicht einhalten und tun wirst all die Worte dieses Gesetzes, [die in diesem Gesetz geschrieben sind].

In Vers Numeri 32,2 erscheint das Wort „schreiben“ im Zusammenhang mit „Reisen“, woraus der Autor schließt, dass die Anzahl der Zeilen einer Kolumne die

8.1 Eine Rhetorik der Schrift? 

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Anzahl der Reisen der Israeliten, wie sie in diesem Vers aufgezählt sind, widerspiegeln. Aus der Tatsache, dass in Exodus 34,27 die Wörter „schreiben“ und „Israel“ in einem Vers genannt sind, leitet der Autor ab, dass die Zeilen einer Kolumne der Anzahl der Myriaden Israels entspricht. In Numeri 11,16 und 26 ist die Anzahl der Ältesten in einem Vers mit dem Wort „aufgeschrieben“ genannt – auch das fließt in die Argumentation ein. Schließlich wird eine Verbindung zwischen „schreiben“ und „Gesetz“ hergestellt, wobei auf die 98 Belehrungen in Deut 28,15–68 angespielt ist. Nach dieser Interpretation schlägt sich die Geschichte Israels im Schriftbild der Tora nieder und sichert sich dergestalt einen zusätzlichen Ort im kollektiven Gedächtnis seiner Betrachter. Das für die Herstellung der STaM streng ausgelegte Bilderverbot erfährt eine subtile Unterwanderung auf der interpretatorischen Ebene, die auch die Darstellung der Lieder betrifft.

8.1.3 Die Lieder Die Darstellungen des sogenannten „Meerliedes“ (Ex 15, 1–19) (Abb. 25) und des „Moseliedes“ am Ende der Tora (Deut 32,1–43) (Abb. 26) bilden eine Ausnahme im gleichmäßigen Fluss der Kolumnen.14 Im Meerlied besingt Moses das Wunder von der Rettung des Volkes Israel vor den Truppen des Pharao. Die Wasser teilten sich, ließen die Verfolgten trockenen Fußes hindurch, während die Ägypter mit Ross und Wagen in die Tiefe gerissen wurden und ertranken. Diese Szenerie manifestiert sich bis heute in der visuellen Gestalt des berühmten Liedes, indem „Ziegel über Halbziegel“, d. h. ein ganzes Versmaß über einem halben Versmaß, angeordnet ist so dass ein Bild entsteht, das die Wogen des roten Meeres vor dem inneren Auge des Betrachters lebendig werden lässt. Die Verse des Moseliedes, die das Verhältnis der Israeliten zu Gott thematisiert, werden dagegen in zwei Säulen „Ziegel über Ziegel“ bzw. „Halbziegel über Halbziegel“ geschrieben.15 Beide Lieder sind von großer Bedeutung für die Identität des jüdischen Volkes und deshalb ganz bewusst aus dem Textfluss hervorgehoben. Ihre besondere Gestalt ist eine Aufforderung an die Betrachter, genauer hinzusehen und sich den Inhalt der Lieder als etwas Bedeutsames einzuprägen. Sie markieren zentrale Orientierungspunkte im kulturellen Gedächtnis der jüdischen Religionsgemeinschaft.

14 Vgl. bT Šabb 103b; mMeg 16b; Massechet soferim 1:11 und 12:8. 15 Vgl.  Tov, Der Text der hebräischen Bibel, S.  173. Hier sind auch weitere Schreibtraditionen ausgesuchter Lieder des biblischen Textes erwähnt, die sich jedoch nicht durchgesetzt haben.

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Abb. 25: Meerlied in der Torarolle Ms or fol 1215, Bl. 28 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).

8.1 Eine Rhetorik der Schrift? 

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Abb. 26: Moseslied in der Torarolle Ms or fol 1215, Bl. 85 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).

Im 13. Jahrhundert zeigt sich in Aschkenas eine weitere, nicht ganz unumstrittene Schreibpraxis, in der das Schriftbild als Gedächtnisstütze für religiöse Identität inszeniert wird – und zwar in Form der sogenannten vavei ha-amudim [‫]ווי העמודים‬, wörtlich übersetzt „Haken der Säulen“. Der biblische Ausdruck (vgl. Ex 27,10–11; Ex 38,10–12, 17) erscheint im Zusammenhang mit der Errichtung

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

des Stiftzelts, dessen Vorhof aus Stoff an diesen Haken befestigt wurde. Vav bedeutet jedoch nicht nur „Haken“, sondern bezeichnet auch den sechsten Buchstaben des hebräischen Alphabets, während amudim – Säulen – auch als Ausdruck für „Kolumne“ verwendet wird. In mittelalterlichen aschkenasischen Schreibstuben kam nun die Praxis auf, alle Kolumnen (amudim) einer Torarolle mit dem Buchstaben vav beginnen zu lassen, um so eine visuelle Assoziation zum Zeltheiligtum herzustellen. Wie die ‫( יריעות‬jerijot Stoffbahnen) des Stiftzelts – ein hebräischer Terminus technicus, der übrigens auch für „Schriftrolle“ stehen kann – mittels der vavim (Haken) auf den amudim (Säulen) gehalten werden, geben die vavim (hier der Buchstabe vav) den Kolumnen (amudim) Halt auf der Schriftrolle (jerijah). Das Schriftbild inszeniert hier die Torarolle als Stellvertreterin des Allerheiligsten in der Diaspora. Die vavei amudim wurden von einigen Gelehrten der Zeit jedoch kritisch gesehen, da die Herstellung des symbolisch aufgeladenen Schriftbilds mitunter Unregelmäßigkeiten etwa durch in die Länge gezogene Endbuchstaben, die das Erscheinungsbild empfindlich stören, zur Folge hat. Der Kommentar des Rabbi Meir (ben Jekutiel) ha-Kohen von Rothenburg zur Mišneh torah des Maimonides, Haggahot Maimunijjot, enthält auch Responsen französischer und deutscher Rechtsgelehrter, die sich mit diesem Gegenstand befasst haben. In einem dieser Responsen, das von Rabbi Meir aus Rothenburg, aber auch von Meir ha-Kohen selbst stammen könnte, sind Vorbehalte gegenüber der neuen Schreibpraxis und nebenbei auch noch die Quelle dieser neuen Entwicklung überliefert: Die derzeitige Praxis ignoranter Schreiber, jede Kolumne mit einem vav zu beginnen, und was sie vavei ha-amudim nennen, scheint vollständig verboten zu sein. Denn seht, die ihr solche Kolumnen macht: manche [Kolumnen] sind breit und manche schmal; manchmal sind die Buchstaben zu groß […] manchmal sehen sie eigenartig und zu langgezogen aus, um zu erreichen, dass ein vav am Anfang einer jeden Kolumne steht […]. Siehe, ich schrieb diese Worte an unseren gelehrten Rabbiner und er stimmte mir zu, Folgendes antwortend: „Du fragtest mich bezüglich einer Torarolle mit vavei ha-amudim. [Diese Praxis] ist in meinen Augen nicht richtig, genau wie du geschrieben hast. Es gibt sie nicht in der Tora und auch nicht in der Schreibertradition. Vielmehr war da ein Schreiber namens Rabbi Leontin von Mühlhausen, der seine Fähigkeiten herausstellte. Wenn ich ein sefer torah schreibe, stelle ich sicher, dass keine Kolumne mit einem vav beginnt, außer [Deut 31,28]: Und ich werde gegen sie zeugen [‫]ואעידה בם‬.16

16 Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg, Haggahot Maimunijjot, Hilchot tefillin, ve-mezuzah, ve-sefer torah, VII:9,7; vgl. auch Israel Ta-Schma, Halachah, minhag u-meṣi’ut be-Aškenaz 1000–1350, Jerusalem 1996, S. 99–104.

8.1 Eine Rhetorik der Schrift? 

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Wer besagter Rabbi Leontin von Mühlhausen war, muss offen bleiben. Der Name taucht in keinem anderen Zusammenhang auf. Die Warnungen einiger halachischer Autoritäten vor dergleichen „Spielereien“ haben allerdings kaum gefruchtet. Bis heute finden sich zahlreiche sifrei torah mit sinnbildlichen Stiftzelthaken, von denen die wenigsten die Einheitlichkeit des Schriftbildes wahren. (Abb. 27)

Abb. 27: Vavei ha-amudim in einer der Erfurter Torarollen Ms or fol 1216, Bl. 7, (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz). In der rechten Kolumne sieht man sehr gut die von den Rabbinern beklagte Unregelmäßigkeit im Schriftbild.

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8.1.4 Die tagin, Sonderzeichen und otijjot mešunnot Als „Redeschmuck“ im rhetorischen Sinne können die tagin, Sonderzeichen und otijjot mešunnot betrachtet werden, die ausschließlich bei der Abschrift der biblischen Texte zum Einsatz kommen. Die Sonderzeichen besitzen heute keine primär praktische Funktion mehr, sondern dienen ausschließlich der visuellen Auszeichnung der Schrift. Ursprünglich hatte es mit einigen von ihnen durchaus eine philologisch-textkritische Bewandtnis, die im Laufe der Zeit allerdings in Vergessenheit geriet. Zu diesen besonderen Zeichen gehört das nun hafucha, das umgekehrte nun oder nun inversum,17 das in Torarollen vor und nach Numeri 10,35 und 36 abgebildet wird. Das „missverstandene Schreiberzeichen“18 markiert einen Textabschnitt, den frühere Bibelredaktoren aus dem Text verbannen wollten. Sehr wahrscheinlich markierten auch die sogenannten puncta extraordinaria, von denen es zehn Belege in der Tora gibt, die Löschung von Textbestandteilen, in diesem Fall einzelner Buchstaben.19 Die nachträgliche Hinzufügung eines Buchstabens bezeugen die „aufgehängten Buchstaben“ oder literae suspensae, die jedoch nicht im Pentateuch auftreten und daher für den Schreiber einer Torarolle nicht von Bedeutung sind. Allerdings gibt es auch Sonderzeichen, deren ursprüngliche Bedeutung heute nicht mehr nachzuvollziehen ist. Dazu gehören Buchstaben, die wegen ihrer Größe aus dem Rahmen fallen, wie beispielsweise der erste Buchstabe von ‫ בראשית‬in Genesis 1,1, das vav in dem Wort ‫ וגחון‬in Leviticus 11,42 und das gesamte Wort ‫ והתגלח‬in Leviticus 13,33.20 Der Schreiber muss aber auch extrem verkleinerte Buchstaben, wie beispielsweise das he im Wort ‫ באברהם‬in Genesis 2,4 oder gebrochene Schriftzeichen, wie das vav im Wort ‫ שלום‬in Numeri 25,12, tradieren. Alle diese von der Norm abweichenden Buchstaben und Sonderzeichen stechen aus dem gleichmäßigen Rhythmus des geschriebenen Textes hervor und inspirierten bereits in der Antike Exegeten zu mystischen, philosophischen oder auch religiös-ethischen Spekulationen. Es handelt sich um visuelle Einladungen, das Wort oder den mit diesen aus dem Rahmen fallenden Schriftelementen geschriebenen Vers genauer zu betrachten. Die wichtigsten Elemente des „Redeschmuckes“ sind jedoch die tagin und otijjot mešunnot, die Krönchen und außergewöhnlich geschriebenen Buchstaben, die in enger Symbiose mit einigen Schriftzeichen das Erscheinungsbild der 17 Tov, Der Text der hebräischen Bibel, S. 43. 18 Ebd. 19 Gen 16,5; 18,9; 19,33; 33,4; 37,12; Num 3,39; 9,10; 21,30; 29,15; Deut 29,28; vgl. Tov, Der Text der hebräischen Bibel, S. 44 f. 20 Ebd., S. 46.

8.1 Eine Rhetorik der Schrift? 

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oder der oft verwendete STaM wesentlich mitbestimmen. Das aramäische hebräische Begriff ‫ כתרים‬bezeichnet die „Kronen“, die meist durch drei Striche in der Gestalt des Buchstabens zajin angedeutet werden.21 Ihrer Entstehungs- und Interpretationsgeschichte sind die folgenden Kapitel gewidmet. An dieser Stelle sei den Ausführungen vorgreifend lediglich festgestellt, dass die Krönung oder außergewöhnliche Schreibweise eines Buchstabens auf einer ästhetischer Ebene die besondere Qualität des von Gott geoffenbarten Wortes betont. Wie ein König, der als narrative Figur in der rabbinischen Literatur oft als Metapher für Gott selbst steht, erfahren diese Buchstaben eine symbolische Auszeichnung, die der heiligen Schrift zusätzliche Würde, Autorität und Glanz verleiht. Der ursprüngliche Zweck der Zeichen liegt im Dunkeln, und zwar jenseits aller funktionalen Notwendigkeiten. Doch gerade hierdurch wird ihre mystische Aura innerhalb der Schrift verstärkt. Die exklusive Verwendung der tagin und otijjot mešunnot in der jüdischen Buchkunst verweist auf eine elitäre Gemeinschaft, die als Hüterin der von Gott an Moses übergebenen originalen, authentischen Tora in Erscheinung tritt. Die Schrift umgibt das Charisma einer Geheimnisträgerin – ein Eindruck, der dem zeichenhaften Charakter ihrer Elemente geschuldet ist. Die Rhetorik der für die biblischen Bücher bestimmten Schrift und ihrer Anordnung auf den Bögen einer Torarolle generiert einen Raum, in dem das liturgische Jahr in der zeitlosen Gestalt des heiligen Jahreszyklus mit den Geheimnissen des göttlichen Wesens zusammenfließt. Aus der Distanz betrachtet spiegelt diese Schrift die Unveränderlichkeit und Einheit Gottes wider. Erst bei näherer Betrachtung kristallisieren sich in den Leerstellen und Absätzen des Textes der sprachliche Rhythmus des Offenbarungsgeschehens heraus. Die Darstellung der Lieder und die Gestalt der Kolumnen ergänzen den Text auf einer bildlichen Ebene mit Erinnerungszeichen aus der gemeinsamen Vergangenheit. Das auf antike Vorbilder reduzierte Erscheinungsbild der Schrift repräsentiert gleichsam eine eigene Zeitrechnung, die losgelöst von den vielfältigen Einflüssen der Umweltkulturen religiöse Identität stiftet. Auch die speziell für das Schreiben der STaM verwendeten Buchstaben sind essentielle Elemente eines kulturellen Gedächtnisses, das über nationale Grenzen hinaus die Juden in der Diaspora miteinander verband. Das einheitliche Schriftbild steht für Kontinuität, eine gemeinsame Geschichte und einen der profanen Zeit übergeordneten rituellen Rhythmus und bietet gleichzeitig ein Erlösungsversprechen für die Zukunft.

21 Vgl. Yakir Paz zum Ursprung der Bezeichnung keter in diesem Zusammenhang. Yakir Paz, „Binding Crowns to the Letters – A Divine Scribal Practice in its Historical Context“ (heb.), in: Tarbiz – A Quarterly for Jewish Studies LXXXVI/2–3 (2019), S. 233–267.

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8.2 Antike Vorgaben zum Schreiben der Buchstaben und tagin zwischen Halacha und Aggada 8.2.1  Halachische Weisungen Die frühe rabbinische Literatur enthält noch keine systematische Abhandlung zur korrekten Schreibweise aller Buchstaben und deren Verzierungen in den STaM und in den Abschriften biblischer Bücher. Doch es ist bereits eine Sorge um die Lesbarkeit der Schrift zu bemerken, die zunächst ausschließlich den sich ähnelnden Buchstaben galt. So warnten die Rabbinen die Kopisten der Heiligen Schrift: Man darf nicht schreiben alef statt ajin oder ajin statt alef, beit statt kaf oder kaf statt beit, gimmel statt ṣade oder ṣade statt gimmel, dalet statt reš oder reš statt dalet, he statt ḥet oder ḥet statt he, vav statt jud oder jud statt vav, zajin statt nun oder nun statt zajin, ṭet statt pe oder pe statt ṭet, gebogene [Buchstaben] statt gerader oder gerade statt gebogener, mem statt sameḥ oder sameḥ statt mem, geschlossene statt offener oder offene statt geschlossener.22

Auch der Beschreibstoff selbst sollte die Form der Buchstaben nicht beeinträchtigen. Die Experten des Religionsgesetzes machten sich Gedanken darüber, wann ein Makel des Materials noch tolerabel ist und in welchen Fällen dieses besser nicht für die heiligen Schriften verwendet werden sollte. Ist beispielsweise die Schreibhaut an einer oder mehreren Stellen perforiert, muss genau geprüft werden, ob das Loch die Gestalt des Buchstabens berührt: Ist das Innere des he durchlöchert, so ist es tauglich, wenn aber der Schenkel [betroffen ist], so ist es untauglich. [R. Jehuda erklärt:] Wenn das Innere des he durchlöchert ist, ist es tauglich, und wenn der Schenkel [betroffen ist], ist es – falls etwas in der Größe eines kleinen Buchstabens zurückgeblieben ist – tauglich, wenn aber nicht [d. h. wenn das Loch größer ist], untauglich.23

Im Zweifelsfall solle „ein Knabe, der nicht zu klug und nicht zu dumm ist“,24 nach seiner unvoreingenommenen Meinung befragt und so festgestellt werden, ob ein nicht ganz perfekt geratener Buchstabe tauge oder nicht tauge. Der Schreiber sollte sich bei seiner Arbeit immer der Gefahr bewusst sein, dass „eine Fliege sich auf das Häkchen des dalet setzen, es verwischen und aus diesem ein reš machen“25 könne.

22 bT Šabb 103b. 23 bT Menaḥ 29a. 24 bT Menaḥ 29b. 25 bT Erub 13a.

8.2 Antike Vorgaben zum Schreiben der Buchstaben 

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Die kleinen Talmudtraktate Massechet soferim und Massechet sefer torah äußern sich nicht explizit zu den Buchstabenformen. Die Schriften greifen allerdings die sporadischen Äußerungen des Talmud zu den besonderen Zeichen auf, um diese knapp und unvollständig abzuhandeln: Das beit von berešit benötigt vier tagin und die Buchstaben [der erste Buchstabe] des Wortes streckt sich über alle [anderen] Buchstaben denn es meißelte die Welt. Das vav von gaḥon [Lev 11,42] sollte vergrößert sein, denn es ist der mittlere aller Buchstaben in der Tora; daroš daraš [Lev 10,16] ist die Mitte der Wörter der Tora. Daroš steht am Ende der Zeile und daraš am Beginn der nächsten Zeile. [Das ḥet von] vajjišḥaṭ [Lev 8, 15 und 23] muss vergrößert sein, denn [das Wort] markiert die Hälfte der Verse der Tora. Šema‘ Jiśra’el [Deut 6,4] muss am Anfang einer Zeile geschrieben sein und alle seine Buchstaben sind zu vergrößern, während eḥad am Ende dieser Zeile zu stehen hat. Das lamed von vajjašlikem [Deut 29,27] muss lang sein. Das he von haladonai [Deut 32,6] muss länger als alle anderen he sein, denn es ist ein Wort für sich. Das jud von teši [Deut 32,18] muss kleiner als alle anderen jud in der Schrift sein. Das jud von jigdal [Num 14,17] muss größer als alle anderen jud der Tora sein. Jiśra’el am Ende der Tora muss vergrößert sein, während das lamed in [diesem Wort] größer als alle anderen lamed sein soll.26

Die wichtigste Quelle der mittelalterlichen Halachisten und Schreiber für die korrekte Platzierung der tagin und Sonderzeichen war der Sefer tagin. Die Entstehung des pragmatischen Regelwerks wird in der Gaonäischen Zeit vermutet. Da schon der Talmud die Krönchen erwähnt, ist jedoch davon auszugehen, dass die Wurzeln der hier dargestellten Tradition noch weiter in die Antike zurückreichen. Raba sagte: „Sieben Buchstaben benötigen dreier tagin, und zwar: šin, ajin, ṭet, nun, zajin, gimmel und ṣade [finalis]“.27

Ada Yardeni vermutet den Ursprung dieser Schreibtradition in die vortalmudische Zeit, als die Mischna bereits kompiliert war, d. h. ins 4./5. Jahrhundert. Torarollenfragmente aus der Cairoer Genizah, die ins 7. oder 8.  Jahrhundert datiert werden konnten, bezeugen für die sieben Buchstaben ajin, ṭet, nun, zajin, gimmel, ṣade und šin bereits den Ansatz einer kleinen Verzierung. Yardeni führt dazu aus:

26 Massechet soferim 9:1–6. 27 bT Menaḥ 29b; Siehe auch bT Sotah 20a; bT Šabb 104a, 89a; bT Erub 13a, 21b; bT Sanh 104a; in einigen handschriftlichen Zeugnissen des Midraš šir ha-širim rabba findet sich ebenfalls eine Erwähnung des Sefer tagin; vgl. Ephraim Caspi und Mordechai Weintroyb, „On the Time of the Sefer Tagin (heb.)“, in: Jerushtenu (5771), Bd. 5, S. 200–210; siehe auch die erst kürzlich erschienene Studie von Marc Michaels, Sefer Tagin Fragments from the Cairo Geniza. A Critical Edition, Commentary and Reconstruction (= Cambridge genizah Studies 85), Leiden/Boston 2020; Ada Yardeni, The Book of Hebrew Script: History, Palaeography, Script Styles, Calligraphy & Design, Jerusalem 2010, S. 268.

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One may ask what the original form of the crowns was. When we examine the letter-forms of the Genesis scroll fragments from the Genizah we see that the letters group š‘aṭnzgṣ are adorned at the top of their left downstroke with an ornament in the form of an angle opening upwards to the right. […] This ornament was sometimes shaped like a small cross. In the Mishnah there is no reference to the ornaments of the letters, whereas in the Talmud the group š‘aṭnzgṣ is already mentioned. We may thus assume the scribal tradition reflecting, inter alia, the forms of that letter-group, was consolidated between the canonization of the Mishnah and that of the Talmud. Parallel to the Masoretic effort to preserve the biblical text, there was an attempt, beginning at the time, to preserve the scribal tradition of the sacred writings. The written instructions concerning the forms of the letters, which were understood at the time, were misinterpreted in later periods.28

Der Autor des Sefer tagin verlegt die Quelle seiner Ausführungen jedoch noch weiter in die Vergangenheit. Er entwirft eine mündliche Traditionskette, die bis zu den zwölf Steinen Joschuas zurückreicht. Der Legende nach hat der Prophet, nachdem das Volk Israel den Jordan überquert hat, je einen Mann aus den zwölf Stämmen angewiesen, einen Stein zur Erinnerung an das glückliche Passieren des Flusses am anderen Ufer abzulegen. Die Fortsetzung der Geschichte kann im Vorwort des Sefer tagin nachgelesen werden: Dies ist das Buch der tagin, das Eli der Priester von den 12 Steinen kopierte, die Joschua in Gilgal aufstellen ließ. Und er gab es an Samuel weiter und Samuel gab es Palti, Sohn des Leisch, und Palti überlieferte es Achitofel, und Achitofel gab es an Achija, den Schilomiten, weiter, und Achija, der Schilomit, tradierte es Elija, und Elija gab es Elischa, und Elischa übergab es Jehojada, dem Priester, und Jehojada, der Priester, tradierte es den Propheten, und die Propheten vergruben es unter der Schwelle des Tempels. Doch als die Schwelle des Tempels in der Zeit Joachims, des Königs Judas, zerstört wurde, erhielt Ezechiel, der Prophet, [das Buch] und nahm es mit nach Babylon. Doch in der Zeit des Cyrus, des Königs Persiens, brachte Ezra dieses Buch nach Jerusalem und so erreichte es die Hand Menachems, der es Rabbi Nechunja, dem Sohn des Rabbi Hakana, überreichte, und Rabbi Nechunja, Sohn des Hakana, überlieferte es Rabbi Aqiva.29

Der Sefer tagin gibt den Kopisten der Mosesbücher eine genaue Auflistung der Wörter und Buchstaben an die Hand, die  – abgesehen von den sieben bereits im Talmud genannten – gekrönt, auf ungewöhnliche Weise geschrieben oder mit zusätzlichen Strichelchen versehen werden sollen. Dass zunächst ausschließlich die Buchstaben šin, ajin, ṭet, nun, zajin, gimmel und ṣade mit tagin verziert wurden, lag sicherlich an deren Gestalt. Es sind die einzigen Buchstaben des hebräischen Alphabets, die den tagin in Form eines kleinen Quadrats am oberen Ende des Buchstabenkörpers ein ideales Podest, auf dem die Krönchen sehr gut zur Geltung kommen, bieten können. 28 Yardeni, The Book of Hebrew Script, S. 210–213. 29 Sefer tagin, Einleitung.

8.2 Antike Vorgaben zum Schreiben der Buchstaben 

 223

Der Talmud stellt sogar einen direkten Zusammenhang der tagin und Sonderzeichen mit dem Offenbarungsgeschehen am Berg Sinai her: Als Moses in die Höhe aufstieg [um die Tora zu empfangen], fand er den Heiligen, gelobt sei er, dasitzen und Kronen an die Buchstaben binden. Da sprach er vor ihm: „Herr der Welt, wer hält dich zurück?“ [d. h. wozu tust Du das?] Er erwiderte ihm: „Es wird dereinst, nach vielen Generationen, einen Mann geben, namens Aqiva ben Josef; er wird einmal über jedes Krönchen und Häkchen Haufen über Haufen von Lehren vortragen“.30

Die Buchstaben und ihre Krönung bewerteten die Rabbinen dementsprechend früh als Teil der göttlichen Offenbarung. Gott selbst wand die Krönchen an die Buchstaben, und der große Gelehrte Rabbi Aqiva aus dem zweiten Jahrhundert leitete daraus Religionslehren ab. Doch Rabbi Aqiva ist nicht nur der Begründer der halachischen mündlichen Tradition. Die Identifikationsfigur der rabbinischen Antike erweist sich auch als Meister der aggadischen Überlieferung.

8.2.2 Aggadische Auslegungen Neben halachischen Anweisungen zu den korrekten Buchstabenformen und einigen unsystematischen Bemerkungen zur richtigen Platzierung der Sonderzeichen enthält der Talmud auch das Ausgangsmaterial für die in der Spätantike entstanden Alphabetmidraschim, die sich ganz der ethisch-eschatologischen sowie kosmologisch-mystischen Dimension der Buchstaben und der zugehörigen Schmuckelemente zuwenden. Zwei talmudische Ausführungen stechen aus den verstreuten Bemerkungen zu dem Thema heraus. Da ist zunächst der oft kommentierte Abschnitt aus bT Šabbat 104a, der wie ein Lehrgedicht für Kinder zur Memorierung des Alphabets wirkt. An dieser Stelle sei ein kleiner Ausschnitt mit den ersten vier Buchstaben des hebräischen Alphabets zitiert: alef, beit: Lerne Vernunft; gimmel, dalet: sei wohltätig gegen die Armen. Weshalb ist das Füßchen des gimmel zum dalet gewendet? Weil es die Art des Wohltätigen ist, nach den Armen zu laufen. Weshalb ist das Füßchen des dalet zum gimmel gewendet? Weil dieser sich an ihn zu wenden hat. Weshalb ist das Gesicht des dalet vom gimmel abgewendet? Dass er ihm heimlich zu geben hat, damit dieser nicht beschämt werde.

Einzelne Buchstabengruppen werden als Symbole zentraler ethischer Werte der rabbinischen Tradition den Kindern ins Gedächtnis gerufen. Die Passage öffnet mit der Bemerkung, dass Knaben diesen Text in einem Lehrhaus vorgebracht hätten, was die These eines didaktischen Hintergrunds stärkt.

30 bT Menaḥ 29b.

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

Die andere Passage des Talmud, die Schriftzeichen thematisiert, ist eine aggadische Ausführung zu den Buchstaben jud und he, die wahrscheinlich wegen ihrer Präsenz im Gottesnamen ‫ יהוה‬eines besonderen Kommentars für würdig befunden wurden: Rabbi Aschi sagte: Ich beobachtete, dass korrekte Schreiber das Dach des ḥet höckerig machen und den Schenkel des he schwebend lassen. Sie machen das Dach des ḥet höckerig, dies bedeutet: er lebt [‫ ]חי‬in der Höhe der Welt; sie lassen den Schenkel des he schwebend, nach einer Frage, die R. Jehuda der Fürst an R. Ami richtete: „Worauf deutet der Schriftvers [Jes 26,4]: Vertrauet auf den Herrn immerdar, denn mit Jah [‫ ]יה‬ist der Herr ein Fels der Welten. Dieser erwiderte: „Wer auf den Heiligen, gepriesen sei er, vertraut, dem ist er ein Schutz auf dieser Welt und in der zukünftigen Welt.“ Jener entgegnete: „Ich frage Folgendes: weshalb heißt es mit Jah [‫ ]ביה‬und nicht Jah?“ Nach einer Auslegung des R. Jehuda b. R. Ileaj: Das sind die beiden Welten, die der Heilige, gepriesen sei er, erschaffen hat, die eine mit he und die andere mit jud. Ich würde nicht gewusst haben, ob die zukünftige Welt mit jud und diese [Welt] mit he, oder ob diese Welt mit jud und die zukünftige mit he [geschaffen wurde]. Daher heißt es [Gen 2,4]: Dies ist die Geschichte des Himmels und der Erde, als sie geschaffen wurden [behibaram]. Doch man lese nicht behibaram, sondern behe bera’am – „mit he erschuf er sie“. Weshalb wurde diese Welt mit he erschaffen? Weil sie einer Halle gleicht, wer hinausgehen will, gehe hinaus. Weshalb ist sein Schenkel schwebend? Tut er Buße, so lässt man ihn eintreten. […] Weshalb hat es eine Krone? Der Heilige, gepriesen sei er, sprach: „Tut er Buße, so will ich ihm eine Krone machen“. Weshalb wurde die zukünftige Welt mit einem jud erschaffen? Weil der darin befindlichen Frommen wenige sind. Weshalb ist sein Kopf gebeugt? Weil die Köpfe der darin befindlichen Frommen gebeugt sind, wegen ihrer Handlungen, die einander nicht gleichen.31

Dem Text geht eine Diskussion darüber voraus, welche Buchstaben des Pentateuch durch drei tagin gekrönt sein sollten, und es folgen Anweisungen zur richtigen Textgliederung eines sefer torah. Doch auch ohne diese explizite Kontextualisierung ist der enge Zusammenhang zwischen dem Schreiben einer Torarolle und religiös-ethischen Vorstellungen nicht zu übersehen. Eine der wichtigsten Inspirationen für die Schreiber in Frankreich und Deutschland des Mittelalters war neben den talmudischen Vorgaben das Alphabet des Rabbi Aqiva (Palästina 6–10 Jhd.), ein Midrasch, der in zwei unterschiedlichen Varianten überliefert ist.32 Die kürzere und vermutlich ältere Textversion ist im Zusammenhang mit der bereits zitierten didaktisch motivierten Passage aus dem Babylonischen Talmud (bT Šabb 104) zu betrachten, geht jedoch inhaltlich

31 bT Menaḥ 29b. 32 Saskia Dönitz, „Das Alphabet des Rabbi Aqiva und sein literarisches Umfeld“, in: Judaistik zwischen den Disziplinen. Jewish Studies between the Disciplines. Papers in Honor of Peter Schäfer on the Occasion of his 60th Birthday, hrsg. von Klaus Herrmann, Margarete Schlüter und Giuseppe Veltri, Leiden 2003, S. 149–179.

8.2 Antike Vorgaben zum Schreiben der Buchstaben 

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weit über eine schlichte, mit einigen wenigen Bemerkungen versehene Aufzählung der Buchstaben hinaus. Im Vergleich zu der später verfassten Version, die sich vor der früheren Version durch ihre vielfältigen Bezüge zur Hechalotmystik auszeichnet,33 orientiert sich die Interpretationsweise des älteren Textes noch viel stärker an den Formen der Buchstaben und tagin. Abgesehen von der Gestalt der Zeichen werden die Namen und die Stellung der Buchstaben im Alphabet ausgelegt und auf ihr Potential als Protagonisten der jüdischen Heilsgeschichte, als Zeugen des einzigen Gottes und dessen besonders innigen Verhältnisses zum Volk Israel sowie als Vertreter der rabbinischen ethischen Werte hin ausgelotet. Aus dieser aggadischen Perspektive verwandeln sich die Körper der Buchstaben in Erinnerungszeichen für einige wesentliche Elemente des jüdischen Glaubens und bilden in ihrer Gestalt ein in der rabbinischen Ethik tief verwurzeltes Geflecht von sinnbildlichen Konnotationen ab. Das alef erinnert beispielsweise an einen aufrecht stehenden Menschen, der mit erhobener Hand die Wahrheit Gottes bezeugt. Das gimmel „gleicht einem Mann, der einen Armen an der Tür sieht und in sein Haus hinein geht, um aus ihm Speise für den Armen herauszuholen“34. Die geschlossene Form des sameḥ bezeugt das Auserwähltsein des Volkes Israel, da die šechinah sich rings um die Israeliten gelegt habe, damit Gott sie „nicht vertauscht mit einem anderen Volke“35. Der Fuß des taw ist eingeknickt, da der Toraschüler „seine Füße krümmen muss, um sich mit der Tora zu beschäftigen“36 – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Es war vor allem dieser Abschnitt des Alphabet des Rabbi Aqiva B, der mit seiner stark am Bild orientierten Sprache viel Beachtung innerhalb der jüdischen Schreiberliteratur des mittelalterlichen Europas fand und kreativ rezipiert wurde. Daneben gibt es auch weitere Midraschim, die sich mit Elementen des Schriftbildes einer Tora auseinandersetzen. Doch im Gegensatz zu den Alphabetmidraschim des Rabbi Aqiva beschäftigen sich diese nur marginal in Form von knappen Sentenzen und Glossen mit den Elementen des Buchstabenkörpers. Da sind beispielsweise die Locken37 des Salomon, an deren schwarzer Pracht sich die Phantasie der Interpreten entzündete. Das vom Tau der Nacht noch glänzende Haar des Salomon (Midraš šir ha-širim rabba 5,2) mag durch seine Schwärze Assoziationen zu den ausschließlich mit schwarzer Tinte zu schreibenden Buchstaben

33 Auch diese magisch-liturgischen Aspekte der Henoch-Metatron Aufstiegsmystik waren in Aschkenas bekannt; vgl. Dönitz, „Das Alphabet des Rabbi Aqiva“, S. 8. 34 Alphabet des Rabbi Aqiva (ältere Rezension), übersetzt von Adolph Jellinek, in: August Wünsche, Aus Israels Lehrhallen, Bd. 4, Leipzig 1909, Neuauflage Hildesheim 1967, S. 181. 35 Alphabet des Rabbi Aqiva, S. 184. 36 Alphabet des Rabbi Aqiva, S. 186. 37 ‫ קוצותי‬Šir ha-širim rabba 5,2 / Midraš šir ha-širim rabba 5,11 ‫קוצותיו תלתלים‬.

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

der Tora und deren schnörkelhaften Verzierungen geweckt haben. Man bemerkte darüber hinaus, dass in dem hebräischen Wort qevuṣṣah – „Haarsträhne“ – die Konsonanten des Wortes qoṣ – „Dorn“ – stecken.38 Qoṣ ist der Terminus technicus für die sich zuspitzenden Verlängerungen an den Ecken bestimmter Buchstaben. Das Alphabet des Rabbi Aqiva enthält auch Bemerkungen zu den tagin, deren Form wie die Buchstabenkörper von den Autoren als ein ethischer Hinweis gelesen wird; beispielsweise mit Blick auf den Buchstaben zajin, der hier mit zwei tagin ausgestattet wird: Zajin – warum hat es zwei Krönchen, eins nach dem vav und eins nach dem ḥet gerichtet? Weil bei jedem Buhler, wenn er hinter einer Buhlerin geht, um sie zu beschlafen, das eine von seinen Augen nach der Sünde gerichtet ist. Deshalb ist das eine nach dem ḥet gerichtet, d. i. nach der Sünde und Übertretung. Und das andere ist nach den Menschenkindern gerichtet, welche dem Baume gleichen, wie es heisst [Deut 20,19]: Denn der Mensch ist ein Baum des Feldes. Vielleicht möchten die Menschenkinder ihn sehen und über ihn sprechen: Wehe, wehe N. N. geht zu der Buhlerin. Deshalb ist die eine (Krone) nach dem vav gerichtet.39

Es ist bemerkenswert, dass im räumlichen und zeitlichen Umfeld der Alphabetmidraschim des Rabbi Aqiva noch weitere Texte überliefert sind, die sich explizit mit Schreiberbelangen beschäftigen. Der Midraš ḥameš eśre neqqudot še-be-miqra40 notiert alle 15 Bibelstellen, in denen zusätzliche, nicht zum Vokalsystem gehörige Punkte tradiert sind; der Midraš otijjot qeṭannot ve-gedolot u-te’amim41 gibt eine Tradition über die vergrößerten und verkleinerten Buchstaben des Tanach wieder und behandelt die masoretischen Akzente; der Midraš Rabbi Aqiva ben Josef al ha-tagin42 betrachtet und kommentiert die tagin. Das Alphabet des Rabbi Aqiva, dessen Autoren sicherlich nicht zur masoretischen Elite gehörten, kann dementsprechend im äußeren Bereich eines Literaturkreises verortet werden, der professionellen Schreibern Richtlinien für das Kopieren der heiligen Schriften bot  – auch wenn in den Alphabetmidraschim eher der metaphysische Überbau der Schriftzeichen abgehandelt wird. Die frühe rabbinische Literatur legt facettenreiches Zeugnis über die ursprünglich enge Verbindung von Buchstabenmystik und Schreibpraxis ab. Die Idee eines göttlichen Alphabets, das in seinen Formen, der Reihenfolge seiner Elemente und der Anordnung seiner Verzierungen die göttliche, aber auch ideale menschli38 Midraš tanḥuma Genesis 1; Midraš vajiqra rabba 19; Midraš šemot rabba. 39 Alphabet des Rabbi Aqiva (ältere Rezension), übersetzt von August Wünsche, Aus Israels Lehrhallen, Bd. 4, Leipzig 1909, Neuauflage Hildesheim 1967, S. 182. 40 Solomon A. Wertheimer, Batei Midrašot, Nachdruck Jerusalem 1968, Bd. 2, S. 489–494. 41 Ebd., S. 475–488. 42 Ebd., S. 467–474.

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 

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che Ordnung widerspiegelt, entzündete sich direkt am Schriftbild bzw. aus dem Schreibprozess selbst heraus. Diese Beobachtung könnte auch zu einer neuen Sicht auf die Wurzeln der mittelalterlichen Sprachmystik führen.

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 8.3.1 Raschi und die Schule der tosafot Es waren die frühen Rechtsgelehrten des mittelalterlichen Frankreichs und Deutschlands, die rišonim, die die exakten Formen jedes einzelnen Buchstabens des hebräischen Alphabets für das Kopieren der STaM verbindlich festlegten und damit ein ganz eigenes Genre hervorbrachten. Sie schufen einen Formenkanon, der in seiner Detailfreude weit über die rabbinischen Vorlagen der Antike hinausgeht. Bereits Raschi und die ihm folgende Schule der Tosafisten begannen die Vorgaben hinsichtlich der Buchstabenformen zu erweitern und zu präzisieren. Sie schufen damit einerseits ein halachisches Grundgerüst für die Schreibpraxis. Andererseits waren ihre Schriften eine maßgebliche Vorlage für theologische, mystische oder philosophische Spekulationen, deren Ausgangspunkt immer die Gestalt der Schriftzeichen ist.43 Raschi behandelt in seinen Kommentaren zum Talmud zwar noch nicht das vollständige Alphabet, doch er überrascht durch die Herstellung eines interessanten Zusammenhangs, der in dieser Form neu war. Zunächst kommentiert der einflussreiche Exeget die weiter oben teilweise zitierten Anmerkungen des Talmud (bT Šabb 103b) zu den korrekten Buchstabenformen mit der zutreffenden Bemerkung, dass sich diese im Talmud gegenübergestellten Buchstaben  – wie das alef und ajin, das beit und das kaf oder das zajin und das nun  – sehr ähneln und deshalb beim Schreiben mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht werden sollen.44 Das im Talmud (bT Šabb 104a) folgende Lehrgedicht, das die Buchstaben und ihre Gestalt als Träger religiös-ethischer Werte ins Gedächtnis ruft (vgl. Kapitel 8.2.2), referiert Raschi äußerst knapp ohne bemerkenswerte Hinzufügungen. Doch mit Blick auf das offene und geschlossene (Schluß-)mem führt er die vagen talmudischen Andeutungen über eine „offene und geschlossene Lehre“ mit der Bemerkung aus, dass „es Dinge gibt, die erklärt werden dürfen“, dass man jedoch „die Pflicht [habe,] zu verheimlichen, was mit der ma‘aśeh mer-

43 Vgl. Raschi zu bT Menaḥ 29b, Šabb 103b und 104a; Tosafot zu bT Šabb 104a. 44 Raschi zu bT Šabb 103b.

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kawah“  – den Spekulationen um den göttlichen Thronwagen  – zu tun habe.45 Raschi bezieht sich hier explizit auf die rabbinische Idee einer ausschließlich mündlichen, von einer Generation zur nächsten überlieferten esoterischen Tradition. Während halachische und aggadische Elemente dieser „mündlichen“ Tora durchaus schriftlich niedergelegt wurden, gab es Beschränkungen für Spekulationen über Kosmogonie (ma‘aśeh berešit) und Kosmologie (ma‘aśeh merkawah) sowie für die Diskussion von Inzestgesetzen.46 Um diese Themen vor unqualifizierten Spekulationen und magischem Missbrauch zu schützen, etablierten die Rabbinen ein exklusives Lehrer-Schüler-Verhältnis, welches einerseits das Tradieren religiösen Wissens sicher stellen sollte und andererseits gewährleistete, dass möglichst wenig von dem vermittelten Wissen an die Öffentlichkeit gelangte. Dies geschah durch die Einschränkung der Schülerzahl und die Komprimierung gewisser Lehren in konzentrierten Inhaltsangaben (rošei peraqim). Mit der ma‘aśeh merkawah ist aber auch die Tradition der Hechalotmystik verbunden, die großen Einfluss auf die aschkenasische Ideengeschichte hatte, da sie zu einem wesentlichen Teil durch ihre Rezeption in den Schriften der Ḥasidei Aškenaz überliefert wurde.47 Die magische Macht der Buchstaben und göttlichen Namen, Spekulationen über das Maß der Gestalt Gottes (ši‘ur qomah) sowie über den Thron der Herrlichkeit (kisse ha-kawod) sind Konzepte der Aufstiegsmystik der Hechalot-Literatur, die das Denken der deutschen Frommen wesentlich mitbestimmten. Rabbinischen Autoritäten, insbesondere Raschi, wurde von Seiten der Forschung zunächst kaum Interesse an diesem Literaturkreis zuerkannt.48 Doch Forscher wie Ephraim Kanarfogel konnten überzeugend darlegen, dass Raschi wie viele andere rabbinische Autoritäten aus Frankreich und Deutschland, einige Zeugnisse der mystischen Literatur der Antike gut kannte.49 Raschi studierte Ende der 1060er Jahre in den berühmten Schulen von Mainz und Worms und hatte dementsprechend hinreichend Gelegenheit, sich mit den in dieser Region ausbreitenden mystischen Lehren vertraut zu machen. Einige seiner Vorgänger in Mainz waren „stark in das Studium der Mystik und der mystischen Lehren und

45 Raschi zu bT Šabb 104a. 46 Vgl. bT Ḥag 13a. 47 Forschungsliteratur dazu siehe Ephraim Kanarfogel, „Peering through the Lattices“. Mystical, Magical, and Pietistic Dimensions in the Tosafist Period. Detroit 2000, S. 28, Anm. 25. 48 Ebd., S. 19–31. Vgl. mit Blick auf Raschi u. a. Josef Dan, „Rashi and the Merkavah“, in: Rashi 1040–1990: Hommage à Ephraïm Urbach. Congrès européen des études juives, hrsg. von Gabielle Sed-Rajna, Paris 1993, S. 259–264. 49 Kanarfogel, „Peering through the Lattices“, S. 144–153; ders., „Rashi’s Awareness of Jewish Mystical Literature and Traditions“, in: Raschi und sein Erbe, S. 23–34; Gabielle Sed-Rajna (Hrsg.), Rashi, 1040–1990: Hommage à Ephraïm Urbach. Congrès européen des études juives, Paris 1993.

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 

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Rituale involviert“50. Dazu gehören Rabbi Schimon ben Isaak ha-Gadol, der Ende des zehnten und Anfang des elften Jahrhunderts in Mainz unterrichtete und vielfältige Spuren mystischer Vorstellungen in seinem Werk hinterließ,51 oder Rabbi Eliezer ha-Gadol, der von den Ḥasidei Aškenaz rezipiert wurde.52 Raschis Lehrer in Mainz, Rabbi Jakob ben Yakar schrieb einen esoterischen Kommentar zum Sefer jeṣirah, einem enigmatischen Werk der Antike, das Kabbalisten, Poeten, Philosophen und Naturwissenschaftler gleichermaßen in seinen Bann zog. Es ist daher nicht erstaunlich, dass in Raschis exegetischem Kosmos auch esoterische Traditionen auftauchen, die über das talmudische bzw. rabbinische Material hinausweisen.53 Dazu gehört der Verweis auf die ma‘aśeh merkawah in Raschis Kommentar zu den Buchstabenformen (bT Šabb 104a), aber auch die explizite Anspielung auf den Sefer jeṣirah im selben Abschnitt, wenn es um die Buchstabenkombinatorik nach dem Prinzip AT BaŠ geht.54 Im Kommentar zu bT Menaḥot 29b, wo ebenfalls die Buchstaben und tagin behandelt werden, kommentiert Raschi den rabbinischen Exkurs zu den Zeichen jud und he als Erschaffer dieser und der zukünftigen Welt: „Teile seinen [des Buchstabens jud] Namen und lasse aus jedem Buchstaben drei Tropfen fallen und aus diesen Tropfen ist Wasser, Feuer, Luft und die Gesamtheit der Welt gemacht, so wie es im Sefer jeṣirah geschrieben steht“55. Das Bemerkenswerte an Raschis Bezug zum Sefer jeṣirah in diesem konkreten Schreibzusammenhang ist die Tatsache, wie selbstverständlich der französische Gelehrte die in der Antike hergestellte magische Aura der Buchstaben und Sonderzeichen für die STaM beibehält bzw. neue mystische Konnotationen herstellt. Sprachmystik – das werden die folgenden Ausführungen zeigen – bleibt in der mittelalterlichen jüdischen Kultur Frankreichs und Deutschlands mit der Schreibpraxis der STaM verknüpft. Eng an die materialen Gestalten der Schrift-

50 Kanarfogel, „Rashi’s Awareness“, S.  26, Anm.  20 und 21; Avraham Grossman, Early Sages of Ashkenaz. Their Lives, Leadership and Works (900–1096) [Heb.], Jerusalem 1981, S.  76–80, 86–88, 94, 100–101, 162–164, 229–230, 293–295, 390–391. 51 Vgl.  Pijjutei R. Schimon b. Jizḥaq, Avraham M. Habermann (Hrsg.), Jerusalem 1938, S.  43, 58–59, 98. 52 Kanarfogel, „Rashi’s Awareness“, S. 27, auch Anm. 28 und 29. 53 Vgl. u. a. Moshe Idel, Golem. Jewish Magical and Mystical Traditions on the Artificial Anthropoid, New York 1990, S. 213–227; Gershom Scholem, Pirqei jesod be-hawanat ha-qabbalah u-semalehah, Jerusalem 1976, S.  391; Yehudah Liebes, Torat ha-jeṣirah šel sefer jeṣirah, Jerusalem 2000, S. 65–71. 54 Bei dieser Methode werden der erste mit dem letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets, der zweite mit dem vorletzten Buchstaben usw. ausgetauscht. 55 Raschi zu bT Menaḥ 29b.

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zeichen gebunden treibt sie in deutlicher Abgrenzung zur spekulativen Kabbala hier neue Blüten. Rabbenu Tam behandelt in seiner Abhandlung Tiqqun sefer torah56 einige Buchstaben und Sonderzeichen, geht dabei aber bezüglich der korrekten Ausführung der Quadratschrift wie sein berühmter Großvater Raschi kaum über das rabbinische Material der Antike hinaus. Im Maḥzor Vitry, der neben den Erläuterungen des Simchah ben Samuel aus Vitry auch Standpunkte späterer Tosafisten wie Rabbenu Tam enthält, sind die Buchstaben ḥet, qof, ṭet und pe wegen ihrer speziellen, ähnlich geformten Gestalt noch einmal gesondert besprochen. Allerdings ist bereits von verschiedenen regionalen Schreibtraditionen die Rede. Das weit verbreitete Werk erwähnt unterschiedliche Schreibweisen des gewickelten ṭet und pe in Spanien und Frankreich.57 Auch Eliezer ben Samuel aus Metz (gest. 1198), ein wichtiger Schüler des Rabbenu Tam, macht auf die leicht gekrümmte Schreibweise des alef, so wie er es „in Spanien gesehen“ habe58, und damit auf eine etwas auseinanderlaufende Schrifttradition aufmerksam. Er führt in seinem Sefer jere’im dem Leser die Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen und Unterschiede der Buchstabenpaare alef und ajin, dalet und gimmel und der geschnörkelten Buchstaben kaf, ṭet und pe, sowie das unbedingt freischwebend zu haltende, in die richtige Länge gezogene Bein des qof vor Augen. Eliezer geht kaum über den rein technischen Aspekt des Schreibens hinaus, wenn er Schreiber der STaM beispielsweise darauf hinweist, dass sich „der Körper des alef ein wenig zur rechten Seite neigen“59 sollte, da es sonst leicht mit dem nach links gebeugten ajin zu verwechselt wäre. Er erörtert die Tradition, das kaf[sofit], das ṭet und das pe gekrümmt und mit einem Kringel versehen zu schreiben und warnt auch hier vor undeutlichen, zu Verwechslungen führenden Varianten. Der Schriftgelehrte betont, dass die sieben im Talmud genannten Buchstaben mit drei tagin [‫ ]זיונין‬zu versehen sind, die dem Buchstaben zajin gleichen sollen. Das bedeute, dass „die Köpfe derselben nicht rund, sondern gestreckt“ zu schreiben sind: Ich habe Menschen gesehen, die die tagin auf š‘aṭnz gṣ [mit drei verbreiterten Punkten auf jedem einzelnen Strich] gemacht haben, doch sie liegen falsch, denn es kam und lehrte uns

56 Abgedruckt in Ginzei Jerušalajjim: Qoveṣ divrei torah ve-ḥochmah meliṣah va-šir, ve-korot ha-jehudim be-jemei kedem, hrsg. von Simon Aaron Wertheimer, Jerusalem 1896, Bd. 1, S. 10–19 und Maḥzor Vitry, Abschnitt 517. 57 Maḥzor Vitry, Abschnitt 515. 58 Eliezer ben Samuel aus Metz, Sefer jere’im, Abschnitt 399. 59 Eliezer ben Samuel aus Metz, Sefer jere’im, Abschnitt 399.

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 

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Raba [bT Menaḥ 29b] die Buchstabenkörper und wie sie gemäß der Lehre Moses vom Sinai geschrieben werden sollten.60

Einige Schreiber verwandelten den eigentlich quadratischen Kopf des zajin in einen dekorativen Kreis. Im 12. Jahrhundert häuften sich nicht nur mit Blick auf die Quadratschrift die Klagen über unterschiedliche Schreibtraditionen. Aufs engste mit den Buchstabenformen verbunden gelangten die Krönchen verstärkt in den Fokus der rabbinischen Diskussionen. (Abb. 28) Wie aus dem Kommentar der Tosafisten zu Menaḥot 29b hervorgeht, stand auch die Platzierung der tagin auf den sieben vom Talmud genannten Buchstaben šin, ajin, ṭet, nun, zajin, gimmel und ṣade [finalis] zur Disposition: Ša‘aṭnez gaṣ: Es gibt jene, die erklären die drei zajin [wie folgt]: zwei auf der linken Seite – eines oben und eines unten – und eins auf der rechten Seite wie hier [siehe Abb. 28] doch im Kommentar zu Šabbat zeichnete sie Raschi handschriftlich mit einem auf der rechten, einem auf der linken und einem oben drauf wie hier [siehe Abb. 28] und schließlich gibt es jene, die alle drei oben drauf machen wie hier [siehe Abb. 28].61

Abb. 28: Tosafot zu Menaḥot 29b (Amsterdam, 1765).

Offensichtlich gab es unterschiedliche Traditionen, die Verzierungen auszuführen. Die erste Variante wäre eine Verlängerung der beiden linken Ecken und der oberen rechten Ecke des kleinen Quadrats auf dem Bein des Buchstabens zajin durch feine Striche. Mit Blick auf die von Yardeni diskutierten Anfänge der Verzierungstradition in den Torarollenfragmenten der Kairoer Genizah (7./8. Jhd.), wo manche Buchstabenecken wie Dornen – qoṣim – in die Länge gezogen sind, könnte die These angenommen werden, dass diese von den Tosafisten beschriebene Variante eine ursprünglichere Praxis ist. Die Abbildungen – hier im Wiener

60 Eliezer ben Samuel aus Metz, Sefer jere’im, Abschnitt 399. 61 Tosafot zu Menaḥot 29b.

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Druck des Verlegers Joseph Hraschanzky aus dem Jahre 1791–1797 – zeigen, dass die beiden anderen Varianten sich lediglich durch die Neigung der äußeren tagin, die hier alle drei nach oben gerichtet auf dem Dach des Buchstabenquadrats stehen, voneinander unterscheiden. Baruch ben Isaak aus Worms beschreibt in seinem Sefer ha-terumah die Position der tagin noch etwas differenzierter: Ša‘aṭnez gaṣ: diese sieben Buchstaben benötigen drei zajin in jedem sefer torah. Das šin muss an dem dritten Kopf mit drei tagin [gekrönt werden], das ajin, ṭet und ṣade auf dem zweiten Kopf mit zwei tagin. Doch auf dem ersten Kopf eines Buchstabens [mit mehreren Köpfen] muss es nichts dergleichen geben. […]62

Baruch ben Isaak fährt mit den Möglichkeiten der Krönung des Wortes šma des šma jiśra’el fort und berichtet von unterschiedlichen Schreibweisen, die ausschließlich die Buchstaben šin und ajin in diesem Wort betreffen. Der Gelehrte bezeugt große tagin, die „wie Stäbe“ aussähen und den Brauch, alle drei Köpfe des šin und beide Köpfe des ajin zu krönen. Andere machten nicht nur einen großen tag in der Mitte des Buchstabenkopfes, sondern fügten links und rechts kleine tagin zu dem großen hinzu. Baruch ben Isaak schließt mit der Bemerkung, dass es letztlich dem Schreiber obläge, welche Art der Krönung er vornimmt: Es gibt Schreiber, die den Qulmus diagonal halten und die zijjunim werden dann  – wie unser Rabbi Schlomo [Raschi] sagt – Teil des Geschriebenen selbst. […] Doch heute, da die Schreiber ihre Schriften verziert haben, indem sie die Köpfe der Buchstaben oben gerade machen, ist es gut, die drei zijjunin nach dem Schreiben [des Buchstabens] hinzuzufügen.63

Hier spricht Baruch eine ältere Schreibtradition an, in der die zijjunim  – ein anderer Begriff für tagin, welche die Gestalt des Buchstabens zajin haben sollten – ohne das Schreibgerät abzusetzen mit einer Handbewegung über die Ecken der Buchstaben hinausgezogen werden. Dabei fallen die horizontalen Linien etwas nach hinten ab.

62 Baruch ben Isaak aus Worms, Sefer ha-terumah, Hilchot sefer torah, Abschnitt 201. 63 Baruch ben Isaak aus Worms, Sefer ha-terumah, Hilchot sefer torah, Abschnitt 201. Es wäre sicherlich lohnenswert, die handschriftlichen Zeugnisse der halachischen Ausführungen zu den möglichen Formen der tagin einer eigenen Untersuchung zu unterziehen, da hier die von den Autoren und Kopisten vorgegebenen Bildbeispiele ein breites Spektrum der Schreibtradition abbilden. Siehe auch die Dissertation von Mark Fernadi-Jerusalmi, A Historical Analysis of the Differences between Ashkenazic Scribal Styles, namely, the Arizal and the Beth Yosef.

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 

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Wie bei diesem šin in einer der Erfurter Torarollen (Ms. or. fol. 1218) Eine waagerechte Linie bietet dagegen den idealen Platz für drei nach oben ragende tagin, die – wie in einigen mittelalterlichen Artefakten gut nachzuvollziehen ist – nachträglich auf den jeweiligen Buchstaben gesetzt sind. Baruch war es auch, der die Bedeutung des Buchstabennamens zajin aufgriff und mit dem Schmuck der Zeichen š‘aṭnz gṣ assoziierte; sie seien „wie ein Mensch, der eine Waffe [‫ ]זין‬hält und sie rechts, links und vor sich erhebt“64.

Wie bei diesem šin in einer der Erfurter Torarollen (Ms. or. fol. 1215) Der Sefer ha-terumah des Baruch ben Isaak ist eine auch in der Neuzeit viel zitierte Quelle der Schreiberliteratur aus dem geistigen Umfeld der Tosafisten, wenn es um die korrekten Buchstabenformen geht.65 Baruch arbeitet zunächst vergleichend mit den sich ähnelnden Buchstabengruppen, dem alef und ajin, beit und kaf, reš und dalet, he und ḥet, gimmel und ṣade, mem-sofit und sameḥ, dem ṭet und dem gekringelten pe. Der Talmudgelehrte erweitert das gewöhnliche Repertoire seiner Vorgänger allerdings um weitere Buchstaben, deren Gestalt er ebenfalls detailliert beschreibt. Darüber hinaus verbindet Baruch ben Isaak das rein halachische Material zu den exakten Formen der Schriftzeichen mit ethisch-mystischen Spekulationen der antiken rabbinischen Literatur und den entsprechenden Konnotationen aus dem Alphabet des Rabbi Aqiva in einer bis dahin nicht gekannten Ausführlichkeit. Damit markiert das halachische Regelwerk Sefer ha-terumah den Beginn eines verstärkten Bemühens, alle Buchstaben des hebräischen Alphabets für das Schreiben der STaM in einen strikten Formenkanon zu bannen. Darüber hinaus zog Baruch ben Isaak das bereits in der Antike angelegte 64 Baruch ben Isaak aus Worms, Sefer ha-terumah, Hilchot sefer torah, Abschnitt 201. 65 Baruch ben Isaak aus Worms, Sefer ha-terumah, Hilchot sefer torah, Abschnitt 201, Hilchot Tefillin, Abschnitt 213.

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Band um Schrifttradition und Sprachmystik enger und wirkte damit sicherlich inspirierend auf folgende Generationen von Halachisten und Schreibern.66 Als letztes Zeugnis aus dem Umfeld der Tosafisten für die subtile Verbindung von Halacha und Aggada im Schreibzusammenhang soll noch einmal der Sefer or zaru‘a des Rabbi Isaak ben Moses aus Wien herangezogen werden. Rabbi Isaak verbindet in seinem Opus Magnum im Abschnitt über die Gesetze zur Herstellung der Tefillin Vorschläge zur Ausbesserung (tiqqun) einiger Buchstaben mit einer Beschreibung der korrekten Buchstabenformen und den dazugehörigen Krönchen. Er referiert im Wesentlichen die Vorgaben der antiken rabbinischen Autoritäten, der Geonim und einiger Tosafisten, ohne etwas bemerkenswert Neues hinzuzufügen.67 Eine Buchstabenbehandlung ganz anderer Art präsentiert Rabbi Isaak jedoch gleich zu Beginn seines enorm einflussreichen Werkes. Hier erfährt jeder einzelne Buchstabe eine aggadische Deutung nach dem Vorbild des Alphabets des Rabbi Aqiva, das Rabbi Isaak neben dem Sefer jeṣirah mehrmals als seine Inspirationsquelle angibt.68 Thematisch orientiert sich Rabbi Isaak im Wesentlichen an seiner spätantiken Vorlage, dem Alphabet des Rabbi Aqiva, in dem Torafrömmigkeit, Gotteslob und das Schicksal des Volkes Israel im Zentrum stehen. Darüber hinaus sind Motive aschkenasischer „Sod-Literatur“ in seinen Buchstabenmidrasch eingeflossen, die Forscher zu der Annahme veranlassten, der Tosafist sei von Autoren aus dem Umfeld der Ḥasidei Aškenaz  – etwa von Jehuda he-Ḥasid und Eleazar aus Worms – beeinflusst worden.69 Auch Ephraim Kanarfogel ist von Rabbi Isaaks Affinität zu esoterischen Strömungen seiner Zeit überzeugt und weist auf Aspekte chassidischer Gebetsformen innerhalb des 66 Abraham ben Isaak aus Narbonne geht kaum auf das Schriftbild, die Buchstaben und Sonderzeichen ein. (Abraham ben Isaak aus Narbonne, Sefer ha-eškol, Hilchot sefer torah, Abschnitt 56b, 57b, 58a); Rabbi Moses ben Jakob aus Coucy fasst dieses Themenkapitel genauso knapp zusammen. (Moses ben Jakob aus Coucy, Sefer miṣvot gadol, Abschnitt 25); Auch Aaron ben Jakob ha-Kohen erweitert die talmudischen Vorgaben nicht. (Aaron ben Jakob ha-Kohen, Orḥot ḥajjim, Halachot Tefillin, Abschnitt 1). 67 Isaak ben Moses, Sefer or zaru‘a, Hilchot Tefillin, Abschnitte 547 (tiqqun jud), 548 (tiqqun he), 549 (tiqqun ḥet), 551 (tiqqun dalet), 552 (tiqqun qof), 550 (der Fall des gelöcherten he), 553 (Abstände zwischen den Buchstaben). 68 Isaak ben Moses, Sefer or zaru‘a, Hilchot Tefillin, Abschnitte 1, 21, 28, 33. An dieser Stelle bemerkt Isaak ben Moses quasi im Vorübergehen, dass „aus dem Sefer jeṣirah und dem Alphabet des Rabbi Aqiva hervorgeht [dass die Buchstaben] he vav den unausprechlichen Namen auszeichnen, durch den die Welt geschaffen wurde“. (Abschnitt 28). 69 Bereits Urbach bemerkte, dass der Alphabetmidrasch am Anfang des Sefer or zaru‘a bezeuge, dass Rabbi Isaak ein Schüler von Rabbi Jehuda he-Ḥasid und Eleazar aus Worms, der sein halachisches Werk ebenfalls mit einer ethisch motivierten Einleitung begann, gewesen sei. Vgl. Ephraim E. Urbach, Ba’ale ha-tosafot, Jerusalem 21980, Bd. 1, S. 439; Kanarfogel, „Peering through the Lattices“, S. 222, Anm. 4.

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Buchstabenmidraschs hin, als deren Quelle die in Aschkenas stark rezipierte Hechalot-Tradition betrachtet werden könne.70 Die zahlreichen Buchstabenkombinationen, Gematriot und Formen des Notarikon, die Rabbi Isaak als esoterische Methoden der Schriftauslegung spielerisch zur Anwendung bringt, bezeugen auch den Rückgriff auf sprachmystische Spekulationen zeitgenössischer Autoren.71 Die Grenzen zwischen dem Religionsgesetz, aggadischen Elementen und mystischen Spekulationen – das kann abschließend festgestellt werden – beginnen in den Ausführungen der Tosafisten zur Herstellung der STaM ineinander zu fließen.

8.3.2 Menachem ben Solomon Meiri zu den Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot Auch die Rechtsgelehrten Südfrankreichs und Nordspaniens äußerten sich mit Sorge über unterschiedliche Varianten, die sich in die Schreibpraxis eingeschlichen haben. Sie empfanden die Entwicklung regionaler Eigenheiten, die übrigens auch anhand der wenigen überlieferten Torarollen aus dem Mittelalter nachvollzogen werden können,72 als Bedrohung für die unveränderliche Gestalt eines sefer torah. Menachem ben Solomon Meiri gibt dieser Sorge in seinem Schreiberhandbuch Qirjat Sefer beredten Ausdruck. Wie bereits in Kapitel  4.5.4 dargelegt, beklagte er sich im Vorwort über die vielen unterschiedlichen Lehrmeinungen und Vorlagen zur Herstellung einer rituell einwandfreien Torarolle. Auch das uneinheitliche Schriftbild ist Menachem ein Dorn im Auge. Der erste Teil des zweiten Kapitels widmet sich den Formen der Schriftzeichen. Menachem fasst – ähnlich wie Judah ben Barzillai73 in seinem Werk Ginzei miṣrajim: Hilchot sefer

70 Kanarfogel, „Peering through the Lattices“, S. 222, Anm. 5. 71 Ebd., Anm. 4. 72 Die wohl älteste vollständig erhaltene Torarolle, die in der Universitätsbibliothek von Bologna aufbewahrt wird, stammt aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Sie hat die Jahrhunderte in christlichem Besitz u. a. im dominikanischen Konvent San Domenico in Bologna überdauert. Der Schreiber dieses sefer torah orientierte sich am Sefer tagin, fügte aber auch von diesem Standardwerk abweichende Elemente sowie besondere Versionen der Buchstaben lamed, nun und ajin und andere Sonderzeichen hinzu. Vgl. Mauro Perani, „Textual and Para-textual Devices of the Ancient Proto-Sefardic Bologna Torah Scroll“, in: The Ancient Sefer Torah of Bologna, hrsg. von Mauro Perani, Leiden/Bosten 2019. 73 Elchanan N. Adler (Hrsg.), Ginzei miṣrajim: Hilchot sefer torah, Oxford 1897, S. 32–34.

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torah – zunächst die bekannten antiken Vorgaben zu den ähnlichen Buchstaben zusammen, wobei er sehr sparsam auf aggadische Elemente zurückgreift. Kein Schriftzeichen darf an irgendeiner Stelle das benachbarte Zeichen berühren. Die korrekte Ausführung der variantenreichen Verzierungen scheinen Menachem dabei besonders am Herzen gelegen zu haben: Und daher solltest du wissen, dass sich eine alte Tradition in der Hand der akkuraten Schreiber befindet, von einem Mann zum anderen Mann mündlich weitergegeben, zurückreichend bis zu Ezra dem Schreiber, und von Ezra zurückgehend auf Moses, gesegnet sei er. Es gibt innerhalb einer Torarolle gewisse Buchstabenabweichungen der unterschiedlichsten Art. Es ist empfehlenswert, diese [Abweichungen der Buchstaben] als ein Gesetz genau zu verfolgen, obwohl eine nicht genaue [Wiedergabe der Tradition eine Torarolle] nicht [für den rituellen Gebrauch] disqualifiziert. Es gibt Gewickelte (‫)לפופות‬, Gekrümmte (‫)עקומות‬, Gekrönte (‫)מנוזרות‬, Gerollte (‫)מעגלות‬, Abgespreizte (‫)דפתיות‬, Zurückgesetzte (‫ )דחויות‬und Hängende (‫ )תלויות‬und die, deren Form schlecht geraten ist. Die Erklärung dieser Zeichen ist: Die lefufot sind jene feinen Kreise inmitten eines Buchstabens, einer mit dem anderen verbunden, so wie die Ineinanderwicklung zweier Dinge. Wie gesagt ist: „gewickelter Säugling“ [lefufi jenuqa]. Diese [Form der Verzierung] kommt meist bei den [Buchstaben] pe und ṭet vor. Aqumot heißt es, wenn ein Buchstabe etwas gekrümmt ist, so wie das ḥet in [Ex 32,10] ‫ויחר‬-‫ – אפי‬mein Zorn brennt – wie Moses im Zuge der Ereignisse um das goldene Kalb spricht. Es [das ḥet im Wort vejiḥar] ist vollständig gekrümmt genau wie das Wort ‫ – חטאה‬Sünde. Deḥujot sind jene [Zusätze] die hauptsächlich gerade Buchstaben betreffen, doch wo der Strich gekrümmt und unterhalb der Hauptlinie des Buchstabens weitergezogen ist, wie bei dem qof in ‫[ בקמיהם‬Ex 32,25] in der Geschichte vom goldenen Kalb, wo das qof hauptsächlich wie gewohnt [geschrieben ist], doch die [gewöhnlich gerade nach unten gehende] Linie ist außergewöhnlich [lang und gekrümmt]. Telujot sind da, wo ein Buchstabe nach oben oder nach unten vergrößert ist und dessen Ausmaß über die gewöhnliche Grundlinie der restlichen Buchstaben hinausgeht, wie das vav in ‫[ גחון‬Lev 11,42] […]. Es gibt diejenigen [die sagen], die menuzarot leiten sich von dem Ausdruck ‫ – נזרו אחור‬sie sind nach hinten abgewandt [Jes 1,4] – ab und [damit sind] die umgekehrten nun [gemeint], von denen es zwei in der Tora gibt – eines vor ‫ – ויהי בנסוע‬und als [die Bundeslade] weiterzog – [Num 10,35] und eins am Ende [des Verses]. Es gibt auch jene, [die den Begriff menuzarot von der Wurzel] ‫„ נזר‬Krone“ herleiten. Und es gibt ein [Zeichen] mit der Form des [Akzentzeichens] teliša manchmal am Kopf, manchmal am Fuß, manchmal am Kopf und Fuß [eines Buchstabens] wie am ajin [des Wortes] ‫ – תעשנה הדבורים‬wie die Bienen tun [Deut 1,44]. Doch ich nenne diese [Buchstaben] muzraqot [abgeleitet von dem Akzent] ‫זרקא‬. Es gibt [Zeichen] von dieser Art, die ich megulot nenne und diese sind sehr kleine Kreise. […] Manche verstehen unter [dem Begriff] daftijot ein tag, das am Kopf eines Buchstabens nach zwei Seiten – nach oben und nach unten neigt, und zwar meist am Buchstaben jud […]. Ich lernte aus dem Mund eines großen Gelehrten, dass es der Buchstabe jud ist, der am Kopf und am Fuß nach hinten weg gekrönt wird. Und tatsächlich fand ich [ein solches jud] im Vers [Gen 14,15] ‫ויחלק עליהם לילה‬, dem jud des [Wortes] ‫ ויחלק‬in einer Torarolle von hoher Akkuratesse […] und so an vielen anderen Stellen.

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Doch für all diese [Verzierungen] gibt es bei uns keine Verpflichtung und keine festgelegte Weise, sondern nur eine mündliche Kunde dessen, was Schreiber in akkuraten Torarollen über Jahre hinweg gefunden haben.74

Das Schreiberbuch Qirjat sefer von Rabbi Menachem ha-Meiri präsentiert bezüglich der Sonderzeichen eine andere Tradition als der Sefer tagin, der durch seine Aufnahme im einflussreichen Maḥzor Vitry eine viel breitere Leserschaft als das eher wenig rezipierte Schreiberbuch des Meiri in Aschkenas fand.75 (Abb. 29–34)

8.3.3 Die Schule des Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg Der Prozess einer sukzessiven Kanonisierung der Buchstabenformen und tagin, wie er im Umfeld der Tosafisten vom 12. zum 13. Jahrhundert zu beobachten ist, setzte sich in den religionsgesetzlichen Zentren Deutschlands fort und fand in der Schule des Rabbi Meir aus Rothenburg einen Höhepunkt. Ein herausragendes Zeugnis dieser Entwicklung ist das Kommentarwerk Haggahot Maimunijjot des wohl wichtigsten Schülers des Maharam, Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg (ab hier: Meir ha-Kohen). Neben Glossen des Meir ha-Kohen zu Maimonides’ Mišneh torah enthält das Werk zahlreiche Responsen und Exzerpte halachischer Positionen französischer und deutscher Gelehrter, darunter auch Responsen des Maharam.76 Meir ha-Kohen führt in seinem Werk halachische und aggadische Elemente der rabbinischen Diskussionen um die Buchstabenformen für das Schreiben der heiligen Schriftrollen systematisch zusammen.77 Dabei widmet er sich beinahe allen Buchstaben mit einer akribischen Beschreibung ihrer korrekten Gestalt und ergänzt – nach Maimonidischem Vorbild – Empfehlungen für die Platzierung und die Anzahl der tagin. Es ist bemerkenswert, mit welcher Detailfreude Meir ha-Kohen die Buchstaben zunächst in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt und diese mit Angabe der idealen Neigung und Position zueinander wieder zusammensetzt. Weniger systematisch, aber ebenso auf Genauigkeit achtend behandelten die bereits erwähnten Gelehrten Rabbi Ascher ben Jehiel Aschkenazi (Ascheri oder

74 Ebd., Kapitel 2a. 75 Vgl. Hubmann und Oesch, „Betrachtungen zu den Torarollen“, S. 104; Moses Gaster, The Tittled Bible. A Model Codex of the Pentateuch, London 1929, S. 18. 76 Vgl.  Joseph Isaac Lifshitz, Rabbi Meir of Rothenburg and the Foundation of Jewish Political Thought, Cambridge 2016, S. 21. 77 Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg, Haggahot Maimunijjot, Hilchot tefillin, ve-mezuzah, ve-sefer torah, Abschnitt 1.

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

Abb. 29: Tagin und otijjot mešunnot in der Torarolle Ms or fol 1215 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).

Rosch, gest. 1327)78 und Rabbi Mordechai ben Hillel ha-Kohen (gest. 1298)79 die Schriftzeichen, wobei sie jedoch kaum von den Positionen ihrer Lehrer abwichen.

78 Ascher ben Jehiel, Halachot qeṭannot, zu Menaḥot, Abschnitte 12 und 13. 79 Mordechai ben Hillel ha- Kohen, Halachot qeṭannot, zu Menaḥot Abschnitte 953 und 954.

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 

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Abb. 30: Tagin und otijjot mešunnot in der Torarolle Ms or fol 1216 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).

Letztlich war es Rabbi Abraham ben Moses aus Sinsheim, der das Streben der aschkenasischen Rechtsgelehrten nach einem verbindlichen Formenkanon mit einer systematischen Abhandlung aller Buchstaben zu einem ersten Abschluss brachte. Die Ausführungen des Rabbi Abraham können aufgrund ihrer Vollständigkeit und der ausschließlich für Schreiberbelange ausgelegten Anlage als Grund-

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

Abb. 31: Tagin und otijjot mešunnot in der Torarolle Ms or fol 1217 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).

stein für ein gänzlich neues Genre betrachtet werden, nämlich für die stark an der religiösen Praxis orientierten Handbücher, die ab dem späten 14. und 15. Jahrhundert eine Blütezeit in Europa erlebten.80 In seinem Sefer tiqqun tefillin beschreibt 80 Vgl. Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 32013, S. 31 f.

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 

 241

Abb. 32: Tagin und otijjot mešunnot in der Torarolle Ms or fol 1218 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).

Rabbi Abraham mit großer Liebe zum Detail auch alle diejenigen Buchstaben, die nicht im Verdacht der leichten Verwechselbarkeit standen, etwa das lamed, ṣade, šin oder nun. Darüber hinaus weist er auf bis dahin nicht beschriebene Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Zeichen hin, wie beispielsweise zwischen dem vav, dem zajin und dem nun-sofit, wobei er dem Schreiber quasi die Feder führt: Schreibe das vav so: ‫ו‬. Den Kopf gerade. Und mache ihm nach oben und nach unten einen gleichmäßigen [Kopf] und nicht nach oben verkürzt wie hier , denn es soll ein vollkommener Buchstabe sein und kein gebrochener; [schreibe das vav] auch nicht wie sie in den Maḥzorim geschrieben sind, sondern sich [nach unten hin] verschlankend und gehe [mit dem qulmus] von oben nach unten und [ziehe] einen langgezogenen Schenkel, dass es nicht einem jud gleiche. Und sein Hals sei dünn, damit es nicht dem zajin gleiche, das so geschrieben wird: ‫ז‬. Der Kopf [des zajin] ist auf beiden Seiten breit und sein Körper läuft von

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

Abb. 33: Buchstabenliste in Ms X 893 Ab. 81, fol. 17r (Columbia University Libraries, New York).

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 

 243

Gewickeltes pe in Lev 14,29, Ms or fol 1218, SBB Gewickeltes pe in Gen 3,19, Ms or fol 1215, SBB

Gewickeltes pe in Gen 2,7; Ms or fol 1216, SBB Gewickeltes pe in Gen 41,44; Ms or fol 1217, SBB

Gewickelte pe in Lev 16,2; Ms or fol 1218, SBB

Gewickelte pe in Lev 16,2; Ms or fol 1215, SBB Abb. 34: Gewickelte pe.

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 8 Die Kanonisierung der Schrift in der mittelalterlichen europäischen Schreibpraxis

der Mitte [des Kopfes] herab. Und es [das zajin und das vav] ist kurz und nicht langgezogen, damit es nicht einem nun sofit [‫ ]ן‬ähnelt. Und deshalb ist der Kopf des zajin nach der einen und der anderen Seite [gezogen].81

Neben den exakten Schreibanweisungen bietet Abraham aus Sinsheim den professionellen Kopisten auch Einsichten in den Ursprung verschiedener Varianten. Der Leser erfährt beispielsweise Folgendes über die Entwicklung der unterschiedlichen Erscheinungsformen des Buchstabens šin: Das šin wird so geschrieben: Der Kopf in der Mitte ist wie ein zajin. Und dies ist meine Sicht der Dinge, nach der das šin [so sein sollte wie] jenes šin, das in die Gesetzestafeln gemeißelt wurde, wie weiter oben [nach Deut 73,2] erklärt ist: Zu seiner rechten Hand ist ein feuriges Gesetz an sie und [Ex 74,1]: Haue dir [zwei steinerne Tafeln]. Das impliziert, dass der mittlere Kopf [des šin] die Form eines zajin hat – sowohl das Eingravierte, als auch das Erhabene82 – und dementsprechend heißt es auch bei Rabbi Natan ha-Kohen ha-Darschan, dass wir jeden der Buchstaben ‫ שעטנ״ז ג״ץ‬mit einem tag in Form eines zajin versehen, die [tagin] sind alle aus [der Form des] šin abgeleitet und [entsprechen] der Würde des Namens, der Name des Namens genannt wird83. Und sie ‫ שעטנ״ז ג״ץ‬werden gekrönt. Das ist der mittlere Kopf des šin und es krönt [die Buchstaben] ‫שעטנ״ז ג״ץ‬. Halte dich von jenen fern, die den mittleren Kopf wie ein jud schreiben, nämlich so: Denn so soll es nicht sein […].84

Einige Jahrzehnte später führte Rabbi Samson ben Eliezer Rabbi Abrahams Ausführungen zum Buchstaben šin fort: Tatsächlich schrieb Rabbenu Simcha [Maḥzor Vitry], gesegneten Andenkens, in einem Kommentar, dass [der mittlere Hals des šin] wie ein jud geschrieben ist und [im Sefer or zaru‘a heißt es]: „Das šin im Leder [der Tefillin ha-Roš]85 ist von der Art eines šin mit zwei jud auf der rechten Seite wie hier: und das šin mit einem jud wie hier: .“ Soweit seine Rede. Und so schrieb auch der Sefer ha-miṣvot. Roqeaḥ [Eleazar aus Worms], gesegneten Andenkens [bemerkt dazu]: „Es muss so sein, dass das jud, welches im šin ist, an die Seite des zajin, welches ganz links ist, geheftet wird“.

Rabbi Samson plädiert für einen Kompromiss zwischen den Autoritäten, indem er zwar seinem Lehrer treu bleibt und das šin mit einem zajin in der Mitte schreibt, dieses zajin jedoch nach der Überlieferung des Eleazar aus Worms an die linke Seite des ersten Halses des šin heftet.

81 Sefer baruch še-amar, in: Qoveṣ Sifrei STaM, S. 75–156, hier S. 98–100. 82 Das Eingravierte ist die schwarze Schrift, das Erhabene das weiße Umfeld der Schrift, das auf dem Kopf gelesen zwei zajin direkt neben dem mittleren zajin des šin abbildet. 83 Das šin steht beim Binden der Tefillin und der Mezuzot für den Gottesnamen Šaddai. 84 Sefer baruch še-amar, S. 153–154. 85 Der Buchstabe šin wird an der rechten und linken Seite der Kopf-Tefillin eingestanzt, wobei das rechte Zeichen (vom Träger aus gesehen) normal geschrieben wird und das linke Zeichen statt drei vier Hälse bekommt.

8.3 Neue Entwicklungen im mittelalterlichen Europa 

 245

Die Schreibweise des mittleren Halses des šin in Analogie zu dem zajin hat sich letztlich nicht durchgesetzt. In der sogenannten ketaw Beit Josef – dem im 16. Jahrhundert für den aschkenasischen Raum verbindlich festgelegten Schrifttyp für die STaM – erscheint das aus drei Hälsen bestehende šin mit einem zajin auf der linken Seite und zwei jud bzw. vav in der Mitte und auf der rechten Seite. Auch in der Schreibweise des Ari (ketaw Ari) und der sefardischen Form konnte sich die Empfehlung des Rabbi Abraham nicht durchsetzen. Schon im Kommentar des Jom Tov Lipmann Mühlhausen zu seinem Lehrer Samson ben Eliezer ist von einem zajin als mittlerer Hals des šin keine Rede mehr: Der erste Kopf des šin sollte wie ein jud sein, das sich nach oben neigt. Und sein Körper sollte mit einer Neigung nach unten gezogen werden, bis es gegenüber dem dritten Kopf steht. Und der zweite Kopf sollte auch so wie ein jud sein, das sich mit einem kleinen Dorn darauf versehen nach oben neigt. Seinen Schenkel ziehe mit einer Neigung nach links nach unten bis an die Stelle, wo sich der dritte Kopf unten mit seinem Körper verbindet, so dass es drei Köpfe sind, [deren Schenkel] unten an einem Ort verbunden sind. Und demgegenüber sollte eine Spitze nach unten [verlaufen]. Doch der dritte Kopf sollte wie ein zajin sein mit drei tagin auf seinem Kopf. Keiner der Köpfe darf jedoch einen anderen berühren.86

Diese Beispiele sollen genügen, um einen Eindruck vom Charakter dieser praxisorientierten Schreiberhandbücher zu vermitteln. Sie leisteten mit der lückenlosen Besprechung aller Schriftzeichen, einschließlich der tagin, einen wesentlichen Beitrag für eine verbindliche Kanonisierung der Schriftzeichen bzw. für eine klare Unterscheidung verschiedener Schrifttypen, die sich im Laufe der Zeit herauskristallisierten und heute getrennt voneinander genutzt werden. Die halachischen Diskussionen und Sorgen um die Einheitlichkeit des Schriftbildes fließen in diese Form der Schreiberliteratur ein und gewinnen durch ihre breite Vermittlung in die kleinste Schreibstube hinein gleichermaßen an Kraft und Einfluss. Das Streben nach einer verbindlichen Regelung gilt auch den kleinsten Schriftelementen, die im 13. und 14. Jahrhundert eine Blütezeit in Aschkenas erlebten.87 Im selben Zeitraum ist wahrscheinlich nicht zufällig auch der Höhepunkt der Kanonisierung der Schriftzeichen für die STaM in Europa zu verzeichnen.

86 Jom Tov Lipmann aus Mühlhausen, Sefer alfa beta, in: Qoveṣ Sifrei STaM, S.  197–285, hier S. 204. 87 Gaster, The Tittled Bible, S. 17–20, 44–47; Hubmann und Oesch, „Betrachtungen zu den Torarollen“, S. 104.

9 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot in der aschkenasischen Schriftauslegung des Mittelalters 9.1 Der sprachmystische Ansatz der Ḥasidei Aškenaz Eine Wende in der Beschreibung der Buchstaben und Sonderzeichen für die STaM markiert der Einfluss mystischer Spekulationen aus dem Umfeld der Ḥasidei Aškenaz auf die halachischen Konzepte. Die sprachmystisch-kosmologischen Entwürfe der Frommen Deutschlands sind vielfältig, und nicht immer stehen sie in einem Zusammenhang mit dem Schreiben der heiligen Schriftrollen. Es waren insbesondere zwei Texte, die von Schreibern bis in die Neuzeit hinein rezipiert wurden und deshalb besondere Erwähnung verdienen. Da ist die kleine Abhandlung Kitrei otijjot tefillin des Jehuda ben Samuel he-Ḥasid (ca. 1150–1217) zu nennen, in der die Buchstaben und tagin um eine mystische Dimension bereichert sind.1 Eingang in die Schreiberliteratur fand auch der esoterische Kommentar zum Sefer tagin, der dem berühmten Schüler Jehudas, nämlich Eleazar ben Jehuda aus Worms (ca. 1165–1230) zugeschrieben wird.2 In der Abhandlung Kitrei otijjot tefillin lässt Jehuda he-Ḥasid am Beginn seiner im weiteren Verlauf ausgesprochen pragmatischen Darstellung der Buchstaben keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Heilige Schrift in Zeichen und Anordnung keineswegs nur Kommunikationsträger eines Textes ist. Er entwirft in Anlehnung an den Sefer jeṣirah das Bild von einem Mikrokosmos der Schrift, der den göttlichen Makrokosmos widerspiegele. Das „Maß der Buchstaben“ entspräche dem Maß der Finger Gottes (Deut 9,10), mit denen Moses die Gesetzestafeln beschriftete. Jehuda he-Ḥasid untermauert diese Vorstellung mit einem Hinweis auf die beiden Psalmen 111 und 112, die mit ihren zehn Zeilen und je zwei (und zweimal drei) Ver-

1 Jehuda ben Samuel he-Ḥasid, Kitrei otijjot tefillin, in: Qoveṣ Sifrei STaM, hrsg. von Menachem M. Meschi-Sahav, Jerusalem 1970, S. 3–11. 2 Eleazar ben Jehuda von Worms, Sefer tagi. Die Schrift ist in zwei Handschriften – Ox Bodleian Library Ms Opp. 540 (Neubauer 1567) fol. 236r–264v und Ox Bodleian Library Ms Opp. 111 (Neubauer 1566) überliefert. Außerdem gibt es eine lateinische Version von Flavius Mithridates innerhalb der kabbalistischen Bibliothek des Grafen Giovanni Pico della Mirandola, Vatican Library Ms ebr. 1890, fol. 201v–347v. Eine Textversion, die auf Opp. 540 beruht, ist in Ha-din sefer tagi (S. 379–484) im Jahr 2010 in Toronto von Jakob Besser herausgegeben worden. In Ox Bodleian Library Ms Opp. 540 ist eine Textversion mit einigen anderen Schriften aus der Feder Eleazars überliefert, was seine Autorschaft nahelegt. Die Abhandlung spiegelt allerdings auch inhaltlich die Gedankenwelt des Chassiden wider. https://doi.org/10.1515/9783110722062-009

9.1 Der sprachmystische Ansatz der Ḥasidei Aškenaz 

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sanfängen das gesamte hebräische Alphabet in seiner Ordnung abbildeten. Auf die Anwesenheit des Göttlichen deutet die Zehnzahl, die in den zehn Fingern und Zehen des Menschen ihre Entsprechung findet – so Jehuda he-Ḥasid. Die explizite Anspielung auf die zehn mysteriösen sefirot – Zählungen – im Schöpfungsmythos des Sefer jeṣirah (I,3) liegt auf der Hand. Das antike Werk diente sicherlich auch als Inspirationsquelle für den Gedanken Jehuda he-Ḥasids, dass die Abstände der Buchstaben und Zeilen der Bundestafeln als ein Urbild der göttlichen Präsenz in der materialen Welt der Schrift betrachtet werden können. Die dringendste Intention Jehuda he-Ḥasids war es jedoch, Schreibern einen klaren Leitfaden bezüglich einiger problematischer Buchstaben und deren Krönung zu geben. Der Autor eines wesentlichen Teils des Sefer ḥasidim protokolliert dabei sehr nüchtern Fehler, die ein sofer STaM unbedingt vermeiden sollte. Zu solchen Schreibfehlern gehört beispielsweise „den Kopf des lamed unterhalb des Daches des reš zu führen3, [so dass] das reš wie ein he aussieht und ein solches lamed keine Form besitzt“, oder „einen Ausläufer des alef zu verkürzen“4, so dass der diagonale Körper des alef denselben überragt und ein unproportionales Bild entsteht. Der wichtige Lehrer der Ḥasidei Aškenaz geht auch auf Details wie die freischwebenden Striche im he und qof ein – Buchstaben, die aus zwei einander nicht berührenden Teilen bestehen: Der Schenkel des he darf nicht sein Dach überragen, ebenso sollte er nicht verkürzt sein, vielmehr muss getrennt werden zwischen Schenkel und Dach, so dass das Weiße [des Beschreibstoffes] zwischen ihnen aus der Entfernung einer halben Armlänge sichtbar ist. […] Und so wie es notwendig ist, zwischen dem Schenkel des he und seinem Dach zu trennen, so ist es notwendig, zwischen dem Schenkel des qof und seinem Dach zu trennen […].5

Die Genauigkeit, mit der die Buchstaben von Jehuda he-Ḥasid behandelt werden, lassen Praxiserfahrung des Autors vermuten. Auch wenn es um das Verwechslungspotential von runden und eckigen Buchstaben geht, arbeitet er zunächst die talmudischen Vorgaben ab, doch fließt auch Neues in die Buchstabenanalyse ein. Allein die systematische Vorgehensweise zeichnet den kleinen Schreibertraktat als eine sehr konkrete, an der Praxis orientierte Stütze für sofrei STaM aus. Ganz anderer Natur ist die Abhandlung seines Schülers Eleazar ben Jehuda aus Worms zum Schmuck der Buchstaben. Wie in vorangegangenen Kapiteln bereits dargelegt, zeichnet ein sofer in der Regel die sieben Buchstaben ajin, ṭet, nun, zajin, gimmel, ṣade und šin im Pentateuch mit drei dem Buchstaben zain

3 Das lamed ‫ ל‬besteht aus einem Körper, der aussieht wie ein reš ‫ר‬, und einem nach oben geführten Hals. 4 Jehuda ben Samuel he-Ḥasid, Kitrei otijjot tefillin, S. 4. 5 Ebd., S. 6–7.

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 9 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot

ähnelnden tagin aus. Doch die Schreibtradition kennt Ausnahmen, bei denen auch andere Buchstaben als die sieben genannten gekrönt werden. Es variiert auch die Anzahl der tagin. So ist beispielsweise das beit am Beginn des ersten Wortes von Genesis  – berešit  – mit vier oder das he im dritten Wort des ersten Verses von Genesis – Elohim – mit drei tagin versehen. Das normalerweise mit drei tagin gekrönte ṭet trägt in Genesis 1,4 in dem Wort ṭow vier tagin – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Eleazar waren diese aus dem Regelrahmen fallenden tagin von so großer Bedeutung, dass er einen Bibelkommentar versuchte, der sich ausschließlich mit der Interpretation dieser Sonderzeichen befasst. Diese Abhandlung, die nach ihrer hauptsächlichen Inspirationsquelle den Titel Sefer tagi trägt, widmet sich abgesehen von wenigen Ausnahmen dem Buch Genesis und präsentiert eine Lektüre der Tora am äußersten Rande dessen, was die materiale Gestalt des Schriftbildes ausmacht. Der Traktat ist mit dem Stichwort für die Methode dieser sehr speziellen Schriftauslegung überschrieben: sod – Geheimnis. Eleazar analysiert diese ausnahmsweise gekrönten Buchstaben hinsichtlich ihrer spezifischen Gestalt, ihrer Position in einem bestimmten Wort; er diskutiert Anzahl und Positionen der tagin auf den „Dächern“ der Schriftzeichen und spekuliert gegebenenfalls über einen Zusammenhang mit dem vorangehenden Wort – nämlich wenn die Krönung am rechten oberen Ende des Buchstabens erfolgte  – oder mit dem nachfolgenden Wort – wenn der tag auf der linken Seite in den fortlaufenden Satz weist. Dabei offenbart Eleazar einen reichen Wissensschatz an aggadischer und halachischer Tradition, den er in die Exegese einfließen lässt. Wie einige rabbinische Vorbilder (vgl. u. a. Midraš tanḥuma 1:1) verankert Eleazar die tagin zunächst im Hohelied. Des Königs Salomon „goldenes Haupt und die rabenschwarzen Locken“ (Hohelied 5,11) erinnerten bereits in der Heiligen Schrift an die „in Milch gebadeten“ (Hohelied 5,12), d. h. auf weißem Untergrund stehenden Krönchen. Darüber hinaus erklärt sich Eleazar die Verdoppelung des Wortes „Schrift“ in dem Bibelvers [Ex 32,16]: Elohim machte die Tafeln. Und die Schrift ist Schrift [von Gott in die Tafeln gemeißelt. ‫]אלהים מכתב והמכתב הוא‬ als einen göttlichen Verweis auf die Symbiose von Buchstabe und tagin. Diese Krönchen seien „wie Zweige eines Baumes“, die den Weg zu den nicht von jedermann erfassbaren kosmologischen und kosmogonischen Geheimnissen des Seins, die in der Heiligen Schrift angedeutet seien, aufzeigten. Doch wenn jemand fragt: „Warum besteht diese Schreibweise als Andeutung und nicht als Erklärung?“ [Dann antworte:] „Weil in den Tagen des Moses ihr Herz noch offen war, und sie alles wussten und nichts vor ihnen verborgen war, denn Moses lehrte sie vierzig Jahre. Wie geschrieben ist: [Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete,] ist dir nicht verborgen [noch zu ferne] [Deut 30,11], und es heißt: Denn es ist nicht ein leeres Wort von euch [Deut 32,47]. Deshalb ist es für die Weisen als Gleichnis [übermittelt]. Denn wären alle Menschen so weise

9.1 Der sprachmystische Ansatz der Ḥasidei Aškenaz 

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wie Engel, hätte nicht die Notwendigkeit bestanden, die Tora in solcher Breite [zu überliefern]. Doch da der Heilige, gesegnet sei Er, in dieser Stunde in das Herz Israels schaute, [und sah] dass sie [nur] Weise waren, erweiterte und ordnete er für sie die Tora und hatte Mitleid mit ganz Israel und kürzte für sie [die Fälle des] qal va-ḥomer [a minori ad maius], der gezerot šavot [Analogieschlüsse], der dreizehn middot [des Rabbi Jischmael] und der 32 Tore der Weisheit [des Rabbi Eliezer]6 […] Und aus diesem Grund schrieb er ihnen alles als Andeutung nieder, denn sie wussten alles“.7

In Eleazars Vorstellung erscheint die Generation zur Zeit Moses als eine Gemeinschaft, die mit den Geheimnissen der Schöpfung vertrauten Umgang pflegte. Im Laufe der Zeit ist dieses Wissen der breiten Masse abhanden gekommen und es ist nunmehr einigen wenigen Schriftkundigen vorbehalten, die esoterische Bedeutung der Schrift in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen. Diesem elitären Kreis dienten die tagin „als Ohren der Buchstaben“, mit denen das Echo der ursprünglichen Rede Gottes noch erfasst werden könne. Was Eleazar mittels dieser „Detektoren“ des göttlichen Offenbarungswortes aufnahm, verdient sicherlich eine eigene Studie. An dieser Stelle soll seine Methode in ihren Grundzügen auf Grundlage der Exegese der letzten Vershälfte von Genesis 1,2: und der Geist Gottes schwebte über den Wassern nur exemplarisch vorgestellt werden. (Abb. 35 und 36) Zu Beginn des Schöpfungsdramas, als weder zwischen Licht und Finsternis noch zwischen den Wassern, Himmel und Erde unterschieden ward, schwebte der Geist Gottes über den Wassern. Eleazars Exegese konzentriert sich zunächst auf die beiden Worte der Geist … schwebte – ‫ורוח … מרחפת‬, die laut Eleazar zusammen vier gekrönte Buchstaben aufweisen; und zwar drei tagin auf dem Dach des ḥet, zwei auf dem pe und ein tag auf dem tav des Wortes meraḥefet – er schwebte – und ebenfalls drei tagin auf dem Dach des ḥet von ruaḥ – Geist. Die Vierzahl der besonders ausgezeichneten Buchstaben deutet Eleazar zufolge auf die „vier Winde [‫ “]רוחות‬hin, in die sich der Geist am Beginn der Schöpfung geteilt habe. Es handelt sich hier um eine direkte Anspielung auf die Schöpfungstheorie des Sefer jeṣirah (1:9 und 10), wo davon die Rede ist, dass sich der „Geist des lebendigen Gottes“ teilt: „Geist aus Geist. Er gravierte und meißelte mit ihnen die vier Winde des Himmels, Osten und Westen, Norden und Süden, und der Geist ist in jedem von ihnen.“ Es ist auch der Geist Gottes, der in dieser Konzeption die erste sefirah, in der sich Gottes „Stimme, Hauch und Wort“ manifestieren, hervorbringt und mittels der in ihr enthaltenen Sprachelemente die folgenden sefirot und schließlich den gesamten Kosmos erschafft. Die vier Winde stellen dementsprechend

6 Zu den hier von Eleazar erwähnten exegetischen Methoden der Rabbinen siehe Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81992, S. 25–40. 7 Jehuda ben Samuel he-Ḥasid, Kitrei otijjot tefillin, S. 6–7.

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 9 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot

Zwischenursachen dar, die durch den göttlichen (Sprach-)Geist angetrieben die erste (Denk-)Bewegung Gottes weitergeben. Als weiteres Argument für seine Überzeugung, dass sich in diesem scheinbar ruhigen Augenblick vor dem ersten Schöpfungsakt ein innergöttlicher Prozess der Entgrenzung nach dem Muster des Sefer jeṣirah abspielt, addiert Eleazar die je drei tagin der beiden ḥet in den Worten ruaḥ und meraḥefet, um darauf hinzuweisen, dass es „der Geist ist, der die sechs Geister [= Enden des Kosmos] zum Keimen bringt: Oben, Unten, Norden, Süden, Osten und Westen.“ Auch diese sechs tagin führen zum Sefer jeṣirah, wo mit den permutierten Buchstaben des Tetragramms die sechs Enden des Raumes, die Eleazar mit „Wolken um den Thron Gottes“ umschreibt, versiegelt werden.8

Abb. 35: Unterschiedliche Schreibtraditionen von Gen. 1 in den Mss or fol 1215 (oben) und

8 Vgl. dazu den Sefer jeṣirah I:13: „Er versiegelte oben und wählte drei [Buchstaben] aus den Einfachen und machte sie an seinem großen Namen fest, nämlich JHW. Und er versiegelte mit ihnen die sechs Enden: Und so wandte er sich nach Oben und versiegelte es mit JHW. […] Er versiegelte das Unten. Und er wandte sich nach Unten und versiegelte es mit JWH. […] Und er versiegelte den Osten. Er wandte sich gerade vor sich hin und versiegelte ihn mit HJW. […] Er versiegelte den Westen. Er wandte sich nach rückwärts und versiegelte ihn mit HWJ. […] Er versiegelte den Süden. Er wandte sich nach links und versiegelte ihn mit WJH. […] Er versiegelte den Norden. Er wandte sich nach links und versiegelte ihn mit WHJ.“

9.1 Der sprachmystische Ansatz der Ḥasidei Aškenaz 

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Abb. 36: 1216 (unten) Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

Die sechs tagin des Wortes meraḥefet weisen dem Mystiker zufolge aber auch auf die sechs Schöpfungstage hin, die der Geist Gottes mit seinem Willen lenkte, denn „ein Schiff auf dem Meer, das ohne Geist [‫ ]רוח‬ist, wird untergehen“.9 Die tagin der beiden Buchstaben ḥet (3 tagin) und pe (2 tagin) seien außerdem Hinweise auf ruaḥ, den Geist Gottes, der drei (vgl. 3 tagin des ḥet) Verbindungen mit jeweils zwei Attributen Gottes bzw. Kategorien der Gotteserkenntnis (vgl. 2 tagin des pe) einging. Zur Stärkung dieses Arguments führt Eleazar einen Vers aus Jesaja [11, 2] an, wo von sechs unterschiedlichen Verbindungen des Geistes die Rede ist: […] der Geist der Weisheit [‫ ]הוכמח‬und des Verstandes [‫]בינה‬, der Geist des Rates [‫ ]עצה‬und der Stärke [‫]גבורה‬, der Geist der Erkenntnis [‫ ]דעת‬und der Gottesfurcht [‫]יראת יהוה‬. Den einzelnen tag auf dem tav am Ende des Wortes meraḥefet erklärt Eleazar im Zusammenhang mit den ihm folgenden Worten al pnei ha-majim – über den Wassern, da sich das Zeichen auf der linken Seite des Buchstabens tav bereits in die Zukunft neige. In meraḥefet – er schwebte – kündige der tag auf dem tav bereits die „Seele des Königs Messias“ an, die in Erscheinung tritt, wenn das Land voll Gotteserkenntnis [ist] so wie Wasser das Meer bedeckt. (Jes 11,9). Da der Zahlenwert des Trägers dieses tag vierhundert beträgt, könne es als Erinne9 Vgl. Asriel aus Gerona, Ša‘ar ha-šo’el: „So wie ein Schiff nicht ohne Steuermann auskommt, so kann auch die Welt nicht ohne Lenker sein. Und dieser Lenker ist Ein Sof […] und was verborgen ist, hat kein Ende und keine Grenze, es ist unergründlich und außer ihm gibt es nichts.“ Zitiert nach der Übersetzung von Karl E. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Frankfurt a. M. [u. a.] 2005, S. 249.

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 9 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot

rungszeichen für die vierhundert Jahre andauernde ägyptische Knechtschaft, aus der Moses das Volk Israel befreite, gelesen werden. Gleichzeitig kündigten sich in diesem Buchstaben „die Tage des Messias“ an, der am Ende Israel erlösen wird, da der Buchstabe tav der letzte im Alphabet ist. Und das tav wird sie [Israel] zwei[mal] erfreuen, wie es heißt [Ps 90,15]: Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück [‫ ]רעה‬leiden [‫]ראינו‬. Zweimal reš10, wie der erste Erlöser [Moses] ist der zweite Erlöser [Messias]; durch Moses die Tora und durch den Messias die erhoffte Tora [Jes 42,4].

‫ ורוח … מרחפת‬Und der Geist … schwebte mit seinen insgesamt neun tagin veranlassten Eleazar darüber hinaus, die neun Monate einer Schwangerschaft mit den Geburtswehen der Schöpfung zu assoziieren. Unter Bezugnahme auf weitere Schriftstellen inszeniert der Mystiker eine präexistentielle Atmosphäre aus Geist, Feuer und Beben, die von neun Stimmen, „die alle bei dem Schöpfungswerk“ mitwirkten, begleitet wurden. Neun Stimmen waren bei der Gabe der Tora beteiligt; es gibt neun Segnungen; neunmal wird der Schofar an Rosch Haschana geblasen und es waren neun Visionen, die Ezechiel sah. Eleazar zählt ein neunmaliges Auftauchen des Geistes Gottes innerhalb Ezechiels Thronwagenschau. Die Liste der bedeutsamen Neunheiten ist damit jedoch lange nicht an ihrem Ende angelangt. Mit größter Hingabe widmet sich Eleazar dem Gottesnamen ‫( אלהים‬Elohim), der zwischen den Wörtern ruaḥ und meraḥefet stehend zunächst nicht Teil seiner Spekulation war. Der Mystiker misst den drei tagin auf dem Buchstaben he des Namens eine entscheidende Bedeutung für den Schöpfungsverlauf bei. Eleazar nennt sie Dattelpalmen [‫ ]סנסנים‬und meint damit den Palmbaum, den Salomon erklimmen will, um die Früchte seiner Sulamit zu genießen (Hohelied 7,9). An diesen Dattelpalmen solle der Verständige aufsteigen und durch das Gleichnis begreifen, dass „Zauberei, Dämonenwerk und Zaubersprüche, die Wunder in den Augen der Menschen bewirken“, nicht mit „dem Schöpfungswerk“ zu vergleichen seien. Im Zauberwesen „scheint es zwar, als wären Dinge erschaffen worden, doch das sind sie nicht“. Zauberei sei nicht mit den Wundertaten Moses’ oder Aarons zu vergleichen. Es liegt Eleazar viel daran, durch eine breit angelegte Exegese der drei tagin auf dem Buchstaben he von Elohim den Unterschied zwischen göttlicher Schöpferkraft und irdischer Magie herauszuarbeiten. In seine Argumentation lässt er dabei gleichermaßen die Kosmologie des Sefer jeṣirah, die Philosophie des Sa‘adja Gaon und die onomatologische und angelologische Tradition der Hechalot-Literatur einfließen. Eleazar schließt seine mystische Exegese der Vershälfte – und der Geist Gottes schwebt – mit der Feststellung ab, dass diese drei Worte vom Beginn des Schöpfungswerkes „bis zur Auferstehung der Toten […] 10 reš = 200x2 = 400 = tav.

9.2 Ethische Konzepte aus dem rabbinischen Umfeld 

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am Ende der Generationen“ reichten und nur Gott die Maße der kosmischen Ordnung kenne, die zwischen alef und tav verborgen lägen. Der Roqeaḥ – i. e. der Salbenmischer – wie Eleazar nach dem Titel seines halachischen Hauptwerks Sefer ha-roqeaḥ) genannt wurde, widmete sich auch in anderen Abhandlungen den Formen der Buchstaben und dem symbolischen Potential der Sonderzeichen, beispielsweise in seinem Kommentar zur Tora. Im Vergleich mit seinem Sefer ha-tagi wirken die zahlreichen darin enthaltenen Bemerkungen zu den metatextlichen Schriftelementen weniger enigmatisch. Vielmehr wendet er sich dort in der Art eines aggadischen Midraschs dem mythischen Potenzial der Geschichte Israels zu. Der Exeget Eleazar bewegt sich hier nahe am Schriftwort, ohne es jedoch zu versäumen, die Architektur himmlischer Gefilde und mitsamt ihren Bewohner in seine Überlegungen einzubeziehen. Natürlich stehen die Buchstaben des hebräischen Alphabets und gelegentlich deren Formen und Verzierungen auch im Fokus seines mystisch-theologischen Hauptwerks Sodei Razajja, „Die Geheimnisse der Mysterien“, sowie seines Kommentars zum Sefer jeṣirah, Peruš le-sefer jeṣirah. Doch im Schreibkontext sind diese Schriften kaum relevant, da Eleazar sich in ihnen im Wesentlichen auf die Buchstaben der Namen Gottes beschränkt. Auf das Schreiben von Amuletten und anderen magisch aufgeladenen Artefakten können diese Ausführungen durchaus einen Einfluss ausgeübt haben. Das halachisch orientierte Werk des Eleazar aus Worms enthält dagegen nur wenig Material zum Schriftbild oder dem Schreiben der STaM überhaupt. Der Sefer ha-tagi des Eleazar bezeugt, wie stark die ausschließlich für das Schreiben des biblischen Textes bestimmten Schriftzeichen von den Ḥasidei Aškenaz mit mystischen Assoziationen aufgeladen wurden. Der chassidische Gelehrte schuf mit seiner Interpretation der tagin eine dichte symbolische Textur um die Heilige Schrift herum, deren umfassende Erforschung bis heute ein Desideratum darstellt. Die mystische Bedeutungsebene, die den tagin von den Chassiden im 13. Jahrhundert zugewiesen wurden, wird auch heute noch in Schreiberkreisen rezipiert. Das wichtigste Glied in der Überlieferungskette ist sicherlich die Arbeit von Jom Tov Lipmann zu den Formen der Buchstaben des hebräischen Alphabets, die im Kapitel 10 diskutiert werden. Die Buchstabenmystik des Eleazar – das kann hier abschließend festgestellt werden  – wurde keineswegs nur in einem sehr kleinen Kreis von ausschließlich mystisch interessierten Exegeten rezipiert, sondern hat die Welt der soferim STaM nachhaltig mitgeprägt.

9.2 Ethische Konzepte aus dem rabbinischen Umfeld Die Sonderzeichen stießen nicht nur im geistigen Umfeld der Ḥasidei Aškenaz auf das Interesse von Exegeten. Sie stellen vielmehr den Ausgangspunkt zahlrei-

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 9 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot

cher Kommentare, Randnotizen und Glossen zur Bibel dar, die oftmals Teil einer breiter angelegten rabbinischen Schriftauslegung sind. Die systematische Erforschung dieser Interpretationen steht genau wie die Untersuchung der mystischen Konnotationen des Schriftbilds aus dem chassidischen Umfeld aus. Das Quellenmaterial ist umfangreich und soll in diesem Kapitel exemplarisch durch vier Exegeten vertreten werden, deren Auslegungen große Nähe zur rabbinisch-ethischen Tradition des aschkenasischen Mittelalters aufweisen. Die Interpretationen des Buchstabenschmucks durch einflussreiche, aber auch wenig rezipierte Schriftausleger bezeugen einen breiten Konsens in der Auffassung der tagin und otijjot mešunnot als Erinnerungsbilder, die auf bestimmten Buchstaben und Wörtern platziert die biblische Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden und wiederaufleben lassen. Zu den weniger bekannten Exegeten ist Rabbenu Joel zu zählen. Der aschkenasische Gelehrte aus dem 12. Jahrhundert nutzte die tagin und Sonderzeichen, um seine am klassischen rabbinischen Midrasch orientierte Bibelauslegung zu untermauern.11 In seinem Sefer ha-remazim12 erläutert Joel methodisch ganz ähnlich wie Raschi Vers für Vers und widmet sich mit sparsamem Rückgriff auf rabbinische Vorlagen Fragen, die der biblische Text seiner Ansicht nach offen lässt. Die tagin ziehen seine besondere Aufmerksamkeit auf sich, „da jedem Wort oder jedem Buchstaben, das bzw. der gekrönt und mit tagin versehen ist, eine [besondere] Würde [‫ ]כבוד‬zukommt“13. Es sei beispielsweise kein Zufall, dass das Wort ‫– וישכחהו‬ und er vergaß ihn – aus der berühmten Geschichte um Josef, der im Verlies des Pharaos als Traumdeuter in Erscheinung tritt, mit Krönchen versehen ist.

11 Es ist kaum etwas zu Rabbenu Joels geistiger Biographie überliefert. Joel ben Abraham Klugman veröffentlichte 2001 den Bibelkommentar Sefer ha-remazim und schrieb ihn dem aschkenasischen Gelehrten Rabbenu Joel zu (vgl.  Sefer ha-remazim le-Rabbenu Joel, hrsg. von Joel ben Abraham Klugman, Bnei Berak 2001). Jakob Besser nahm in seiner Studie Sefer Tagei (Jerusalem 2010) Interpretationen der tagin durch Rabbenu Joel auf, aus denen die folgenden Beispiele ausgewählt wurden. Der Exeget wird hier und in anderen Zusammenhängen als der mittelalterlichen chassidischen Tradition nahestehend bewertet, beispielsweise von Eran Viezel in „The Rise and Fall of Jewish Exegesis on the Bible in the Middle Ages: Causes and Effects“, in Review of Rabbinic Judaism 20 (2017), S. 48–88, hier S. 83. 12 Sefer ha-remazim le-Rabbenu Joel, hrsg. von Joel ben Abraham Klugman, Bnei Berak 2001. 13 Rabbenu Joel zu Gen 31,19.

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Josef deutet die Träume eines ebenfalls gefangen gehaltenen Mundschenks und eines Bäckers mit der Bitte, den Pharao an ihn zu erinnern. Der Bäcker wurde, wie Josef aus dessen Traum voraussagte, gehängt. Doch der Mundschenk durfte sein altes Amt wieder übernehmen – und vergaß darüber Josef und sein Versprechen, dem Pharao das unglückliche Schicksal Josefs vor Augen zu führen. Rabbenu Joel ist jedoch davon überzeugt, dass die tagin auf dem he des Wortes wajiškaḥehu (Gen 40,23) bedeuten, „dass er nicht vergaß außer durch einen Engel. Denn der Engel löste die Knoten, die der Mundschenk seiner Ausrüstung band, um zu erinnern, doch der Engel ließ ihn vergessen“. Es war Josef von Gott beschieden, noch zwei weitere Jahre im Verlies zu verbringen, so Joel, um dann seine Berufung als Traumdeuter des Pharao – den erst zwei Jahre nach der Entlassung des Mundschenks seltsame Träume ankamen – zu verwirklichen. Rabbenu Joel interpretiert auch außerordentliche Verzierungen bestimmter Buchstaben, etwa den Schnörkel des lamed im Wort ‫ – וילבש‬und er kleidete – in Genesis 41,42.

Das lamed sei wegen seines Zahlenwertes (dreißig) durch einen Kringel ausgezeichnet, da es in Genesis 41,46 heißt, dass Josef dreißig Jahre alt war, als der Pharao ihn rief, um seine Träume zu deuten. Die außergewöhnliche Schreibweise der beiden pe in den Wörter ‫ – צפנת פענח‬geheimnisvoller Rat – in einem der folgenden Verse (Gen 41,45), in denen ein ungewöhnlich großes pe und ein gekringeltes pe vorkommen, versinnbildlichen dem Exegeten nach das „Geheimnisvolle, Verborgene und Verschlungene“, das mit der Geschichte Josefs einhergehe.

Auf diese oder ähnliche Weise bindet Rabbenu Joel eine Vielzahl der ungewöhnlich geschriebenen Buchstaben und Sonderzeichen in seine Auslegung der Bibel ein. Sie sind ihm visuelle Anker im Schriftbild, welche die besondere Aufmerksamkeit des Lesers auf innere Zusammenhänge der biblischen Geschichte lenken.

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 9 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot

Joel bewegt sich trotz der spekulativen Vorgehensweise praktisch immer auf den Wegen des pešaṭ nahe am Textgeschehen. Ihm dient jedoch nicht der masoretische Metatext als Sprungbrett in die Geheimnisse der göttlichen Schöpfung oder der mystischen Zusammenhänge der Kosmologie; vielmehr erscheinen die Sonderzeichen als visuelle Verlängerung der biblischen Geschichten selbst. Avigdor ben Elijah ha-Kohen (gest. ca. 1275), ein Schüler des Rabbi Simcha von Speyer, zählte als Nachfolger des Rabbi Isaak Or Zaru’a in Wien über 25 Jahre zu den wichtigsten halachischen Autoritäten in Aschkenas. Der aus Norditalien stammende Talmudgelehrte war ein Lehrer des Meir ben Baruch von Rothenburg und wirkte mit seinen Responsen weit in die rabbinische Kultur Deutschlands und Österreichs hinein.14 Neben halachischen Diskussionen hinterließ Avigdor auch Kommentare zum Pentateuch und den Megillot.15 Die tagin bekommen von dem Rechtsgelehrten eine besondere Rolle zugewiesen, was beispielsweise an seiner Erklärung der drei Krönchen auf dem ersten Buchstaben der Bibel – dem beit von berešit – nachzuvollziehen ist: Berešit – es gibt drei tagin auf dem beit von berešit, da geschrieben steht [Ex 32,16]: Und die Schrift ist Schrift von Gott … – ‫והמכתב מכתב אלהים הוא‬. Zweimal ‫ מכתב‬bedeutet: Er schrieb [beides] diese Buchstaben und diese tagin, die uns gegeben wurden, um [die Schrift] auszulegen. Daher bedeutet [Ex 32,16]: Eingegraben in die Tafeln – ‫ – חרות על הלחת‬durch die tagin, die auf den Buchstaben wie Zweige einer Palme stehen. Deshalb sagt er [Habakuk 3,4]: Und Strahlen gingen von Seinen Händen aus. Damit sind die tagin gemeint. Und die drei tagin [auf dem beit] deuten auf die drei Erzväter Abraham, Isaak und Jakob [und] auf die drei Heiligtümer: den ersten Tempel, den zweiten Tempel und den dritten [Tempel] in den Tagen des Messias. Sie deuten auf die drei torot: Tora, Propheten, Schriften. Die drei tagin entsprechen auch den drei Dingen, die als erstes gerufen wurden, um durch sie die Welt zu erschaffen: Weisheit, Verstehen und Wissen.16

14 Irving A. Agus, „Avigdor ben Elijah Ha-Kohen“, in Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 2, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 732; Kanarfogel, The Intellectual History and Rabbinic Culture of Medieval Ashkenaz, Detroit 2013, S. 469–477; ders., „Mysticism and Asceticism in Italian Rabbinic Literature of the Thirteenth Century“, Kabbalah 6 (2001), S. 135–149; Israel Ta-Schma, Knesset meḥqarim, Bd. 3, Jerusalem 2005, S. 21, 23, 46, 70. 15 H.J. Zimmels, „Le-toledot R. Avigdor b. Ellijjahu ha-Kohen Katz me-Vienna“, in Ha-zofeh me-ereṣ hagar 15 (1931), S.  110–126; Moshe Idel, „On R. Nehemiah ben Shlomo the Prophet’s Commentaries on the Name of Forty-Two“, in Kabbalah: Journal for the Study of Jewish Mystical Texts 14 (2006) (heb.), S. 157–261; hier 211, 215, 217, 219–222, 225. 16 Avigdor ben Elijah ha-Kohen von Wien, Torakommentar zu Gen 1,1.

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Das Wort berešit mit drei (Magdeburger Torarolle Cod. Guelf. 148 Noviss. 2°, HAB) und vier tagin (Erfurter Rolle Ms or fol 1215, SBB)

Die zitierte Passage belegt die Nähe Avigdors zur Gedankenwelt der Ḥasidei Aškenaz, insbesondere zu Eleazar aus Worms, der  – wie im vorangegangenem Kapitel ausgeführt  – in seinem Sefer tagi ebenfalls auf die Verdoppelung des Wortes „Schrift“ in Vers Exodus 32,16 anspielt und die tagin mit den Zweigen eines Baumes, speziell mit einer Dattelpalme assoziiert. Avigdor kannte nicht nur Eleazars Kommentar zu den Krönchen, er war auch mit dem Sefer ḥasidim und dem Torakommentar des Jehuda he-Ḥasid vertraut. Für diese Annahme spricht die Tatsache, dass Avigdor in seinem Torakommentar die Anwesenheit eines Quorums beim Schreiben der Namen Gottes empfiehlt  – eine Vorgehensweise, die sowohl im Sefer ḥasidim als auch im Pentateuchkommentar Jehuda he-Ḥasids beschrieben ist.17 Trotz aller Affinität zu esoterischen Konzepten bewegt sich Avigdor innerhalb des rabbinischen Werterahmens. Seine generell traditionelle Sichtweise ist beispielsweise in der Auslegung des Verses Genesis 2,24 nachzuvollziehen, wo es heißt: Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch. Avigdor deutet die sieben

17 Vgl.  Kapitel  7; Avigdor ben Elijah ha-Kohen aus Wien, Sefer perušim u-pesaqim, S.  109 (vgl. dort auch Anm. 20 und 21); Jehuda he-Ḥasid, Perušei ha-torah le-R. Jehuda he-Ḥasid, hrsg. v. Isaak S. Lange, Jerusalem 1981. Ephraim Kanarfogel führt weitere Belege für die Verbundenheit Avigdors mit der chassidischen Mystik und für seine Kenntnis von Hechalot-Literatur, insbesondere im Zusammenhang mit dem Gebet, an. Abgesehen davon gilt Avigdor als der Autor einer Abhandlung – Ša‘arei musar – über Gottesfurcht und die Abwendung von Sünde, die zahlreiche Parallelen zur Gedankenwelt des Sefer ḥasidim aufweist. Das inbrünstige Gebet mit der richtigen kavvanah ausgeführt, spielt in Avigdors Konzeption der Gottesverehrung eine wesentliche Rolle. Vgl. Kanarfogel, The Intellectual History, S. 475–477.

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tagin auf dem šin des Wortes be-išto – an seiner Frau – als Hinweis darauf, dass es für einen weisen Schüler nicht schicklich sei, ganze sieben Tage „an seinem Weibe zu hangen“. Aus einem ganz ähnlichen geistigen Umfeld wie Avigdor scheint der Tosafist Isaak ben Jehuda ha-Levi (spätes 13. Jhd.) zu kommen, über den kaum biographisches Material überliefert ist.18 Von dem Exegeten aus Nordfrankreich ist ein Kommentar zu einigen Abschnitten des Pentateuchs mit besonderem Gewicht auf der Paraschah berešit überliefert, in dem er eine brisante Kompilation aus seinen eigenen Interpretationen und den Lehrmeinungen einiger Tosafisten wie beispielsweise Raschi, Raschbam oder Josef ben Isaak Bekor Schor (zweite Hälfte des 12. Jhds.) mit mystischen Spekulationen zu den entsprechenden Bibelstellen aus dem Umfeld der Ḥasidei Aškenaz, etwa Eleazar aus Worms, verbindet. Wie Eleazar aus Worms in seinem Sefer ha-roqeaḥ (‫ = אלעזר‬308 = ‫ )רקח‬weist Isaak auf die gematrischen Parallelen zwischen seinem Namen und den beiden Wörtern des Titels der Schrift (Paneaḥ raṣa) hin (‫ = רזא‬208 = ‫ = פענח‬208 = ‫)יצחק‬.19 Diese Vorgehensweise ist programmatisch für die gesamte Abhandlung, in der Gematriot immer wieder als Werkzeuge der Exegese herangezogen werden. Isaaks Lesart der tagin erinnert dann auch stark an die Sichtweise von Eleazar aus Worms auf die Krönchen. Mit besonderer Ausführlichkeit widmet er sich dem „Geist Gottes“ von Genesis 1,2 oder vielmehr dem gekrönten Buchstaben ḥet des Wortes ruaḥ, doch anders als Eleazar spricht er von vier statt von drei tagin. Sie ragten nach oben, da sie in „die Zeit vor der Schöpfung“ wiesen, als neben Gott allein der Geist des Messias existent war. Wie Eleazar bezieht sich Isaak auch auf Jesaja 12,2, wo das Wort ruaḥ tatsächlich nur viermal vorkommt, auch wenn von insgesamt sechs Formen des Geistes die Rede ist – der Geist der Weisheit [‫]חכמה‬ und des Verstandes [‫]בינה‬, der Geist des Rates [‫ ]עצה‬und der Stärke [‫]גבורה‬, der Geist der Erkenntnis [‫ ]דעת‬und der Gottesfurcht [‫]יראת יהוה‬. Isaak nennt der Mischna (mAwot 4:13) folgend außerdem vier mögliche Kronen: die Krone des Priesterstands [‫]כתר כהונה‬, die Krone der Tora [‫]כתר תורה‬, die Krone des Königtums [‫כתר‬ ‫ ]מלכות‬und die Krone des guten Namens [‫]כתר שם טוב‬. Die einfache Form der Krönchen sei dem Verständigen auch ein Hinweis auf die einfachen Vernunftwesen,

18 Vgl.  Kanarfogel, The Intellectual History, S.  164–165; 510–513; Joy Rochwarger, Sefer Pa’aneah Raza And Biblical Exegesis in Medieval Ashkenaz (= Master Thesis), Jerusalem 2000. Quellengrundlage bei Zitaten ist die Prager Ausgabe von 1607 (https://onb.digital/result/10A40703). Isaak ben Jehuda ha-Levi, Sefer pa’aneaḥ raza, hrsg. v. Jakob Stabniz und Jakob Back, Prag 1607. 19 Zum chassidischen Material in Isaaks Schrift vgl. Abba Zions, „Al ha-mehabber šel Pa’aneaḥ raza“, in Or ha-Mizraḥ 29 (1981), 210–214; Isaak .S. Lange, „Le-zehuto šel R. Ḥajjim Palti’el“, in Alei Sefer 8 (1980), 140–146, hier 142–143; Israel Ta-Schma, „Le-toledot ha-jehudim be-polin bame’ot ha-jud bet ha-jud gimmel“, in: Zion 53 (1988), 347–369, hier 357–358.

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so Isaak, der in diesem Zusammenhang auf die Heerschar der Engel aus den vier Lagern der šechinah, die den Thron Gottes umkreisen, anspielt. Der französische Gelehrte befindet sich nun direkt innerhalb der Vision des Propheten Ezechiel vom Thronwagen, in der vier heilige Tiere, vier Gesichter und vier Erscheinungen das geheimnisvolle Geschehen um den Thron Gottes bestimmen. Die Assoziationskette des Isaak verliert sich schließlich in sprachmystischen Spekulationen und einem nachdrücklichen Verweis auf die Unmöglichkeit, diese Geheimnisse in Gänze zu erfassen.20 Der bekannteste Exeget der tagin und otijjot mešunnot ist zweifellos Jakob ben Ascher (gest. 1330). Jakob wurde um 1270 in Köln geboren, schloss sich jedoch Anfang des 14. Jahrhunderts seinem Vater, dem berühmten Ascher ben Jehiel (Rosch), auf dessen Flucht nach Spanien an. Dort verfasste er sein Opus Magnum Arba‘ah turim, ein halachisches Kompendium sowohl für Rabbiner als auch für Laien, das breit rezipiert immensen Einfluss auf die Entwicklung des jüdischen Rechts – auch auf die Schreibpraxis – ausübte.21 Darüber hinaus spielt der „Ba’al ha-Turim“22 eine herausragende Rolle in der Geschichte der jüdischen Schriftauslegung. In seinem Pentateuch-Kommentar, der so unterschiedliche Autoren wie Saadja Gaon, Raschi, Abraham Ibn Ezra oder David Kimchi berücksichtigt, nehmen die kleinsten Elemente der Schrift, die tagin und otijjot mešunnot, einen ungewöhnlich breiten Raum ein. Es ist bemerkenswert, dass Jakob in diesem Themenfeld oft die von ihm bevorzugte Auslegungsmethode des pešaṭ verlässt und mit zahlreichen Bezüge zu den Ḥasidei Aškenaz23 einer esoterischen Bibelauslegung den Vorzug gibt. Im Folgenden soll sein exegetischer Ansatz mit Blick auf Buchstabenschmuck anhand von einigen ausgesuchten Fallbeispielen vorgestellt werden. Der deutsch-spanische Schriftgelehrte streut in seine Bibelkommentare einige Spekulationen zu den tagin und Sonderzeichen ein, die seiner eher ethisch-rabbinisch orientierten Exegese eine esoterische Dimension hinzufügen. Jakob ist zunächst einmal von der Tatsache angezogen, dass ein Buchstabe überhaupt von 20 Isaak ben Jehuda ha-Levi, Sefer pa’aneaḥ raza, hrsg. v. Jakob Stabniz und Jakob Back, Prag 1607, 3v. 21 Ephraim Kupfer und David Derovan, „Jacob ben Asher“, in Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 11, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 30–31. 22 Der Name basiert auf dem Titel seines Hauptwerks Arba‘ah turim, das sich im zweiten Abschnitt Joreh de’ah auch mit dem Schreiben der STaM auseinandersetzt. 23 Vgl. u. a. Judah Galinski, Sefer Arba‘ah Turim veha-sifrut ha-hilchatit šel sefarad ba-me’ah hajud daled (Diss., Bar Ilan: Ramat Gan 1999); Ruth Langer, To Worship God Properly: Tentions Between Liturgical Custom and Halakhah in Judaism, Cincinnati 1998, S.  233; Daniel Abrams, „From Germany to Spain: Numerology as a Mystical Technique“, in: Journal of Jewish Studies 47 (1996), S. 92–93.

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seiner gewöhnlichen Gestalt abweicht. Diese Sonderfälle sind aus seiner Perspektive kein Zufall; vielmehr deutet er sie als Aufforderung, das gekrönte Wort und den verbundenen Vers genauer zu betrachten und methodisch nahe am Midrasch gegebenenfalls mit anderen Passagen der Bibel zu kontextualisieren. Jakob verbindet dabei zentrale Ereignisse der jüdischen Geschichte mit wesentlichen Elementen rabbinischer Ethik und entwirft auf diese Weise eine Art mythische Landkarte des kollektiven Gedächtnisses des Diasporajudentums. So assoziiert er das mit drei tagin versehene kof in der von Gott an Moses gerichteten Aufforderung (Deut 10,11) ‫ – קום לך למסע‬Erhebe dich, um auf die Reise zu gehen – mit der für Abraham bestimmten Anweisung Gottes, sich zu erheben – !‫ – קום‬und das Land in seiner Länge und Breite zu durchwandern (Gen 13,17). Das gekrönte pe im Vers (Deut 1,17) ‫ – לא תבירו פנים במשפט‬Zeige keine Bevorzugung in der Rechtsprechung – verbindet Jakob mit dem Spruch Tue deinen Mund auf für die Stummen (Prov 31,8), um die große Bedeutung einer vorurteilsfreien Rechtsprechung hervorzuheben. In anderen Fällen sieht Jakob in der Form des Buchstabens selbst eine tiefere Bedeutung angelegt. Wenn beispielsweise Moses als Gesandter des Volkes Israel vor Gott steht (Deut 5,27) und Gott alle Gesetze und Gebote und Rechte, die du sie lehren sollst, dass sie darnach tun in dem Lande an Moses weitergibt, ist das jud in dem Wort ‫ – עמדי‬und du stehst hier mit mir – in ungewöhnlicher Weise gekrümmt zu schreiben. Der gekrümmte Buchstabe jud ahme die demütige Körperhaltung des Moses vor Gott nach, so Jakob ben Ascher, als ob Gott zu dem Propheten sprach: „Du sollst in Ehrfurcht vor mir stehen, in gekrümmter Haltung“. Oder aber: „Ich stieg herab für dich, um dir die zehn [= Zahlenwert von jud] Gebote zu geben“.

Aus ähnlichem Grund wird das jud im ersten Wort des Verses: Ich bin zu gering [‫ ]קטנתי‬aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte getan hast (Gen 32,9) von den Schreibern gekrümmt geschrieben. Jakob, der sich gerade für die Begegnung mit Esau rüstet, ist verzagt und fragt sich, ob er eines weiteren göttlichen Beistands würdig sei. Jakob ben Ascher legt Jakob den Satz in den Mund: „Obwohl ich mit zehn Segnungen gesegnet wurde, fürchte ich mich und habe Angst wegen meiner Vergehen“. Das gekrümmte jud birgt dementsprechend einen Subtext in sich, der aus der Form des Buchstaben abgeleitet werden kann. Für Jakob ben Ascher schwingt in der ohnehin kleinen Gestalt des gekrümmten

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jud generell eine gesteigerte Form der Demut mit, die in der direkten Begegnung mit Gott ins Bewusstsein der biblischen Protagonisten dringt.24

Die besondere Krümmung eines Buchstabens kann allerdings auch eine Mahnung anzeigen, etwa wenn es zusammen mit dem traditionell negativ konnotierten ‫[ – פסל‬Götzen-]Bild – erscheint. Die kleine Krümmung am pe eines solchen Wortes lehrt dich, dass jemand, der Götzendienst praktiziert, die gesamte Tora, die mit den Küssen seines – des Heiligen, gesegnet sei Er – Mundes gegeben ward, ablehnt.25

Neben der Form spielt der Zahlenwert der Buchstaben oder die Anzahl der tagin eine entscheidende Rolle in der Hermeneutik des Schriftauslegers. Ein ausnahmsweise gekröntes mem verwandelt sich in den Augen Jakobs aufgrund seines Zahlenwertes in einen Hinweis auf die vierzig Tage, in denen Moses die Tora empfing.

Das entsprechend gezeichnete mem korrespondiere außerdem mit den vierzig Tagen, in denen ein Mensch seiner Seele eine feste Form gibt.26 Die tagin auf einem ṭet beschreiben die neun Monate eines Embryos im Bauch seiner Mutter, aber auch die neun Umstände der Empfängnis, wie sie sich die Rabbinen im Talmud vorstellten.27

24 Vgl. auch Jakob ben Ascher zu Deut 3,25, Num 25,11. 25 Jakob ben Ascher, Peruš ba’al ha-turim al ha-torah, zu Lev 25,26. Vgl. auch Jakob ben Ascher zu Num 1,22 oder Deut 24,6, wo die Krümmung des ajin auf die kommende Welt verweist. 26 Jakob ben Ascher zu Deut 8,5. 27 Jakob ben Ascher zu Deut 5,16.

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Die tagin auf einem samech (Zahlenwert 60) können an das Alter des Isaak bei der Zeugung seines Sohnes Esau erinnern, der aus diesem Grund zur Zerstörung des Tempels – mit dessen sechzig Ellen – bestimmt gewesen sei.28

Die sieben tagin auf einem šin erinnern an unterschiedliche Spielarten des Bösen, die Jakob ben Ascher in Siebener-Gruppen aufzuzählen weiß.29

Die drei tagin auf dem qof (Zahlenwert 100) von ‫ הבקר‬aus dem Vers [Gen 18,7]: Er aber lief zum Stall und holte ein zartes, gutes Kalb und gab’s dem Knechte; der eilte und bereitete es zu, veranlassen Jakob zu der bereits im Talmud geäußerten Annahme, dass Abraham drei Kälber statt eines einzigen Kalbs aus dem Stall führte und dass er erst mit einhundert Jahren Vater wurde.30 Ein gekröntes he (Zahlenwert = 5) repräsentiert wahlweise die fünf Bücher Mose31, die fünf Arten des Altaropfers32 oder

28 Jakob ben Ascher zu Deut 2,3. 29 Jakob ben Ascher zu Ex 20,7. 30 Jakob ben Ascher zu Gen 18,7. 31 Jakob ben Ascher zu Ex 4,12; Ex 13,11. 32 Jakob ben Ascher zu Num 28,3.

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die fünf Dinge, die ein Sohn von seinem Vater erhalten kann33 – um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Jakob ben Ascher dem verdoppelten [‫]פ‘ כפולה‬ bzw. gewickeltem pe [‫]פ‘ לפופה‬. Anstelle der gewöhnlichen Gestalt, die sich aus einem kaf und einem vom Dach des kaf herabhängenden jud zusammensetzt, enthält das gewickelte pe ein in sich gerolltes jud, das je nach Schreibtradition auch ein kleines pe innerhalb des pe abbilden kann. Der Sefer tagin bemerkt in Anspielung auf die Aussprache des Buchstabennamens ‫ פא‬wie ‫„ – פה‬Mund“–, dass es „191 [gewickelte pe] in der Tora gäbe, deren Münder innerhalb seien“. Jakob ben Ascher spielt mit diesem Bild des in sich wiederholten pe, etwa wenn er die biblische Geschichte um Moses und Aaron ausdeutet, die das Volk Israel vor einem Stein versammelten, um sich durch das berühmte Wunder der Wasserspende seiner Treue zu versichern [Num 20,10]. Der „Buchstabe pe des Wortes ‫– פני‬ im Angesicht des Steines – ist verdoppelt“, bemerkt Jakob ben Ascher und erklärt: Das lehrt, dass ganz Israel im Angesicht des Steines von Angesicht zu Angesicht [zusammenstand]. Es war ein kleiner Platz, der eine große Menschenmenge fasste.

Das verdoppelte pe im Wort pnei – „im Angesicht“ – bezeugt das wundersame Geschehen dementsprechend auf zweifache Weise. Zum einen weist seine Gestalt auf eine spiegelbildhafte Situation hin, da das Geschehen von Angesicht zu Angesicht betrachtet werden konnte. Zum anderen ist die Wickelung des pe nach Jakob ben Ascher aber auch ein Fingerzeig Gottes, der seine Immanenz bei diesem Geschehen in der Schrift zum Ausdruck brachte. Die unwahrscheinlich wirkende biblische Begebenheit, dass ein ganzes Volk vor einem Stein stehen und jeder einzelne von ihnen das Geschehen verfolgen konnte, ist ebenso an ein Wunder geknüpft wie das pe, das an dieser Stelle seine normale Gestalt abgelegt hat.

33 Jakob ben Ascher zu Num 11,12.

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Jakob ben Ascher zufolge zeigt das gewickelte pe auch in Deuteronomium 1,7, wo sich das Volk Israel dem gelobten Land zuwenden [‫ ]פנו‬soll, die Präsenz Gottes an. Er schlägt den Lesern seines Kommentars zwei optionale Lesarten vor: Das pe [dieses Wortes] ist verdoppelt, [denn] sie sollten sich von allen bösen Taten abwenden. Oder auch: An allen Orten, denen sie sich zuwenden, ist die Wolke [der Glorie] mit ihnen.

Das gewickelte pe fungiert hier als moralisches Ausrufezeichen, das von Sünden weg zur frommen Tat hinleiten soll, während es in Deuteronomium 5,4 allein das Wunder der direkten Gottesrede von Angesicht zu Angesicht durch „das leuchtende und freundliche Angesicht“ Gottes anzeigt. Ganz ähnlich stellt es sich im Zusammenhang mit der heiligen Zeit der Feste dar. In Deuteronomium 16,1–17 sind verschiedene Höhepunkte des liturgischen Jahres behandelt. In Vers 16 heißt es: Dreimal des Jahres soll alles, was männlich ist unter dir, vor das Angesicht Gottes, deines Herrn erscheinen, an der Stätte, die Gott, dein Herr dir geben wird: auf das Fest der ungesäuerten Brote, das Wochenfest und das Laubhüttenfest. Das Wort Angesicht in der biblischen Wendung ‫ – את פני יהוה‬vor das Angesicht Gottes – ist mit einem gewickelten pe ausgestattet, woraus Jakob ben Ascher folgert: Das bedeutet, dass [an den Pilgerfesten Israel Gott] von Angesicht zu Angesicht [gegenüberstand], als ob Er [zum Tempel] kam, um [die Pilger] zu sehen und auch um [von ihnen] gesehen zu werden.

Auch hier zeigt das gewickelte pe die besonders innige Beziehung von Gott und Israel, in diesem Fall während der Feste, an. Das labyrinthartig in sich zurückgezogene pe ist Jakob ben Ascher aber auch ein Hinweis dafür, dass in dem solchermaßen gezeichneten Bibelvers eine innere Wahrheit verborgen liegt, beispielsweise in Deuteronomium 6,25, wo es heißt: Und es wird uns eine Wohltat sein, wenn wir halten und tun dieses gesamte Gesetz vor Gott unserem Herrn, das Er uns geboten hat. In diesem Vers ist das Wort ‫לפני‬ ‫ – יהוה‬vor Gott – von gekringelter Gestalt, und der Exeget führt dazu aus:

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Das lehrt, dass die Gesetze kommen und vor Gott bezeugen. Darüber hinaus ist das pe von lifnei doppelt, sagend, dass [die Gesetze] in das Innerste [Gottes] hineinführen.

Hier stellt sich das pe als Wegweiser in den göttlichen Raum und – wie Jakob in der Interpretation eines anderen Verses (Deut 17,8) betont – hin zur mündlichen Tora dar. Die Assoziation des gewickelten pe mit der mündlichen Tradition ergibt sich für Jakob aus dem Namen des Buchstabens [‫]פא‬, der sich ausgesprochen genauso anhört wie ‫פה‬, „Mund“. Wie Rabbi Aqiva aus jedem Häkchen der Buchstaben ein Gesetz abzuleiten weiß (bT Menaḥ 29b), so folgert Jakob ben Ascher aus der besonderen Schreibweise des pe im Wort „Mund“ in Vers Deuteronomium 17,6 Auf zweier oder dreier Zeugen Mund soll sterben, wer des Todes wert ist; aber auf eines Zeugen soll er nicht sterben, dass das Bezeugen einer Götzenanbetung nach reiflicher Prüfung mündlich und nicht schriftlich zu erfolgen hat. Als letztes Beispiel für Jakob ben Aschers Vorliebe für das gewickelte pe sei seine Interpretation zu Deuteronomium 15,8 angeführt. Dort heißt es mit dem vorangehenden Vers 7: Wenn deiner Brüder irgend einer arm ist in irgend einer Stadt in deinem Lande, das Gott, dein Herr, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten noch deine Hand zuhalten gegen deinen armen Bruder, sondern sollst sie ihm öffnen und ihm leihen, nach dem er Mangel hat. Jakob widmet sich dem Vers 7, wo die Aufforderung, dem Armen die Hand zu öffnen, mit einer figura etymologica, d. h. der Verwendung des Infinitiv absolutus vor einer Verbform derselben Wurzel – ‫„ – פתח תפתח‬öffne doch!“ unterstrichen wird. Das pe des Infinitiv absolutus patoaḥ ist gewickelt. ‫פתח‬. Doppeltes pe, sagend: Öffne ihm deine Hand und deinen Mund, um ihn [den Schuldner] mit Worten zu beruhigen. Oder auch: Demjenigen, der einen Brotkrumen verdient, gib einen Brotkrumen; demjenigen, der Spezereien verdient, gib Spezereien. Stelle ihn mit allen Arten des Öffnens zufrieden. Oder auch: ‫ פתח תפתח‬. Wenn [der Arme] sich schämt [Geschenke anzunehmen], bringe es vor seine Tür [‫]לפתחו‬. Oder auch: ‫פתח תפתח‬. Verdopple die Sache. […] Das bedeutet, dass es kein Maß beim Schenken gibt, vielmehr sollst du geben, zurückkehren und wieder geben.

Das „doppelte“ pe steht hier ganz im Zeichen einer rabbinischen Ethik, die Großzügigkeit gegenüber den weniger Glücklichen einfordert.

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 9 Die Bedeutung der Buchstaben, tagin und otijjot mešunnot

Es gibt weitere Exegeten im aschkenasischen Kulturraum, wie beispielsweise Eliezer ben Joel ha-Levi von Bonn (Ravjah, gest. 1225) oder Eleazar ben Moses ha-Darschan aus Würzburg (13. Jhd.), die sich den tagin und Sonderzeichen kommentierend gewidmet haben. Eine umfassende Aufarbeitung dieser vor allem in Aschkenas beliebten Form der Schriftauslegung wäre mit Sicherheit lohnenswert und würde tief in die Gedächtnisarbeit der mittelalterlichen jüdischen Kultur hineinführen. Es ist eine Textinterpretation auf der Suche nach einer idealen mythischen Vergangenheit, die mit dem Kommentar lebendig gehalten wird. Trotz der mitunter extrem schwierigen, wenn nicht dramatischen sozialen und politischen Bedingungen der europäischen Gemeinden des Mittelalters enthalten diese Kommentare kaum Spuren der Zeitgeschichte; sie sind vielmehr von der Außenwelt unberührte Räume des Erinnerns.

10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation in der Schreiberliteratur Mit dem Ende des Mittelalters vollzieht sich in der rabbinischen Schreiberliteratur ein bemerkenswerter Wandel. Halachische Theorie sowie ethische und mystische Sichtweisen aus dem Umfeld der Ḥasidei Aškenaz fließen harmonisch ineinander. Darüber hinaus findet die spanische Kabbala ihren Weg in das Denken der Juden in Aschkenas und beeinflusst den Blick auf die Schriftzeichen im Kontext der Herstellung der STaM. Die Sefirotmystik entwickelt sich zu einem essentiellen Bestandteil einer Hermeneutik der Schriftzeichen, die nun eine exklusive Verbindung mit der Halacha eingeht. Die Anfänge dieser Entwicklung sind in Spanien, dem Zentrum der frühen Kabbala, zu finden.

10.1 Nachmanides an der Schnittstelle zwischen ritualisiertem Schreiben und kabbalistischer Spekulation Von Isaak Lurja (1534–1572), dem Kopf der kabbalistischen Schule in Sefad, ist die vielsagende Bemerkung überliefert, dass Nachmanides (Moses ben Nachman, gest. ca.  1270) der letzte genuine Kabbalist gewesen sei, an dessen Werke die Schriften späterer Kabbalisten bei weitem nicht heranreichten. Es habe einen Bruch gegeben, „denn seit der Zeit des Nachmanides ist der Pfad der Weisheit vor den Augen der Weisen verborgen, und nichts als dürre Zweige ohne Wurzeln sind geblieben. Auf ihnen haben spätere Kabbalisten ihre Worte gebaut, [und zwar allein] den menschlichen Intellekt benutzend“1. Der katalanische Gelehrte gilt als einer der wichtigsten Köpfe der sefardischen Kultur des 13. Jahrhunderts, der als „genius at intellectual crossroads“2 die konservative französisch-deutsche Talmudistenschule, die neuen Ideen der provenzalischen Kabbala und die geistigen Früchte der jüdisch-arabischen Kultur zu verbinden wusste. Die Hochschätzung, mit der Luria hier Nachmanides’ Stellung in der Entwicklung

1 Chajjim Vital, Eṣ ḥajjim. Sidrat kitwe Rabbenu ha-AR“I, Tel Aviv 1959/60, S. 19. 2 Bernard Septimus, „,Open Rebuke and Concealed Love‘: Nahmanides and the Andalusian Tradition“, in: Rabbi Moses Nahmanides (Ramban): Explorations in His Religious and Literary Virtuosity, hrsg. von Isadore Twersky (= Harvard University Center for Jewish Studies. Texts and Studies, Bd. 1), London 1983, S. 11–34. https://doi.org/10.1515/9783110722062-010

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 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

der Kabbala hervorhebt, ist vor allem der starken Bindung der Nachmanidischen Schule an die ursprünglich rabbinische Idee einer mündlichen Traditionskette geschuldet. Nachmanides und seine Schüler haben dem klassischen rabbinischen Modell, das die Weitergabe einer esoterischen Tradition in einem exklusiven Lehrer-Schülerkreis propagierte, in vielerlei Hinsicht am konsequentesten entsprochen.3 In der Einleitung zu seinem Pentateuchkommentar spekuliert Nachmanides über die Ursprünge der Mosesbücher und die Umstände ihrer ersten Verschriftlichung. Er lehrt, dass Moses eine präexistente Tora von Gott empfangen habe, die mit „Buchstaben aus schwarzem Feuer in weißes Feuer“4 gebrannt worden sei. Der Prophet erscheint dabei als eine Art Prototyp des Schreibers, der „wie ein sofer aus einer uranfänglichen Tora kopiert und schreibt“. Die Existenz einer Tora, die der Schöpfung und selbstredend der Geburt Moses’ vorausgeht, erkläre auch den seltsamen Umstand – so der spanische Gelehrte –, dass Moses seine eigene Geschichte in der dritten statt in der ersten Person notierte. Neben der Tora wurden Moses auch die tiefen Geheimnisse der Schöpfung mitgeteilt,5 die sich in die Gestalten und Verzierungen der Schrift eingeschrieben haben. Ein berufener Exeget könne das verborgene Wesen des Göttlichen aufspüren, wenn er die Hinweise in den Schriftzeichen, nämlich „die Form der Buchstaben, ob sie gesetzesmäßig oder in ihrer Form verändert wurden, oder in den Wicklungen [‫ ]הלפופות‬und Krümmungen [‫]…[ ]העקומות‬, in den Dornen der Buchstaben und ihren Krönchen [‫“]בקוצי האותיות ובכתריהן‬6 zu deuten verstehe. Nachmanides bezieht sich in seiner Argumentation explizit auf die berühmte Geschichte aus dem Talmud, in der Moses Gott bei der Krönung der Buchstaben zusieht und in der himmlischen Schule des Rabbi Akiba erfährt, welche Bewandtnis es mit diesen nur scheinbar bedeutungslosen Verzierungen dereinst bei der Etablie-

3 Vgl.  Annett Martini, „Die ‚geflüsterte‘ Tradition: Meister-Schüler-Verhältnisse in der aufblühenden spanischen Kabbala des 13. und 14. Jahrhunderts“, in: Meister und Schüler. Master and Disciple: Tradition, Transfer, Transformation, hrsg. von Almut-Barbara Renger und Jeong-hee Lee-Kalisch, München 2016, S. 153–168; Mauro Perani, „Mistica e filosofia: la medizione di Nahmanide nella polemica sugli scritti di Maimonide“, in: Correnti culturali e movimenti religiosi del Giudaismo, hrsg. von Bruno Chiesa (= Associazione Italiana per lo Studio del Giudaismo: Atti del V congresso, novembre 1984), Rom 1987, S. 227–256. 4 Nachmanides, Peruš ha-torah, hrsg. von Charles B. Chavel, Jerusalem 1959/60, Bd.  1, S.  2; vgl. jT Šeq 13b und Raschi zu Deut 33,2. Auch die Idee einer präexistenten Tora ist bereits fester Bestandteil des rabbinischen Denkens der Antike. Vgl. bT Šabb 88b, Midraš berešit rabba, Kapitel 1, Pirqe de Rabbi Eliezer, Kapitel 3. 5 Nachmanides, Peruš ha-torah, S. 2 f.; vgl. bT Roš Hašanah 21b. 6 Nachmanides, Peruš ha-torah, S. 3.

10.1 Zwischen ritualisiertem Schreiben und kabbalistischer Theorie 

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rung der mündlichen Tora haben werde. Nicht „die Krönchen selbst, sondern die Erkenntnis und Deutung ihrer vielen und sehr tiefen Geheimnisse“7, die bei einer fehlerhaften Abschrift verloren gingen, seien von Bedeutung. Nachmanides betont, dass auch der nicht logisch nachvollziehbare Wechsel von Plene- und Defektivschreibung oder andere orthographische Ungereimtheiten vom Schreiber ohne Zögern zu übernehmen seien. Kein Buchstabe dürfe für eine andere Lesart ausgelassen oder hinzugefügt werden. Auch wenn der Literalsinn erhalten bleibe, sei eine derart „redigierte“ Torarolle für den rituellen Gebrauch ungeeignet und solle verborgen werden. Aufgabe eines jeden Schreibers in der Nachfolge von Moses sei es, den heiligen Text in exakt derselben Form zu erhalten und an folgende Generationen weiterzugeben. Das fruchtbare Verhältnis von Mystik und Schreibtradition ist in dem vielzitierten Vorwort des Nachmanides noch gut greifbar. Der Halachist und Kabbalist argumentiert einerseits ganz im Sinne der rabbinischen Schreiberliteratur: Wie die Rabbinen legt er großes Gewicht auf eine unveränderbare Textgestalt. Doch sein Drängen auf absolute Buchstabentreue war auch von mystischen Ideen geleitet, die sich ab dem 13. Jahrhunderts in der aufblühenden spanischen Kabbala etablierten. Eine davon war die Annahme einer „Tradition der Wahrheit, nach der die gesamte Tora aus Namen Gottes besteht [und] sich die Buchstaben der Wörter in göttliche Namen teilen [und] auf andere Weise [wieder zusammensetzen ließen]“8. Es sei die Aufgabe des gewissenhaften Schreibers, dieses nicht für jedermann erkennbare fragile Gefüge von heiligen Gottesnamen und Symbolen zu erhalten, denn jeder noch so kleine Fehler bei der Abschrift „zerstöre die ganze Welt“9 – so Nachmanides –, deren Ursprung und Struktur in einer geheimnisvollen Korrespondenz zwischen den Buchstaben und tagin begründet läge. Die Sprachmystik der spanischen Kabbala weist viele versprengte Elemente aus der Schreibpraxis auf und wirkte ab dem 14. Jahrhundert zurück in die Schreiberliteratur hinein. Vorliegende Studie wird sich in der Darstellung dieses Phänomens allerdings auf mystische Konnotationen des Schriftbilds im aschkenasischen Raum beschränken. Um die komplexe Thematik in ihrem ganzen Umfang darzustellen, sind weitere Untersuchungen notwendig und sicherlich lohnenswert.

7 Ebd. 8 Nachmanides, Peruš ha-Torah, S. 3. 9 Nachmanides, Peruš ha-Torah, S. 4.

270 

 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

10.2 Mystische Konnotationen in den Schreiberhandbüchern Deutschlands Die Schule des Maharam bleibt in ihrer Darstellung der Buchstabenformen weitestgehend im halachischen Rahmen. Das änderte sich zwei Generationen später mit dem Kommentar des Rabbi Samson ben Eliezer (geb. ca. 1330), der es verstand, halachische Theorie und Schreibpraxis mit den mystischen Ideen der Ḥasidei Aškenaz und der in Spanien aufblühenden Kabbala zu verbinden. Die halachisch korrekte Form der Buchstaben lag dem Autor am Herzen, doch nutzte Samson ben Eliezer seine Schrift Baruch še-amar auch, um kabbalistisches Wissen in das halachische System einfließen zu lassen.10 Als Inspirationsquellen seiner Ausführungen zu den Buchstabenformen nennt er dementsprechend neben einschlägigen halachischen Autoritäten auch mystische Denker. Dazu gehört die bereits erwähnte Abhandlung Kitrei otijjot tefillin des Jehuda he-Ḥasid und verschiedene Schriften des Eleazar aus Worms sowie der Sefer keter šem tov des Abraham ben Alexander aus Köln. Letzterer war ein Schüler des Eleazar aus Worms, emigrierte allerdings nach Spanien, wo er sich mit der spanischen Kabbala vertraut machte. In seinem Werk Sefer keter šem tov unternimmt Abraham den Versuch, eine Synthese aus sprachmystischen Positionen der Ḥasidei Aškenaz und der spanischen Sefirotmystik herzustellen. Er bündelt kosmologische Argumente des Abraham Ibn Ezra und Spekulationen zur sefirotischen Architektur der göttlichen Welt nach Asriel aus Gerona in einer Konzeption, deren gedankliches Zentrum das hebräische Alphabet und die Gottesnamen bilden. Wie aus seinen Ausführungen zur symbolische Dimension des Buchstabens vav hervorgeht, schreibt Samson ben Eliezer den Sefer keter šem tow allerdings Menachem Aschkenazi, einem anderen Schüler des Roqeaḥ, zu: Und siehe die Worte des Rabbenu Menachem, des Schülers Eleazars aus Worms, der über das vav in seinem Sefer keter šem tow schrieb: „Das vav ist ein Lehrer der Azilut, ein Werkzeug, das von der Ersten Ursache emaniert wurde, denn es [das vav] ist oben von einer Dicke, doch die Dicke emaniert, bis es sich verschlankt hat und nach unten zuläuft – auch die Azilut ist eine Kraft, die von oben nach unten von Stufe zu Stufe verläuft, von Laubhütte zu Laubhütte, von Existenz zu Existenz, bis sie den Körper des Menschen erreicht, der die Kraft schwächt. Und das ist die Kraft des vav, so wie das vav oben breit und stark ist und unten schmal und schwach.11

10 Ta-Schma, „Erez Israel Studies“ (heb.), S. 94 f.; ders., „Towards a Characterisation“, S. 37–41; vgl. Yuval, „Magie und Kabbala“, S. 186, Anm. 12. 11 Sefer baruch še-amar, S. 98.

10.2 Mystische Konnotationen in den Schreiberhandbüchern Deutschlands 

 271

Samson bezieht sich auch auf den spanischen Kabbalisten Josef Giqatilla, dessen Sefer ša’arei orah er als Folie für die göttliche Funktion einiger Buchstaben und deren Verortung in der kosmischen Struktur der Sefirot heranzieht. Die Bestandteile des alef beispielsweise deuteten „auf die wahre und vollständige Einheit Gottes, da die [Summe] der beiden judin und der Balken von der Art eines vav die Zahl 26 ergibt, was dem Zahlenwert des einzigartigen Namens entspricht“12. Das obere jud verwiese darüber hinaus auf die obere Weisheit, während das sich herabneigende jud die untere Weisheit bezeuge. Das vav in der Mitte entspräche dagegen der sefirah tiferet und stelle eine Verbindung mit ein sof, der obersten sefirah, her. Der kleine Dorn am oberen Ende des jud korrespondiere dagegen mit keter elijon, dem kein Gedanke etwas hinzuzufügen wisse, so Samson.13 Für Samson ben Eliezer ist es dieser kosmischen Funktion des vav wie auch aller anderen Buchstaben geschuldet, besondere Genauigkeit beim Schreiben walten zu lassen, denn siehe, öffne deine Augen und erkenne, wie sich selbst der Weise [von der wahren Gestalt] des vav entfernt hat, denn es entspricht nicht der Regel, es wie eine gebrochene Schrift […] zu schreiben, so wie es in den Maḥzorim geschrieben wird , denn die Aufnahme und der Verlauf der Emanation wird sich nicht [erst] verringern und [dann wieder] verbreitern, sondern verringert sich [gleichmäßig] wie hier .14

Die korrekte Form des vav garantiere den reibungslosen Verlauf der Emanation, während umgekehrt eine unterbrochene oder sich unnötigerweise verengende oder erweiternde Linie den göttlichen Fluss empfindlich störe. Die Schreibanweisungen des Samson sind dementsprechend präzise, bündelt sich doch in den Formen der Buchstaben die Kraft Gottes gleichsam wie in einem Brennglas: Mache den Kopf des vav nicht zu breit, dass es nicht dem reš ähnelt wie hier , sondern wie das Maß einer Qulmus[breite] und nicht breiter, wie dieses . Und mache ihm eine Rundung nach hinten wie hier und nicht winkelig wie hier , oder dass es aussehen wird wie ein zajin.15

Auf diese Weise verfährt Rabbi Samson ben Eliezer mit jedem einzelnen Buchstaben, und es wäre sicherlich lohnenswert, dem faszinierenden Universum des breit gebildeten und vielseitig inspirierten Gelehrten eine eigene Studie zu widmen. In seinem Kommentar zum Sefer tiqqun tefillin des Rabbi Abraham ben Moses aus Sinsheim, einer in erster Linie halachischen Abhandlungen zur Herstellung koscherer Tefillin, führt Samson die Stärken der aschkenasischen und sefardi-

12 Sefer baruch še-amar, S. 88. 13 Sefer baruch še-amar, S. 88. 14 Sefer baruch še-amar, S. 99. 15 Sefer baruch še-amar, S. 99.

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 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

schen Kultur zusammen. Der berüchtigten Detailfreude der aschkenasischen Halacha, die er von den Lehrern seiner Jugend kannte, stellt Samson die auf die großen kosmischen Fragen ausgerichtete Kabbala zur Seite. Als verbindendes Element von Halacha und Mystik fasst Samson die esoterische Bedeutung der Gebote und rituellen Handlungen auf, die neben dem Gebet, der Liturgie und der Exegese auch das Schreiben der Schriftrollen betrifft. Für einen Schreiber, der mit all den mystischen Konnotationen Samsons im Schreibkontext vertraut ist, bedeutet die Abschrift des Textes sicherlich mehr als eine reine Kopierarbeit. Er weiß um die Geheimnisse der Schöpfung, da das Verständnis der Buchstabenformen Teil seiner Arbeit ist. Der Schreiber avanciert hier zum Geheimnisträger. Anklänge an eine solche Auffassung schimmerten bereits in der antiken rabbinischen Literatur durch den halachischen Formenkanon hindurch. Raschi befeuerte mit seinem Hinweis auf den Sefer jeṣirah die Vorstellung von dem schreibenden Magier. Doch erst in Samsons Sefer baruch še-amar aus dem 14. Jahrhundert wird das Raunen zur Gewissheit: ein Schreiber hat direkten Zugang zu den Geheimnissen Gottes und seiner Schöpfung.

10.3 Jom Tov Lipmanns Synthese Den Höhepunkt in der von Samson ben Eliezer angestoßenen Verknüpfung von Halacha, chassidischer Mystik und spanischer Kabbala markiert der Sefer alfa beta – ein Kommentar zu Samsons Sefer baruch še-amar, der Jom Tov Lipmann ben Solomon Mühlhausen zugeschrieben wird.16 Über Jom Tov Lipmanns Leben ist wenig überliefert. Er wirkte von der zweiten Hälfte des 14. in das 15. Jahrhundert hinein, wobei nicht ganz klar ist, ob der Namenszusatz „Mühlhausen“ seine Herkunft oder die seiner Vorfahren angibt. Es gibt Hinweise darauf, dass er in Krakau, Prag, Erfurt und in Österreich in Erscheinung getreten ist. Wahrscheinlich hat Jom Tov Lipmann eine rabbinische Ausbildung genossen. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass sein Name in einer Handschrift mit dem Zusatz dajjan – Richter des rabbinischen Rechts – auftaucht, sondern der Umstand, dass Korrespondenzen mit halachischen Autoritäten wie Jakob Möllin und Jakob ben Judah Weil überliefert sind.17 Auch sein

16 Moshe Idel, „Perušaw šel Rabbi David ben Jehudah he-Ḥasid le-alfa beta“, in: Alei sefer (1981), S. 25–35. 17 Vgl. Gotthard Deutsch und Max Seligsohn, „Yom-Tob Ben Solomon Lipmann-Mülhausen“, in: Jewish Encyclopedia (1901–1906) (http://www.jewishencyclopedia.com/articles/10008-lipmann-mulhausen-yom-tob-ben-solomon; letzter Zugriff am 27.9.2017); Israel Ta-Schma, „Muelhausen, Yom Tov Lipmann“, in Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (Bd. 14, 2. Auflage), Detroit 2007, S. 295–297.

10.3 Jom Tov Lipmanns Synthese 

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Werk – der Sefer alfa beta ist nur ein Beispiel dafür – zeugt von einer tiefgehenden Kenntnis der Halacha, der er oftmals mystische und philosophische Konzepte an die Seite stellte. In die jüdische und nichtjüdische Geistesgeschichte ist Jom Tov Lipmann allerdings nicht als Exeget oder Kenner des Talmud eingegangen, sondern als polemischer Denker, der mit profunden Kenntnissen der lateinischen Sprache und des Neuen Testaments das Christentum kritisch hinterfragte. In seinem berühmtem Sefer ha-niṣṣaḥon und in den im Anschluss an diese Polemik erschienenen Traktaten erklärte er die christliche Religion als dem jüdisch-rabbinischen Denken unterlegen. Seine kritische Auseinandersetzung mit dem Christentum und die damit verbundene Verurteilung von Konversionen zum christlichen Glauben hatten für ihn und zahlreiche Glaubensgenossen rechtliche Folgen, die hier nicht weiter ausgeführt werden können. Jom Tovs Sefer alfa beta kann als eine Art Handbuch für Schreiber betrachtet werden, die sich auch mit der symbolischen Natur der Buchstaben befassen wollen. Er hat das Büchlein sehr wahrscheinlich nach 1413 in seiner Erfurter Zeit als Kommentar zu dem einige Jahrzehnte vorher verfassten Baruch še-amar geschrieben. Diese Datierung lässt sich aus verschiedenen randläufigen Bemerkungen innerhalb seines Werkes ableiten, die von einer Abfassung des Sefer alfa beta nach seiner 1413 vollendeten Schrift Sefer ha-eškol berichten.18 Im Vorwort zu seinem Schreiberhandbuch berichtet er darüber hinaus, dass er sein Wissen um die Formen der Buchstaben 33 Jahre zuvor von Rabbi Samson [ben Eliezer] bezogen habe. Tatsächlich stammt das früheste handschriftliche Zeugnis des Sefer baruch še-amar aus dem Jahre 1383 (Vatican Ebr. 283) – d. h. aus einer Zeit, die Jom Tovs Erinnerung nach von seiner Beschäftigung mit den Schreibregeln im Schülerkreis des Rabbi Samson ben Eliezer geprägt war.19 Trotz dieser recht konkreten Spuren wurde der Sefer alfa beta bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht mit Jom Tov in Verbindung gebracht, sondern u. a. dem Verfasser des Sefer baruch še-amar zugeschrieben, als dessen Anhang das Werk in manchen Handschriften überliefert ist und schließlich im russischen Schklov 1804 erstmals in den Druck gelangte. Für Jom Tovs Autorschaft spricht auch eine weitere Schrift zu diesem Themenkreis, die ihm eindeutig zugeschrieben werden kann. Bei dem Werk mit dem Titel Sefer tiqqun sefer torah, handelt es sich um ein weiteres Schreiberhandbuch, das u. a. die korrekte Platzierung der offenen und geschlossenen Sektionen einer Torarolle thematisiert.

18 Judah Kaufmann, Rabbi Jom Tov Lipmann Mühlhausen (heb.), New York 1927, S. 121. 19 Vgl. Israel Jacob Yuval, „Magie und Kabbala unter den Juden im Deutschland des ausgehenden Mittelalters“, in: Judentum im deutschen Sprachraum, hrsg. von Karl E. Grözinger, Frankfurt a. M. 1991, S. 173–189, hier S. 186 (Anm. 12).

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 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

Jom Tovs Abhandlung zu den Schreibregeln für die korrekten Formen der Buchstaben, der Sefer alfa beta, ist vor allem wegen seiner erweiterten Quellenwahl bemerkenswert. Der streitbare Gelehrte griff auf eine Vielzahl mystischer Werke zurück, die den rabbinischen Autoritäten mitunter ein Dorn im Auge waren. Dazu gehörte der Sefer ha-bahir, dem Rabbi Meir ben Schimon aus Narbonne im Jahre 1245 vorwarf, „Wörter der Häresie und Unorthodoxie“ zu enthalten.20 Das ebenfalls pseudepigraphische Werk Sefer ha-temunah war eine weitere wichtige Inspirationsquelle des Jom Tov und setzte gänzlich neue Impulse für die halachische Betrachtung der Schriftzeichen. Das Buch ist wahrscheinlich Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts im Namen der Tannaiten Rabbi Nechunja ben ha-Kanah und Rabbi Ischmael im sefardischen oder byzantinischen Raum verfasst worden. Jeder Buchstabe des hebräischen Alphabets erfährt darin eine esoterische Interpretation auf Grundlage verschiedener rabbinischer Quellen. Darüber hinaus werden die ersten zehn Schriftzeichen im Zusammenhang mit den Sefirot und deren kosmischer Funktion interpretiert. Der Sefer ha-temunah verknüpft die Idee von den kosmischen Zirkeln, den sogenannten šmiṭṭot (šmiṭṭah = Sabbatjahr), mit den Buchstaben, deren Formen und Zahlenwerte für diese Exegese den Ausschlag geben. Diese Ideen fanden in Aschkenas ab Ende des 14. bzw. Anfang des 15. Jahrhunderts große Verbreitung, wovon zahlreiche erhaltene Manuskripte mit diesem Traktat Zeugnis ablegen. Mit Blick auf die Beschreibung der Buchstabenformen ist hier die Merkwürdigkeit zu erwähnen, dass der Sefer ha-temunah einen in den rabbinischen Vorlagen eher marginalen Aspekt extensiv ausbaut: nämlich die Möglichkeit, einen Buchstaben aus mehreren anderen Buchstaben zusammenzusetzen. Das alef besteht aus einem diagonal verlaufenden vav, von dem zwei jud nach oben bzw. nach unten abgehen. Das beit lässt sich in ein dalet und ein liegendes vav zerlegen, das ṭet führt kaf und zajin zusammen, das ajin kann in nun und zajin aufgelöst werden, im ṣade kommen nun und jud zusammen, das qof vereint ein kaf und ein nun-sofit, während das tav aus dalet und vav besteht. Die Tendenz, in jedem Buchstaben nach anderen Buchstaben zu suchen, ist in der Schreiberliteratur ab dem 15. Jahrhundert omnipräsent. Über die Ursachen dieser Entwicklung kann in verschiedene Richtungen spekuliert werden. Zum einen ist dieses „Baukastensystem“ sicherlich ein für angehende Schreiber willkommenes mnemotechnisches Mittel, um die Buchstaben auch im Detail exakt reproduzieren zu können. Die Grundbausteine sind die einfachen Buchstaben wie das jud, kaf oder vav, die zu den komplexeren Buchstaben zusammen20 Rabbi Meir ben Schimon aus Narbonne, Milḥemet miṣvah, Ms. Parma, Biblioteca Palatina, parmense 2749 (De Rossi 155), fol. 231v–232v; vgl. das Vorwort von Giulio Busi zum The Book of Bahir. Flavius Mithridates’ Latin Translation, the Hebrew Text, and an English Version, hrsg. von Saverio Campanini, Turin 2005, S. 10.

10.3 Jom Tov Lipmanns Synthese 

 275

gesetzt werden können. Außerdem fördert das multiple Wesen der Schriftzeichen die Etablierung eines in sich geschlossenen Systems, das sich von äußeren Faktoren unabhängig macht. Das neben der Quellenwahl Besondere an Jom Tov Lipmanns Darstellung ist seine Systematik, die ihn als Kenner der vielfältigen Schreiberliteratur auszeichnet. Er möchte „das Alphabet aus vier Perspektiven erklären“, wobei er die unterschiedlichen Geistesströmungen, die im Lauf der Jahrhunderte in die halachische Auseinandersetzung mit den Schreibregeln für die Buchstaben und Sonderzeichen im mittelalterlichen Aschkenas zusammengeflossen sind, voneinander trennt und auf jeden einzelnen Buchstaben anwendet. Die erste Perspektive, so Jom Tov, fasst „allein die Gestalt ihrer Formen ohne [tiefere] Logik und Einsicht“ ins Auge, „damit jeder Mensch versteht: die heilige Sprache begreifen heißt die Wahrheit zu lernen“. Bei der zweiten Sichtweise handelt es sich um den ethisch motivierten Blickwinkel „der Weisen, der Kenner der Schrift, der Begreifer des Glaubens und Gesetzes, die die Ansichten und Meinungen gemäß der Überlieferung der Rabbinen erklären“21. Tatsächlich rezipiert Lipmann hier in erster Linie die halachische und aggadische Literatur der Antike, aber auch rabbinische Kommentare des Mittelalters, um die theologische Tiefe der Schriftzeichen auszuloten. Erst dann unterscheidet er nochmals zwischen zwei esoterischen Sichtweisen auf die Buchstaben entsprechend „der Geheimnisse ihres Aufbaus“. Die dritte Art der Auslegung behandelt die Gestalt der Buchstaben, welche in großer Zahl im Sefer ha-temunah [behandelt sind]. Doch ich werde nicht alles nach dem Wissen dieses Weisen allein beschreiben, [sondern] nur sammeln und auswählen von ihm [dem Sefer ha-temunah] und dem Sefer ha-bahir und dem Sefer ozar ha-kawod [des Todros ben Josef ha-Levi Abulafia], und dem Sefer ha-roqeaḥ [des Eleazar aus Worms] und aus dem Sefer ha-otijjot. […] Ich werde ihre Gestalt mit einer Anzahl von Andeutungen beschreiben.22

Im vierten Buchstabenkommentar präsentiert Jom Tov Lipmann die kabbalistische „wahre Überlieferung“, die von der „Figur ihrer Gestalt gemäß den Sefirot mit einer Erklärung ihrer Namen und Anordnung“23 handelt. Tiefgründiger als alle anderen Methoden deute sie „auf die wundervollen Geheimnisse, welche ich in den Büchern des Geheimnisses erkannte“. Lipmann unterscheidet dementsprechend zwischen den eher kosmologisch angelegten Interpretationen, in denen die Gematriot und die Namensmystik eine prägende Rolle spielen, und der philosophisch motivierten Sefirotmystik. 21 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 199. 22 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 244. 23 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 199.

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 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

Über die Gründe dafür, dass er genau vier Wege der Buchstabenbetrachtung aufzeigt, lässt sich nur spekulieren. Vielleicht assoziierte Lipmann seine in Anschlag gebrachten Methoden nach dem PaRDeS-Prinzip mit den vier Arten der Bibelexegese, die vom einfachen Schriftsinn (pešaṭ) ausgehend sich über die rabbinische Exegese (deraš) zur allegorischen (remez) und schließlich zur mystischen Schriftauslegung (sod) und damit zum essentiellen Wahrheitskern der Tora vorarbeitet. Es ist auch möglich, dass der philosophisch gebildete Jom Tov Lipmann auf die vier Stufen der Gotteserkenntnis anspielt, die Maimonides mittels der berühmten Palastmetapher in seinem Führer der Unschlüssigen (Buch III,51) darstellt. Die Distanz einer bestimmten Gruppe zum Palast des Königs zeigt darin die Nähe zur göttlichen Wahrheit an. Die breite Masse, die das Gesetz ohne weitere Studien erfüllt, bekommt den Palast des Königs nicht zu Gesicht. Die Talmudgelehrten und Kenner des Gesetzes haben immerhin schon die äußere Mauer des Königspalastes erreicht, finden jedoch den Eingang nicht. Allein diejenigen, die das Gesetz studiert und zusätzlich die Wissenschaften studiert haben, wandeln bereits im Vorhof des Palastes. Doch nur diejenigen, die über die Naturwissenschaften hinaus Metaphysik betrieben und alle ihre Gedanken auf das Göttliche gerichtet haben, erreichen den inneren Bereich des Palastes und stehen vor dem König, d. h. erkennen die göttlichen Wahrheiten. Jom Tov gehört zu den ersten Gelehrten aus dem aschkenasischen Raum, die sich intensiv mit der Philosophie des Maimonides auseinandersetzten. Israel Ta-Schma betont: „He based himself on Maimonides’ Guide of the Perplexed, and it was he who first gave it wide publicity in Poland and the neighboring countries, just as he endeavored to establish his halakhic views in accordance with the opinion of Maimonides“24. Dementsprechend ist es durchaus denkbar, dass sich Jom Tov bei der Konzeption seiner Abhandlung der Buchstabenformen zum Schreiben der STaM von Maimonides hat leiten lassen, zumal er auch in seinen anderen Schriften kaum zwischen Halacha, Mystik und Philosophie trennt. Die vier Interpretationsperspektiven des Jom Tov Lipmann sollen im Folgenden am Beispiel der Buchstaben alef, beit, he, vav und jud dargestellt werden. Dafür werden die entsprechenden Abschnitte bzw. Ausschnitte übersetzt und kommentiert. (Abb. 37–39)

24 Israel Ta-Schma, „Muelhausen, Yom Tov Lipmann“, S. 596.

10.3 Jom Tov Lipmanns Synthese 

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Abb. 37: Jom Tov Lipman, Sefer alfa beta, Ms Guenzburg 162, fol. 112r (Russian State Library Moskau).

278 

 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

Abb. 38 und 39: Jom Tov Lipman, Sefer alfa beta, Cod. Hebr. 291, oben fol. 2; unten fol. 4 (Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky).

10.3 Jom Tov Lipmanns Synthese 

 279

10.3.1 Die Formen der Buchstaben

„Das alef sollte einen oberen Punkt wie ein jud mit einem kleinen Dorn darauf haben. Und sein Gesicht/seine Vorderseite sollte mit dem Dorn etwas nach oben gedreht sein. Das Bein des jud sollte mit dem Dach des Körpers verbunden sein, [und zwar] in der Mitte des Körpers. Und das obere Ende des Dachs ist von seiner Rückseite etwas nach oben gekrümmt. Der untere Punkt ist weit vom Kopf des Körpers entfernt, etwa wie das Maß ein und einer halben Qulmusbreite. An dem unteren Punkt sollte ein kleiner nach unten [geneigter] Dorn auf der rechten Seite sein. Der linke Dorn des oberen Punktes sollte an dem rechten Dorn des unteren Punktes ausgerichtet sein. […] Das alef sollte quadratisch sein, allein der linke Fuß ragt unten um eine halbe Qulmuslänge heraus, von wo sich der Nacken, der auf dem unteren Punkt ist, in die Länge zieht; doch bei einer in die Länge gezogenen Schreibweise muss gar nichts [aus dem Quadrat] hervorragen.“25

„Das beit sollte quadratisch sein mit einer Länge und einer Breite von drei Qulmusdicken. Und es sollte einen Dorn an der oberen Ecke auf der rechten Seite haben, der sich zur Seite dem alef hinneigt mit einer starken Ferse nach unten und einem kleinen Strich nach oben auf der linken Seite seiner Oberfläche. Die Breite seines inneren Hohlraums entspricht [in der Höhe] einer Qulmusdicke. […] Es sollte quadratisch sein: Länge gleich Breite.“26

25 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 199 und 205. 26 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 200 und 205.

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 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

„Das he: Die Gestalt seiner Form sollte wie das dalet sein, nur dass in ihm ein Punkt hängt. Und dieser Punkt sollte nicht das Dach oben berühren; er sollte kein ausgedehnter Punkt, sondern nach oben hin dünn und unten sehr fett und auf der rechten Seite etwas gekrümmt sein. Der Punkt sollte vom Dach nicht weiter entfernt sein als eine Qulmusdicke, doch auch nicht zu nah am Dach, so dass ein durchschnittlicher Mensch von einer Entfernung von vier Ellen die Lücke erkennen kann. Der Punkt soll sich auch nicht unterhalb der Mitte des Daches befinden, sondern sich links an dem Ende des Daches [ausrichten und] auf der linken Seite der Oberfläche mit einem kleinen nach oben gezogenen Strich [versehen sein]. […] Es sollte quadratisch sein.“27

„Das vav sollte auf der linken Seite eine rundliche Form so wie das reš haben, doch sein Kopf ist so klein und von gleicher Oberfläche[ngestalt] wie ein jud. Sein Fuß ist so lang wie zwei qulmusim und die Verlängerung nach unten [sollte] gleichmäßig [verlaufen] und nicht in der Mitte [durch eine Verdickung] unterbrochen sein, sondern seine Dicke verringert sich und wird weniger und weniger, bis es unten zugespitzt ist. […] Die Höhe ist wie beim [Buchstaben] beit.“28

„Der Kopf und die Vorderseite des jud sollten gleich [groß] sein. Auf der rechten Seite sollte es einen kleinen gebogenen Schenkel, auf der linken Vorderseite ein Krönchen [tag] und dem gegenüber einen kleinen, nach unten verlaufenden Dorn

27 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 200 und 206. 28 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 200 und 206.

10.3 Jom Tov Lipmanns Synthese 

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haben. Doch der Dorn sollte kleiner als das [nach oben gehende] Krönchen und auch kleiner als der Schenkel rechts sein. […] Es hat die Größe einer Qulmus[dicke].“29 Jom Tov Lipmann war viel an einer einheitlichen Form der Buchstaben gelegen. Ähnlich wie andere, bereits vorgestellte Verfasser von Schreiberhandbüchern und rabbinischen Abhandlungen der Buchstabenformen sorgte er sich um „ihre Gestalt, das Geheimnis ihrer Zusammensetzung und die Anschauungen über ihre Gestalt […], die wegen unserer vielen Sünden von uns vergessen wurden“30. Der Halachist Jom Tov beklagt „diese Lücke in Israel […], wo doch von jedem einzelnen empfangen wurde, dass das beit rechtwinklig ist, während das kaf rund sein muss. Doch siehe die meisten soferim, die doch Fachleute sind, schreiben sogar in einem sefer torah das beit auf der rechten Seite ohne Winkel rund, doch dem kaf machen sie an dieser Stelle einen Winkel“31. Ihm sind die widersprüchlichen Vorgaben innerhalb der halachischen Literatur bewusst, weshalb er mit seiner detaillierten Buchstabenbeschreibung die Festlegung eines endgültigen Kanons anregen möchte: Und es gibt die Worte, die in den Büchern der ausgezeichneten und bekannten Rechtsgelehrten [die Formen der Buchstaben] erklären. Doch auch die Experten sah ich teilweise fehlgehen; so steht im Haggahot Maimunijjot [des Rabbi Meir ben Jekutiel ha-Kohen aus Rothenburg]: das ḥet sollte auf der rechten Seite keinen Strich haben – doch sie [i. e. die Schreiber] machen es mit einem Strich. Und [ebenso wurde] mit den Worten Rabbi Eliezers aus Metz [umgegangen], der schrieb, dass das gewickelte nun und ṣade in ihren Wicklungen rund sein sollten – doch sie [i. e. die Schreiber] machen sie mit Ecken. Doch damit nicht genug, sie machen sogar Schnörkel in ihre Wicklung. Ganz zu schweigen von den fehlerhaften STaM und den soferim, die sich schuldig gemacht haben, ohne es zu wissen.32

Jom Tov besaß ausgezeichnete Kenntnisse der Schreibpraxis und aller damit verbundenen materialen Vorschriften des Religionsgesetzes, worunter auch die Formen der Buchstaben und Sonderzeichen fallen. Es sei an dieser Stelle betont, dass der Sefer alfa beta, der innerhalb der Forschung wenn überhaupt, dann als sprachmystische Abhandlung wahrgenommen wurde, auf einer fundierten halachischen Basis steht, die klar von ethischen und mystischen Konnotationen zu trennen weiß. Die Klage des Jom Tov ist einerseits sicherlich die gewöhnliche Rhetorik desjenigen, der den Nutzen seines Buches herausstreichen möchte. Andererseits jedoch bezeugt sie zweifellos das ganz reale Problem der Schreiber dieser Zeit, eine verbindliche Regulierung auch der kleinsten Details der Buchstabenformen

29 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 201 und 206. 30 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 197. 31 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 197. 32 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 197.

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zu finden. Man kann davon ausgehen, dass auch im mittelalterlichen Deutschland variantenreiche Vorlagen kursierten, die je nach Schreibstube unterschiedliche halachische Traditionen repräsentierten. Das Streben nach einer Vereinheitlichung der Schrift, das die Rothenberger Schule vor allem in der Person des Samson ben Eliezer zu einer Kanonisierung des gesamten Alphabets im Kontext der STaM veranlasste, trug zur Zeit des Jom Tov Lipmann offensichtlich noch keine weitreichenden Früchte und musste ins Bewusstsein der Schreiberzunft getragen werden.

10.3.2 Rabbinische Welten

„Was ich [weiter oben] schrieb, dass der Dorn des jud, das auf dem [Buchstabenkörper] des alef sitzt, sich ein wenig nach oben neigt, ist eine Sache, die im Alphabet des Rabbi Aqiva erklärt ist, wo es heißt: ‚Weswegen streckt sich das jud auf dem alef nach oben? Weil es nach Gott Ausschau hält und bezeugt, dass ER Einer ist‘. Und das Krönchen [tag] auf dem jud deutet auf ein Geheimnis hin. Und das Bein [des oberen jud] sollte an die Mitte des Daches gebunden sein, denn so ist die Tradition unseres Rabbi Jehuda he-Ḥasid, gesegneten Andenkens. Das Ende seines Daches, schrieb Rabbi Meir ben Samuel [aus Ramerupt, gest. nach 1135], sollte gekrümmt sein, wie es heißt [bT Šabb 103b]: ‚Mache aus alef kein ajin‘. Die Erklärung ist, dass es tatsächlich nicht auf dieselbe Weise gekrümmt und so lang wie der linke Kopf [des ajin] gemacht werden sollte. Und obwohl es [i. e. das alef] dem ajin eigentlich nicht so ähnlich ist, wird es doch als dem ajin ähnlich erachtet und wir müssen das wirklich unterscheiden, damit nicht ein Buchstabe dem anderen gleicht. Es ist notwendig davor zu warnen, dass man es [i. e. den Buchstabenkörper des alef an der rechten oberen Seite] nicht zu stark krümmt und aus einem alef kein ajin gemacht wird, die sich [diesbezüglich] ein wenig ähneln. Und daher ist es nur ein wenig gekrümmt. Aus dieser Perspektive sollst du die gesamte Sache verstehen; wenn ich schreibe, dass sie sich ähneln, [dann deshalb] weil es nicht sein muss, dass sie sich tatsächlich komplett ähneln. Der Abstand des unteren Punktes zum Kopf des Körpers ist etwa eine und eine halbe Qulmusbreite. Das entspricht dem inneren Maß [der Länge der inneren vertikalen Linie] des [Buchstabens] beit: nämlich einer Qulmusdicke, die dann den

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Fuß des alef links um eine halbe Qulmusdicke überragt, damit der Punkt nicht den Körper berührt. Und an dem unteren Punkt soll unten ein kleiner Dorn auf der rechten Seite sein, damit seine Gestalt wie ein jud ist, das an einem tag hängt, welches am Körper des alef ist. Und so fand ich seine Form in den Büchern der Alten. Und so verhält es sich auch hinsichtlich des Geheimnisses, denn die Dornen sind einer gegenüber dem anderen ausgerichtet – ein Geheimnis andeutend.“33

„Das beit ist quadratisch wegen eines Geheimnisses. Aus diesem Grund beträgt seine Länge [und Höhe] drei Qulmusdicken, sein innerer Raum entspricht [in der Höhe] der Dicke eines qulmus. Und es hat auf der linken Seite oben einen Strich und auf der rechten Seite oben einen kleinen Dorn, der sich zum alef neigt wie im Jeruschalmi Massechet Ḥagiga [2a] gesagt ist: ‚Weshalb hat das beit zwei Dornen, einer nach oben und einer nach hinten [zeigend]? Er sagt zum beit: wer hat dich geschaffen? Er zeigt ihnen [die Antwort] mit seinem Dorn der nach oben [weist]. [Und er fragt weiter:] Und was ist sein Name? Und es [i. e. das beit] zeigt es ihnen mit seinem Dorn, der sich nach hinten zum alef [neigt]. Damit will es sagen: Eins ist sein Name‘. Aus diesem Grund sollte sich der Dorn nach der rechten Seite [hin zum alef] neigen. Die soferim sind angehalten, den Dorn obendrauf wie einen Strich zum Schmuck zu machen. Und es [das beit] sollte unten einen breiten Absatz haben, denn seine Gestalt ist wie ein dalet, mit dem Hals des vav [nach unten] gezogen. Deshalb ist es notwendig, dass es oben rechtwinklig ist, damit es wie ein dalet wird. […].“34

„Das he ist so kurz wie ein dalet mit einem tag obendrauf und in ihm hängt ein Punkt. Und es sollte nicht rund wie das reš sein, wie gesagt ist [bT Menaḥ 29b]: ‚Weshalb wurde diese Welt mit he erschaffen? Weil es einer Halle gleicht, wer hin-

33 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 208–215. 34 Lipmann, Sefer alfa beta, 215–216.

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ausgehen will, gehe hinaus. Weshalb ist sein Schenkel schwebend? Tut er Buße, so lässt man ihn eintreten. Und weshalb ist der linke Fuß hängend? Da jeder, der Buße tut, denselben Weg Umkehr tun kann. Weshalb hat es eine Krone? Der Heilige, gepriesen sei er, sprach: Tut er Buße, so will ich ihm eine Krone machen‘. Und der Kommentar des Rabbenu Tam hinsichtlich des hinteren Dorns und des tags [auf dem he] lautet im Anschluss an [bT] Eruvin [13a]: ‚Was ist wenn eine Fliege sich auf das Häkchen des dalet setzt, es verwischt und aus diesem ein reš macht‘. Und [Rabbi Meir ha-Kohen aus Rothenburg erklärt in seiner Schrift] Haggahot Maimunijjot: ‚Ich wand ihm eine Krone‘, meinend, dass in Übereinstimmung mit dem Kommentar Raschis eine Krone obendrauf sein soll. Und auch Rabbenu Tam musste einsehen, dass es [i. e. das he] ein tag obendrauf hat, wie im Jeruschalmi Ḥagiga [2,5] gesagt wurde: ‚Das he hat einen Punkt nach oben, lehrend, dass die zukünftige [Welt] aufsteigt. […]‘ Wir müssen auch die Worte des Rabbenu Tam beachten, denn siehe der Roqeaḥ überlieferte, dass das he hinten eckig ist, und außerdem, dass seine Gestalt aus einem dalet und einem jud besteht. Was hat es damit auf sich? Ich schrieb, dass es einen Punkt – oben dünn und unten dick mit einer leichten Krümmung auf der rechten Seite – hat; doch nicht auf der linken Seite, sonst wird es gleich dem tav. […] Der Punkt sollte gegenüber dem Ende des Daches liegen, denn wenn er [das Dach] oben berührt, gleicht er dem ḥet, wie sie erklärten [bT Šabb 103b]: ‚Mache nicht aus einem he ein tav, denn sie gleichen sich ein wenig. Und jene, in deren Mitte ein Punkt ist, gleichen [dem tav] nicht.‘“35

„Das vav sollte eine Rundung auf der rechten Seite haben, dass es nicht dem zajin gleiche, da der Kopf des zajin an beiden Seiten herausragt. Das bedeutet [vgl. bT Menaḥ 29b]: Falls ein Kind weder klug noch dumm es als zajin lesen kann, dann ist es pasul. Und sein Kopf sollte schmal sein, damit es nicht einem reš gleiche. Und seine obere Linie sollte waagerecht sein […]. Der Fuß sollte lang [genug] sein, damit es nicht dem jud gleiche. Und der Verlauf nach unten sollte gleichmäßig und nicht wie eine in der Mitte gebrochene Schrift sein, sondern ganz und voll-

35 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 219–221.

10.3 Jom Tov Lipmanns Synthese 

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kommen. Die Dicke [des Fußes] verringert sich, und das deutet auf ein Geheimnis hin.“36

„Sein Kopf und seine obere Linie sollten gerade sein […] und es hat einen kleinen Fuß, der nicht so groß sein sollte, dass es einem reš gleicht. Und der Fuß sei gekrümmt, um seine Form zu verbessern. Und das entspricht der Meinung Raschis. Und es hat ein tag obendrauf und einen kleinen Dorn nach unten verlaufend. Wie [die Rabbanan] bemerkten [bT Menaḥ 29a]: ‚Ein einziger [fehlerhafter] Buchstabe kann [alles] verderben. […] Rav Jehuda antwortete im Namen des Rav: [Diese Ansicht muss auch hinsichtlich] des Dorns auf dem jud gelehrt werden. Raschi kommentierte dazu: Der rechte Fuß ist gebogen. Zweifellos ist der Körper dieses Buchstabens schwierig […]‘. Dazu kommentierte Rabbenu Tam, dass der Kopf auf der linken Seite des jud nach unten gebogen sei. Dementsprechend verlangen beide, Raschi und Rabbenu Tam, einen Fuß auf der rechten Seite. Doch auch, was Rabbenu Tam erklärte, dass der Kopf links nach unten gebogen ist, ist kein Widerspruch zu Raschi. Sie sagten [im Midraš] pesiqta [rabbati 21]: ‚Weshalb hat das jud einen Punkt unten. Es deutet auf die Sünder, die [in den gehinnom] herabsteigen, und der obere Punkt deutet auf die Zukünftigen, die aufsteigen‘, das bedeutet, dass es einen Dorn unterhalb [des Punktes] und dem gegenüber einen tag nach oben aufweist. Und der untere Dorn sollte kürzer als der Fuß sein, damit es nicht dem ḥet gleiche. Wahrlich, der Fuß des jud sollte gebogen sein.“37 Jom Tov Lipmann erweist sich auch in diesem Interpretationsfeld als Kenner der rabbinischen Literatur und folgt der aggadischen Sicht auf die Buchstaben, nach der „die Form und das Geheimnis ihres Aufbaus am Sinai gegeben“38 worden und demzufolge mit einer höheren ethischen Wahrheit behaftet sind. Als Hauptbezugspunkte für seine „Formenethik“ stützt Jom Tov seine Ausführungen wie zuvor angekündigt auf Rabbinisches – auf den Talmud und dessen Auslegungen, auf verschiedene Midraschim und natürlich auf das Alphabet des Rabbi Aqiva, dessen starken Einfluss auf die Schreibtradition nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

36 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 221. 37 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 224–228. 38 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 197.

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 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

10.3.3 Kosmologie und Israel

„Es ist im Sefer ha-temunah geschrieben, dass sich seine Gestalt [i. e. die des alef aus] einem jud oben und einem jud unten und einem vav in der Mitte [zusammensetzt]. Und die Summe [dieser drei Buchstaben] ist 26, was dem [Zahlenwert des] einzigartigen Namens entspricht. Doch das alef ist der erste [Buchstabe des Alphabets] und es gibt eine Erklärung sowohl hinsichtlich seines Zahlenwertes als auch hinsichtlich seines Namens. Und deshalb deutet es auf Seinen Namen hin, gesegnet sei Er, da der Vers [Deut 6,5] Und du sollst deinen Herrn, deinen Gott, lieben, mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und deinem ganzen Vermögen mit vav [6] beginnt und mit kaf [20] abschließt – siehe [das ergibt zusammen] 26. Und der Vers [Deut 32,3] Denn ich werde den Namen des Herrn preisen, die Ehre unseres Herrn ist groß beginnt mit einem vav und schließt mit einem kaf – siehe [das ergibt zusammen] 26. […] Im [Buchstaben alef] ist auch angedeutet, dass der Name, gesegnet sei ER, die Sphären bewegt, da die zwei judim die zwei Pole der Sphären […] im Norden und im Süden andeuten. Und das vav deutet auf die Linie hin, die gleichsam in der Mitte der Pole von Osten nach Westen verläuft. Und da [der drei Buchstaben] Zahlenwert [10 + 10 + 6] 26 ist, so gibt es 26 Wochen, [in denen sich] die Sonne von der Äquatorlinie zu einem Pol und 26 Wochen, [in denen sich] die Sonne vom Äquator zum zweiten Pol neigt, wie aus der Weisheit der Astronomie bekannt ist. Außerdem ist durch [den Buchstabenkörper des alef] angedeutet, dass die Stimme Gottes mit Moses zwischen zwei Kerubim sprach, denn die zwei judim deuten diese zwei Kerubim an und das vav deutet auf die Stimme hin, die zwischen beiden hervortrat und von dort zu Moses unserem Lehrer, Friede sei mit ihm, gelangte. Und ihr Zahlenwert ist 26, denn es gibt 26 Generationen von Adam bis Moses, der die Tora empfangen hat in der Form des alef beit. Und es gibt 26 Verse in der Schrift, in denen das gesamte Alphabet enthalten ist. Und weil das alef die Einheit Gottes, den Anfang allen Seins ausdrückt, ist es würdig, der Anfang des Alphabets zu sein.“39 39 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 245. Im Sefer ha-temunah ist das alef in der ersten Interpretation folgendermaßen beschrieben: „Der Buchstabe alef deutet auf keter elion hin. Und sein Abbild deutet auf drei middot hin: Ḥochmah, binah und tiferet, denn auch tiferet selbst stammt aus der middah alef. Und das alef [erscheint in dem] Ausdruck [Hiob 33,33]: Ich will dich die Weisheit leh-

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„Der Roqeaḥ schrieb, dass seine Gestalt [i. e. des beit] oben einem dalet und unten einem vav entspricht. Es ist also eine Verbindung aus dalet vav [‫]דו‬. In der Sprache des Talmud bedeutet do [‫„ ]דו‬zwei“: ‚Es ist besser [für eine Frau] zu zweit als im Witwenstand zu leben‘. [bT B. Qama 111a; Jebamot 118b; Ketubot 75a; Qidd 7a 41a]. Dementsprechend ist der Zahlenwert des beit zwei. Aus diesem Grund beginnt die Tora mit einem beit, denn es deutet auf die zwei torot hin: die schriftliche Tora und die mündliche Tora. Und es deutet auch auf die zwei Gesetzestafeln hin, auf denen die zehn Gebote stehen – wie der Zahlenwert von [6 + 4] ‫[ דו‬zeigt]. Und es deutet auf die zwei Welten und [darauf, dass] alles von dem Einen, gesegnet sei Er, ist, hin. Aus diesem Grund ist das beit auch nach dem alef aufgestellt. […]“40

„Über das he ist im Sefer ha-temunah geschrieben, dass seine Gestalt wie ein dalet mit einem umgedrehten jud in seinem Innern ist. Das ergibt den Zahlenwert 14, denn durch das he wurde diese Welt geschaffen. Und die Essenz dieser Welt ist Israel und deshalb setzte Er das he nach dem dalet. Das Haupt unserer Väter ist Abraham und das Haupt unserer Familien ist die Familie des Hauses David und das Haupt der Familie ist David. Und siehe von Abraham bis David sind es 14 Generationen und deshalb ist [der Zahlenwert des Namens] David 14. Deshalb sind auch am Beginn der Erlösung Israels im Meerlied 14 Gottesnamen angeordnet. Und der [Zahlenwert des] Körpers des Buchstabens beträgt fünf, sagend: Wann ist Israel die Grundlage dieser Welt? Wenn es von den fünf Teilen der Tora

ren [va-alefka]. Und es bezeichnet die Macht und die Schönheit des Herrn, gesegnet sei ER. Und darüber sagen unsere Weisen, gesegneten Andenkens [bT Ber 6a]: ‚Der Herr, gesegnet sei er, legte Tefillin an‘. Und es ist gesagt [Habakuk 3,4]: Dort, das Versteck seiner Kraft. Und er gab sie Israel mittels der Krone, denn sie taten nicht nach dem Willen des Herrn. Und wenn sie nach dem Willen des Herrn tun, dann durch tiferet. Und die Gestalt des alef besteht aus zwei jud mit einem vav zwischen ihnen. Und die Stunde der Venus ist seine Führung.“ 40 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 245.

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gestützt wird. Und das jud in der Mitte des he ist umgedreht, weil die kommende Welt durch das jud geschaffen wird und die Kehrseite dieser Welt darstellt.“41

„[Jehuda] he-Ḥasid schrieb, dass es [i. e. der Buchstabe vav] nicht die Gestalt jener Buchstaben besitzt, die aus einem Guss gemacht sind. […] Sein Kopf ist ein jud und erst mit der Hinzufügung seines Fußes wird es ein vav. Und vav ist ein Ausdruck für „Zusammensetzung“ und sein Zahlenwert ist sechs, denn allem Zusammengesetzten sind sechs Ecken, und so ist die ganze Welt. Aus diesem Grund steht das vav nach dem he. Außerdem gibt es sechs Tage der Schöpfung und in der Kombination mit jud ergibt das 16 [10 + 6]. Das entspricht den 16 Gesichtern des einen Wesens42. Und auch die untere Welt ist in 16 Gesichter geteilt, wie ich alles erklärt habe im Sefer ha-eškol. Und der Ausdruck „Weisheit“ bedeutet ein Mund, der alles verbindet, es ist alles verbunden und zusammengesetzt ein Ende mit dem anderen Ende.“43

„Der zehnte sei heilig vor Gott [Lev 27,32]. Wie erklärt ist: Dies ist das Geheimnis der Heiligung der Zehnheit, denn ‚mit zehn Worten wurde die Welt geschaffen‘ 41 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 246. Im Sefer ha-temunah heißt es in der ersten von drei unterschiedlichen Interpretationen des Buchstabens he: „Gewurah. Man findet es auf jeder Seite, ob oben oder unten. Und es ist nach beiden [Seiten] ausgerichtet, wie die Schrift [sagt] [Jes 40,10; 62,11]: Siehe sein Lohn ist bei ihm und seine Vergeltung ist vor ihm, denn es ist vor und hinter ihm, ob stark und ob schwach. Und seine Gestalt umfasst zwei Attribute: Stärke und Schwäche. Und sie kommen aus einem dritten, dem Oberen. Und ihre Dreiheit ist eins, auf den einzigartigen Namen deutend, welcher aus ihnen hervorgeht. Und sein Abbild lehrt das, wie sie sagten [Num 11,23]: Ist denn die Hand des Herrn verkürzt? [Deut 2,15]: Dazu war auch die Hand des Herrn wider sie. Und seine Regierung ist [die Stunde des] Mondes.“ 42 Vgl. Hechalot zutarti § 353 f., in: James R. Davila, Hekhalot Literature in Translation, Leiden [u. a.] 2013, S. 187–243. 43 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 246.

10.3 Jom Tov Lipmanns Synthese 

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[Mišnah pirqe awot 5:1].44 Es gibt neun Akzidenzien. Wie erklärt ist: Das zehnte Wort ist die Substanz. Und das trifft nicht auf das [gesamte] obere zu, sondern allein auf das Wort der Substanz, deshalb ist es heilig. Aus diesem Grund gibt es in Genesis nur neun ausgesprochene Worte und ein zehntes ist nur als Nuance im Wort berešit angedeutet. Und weil die neun Akzidenzien durch die Substanz getragen werden, steht das jud hinter dem teṭ. Und weil ER, gesegnet sei sein Name, aus der heiligen Substanz die drei Welten schuf, hat das jud drei Dornen [‫]עוקצין‬: den unteren dicken Schenkel gegenüber der unteren Welt, den Dorn obendrauf gegenüber der mittleren Welt, der sich auch nach unten neigt, da er [bereits] Materie ist, und den oberen Strich gegenüber der oberen Welt.“45 Die dritte Perspektive des Jom Tov Lipmann auf die Buchstabenformen der Quadratschrift kann mit Blick auf Stil, Inhalt und Methode als mystischer Midrasch bezeichnet werden. Jom Tov führt unterschiedliche Aspekte eines Genres zusammen, das traditionelle bzw. volkstümlich-aggadische Elemente und sprachmystische Spekulationen miteinander verknüpft, ohne philosophischen bzw. wissenschaftlichen Argumenten zu großes Gewicht beizumessen. Die angeführten Beispiele belegen den Sefer ha-temunah46 als wichtigsten Bezugspunkt des Jom Tov. Doch es lassen sich weitere Inspirationsquellen nachweisen, die ihn tiefgehend beeinflusst haben, wie beispielsweise das Konzept des Sefer ha-bahir.47 Jom Tov zitiert Midraschim, die die rabbinische Auffassung einer Kosmologie widerspiegeln, in der die hebräischen Buchstaben und Namen Gottes als Instrumente der Schöpfung wirken. Die kosmische Struktur orientiert sich in diesen Konzeptionen noch

44 Vgl. Sefer ha-bahir § 84. 45 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 247. Im Sefer ha-temunah heißt es über das jud in der ersten Interpretation: „Es ist die zehnte middah, das heilige Königreich, ausgerichtet nach einem heiligen Ort, Intellekt und Licht. Und es deutet auf den heiligen Bund hin. Und er besiegelte durch ein Zeichen den heiligen Bund [Jesaja 41,2]: [Wer hat den Gerechten vom Aufgange erweckt?] Wer rief den Gerechten, dass er ging? Er deutete auch auf das letzte he [im göttlichen Namen] hin. [Jesaja 1,21]: Gerechtigkeit wohnte darin. Und es ist Segen, Leben und Speise der unteren Welt, denn es ist der mittlere Punkt, nur Licht des Intellekts ohne irgendeine Form. Und sein Aussehen deutet auf den Vers [Jesaja 40,18] hin: Wem wollt ihr denn Gott nachbilden? Oder was für ein Gleichnis wollt ihr ihm zurichten? Und durch es [i.e. das jud] wurden die Oberen und Unteren geschaffen und geheiligt. Und es ordnete: Die sollen dem Herrn danken [jodu] für seine Güte und für seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut. Und die Stunde des Mondes ist seine Regierung. Demzufolge deuten zehn Buchstaben auf zehn Sefirot, einer an den anderen gebunden. Und alle gehören zu einer Sache und zu einer Kraft.“ 46 Sefer ha-temunah, Jerusalem 1998. Siehe auch die italienische Übersetzung in: Giulio Busi und Elena Loewenthal, Mistica Ebraica. Testi della tradizione segreta del giudaismo dal III al XVIII secolo, Turin 1995, S. 243–346. 47 Gershom Scholem, Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin 1962, S. 43–174; ders., Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala, Leipzig 1923.

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weitestgehend an der Geschichte Israels und dem Schicksal der biblischen Generationen der „unteren“ Welt, die in der „oberen“ Welt eine immaterielle Spiegelung erfahren. Dazu kommen sprachmystische Modelle der Hechalot-Literatur, die  – wie bereits weiter oben erwähnt – in der Gedankenwelt der Ḥasidei Aškenaz von essentieller Bedeutung waren. Letztere schlägt sich im Sefer alfa beta insbesondere in Form einer ausgeprägten Namensmystik nieder. Die dritte Auslegungsform des Sefer alfa beta repräsentiert dementsprechend mystische Ausprägungen, die für das mittelalterliche Aschkenas charakteristisch waren.

10.3.4 Die göttlichen Sphären der sefirot

„Die Gestalt seiner Form ist ein Punkt auf dem vav und das deutet auf keter elijon und der tag oben auf dem Punkt deutet auf ein sof. Sein Körper jedoch, der ein Strich ist und diagonal von rechts nach links verläuft, ist so ausgerichtet, dass sein Kopf von rechts über gewurah [beginnt] und nach unten mit seinem Ende unterhalb von neṣaḥ [endet]. Es sollte eine Barriere zwischen der middah des Gesetzes [i. e. der linken Seite der sefirot] und dem oberen Punkt [des alef] geben. Und es bleiben dir jene [sefirot], die sich auf der [rechten] Seite von ḥesed oberhalb der Trennlinie befinden, um zu bezeugen, dass alles Gute und die Gnade von Ihm, gesegnet sei Er, stammt; das Gesetz jedoch nicht, denn das Gute fehlt. Der untere Punkt [des jud] deutet auf malchut hin, denn es ist der Beginn jeglicher Gnade [ḥesed], der oberen und der unteren. Und der Zahlenwert des alef ist eins, sagend, dass jede wahre Einheit ohne eine Zahl ist, wie erklärt wurde. Und der einzigartige Name beginnt im jud. Denn er ist der obere Punkt des alef, um die Anzahl der sefirot [10] und das Ende aller Zahlen anzudeuten. Und der Zahlenwert des Buchstabenkörpers alef ist eins, sagend, dass ER, gesegnet sei Er, eins, einzigartig, und der Beginn aller Zahlen ist und um zu bezeugen, dass ER der Anfang und das Ende – will sagen – ohne Zeit ist, wie im Sefer ha-eškol erklärt ist. Das alef ist ohne Ende [ein sof], denn es ist die Quelle aller Geheimnisse und es ist unmöglich, das zu verstehen, wenn dem nicht viel Studium durch das Gleichnis bzw. die Metapher vorausgegangen ist. […] Die Gelehrten erklärten auch, mit dem religionsgesetzlichen Studium zu beginnen, dann mit dem naturwissenschaftlichen fortzufahren und schließlich zum Studium des

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Göttlichen zu gelangen. Daher hat das alef seinen Namen […]: Ich will dich die Weisheit lehren [‫]ואאלפך‬. [Hiob 33,33].“48

„Das beit deutet auf das beit von berešit hin, wie unsere Väter gesegneten Andenkens gesagt haben [Midraš berešit rabba 70a]: ‚Es stieg in Seine Gedanken, die Welt mit dem beit zu schaffen, denn rešit deutet zur Weisheit wie gesagt ist‘: Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang [Ps 111,10]. […] Und berešit [übersetzt] der Targum Jonatan mit in Weisheit schuf Gott etc. Und wir Kabbalisten [denken], dass das beit ein Hinweis auf maḥšawa [das Denken] ist, und der tag, der auf ihm ist, [deutet] auf ein sof hin, das schuf, wie erläutert wurde. Und weil das beit auf die Schöpfung deutet, ist es quadratisch, so wie ich das im Sefer ha-eškol ausgeführt habe. Es ist auch nach Norden hin geöffnet und das ist ein Geheimnis. Der Norden tendiert zum Chaos […].“49

„Die Form des he ist wie das dalet mit einem hängenden Punkt in ihm, der eine kleine Öffnung zur Seite des Nordens hin lassen sollte. Auch unten ist es offen wie ein Exdera, da die Weisen [bT Menaḥ 29b; Midraš pesiqta rabbati 21], gesegneten Andenkens, sagen, dass diese Welt durch das he geschaffen wurde, denn die Sünder steigen nach unten in den gehinnom, und wenn sie durch Umkehr zurückkehren, kommen sie vom Weg des Nordens und drehen ihre Gesichter, um umzukehren. Gott empfängt sie in seiner Gnade. Aus diesem Grund hängt ein Punkt in ihm, sagend, dass ein Tor offen ist, um Umkehrende zu empfangen, wie es heißt [Jos 14,2]: Es kehrte um Israel zu Gott usw. Wir haben auch empfangen, dass das letzte he aus dem einzigartigen Namen Gottes auf die zehnte [sefirah] malchut deutet, denn die zwei he des einzigartigen Namens ergeben [den Zahlenwert] zehn [und korrespondieren] mit der zehnten [sefirah] malchut. Und es ist der vierte Fuß von malchut [des Königtums] des Hauses Davids. Auch deshalb [enthält] das he die Gestalt des dalet, da es der vierte Fuß ist, entsprechend dem Zahlenwert vier. Und sein Körper neigt sich gen

48 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 251. 49 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 251.

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Norden, wo sich das Königtum des Hauses Davids befindet, denn seine Niederlassung ist im Norden […]. Und sein Dach ist [in die Länge] gezogen, da sein Königtum in die Zukunft reichen wird, um in die ganze Welt zu kommen. Und sein Punkt ist wie ein jud, denn dadurch wird malchut angedeutet, denn diese Welt wurde durch das he geschaffen. Es wird deshalb bei dem Namen he genannt, da es keinen leichteren Klang in der Welt als diesen gibt […].“50

„Seine Form ist wie ein Stab [Gen 4,20]: Und er [Moses] nahm den Stab Gottes in seine Hand. [Damit ist auf] das göttliche Gesetz [din] hingewiesen. Deshalb neigt sich der Kopf des vav Richtung Norden und sein Körper läuft und verengt sich nach unten hin, denn oben ist das schwere göttliche Gesetz und unten ist das leichte göttliche Gesetz, um die sechs Enden zu richten. Aus diesem Grund ist der Name des vav ein Ausdruck des Verbindens, denn die sechs Ecken verbinden [das Sein] zu einem Ganzen, und das Gesetz verbindet und neigt sich über sie.“51

„Das jud ist nur ein Punkt, doch es ist das Fundament [jesod], da nach unserer Ordnung alle Kanäle zu ihm zurückführen. […] Und seine Form ist wie der obere Punkt des alef. Beide gleichen sich in der Andeutung, den Anfang mit dem Ende zu verbinden, denn alles auf dem Weg der Wahrheit ist in vollkommener Einheit und Vollendung […]. Und siehe der Schenkel auf der rechten Seite geht nach unten herab und er ist größer als auf der linken, um zu lehren, dass Er uns eher durch ḥesed [Gnade] als durch din [Gesetz] führt. Und der tag obendrauf deutet auf ein sof über der Zahl zehn hin.“52 (Abb. 40)

50 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 252. 51 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 252. 52 Lipmann, Sefer alfa beta, S. 253.

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Abb. 40: Visualisierung eines Sefirotbaums im Zusammenhang mit den Buchstaben zum Schreiben der STaM, Ms Mich. 40, fol. 14r (Bodleian Library, University of Oxford).

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 10 Die Verbindung von rabbinischer Theorie und mystischer Spekulation

In dieser vierten Abhandlung zeichnet Jom Tov Lipmann die Buchstaben in eine Landkarte der sefirot ein. Er demonstriert, welche Aufgabe jedem noch so kleinen Zeichen im Fluss der göttlichen Kräfte zugeschrieben ist und wo genau die Schriftzeichen im Schöpfungssystem zu verorten sind. Jom Tov betrachtet die Buchstaben einerseits als Träger göttlicher Schöpfungskraft. Andererseits denkt er sie als Symbole und Repräsentanten der sefirot. Für seine Ausführungen stehen ihm zahlreiche Quellen zur Verfügung, die allerdings keinen einheitlichen Traditionsstrom darstellen. Das Originelle an Jom Tovs Entwurf ist sicherlich die Synthese der Denksysteme; aschkenasische Buchstaben- und Namensmystik trifft auf sefardische Sefirotmystik und bildet eine einzigartige Textur aus Tradition, Mystik und Philosophie. Das sefirotische Buchstabenmodell des Jom Tov unterscheidet sich von seinen sefardischen Vorlagen durch eben dieses Nebeneinander unterschiedlicher jüdischer Traditionen, insbesondere den starken Bezug auch zum rabbinischen Denken. Die an die Buchstabenformen der Quadratschrift und den spezifischen Buchstabenschmuck der STaM gebundenen Spekulationen der spanischen Kabbalisten sind viel mehr von philosophischen Fragen geleitet als das bei Jom Tov der Fall ist. Als ein Beispiel sei auf den Kommentar zu den Buchstaben und ihren Formen des spanischen Kabbalisten und Poeten Saadja bar Maimon ibn Danan aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hingewiesen. Der in der Philosophie bewanderte Saadja – er schrieb ein Gedicht zum Lob des Moreh newuchim von Maimonides  – verknüpft die Buchstaben mit Überlegungen zum Wesen der Prophetie, zur Zusammensetzung von Materie und Form, zu den zehn stofflosen Vernunftwesen und zum intellectus agens.53 Die Schriftzeichen repräsentieren Bestandteile eines philosophisch geprägten Sphärenmodells, so wie es auch in einigen weiteren Werken aus diesem Kulturraum – beispielsweise in den frühen Schriften Josef Giqatillas – zu beobachten ist.54 Im Sefer alfa beta des Jom Tov Lipmann – das kann abschließend festgestellt werden – sind unterschiedliche Traditionen zusammengeführt. Den Schreibern wird in dem Handbuch beides, eine detaillierte Beschreibung aller Buchstabenformen und eine Metaphysik der Schriftzeichen, an die Hand gegeben, die noch in der Neuzeit rezipiert und als Basis in Diskussionen um die korrekten Buchstabenformen und deren symbolische Bedeutung genutzt wurden. 53 Peruš ha-otijjot ve-zuratan le ha-raw ha-gadol des Saadja bar Maimon ibn Danan, abgedruckt in: Ginzei Jerušalajjim, hrsg. von Solomon A. Wertheimer, Jerusalem 1896–1902, Bd. 2, S. 287–297, hier S. 288 f. 54 Vgl. auch die Konzepte von Josef Giqatilla, insbesondere Yosef Giqatilla. The Book of Punctuation: Flavius Mithridates’ Latin Translation, the Hebrew Text, and an English Version, hrsg. von Annett Martini, Turin 2010.

11 Abschließende Bemerkung Im Babylonische Talmud (Traktat Joma) erscheinen verschiedene Familien, die über Generationen hinweg eine besondere Expertise entwickelt haben. So war die Familie Garmu in ganz Jerusalem für die Herstellung exzellenten Schaubrots bekannt, dessen Frische über Wochen erhalten blieb; das Haus Abtinas wusste perfektes Räucherwerk herzustellen, dessen Rauch weder gerade wie ein Stock noch in alle Richtungen zerstäubt aufstieg, sondern auf eine vollkommen ausgewogene Weise. Ein gewisser Hygros vom Stamm Levi konnte eine Melodie anstimmen, indem „er den Daumen in den Mund steckte und den Zeigefinger auf die Schnurrbartteilung legte, dass seine Priesterbrüder mit einem Satze zurückprallten“. Sie alle lehnten es ab, das Familiengeheimnis ihres Könnens zu lehren, obwohl sie doppelten und dreifachen Lohn dafür angeboten bekamen. Auch Ben Kamzar wollte seine „Kunst zu schreiben nicht lehren. Es wird über ihn erzählt, dass er vier Schreibrohre zwischen die Finger nahm und wenn ein Wort vier Buchstaben hatte, schrieb er es mit einem Mal“. Doch im Gegensatz zu den anderen Meistern einer speziellen Kunst war Ben Kamzar nicht in der Lage, den Rabbanan den Beweggrund seiner Weigerung zu erklären. Der Talmud beschließt diese Lektion mit den Worten: „Von jenen heißt es: die Erinnerung des Frommen bleibt zum Segen, von Ben Kamzar und seinen Genossen heißt es: der Name der Frevler wird verwesen“.1 Trotz der unerfreulichen Prognose für Ben Kamzar und seine Nachkommen entspann sich etwa ein Jahrtausend später um das erstaunliche Schreibinstrument des Ben Kamzar eine angeregte halachische Diskussion über die Möglichkeit, eine Torarolle zu drucken. Die Vorteile der technischen Innovation, die ja schon in Ben Kamzars Erfindung angedeutet sei – so die neuzeitliche Argumentation  –, sind offensichtlich. Schreibfehler könnten vermieden, petuchot und setumot an die richtige Stelle gesetzt, der Blocksatz sicher gestellt und die Buchstaben, Krönchen und Sonderzeichen immer mit exakt derselben Gestalt auf das Pergament gebracht werden. Ganz zu Schweigen von der Einsparung an Zeit und Kosten.2 Einige Autoritäten sahen im Druckverfahren keinen Widerspruch zur Halacha gegeben; andere sprachen sich für gedruckte Torarollen zumindest im Bereich des Lernens aus. Die meisten Gelehrten plädierten jedoch für den Ausschluss von gedruckten Torarollen sowohl aus dem rituellen als auch aus dem

1 bT Joma 38b. 2 Vgl. Annett Martini, „Lishmah Qedushat Sefer Torah or the Impossibility for Printing a Torah Scroll from Rabbinic Perspective“, in: The Jewish Book 1400–1600, hrsg. von Katrin Kogmann-Appel und Ilona Steinmann, Brepols 2022 (im Druck). https://doi.org/10.1515/9783110722062-011

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 11 Abschließende Bemerkung

privaten Raum. Ihre Argumentation ist im Wesentlichen von Diskussionen des europäischen Mittelalters geleitet. Der strikte Ausschluss von Nichtjuden aus dem gesamten Herstellungsprozess, die Notwendigkeit der rituellen Weihe der Schreibmaterialien, der ritualisierte Schreibakt mit der Heiligung der göttlichen Namen lišmah qedušat sefer torah und die Bedeutung der Intention des Schreibers für die Qualität der Schriftrollen – all diese Charakteristika der mittelalterlichen Schreibkultur Europas führten letztendlich zu der Entscheidung, an der handschriftlichen Herstellung von Torarollen festzuhalten. Die moderne rabbinische Welt zementiert mit dieser unzeitgemäßen Position die Tatsache, dass es sich bei der Herstellung rituell reiner Schriftrollen, der STaM, um einen Sonderfall der jüdischen Schriftkultur handelt. Die „Arbeit des Himmels“ bedeutet mehr als die Abschrift des biblischen Textes. Sie impliziert die Herstellung eines Ritualobjekts, das bereits in der Antike nicht unerheblich zur Identitätsbildung des rabbinischen Judentums beitrug. Die Bedeutung der sifrei ha-qodeš als Erinnerungsanker zu den ideellen Ausgangspunkten der jüdischen Identität wuchs in den jüdischen Diasporagemeinden des Lateinischen Westens vom 11. bis ins 15. Jahrhundert zu einem zentralen Motiv in der facettenreichen Schreiberliteratur heran. Rabbinische, mystische und pietistische Gruppierungen des mittelalterlichen Aschkenas und der Regionen Südfrankreichs und Nordspaniens gaben der Auffassung von den heiligen Schriftrollen als wichtigste Träger eines gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses auf unterschiedliche Weise Ausdruck. Die rabbinischen Eliten Europas forcierten eine Kanonisierung der Herstellungsregeln für das Schreiben der STaM, die bei der Beschaffung bzw. Produktion der Schreibmaterialien beginnt und bis zur Gestaltung der Schriftzeichen und ihrer Verzierungen reicht. Erste Anzeichen für diese Entwicklung sind bereits in den Kommentaren der nordfranzösischen Tosafisten zu bemerken, die noch auf einer eher theoretischen Ebene mit der Revision des antiken Regelwerks und der Ausformung einer neuen, an die materialtechnischen Gegebenheiten der Umweltkultur angepassten Richtlinie begannen. Die Aufmerksamkeit galt insbesondere der koscheren Schreibhaut, deren talmudisches Ideal mit dem europäischen Pergament in Einklang zu bringen war. Doch auch die Rezepturen der Tinten und die Wahl der Schreibwerkzeuge zum Kopieren der STaM erfuhren gewisse Angleichungen an regionale Konventionen. Mit der Sorge um das Schreibmaterial verbanden die frühen Tosafisten Reflexionen zur Wirkung und Notwendigkeit einer rituellen Weihe, mit der die Reinheit und Heiligkeit des Beschreibstoffes, der Schrift und der göttlichen Namen der jeweiligen Bestimmung  – als Torarolle, Tefillin oder Mezuzot – entsprechend sichergestellt werden sollte. Die Impulse der nordfranzösischen Schule wurden von den Tosafisten im aschkenasischen Raum, aber auch von den südfranzösischen und nordspanischen

11 Abschließende Bemerkung 

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Talmudkommentatoren aufgegriffen und weitergeführt. In beiden Regionen sind dynamische Prozesse in den Themenbereichen Schreibmaterial, Schriftbild und Schreibakt zu beobachten. Die Debatten waren einerseits von dem Streben nach einer Systematisierung der überlieferten Lehrmeinungen und der Kanonisierung der Quadratschrift, der tagin und otijjot mešunnot geprägt. Andererseits bekam die nun als obligatorisch angenommene Weihe der Materialien und bestimmter Abläufe im Schreibprozess ein zentrales Gewicht in den Schreiberliteraturen zugewiesen, das weit über die antiken Vorlagen hinausging. Die systematische Beschreibung aller noch so kleinen Elemente des Schriftbildes fand neben einer umfänglich diskutierten Weihepraxis durch die Schüler des Rabbi Meir ben Baruch aus Rothenburg im 13. und 14. Jahrhundert einen vorläufigen Höhepunkt. Der Rothenburger Schule gelang es dabei, die unterschiedlichen Geistesströmungen der europäischen jüdischen Kultur des Mittelalters zu bündeln und in eine neue, regional geprägte Form zu gießen. Ihre Schriften gründen in den Methoden und dem Wissensschatz der strengen Schule der französischen Tosafisten. Gleichzeitig öffneten sich die Rechtsgelehrten und Schreiber für neue religionsgesetzliche Konzepte aus der islamischen Welt, die für die Juden in Aschkenas mit ihrer revolutionären Verbindung von Recht, Philosophie und Wissenschaft vor allem in der Person des Maimonides eine enorme Herausforderung darstellten. Die Rothenburger Schule blieb aber auch nicht unberührt von den mystisch inspirierten hohen ethischen Idealen der Ḥasidei Aškenaz. Deren tiefe Frömmigkeit und die damit verbundene Tendenz zur Abgrenzung der eigenen, spezifisch jüdischen Heiligkeit ist in den religionsgesetzlichen Abhandlungen und Responsen des Maharam und seiner Schule auch im Kontext der Schriftrollenherstellung zu spüren. Dementsprechend konnte diese Studie die bahnbrechenden Ergebnisse der Forschungen Ephraim Kanarfogels, der die vielfältigen Verbindungen zwischen der rabbinischen Welt und den pietistisch-mystischen Strömungen in Aschkenas aufzeigte, innerhalb des gesteckten Themenrahmens bestätigen. In den narrativen Entwürfen der Ḥasidei Aškenaz bildeten rabbinische Konzeptionen dagegen nur den Hintergrund für eine innere Perspektive der frommen Gemeinschaft auf den Umgang mit den sifrei ha-qodeš. Die rechtsgelehrte Distanz zur Praxis weicht zahlreichen „Berichten“ aus idealisierten Schreibstuben, in denen Materialien, Schreibgeräte und Schreiber der Heiligkeit der Gottesnamen und des biblischen Textes entsprechend ein Höchstmaß an Reinheit und Heiligkeit aufweisen. Die Ḥasidei Aškenaz entwickelten ein umfassendes Konzept des Schreibens als heilige Handlung, in dem die Gottesfurcht im Herzen des Schreibers gegen buchkünstlerische Expertise zu Gunsten des Ersteren aufgewogen wird. Die Heiligkeit des Schreibmaterials, das magische Potential der Gottesnamen, Buchstaben und otijjot mešunnot sind dem pietistischen Kreis von größter

298 

 11 Abschließende Bemerkung

Bedeutung und avancieren im Sefer ḥasidim und den entsprechenden Kommentarwerken zu den wichtigsten Ecksteinen einer neuen, radikal esoterischen Sicht auf die Herstellung der sifrei ha-qodeš. Aus dem Quellenstudium ergaben sich zahlreiche Hinweise darauf, dass die christliche Umweltkultur als ein wichtiger Auslöser für die vielfältigen Veränderungen innerhalb der jüdischen Praxis der Schriftrollenherstellung betrachtet werden kann. Die Analyse der rituellen Praktiken und Reinheitsvorgaben, die in den rabbinischen Schriften des mittelalterlichen Aschkenas sowie in den halachischen Kommentaren Südfrankreichs und Nordspaniens neu zur Diskussion gestellt wurden, offenbarte Abgrenzungsbestrebungen der halachischen Eliten. Die religionsgesetzliche Ausgrenzung der christlichen „Götzendiener“ aus dem Herstellungsprozess der Schriftrollen kann aus der Perspektive kulturanthropologischer Theorien von Forschern wie Mary Douglas oder Christine Bell als eine Reaktion auf die Folgen des wachsenden Antijudaismus in Europa interpretiert werden. Die christliche Gesellschaft Europas war zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert von tiefgreifenden ökonomischen, religiösen und politisch-sozialen Transformationen geprägt, die auch das jüdische Leben nachhaltig beeinflussten.3 Bei der Beurteilung der europäischen Schreiberliteratur sind neben den „bewaffneten Wallfahrten“, d. h. den Kreuzzügen, insbesondere die Herausbildung des Klerus und des Mönchsstands, laikale Frömmigkeitskulturen und die Gründung der Bettelorden, der aufblühende Hostien- und Reliquienkult und das monastische Leben im christlichen Europa zu berücksichtigen. Die Etablierung und hohe Frequenz von Weiheritualen, die in der untersuchten Schreiberliteratur festgestellt wurde, kann durchaus als eine Reflexion der ausgedehnten christlichen Konsekrationskultur in dieser Zeit betrachtet werden. Wesentlich greifbarer erscheinen transkulturelle Wechselwirkungen in den Narrativen des Sefer ḥasidim. Der „Wettstreit“ um die größte Heiligkeit der heiligen Schriften wird hier sinnbildlich auf dem Rücken eines Esels ausgetragen, in dessen Seitentaschen jüdische sefarim und die „Bücher der Götzendiener“ gegeneinander aufgewogen werden. Priester und Mönche treten als die eigentlichen Gefährder der Heiligkeit des jüdischen Volkes und seiner Bücher auf. Die Exempla bezeugen eine sehr bewusste Wahrnehmung der hochprofessionellen Skriptorien, die in den Klöstern – zum Leidwesen der Pietisten – offensichtlich auch buchtechnische Arbeiten jüdischer Auftraggeber übernahmen. In den monastischen Schreibstuben entwickelte sich ab dem frühen Mittelalter eine 3 Vgl. die Einleitung von Miri Rubin und Walter Simons, in The Cambridge History of Christianity, Bd. 4: Christianity in Western Europe c. 1100–c. 1500, hrsg. Von Miri Rubin und Walter Simons, Cambridge [u. a.]: University Press, 2000, S. 1–7; Baumgarten, Practicing Piety in Medieval Ashkenaz, S. 6; Volker Leppin, Geschichte des mittelalterlichen Christentums, Tübingen 2012.

11 Abschließende Bemerkung 

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Schreib- und Buchkultur, die sich ganz dem materialen Ausdruck der Heilsgeschichte in der Gestalt des heiligen Buches widmete. Die Abschrift eines Buches avancierte zum Gottesdienst; das Artefakt selbst erscheint nach dem Tod des Schreibers als ein gewichtiges Pfand in der zukünftigen Welt des Gerichts. Die breit gefächerten Momentaufnahmen aus dem Kosmos der jüdischen Buchherstellung, die der Sefer ḥasidim seinen Lesern vor Augen führt, dokumentieren vielfältige Parallelen zu diesem hochgradig spiritualisierten Schreibkonzept. Im Rahmen dieser Studie wurde auch ein exemplarischer Überblick zur Auseinandersetzung jüdischer Exegeten des europäischen Mittelalters mit der symbolischen Bedeutung der Quadratschrift, der tagin und otijjot mešunnot vorgelegt. Es konnten erste Einblicke in das Erinnerungspotential der Zeichen gegeben werden, deren Interpreten auf theologische, ethische und mystische Traditionen der Antike aufbauten und dieselben mit kabbalistischen Spekulationen, philosophischen Argumenten, ethischen Positionen oder magischen Elementen bereicherten. An der Gestalt der Buchstaben und ihrer Verzierungen entzündeten sich Überlegungen, die der zeitgenössischen Ideengeschichte Rechnung tragen. Die Ursachen für die erhöhte Aufmerksamkeit, die die Schriftzeichen vom 11. bis ins 15.  Jahrhundert hinein im Schreibkontext der STaM erlangten, sind sicherlich vielfältig. So unterschiedlich die Interpretationsansätze auch sein mögen, bewegten sich die Auslegungen doch vorwiegend innerhalb des rabbinisch-ethischen Rahmens, der das kulturelle Gedächtnis der Exegeten einfasste. Der aschkenasischen Schriftauslegung gelang damit eine bemerkenswerte Synthese von Halacha, Mystik und Philosophie, die in dieser Form einzigartig in der jüdischen Geistesgeschichte ist. Im sefardischen Raum löste sich dagegen die ursprünglich eng mit rabbinischen Konzepten verflochtene Sicht auf die symbolisch-magische Bedeutung der Buchstaben und Krönchen aus ihrem halachischen Zusammenhang und ging in sprachmystischen Konzeptionen der Kabbala auf. Transkulturelle Prozesse und innerjüdische Debatten zeichnen auch die Schreiberliteratur der frühen Neuzeit und der Moderne aus: Halachische Diskussionen über die Möglichkeit des Druckens einer Torarolle, die Mystifizierung der Schriftzeichen und des Schreibens in der lurianischen Welt, die Inszenierung der Schreiber als – russisch-orthodoxe? – Heilige in der chassidischen Erzählwelt Osteuropas oder die Eroberung heiliger Räume durch Schreiberinnen in der heutigen Zeit, in der das Kopieren einer Torarolle von manchen sofrei STaM ganz bewusst als anachronistische Meditationspraxis dem rasanten Tempo der Moderne entgegengesetzt wird. Die Erforschung der „Arbeit des Himmels“ im Kontext ihrer Umweltkultur – das hat diese Studie zeigen können – ist nicht nur für die hebräische Handschriftenforschung von Bedeutung, sondern stellt auch einen wichtigen Beitrag für das Verständnis der jüdischen Geistesgeschichte überhaupt dar.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16

Abb. 17 Abb. 18

Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22

Torarolle mit Mantel: Forlì Siddur, Add Ms 26968, fol. 139v, Italien 1383 (British Library)   16 Torarollen im Toraschrank, Aschkenasischer Machzor aus Ulm 1459/60, Cod. hebr. 3, Bd. 1, fol. 48r (Bayerische Nationalbibliothek München)   20  21 Fresko aus der Dura Europos Synagoge, Syrien 3. Jhd  Torarollen im Toraschrank, Sarajevo Haggadah, fol. 34r, Barcelona, zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts (Zemaljski Muzej Bosne i Hercegovine, Sarajevo)   23 Torarolle mit Mantel, Barcelona Haggadah, Add Ms 14761, fol. 65v, Barcelona, Mitte des 14. Jahrhunderts (British Library)   24 Mariae Verkündigung, Böhmen 1380 (Leipzig, Sammlungen der Universität)   31 Moses auf dem Nil, Christus im Buch, Bible moraliseé, Ms 2554, fol. 16r, ca. 1230 (Österreichische Nationalbibliothek, Wien)   33 Transport der Bundeslade, Ms Vat. gr. 746. pt. 2, fol. 331r, 12. Jhd. (Biblioteca Apostolica Vaticana)   54 Evangelien verwahrender Bücherschrank, Ravenna Mausoleum der Galla Placidia, Mosaik der Lünette im südlichen Kreuzarm, 425–450   56 Fußbodenmosaik der Synagoge Hammath, Israel 4. Jhd   56 Bundeslade der Beth Alpha Synagoge, 6. Jhd., Kollektion Erich Lessing   57 Ezra der Schreiber, Codex Amiatinus, frühes 8. Jhd. England   57 Buchdeckel des Evangeliars der Königin Theodelinda, 7. Jhd. (Monza, Museo e Tesoro del Duomo)   58 Einband des Codex Aureus, KG 1138, Trier 10. Jhd. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum)   59 Einband des Evangeliars des Roger von Helmarshausen, Ms. 139/110/68, Kat. 500, Abtei Helmarshausen 1120–1130 (Trier, Domschatz)   60 Darstellung eines Pergamenters im Hausbuch der Mendel-Landauer Zwölfbrüderstiftung in Nürnberg, 15. Jhd. (Nürnberg, Stadtbibliothek)   70 Jesus im Buch, Ms. NAF 4338, fol. 141v, c. 1325-1350 Frankreich (Bibliothèque nationale de France, Paris)   122 Moses wird von der Tochter des Pharaos aus dem Nil gezogen; Jesus entspringt einem Buch, Ms. Fr 9561, fol. 47r. (Bibliothèque nationale de France, Paris)   123 Jesus im Buch, RB. Msc. 166, fol. 81v (Staatsbibliothek Bamberg)   124 Tintenrezepturen, Ms. 779 bx. 3.5, fol. 14 (Los Angeles, University of California)   137 Tintenrezepturen, Ms. 482, fol. 132 (London, Montefiore Library)   139 Ms or fol 1216, fol. 1 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   203

https://doi.org/10.1515/9783110722062-012

302  Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27

Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35 Abb. 36 Abb. 37 Abb. 38 und 39 Abb. 40

 Abbildungsverzeichnis

Ms or fol 1215, fol. 1 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer  209 Kulturbesitz)  Ms or fol 1216, fol.1 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   212 Meerlied in der Torarolle Ms or fol 1215, Bl. 28 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   214 Moseslied in der Torarolle Ms or fol 1215, Bl. 85 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   215 Vavei ha-amudim in der Torarolle Ms or fol 1216, Bl. 7 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)). In der rechten Kolumne sieht man sehr gut die von den Rabbinern beklagte Unregelmäßigkeit im Schriftbild   217 Tosafot zu Menaḥot 29b (Amsterdam, 1765)   231 Tagin und otijjot mešunnot in der Torarolle Ms or fol 1215 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   238 Tagin und otijjot mešunnot in der Torarolle Ms or fol 1216 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   239 Tagin und otijjot mešunnot in der Torarolle Ms or fol 1217 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   240 Tagin und otijjot mešunnot in der Torarolle Ms or fol 1218 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   241 Buchstabenliste in Ms. X 893 Ab. 81, fol. 17r (Columbia University Libraries, New York)   242 Gewickelte pe in den vier Erfurter Torarollen (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   243 Unterschiedlichen Schreibtraditionen von Gen. 1 in Ms or fol 1215 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   250 Unterschiedlichen Schreibtraditionen von Gen. 1 in Ms or fol 1216 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)   251 Jom Tov Lipman, Sefer alfa beta, Ms. Guenzburg 162, fol. 112r (Russian State Library Moskau)   277 Jom Tov Lipman, Sefer alfa beta, Ms Hebr. 291, fol. 2 und fol. 4 (Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky)   278 Sefirotbaum, Ms Mich. 40, fol. 14r (Bodleian Library, University of Oxford)   293

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328 

 Quellenregister

Neh 2,20 163 Hiob 33,33 286, 291 Ps 16,8 108 Ps 90,15 252 Ps 111,10 172, 291 Ps 125,3 164 Prov 13,14 168 Prov 14,27 168 Prov 30,6 178 Prov 31,8 260 Hohelied 5,11 42, 248 Hohelied 5,12 248 Hohelied 7,9 252 Jes 1,21 289 Jes 11,9 251 Jes 12,2 258

Jes 26,4 224 Jes 40,10 288 Jes 40,18 289 Jes 41,2 289 Jes 42,4 252 Jes 52,1 164 Jes 62,11 288 Jer 17,1 34 Jer 17,13 34 Jer 36,18 39 Ez 4,1 34 Ez 37,15–20 34 Ez 40,4 172 Habakuk 3,4 256, 287 Num 9,10 218

mAwot 4:13 258 mGiṭ 2:3 39 mGiṭ 3:1 74 mGiṭ 3:2 74

mGiṭ 4:6 162 mJad 4:5 4 mŠabb 8:3 36 tḤul 2, 20 49

bT Abot 4,7 173 bT Awodah Zarah 6a 155 bT Awodah Zarah 71a 133 bT B. Qama 111a 287 bT Ber 17a 73, 172 bT Ber 19b 144 bT Ber 25a 35 bT Ber 59a 176 bT Ber 6a 287 bT Erub 12b 82 bT Erub 13a 1, 41, 220–221 bT Erub 21b 221 bT Giṭ 19a 38–39, 41, 131 bT Giṭ 22a 35, 98 bT Giṭ 24a–b 74 bT Giṭ 26 74 bT Giṭ 45a–b 162 bT Giṭ 45b 49, 77–78, 106 bT Giṭ 54b 79, 169 bT Giṭ 60a 62 bT Ḥag 13a 228 bT Hor 10b 73 bT Jebamot 104b 76 bT Jebamot 118b 287

bT Joma 38b 295 bT Ket 102b 74 bT Ket 75a 287 bT Ket 77a 35 bT Mak 11a 82 bT Meg 19a 35, 38, 98 bT Meg 2.2 34 bT Meg 26b 22 bT Meg 27a 146 bT Meg 3b 144 bT Meg 9a 38 bT Meg19a 39 bT Menaḥ 2 76 bT Menaḥ 26 76 bT Menaḥ 29a 220, 285 bT Menaḥ 29b 220–221, 223–224, 229, 231, 265, 283–284, 291 bT Menaḥ 2b 75 bT Menaḥ 32a 36 bT Menaḥ 38a 144 bT Menaḥ 42a–b 162 bT Menaḥ 42b 77–78, 106 bT Menaḥ 43a 78 bT Menaḥ 47 76

Quellenregister 

 329

bT Menaḥ 47a 76 bT Menaḥ 47b 76 bT Menaḥ 48 76 bT Menaḥ 78b 76 bT Naz 23b 73 bT Nid 19a,b 133 bT Nid 20a 133 bT Pesaḥ 50b 73 bT Pesaḥ 59b 76 bT Pesaḥ 60 76 bT Pesaḥ 62 76 bT Pesaḥ 62b 76 bT Pesaḥ 63 76 bT Qidd 7a, 41a 287 bT Qidd 9 74 bT Roš Hašanah 21b 268 bT Šabb 103b 38, 213, 220, 227, 282, 284 bT Šabb 104 224 bT Šabb 104a 223, 227, 229 bT Šabb 104a, 89a 221 bT Šabb 104b 41 bT Šabb 108a 38, 108 bT Šabb 115b 39 bT Šabb 116b 147 bT Šabb 120b 144 bT Šabb 13d 38 bT Šabb 14a 144–145 bT Šabb 18a 40 bT Šabb 21b 144 bT Šabb 23a 41 bT Šabb 61a–b 194 bT Šabb 79a 35, 98 bT Šabb 79b 36, 37 bT Šabb 80a 41 bT Šabb 88b 268 bT Šabb 94b 144 bT Sanh 104a 221 bT Sanh 105b 73 bT Sanh 21b 108 bT Sanh 21b–22a 207

bT Sanh 47b 77 bT Sanh 47b–48b 76 bT Sanh 48a 77 bT Sanh 48b 79 bT Sanh 99a 73 bT Sotah 17b 39 bT Sotah 19b 39 bT Sotah 20a 41, 221 bT Sotah 48b 42 bT Sukkah 49b 73 bT Sukkah 9a 82 bT Taanit 20b 43 bT Taanit 7a 172 bT Zebaḥ 10 76 bT Zebaḥ 103a 76 bT Zebaḥ 103b 76 bT Zebaḥ 11 76 bT Zebaḥ 114 76 bT Zebaḥ 11a 76 bT Zebaḥ 13 76 bT Zebaḥ 2 75 bT Zebaḥ 3 76 bT Zebaḥ 36b 76 bT Zebaḥ 4 76 bT Zebaḥ 7 76 bT Zebaḥ 84a 76 jT Giṭ 44b 38 jT Ḥag 1,1 73 jT Ḥag 2,5 284 jT Ḥag 2a 283 jT Meg 71b–c 207 jT Meg. 1.71d 34 jT Šabb 11b 36 jT Sanh 4,7 180 jT Šeq 13b 268 jT Šeq 6,1 42 Massechet sefer torah 37–38, 49, 79, 169, 188, 190, 207, 221 Massechet soferim 37–38, 49, 79, 169, 188–190, 207, 211, 213, 221

Alphabet des Rabbi Aqiva 224–226, 233–234, 282, 285 Awot de Rabbi Natan 50 Midraš berešit rabba 50, 268, 291 Midraš ḥameš eśre neqqudot še-be-miqra 226

Midraš otijjot qeṭannot ve-gedolot u-teamim 226 Midraš pesiqta rabbati 173, 285, 291 Midraš Rabbi Aqiva ben Josef al ha-tagin 226 Midraš šemot rabba 226

330 

 Quellenregister

Midraš sifra 211 Midraš sifre bamidbar 50 Midraš šir ha-širim rabba 42, 221, 225

Midraš tanḥuma 42, 226, 248 Midraš vajiqra rabba 226 Pirqe de Rabbi Eliezer 73, 268

Avigdor ben Elijah ha-Kohen zu Gen 1,1. 256 Jakob ben Ascher zu Deut 2,3 262 Jakob ben Ascher zu Deut 24,6 261 Jakob ben Ascher zu Deut 3,25 261 Jakob ben Ascher zu Deut 5,16 261 Jakob ben Ascher zu Deut 8,5 261 Jakob ben Ascher zu Ex 13,11 262 Jakob ben Ascher zu Ex 20,7 262 Jakob ben Ascher zu Ex 4,12 262 Jakob ben Ascher zu Gen 18,7 262 Jakob ben Ascher zu Num 1,22 261 Jakob ben Ascher zu Num 11,12 263 Jakob ben Ascher zu Num 25,11 261 Jakob ben Ascher zu Num 28,3 262 Jakob ben Meir Tam zu bT Meg 19a 71 Jom Tov b. Abraham von Sevilla zu bT Giṭ 54b 82

Nissim ben Reuven Gerondi zu bT Giṭ 45b, Sanh 48b und Meg 24b 82 Rabbenu Joel zu Gen 31,19 254 Raschi zu bT Giṭ 45b 88 Raschi zu bT Menaḥ 29b 229 Raschi zu bT Menaḥ 29b, Šabb 103b und 104a 227 Raschi zu bT Šabb 103b 227 Raschi zu bT Šabb 104a 228 Raschi zu Deut 33,2 268 Raschi zu Deut 33:2 42 Solomon ben Abraham Adret zu bT Giṭ 54b 82 Tosafot zu bT Meg 19a und Giṭ 19a 131 Tosafot zu bT Menaḥ 29b 231 Tosafot zu bT Šabb 23a und Giṭ 19a 131 Tosafot zu bT Šabb 104a 227 Tosafot zu Šabb 116b 147

Arba‘ah turim (Jakob ben Ascher) 71, 259 Eṣ ḥajjim (Chajjim Vital) 267 Führer der Unschlüssigen (Maimonides)  191–194, 276, 294 Ginzei miṣrajim (Judah ben Barzillai) 102, 235–236 Haggahot Maimunijjot (Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg) 67, 71, 95, 131, 135, 216, 237, 281, 284 Halachot qeṭannot (Ascher ben Jehiel) 94, 238 Halachot qeṭannot (Mordechai ben Hillel ha-Kohen) 94, 238 Hilchot [tiqqun] sefer torah (Jacob Tam) 71, 88, 230 Hilchot ha-kawod (Eleazar ben Jehuda von Worms) 174 Kitrei otijjot tefillin (Jehuda ben Samuel he-Ḥasid) 246–247, 249, 270 Liškat ha-sofer (Solomon Ganzfried) 97 Maḥzor Vitry (Simcha ben Samuel aus Vitry) 71, 88, 132, 230, 237, 244 Masoret sejag la-torah (Meir ben Todros Ha-Levi Abulafia) 103

Maysebuch 147–148, 198–199 Milḥemet miṣvah (Rabbi Meir ben Schimon aus Narbonne) 274 Mišneh torah (Maimonides) 6, 66–68, 81–82, 95, 107, 145, 169, 170, 191, 194–196, 211, 216, 237 Orḥot ḥajjim (Aaron ben Jakob ha-Kohen)  110, 135, 234 Peruš ha-otijjot ve-zuratan le ha-raw ha-gadol des Saadja bar Maimon ibn Danan (Saadja bar Maimon ibn Danan) 294 Peruš ha-torah (Nachmanides) 268–269 Peruš le-sefer jeṣirah (Eleazar ben Jehuda von Worms) 253 Perušei ha-torah le-R. Jehuda he-Ḥasid (Jehuda he-Ḥasid) 257 Pisqei ha-Roš (Ascher ben Jehiel) 67, 94 Qirjat sefer (Menachem ben Solomon Meiri)  104–107, 134, 235, 237 Qiṣur Semag (Abraham ben Ephraim) 67 Ša‘ar ha-šo’el (Asriel aus Gerona) 251 Ša‘arei musar (Avigdor ben Elijah ha-Kohen aus Wien) 257

Quellenregister 

Sefer alfa beta (Jom Tov Lipmann Mühlhausen) 13, 96, 245, 273–275, 277, 279–281, 283–292, 294 Sefer baruch še-amar 95–96, 99, 198, 244, 270–273 Sefer bnei Jonah (Jonah ben Elijah Landsofer) 95–96 Sefer ha-bahir 274–275, 290 Sefer ha-eškol (Abraham ben Isaak aus Narbonne) 102–103, 132, 234 Sefer ha-eškol (Jom Tov Lipmann Mühlhausen) 96, 273, 288, 290–291 Sefer ha-ittim (Judah ben Barzillai al-Bargeloni) 102 Sefer ha-ittur (Isaak ben Abba Mari) 71 Sefer ha-manhig (Abraham b. Nathan ha-Jarchi) 71 Sefer ha-nizzaḥon (Jom Tov Lipmann Mühlhausen) 273 Sefer ha-remazim le-Rabbenu Joel (Rabbenu Joel) 254 Sefer ha-roqeaḥ (Eleazar ben Jehuda von Worms) 67, 84, 173, 174, 253, 258, 275 Sefer ha-tagi (Eleazar ben Jehuda von Worms) 253, 257 Sefer ha-temunah 274–275, 286–289 Sefer ha-terumah (Baruch ben Isaak aus Worms) 71, 84, 89, 132, 232–233 Sefer ḥochmat ha-nefeš (Eleazar ben Jehuda von Worms) 174 Sefer jere'im (Eliezer ben Samuel aus Metz) 84, 89, 132–133, 230–231 Sefer jeṣirah 229, 234, 246–247, 249–250, 252, 272 Sefer keter šem tov (Abraham ben Alexander aus Köln) 270

 331

Sefer maḥaṣit ha-šeqel al šulḥan aruch joreh de’ah (Samuel ben Neta ha-Levi Kolin) 99 Sefer melechet šamajim (Isaak Dov Halevi Bamberger) 95, 136 Sefer miṣvot gadol (Moses ben Jakob aus Coucy) 67, 84, 107–110, 132–133, 234 Sefer Mordeḥai (Mordechai ben Hillel ha-Kohen) 67 Sefer or zaru’a (Isaak ben Moses aus Wien) 67, 71, 89, 131–132, 234, 244 Sefer ozar ha-kawod (Todros ben Josef ha-Levi Abulafia) 275 Sefer pa’aneaḥ raza (Isaak ben Jehuda ha-Levi) 259 Sefer perušim u-pesaqim (Avigdor ben Elijah ha-Kohen) 257 Sefer qeset ha-sofer (Solomon Ganzfried) 95, 97, 135 Sefer ša’arei orah (Josef Giqatilla) 271 Sefer tagi (Eleazar ben Jehuda von Worms) 246, 253 Sefer tagin 221–222, 235, 237, 246, 263 Sefer tiqqun sefer torah (Jom Tov Lipmann Mühlhausen) 103, 273 Sefer tiqqun tefillin (Abraham ben Moses aus Sinsheim) 96–99, 198, 240, 271 Sefer toledot Adam ve-Ḥavvah (Jerocham ben Meshullam) 71 Sodei Razajja (Eleazar ben Jehuda von Worms) 253 Šulḥan aruch (Josef ben Efraim Caro)  6, 95, 211 Tešuwot še’alot le-ha Rabbi Abraham ben Nathan ha-Jarḥi (Abraham ben Nathan ha-Jarchi) 131, 133

332 

 Quellenregister

SḤ (Bologna 1538) §289 173 SḤ (Bologna) §117 165 SḤ (Bologna) §703 166 SḤ (Bologna) §908 177 SḤ (Bologna) §142 147 SḤ (Parma 3280 H) §15 171 SḤ §1046 173 SḤ §1059 152 SḤ §1211 176 SḤ §1347 177 SḤ §1348 162, 164 SḤ §1349 158 SḤ §1350 165 SḤ §1351 165 SḤ §1353 145 SḤ §1362 158 SḤ §1368 160, 162 SḤ §1369 158 SḤ §1589 173 SḤ §17 172 SḤ §1737 171 SḤ §1748 177 SḤ §1750 177 SḤ §1753 150 SḤ §1754 151 SḤ §1757 150 SḤ §1758 152 SḤ §1761 200 SḤ §1762 201 SḤ §1763 179 SḤ §1809 158 SḤ §199 159 SḤ §202 159 SḤ §252 145 SḤ §259 159, 165 SḤ §260 159 SḤ §262 166 SḤ §274 145 SḤ §276 145 SḤ §280 164 SḤ §280a 163 SḤ §33 168 SḤ §346 160 SḤ §347 160 SḤ §348 159–160 SḤ §389 157

SḤ §402 163 SḤ §404 176 SḤ §405 176 SḤ §469 160 SḤ §499 145 SḤ §504–506 145 SḤ §544 158 SḤ §552 162 SḤ §603 146 SḤ §639 145 SḤ §646 146 SḤ §648 145 SḤ §649 145 SḤ §651 145 SḤ §654 145 SḤ §66 176 SḤ §661 145 SḤ §662 145 SḤ §666 146 SḤ §668 154 SḤ §676 172 SḤ §677 174 SḤ §680 163 SḤ §689 165 SḤ §697 200 SḤ §698 144 SḤ §700 177 SḤ §705 177 SḤ §707 177 SḤ §712 149 SḤ §714 151 SḤ §715 200 SḤ §716 151 SḤ §717 200 SḤ §719 200 SḤ §722 200 SḤ §723 200 SḤ §724 151 SḤ §725 151 SḤ §731 178 SḤ §732 150 SḤ §733 179 SḤ §744 171 SḤ §745 168 SḤ §752 175 SḤ §753 171, 175

Quellenregister 

SḤ §754 172 SḤ §756 173 SḤ §774 173 SḤ §799 160 SḤ §811 165

SḤ §860 171 SḤ §862 171 SḤ §886 176 SḤ §919 171

 333

Namensregister Aaron ben Jakob ha-Kohen aus Lunel 110, 135, 234 Abraham ben Alexander aus Köln  270 Abraham ben Ephraim 67 Abraham ben Isaak aus Narbonne 102–103, 132, 234 Abraham ben Moses aus Sinsheim 96–99, 101, 198, 239, 241, 244 Abraham ben Nathan ha-Jarhi 133 Abraham Ibn Ezra  270 Ascher ben Jehiel Aschkenazi 92–94, 237–238, 259 Asriel aus Gerona 251, 270 Avigdor ben Elijah ha-Kohen 256–257 Baruch ben Isaak aus Worms 132, 232–233 Braulio aus Saragossa 183 Caesarius von Heisterbach 118–119, 183 Eleazar ben Jehuda aus Worms 67, 84, 92, 173–174, 190, 198, 234, 244, 246–253, 257–258, 270, 275, 284, 287 Eleazar ben Moses ha-Darschan aus Würzburg 266 Eliezer ben Joel ha-Levi von Bonn 266 Eliezer ben Samuel aus Metz 71, 84, 88–89, 132–133, 230–231, 281 Eliezer ha-Gadol 229 Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator 181 Gaon Isaak Dov Halevi Bamberger 136 Gerald von Wales 182 Gregor der Große 54 Guigo I. Cartusiensis 185 Hai Gaon 36, 64, 81 Hartmann von der Aue 146 Hieronymus 54, 160 Hippolyt 54 Hugo von St Victor 161 https://doi.org/10.1515/9783110722062-015

Irenäus von Lyon 53–54 Isaak Alfasi 67, 91 Isaak ben Jehuda ha-Levi 258 Isaak ben Moses aus Wien 67, 71, 89, 92, 94, 234, 256 Isaak ben Solomon aus Marokko 104 Isaak Lurja  267 Isaak von Stella  28 Jakob ben Ascher 211, 259–265 Jakob ben Judah Weil  272 Jakob ben Meir Tam 71, 83, 87–89, 98, 102, 109, 131–132, 134, 148, 230, 284–285 Jakob ben Yakar 229 Jakob Möllin  272 Jakobus von Lausanne 119 Jehuda ben Samuel he-Ḥasid 143, 198, 201, 234, 246–247, 249, 257, 270, 282, 288 Johannes Gerson 116 Johannes Trithemius 115 Jom Tov Lipmann Mühlhausen  13, 96, 103, 245, 253, 272–277, 279–286, 288–289, 291–292, 294 Jonah ben Elijah Landsofer 95–96 Josef ben Ephraim Caro 6, 95 Josef Giqatilla  271, 294 Judah ben Barzillai Al Bargeloni 102, 235 Marcus Fabius Quintilianus 206 Meir ben Baruch von Rothenburg 67, 86, 90–96, 216, 237, 256, 270, 297 Meir ben Jekutiel ha-Kohen von Rothenburg  67, 71, 92, 95, 131, 134–135, 216, 237, 281, 284 Meir ben Schimon aus Narbonne 274 Meir ben Todros Ha-Levi Abulafia  103–104, 211 Menachem Aschkenazi  270 Menachem ben Solomon Meiri 104–107, 134, 235, 237 Mordechai ben Hillel ha-Kohen 92, 94, 238 Moses ben Jakob aus Coucy 67, 84, 107–110, 132–133, 234 Moses ben Nachman  134, 267–269

336 

 Namensregister

Moses Maimonides 6, 66–69, 81–82, 85–86, 91, 95, 99, 101, 107, 135–136, 145, 147, 169–170, 191–196, 211, 216, 237, 276, 294, 297 Moses Sofer aus Pressburg 97 Nicholas Donin 107 Nicolaus Claraevallensis 184 Nikolaus aus Bibra 99 Origenes 54 Perez ben Elijah aus Corbeil 94 Peter Abelard 161 Petrus Berchorius 119 Petrus Venerabilis 183–184 Philo von Alexandria 53–54 Pirqoi ben Baboi 63–64, 80 Rabbenu Joel 254–255 Rabbi Leontin von Mühlhausen 217 Raimundus Martini 162 Raschi 42, 83, 87–88, 132, 161, 227–231, 254, 268, 272, 285 Robert Grosseteste 121 Rupert von Deutz  27, 29–30, 175

Sa‘adja Gaon 252 Saadja bar Maimon ibn Danan  294 Samson ben Eliezer 96, 101, 270–273, 282, 244–245 Samuel ben Jakob 104 Samuel ben Kalonymos he-Ḥasid 148, 198–199 Samuel ben Neta ha-Levi Kolin 99 Schimon ben Isaak ha-Gadol 229 Servasanctus Tuscus aus Faenza 120 Sigebert von Gembloux 161 Simcha von Speyer 256 Solomon ben Abraham Adret  82, 94 Solomon Ganzfried 95–96, 135 Tamin ibn al Mu’izz ibn Badis 65 Viktorin von Pettau 54 Wolfram von Eschenbach 146 Zvi Hirsch Friedmann 97