Anna Wehofsits’s study on Kant’s moral anthropology examines the conditions for achieving moral action, and strives to e
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German Pages 176 Year 2016
Table of contents :
Dank
Inhalt
Zitierweise
Verwendete Siglen
Einleitung: Die zwei Projekte der Kantischen Ethik
1. Moralische Anthropologie: Idee und Ausführung
1.1 Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht
1.2 Mitspielen: Interaktive Methode
1.3 Weltkenntnis als Orientierungswissen
1.4 Exkurs: Theoretische Voraussetzungen der moralischen Anthropologie
Teil I: Hindernisse. Affekte und Leidenschaften
2. Vernünftiger Optimismus und empirisch fundierter Pessimismus
3. Begriffliche Voraussetzungen
4. Positionierung und Metaphorik
4.1 Deplatzierte Affekt-Analyse
4.2 Metaphern der Krankheit
5. Affekte
5.1 Zwei Arten von Unkontrolliertheit
5.2 Die Pflicht der Apathie
5.3 Positive Wirkungen
5.4 Die Veränderbarkeit affektiver Reaktionsmuster
6. Leidenschaften
6.1 Leidenschaft und Unvernunft
6.2 Unbewusste Elemente der Selbsttäuschung
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
6.3.1 Sex als Leidenschaft
6.3.2 Freiheit als Leidenschaft
6.3.3 Rachbegierde
6.3.4 Ehrsucht
6.3.5 Herrschsucht
6.3.6 Habsucht
6.3.7 Wahn
6.4 Die tragische Dimension der Selbsttäuschung
Teil II: Hilfsmittel. Der moralische Schein, Charakterbildung und Mitgefühl
7. Der Moralische Schein
8. Charakterbildung
8.1 Verschiedene Charakterbegriffe
8.2 Unmoralische Grundsätze
8.3 Revolution und Reform
8.4 Direkte und indirekte moralische Erziehung
9. Mitgefühl
9.1 Reform der Sinnesart?
9.2 Indirekte Pflichten
9.3 Mitgefühl als Ausgleich moralischer Unvollkommenheit
9.4 Mitgefühl als Mittel zur Förderung der Glückseligkeit anderer
9.5 Der Prozess der Kultivierung
9.6 Emotionale Ansteckung, Empathie und Mitgefühl
9.7 Transformiertes Mitgefühl
10. Selbsterkenntnis als Prozess
Literatur
Personenregister
Sachregister
Anna Wehofsits Anthropologie und Moral
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 127
Anna Wehofsits
Anthropologie und Moral
Affekte, Leidenschaften und Mitgefühl in Kants Ethik
Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. D 188
ISBN 978-3-11-045553-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045646-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045559-5 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert und Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dank Für ihre Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches, den Austausch von Gedanken und wertvolle Kritik danke ich herzlich Claudia Blöser, Amber Carpenter, Andrea Esser, Stefan Gosepath, Jan Niklas Howe, Felix Koch, David Lauer, David Löwenstein, Corinna Mieth, Christian Neuhäuser, Thomas Pogge, Martin Sticker, Holm Tetens, Eva Weber-Guskar, Adam Westra, Marcus Willaschek und meinen Eltern. Danken möchte ich auch dem Verlag De Gruyter, den Herausgebern der Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie“ und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften.
Inhalt Zitierweise
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Verwendete Siglen
XI
Einleitung: Die zwei Projekte der Kantischen Ethik
1
. Moralische Anthropologie: Idee und Ausführung 10 . Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht 13 19 . Mitspielen: Interaktive Methode . Weltkenntnis als Orientierungswissen 22 . Exkurs: Theoretische Voraussetzungen der moralischen 24 Anthropologie
Teil I
Hindernisse. Affekte und Leidenschaften
. Vernünftiger Optimismus und empirisch fundierter Pessimismus . Begriffliche Voraussetzungen
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. Positionierung und Metaphorik . Deplatzierte Affekt-Analyse . Metaphern der Krankheit
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. Affekte 45 . Zwei Arten von Unkontrolliertheit 45 . Die Pflicht der Apathie 47 . Positive Wirkungen 51 . Die Veränderbarkeit affektiver Reaktionsmuster
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. Leidenschaften 58 . Leidenschaft und Unvernunft 60 . Unbewusste Elemente der Selbsttäuschung 67 . Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften 69 72 .. Sex als Leidenschaft .. Freiheit als Leidenschaft 73 .. Rachbegierde 76
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VIII
.. .. .. .. .
Inhalt
Ehrsucht 79 82 Herrschsucht Habsucht 85 Wahn 90 Die tragische Dimension der Selbsttäuschung
Teil II
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Hilfsmittel. Der moralische Schein, Charakterbildung und Mitgefühl
. Der Moralische Schein
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. Charakterbildung 103 103 . Verschiedene Charakterbegriffe . Unmoralische Grundsätze 108 . Revolution und Reform 111 . Direkte und indirekte moralische Erziehung
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. Mitgefühl 125 . Reform der Sinnesart? 125 128 . Indirekte Pflichten . Mitgefühl als Ausgleich moralischer Unvollkommenheit 132 . Mitgefühl als Mittel zur Förderung der Glückseligkeit anderer 139 . Der Prozess der Kultivierung . Emotionale Ansteckung, Empathie und Mitgefühl 141 . Transformiertes Mitgefühl 147 . Selbsterkenntnis als Prozess Literatur
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Personenregister Sachregister
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Zitierweise Kants Schriften werden in der Regel zitiert nach der Akademie-Ausgabe (Hrsg.: Bd. 1– 22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900 ff.), unter Angabe von Sigle, Band- und Seitenzahl. Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Originalpaginierung der A- und B-Auflage zitiert; verwendet wird folgende Ausgabe: Kant, Immanuel (1998): Die Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg: F. Meiner. Die Metaphysik der Sitten wird nach der Akademie-Ausgabe zitiert; an einer Stelle wird ergänzend auf folgende Ausgabe Bezug genommen: Kant, Immanuel (2008): Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Hrsg. v. Bernd Ludwig. Hamburg: F. Meiner. Eigene Hervorhebungen im Zitat werden durch „m.H.“ (meine Hervorhebung) kenntlich gemacht.
Verwendete Siglen Anth Br GMS HN IaG KpV KrV KU Log MS NG Päd Refl RGV SF V-Anth/Collins V-Anth/Fried V-Anth/Mensch V-Anth/Mron V-Anth/Parow V-Anth/Pillau V-Mo/Collins V-Mo/Mron V-Mo/Mron II V-Met-L1/Pölitz WA ZeF
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Briefe Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Handschriftlicher Nachlass Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Logik Die Metaphysik der Sitten Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen Pädagogik Reflexion Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Der Streit der Fakultäten Vorlesungen Wintersemester 1772/1773 Collins Vorlesungen Wintersemester 1775/1776 Friedländer Vorlesungen Wintersemester 1781/1782 Menschenkunde, Petersburg Vorlesungen Wintersemester 1784/1785 Mrongovius Vorlesungen Wintersemester 1772/1773 Parow Vorlesungen Wintersemester 1777/1778 Pillau Moralphilosophie Collins Moral Mrongovius Moral Mrongovius II Kant Metaphysik L 1 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Zum ewigen Frieden
Einleitung: Die zwei Projekte der Kantischen Ethik Kants Ethik gewinnt maßgeblich an Überzeugungskraft, wenn man eine einseitige Annahme korrigiert, die bis heute ihre Rezeption dominiert: Sie besagt, dass Kants Ethik im Grunde eine Ethik a priori ist, die über empirische Faktoren gar nichts oder zumindest nichts Substanzielles zu sagen hat. Zutreffend an dieser Annahme ist, dass nach Kant die Verbindlichkeit moralischer Prinzipien für alle vernunftfähigen Wesen rein a priori begründet werden muss, also ohne Bezugnahme auf empirische Bedingungen. Falsch ist sie dagegen erstens mit Blick auf die Inhalte moralischer Pflichten und zweitens mit Blick auf die konkreten Bedingungen ihrer Realisierung. Die inhaltliche Bestimmung moralischer Pflichten und ihre erfolgreiche Überführung in konkretes Handeln sind nach Kant nicht denkbar ohne die Berücksichtigung empirischer Faktoren und ohne eine gezielte, moralisch motivierte Entwicklung empirischer Fähigkeiten. Kants Ethik umfasst zwei Projekte. Zum einen das berühmte Projekt einer Moralbegründung a priori, zum anderen das anwendungsorientierte Projekt einer moralischen Anthropologie, dessen Bedeutung für die Kantische Moralphilosophie oft verkannt wird. Mit dem ersten Projekt beansprucht Kant, die universelle Geltung moralischer Prinzipien nicht empirisch, sondern durch reine Vernunft zu begründen. Bis heute sind viele der Auffassung, dass Kants Ethik in ihrer Gesamtheit mit diesem Projekt identisch ist – mit der Verbindung von moralischem Gesetz und Freiheit im Begriff der Autonomie des Willens und der Begründung des kategorischen Imperativs in seinen verschiedenen Formulierungen. Fragen, die das konkrete Handeln betreffen, stellen sich aus dieser Perspektive nur mit Blick auf die Anwendung des kategorischen Imperativs auf einzelne subjektive Maximen. Fragen der Lebensführung – nach der Herausbildung eines moralischen Charakters, nach moralischer Erziehung und nach der moralischen Kultivierung emotionaler Dispositionen – scheinen dagegen kaum Beachtung zu finden; insbesondere scheint die Bedeutung empirischer Faktoren für die moralische Praxis weitgehend unberücksichtigt zu bleiben. Im Zentrum des zweiten Projekts einer moralischen Anthropologie stehen nun gerade solche komplexeren Fragen der moralischen Lebensführung. Das Interesse der Kant-Forschung an Kants Moralphilosophie hat sich über Jahrzehnte auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und bestimmte Teile der Kritik der praktischen Vernunft konzentriert und damit auf das erste Projekt einer Metaphysik der Moral. In neuerer Zeit werden jedoch zunehmend auch spätere Schriften – vor allem die Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten, die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und Über Pädagogik –, sowie Briefe und Vorlesungsmit-
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Einleitung: Die zwei Projekte der Kantischen Ethik
schriften als wichtige Quellen diskutiert, die das Verständnis der Kantischen Ethik erweitern und neue Anschlussmöglichkeiten für aktuelle Debatten eröffnen. Dies hat insbesondere eine neue Diskussion um Schnittstellen zwischen Kantischen und tugendethischen Ansätzen möglich gemacht.¹ In der Grundlegung und Teilen der Kritik der praktischen Vernunft ist Kants Argumentation tatsächlich auf das erste Projekt, also den Versuch einer Moralbegründung a priori fokussiert.² Dies ist jedoch nicht auf eine Geringschätzung der moralischen Anthropologie zurückzuführen, sondern darauf, dass Kant einer Begründung der Moral durch reine Vernunft systematisch Vorrang einräumt: Die Fundierung der Moral muss „von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert“ sein, denn Kant zufolge kann ein Prinzip nur dann als „moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit“ gelten, wenn es „absolute Nothwendigkeit bei sich führ[t]“. Moralische Prinzipien gelten kategorisch, ohne Rücksicht auf subjektive Interessen und veränderliche, empirische Umstände. Der Grund ihrer Verbindlichkeit liegt nach Kant nicht „in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt […], sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft“ (GMS 4:389). Mit Blick auf die Geltung moralischer Pflichten hält Kant es aus diesem Grund für erforderlich, der moralischen Anthropologie eine Metaphysik der Sitten voranzustellen, die ohne Bezugnahme auf empirische Bedingungen auskommt. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die substanziellen Inhalte moralischer Pflichten und moralischer Zwecke ohne empirisches Wissen und insbesondere ohne empirische Menschenkenntnis bestimmt werden könnten. Die Ableitung konkreter Pflichten aus dem kategorischen Imperativ setzt zumindest allgemeines empirisches Wissen über den Menschen voraus.³ Vor allem aber kann die Frage, wie sich moralische Pflichten realisieren lassen, welche konkreten Bedingungen ihre Umsetzung fördern und welche sie behindern, nur im Rekurs auf empirische Kenntnisse beantwortet werden. Genau diese Frage motiviert Kants Projekt einer moralischen Anthropologie: Sie soll erstens identifizieren, welche sozialen und psychischen Bedingungen sich positiv auf Moralität auswirken und untersuchen, wie sie sich stärken lassen. Zweitens soll sie analysieren, durch welche Bedingungen Moralität negativ beeinflusst wird und wie sich diese negativen Bedin-
Vgl. insbes. Baxley ; Betzler ; Denis ; Esser ; Herman ; Jost und Wuerth ; Sherman ; Trampota, Sensen und Timmermann und Wood . Zum Verhältnis von Anthropologie und Moral bei Kant vgl. insbes. Brandt ; Cohen ; Cohen ; Frierson ; Louden ; Louden ; Munzel ; Sturm und Wood . Mit der Triebfederlehre, der Postulatenlehre und der Methodenlehre geht die Kritik der praktischen Vernunft jedoch bereits über das Thema der Moralbegründung hinaus. Vgl. dazu Pogge .
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gungen kontrollieren lassen (MS 6:217). Bedingungen der ersten Art werde ich im Folgenden als Hilfsmittel bezeichnen, Bedingungen der zweiten Art als Hindernisse. Für Kants Ethik ist diese doppelte, anwendungsorientierte Funktion von zentraler Bedeutung.Vor dem Hintergrund seiner aufklärerischen Ideale lässt sich sein Vernunftbegriff nämlich, wie Ernst Cassirer plastisch formuliert, nicht über „einen festen Gehalt von Erkenntnissen, von Prinzipien, von Wahrheiten“ bestimmen. Er muss vielmehr „als eine Energie; als eine Kraft“ verstanden werden, „die nur in ihrer Ausübung und Auswirkung völlig begriffen werden kann“.⁴ Praktische Vernunft ist für Kant eine Fähigkeit, die sich nicht in der theoretischen Beurteilung praktischer Fragen erschöpft, sondern praktisch – im konkreten Handeln – bewiesen werden muss. Sie zeigt sich nicht in moralischen Einstellungen, die praktisch folgenlos bleiben, sondern nur in dem, was wir tun (KpV 5:3).⁵ Als „mit Vernunft begabte[…] Erdwesen“ (Anth 7:119) können wir die Forderungen der praktischen Vernunft nur im Umgang mit konkreten empirischen Gegebenheiten erfüllen; dabei kommt es nach Kant insbesondere auf einen angemessenen Umgang mit unserer eigenen empirischen Natur an, d. h. mit den psychischen, sozialen und physischen Grundlagen unserer Identität. Der Anspruch einer im Wortsinne praktischen Vernunft, die sich im Handeln ausdrückt, führt deshalb unweigerlich zum Projekt einer moralischen Anthropologie: Nach Kant ist der Mensch „der Idee einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend […], sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen“ (GMS 4:389). Die moralische Anthropologie soll uns darin unterstützen, dieses konkrete moralische Ziel zu erreichen und verhält sich damit komplementär zur Metaphysik der Sitten: Das Gegenstück einer Metaphysik der Sitten, als das andere Glied der Eintheilung der praktischen Philosophie überhaupt, würde die moralische Anthropologie sein, welche, aber nur die subjective, hindernde sowohl als begünstigende Bedingungen der Ausführung der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung, der Schul- und Volksbelehrung) und dergleichen andere sich auf Erfahrung gründende Lehren und Vorschriften enthalten würde, und die nicht entbehrt werden kann, aber durchaus nicht vor jener vorausgeschickt, oder mit ihr vermischt werden muß. (MS 6:217; vgl. V-Mo/Mron II 29:599)
Es zeigt sich also: Das Anliegen, moralischen Prinzipien „Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen“ (GMS 4:389), muss als zentrales Anliegen der Kantischen Ethik verstanden werden. Die Aufgabe einer moralischen Anthropologie besteht darin, grundlegende Aspekte der menschli-
Cassirer , S. m.H. Zu diesem Thema vgl. Willaschek , S. .
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Einleitung: Die zwei Projekte der Kantischen Ethik
chen Natur und des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu untersuchen – und zwar im Hinblick auf die Verwirklichung moralischer Prinzipien und Zwecke. Sie soll empirische Antworten auf moralisch motivierte Fragen geben und aufzeigen, wie sich die moralische Pflicht, ein „guter Mensch“ zu werden (RGV 6:48), praktisch realisieren lässt. Zu diesem Zweck soll sie erstens identifizieren, welche Merkmale der menschlichen Natur eine moralische Lebensführung behindern bzw. fördern, und zweitens aufzeigen, durch welche Maßnahmen sich Hindernisse überwinden und Hilfsmittel kultivieren lassen. Für die moralische Praxis hat sie insofern konstitutive Funktion, als sie die Pflicht, ein guter Mensch zu werden, mit Blick auf unsere Lebenswirklichkeit spezifiziert. In einem auffälligen Kontrast zu diesem praktischen Anliegen steht nun die Tatsache, dass Kant sein Projekt einer moralischen Anthropologie in keiner seiner Schriften systematisch ausarbeitet. Die Suche nach deren konkreten Leistungen gestaltet sich, wie Robert B. Louden treffend bemerkt, als „Detektivarbeit“.⁶ Die Fundstellen verteilen sich über Kants Schriften und häufen sich in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten und in Vorlesungsmitschriften.⁷ Die Suche ist aufwendig, aber lohnend: Erst vor dem Hintergrund der über diese Schriften verstreuten komplexen Moralpsychologie wird nämlich deutlich, wie wichtig moralische Anthropologie als anwendungsorientiertes „Gegenstück“ einer Metaphysik der Sitten bei Kant tatsächlich ist. Im Zentrum der Detektivarbeit dieses Buches steht die Bedeutung emotionaler Hilfsmittel und Hindernisse für moralisches Handeln und für den Prozess der Charakterbildung: Affekte, Leidenschaften und Mitgefühl. Mit Blick auf die Hindernisse, die Kant identifiziert – nämlich Affekte und Leidenschaften –, fällt sein Urteil viel differenzierter aus, als die Rezeption der vergangenen zweihundert Jahre nahelegt.⁸ Kant misst der Kultivierung emotionaler Dispositionen für die
Louden , S. . Meine Argumentation stützt sich hauptsächlich auf Schriften, die Kant selbst veröffentlicht hat. Es ist jedoch sinnvoll, ergänzend aus den Vorlesungsmitschriften zu zitieren, weil sie Kants Überlegungen oft besonders anschaulich zum Ausdruck bringen. Die wohl berühmteste zeitgenössische Kritik findet sich in Schillers sarkastischem Distichon „Gewissensskrupel“: „Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.“ (Schiller , S. ) Hundert Jahre nach Schiller scheint diese Sicht auf Kant so geläufig, dass Meyers Lexikon zur Definition des Begriffs „Rigorismus“ Kants Ethik nicht nur als Beispiel, sondern geradezu als selbsterklärende Illustration anführt: „Rigorismus […] heißt im allgemeinen jede strenge, bez. überstrenge […] Denk- und Handlungsweise; im engern Sinne heißt so jede ethische Lehre, die (wie die Kantsche) […] jeden Einfluß sowohl des die Folgen erwägenden Verstandes als des Gefühls und der Neigungen auf unser Handeln aufs strengste verpönt.“ (Meyers Lexikon – , Bd. , S. ) Noch radikaler fällt erneut hundert Jahre später die Kritik von Simon Blackburn aus: „Kant’s moral
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moralische Entwicklung des Subjekts zentrale Bedeutung bei. Mein Ziel ist, zu zeigen, dass moralische Charakterbildung nach Kant eine lebenspraktische Aufgabe ist, die neben rationalen notwendig auch emotionale Momente einschließt, die auf vielfältige Weise ineinandergreifen. In den letzten drei Jahrzehnten hat ein Prozess der Aufwertung empirischer Gefühle in Kants Ethik eingesetzt.⁹ Mein Beitrag zu diesem Prozess zielt nicht auf eine pauschale Rehabilitierung des Gefühls. Gegen ein solches Vorhaben spräche schon die schiere Bandbreite der höchst unterschiedlichen Phänomene, die im Begriff des „Gefühls“ erfasst werden.¹⁰ Für Kant ist die moralische Anthropologie eine anwendungsorientierte Disziplin, die die konkreten Bedingungen moralischen Handelns untersucht. Dieser Anspruch auf Konkretheit macht eine differenzierte Auseinandersetzung mit den disparaten Bestandteilen des „Gefühls“Komplexes notwendig. Dies führt mich zu einer kontrastierenden Lektüre: Durch eine teils interpretative, teils kritische Diskussion möchte ich aufzeigen, wie einerseits Affekte und Leidenschaften bei Kant zu Hindernissen einer moralischen (und auch prudentiellen) Lebensführung werden und was andererseits die Kultivierung von Mitgefühl zur moralischen Charakterbildung beiträgt. Der Gefahr einseitiger moralischer Theoriebildung, die Kant – manchmal zu Recht und häufig zu Unrecht – unterstellt wird, entspricht auf der Rezeptionsebene die Gefahr einer ihrerseits einseitigen Kritik: Gerade die Polemik gegen die Vernunftzentriertheit von Kants Ethik verfällt nicht selten selbst in Einseitigkeit. Nach Allen W. Wood halten sich die Vorurteile gegenüber Kants Ethik deshalb so hartnäckig, weil „the stiff, inhuman, moralistic Prussian ogre everyone knows by the name Immanuel Kant“ für viele Kritiker seiner Moralphilosophie einen fixen Bezugspunkt bildet, der ihr Denken strukturiert: „Without him, they feel disoriented.“¹¹ Die Produktion von Orientierungslosigkeit ist natürlich nicht Ziel der vorliegenden Studie. Vielmehr soll die Destabilisierung des Bildes vom preußischen Oger dabei helfen, Kants Moralverständnis anschlussfähig zu machen für
psychology is one in which duty is forever at war with blind and slavish inclination, which itself is always a species of self-love. Emotions and desires are the enemy.“ (Blackburn , S. ) Pionierarbeit haben auf diesem Feld vor allem Marcia Baron und Nancy Sherman geleistet, vgl. Baron und Sherman . Für eine Korrektur der Kritik Schillers an Kant vgl. Allison und Baxley ; zur moralitätsfördernden Wirkung ästhetischer Gefühle vgl. Guyer und Recki ; zur emotionalen Phänomenologie moralischer Werte vgl. Anderson ; zur moralischen Gefühlsbildung vgl. Baron und Herman ; zum Unterschied von Apathie und Gefühllosigkeit vgl. Denis . An dieser Stelle reicht es aus, den Gefühlsbegriff als Oberbegriff für verschiedene emotionale Phänomene zu verwenden. Begriffliche Differenzierungen werde ich dort vornehmen, wo sie nötig sind. Wood , S. XII.
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Einleitung: Die zwei Projekte der Kantischen Ethik
eine Ethik, die vernünftige Überlegung und moralische Charakter- und Gefühlsbildung nicht als einander ausschließend begreift, sondern als komplementär. Dies bedeutet keine Herstellung von Anschlussfähigkeit um jeden Preis: Einige theoretische Ansätze und Beobachtungen, die in Kants moralische Anthropologie einfließen, sind aus heutiger Perspektive offensichtlich nicht haltbar. Das gilt etwa für die auf Hippokrates von Kos zurückgehende Temperamentenlehre, die zwischen sanguinischem, melancholischem, phlegmatischem und cholerischem Temperament unterscheidet (Anth 7:286 ff.). Andere Bestandteile können schon zu Kants Zeiten nicht als wissenschaftlich gelten, sondern nur als groteske Vorurteile, dazu gehören insbesondere Kants herabsetzende Äußerungen über Frauen (Anth 7:303 ff.), seine rassistischen Bemerkungen (Anth 7:252 f.) und seine abstoßenden Behauptungen über Juden (Anth 7:171, 205 f. Anm.). Mit diesen Vorurteilen unterbietet Kant den universalistischen und egalitären Anspruch seiner Ethik auf drastische Weise. Diese offensichtlich problematischen Passagen sollten jedoch nicht den Blick verstellen auf die Leistungen der moralischen Anthropologie Kants gerade auf dem Gebiet der Moralpsychologie und Emotionstheorie. Dazu gehören seine differenzierten Analysen einzelner Affekte und einzelner Leidenschaften, die sich als sinnvolle Ergänzungen, teilweise sogar als Korrektiv seiner theoretischen Festlegungen eignen. Die vielleicht wichtigste Ergänzung dieser Art stellt ein komplexes Modell der Selbsttäuschung dar, das Kant in der Auseinandersetzung mit einzelnen Leidenschaften ausarbeitet. Ähnlich überzeugend und bis heute anschlussfähig ist auch die systematische Verschränkung von rationalen und emotionalen Momenten bei der Kultivierung von Mitgefühl. *** Das Buch ist gegliedert in zwei Teile. Der erste befasst sich mit Affekten und Leidenschaften, die Kant als empirische Hindernisse für eine moralische Lebensführung diskutiert. Der zweite Teil verhandelt den „moralischen Schein“, Prozesse der Charakterbildung und der Kultivierung von Mitgefühl, die Kant als Hilfsmittel darstellt. Diesen beiden Hauptteilen vorangestellt ist ein einleitendes Kapitel, das sich mit Idee und Ausführung der moralischen Anthropologie auseinandersetzt. Darin zeige ich, dass sich der praktische Impetus der moralischen Anthropologie auf mehreren Ebenen nachzeichnen lässt: Er prägt erstens die zugrunde liegende dynamische Konzeption der menschlichen Natur, zweitens die methodische Ausrichtung der moralischen Anthropologie und drittens ihre Charakterisierung als Gebrauchsdisziplin, deren Aufgabe darin besteht, Orientierungswissen zur Verfügung zu stellen, das für die moralische Praxis unmittelbar relevant ist (1). Dieser mehrdimensionale praktische Anspruch bildet den systematischen Rahmen für die folgenden Einzelbetrachtungen zu konkreten Hindernissen und Hilfsmitteln.
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Im Zentrum des ersten Hauptteils steht die detaillierte Analyse von Affekten und Leidenschaften. Zunächst rekonstruiere ich, was sich als Grundhaltung der moralischen Anthropologie bezeichnen lässt: Kants Diskussion dieser beiden „Hindernisse“ ist von einer bemerkenswerten Gleichzeitigkeit von vernunftbedingtem Optimismus und empirisch fundiertem Pessimismus getragen (2). Anschließend erläutere ich einige wichtige begriffliche Voraussetzungen (3), um dann auf zwei formale Eigenheiten von Kants Auseinandersetzung mit Affekten und Leidenschaften einzugehen, nämlich die in systematischer Hinsicht überraschende Positionierung der Affekt-Analyse innerhalb der Anthropologie und die stark metaphorische Sprache, in der Kant Affekte und Leidenschaften diskutiert. Beides, so werde ich zeigen, dient einem pädagogischen Ziel, nämlich praktische Selbsterkenntnis zu fördern und zu vernünftiger Selbstkontrolle zu befähigen (4). Was genau macht nun Affekte für Kant zu Hindernissen, in prudentieller und besonders in moralischer Hinsicht? Kants Haltung gegenüber Affekten ist deutlich ambivalenter als erwartbar (und zumeist angenommen). Nur Affekte, die eine vernünftige Kontrolle maßgeblich erschweren oder verhindern, werden von Kant ablehnend beurteilt; anderen spricht er dagegen auch positive Wirkungen zu. Dies führt zu Spannungen in Kants Affektkonzeption, die allerdings durchaus eine positive Deutung zulassen (5). Leidenschaften dagegen verurteilt Kant (mit einer überraschenden Ausnahme) rigoros. Seine ablehnende Haltung begründet er im Rekurs auf ein psychologisch komplexes Modell der Leidenschaft als Selbsttäuschung, die moralisches oder auch nur prudentiell vernünftiges Handeln unmöglich macht. Erst seine konkreten Beispiele verwandeln Kants allgemeine Darstellung der Leidenschaften in eine fundierte anthropologische Konzeption, die sich differenziert mit den sozialen und psychischen Bedingungen ihrer Entstehung und ihren negativen Folgen befasst – entsprechend gilt ein Hauptaugenmerk der Analyse dieser Beispiele (6). Der zweite Hauptteil widmet sich drei nach Kant zentralen Hilfsmitteln für die moralische Entwicklung des Subjekts: Dem „moralischen Schein“ im Sinne vorgetäuschter Moralität, der Charakterbildung und der Kultivierung von Mitgefühl. Kants Beurteilung des moralischen Scheins ist wechselhaft und führt zu begrifflichen Spannungen innerhalb seines Systems. Auf nicht unproblematische Weise konzipiert er den moralischen Schein als provisorisches und passives Instrument der Moralisierung. Dieser bildet damit einen aufschlussreichen Gegensatz zu aktiven Formen der moralischen Charakterbildung, wie sie die Reform (bzw. Revolution) der „Denkungsart“ und die Reform der „Sinnesart“ darstellen (7). Dieser Kontrast verweist auf das komplizierte Verhältnis von „Revolution“ und „Reform“, das im Zentrum von Kants Konzeption moralischer Charakterbildung steht. Sie macht zunächst eine Differenzierung von Kants verschiedenen Charakterbegriffen nötig. Im Anschluss an diese Differenzierung argumentiere ich,
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Einleitung: Die zwei Projekte der Kantischen Ethik
dass seine Rede von Revolution und Reform in Bezug auf die Denkungsart im Sinne von zwei verschiedenen epistemischen Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen verstanden werden muss. In Bezug auf die konkrete, lebensweltliche Reform unseres Charakters spielt nach Kant moralische Erziehung eine wesentliche Rolle. Das Kapitel schließt deshalb mit einer kurzen Betrachtung der Frage, in welcher Form Erziehung im Rahmen des Kantischen Systems einen relevanten Beitrag zur moralischen Charakterbildung leisten kann (8). Im neunten Kapitel untersuche ich die Reform der Sinnesart und ihr Verhältnis zur Reform der Denkungsart am Beispiel der Kultivierung von Mitgefühl. Die Fähigkeit, Mitgefühl für andere zu empfinden, beruht nach Kant auf einer natürlichen Veranlagung, deren Kultivierung „indirekte Pflicht“ ist. Ich erläutere zunächst, was „indirekte Pflicht“ in diesem Zusammenhang bedeutet und zeige dann auf,worin die moralischen Funktionen von Mitgefühl nach Kant bestehen. Es wird sich zeigen, dass die Kultivierung von Mitgefühl unverzichtbarer Bestandteil der moralischen Charakterbildung ist. Im Rekurs auf neuere Emotionsforschung rekonstruiere ich anschließend, wie der Prozess der Kultivierung verstanden werden muss, um sowohl als Kant-Interpretation als auch sachlich überzeugen zu können: Anders als Kants knappe explizite Äußerungen zum Kultivierungsprozess auf den ersten Blick vermuten lassen, geht es bei der Kultivierung nicht einfach nur um die Stimulierung eines natürlichen emotionalen Mechanismus. Es geht vielmehr um die moralisch motivierte Transformation einer natürlichen Veranlagung mit dem Ziel, die Ansprechbarkeit handelnder Subjekte für die Bedürfnisse anderer Menschen zu erhöhen (9). Mit einem etwas anders gelagerten Erkenntnisinteresse ließe sich diese Studie ergänzen um die Verschränkung von praktischer Philosophie und Ästhetik, die Kant vornimmt, wenn er den ästhetischen Gefühlen des Schönen und des Erhabenen moralitätsfördernde Wirkung zuspricht: Ihr positiver Effekt auf die Moralität besteht nach Kant darin, dass sie uns lehren, einen Gegenstand auch dann zu schätzen, wenn wir kein Interesse an ihm nehmen (wie im Fall des Schönen) bzw. dieser sogar gegen unser sinnliches Interesse verstößt (wie im Fall des Erhabenen). Das freie, interesselose Wohlgefallen am Schönen (KU 5:210) entspricht strukturell dem „vernunftgewirkten“ Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz; das dialektische „Geistesgefühl“ des Erhabenen (KU 5:192) dem Bewusstsein des inneren Werts einer moralischen Handlung, die unseren unmittelbaren Neigungen widerspricht.¹² Ich verzichte in diesem Kontext auf eine Auseinandersetzung mit Vgl. Klemme , S. LI; vgl. auch Guyer und Recki , S. – . Kants Darstellung des Gefühls der Achtung für das moralische Gesetz in der Triebfederlehre der Kritik der praktischen Vernunft ist uneinheitlich – an einigen Stellen wird es mit einem positiven Gefühl identifiziert, an anderen mit einem dialektischen Gefühl.
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Kants Ästhetik aus zwei Gründen: Erstens lassen sich die moralitätsfördernden Wirkungen ästhetischer Gefühle nicht angemessen diskutieren, ohne allgemeiner auf das Verhältnis von Moral und Ästhetik einzugehen und die komplexe Frage zu klären, was ein ästhetisches Gefühl überhaupt ist. Dies würde zu weit über die hier verhandelte Fragestellung hinausführen. Zweitens fördern die Gefühle des Schönen und des Erhabenen unsere Moralität nicht auf derselben Ebene wie Mitgefühl: Sie stärken auf eine eher allgemeine und indirekte Weise unser (interesseloses) Interesse an der Moral, indem sie die übersinnliche Freiheitsidee sinnlich erfahrbar zur Darstellung bringen. Bekanntlich bestimmt Kant das Schöne als „Symbol des Sittlich-Guten“ (KU 5:353). Der Beitrag kultivierten Mitgefühls ist dagegen unmittelbar praxisrelevant: Es macht uns auf die spezifischen Bedürfnisse anderer Menschen aufmerksam und hilft uns auf diese Weise, unsere allgemeine Pflicht zur Beförderung der Glückseligkeit anderer zu konkretisieren.
1. Moralische Anthropologie: Idee und Ausführung Die Idee einer moralischen Anthropologie wird von Kant als unverzichtbares Gegenstück einer Metaphysik der Sitten eingeführt (MS 6:217). Immer wieder betont er, dass sich die Frage, wie moralische Pflichten und Zwecke realisiert werden können, nicht unabhängig von empirischem Wissen über die konkreten Voraussetzungen einer moralischen Lebensführung beantworten lässt. „Moralische Anthropologie“, so heißt es in den Vorlesungsmitschriften besonders deutlich, „ist auf den Menschen angewandte Moral“ (V-Mo/Mron II 29:599). Ohne sie wäre die Moral „scholastisch und auf die Welt gar nicht anwendbar.“ (V-Anth/Mron 25:1211). Wie aber setzt Kant diese Idee um? Wie sieht das anwendungsorientierte Gegenstück einer Metaphysik der Sitten konkret aus? Wer hofft, in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht eine systematische und detaillierte Darstellung dessen zu finden, was die moralische Anthropologie leistet, und wie sie mit dem ersten Projekt einer Moralbegründung a priori zusammenhängt, wird enttäuscht. Die Anthropologie ist bewusst interdisziplinär angelegt und verfolgt einen umfassenden Anspruch: Im Rekurs auf empirische Beobachtungen soll die menschliche Natur aus verschiedensten Perspektiven beleuchtet werden. Zu den behandelten Themen gehören dabei psychologische, physiologische, soziologische und ethnologische Fragen, daneben geschichtsphilosophische Fragen und Fragen der Moral. Wie genau diese verschiedenen Perspektiven zusammenhängen, bleibt dabei häufig unklar, und auch die Ausführungen zu den einzelnen Themen sind oft nur fragmentarisch. Der uneinheitliche Eindruck, den die Anthropologie vermittelt, hat einige Interpreten zu abschätziger Kritik veranlasst: Benno Erdmann etwa sieht in ihr das Ergebnis einer „mühseligen Zusammenstellung von dem vierundsiebzigjährigen, auf der Schwelle der Altersschwäche stehenden Greise.“¹³ In jüngerer Zeit haben dagegen andere Interpreten damit begonnen, aufzuzeigen, wie reich und informativ der Text trotz seiner offenkundigen Schwierigkeiten ist, vor allem mit Blick auf solche Fragen, die in der KantForschung über Jahrzehnte vernachlässigt worden sind.¹⁴ Aus drei Gründen ist die Anthropologie auch für meine Fragestellung ein geeigneter Ansatzpunkt: „[A] single, complete, tidy package of moral anthropo-
Erdmann , S. . Louden entgegnet: „[A] comparative analysis of the different versions of the anthropology lectures falsifies Erdmann’s claim.“ (Louden , S. ) Vgl. insbes. Brandt ; Cohen ; Frierson ; Louden ; Louden ; Munzel , Sturm und Wood .
1. Moralische Anthropologie: Idee und Ausführung
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logy“¹⁵ findet sich nämlich erstens auch nirgendwo sonst in Kants Schriften. Dem Anspruch einer vollständigen moralischen Anthropologie wird Kant in der Ausführung der damit implizierten Aufgaben sicher nicht gerecht.¹⁶ Allerdings scheint zumindest der Anspruch einer wirklich abschließenden Darstellung aller Aspekte dessen, was bei Kant unter moralische Anthropologie fällt, verfehlt: Der Bereich menschlicher Praxis ist so vielgestaltig und veränderlich, dass sich die Frage nach Hilfsmitteln und Hindernissen auf immer wieder neue Weise stellt. Eine angemessene Bewältigung dieser Aufgabe schließt deshalb notwendig ein, mit Offenheit auf die Veränderungen menschlicher Praxisformen zu reagieren. Insofern gehört die Anthropologie nicht nur trotz, sondern auch wegen ihrer unabgeschlossenen Gestalt neben der Metaphysik der Sitten und den Vorlesungsmitschriften zu den wichtigsten verfügbaren Quellen zur moralischen Anthropologie. Dies gilt zweitens vor allem mit Blick auf diejenigen Phänomene, die Kant als Hindernisse betrachtet: Zu den größten Hindernissen für moralisches Handeln – nämlich Affekten und insbesondere Leidenschaften –, gibt die Anthropologie ausführlicher Auskunft als jede andere seiner Schriften. Drittens wird in der Anthropologie Kants Anliegen deutlich, Vernunft als im Wortsinne praktische „Kraft“¹⁷ zu etablieren. Kants „pragmatische“ Anthropologie ist keine rein theoretische Wissenschaft, sondern eine Gebrauchsdisziplin, die darauf ausgerichtet ist, unmittelbar praxisrelevantes Wissen zur Verfügung zu stellen. Sie soll dem Menschen nützlich sein – nicht nur, aber besonders mit Blick auf die Verwirklichung moralischer Pflichten und Zwecke. Tatsächlich ist Kants pragmatische Anthropologie auch dort, wo sie nicht im engeren Sinn moralische Anthropologie ist, moralisch relevant. Sie ist bewusst kein wertneutrales Unterfangen, sondern als Ganzes moralisch motiviert: „Die Anthropologie ist pragmatisch dienet aber zur Moralischen Kentniß des Menschen.“ (V-Anth/Mron 25:1211) Die umfassende Erforschung der menschlichen Natur und menschlicher Praktiken soll dazu dienen, „sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren“.¹⁸ Letztlich geht es darum, sich durch die Herausbildung eines moralischen Charakters und die Verbesserung der Welt „der Menschheit würdig zu machen“:
Louden , S. . Vgl. Becker , S. . Cassirer , S. . Vgl. dazu Louden: „Knowing ourselves and our world stands under the moral imperative of making ourselves and our world morally better. Ultimately, we seek anthropological knowledge in order to further the goal of moralization.“ (Louden , S. )
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Die Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist folgende. Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch ein thierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr thätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen. (Anth 7:324 f.)
Die praktische Orientierung der Anthropologie spiegelt sich im dynamischen Menschenbild wider, das Kant in der Vorrede entwirft: Er definiert den Menschen als Handelnden, der sich selbst Aufgabe ist und seinen Charakter selbst „schafft“ (Anth 7:321). Als gemeinsamer Bezugspunkt der folgenden Einzelbetrachtungen wird der Mensch „als mit Vernunft begabtes Erdwesen“ (Anth 7:119; vgl. MS 6:419 f.) in den Blick genommen, d. h. als zugleich vernünftiges und sinnlichempirisches Subjekt, das zu einer freien Gestaltung seiner Umwelt und einer freien Entwicklung seines Charakters fähig ist (Anth 7:322). Damit legt sich Kant auf eine einheitliche Perspektive fest, die die menschliche Fähigkeit zur freien und vernünftigen Selbstbestimmung und die empirischen Umstände, unter denen er diese zu verwirklichen hat, zusammenführt. Ich werde im Folgenden diejenigen Fragmente aus Kants Anthropologie zusammenstellen und durch Passagen aus anderen Schriften stützen, aus denen sich dieses dynamische Menschenbild Kants rekonstruieren lässt. Ihre entschieden praktische Orientierung trägt die Anthropologie bereits im Titel – es handelt sich um eine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Kant verwendet den Begriff des Pragmatischen in einer Vielzahl von Bedeutungen, die in der Kantforschung unterschiedlich erläutert werden.¹⁹ So bezeichnet Kant als „pragmatisch“: den geschickten Gebrauch anderer Menschen zu eigenen Absichten (Anth 7:322) bzw. „Weltklugheit“ (GMS 4:416 Anm., 4:417; Päd 9:486), prudentielle Rationalität im Hinblick auf das eigene Glück im Ganzen bzw. „Privatklugheit“ (GMS 4:416 Anm., 4:417), Nützlichkeit im Hinblick auf Erkenntnis des Menschen als Weltbürgers (Anth 7:120) und den Gegenbegriff zu scholastischer Wissensakkumulation (Anth 7:119; Log 9:23 f.). Als Leitbegriff der Anthropologie bezieht sich der Begriff des Pragmatischen jedoch auf die menschliche Praxis als Ganzes: Er steht allgemein für die „Fähigkeit des Menschen, sich selbst Zwecke zu setzen und in seiner Lebenswelt nach diesen zu handeln“.²⁰ Im Folgenden ver Vgl. z. B. Wood , S. – ; Frierson , S. – und Louden , S. – . Becker , S. ; vgl. Cohen – Cohen demonstriert den pragmatischen Gesamtanspruch der Anthropologie anhand einer Unterscheidung von pragmatischem Gegenstand, pragmatischer Methode und pragmatischer Zielsetzung (zu dieser Dreiteilung vgl. auch Sturm ,
1.1 Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht
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wende ich „pragmatisch“ (wenn nicht ausdrücklich anders angegeben) in dieser weiten Bedeutung. Auch der Begriff der Anthropologie kommt bei Kant in verschiedenen Bedeutungen vor: Er spricht von moralischer, praktischer und pragmatischer Anthropologie (GMS 4:388, MS 6:217; Anth 7:324) – in allen drei Fällen wird die Anthropologie als Gebrauchsdisziplin bestimmt. Moralische und praktische Anthropologie sind identisch und lassen sich als Teilbereich einer im umfassenden Sinn pragmatischen Anthropologie verstehen, die sich allgemein mit Anwendungsfragen beschäftigt. Manchmal verwendet Kant den Begriff der Anthropologie jedoch nicht im Sinne einer empirischen Gebrauchsdisziplin, sondern im Sinne eines vereinheitlichenden Bezugspunkts allen Philosophierens: Das Feld der Philosophie in sensu cosmopolitico läßt sich auf folgende Fragen zurückbringen: 1) Was kann ich wissen? Das zeigt die Metaphysik. 2) Was soll ich thun? Das zeigt die Moral. 3) Was darf ich hoffen? Das lehrt die Religion. 4) Was ist der Mensch? Das lehrt die Anthropologie. Man könnte alles Anthropologie nennen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letztere beziehen. (V-Met-L1/Pölitz PM:5 f.; vgl. Log 9:25)
In dieser fundamentalen Bedeutung – „[m]an könnte alles Anthropologie nennen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letztere beziehen“ – ist Anthropologie keine empirische Wissenschaft, sondern markiert den kritisch-reflexiven Bezugsrahmen aller Philosophie. Die drei Grundfragen der Philosophie sind insofern auf die Frage nach dem Menschen bezogen, als Kant sie als Fragen der kritischen Selbstverständigung bestimmt: Was darf ich wissen, tun und hoffen?
1.1 Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht In der Vorrede zur Anthropologie skizziert Kant seine praxisorientierte Auffassung der menschlichen Natur: Der Mensch selbst wird definiert als ein Handelnder. Es sind jedoch nicht einfach Handlungen, die den Menschen nach Kant auszeichnen, sondern Handlungen, durch die er sich selbst hervorbringt. Kants pragmatische Anthropologie setzt beim Selbstverständnis des Menschen als einem zugleich vernünftigen und sinnlich-empirischen Wesen an, das in der Lage ist, aktiv etwas aus sich zu machen. Sie beschreibt den Menschen als ein Wesen, das durch freie
Kapitel ). Damit betont sie wie ich die in mehreren Hinsichten praktische Ausrichtung der Kantischen Anthropologie.
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Handlungen an sich selbst arbeiten kann und soll (Anth 7:119) und mithin als ein Wesen, das sich selbst Aufgabe ist. Mit dieser dynamischen Konzeption der menschlichen Natur formuliert Kant die traditionelle Frage, was der Mensch ist, als Frage, was er macht ²¹ – und zwar primär aus sich selbst. Diese Bestimmung dient Kant als zentrales Mittel der Abgrenzung seiner pragmatischen Anthropologie von einer rein physiologischen Anthropologie, wie sie der Mediziner und Philosoph Ernst Platner betreibe. In der Vorrede zur Anthropologie markiert Kant diesen Unterschied besonders deutlich: Eine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll. (Anth 7:119)
Physiologische und pragmatische Anthropologie nehmen den Menschen demnach auf ganz unterschiedliche Weise in den Blick: Die physiologische Anthropologie betrachtet den Menschen als passives Produkt der Natur, d. h. als Wirkung naturgesetzlicher Prozesse. Sie untersucht, was die Natur aus dem Menschen macht und fragt etwa danach, auf welche empirischen Ursachen („Gehirnnerven“ und „Fasern“) das menschliche Erinnerungsvermögen zurückzuführen ist. Die pragmatische Anthropologie begreift den Menschen dagegen (auch) als aktives Produkt seiner selbst, als Ergebnis eines kontinuierlichen und selbstgesteuerten Prozesses freier Handlungen, mit denen er auf Gegebenes – die natürlichen, historischen und sozialen Umstände, seine körperliche Konstitution, seine unmittelbaren Bedürfnisse und Empfindungen – reagiert. Der Mensch ist demnach nicht, was er von Natur aus ist, sondern was „er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“ Was bedeutet es nun, dass der Mensch ein Handelnder ist, der etwas aus sich machen kann und soll? Die Frage muss auf mehreren Ebenen beantwortet werden: Mit Blick auf das Verhältnis von empirischen Anlagen und ihrem selbstbestimmten Gebrauch, mit Blick auf Kants Differenzierung zwischen Mensch und Tier mithilfe der Vernunft, und mit Blick auf die Unterscheidung von beliebigen und moralischen Zwecken. Kant unterscheidet zunächst drei praktische „Anlagen“, die er unter allen Lebewesen nur dem Menschen zuspricht: Eine technische Anlage, die ihn befähigt, Dinge zu seinen Absichten zu gebrauchen, sie zu verändern oder herzustellen (Anth 7:322 f.); eine im engeren Sinn pragmatische Anlage, die ihn befähigt, andere
Ausführlich dazu: Cohen .
1.1 Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht
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Menschen zu seinen Absichten zu gebrauchen – diese Anlage ist für Kant bemerkenswerterweise zugleich Voraussetzung „der Civilisirung durch Cultur, vornehmlich der Umgangseigenschaften“ (Anth 7:323)²² – und eine moralische Anlage, die ihn befähigt, nach moralischen Prinzipien bzw. „nach dem Freiheitsprincip unter Gesetzen gegen sich und andere zu handeln“ (Anth 7:322, 324). Unter Anlagen versteht Kant charakteristische Merkmale, die ein Lebewesen aufweisen muss, um zu einer bestimmten Gattung zu gehören (RGV 6:28). Das eigentlich Charakteristische für den Menschen ist jedoch offenbar nicht, dass er diese Anlagen einfach hat, sondern dass er sie für seine Zwecke nutzt und sich dabei auf technischer, pragmatischer und moralischer Ebene selbst entwirft. Wie bereits Aristoteles bestimmt Kant den Menschen zunächst in Abgrenzung zum Tier bzw. zu anderen Tieren. Während sich der Mensch für Aristoteles jedoch vor allem durch seine Erkenntnis- und Sprachfähigkeit von allen anderen Lebewesen unterscheidet, zeichnet sich der Mensch für Kant durch die Arbeit an sich selbst aus. Kant bezeichnet den Menschen als ein „vernunftfähiges Tier“, das sich von allen anderen Tieren dadurch unterscheidet, dass es in der Lage ist, „sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfectioniren“, um sich auf diese Weise selbst zu einem „vernünftigen Tier“ zu machen (Anth 7:321).²³ Diese dynamische Bestimmung lässt sich sowohl auf das einzelne Individuum als auch die Menschheit als ganze beziehen; ich werde mich im Folgenden auf die indi-
Die pragmatische Anlage ist vornehmlich eine Anlage zu psychologischen, rhetorischen und sozialen Fähigkeiten, etwa die Fähigkeit, die Absichten anderer richtig einschätzen und gegebenenfalls auch beeinflussen zu können (Anth :; vgl. Päd :). Kants Perfektionismus – „mache dich vollkommener, als die bloße Natur dich schuf“ (MS :) – mag aus heutiger Perspektive ein gewisses Unbehagen auslösen. Ideen der Selbstoptimierung dominieren heute nahezu alle Lebensbereiche, bis ins Private hinein. Selbstoptimierung wird dabei zumeist als möglichst effiziente Selbstverwaltung gedacht – nicht nur Vokabeln wie Karrieremanagement und Projektmanagement, sondern auch Gesundheitsmanagement, Familienmanagement, Stressmanagement und sogar paradox anmutende Wortschöpfungen wie Freizeitmanagement und Entspannungsmanagement sind längst selbstverständlich geworden. Sie zieren die Titel zahlreicher Ratgeber, deren Erfolg Indiz dafür ist, dass sich der Imperativ „Werde besser!“ flächendeckend durchgesetzt hat (vgl. zu diesem Thema Maasen ). Um tatsächlichen, vermeintlichen oder auch nur möglichen Anforderungen, Wünschen und Ambitionen gerecht zu werden, bemühen wir uns darum, ein möglichst flexibles und belastbares Selbst auszubilden. Dabei ist oft unklar, ob die Rationalisierung der Lebensführung dazu dient, private Freiräume zu schaffen oder aber umgekehrt die privaten Freiräume der Rehabilitierung physischer und psychischer „Ressourcen“ dienen. Kant aber geht es gerade nicht um Selbstoptimierung in diesem Sinn: Sein Begriff moralischer Vervollkommnung hat nichts mit effizienter Selbstverwaltung zu tun. Es geht ihm im Gegenteil darum, einer Fremdbestimmung durch äußere und innere Zwänge entgegenzuwirken. Ziel ist, unsere Fähigkeit zu einer selbstbestimmten, vernünftigen Lebensführung zu entwickeln und zu schützen.
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1. Moralische Anthropologie: Idee und Ausführung
viduelle Ebene konzentrieren. Der Mensch ist demnach das einzige Tier, das frei ist, sich eigene Zwecke zu setzen und nach ihnen zu handeln (KU 5:370). Er bringt sich im Handeln selbst hervor: Es bleibt uns also, um dem Menschen im System der lebenden Natur seine Classe anzuweisen und so ihn zu charakterisiren, nichts übrig als: daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfectioniren; wodurch er als mit Vernunftfähigkeit begabtes Thier (animal rationabile) aus sich selbst ein vernünftiges Thier (animal rationale) machen kann; (Anth 7:321)²⁴
Die Fähigkeit des Menschen, sich Zwecke zu setzen, betrifft also nicht nur die aktive Veränderung seiner Umwelt, sondern auch und vor allem sein Verhältnis zu sich selbst:²⁵ Was den Menschen auszeichnet, so lautet Kants geradezu protoexistentialistische Formulierung, ist, dass er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft.²⁶ Kants Auffassung von Charakterbildung umfasst ein komplexes Zusammenspiel von „Denkungsart“ und „Sinnesart“, das im achten und neunten Kapitel ausführlich Thema sein wird; bis dahin genügt es, von einem alltagssprachlichen Vorverständnis auszugehen. Hier ist zunächst wichtig, genauer auf die Zwecke einzugehen, die Kant mit dem Gedanken der Charakterbildung verknüpft. Die Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen, darf nämlich nicht beliebig ausgeübt werden, sondern untersteht den Einschränkungen und Forderungen der praktischen Vernunft. Grundsätzlich unterscheidet Kant zwei Arten von Zwecken; einerseits beliebige Zwecke, die moralisch erlaubt oder verboten sein können und andererseits moralische Zwecke, die obligatorisch sind. Unter einem Zweck ist hier zunächst das Ziel oder die Absicht eines Subjekts zu verstehen, bestimmte Zustände oder Ereignisse herbeizuführen: ein Buch schreiben, eine hervorragende Tänzerin werden, sich um seine Gesundheit kümmern, zum Glück anderer
Kants Begriff des „vernünftigen Tiers“ ist hier weiter gefasst als in der Metaphysik der Sitten (MS : f., ). Dort unterscheidet Kant zwischen „Vernunftwesen“ (mit moralischen Zwecken) auf noumenaler und „vernünftigem Tier“ (mit beliebigen Zwecken) auf phänomenaler Ebene. In der Anthropologie dagegen schließt die Aufgabe, sich zu einem „vernünftigen Tier“ zu machen, auch die Selbstvervollkommnung im moralischen Sinn ein; dies geht aus den folgenden Ausführungen zur technischen, pragmatischen und moralischen Anlage deutlich hervor (Anth : – ).Vgl. dazu Brandt: „Die hier getroffene Unterscheidung zwischen einem mit Vernunft begabten Tier und einem vernünftigen Tier ist nicht identisch mit der Vernunftdifferenz in der Religionsschrift und der „Tugendlehre“.“ (Brandt , S. ) Vgl. Becker , S. . Zum „Paradox“ der Selbstkonstitution – muss der Mensch nicht bereits einen Charakter haben, um sich einen schaffen zu können? – und seiner Auflösung vgl. Korsgaard ; bes. Abschnitt ..
1.1 Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht
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Menschen beitragen (vgl. MS 6:381, 384).²⁷ Als beliebige Zwecke bezeichnet Kant Ziele, die empirisch bedingt sind, also solche, die physische, psychische oder soziale Bedürfnisse reflektieren. Beliebig sind mithin alle Zwecke, die empirische Ursachen haben, nicht nur solche, die im engeren Sinne beliebig sind, weil manche Menschen sie haben, andere aber nicht.Vielmehr schließen beliebige Zwecke auch Bedürfnisse ein, die uns aufgrund unserer empirischen Konstitution unvermeidlich sind, wie etwa das Bedürfnis nach Nahrung oder Schutz vor Kälte. Aber auch Bedürfnisse, die erst unter bestimmten sozialen Bedingungen entstehen, wie das Bedürfnis nach Wohlstand oder Macht, zählen zu den beliebigen Zwecken. Instrumentell vernünftige Überlegung kommt ins Spiel,wenn wir darüber nachdenken, durch welche Mittel und Maßnahmen wir unsere beliebigen Zwecke am besten erreichen können. Oft müssen wir dabei zwischen konkurrierenden Zwecken abwägen und längerfristig planen. So kann es aus prudentiellen Gründen sinnvoll sein, kleinere momentane Bedürfnisse (allen Proviant sofort aufzuessen) zurückzustellen, um größere spätere Bedürfnisse (wenn der Hunger wirklich kommt) noch erfüllen zu können. Was ihre moralische Bewertung angeht, können beliebige Zwecke entweder moralisch erlaubt oder unmoralisch sein: So kann jemand seine technischen Fähigkeiten dazu nutzen, einen Brunnen zu bauen oder aber dazu, ihn zu vergiften. Praktische Gründe, die gebieten, bestimmte Mittel zu ergreifen, wenn oder weil man einen bestimmten empirischen Zweck erreichen will, nennt Kant „hypothetische Imperative“ (GMS 4:414).²⁸ Ihnen übergeordnet ist ein oberster Zweck, den er als den empirischen Endzweck vernünftiger Wesen bezeichnet, nämlich den Zweck der
Zwecke im Sinne von Zielen lassen sich bei Kant weiter differenzieren – nach Thomas Pogge können sie eines oder mehrere der folgenden Merkmale aufweisen: „() graduated goals: whose attainment is a matter of degree (to become a top pianist), () open‐ended goals: whose attainment is capable of indefinite augmentation (to become strong, wealthy, happy, secure), () conservative goals: to extend into the future a state of affairs that already obtains (to keep my weight below lbs), and () holistic goals: to attain an overall pattern that includes elements of the past or present (that the Nazi crimes be punished). In all cases, an agent who sets herself a goal aims for some event or state of affairs of which she believes that it does not yet (fully) exist, that its coming to exist (fully) is not a matter of course, and that her efforts can contribute to its coming to exist (fully).“ (Pogge , S. ) Moralische Zwecke können Ziele sein (wird z. B. das Ziel, das Glück anderer zu fördern, aus moralischen Gründen verfolgt, dann handelt es sich um einen moralischen Zweck). Kant spricht jedoch noch in einer zweiten Bedeutung von moralischen Zwecken: Der „Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst“ (GMS : m.H.); hier geht es nicht darum, einen Zustand oder ein Ereignis herbeizuführen, sondern darum, dass wir uns selbst und andere als vernünftige Wesen betrachten, „which we are to respect by restraining our conduct and adjusting our goals in appropriate ways“ (Pogge , S. ); vgl. auch Wood , S. . Vgl. Klemme , S. .
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Glückseligkeit (KU 5:430). Unter Glückseligkeit wiederum versteht er maximales Wohlbefinden „in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande“, d. h. die größtmögliche Erfüllung empirischer Zwecke im Leben eines Menschen insgesamt (GMS 4:418, KrV A806/B834). Nach Glückseligkeit zu streben, bedeutet nicht, sukzessive Glücksmomente zu akkumulieren, sondern alle beliebigen Zwecke systematisch so zu ordnen, dass sie im Ganzen betrachtet größtmögliches Glück versprechen. Kant zufolge streben alle Menschen von Natur aus nach Glückseligkeit (RGV 6:386). Inhaltlich aber können die Glücksvorstellungen von Individuum zu Individuum stark divergieren (KpV 5:25). Einen Begriff von Glück, der substanziell bestimmt wäre, kann es nach Kant nicht geben. Doch gleich,was Glückseligkeit für den Einzelnen bedeuten mag, ist es aus prudentiellen Gründen ratsam, sich um eine systematische Ordnung seiner empirischen Zwecke bzw. „wahren Bedürfnisse“²⁹ (MS 6:393) zu bemühen. Da wir jedoch die Gesamtheit unserer empirischen Zwecke und ihrer Wechselwirkungen nicht überblicken, können wir den holistischen Anspruch, der dieser Idee von Glückseligkeit zugrunde liegt, niemals vollständig einlösen; zumal unser Glück von empirischen Erfüllungsbedingungen abhängig ist, die wir nur begrenzt beeinflussen können. Anders als beliebige Zwecke sind moralische Zwecke nach Kant nicht empirisch, sondern durch Vernunft bedingt. Es handelt sich um obligatorische Zwecke, die nicht auf einen hypothetischen, sondern auf einen kategorischen Imperativ verweisen: Wir sollen sie uns setzen und sollen deshalb auch die Mittel ergreifen, die zu ihrer Verwirklichung erforderlich sind (MS 6:385, 395).³⁰ Alle spezifischen moralischen Zwecke beruhen nach Kant auf einem höchsten moralischen Zweck, den er als vernünftigen Endzweck menschlichen Handelns bestimmt: Die Selbstzweckhaftigkeit der Person. Als vernünftiges Wesen ist der Mensch Zweck seiner selbst: Er hat „absoluten Werth“ (GMS 4:428) und erlegt allen Menschen, einschließlich der eigenen Person, bestimmte Verpflichtungen auf, die den Spielraum beliebiger Zwecksetzungen begrenzen:³¹ Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. (GMS 4:428; vgl. KU 5:448)
Diese Formulierung Kants wirft die interessante Frage auf, ob er nicht doch etwas Substanzielles zum Begriff des Glücks zu sagen hat – eine Antwort würde jedoch zu weit über das hier verhandelte Thema hinausführen. Zum Verhältnis von Zwecken und Maximen vgl. Abschnitt . „Leidenschaft und Unvernunft“. Vgl. Klemme , S. .
1.2 Mitspielen: Interaktive Methode
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In der Wendung „Zweck an sich selbst“ bezieht sich der Begriff des Zwecks nun nicht mehr auf ein Ereignis oder einen Zustand, das bzw. der erst noch herbeigeführt werden soll. Er bezieht sich vielmehr auf den unbedingten Wert – eben die Selbstzweckhaftigkeit – vernünftiger Wesen, die um ihrer selbst willen Achtung verdienen und deshalb niemals „bloß als Mittel“ behandelt werden dürfen.³² Um den Menschen als Zweck an sich selbst zu betrachten, ist es, wie Kant in der Metaphysik der Sitten betont, „nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere blos als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht“ (MS 6:395). Aus dieser doppelten Pflicht, sich den Menschen in seiner eigenen Person und der des anderen zum Zweck zu machen, leitet Kant zwei grundlegende obligatorische Zwecke ab, nämlich die eigene moralische Vervollkommnung und die Beförderung der Glückseligkeit anderer (MS 6:385– 388). In bestimmter Hinsicht sind beide Anliegen miteinander verbunden: Die moralisch motivierte Beförderung der Glückseligkeit anderer trägt insofern zur moralischen Vervollkommnung der eigenen Person bei, als man moralisch eine bessere Person wird, indem man seine moralischen Pflichten gegenüber anderen erfüllt. Beide Zwecke verpflichten zu einer Vielzahl von spezifischeren Zwecksetzungen, darunter Wohltätigkeit und Dankbarkeit, Selbsterkenntnis und die Entwicklung der eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Was dies konkret bedeutet, wird Thema der folgenden Kapitel sein. Die Tatsache, dass Kant von einer moralischen Verpflichtung zur Entwicklung körperlicher und geistiger Fähigkeiten ausgeht, also seiner technischen und (im engeren Sinn) pragmatischen Anlage, lässt deutlich werden, dass die Anthropologie selbst dort zum Projekt einer moralischen Anthropologie beiträgt, wo sie sich mit technischen und pragmatischen Fragen befasst: Auch körperliche und geistige Defizite können „Hindernisse“ einer moralischen Lebensführung sein, insofern sie der Verwirklichung moralischer Zwecke entgegenstehen (vgl. MS 6:444).
1.2 Mitspielen: Interaktive Methode Die Kantische Anthropologie begreift den Menschen also als freien Akteur, der sich, indem er sich Zwecke setzt und nach diesen handelt, selbst hervorbringt. Dieser dynamisch-praktischen Bestimmung der menschlichen Natur versucht Kant auch methodisch gerecht zu werden, indem er es zum Grundsatz anthropologischer Wis-
Vgl. Pogge , S. und S. , Fußnote der vorliegenden Untersuchung.
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1. Moralische Anthropologie: Idee und Ausführung
senschaft macht, Forscher, Lehrer und Schüler aktiv zu involvieren. Diese Einbeziehung nimmt einen überraschend spielerischen Charakter an. Anthropologisches Wissen ist für Kant kein Wissen, das sich aus einer unbeteiligten Beobachterperspektive gewinnen lässt, sondern Wissen, das nur erlangt werden kann, indem man „mitspielt“. Es gilt, die Welt zu „haben“ anstatt sie nur zu „kennen“, denn nur wer auch an jenen Praktiken teilnimmt, die er untersucht, kann sie angemessen und umfassend verstehen: Noch sind die Ausdrücke: die Welt kennen und Welt haben in ihrer Bedeutung ziemlich weit auseinander: indem der Eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der Andere aber mitgespielt hat. (Anth 7:120; vgl. Refl 15:518)
Um erfolgreich anthropologisch zu forschen, ist also für Kant Beobachtung und Interaktion erforderlich – er empfiehlt den Umgang mit Nachbarn und Mitbürgern sowie das Reisen. Auf diesem Gebiet sieht Kant, der bekanntlich selbst kein großer Reisender war, seine eigene Autorität offenbar nicht uneingeschränkt gewährleistet, und er ergänzt nicht ohne Selbstironie, dass „eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs […] wie etwa Königsberg am Pregelflusse“ das Reisen durchaus ersetzen könne – zumal auch Reisebeschreibungen, Weltgeschichte, Biographien, Schauspiele und Romane als Hilfsmittel dienen könnten, um die menschliche Natur zu ergründen (Anth 7:120 f., 7:120 Anm).Tatsächlich beschäftigt sich Kant zeitlebens intensiv mit Reiseberichten. Er sammelt Informationen über die verschiedensten Regionen der Welt und ihre Bewohner und bindet diese in seine Vorlesungen über Anthropologie und physische Geographie ein. Selbst die Darstellung seines Gedankengangs in der Kritik der reinen Vernunft scheint vom imaginären Reisen beeinflusst: Gemeinsam mit David Hume versteht er sich als „Geograph der menschlichen Vernunft“ (KrV A760/B788) und illustriert sein Projekt, der Vernunft ihre „Grenzen“ aufzuzeigen, mit zahlreichen ozeanographischen und kartographischen Metaphern sowie Reisebildern.³³ In manchen Passagen liest sich das Projekt der Grenzziehung selbst wie der Bericht einer Abenteuerreise, der durch Verwendung der ersten Person Plural auch seine Leser involviert. Sie werden angesprochen, als ob sie Mitreisende wären: Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit […], umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf
Vgl. Tarbet , S. .
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Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. (KrV A235 f./B294 f.)
Selbst im Kontext seiner theoretischen Philosophie tendiert Kant also zur (imaginären) Interaktion, die dem Bild des Forschungsreisenden nachempfunden ist. Mit der Forderung nach einer nicht nur beobachtenden, sondern involvierten Perspektive auf die menschliche Natur macht Kant das Selbstverständnis des Menschen als eines handelnden Subjekts zum Ansatzpunkt anthropologischer Forschung. Er lässt den Anthropologen bewusst aus einer teilnehmenden Perspektive nach dem Menschen fragen. In diesem Zusammenhang äußert er sich erneut kritisch über die physiologische Anthropologie: Als Forscher sei der physiologisch arbeitende Anthropologe „bloß Zuschauer“, der seine Gegenstände lediglich aus einer äußeren, theoretischen Perspektive in den Blick nehme und es versäume, seine Untersuchungen auf einen praktischen Nutzen hin auszurichten (Anth 7:119). Platner insbesondere habe eine „scholastische Anthropologie“ verfasst, die dem Menschen keinen Nutzen bringe und keine Aufklärung für das alltägliche Leben (V-Anth/Mensch 25:856). Am Selbstverständnis setzt auch die pragmatische Lehre an. Ihr Anspruch beruht auf dem Gedanken, dass der beste Weg, anthropologisches Wissen für konkrete Handlungskontexte brauchbar zu machen, darin besteht, es lebensnah zu vermitteln. Kant selbst hielt über zwanzig Jahre lang gut besuchte Vorlesungen über Anthropologie, in denen er versuchte, die Studenten durch anschaulichen und lebendigen Unterricht dazu anzuregen, die Inhalte der Vorlesung mit ihren eigenen Erfahrungen abzugleichen. Auf diese Weise sollten die Studenten stärker aktiv in den Unterricht einbezogen und zugleich befähigt werden, das Gelernte konkret in ihrem Leben umzusetzen. Bereits 1773 schreibt Kant Marcus Herz recht zufrieden über seine Lehrveranstaltungen: Ich lese in diesem Winter zum zweyten mal ein collegium privatum der Anthropologie welches ich ietzt zu einer ordentlichen academischen disciplin zu machen gedenke. […] Die Absicht die ich habe ist durch dieselbe die Qvellen aller Wissenschaften die der Sitten der Geschiklichkeit des Umganges der Methode Menschen zu bilden u. zu regiren mithin alles Praktischen zu eröfnen. […] Ich bin unabläßig so bey der Beobachtung selbst im gemeinen Leben daß meine Zuhörer vom ersten Anfange bis zu Ende niemals eine trokene sondern durch den Anlaß den sie haben unaufhörlich ihre gewöhnliche Erfahrung mit meinen Bemerkungen zu vergleichen iederzeit eine unterhaltende Beschäftigung habe. (Br 10:145 f)
Ausdrücklich betont Kant den umfassenden Anspruch seiner pragmatischen Anthropologie, den Studenten „alles Praktische“ zu eröffnen und sie auf allen Ebenen menschlicher Praxis zu bilden. Dabei gilt, dass jede Fähigkeit, die auf
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technischer oder pragmatischer Ebene erworben wird, auch zur Verwirklichung moralischer Zwecke eingesetzt werden kann.
1.3 Weltkenntnis als Orientierungswissen Kants pragmatische Anthropologie zielt auf „Weltkenntnis“ ab; darauf, alle Kenntnisse über die Welt auf den Menschen als sich selbst schaffenden Akteur zu beziehen, um auf diese Weise „allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden“ (VvRM 2:443 Anm., m.H.). Weltkenntnis schließt innerhalb von Kants Modell des Menschen als Zweck seiner selbst neben anthropologischem Wissen durchaus auch Wissen über die nichtmenschliche Natur ein, „aber der wichtigste Gegenstand […], auf den er [der Mensch] jene verwenden kann, ist der Mensch: weil er sein eigener letzter Zweck ist“, dem alle anderen Zwecke untergeordnet sind (Anth 7:119). Anthropologisches Wissen ist also Wissen über den Menschen als ein Lebewesen, das über sein Handeln definiert ist und zugleich Wissen für den Menschen, das ihm im Hinblick auf sein Handeln nützlich sein soll. Zur Konturierung des Kantischen Projekts eignet sich als Kontrast auch hier eine physiologische Anthropologie, wie sie Platner betreibt: Im Prinzip könnte nach Kant auch letztere zu Weltkenntnis beitragen und dem Menschen nützliches Wissen an die Hand geben, etwa indem sie Untersuchungen darüber anstellte, welche physiologischen Wirkungszusammenhänge die menschliche Gedächtnisleistung stärken und welche sie vermindern (Anth 7:119). Kant wirft Platner jedoch vor, eine solche praktische Zielsetzung mit seiner physiologischen Anthropologie eben nicht zu verfolgen, sondern „auf ewig vergebliche Untersuchungen“ darüber anzustellen, welche Beziehung zwischen körperlichen Organen und Gedanken besteht (Br 10:145). Losgelöst von jeder Bezugnahme auf die praktische Bedeutung dieser Untersuchungen im Hinblick auf eine von uns zu gestaltende Lebenswelt sei dieses „theoretische Vernünfteln […] reiner Verlust“ (Anth 7:119). Bereits den Ansatz Platners hält Kant offenbar für grundlegend verfehlt. So besteht er in den Reflexionen zur Anthropologie darauf, dass wir nicht bei der Natur ansetzen dürfen, um den Menschen zu begreifen, sondern genau umgekehrt verfahren müssen: Erst wenn wir den Menschen kennen, können wir empirisches Wissen über die Natur erlangen, das unseren Zwecken dient (Refl 15:801). Empirisches Wissen kann dem Menschen nach Kant nur dann wirklich von Nutzen sein, wenn es teleologisch orientiertes Wissen ist: Man braucht einen Plan, wozu man empirische Kenntnisse sammelt, denn ohne „einen solchen Plan (der schon Menschenkenntniß voraussetzt) bleibt der Weltbürger in Ansehung seiner An-
1.3 Weltkenntnis als Orientierungswissen
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thropologie immer sehr eingeschränkt“. Umfassende Menschenkenntnis muss als „Generalkenntniß“ aller „Localkenntniß“ vorausgehen, „wenn jene durch Philosophie geordnet und geleitet werden soll“. Fehlt diese als orientierender Bezugspunkt, so ist die „erworbene Erkenntniß nichts als fragmentarisches Herumtappen und keine Wissenschaft“ (Anth 7:120). Kants Anthropologie bleibt, wie bereits dargestellt, fragmentarisch. Idee und Ausführung stimmen nicht überein – liest man seine Schriften aber unter Maßgabe der Idee, finden sich zahlreiche Ansätze zur Ausführung einer pragmatischen wie einer im engeren Sinne moralischen Anthropologie. Eine dezidiert moralische Qualität hat das Kantische „Wozu?“ überall dort, wo sich Kant mit moralisch motivierten Fragen wie diesen befasst: Welche sozialen Praktiken unterstützen oder behindern Moralität? Welche Gefühle hemmen oder fördern sie? Welche Rolle spielt Erziehung für die moralische Charakterbildung? Welche psychischen Bedingungen beeinträchtigen die moralische Lebensführung?³⁴ Angeleitet durch solche Fragen hat die empirische Untersuchung der menschlichen Natur insofern eine moralische Ausrichtung, als sie die Aufmerksamkeit auf die moralische Relevanz empirischer Faktoren lenkt und auf die Frage, wie sie der Realisierung moralischer Zwecke dienen könnten. Es geht nicht um theoretisches Wissen über empirische Zusammenhänge. Vielmehr geht es um ihre praktische Deutung, also darum, empirische Zusammenhänge in ihrer moralischen Bedeutung zu erfassen bzw. darum, sie als moralisch relevant wahrzunehmen. Die Verwirklichung der moralischen „Gesetze a priori […erfordert] durch Erfahrung geschärfte Urtheilskraft […], um theils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, theils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen. (GMS 4:389).³⁵ Ohne eine solche Vermittlung zwischen moralischem Anspruch und empirischen Bedingungen seiner Verwirklichung ist, wie Kant betont, Moralphilosophie als „Wißenschaft der Regel, wie der Mensch sich verhalten soll“ letztlich unfruchtbar: Die Wißenschaft der Regel, wie der Mensch sich verhalten soll, ist die practische Philosophie, und die Wißenschaft der Regel des wirklichen Verhaltens ist die Anthropologie; diese beide Wißenschaften hangen sehr zusammen, und die Moral kann ohne die Anthropologie nicht bestehen, denn man muß das Subject erst kennen, ob es auch im Stande ist, das zu leisten, was man von ihm fordert, das es thun soll. […] Es wird immer geprediget was geschehen soll, […] Daher muß man den Menschen kennen, ob er auch das thun kann, was man von ihm
Auch Louden verdeutlicht die praktische Funktion der moralischen Anthropologie anhand eines Fragenkatalogs; vgl. Louden , S. . Besonders klar formuliert Barbara Herman diesen Gedanken: „Moral judgment must […] be responsive to detail of circumstances, institutions, character: how rational nature is expressed, where it is vulnerable, how it may be made effective.“ (Herman , S. )
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1. Moralische Anthropologie: Idee und Ausführung
fordert. Die Betrachtung der Regel ist unnütz, wenn man nicht die Menschen bereitwillig machen kann, solche Regeln zu befolgen, deswegen hangen diese 2 Wißenschaften sehr zusammen. (Moralphilosophie Collins 27:244; vgl. V-Anth/Collins 25:9)
1.4 Exkurs: Theoretische Voraussetzungen der moralischen Anthropologie Kants Projekt einer moralischen Anthropologie setzt voraus, dass der Mensch als „mit Vernunft begabtes Erdwesen“ (Anth 7:119) zu moralischer Charakterbildung fähig ist. Sein Ziel ist die Verwirklichung moralischer Zwecke und Pflichten und damit letztlich, so Barbara Herman, die Herstellung „empirischer Autonomie“. Wie empirische Autonomie möglich ist, lässt sich mit Kantischen Mitteln nicht ohne weiteres beschreiben. Wir können jedoch nur dann zu einer moralischen Verbesserung unserer selbst und der Welt um uns herum verpflichtet sein, wenn diese Möglichkeit besteht: How empirical autonomy is possibly consistent with the laws of nature is another matter, but that it is seems plainly to follow from the nature of the moral law and its commands.³⁶
Die Frage, ob Kant eine überzeugende oder auch nur konsistente Antwort darauf gibt, wie freiheitliche Selbstbestimmung und ein durchgängiger Naturdeterminismus vereinbart werden können, wird bis heute kontrovers diskutiert. Kants Versuch ihrer Vereinbarung ist komplex und läuft im Kern auf zwei Thesen hinaus: Erstens beansprucht er, zeigen zu können, dass logisch gar kein Widerspruch zwischen der Freiheit unseres Willens und einem durchgängigen Naturdeterminismus besteht, und dass sich Willensfreiheit in theoretischer Perspektive weder beweisen noch widerlegen lässt. Zweitens argumentiert er, dass uns unser moralisches Selbstverständnis in praktischer Perspektive darauf festlegt, uns als freie Subjekte zu begreifen – und es ist eben diese praktische Notwendigkeit, die den Versuch einer theoretischen Vereinbarung von Willensfreiheit und Naturdeterminismus überhaupt erst motiviert. Auf Basis dieser beiden Thesen (theoretische Unentscheidbarkeit und praktische Notwendigkeit) kommt Kant zu dem Schluss, dass wir berechtigt sind, uns in praktischer Perspektive als frei zu verstehen. Marcus Willaschek fasst diesen Gedanken prägnant zusammen: Da wir uns als moralische Subjekte notwendigerweise als frei betrachten müssen, so dürfen wir uns angesichts der prinzipiellen Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus auch als
Herman , S. .
1.4 Exkurs: Theoretische Voraussetzungen der moralischen Anthropologie
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frei betrachten. Freiheit, so Kant, ist ein notwendiges Postulat der reinen praktischen Vernunft.³⁷
Wie die Details dieser Argumentation – insbesondere Kants Unterscheidung von „Erscheinungen“ und „Dingen an sich“ und sein Konzept „transzendentaler Freiheit“ – zu verstehen und zu beurteilen sind, ist umstritten und für meine Zwecke nicht relevant. Manche Interpreten vertreten die Auffassung, dass Kants Ausgleich zwischen Natur und Freiheit überzeugend ist³⁸, andere argumentieren, dass dieser Ausgleich zumindest in sich konsistent ist³⁹, und wieder andere sind der Ansicht, dass er letztlich nicht gelingt⁴⁰. Weitgehend einig ist man sich jedoch darin, dass die Rezeption der Kantischen Ethik zu Unrecht von seiner metaphysischen Freiheitstheorie dominiert wird, und ihre genuin praktischen Anteile, insbesondere seine anthropologischen, moralpsychologischen und pädagogischen Überlegungen, zu wenig Beachtung finden.⁴¹ Wie auch immer man Kants Ausgleich von Natur und Freiheit beurteilt, sollte man nicht vergessen, dass hier kein Kant-spezifisches Problem vorliegt: Die Frage, wie wir uns in einer naturgesetzlich determinierten Welt als frei begreifen können, ist bis heute Gegenstand kontroverser philosophischer Debatten. Die Tatsache, dass eine abschließende Lösung aussteht (und vielleicht strukturell unmöglich ist), ändert jedoch nichts daran, dass wir an unserem moralisch-praktischen Selbstverständnis festhalten: Wir verstehen uns als Urheber unserer Handlungsentscheidungen und betrachten uns wechselseitig als moralisch verantwortliche Subjekte. Zwar erleben wir uns in manchen Handlungsentscheidungen als fremdbestimmt, gerade unser Unbehagen darüber zeigt jedoch, dass wir die Möglichkeit zur Selbstbestimmung voraussetzen. Für Kant ist dieses moralischpraktische Selbstverständnis alternativlos, und die Frage, ob unsere vermeintlich freien Handlungsentscheidungen letztlich doch naturgesetzlich determiniert sind, geht uns seiner Auffassung nach „im Praktischen […] nichts an, sondern ist eine
Willaschek , S. ; vgl. auch Willaschek , Kapitel . Schopenhauer etwa sieht darin bei aller Kritik, die er an Kants Moralphilosophie übt, sein „größtes und glänzendes Verdienst um die Ethik“ (Schopenhauer , S. ). Vgl. z. B. Wood . Vgl. z. B. Timmermann , S. . Viele Interpreten drücken ihre Kritik bildhaft aus: Paul Guyer erwägt (vorsichtig), Kants Theorie transzendentaler Freiheit in den „dustbin of history“ zu werfen (Guyer , S. ), Robert B. Louden schreibt, dass selbst wohlwollende Leser oft nur noch „tired jokes“ für sie übrig hätten (Louden , S. ), Alix Cohen zufolge können die „thorny issues“, die das Verhältnis dieser Theorie zur pragmatischen Anthropologie aufwirft, unsere Freiheitserfahrung nicht in Zweifel ziehen (Cohen , S. ) und Allen W.Wood bezeichnet sie als „one of the most unstable areas in his philosophy“ and „the chief stumbling block to the acceptance of his theory“ (Wood , S. ).
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1. Moralische Anthropologie: Idee und Ausführung
bloß spekulative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, bei Seite setzen können“: Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an, sondern ist eine bloß spekulative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, bei Seite setzen können. Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transzendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen,) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fodert, und so fern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider zu sein scheint, und also ein Problem bleibt. (KrV A803/B831)⁴²
Die moralische Anthropologie setzt die Möglichkeit dieses moralisch-praktischen Selbstverständnisses voraus und verleiht ihm, indem sie die empirischen Voraussetzungen einer moralischen Lebensführung und Charakterbildung untersucht, substanziellen Gehalt. In diesem Sinne sind in Kants moralischer Anthropologie, wie Foucault formuliert, vernünftige Freiheit und Natur in „den Gebrauch eingepasst“.⁴³ Es ist mithin nicht nur möglich, Kants moralische Anthropologie unter Verzicht auf seine komplexe Diskussion von Freiheit und Naturdeterminismus zu rekonstruieren, sondern von Kant selbst gefordert: Sie geht uns „im Praktischen“ zunächst nichts an.
Für eine ausführliche Diskussion dieser Passage vgl. Timmermann , S. – . Foucault , S. . Foucaults Beurteilung der Beziehung zwischen kritischem Denken und anthropologischer Reflexion bei Kant weicht jedoch weit von meiner ab.
Teil I Hindernisse. Affekte und Leidenschaften
2. Vernünftiger Optimismus und empirisch fundierter Pessimismus Kants Diskussion von Affekten und Leidenschaften lässt sich situieren in einem Spannungsverhältnis, das ich in der Einleitung als Grundhaltung der moralischen Anthropologie bezeichnet habe: Seine Analyse ist getragen von einer bemerkenswerten Gleichzeitigkeit von vernunftbegründetem Optimismus und empirisch fundiertem Pessimismus. Sie zeugt einerseits von einem ausgeprägten Misstrauen, das nicht der menschlichen Natur als solcher gilt, wie Kant sie in natürlichen Bedürfnissen und Veranlagungen sieht, sondern dem, was Menschen unter den Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens selbst daraus machen. Dieses Misstrauen beruht auf einer empirisch gestützten Diagnose, die deutlich an Rousseau erinnert. Wie Rousseau geht auch Kant davon aus, dass die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen miteinander leben, unmoralisches Verhalten forcieren.⁴⁴ Das Leben in Gemeinschaft ist für Kant unweigerlich von Konkurrenz geprägt: Unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit, beständigen Wettbewerbs um Anerkennung und allgemeinen Strebens nach Macht werden auf unsere natürlichen Bedürfnisse und Anlagen „die größten Laster geheimer und offenbarer Feindseligkeiten […] gepfropft“. Kant unterscheidet kleinere und größere Laster, von denen die größten „Laster der Cultur“ sind, die „nicht aus der Natur als ihrer Wurzel von selbst entsprießen“, sondern dem Versuch geschuldet sind, der „verhaßten Überlegenheit“ anderer vorzubeugen, indem man sich selbst in eine überlegene Position bringt (RGV 6:27; vgl. Anth 7:267 f.). Im Spiegel der anderen wird die Genügsamkeit der menschlichen Natur von leidenschaftlicher Feindseligkeit abgelöst: Nicht durch die Anreize […der menschlichen Natur] werden die eigentlich so zu benennende Leidenschaften […im Menschen] rege, welche so große Verheerungen in seiner ursprünglich guten Anlage anrichten. Seine Bedürfnisse sind nur klein und sein Gemüthszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig. Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen. (RGV 6:93 f.)
Vgl. Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleicheit unter den Menschen, Rousseau ; vgl. auch Wood , S. f.
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2. Vernünftiger Optimismus und empirisch fundierter Pessimismus
Die Annahme, dass affektbedingte „Untugend“ und leidenschaftsbedingte „Laster“ allgegenwärtig sind, ist ein wiederkehrendes Motiv in Kants Schriften (vgl. z. B. MS 6:447, 461; IaG 8:17, 18, 26, 27). Einen allgemeinmenschlichen „Hang zum Bösen“⁴⁵ sieht er „durch schreiende Beispiele“ belegt, die er in zwei Gruppen unterteilt: Die eine Gruppe bilden „Laster der Rohigkeit“ wie „die Auftritte von ungereizter Grausamkeit in den Mordscenen auf Tofoa, Neuseeland, den Navigatorsinseln und die nie aufhörende in den weiten Wüsten des nordwestlichen Amerika“. Rousseaus berühmte Vorstellung vom „edlen Wilden“ teilt Kant also offenbar nicht. Er teilt aber offenbar seine Annahme, der „Wilde“ sei kulturlos und unzivilisiert: Die „Laster der Rohigkeit“ sind eindeutig animalisch besetzt. Noch problematischer sind für Kant aber die Laster der zweiten Gruppe: „Laster der Cultur und Civilisierung“ wie die „geheime Falschheit selbst bei der innigsten Freundschaft“ oder der „Hang, denjenigen zu hassen, dem man verbindlich ist“ – sie sind die „kränkendsten unter allen“ (RGV 6:32 f.). Kant warnt davor, bei der Beobachtung dieser „unter dem Tugendscheine“ verborgenen oder offen praktizierten Laster dem Menschenhass anheimzufallen. Wer allerdings immer noch Zweifel habe am unmoralischen Charakter des Menschen, solle sich vor Augen führen, wie in kriegerischen Auseinandersetzungen beide Laster zusammenkommen und die Menschheit „absichtlich an ihrer eigenen Zerstörung“ arbeitet (Anth 7:277, RGV 6:33 f.). Im Vergleich zu den Beispielen menschlicher Grausamkeit und sozial forcierter Macht- und Geltungsbestrebungen sieht Kant die empirischen Anzeichen moralischen Fortschritts nur schwach ausgeprägt (IaG 8:27). Diesen Umstand kommentiert er mit einigem zeitlichen Abstand in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht und der Religionsschrift mit einem geradezu zynischen Bild: [A]us so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. (IaG 8:23) Wie kann man aber erwarten, daß aus so krummem Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde? (RGV 6:100)
Unter dem „Hang zum Bösen“ versteht Kant eine allgemeinmenschliche Tendenz zur „Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür“ (RGV :). In der Religionsschrift vertritt Kant die paradox anmutende These, dass allen Menschen ein „natürlicher Hang zum Bösen“ eigne, der zugleich „angeboren“ und „doch immer selbstverschuldet sein muss“. Dass der Mensch „von Natur böse“ sei, heißt nach Kant jedoch nur, dass er (als Gattung betrachtet) „nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurtheilt werden [kann]“ (RGV :) – es bedeutet nicht, dass der Hang im biologischen Sinn „angeboren“ bzw. „natürlich“ ist, denn „böse“ kann der Mensch nach Kant nur sein, wenn ihm die „Verkehrung der Triebfedern“ als freier Akt zugerechnet werden kann; ausführlich dazu: Bojanowski , S. – . Vgl. auch Abschnitt . „Verschiedene Charakterbegriffe“.
2. Vernünftiger Optimismus und empirisch fundierter Pessimismus
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Der Versuch, das „krumme Holz“ der menschlichen Natur so zu bearbeiten und „zurechtzuzimmern“, dass etwas Gerades dabei herauskommt, ist zum Scheitern verurteilt. In diesem Bild bringt Kant seine pessimistische Einschätzung individuellen und gemeinschaftlichen Fortschritts deutlich zum Ausdruck. Beide Passagen beziehen sich auf den Fortschritt der Menschheit als ganzer. Sie sind aber umstandslos auf die individuelle Charakterentwicklung übertragbar: Es sind dieselben anthropologischen und sozialen Bedingungen, die beide behindern. Ebenso wie ein ethisches Gemeinwesen begreift Kant auch individuelle moralische Vollkommenheit als ein Ideal, das wir als endliche und bedürftige Wesen niemals ganz erreichen können (MS 6:446, RGV 6:100). Wichtig ist jedoch Kants Einschränkung, aus Mensch und Menschheit könne „nichts ganz bzw. völlig Gerades“ werden. Obwohl er der „alten Klage“, dass sich die Welt in einem skandalösen Zustand befindet, als empirischem Befund zustimmt – er sieht sie durch die „Geschichte aller Zeiten“ bestätigt (RGV 6:19, 20) –, ist es für Kant ein Gebot der praktischen Vernunft, an die Möglichkeit individuellen und gemeinschaftlichen moralischen Fortschritts zu glauben. Die geschichtsphilosophische Perspektive klammere ich im Folgenden aus und konzentriere mich auf das Thema der individuellen Charakterbildung.⁴⁶ Moralische Pflichten – so Kants Formulierung des Grundsatzes, dass Sollen Können impliziert – kann es nur geben, wenn es uns möglich ist, sie zu erfüllen. Die Pflicht nämlich „gebietet uns […] nichts, als was uns thunlich ist“ (RGV 6:47; vgl. KpV 5:143). Das Bestehen moralischer Pflichten setzt die empirische Möglichkeit ihrer Befolgung voraus, da es „widrigenfalls […] praktisch unmöglich wäre, dem Objecte eines Begriffes nachzustreben, welcher im Grunde leer und ohne Object wäre“ (KpV 5:143). Die Geltung moralischer Pflichten begründet Kant aus dem praktischen Selbstverständnis moralfähiger Subjekte. Der Gedanke, auf dem diese Begründung beruht, kann hier nur skizziert werden: Sich selbst als moralfähiges Subjekt aufzufassen, bedeutet für Kant, sich als jemanden zu verstehen, der „etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll“ (KpV 5:30). Es bedeutet, sich selbst In historischer Perspektive scheint Kants vernunftbasierter Optimismus seinen Versuch zu motivieren, die empirischen Missstände im Rahmen einer dialektisch strukturierten, teleologischen Fortschrittsgeschichte so umzudeuten, dass sie dem Fortschritt letztlich dienen: In der Idee zu einer Geschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht deutet Kant die Missstände nicht als Gegensatz, sondern als integralen Bestandteil einer sukzessiven Kultivierung, Zivilisierung und schließlich Moralisierung der Menschheit und führt sie auf eine antagonistische Veranlagung des Menschen zurück, die er in Anlehnung an Montaigne als „ungesellige Geselligkeit“ bezeichnet. Diese antagonistische Veranlagung verrate insofern „die Anordnung eines weisen Schöpfers“, als sie die Menschheit mit mechanischen Mitteln zur zweckmäßigen Entwicklung ihrer natürlichen und moralischen Anlagen zwinge (IaG :, ). In späteren Schriften erweitert und modifiziert Kant seine teleologische Geschichtsdeutung; für eine umfassende Darstellung und Kritik vgl. Kleingeld .
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2. Vernünftiger Optimismus und empirisch fundierter Pessimismus
die Fähigkeit zuzuschreiben, nach solchen Gründen zu handeln, die sich nicht auf empirische Motive zurückführen lassen, sondern nur auf ein moralisches Motiv, nämlich das Bewusstsein der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes.⁴⁷ Dieses Bewusstsein ist, wie Kant präzisiert, nicht das Ergebnis einer theoretischen Erkenntnis, sondern ein praktisches Bewusstsein, das im Motiv moralischen Handelns zum Ausdruck kommt. In praktischer Perspektive dürfen und müssen wir davon ausgehen, dass es uns möglich ist, moralische Handlungsentscheidungen zu treffen. In extremen Situationen mag sich der Einzelne, so argumentiert Kant am Beispiel einer Frage von Leben und Tod, zwar „vielleicht […] nicht getrauen zu versichern“, dass er das moralisch Gebotene auch wirklich tut, „daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen“ (KpV 5:30). Diese Möglichkeit – die Möglichkeit, sich auch unter widrigen Umständen für ein Handeln aus moralischen Gründen zu entscheiden – wird weder durch starke empirische Widerstände noch durch zahlreiche Beispiele menschlicher Grausamkeit widerlegt. Sie macht den Kern von Kants vernunftbegründetem Optimismus aus. Kritiker werfen Kant bis heute vor, unrealistische und geradezu übermenschliche moralische Forderungen zu stellen. Sie werfen ihm vor, er nehme nicht hinreichend Rücksicht auf die Vorgaben, Einschränkungen und Zwänge, denen wir als Menschen unterworfen sind, und ignoriere die Tatsache, dass unsere Handlungsentscheidungen von sozialen und natürlichen Gegebenheiten abhängen, die wir nur begrenzt beeinflussen können. Besonders deutlich formuliert Iris Murdoch diese Kritik. Nach ihrer Auffassung stellt sich Kant den Menschen allzu unabhängig, stark, rational und verantwortlich vor – geradezu als einen „Gott-Menschen“: We are still living in the age of Kantian man, or Kantian man-god. […] How recognizable, how familiar to us, is the man so beautifully portrayed in the Grundlegung, who confronted even with Christ turns away to consider the judgment of his own conscience and to hear the voice of his own reason. Stripped of the exiguous metaphysical background which Kant was prepared to allow him, this man is with us still, free, independent, lonely, powerful, rational, responsible, brave, the hero of so many novels and books about moral philosophy.⁴⁸
Kants Konzeption moralfähiger Subjekte ist tatsächlich anspruchsvoll. Murdochs Kritik übersieht jedoch, dass Kants vernunftbegründeter Optimismus eine Kehrseite hat, die seine Auffassung konkreter moralfähiger Subjekte ebenso prägt. Diese Kehrseite lässt sich doppelt bestimmen: Erstens über die grundlegende Abhängigkeit und Begrenztheit des Menschen, die Kant ausdrücklich anerkennt. Jede moralische Vgl. zu diesem Thema Willaschek , S. – . Murdoch , S. . Zur Verteidigung Kants gegen diese Kritik vgl. Louden , S. und O’Neill , S. . Für eine neuere, radikalere und desto unangemessenere Kritik vgl. Blackburn .
2. Vernünftiger Optimismus und empirisch fundierter Pessimismus
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Entscheidung – gleich, ob es sich dabei um Entscheidungen in einzelnen Handlungssituationen oder grundlegende Entscheidungen der Lebensführung handelt – muss unter empirischen Bedingungen getroffen und realisiert werden, die wir nur begrenzt beeinflussen können. Dazu gehören einerseits Bedingungen unserer biologischen Natur – unser Schlaf- und Nahrungsbedürfnis, unsere Sterblichkeit, die Bedingungen unserer körperlichen und geistigen Fähigkeiten – und andererseits soziale Bedingungen, die sich aus den sozialen Strukturen und Praktiken unseres Umfelds ergeben. Die Unterscheidung dieser Bedingungen ist graduell zu verstehen: Wir entwickeln soziale Praktiken des Umgangs mit unseren biologischen Grenzen (u. a. Kaffeetrinken, Askese, lebensverlängernde Maßnahmen, Erziehung) und umgekehrt entstehen unsere sozialen Praktiken unter biologischen Vorgaben und unsere Kulturtechniken setzen an natürlichen Gegebenheiten an. Da laut Kant nur Pflicht sein kann, „was uns thunlich ist“ (RGV 6:47), beeinflussen diese Bedingungen ihrerseits, wozu wir im konkreten Fall verpflichtet sind. Zu welchen Handlungen ein konkretes Subjekt verpflichtet ist, hängt von seinen individuellen Möglichkeiten ab. Worin diese Bedingungen im Einzelnen bestehen, und ob es sich dabei um echte Grenzen unserer Handlungsfreiheit handelt oder lediglich um Hindernisse, deren Überwindung schwierig, aber möglich ist, sind empirische Fragen. Für den zweiten, anwendungsorientierten Teil der Kantischen Ethik sind aber genau diese empirischen Fragen unmittelbar relevant; denn wie ich im vorangegangenen Kapitel erläutert habe, kommt es hier darauf an, diejenigen Bedingungen zu identifizieren, die eine moralische Lebensführung behindern oder fördern, um dann in einem zweiten Schritt geeignete Strategien des Umgangs mit diesen Bedingungen zu entwickeln. Angesichts echter Grenzen und nicht-trivialer Hindernisse sind konkrete Subjekte nach Kant also keineswegs so unabhängig und keineswegs so stark, wie Murdochs Kritik unterstellt. Die pessimistische Kehrseite von Kants vernunftbegründetem Optimismus ist zweitens bestimmbar über seine bereits skizzierte pessimistische Einschätzung der moralischen Entwicklung einzelner Menschen und der Menschheit insgesamt – demnach ist das „krumme Holz“ nicht einfach krumm gewachsen, sondern selbstverschuldet krumm. Anhand der Beispiele historischer und gegenwärtiger Missstände gelangt Kant zu der Feststellung, dass Menschen unter den Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu unmoralischen Verhaltensweisen tendieren, zu „Untugend“ und zu „Lastern“. Um moralisch qualifizierbare Missstände handelt es sich dabei nur, wenn wir diese Missstände selbst zu verantworten haben. Kants Pessimismus richtet sich nicht auf unüberwindbare Grenzen, die außerhalb unseres Verantwortungsbereichs liegen, sondern auf Hindernisse, die einer moralischen Lebensführung entgegenstehen und uns selbst zuzuschreiben sind. Denn obwohl natürliche Neigungen und Instinkte „Anreize zu […] Lastern“
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2. Vernünftiger Optimismus und empirisch fundierter Pessimismus
bieten können, werden daraus nur dann echte „Laster“, wenn wir sie in unsere Maxime aufnehmen.⁴⁹ Betrachtet man nur die biologische Natur des Menschen, so ist er „gar kein moralisches Wesen“ (Päd 9:492). Habsucht, Ehrsucht und Herrschsucht ergeben sich keineswegs notwendig aus unserer biologischen Natur; ebenso wenig wie kriegerische Auseinandersetzungen unvermeidliche Übel sind, sondern Ausdruck einer Selbstzerstörung der Menschheit, die diese selbst zu verantworten hat (Anth 7:276). Auch das widerspricht Murdochs Kritik: Kants konkrete Subjekte sind nicht nur unverschuldet weniger unabhängig und stark, als Murdoch behauptet, sondern auch selbstverschuldet weniger rational und verantwortlich, als sie sein könnten. In Verbindung mit dieser doppelt bestimmten Kehrseite führt Kants Optimismus zu einer deutlich realistischeren Auffassung konkreter Subjekte: Wir sind vernunftbegabt, aber sicher nicht immer vernünftig. Wir müssen berechtigte moralische Forderungen im Rahmen unserer Möglichkeiten erfüllen und echte von vermeintlichen Grenzen unterscheiden lernen. Moralische Charakterbildung spielt dabei insbesondere mit Blick auf die Überwindung innerer Widerstände eine unverzichtbare Rolle. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte ich nun auf meine Hypothese einer Gleichzeitigkeit von Optimismus und Pessimismus zurückkommen, die Kants Analyse von Affekten und Leidenschaften motiviert und ihre spezifische Ausrichtung bestimmt: Missstände, die wir selbst zu verantworten haben, sind vermeidbare Missstände – und je häufiger vermeidbare Missstände auftreten, desto dringlicher stellt sich die Forderung, sie zu bekämpfen. Die behauptete Allgegenwart unmoralischer Verhaltensweisen führt bei Kant deshalb nicht zu einer fatalistischen Ausprägung seines Pessimismus, sondern im Gegenteil zu einer Verstärkung der optimistischen Forderung, sie entschieden zu bekämpfen. Vor dem Hintergrund dieser Forderung entwickelt Kant keine umfassende Theorie der Affekte und Leidenschaften⁵⁰, sondern konzentriert sich auf die praktische Frage, in welcher Weise sich beide jeweils negativ auf eine vernünftige, selbstbestimmte Lebensführung auswirken, und was sich dagegen unternehmen lässt. Ihre Analyse ist von vornherein praktisch und auf Lösungen hin orientiert.
Zum Begriff der Maxime vgl. Abschnitt . „Verschiedene Charakterbegriffe“. So in Bezug auf Affekte auch Birgit Recki; vgl. Recki , S. f.
3. Begriffliche Voraussetzungen In Anbetracht von Kants komplexer begrifflicher Architektonik ist es für eine erste Orientierung sinnvoll, der detaillierten Auseinandersetzung mit Affekten und Leidenschaften einen groben Überblick über das begriffliche Umfeld voranzustellen, in das beide eingebettet sind. Dies wird es später erleichtern, genau zu verstehen, warum Kant zu einer unterschiedlichen moralischen Bewertung beider kommt: Affekte sind für ihn nur Ausdruck einer momentanen „Untugend“, die „mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann“ (MS 6:408). Leidenschaften bezeichnet er dagegen als gewohnheitsmäßige „Laster“, die auf beständigen Maximen beruhen und ohne Ausnahme „böse“ sind. Leidenschaften werden von Kant als unkontrollierte Neigungen eingeführt, die er dem Begehrungsvermögen zuordnet. Da er Neigungen als „habituelle sinnliche Begierde[n]“ definiert, sind Leidenschaften also Begierden, die wie Neigungen (und im Unterschied zu anderen Begierden) gewohnheitsmäßig auftreten und nicht durch Vernunft, sondern sinnlich bedingt sind (Anth 7:251, 265).⁵¹ Von anderen Neigungen unterscheiden sich Leidenschaften durch ihr unkontrolliertes Moment. Leidenschaften sind also spezielle Neigungen und Neigungen spezielle Begierden. Affekte dagegen beschreibt Kant als unkontrollierte Gefühle von nur kurzer Dauer, die er zum Vermögen der Lust und Unlust rechnet. Ich werde an späterer Stelle ausführlich erläutern, was Kontrolle und Kontrollverlust in Bezug auf Affekte und Leidenschaften jeweils bedeuten – dabei wird sich zeigen, dass die Definition des Affekts als unkontrolliertes Gefühl weiter differenziert werden muss. Hier lässt sich jedoch bereits festhalten: Im Rahmen von Kants dreigliedriger Einteilung der Seele in Erkennen (Erkenntnisvermögen), Fühlen (Gefühl der Lust und Unlust) und Wollen (Begehrungsvermögen) beziehen sich Leidenschaften auf das Wollen (bzw. die Wahl von Handlungsmaximen durch die Willkür), Affekte dagegen auf das Fühlen. Das aber bedeutet nicht, dass nicht oft zusammenhinge, was wir fühlen und wollen. Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Vermögen sind durchaus möglich.⁵² Gefühle der Lust oder Unlust können sinnlich (durch die Sinne oder durch die „Einbildungskraft“) oder intellektuell (durch darstellbare Begriffe oder durch Ideen⁵³) ausgelöst werden (Anth 7:230, 235). Begierden beruhen dagegen auf dem Vermögen,
Zur Problematik „vernünftiger Begierden“ bei Kant vgl. Kleingeld . In seinen frühen Anthropologie-Vorlesungen unterscheidet Kant noch nicht durchgängig konsistent zwischen Affekten und Leidenschaften; zu diesem Thema vgl. Frierson , S. – . „Ideen in der allgemeinsten Bedeutung sind nach einem gewissen (subjectiven oder objectiven) Princip auf einen Gegenstand bezogene Vorstellungen, sofern sie doch nie eine Erkenntniß desselben werden können.“ (KU :)
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3. Begriffliche Voraussetzungen
aktiv ein Ereignis oder einen Zustand herbeizuführen. Das Begehrungsvermögen ist definiert als das Vermögen, „durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein. Das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln, heißt das Leben.“ (MS 6:211; vgl. KpV 5:9 Anm., Anth 7:251). Demnach haben sowohl Tiere als auch Menschen ein Begehrungsvermögen. Nach Kant verfügen allerdings nur Menschen über ein „Begehrungsvermögen nach Begriffen“, das er in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten als das „Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen“ definiert. Das menschliche Begehrungsvermögen kann sich dabei entweder als bloßer „Wunsch“ oder aber als handlungseinleitende „Willkür“ äußern, ein Ereignis oder einen Zustand tatsächlich herbeizuführen (MS 6:213 f., vgl. Anth 7:251). Tiere besitzen Kant zufolge keinerlei bewusste Wahlmöglichkeit: Die „tierische Willkür“ wird durch sinnliche Antriebe unmittelbar und notwendig zu Handlungen bestimmt. Im Gegensatz dazu ist die „menschliche Willkür“ zwar für sinnliche Antriebe empfänglich, kann durch sie aber nicht zu Handlungen genötigt werden. Anders als Tiere sind Menschen nach Kant insofern unabhängig von sinnlichen Antrieben, als sie jederzeit selbst darüber entscheiden können, ob sie nach ihnen handeln wollen oder nicht. Ihre Willkür ist frei, da sie ihre Handlungsmaximen selbst wählen können, ein Vermögen, das Kant auch als praktische Freiheit bezeichnet (KrV A533 f./B561 f.). In einer berühmten Passage in der Metaphysik der Sitten bestimmt Kant sowohl positiv als auch negativ, worin unsere praktische Freiheit bzw. die Freiheit unserer Willkür besteht: Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar afficirt, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden. Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein. (MS 6:213 f.)
Praktische Freiheit besteht also einerseits in der Unabhängigkeit von einer Determination durch empirische Antriebe (negativer Begriff), andererseits in dem Vermögen, vernünftig zu handeln (positiver Begriff).⁵⁴ Die Bestimmbarkeit der menschlichen Willkür „zu Handlungen aus reinem Willen“ lässt sich als Variante dieser positiven Definition verstehen. Sie kann mit Wood als die grundlegende menschliche Fähigkeit übersetzt werden, sich durch allgemein verbindliche
Für einen Überblick über Kants positive und negative Definitionen praktischer Freiheit und ihre Varianten vgl. Engstrom , S. – . Zum hier ausgeklammerten Verhältnis von praktischer und transzendentaler Freiheit in Kants Schriften (siehe Abschnitt . „Exkurs“) vgl. Schönecker, Buchenau und Hogan .
3. Begriffliche Voraussetzungen
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Gründe (das moralische Gesetz) selbst zum Handeln zu bestimmen.⁵⁵ Diese allgemeine Fähigkeit ist notwendige Bedingung dafür, dass uns Handlungen im moralischen Sinn zugerechnet, und wir für sie verantwortlich gemacht werden können. Sie garantiert aber natürlich nicht, dass wir uns in unseren Handlungsentscheidungen tatsächlich immer nach dem moralischen Gesetz richten: Allein die prinzipielle Fähigkeit des Willens, als Kausalvermögen aus einem reinen Willen handeln zu können, garantiert nämlich noch nicht die aktuelle Selbstbeherrschung des Individuums über sich selbst (innere Freiheit) sowie seine Unabhängigkeit von äußeren Zwängen (äußere Freiheit). Hier beginnt die relative und empirische Dimension des Freiheitsbegriffs, die als „Handlungsfreiheit“ bezeichnet wird […].⁵⁶
Innere Freiheit – der erfolgreiche Gebrauch unserer Fähigkeit, uns nach allgemein verbindlichen Gründen zum Handeln zu bestimmen – setzt Übung und Erfahrung im Umgang mit Hindernissen einer moralischen Lebensführung voraus. Wir müssen daher Kant zufolge lernen, unsere Affekte und Leidenschaften effektiv zu kontrollieren und uns um Selbstbeherrschung bemühen. Wie ich an späterer Stelle zeigen werde, bedeutet dies jedoch nicht, dass es beim Umgang mit emotionalen Hindernissen lediglich auf Kontrolle und Selbstbeherrschung ankäme; ebenso wenig bedeutet es, dass Affekte oder allgemeiner Gefühle immer als Hindernisse auftreten. Nur die Leidenschaften sind bei Kant so definiert, dass sie zwangsläufig Hindernisse darstellen.⁵⁷ In der zitierten Passage unterscheidet Kant zudem zwischen menschlicher Willkür und reinem Willen. Diese Unterscheidung lässt sich als Ausdifferenzierung des menschlichen Willens in eine exekutive Funktion (Willkür) und eine legislative Funktion (praktische Vernunft bzw. reiner Wille) begreifen. Der Wille im „reinen“ bzw. engen Sinn ist das Vermögen zur vernünftigen Gesetzgebung, die Willkür das Vermögen zur Wahl von Handlungsmaximen; gemeinsam bilden sie den Willen im umfassenden Sinn.⁵⁸ Der Wille im umfassenden Sinn ist dabei „insofern autonom […], als er als Vermögen rationaler Selbstbestimmung Regeln des Verhaltens entwirft, die von der Willkür als Vermögen der Wahl aufgenommen und – bei positivem Freiheitsgebrauch – befolgt werden.“⁵⁹
Wood , S. , – . Bojanowski , S. . Vgl. S. , f. Zur Unterscheidung von Wille im engen Sinn, Wille im umfassenden Sinn und Willkür vgl. Allison , S. ff.; zum Verhältnis von Wille, Willkür und Autonomie vgl. Bojanowski , S. ff. und Timmermann , S. ff. Schadow , S. .
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3. Begriffliche Voraussetzungen
Neigungen sind „habituelle sinnliche Begierden“ (Anth 7:251) bzw. „dauerhafte sinnliche Antriebe“ (V-Anth/Parow 25:253). Während jedoch Begierden immer mit Gefühlen der Lust oder Unlust verbunden sind, können umgekehrt Gefühle der Lust oder Unlust auch ohne Begehren des materiellen oder immateriellen Gegenstandes, auf den sie sich richten, empfunden werden.⁶⁰ Begierden motivieren zu Handlungen, die unser Begehren zumindest vorübergehend stillen. Sie sind nach Kant notwendig mit „praktischer Lust“ verbunden. In manchen Passagen legt Kant nahe, dass sich Begierden und Gefühle der Lust oder Unlust (bzw. Leidenschaften und Affekte) vor allem durch ein zeitliches Kriterium voneinander unterscheiden: Demnach beziehen sich Begierden immer auf etwas Zukünftiges, nämlich einen Zustand, der erreicht werden soll. Gefühle der Lust oder Unlust richten sich dagegen immer auf etwas Gegenwärtiges: Dasjenige, was gefühlt wird, liegt hier und jetzt vor (Anth 7:251).⁶¹ Diese zeitliche Unterscheidung ist allerdings nicht trennscharf: Zum einen äußert sich auch das Begehren eines zukünftigen Zustands als gegenwärtiges Begehren (oder kann dies zumindest tun). Zum anderen kann nach Kants eigenen Beispielen auch ein Gefühl, das gegenwärtig empfunden wird, einen Zukunftsbezug aufweisen und zu Handlungen motivieren. So definiert er beispielsweise die Erwartung, dass ein lustvoller Zustand eintreten wird, ihrerseits als ein Gefühl der Lust (KpV 5:22, 23). Diese Lust wird gegenwärtig empfunden, richtet sich zugleich aber auf einen erwarteten Zustand in der Zukunft und treibt uns, sofern dies erforderlich ist, zu einer „Thätigkeit zur Hervorbringung des Objects“ an (KpV 5:23). Die Lust der Erwartung scheint demnach ein komplexes Gefühl zu sein, das bestimmte gegenwärtige Empfindungsqualitäten, kognitive Inhalte (dasjenige, was erwartet wird) und gegebenenfalls auch eine motivationale Kraft vereint.Wie ich in Abschnitt 5.1. herausarbeiten werde, können auch Affekte als komplexe Gefühle auftreten – ihren Zukunftsbezug hebt Kant in den Vorlesungen ausdrücklich hervor (V-Anth/Mron 25:1343). Im Folgenden werde ich aufzeigen, dass sowohl die merkwürdige Positionierung der Affekt-Analyse innerhalb der Anthropologie als auch Kants eindringliche, stark metaphorische Ausdrucksweise bei der Diskussion von Leidenschaften und Affekten einen didaktischen und geradezu therapeutischen Kern haben: Sie sollen den Leser darin unterstützen, seine eigene psychische Konstitution zu reflektieren, und darüber moralische Selbsterkenntnis fördern.
Für eine ausführliche Untersuchung des Gefühls der Lust und Unlust und seiner Funktion in der Kantischen Handlungstheorie vgl. Höwing . Vgl.: „Was gefühlt wird, ist gegenwärtig, während sich das Begehren auf Zukünftiges bezieht. Ohne daß dieser Differenzpunkt der Zeitbeziehung besonders herausgehoben wird, ist er der wesentliche.“ Brandt , S. .
4. Positionierung und Metaphorik 4.1 Deplatzierte Affekt-Analyse Zwei formale Eigenheiten von Kants Auseinandersetzung mit Affekten und Leidenschaften in der Anthropologie sind auffällig und zunächst irritierend: Erstens werden die Affekte am systematisch falschen Ort diskutiert. Wie gesehen, bestimmt Kant Affekte als kurzandauernde Gefühle, die er zum Vermögen der Lust und Unlust rechnet; Leidenschaften dagegen als langandauernde Neigungen, die er dem Begehrungsvermögen zuordnet. Es wäre deshalb zu erwarten, dass Kant die Affekte im zweiten Buch der Anthropologie diskutiert, dessen Gegenstand das Gefühl der Lust und Unlust ist. Tatsächlich diskutiert er sie jedoch erst im dritten Buch über das Begehrungsvermögen und zwar in direkter Abgrenzung zu den Leidenschaften. Zweitens nimmt Kant die Abgrenzung von Affekten und Leidenschaften in einer für ihn ungewöhnlich stark metaphorischen Sprache vor. Beides, so meine These, geht nicht auf gestalterische Beliebigkeit oder Ungenauigkeit zurück, sondern geschieht bewusst und in praktischer Absicht. So hält Kant im Abschnitt Von der sinnlichen Lust im zweiten Buch ausdrücklich fest: In diesem Abschnitte sollte nun auch von Affecten, als Gefühlen der Lust und Unlust, die die Schranken der inneren Freiheit im Menschen überschreiten, gehandelt werden. Allein da diese mit den Leidenschaften, welche in einem anderen Abschnitte, nämlich dem des Begehrungsvermögens, vorkommen, oft vermengt zu werden pflegen und doch auch damit in naher Verwandtschaft stehen: so werde ich ihre Erörterung bei Gelegenheit dieses dritten Abschnittes vornehmen. (Anth 7:235)
Kant nimmt den überwiegenden Teil seiner Untersuchung von Affekten und Leidenschaften im dritten Buch der Anthropologie in getrennten, direkt aufeinander folgenden Abschnitten vor, sechs sind den Affekten gewidmet, acht den Leidenschaften; doch die Trennung ist nicht strikt, und immer wieder gibt es Vergleiche und Querverbindungen zwischen beiden Blöcken. Den Einzeldarstellungen ist ein direkter Vergleich beider vorangestellt, der den Titel trägt: „Von den Affekten in Gegeneinanderstellung derselben mit der Leidenschaft“.Wie an der zitierten Passage deutlich wird, ist es Kant wichtiger, Affekte und Leidenschaften einander direkt gegenüberzustellen, als die Affekte bereits im zweiten Buch im Kontext anderer Gefühle der Lust oder Unlust zu diskutieren und sie mit diesen zu vergleichen. Die „Verwandtschaft“ zwischen beiden wird nicht näher bestimmt. Es scheint vor allem die Tatsache zu sein, dass sie „oft vermengt zu werden pflegen“, die Kant beunruhigt und ihn zu einer direkten Gegenüberstellung veranlasst. Dahinter steht, wie ich denke, keine begriff-
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4. Positionierung und Metaphorik
liche Pedanterie, sondern ein praktisches Anliegen. Kant ist der Auffassung, dass sich sowohl Affekte als auch Leidenschaften negativ auf vernünftige Selbstbestimmung auswirken – in prudentieller, besonders aber in moralischer Hinsicht. Beide werden in medizinischen Ausdrücken beschrieben und als „Krankheiten des Gemüths“ bezeichnet. Die Bedrohungen, die sie jeweils für vernünftige Selbstbestimmung darstellen, sind jedoch von ganz unterschiedlicher Art, weshalb wir auch jeweils andere Maßnahmen ergreifen müssen, um unsere Selbstbestimmung wiederherzustellen oder gar nicht erst zu verlieren: Affecten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüths, weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt. Beide sind auch gleich heftig dem Grade nach; was aber ihre Qualität betrifft, so sind sie wesentlich von einander unterschieden, sowohl in der Vorbeugungs- als in der Heilmethode, die der Seelenarzt dabei anzuwenden hätte. (Anth 7:251)
Die Einschränkung unserer vernünftigen Selbstbestimmung durch Affekte und Leidenschaften kann nach Kant offenbar so stark sein, dass wir nicht mehr in der Lage sind, uns selbst zu helfen, sondern Unterstützung durch Dritte – durch einen „Seelenarzt“ – benötigen. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung lässt sich zwar von außen nicht wieder herstellen; Dritte können aber dabei helfen, Einsicht in die Bedingungen zu gewinnen, die ein selbstbestimmtes Handeln unmöglich machen. Greift man Kants medizinische Metapher auf, lässt sich die Einsicht, um die es dabei geht, als „therapeutische“ Einsicht bezeichnen: Ihr Zweck besteht darin, praktische Lösungen zu finden, durch die sich die Einschränkung vernünftiger Selbstbestimmung aufheben oder, besser noch, von vornherein verhindern lässt. Es scheint eben dieses praktische Anliegen zu sein, dass Kants Entscheidung für eine direkte Gegenüberstellung von Affekten und Leidenschaften motiviert: Ihre begriffliche Differenzierung soll uns (die Hörer seiner Vorlesungen, die Leser der Anthropologie) in die Lage versetzen, zu unterscheiden, ob es Affekte oder Leidenschaften sind, die uns in unserer Selbstbestimmung einschränken und darüber die epistemischen Voraussetzungen für ihre Überwindung schaffen. Dieses praktische Ziel vor Augen präsentiert sich Kant in humoristischer Weise selbst als „Seelenarzt“, der aus philosophischer Perspektive die Arbeit des Mediziners ergänzt mit Blick auf ein gesundes Zusammenwirken von Körper und Geist: Das Geschäft des Arztes besteht darin, dem kranken Geist zu helfen, indem er den Körper pflegt; das des Philosophen, dem leidenden Körper durch einen mentalen Gesundheitsplan zu helfen. (Rektoratsrede 15:939)
4.1 Deplatzierte Affekt-Analyse
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Mit diesem therapeutischen Verständnis der Philosophie aktualisiert Kant die antike Vorstellung von Philosophie als praktischer Lebenshilfe.⁶² Ebenfalls im Sinne dieser Vorstellung hält er in der Anthropologie fest, dass der Philosoph kein wissenschaftlicher Gelehrter sei, sondern – in einem sehr umfassenden Sinn – ein praktisch orientierter Weisheitsforscher: Was den Philosophen betrifft, so kann man ihn gar nicht als Arbeiter am Gebäude der Wissenschaften, d.i. nicht als Gelehrten, sondern muß ihn als Weisheitsforscher betrachten. Es ist die bloße Idee von einer Person, die den Endzweck alles Wissens sich praktisch und (zum Behuf desselben) auch theoretisch zum Gegenstande macht […] (Anth 7:288 Anm.)
Im Kern ist die Philosophie nach dieser Passage eine praxisorientierte Tätigkeit. Die Erforschung theoretischer Zusammenhänge wird (ohne dabei ihre Bedeutung zu schmälern) in den Dienst praktischer Weisheitsforschung gestellt, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist“ (KpV 5:121). Den Philosophen spricht Kant dabei die Rolle einer vermittelnden Instanz zu, die „gut und kenntlich“ darlegen sollen, wie eine moralische Lebensführung realisiert werden kann: Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt, wenn unter dieser nicht blos verstanden wird, was man thun, sondern was Lehrern zur Richtschnur dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen und andere vor Irrwegen zu sicheren; eine Wissenschaft, deren Aufbewahrerin jederzeit die Philosophie bleiben muß, an deren subtiler Untersuchung das Publicum keinen Antheil, wohl aber an den Lehren zu nehmen hat, die ihm nach einer solchen Bearbeitung allererst recht hell einleuchten können. (KpV 5:163)
Trifft meine Deutung einer bewussten und praktisch motivierten Deplatzierung der Affekte in der Anthropologie zu, so zielt Kants parallele Auseinandersetzung mit Affekten und Leidenschaften nicht primär auf ihre theoretische Erfassung und Einordnung in seine Vermögenslehre, sondern auf die Förderung praktischer Selbsterkenntnis, die schließlich zu einem vernünftigen Umgang mit den eigenen emotionalen Dispositionen befähigen soll.
Zur Geschichte der Philosophie als praktischer Lebenshilfe vgl. Kobusch .
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4. Positionierung und Metaphorik
4.2 Metaphern der Krankheit Affekte und Leidenschaften werden von Kant durch drastische Metaphern charakterisiert. Auch das dient, wie ich nun zeigen möchte, einem didaktischen Ziel und lässt sich als Beitrag zur Förderung praktischer Selbsterkenntnis und vernünftiger Selbstbestimmung verstehen. Wie ich im ersten Kapitel dargelegt habe, schließt Kants umfassender praktischer Anspruch die Lehrmethode zur Vermittlung anthropologischer Kenntnisse ein. Ein anschaulicher und lebendiger Unterricht soll die Studenten dazu anregen, die zu lernenden Inhalte nicht nur abstrakt zu verstehen, sondern sie mit ihrer jeweils eigenen, spezifischen Lebenssituation in Verbindung zu bringen und konkret umzusetzen. Metaphern sind ein bewährtes Mittel, um Anschaulichkeit zu steigern. Sie können das Verständnis neuer oder schwieriger Zusammenhänge erleichtern, indem sie einen intuitiven Zugang zu den vorgebrachten Inhalten eröffnen. Sie ermöglichen zudem, neue oder komplexe Sachverhalte in den Begriffen bekannter oder einfacherer Sachverhalte zu erschließen. Metaphern dienen als Figuren der „uneigentlichen“ Rede der Überzeugung oder Überredung – die Verknüpfung zweier Sinnkomplexe über ein gemeinsames Strukturmerkmal erlaubt es, abstrakte Gegenstände zu veranschaulichen, Ähnlichkeitsbeziehungen besonders herauszustellen, Neues mit Bekanntem zu verbinden oder Bekanntes mit Bekanntem auf neue Weise. Dabei können Metaphern eine umfassende und aktivierende Wirkung entfalten, die sich durch keine Beschreibung desselben Sachverhalts in „eigentlicher“ Rede erzeugen ließe: Gut gewählte Metaphern sind nämlich nicht nur „durchsichtige Vehikel für Gedanken“, sondern beeinflussen Denken, Imaginieren und Fühlen zugleich und bleiben gerade deshalb oft länger im Gedächtnis ihrer Rezipienten wirksam als „nüchterne“ Beschreibungen.⁶³ Wer – wie Kant – lebenspraktische Kenntnisse in einprägsamen Metaphern vermittelt, kann darauf hoffen, dass diese auch außerhalb des Lehrkontextes leicht abrufbar sind und so den Übergang von abstraktem Wissen zu konkretem Tun unterstützen. Wie gut sich Kant auf die Kunst versteht, anschauliche und einprägsame Metaphern zu formulieren, lässt sich etwa an folgender Passage nachvollziehen:⁶⁴
Vgl. Kohl , S. – . Streng genommen führt Kant in dieser Passage nicht Metaphern, sondern Vergleiche an; der Vergleichspartikel („wie“) bleibt erhalten. Diese strukturelle Unterscheidung ist für die hier angestellten Überlegungen folgenlos, zumal Kant nach Belieben zwischen Vergleichen und Metaphern wechselt.
4.2 Metaphern der Krankheit
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Der Affect wirkt wie ein Wasser, was den Damm durchbricht; die Leidenschaft wie ein Strom, der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt. Der Affect wirkt auf die Gesundheit wie ein Schlagfluß, die Leidenschaft wie eine Schwindsucht oder Abzehrung. – Er ist wie ein Rausch, den man ausschläft, obgleich Kopfweh darauf folgt, die Leidenschaft aber wie eine Krankheit aus verschlucktem Gift oder Verkrüppelung anzusehen […] (Anth 7:252)
An anderer Stelle ergänzt Kant diese Reihe, indem er Leidenschaften mal im engeren Sinn metaphorisch, mal vergleichend als Krebs oder Wahnsinn bezeichnet und Affekte als temporäre Blindheit oder Sturm (Anth 7:253, 266; KU 5:272; MS 6:408). Die Engführung von Leidenschaften und Affekten mit Krankheiten (Schlaganfall, Tuberkulose, Auszehrung, Vergiftung, Krebs), körperlichen Behinderungen (Verkrüppelung, Blindheit), psychischen Störungen (Wahnsinn), zeitweiligen geistigen Einschränkungen (Rausch, Kopfweh) und Naturgewalten (Dammbruch, sich eingrabender Strom, Sturm) ist historisch nicht neu und lässt sich bis zu den Stoikern zurückverfolgen, die Affekte und Leidenschaften als Krankheiten der Seele begriffen – anders als Kant jedoch nicht im übertragenen, sondern im eigentlichen Sinn: Die Stoiker gingen davon aus, dass Affekte tatsächlich Krankheiten der Seele sind.⁶⁵ Auffällig sind allerdings sowohl die rasche Abfolge, in der Kant diese traditionellen Bilder evoziert, als auch die Emphase, mit der sie eingesetzt werden. Die Bereiche, aus denen Kant seine Metaphern entlehnt, zeigen deutlich, dass er nicht nur einprägsam formulieren, sondern auch warnen und vielleicht sogar abschrecken möchte: Wenn Leidenschaften und Affekte nämlich wie Krankheiten sind, die uns schwächen oder gar umbringen, wenn sie wie Naturgewalten sind, die wir kaum beherrschen können, dann ist die offensichtliche Implikation, dass wir uns, so gut es geht, vor ihnen schützen sollten. Dennoch findet Kant interessanterweise auch eine positive Umschreibung für die Affekte: Sie haben demnach eine „belebende Wirkung“ auf unser Gemüt und treiben uns zu Tätigkeit an. Genau diese belebende, aktivierende Wirkung scheint er sich zunutze machen zu wollen, wenn er seine Leser und Zuhörer durch die Verwendung drastischer, furchteinflößender Metaphern auch emotional anzusprechen versucht. Die Tatsache wiederum, dass Kant eine solche stark metaphorische Sprache wählt, deutet darauf hin, dass er rhetorischen Mitteln für den zweiten, anwendungsorientierten Teil der Ethik zumindest implizit einige Bedeutung beimisst. Meine Überlegungen zur praktischen Bedeutung der Metaphorik in Kants Diskussion der Leidenschaften und Affekte sollen nicht nahelegen, dass Metaphern bei Kant „nur“ eine rhetorische Rolle spielen. Vielmehr scheinen sie für seine Überlegungen in bestimmter Hinsicht auch eine argumentative Funktion zu übernehmen. Insbesondere das Bild der Krankheit dominiert Kants Analyse: Affekte und Leidenschaften werden nicht neutral betrachtet, sondern von vorn Vgl. Halbig , S. und Newmark , S. – .
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4. Positionierung und Metaphorik
herein als Phänomene, die man behandeln muss wie ein Arzt bzw. besiegen oder beherrschen wie ein Patient. Damit reflektiert die Krankheitsmetaphorik eine methodische Vorentscheidung Kants, für die er nirgends eigens argumentiert und die seinen Rückgriff auf ein altbekanntes Bild wie eine argumentative Abkürzung erscheinen lässt. Affekte und Leidenschaften werden im Rahmen des Krankheitsbildes analysiert – und Versatzstücke der Analyse, die nicht in diesen Rahmen passen, wie die positiven Funktionen, die Kant bestimmten Affekten zugesteht, bleiben unversöhnt daneben stehen.
5. Affekte Die formale Untersuchung in den beiden vorangegangenen Abschnitten konzentrierte sich auf die praktische Bedeutung der Situierung der Affekte in der Anthropologie und der Metaphorik in Kants Diskussion der Leidenschaften und Affekte. Ich habe argumentiert, dass beide didaktische Funktionen erfüllen. Im Folgenden werde ich nun aufzeigen, dass Kants Haltung gegenüber Affekten ambivalenter und vielschichtiger – und genau deshalb überzeugender – ist als erwartbar und von den meisten Interpreten angenommen.
5.1 Zwei Arten von Unkontrolliertheit Wie gesehen, stellt Kant Affekte als unkontrollierte Gefühle dar, die nur kurze Zeit andauern. Das Fehlen von Kontrolle lässt sich dabei auf zwei Weisen verstehen, deren Unterscheidung bei Kant nur implizit angelegt ist: Unkontrolliert sind Affekte zunächst in dem Sinn, dass sie,wie Kant sagt, überraschend oder sogar überfallartig auftreten. Als Beispiele nennt er ausgelassene Freude, plötzliche Furcht und jähen Zorn, die von verstetigten Dispositionen wie Exaltiertheit, Schreckhaftigkeit oder Hass zu unterscheiden sind. Gefühle der Scham können Ausdruck einer anhaltenden Selbstverachtung sein, „die Scham dagegen, als Affect, muß plötzlich eintreten“ (Anth 7:255). Affekte sind laut Kant immer „Überraschung durch Empfindung“ (Anth 7:252); sie sind „stürmisch und unvorsätzlich“ (KU 5:272 Anm.) und kommen häufig auch auf körperlicher Ebene zum Ausdruck: Beim Lachen etwa bewegt sich durch „konvulsivisches Ausatmen“ das Zwerchfell, beim Weinen geht ein „konvulsivisches Einatmen“ mit Tränen einher (Anth 7:261); der Affekt des Zorns lässt uns unwillkürlich erröten oder erbleichen (Anth 7:260), manche Affekte können uns körperlich anregen und zugleich erschöpfen, andere wirken körperlich anspannend, aber auch erholsam (Anth 7:255). Problematisch und zu echten „Hindernissen“ werden Affekte bei Kant aber nur dann, wenn ihr überraschendes Auftreten zu einem Kontrollverlust in einem zweiten Sinne führt: Nämlich dann, wenn sie ein ruhiges Nachdenken über prudentiell bzw. moralisch vernünftige Handlungsentscheidungen maßgeblich erschweren oder sogar ganz verhindern. Um diesen zweiten Kontrollverlust scheint es Kant zu gehen, wenn er in der Anthropologie schreibt, dass Affekte „unbesonnen“ sind und „geschwinde zu einem Grade des Gefühls [wachsen], der die Überlegung unmöglich macht“ (Anth 7:252). Analog heißt es in der Metaphysik der Sitten, dass Affekte vernünftiges Nachdenken „unmöglich oder schwerer“ machen (MS 6:407). „[N]icht die Stärke eines gewissen Gefühls“ macht nach Kant „den
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5. Affekte
Zustand des Affects“ aus, „sondern der Mangel der Überlegung“, die für eine moralische und prudentielle Einschätzung der betreffenden Situation nötig wäre: Der Reiche, welchem sein Bedienter bei einem Feste einen schönen und seltenen gläsernen Pokal im Herumtragen ungeschickterweise zerbricht, würde diesen Zufall für nichts halten, wenn er in demselben Augenblicke diesen Verlust eines Vergnügens mit der Menge aller Vergnügen, die ihm sein glücklicher Zustand als eines reichen Mannes darbietet, vergliche. (Anth 7:254)
Dieser „Mangel an Überlegung“ macht uns zeitweilig „(mehr oder weniger) blind“ (Anth 7:253) – „entweder in der Wahl […unseres] Zwecks, oder wenn dieser auch durch Vernunft gegeben worden, in der Ausführung desselben“ (KU 5:272). Affektbedingte Handlungen sind für Kant also deshalb „blinde“ Handlungen, weil sie ein selbstbestimmtes Nachdenken darüber, wie wir handeln wollen, erschweren oder sogar ganz verhindern. Sie erschweren es, bewusst und überlegt über den Zweck einer Handlung und dafür geeignete Mittel zu entscheiden; und sie beeinträchtigen uns darin, uns an unsere eigenen Grundsätze zu halten (wie etwa jemand, der es als unmoralisch ablehnt, andere Menschen zu schlagen, aber in einem Moment der Wut die Kontrolle über sich verliert). Zur Charakterisierung der Affekte ist an dieser Stelle eine Differenzierung wichtig: Gegen die übliche Deutung vertrete ich die These, dass der Vorwurf der Blindheit nicht impliziert, dass Affekte nach Kant grundsätzlich keine kognitiven Inhalte haben und sich auf bloße Empfindungsqualitäten und körperliche Ausdrucksformen beschränken. Wie sich an den Beispielen in der Anthropologie zeigen lässt, sind Affekte mal mehr, mal weniger komplexe Gefühle. Manche treten als unbestimmte Stimmungen auf, die keine Handlungsmotivation erkennen lassen – Furcht beispielsweise bestimmt Kant als „Bangigkeit“ über ein „unbestimmtes Übel“, das einem „anhängen [kann], ohne ein besonderes Object dazu zu wissen“ (Anth 7:255). Andere Affekte werden dagegen eindeutig als komplexe Gefühle charakterisiert, die neben ihrer Empfindungsqualität auch kognitive Inhalte aufweisen: Die Affekte des Zorns und der Scham etwa definiert Kant als „plötzlich erregte Gefühle eines Übels als Beleidigung“ (Anth 7:260 m.H.). Sie äußern sich als Zorn oder Scham über etwas, nämlich eine vermeintliche Kränkung, und nicht bloß als Empfindungen einer bestimmten Qualität, die durch eine davon unabhängige Wahrnehmung einer Beleidigung hervorgerufen werden.⁶⁶
Ich bin mir nicht sicher, ob Kants Darstellung komplexer Affekte mit seiner Definition von Gefühlen der Lust und Unlust in der Kritik der Urteilskraft als rein subjektiven Zuständen, die keinen Beitrag zur Erkenntnis eines Objekts leisten (KU :), vereinbar ist oder nicht. Wenn sie es aber nicht ist, dann scheint sich Kant bei der Diskussion konkreter Gefühle nicht an seine
5.2 Die Pflicht der Apathie
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Zumindest der Affekt des Zorns kann dabei nach Kant auch motivationale Kraft besitzen: Er ist definiert als „ein Schreck, der zugleich die Kräfte zum Widerstand gegen das Übel schnell rege macht“ (Anth 7:255). Er kann die Motivation zu handeln allerdings auch hemmen und „unvermögend machen, es [das Übel] abzuwehren“ (Anth 7:260). Wenn also komplexere Affekte wie Scham oder Zorn „blind machen“, dann nicht deshalb, weil sie keine kognitiven Inhalte haben, sondern weil sie eine vernünftige Reflexion über ihre kognitiven Inhalte und unsere Reaktionen verhindern. Der Vorwurf der Blindheit bezieht sich auf eine spezifische Art des Umgangs mit Affekten, nämlich auf einen Mangel an reflexiver Distanz, der es schwer oder unmöglich macht, zu den eigenen Affekten Stellung zu nehmen, anstatt ihnen „blind“ zu folgen.
5.2 Die Pflicht der Apathie Affekte, so denken viele, kommen für Kant ausschließlich „als Störfaktoren in Betracht“⁶⁷, und auch das Vorurteil, Kant beurteile alle empirischen Gefühle negativ, hält sich bis heute hartnäckig. An dieser falschen Einschätzung ist Kant selbst nicht ganz unschuldig: Tatsächlich suggeriert er in einigen Passagen, dass alle Affekte zwangsläufig zu einem Kontrollverlust im zweiten Sinne führen und deshalb zu verurteilen sind. Hinzu kommt seine berüchtigte These, dass Affektlosigkeit, die er auch Apathie oder „Phlegma im guten Verstande“ nennt, eine wünschens- und bewundernswerte Eigenschaft sei (Anth 7:252, 253; KU 5:272), ja sogar Pflicht (MS 6:408). Eine besonders drastische Formulierung dieser These findet sich in Collins Mitschriften zu Kants Vorlesungen über Moralphilosophie: Zur Pflicht gegen uns und zur Würde der Menschheit wird erfordert, daß der Mensch gar keine Affecten und Leidenschaften habe; dieses ist die Regel, ob es gleich eine andre Sache ist, ob es denn Menschen wirklich so weit bringen können. (V-Mo/Collins 27:368 m.H.)
In der hier formulierten, rigorosen Ablehnung von Affekten (und Leidenschaften) spiegelt sich eine lange Denktradition wider, der zufolge das gute oder richtige Leben
eigene, enge Definition zu halten und den Begriff des Gefühls der Lust und Unlust, ebenso wie den des Affekts, in mehreren Bedeutungen zu verwenden. So Recki , S. ; sie betont allerdings die wichtige Rolle, die das Gefühl der Achtung und ästhetische Gefühle für Kants Ethik spielen. Auch Frierson diskutiert nur die negativen Wirkungen von Affekten, vgl. Frierson , S. – u. Frierson , S. – ; Esser weist dagegen ausdrücklich auf ihre positiven Wirkungen hin, vgl. Esser , S. .
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5. Affekte
durch Vernunft geleitet sein muss, nicht durch sinnliche Antriebe oder komplexere Gefühle. Zustimmend rekurriert Kant auf das stoische Konzept der Apathie: Das Princip der Apathie: daß nämlich der Weise niemals im Affect, selbst nicht in dem des Mitleids mit den Übeln seines besten Freundes sein müsse, ist ein ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Affect macht (mehr oder weniger) blind. (Anth 7:253; vgl. MS 6:457)
Bei genauerer Betrachtung erweist sich Kants Position jedoch als deutlich differenzierter als die zitierten und vergleichbare Passagen zunächst vermuten lassen. Zwei Einschränkungen sind erkennbar: Kants negative Auffassung von Affekten darf erstens nicht als eine negative Auffassung aller sinnlichen Antriebe und komplexeren empirischen Gefühle gedeutet werden. Zweitens ist auch Kants Beurteilung von Affekten durchaus ambivalent; trotz mancher Formulierungen, die auf eine umfassende Ablehnung hindeuten, schreibt er ihnen auch positive Wirkungen zu. Zur ersten These: Affekte sind Gefühle der Lust oder Unlust und Leidenschaften sind Neigungen, aber deshalb sind nicht umgekehrt alle Gefühle der Lust oder Unlust Affekte und alle Neigungen Leidenschaften. Natürlich „kann einer etwas empfinden und Neigung wozu haben, ohne dabey Affect und Leidenschaft zu haben“ (V-Mo/Collins 27:368). Gefühle und Neigungen gehören für Kant „zur Möglichkeit der menschlichen Natur“ (RGV 6:28). Ohne die Fähigkeit, zu fühlen und zu wollen, wären wir untätig und „leblos“ (Anth 7:165, 231, 289). Der Versuch, Gefühle und Neigungen „auszurotten“, wäre deshalb „nicht allein vergeblich, sondern […] auch schädlich und tadelhaft“. Die Aufgabe ist vielmehr, sie nur zu „bezähmen“ (RGV 6:58). Aus diesem Grund darf Affektlosigkeit, wie Kant betont, nicht mit Gefühllosigkeit verwechselt werden. Apathie bedeutet keine emotionale Indifferenz: Dieses Wort [Apathie] ist, gleich als ob es Fühllosigkeit, mithin subjective Gleichgültigkeit in Ansehung der Gegenstände der Willkür bedeutete, in übelen Ruf gekommen; man nahm es für Schwäche. Dieser Mißdeutung kann dadurch vorgebeugt werden, daß man diejenige Affectlosigkeit, welche von der Indifferenz zu unterscheiden ist, die moralische Apathie nennt. (MS 6:408)
Die Tatsache, dass Affekte für Kant nur einen Teilbereich der Gefühle ausmachen, eröffnet die Möglichkeit für ein Verständnis von Apathie, das an entscheidender Stelle von der stoischen Konzeption abweicht: Anders als in der Stoa kommt es Kant nicht darauf an, Affekte in dem Sinn abzutöten, dass man gar nichts mehr fühlt, sondern darauf, sich durch die empfundene Gefühlsregung nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Anders ausgedrückt: Der problematische Affekt muss in ein unproblematisches Gefühl transformiert werden, in ein Gefühl, das uns
5.2 Die Pflicht der Apathie
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nicht daran hindert, vernünftige Handlungsentscheidungen zu treffen.⁶⁸ Im Grunde ähnelt Kants Konzept der Apathie deshalb weniger dem stoischen Konzept der Apathie als dem Gegenkonzept der Metriopathie, mit dem sich die Peripatetiker und Eklektiker wie Cicero kritisch von den Stoikern abgrenzten: Ihrer Auffassung nach müssen Affekte nicht abgetötet, sondern nur gemäßigt werden.⁶⁹ Bei Kant lassen sich zwei Möglichkeiten der Mäßigung unterscheiden: Erstens die akute Kontrolle, durch die der Akteur an innerer Distanz gewinnt – wer etwa zornig ist, so Kants schlichter Vorschlag, solle sich hinsetzen, weil Sitzen allgemein eine beruhigende Wirkung habe (Anth 7:252); zweitens in langfristiger Perspektive die Veränderung der zugrunde liegenden emotionalen Dispositionen, die ich am Beispiel der Kultivierung von Mitgefühl ausführlich erläutern werde. Kants Ideal der Apathie besteht also nicht darin, sinnlich bedingte Gefühle zum Verschwinden zu bringen, sondern darin, vernünftig mit ihnen umzugehen. „[O]ur emotions are to be used by us; we are not to be used by them“.⁷⁰ Der entscheidende Unterschied zwischen Apathie als Indifferenz und Apathie als vernünftiger Selbstkontrolle („moralischer Apathie“) besteht meiner Lesart zufolge darin, dass erstere einen passiven Zustand der Teilnahmslosigkeit beschreibt, letztere dagegen eine aktive Fertigkeit im Umgang mit Affekten, die Fertigkeit nämlich, „sich durch jener ihre Stärke nicht aus der ruhigen Überlegung bringen zu lassen“ (Anth 7:252). Unter einer Fertigkeit versteht Kant die Leichtigkeit, mit der wir bestimmte Handlungen durchführen, die allerdings nur dann eine „freie“ Fertigkeit ist, wenn wir uns durch die Vorstellung des moralischen Gesetzes zu den fraglichen Handlungen bestimmen und dies mit Leichtigkeit gelingt (MS 6:407). Für diese Lesart spricht auch eine Distanzierungsgeste Kants. Er legt Wert darauf, sich vom sinnenfeindlichen „Purism des Cynikers“ und der „Fleischestödtung des Anachoreten ohne gesellschaftliches Wohlleben“ abzugrenzen: Der Verlust der „Grazien“, wie Kant es
Dieses Anliegen wiederum – das Anliegen einer vernünftigen Kontrolle von Affekten im Gegensatz zu ihrer Abtötung – teilt Kant auch mit Vertretern der moralsensualistischen Tradition wie Shaftesbury, Hume und Smith (vgl. Darwall , S. ), so stark sich deren empiristische Modelle einer Moralbegründung durch einen „moralischen Sinn“ (moral sense) bzw. eine angeborene Fähigkeit zu Mitgefühl (sympathy) auch von Kants Modell einer vernunftbasierten Moralbegründung unterscheiden. In den er Jahren stand Kant der moralsensualistischen Tradition noch selbst nahe: „Eine Zeitlang ist Kant Moralsensualist gewesen. Im Bewusstsein des Ungenügens seiner kognitivistischen Begründung der Moral auf der Suche nach deren Prinzip, schien ihm der Beitrag der Schottischen Aufklärung vielversprechend. Die vorkritischen Schriften der sechziger Jahre zeigen Kant auf dem Wege zu seiner eigenen Moralbegründung im Spannungsfeld zwischen [Wolffs] kognitivistischer Perfektionsethik und Moral-Sense-Theorien.“ (Recki , S. ); vgl. auch Henrich . Vgl. Halbig , S. . Denis , S. .
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5. Affekte
nennt, sei eine „verzerrte Gestalt der Tugend“ (Anth 7:282). Die gefühls- bzw. sinnenfeindliche Rhetorik einiger Passagen spricht deshalb nicht für eine tief empfundene Ablehnung, sondern verweist vielmehr auf die Dringlichkeit seines Anliegens: Mithilfe polemischer Übertreibungen hebt Kant hervor, dass „die Vernunft die Zügel der Regierung in ihre Hände“ nehmen muss, damit nicht Gefühle und Neigungen „über den Menschen den Meister spielen“ (MS 6:408). Affekte, so habe ich bereits erwähnt, sind unvorsätzlich, im Gegensatz zu den Leidenschaften liegt ihnen keine dauerhafte Maxime zugrunde (KU 5:272 Anm.). Kant betrachtet den Mangel an vernünftiger Selbstkontrolle im affektbedingten Tun deshalb als eine Art Willensschwäche, die „mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann“ (MS 6:408). Handlungen, die im Affekt geschehen, sind „untugendhaft“. Sie sind Ausdruck eines vorübergehenden Mangels an Tugend bzw. moralischer Stärke, stellen aber anders als die Leidenschaften kein anhaltendes „Laster“ dar (MS 6:390; vgl. RGV 6:38): Daher heißt der Affect jäh oder jach (animus praeceps), und die Vernunft sagt durch den Tugendbegriff, man solle sich fassen; doch ist diese Schwäche im Gebrauch seines Verstandes,verbunden mit der Stärke der Gemüthsbewegung, nur eine Untugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches, was und das einzige Gute noch an sich hat, daß dieser Sturm bald aufhört. (MS 6:408)
Das Fehlen eines Vorsatzes entbindet jedoch nicht von der Pflicht, sich von Affekten nicht beherrschen zu lassen. Auch die untugendhafte Handlung ist eine pflichtwidrige Handlung, die dem Subjekt zuzurechnen ist. Denn obwohl Kant den moralischen Wert einer unvorsätzlichen Untugend in einer missverständlichen Passage mit dem Wert null beziffert (MS 6:446), ist Untugend nicht moralisch neutral. Der Nullwert steht nicht für Neutralität, sondern ist Ergebnis einer,wie Kant schreibt, „Beraubung“ bzw. Aufhebung des positiven moralischen Werts der geforderten Handlung. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Passage aus den frühen Schriften Kants, an die er später in der Metaphysik der Sitten anknüpft: Untugend (demeritum) ist nicht lediglich eine Verneinung, sondern eine negative Tugend (meritum negativum). Denn Untugend kann nur Statt finden, in so fern als in einem Wesen ein inneres Gesetz ist (entweder bloß das Gewissen oder auch das Bewußtsein eines positiven Gesetzes), welchem entgegengehandelt wird. Dieses innere Gesetz ist ein positiver Grund einer guten Handlung, und die Folge kann bloß darum Zero sein, weil diejenige, welche aus dem Bewußtsein des Gesetzes allein fließen würde, aufgehoben wird. Es ist also hier eine Beraubung, eine reale Entgegensetzung und nicht bloß ein Mangel. (NG 02:182 f.; vgl. MS 6:390)
In der Metaphysik der Sitten bestimmt Kant die Pflicht zur Apathie als eine negative Pflicht, nämlich als das Verbot, sich von Gefühlen und Neigungen beherrschen zu lassen. Für das konkrete Subjekt stellt sich diese negative Pflicht in Anbetracht der
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„Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“ jedoch auch als eine positive Pflicht bzw. „ein bejahendes Gebot“ dar, sich aktiv und in langfristiger Perspektive um Selbstbeherrschung zu bemühen. Selbstbeherrschung ist das Ergebnis einer positiven Leistung, nämlich einer kontinuierlichen Charakterbildung, und geht damit über die Unterlassung von pflichtwidrigen Handlungen in Einzelsituationen hinaus: Die Tugend also, so fern sie auf innerer Freiheit gegründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, mithin der Herrschaft über sich selbst, welche über das Verbot, nämlich von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen, (der Pflicht der Apathie) hinzu kommt: weil, ohne daß die Vernunft die Zügel der Regierung in ihre Hände nimmt, jene über den Menschen den Meister spielen. (MS 6:408 m.H., vgl. auch MS 6:446)
5.3 Positive Wirkungen Zusätzliche Komplexität gewinnt Kants Behandlung der Affekte durch die Tatsache, dass er bestimmten Affekten auch positive Wirkungen zuschreibt. Damit komme ich zu meiner zweiten These.⁷¹ Betrachtet man Kants Überlegungen zu einzelnen Affekten, so zeigt sich, dass seine Haltung nicht nur gegenüber Gefühlen im Allgemeinen, sondern auch spezifisch gegenüber Affekten weniger eindeutig negativ ausfällt, als manche seiner Formulierungen nahelegen. Liest man nur seine drastischen Metaphern und Allsätze wie die folgenden ohne ihre relativierenden Gegenstücke, dann entsteht leicht der Eindruck, Kant sei ein strikter Gegner der Affekte. So heißt es etwa: „Affecten sind überhaupt krankhafte Zufälle“ (Anth 7:255 m.H.). „Affecten […] unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüths“ (Anth 7:251 m.H.). „Affect, für sich allein betrachtet, [ist] jederzeit unklug; [denn] er macht sich selbst unfähig, seinen eigenen Zweck zu verfolgen“ (Anth 7:253 m.H.). Affekte sind Gefühle der Lust oder Unlust, „die die Schranken der inneren Freiheit im Menschen überschreiten“ (Anth 7:235). Gegen eine Identifikation von Kants Position zu Affekten mit diesen Allsätzen spricht jedoch zum einen, dass er den Begriff des Affekts offenbar in unterschiedlich weiter Bedeutung verwendet: Ein Affekt, der die Kontrolle durch die Vernunft ausschließt, wird von Kant tatsächlich rein negativ beurteilt – in dieser engen, ausschließenden Bedeutung kommt das Wort Affekt in den letzten beiden der zitierten Sätze vor: Ein Affekt der unfähig macht, seinen Zweck zu verfolgen, widerspricht den Anforderungen der Zweckrationalität: Er macht es unmöglich,
Vgl. S. .
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5. Affekte
rational über die Mittel zu entscheiden, die zur Realisierung des betreffenden Zwecks nötig wären. Als Beispiele nennt Kant heftigen Zorn und übertriebene Scham,verstanden als „Angst […vor] der besorgten Verachtung einer gegenwärtigen Person“ (Anth 7:255, 260). Ebenso schließt ein Affekt, der die Schranken der inneren Freiheit überschreitet, per definitionem aus, dass vernünftige Selbstbeherrschung im moralischen oder auch nur im prudentiellen Sinne möglich ist. Allerdings spricht Kant von Affekten auch in einer weiteren Bedeutung. Vorausgesetzt, es gelingt, den Übergang von einem kontrollierbaren zu einem unkontrollierbaren Affekt⁷² zu verhindern, besteht kein Grund zu seiner Verurteilung. Ein rein negatives Urteil fällt Kant nur über einen Spezialfall der Affekte, nämlich über unkontrollierbare Affekte. Da Kant die verschiedenen Bedeutungen, in denen er den Begriff des Affekts verwendet, nicht explizit unterscheidet, haftet einigen Passagen tatsächlich eine gewisse Unklarheit an. An seinen Beispielen aber lässt sich demonstrieren, dass dem Spezialfall unkontrollierbarer Affekte eine Reihe von Affekten gegenüberstehen, denen Kant positive Wirkungen zuschreibt. Es lassen sich, so mein Vorschlag, vier solcher positiven Wirkungszuschreibungen unterscheiden: Kant geht erstens davon aus, dass bestimmte Affekte aufgrund ihrer körperlichen Ausdrucksformen eine gesundheitsfördernde Wirkung haben können, „vornehmlich das Lachen und das Weinen“. Tatsächlich unterscheidet Kant, wenn er über die gesundheitlichen Wirkungen von Affekten spricht, kaum mehr zwischen dem Affekt und seinem körperlichen Ausdruck – er spricht lieber von Lachen und Weinen als von Fröhlichkeit und Traurigkeit bzw. ohnmächtigem Zorn (Anth 7:255). Lachen geht „immer [mit] Schwingung der Muskeln, die zur Verdauung gehören“ einher, was diese „weit besser befördert, als es die Weisheit des Arztes tun würde“; und ein schluchzendes Weinen wirkt „wenn es mit Tränenguß verbunden ist […] als ein schmerzlinderndes Mittel“ (Anth 7:261– 263). Beide entfalten allerdings nur dann einen positiven Effekt auf die Gesundheit, wenn das richtige Maß eingehalten wird: In expliziter Anlehnung an den schottischen Arzt John Brown, dem zufolge Krankheit immer auf ein Zuviel oder ein Zuwenig an Erregung zurückgeht und nur ein mittlerer Erregungszustand gesund ist,⁷³ unterscheidet Kant zwischen sthenischen Affekten aus Stärke und asthenischen Affekten aus Schwäche, die in sich dialektisch strukturiert sind: Lachen ist ein sthenischer Affekt, der anregend, aber auch erschöpfend wirken kann; Weinen ein asthenischer Affekt, der „die Lebenskraft abspannt“, doch genau darüber Erholung vorbereitet. Aufgrund dieser inneren Dialektik kann Lachen Hier und im Folgenden verwende ich den Begriff der Kontrolle im zweiten Sinn, wie ich ihn in Abschnitt . „Zwei Arten von Unkontrolliertheit“ erläutert habe; vgl. S. f. Brown , insbes. Teil , Kapitel und Teil , Kapitel . Die lateinische Originalfassung erschien unter dem Titel Elementa medicinae.
5.3 Positive Wirkungen
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in Weinen umschlagen, „man kann nämlich auch bis zu Thränen lachen, wenn man bis zur Erschöpfung lacht“. Umgekehrt hat Weinen eine schmerzlindernde Wirkung und spendet auf diese Weise Trost (Anth 7:255, 262). „Vergnügen ist das Gefühl der Beförderung; Schmerz das einer Hinderniß des Lebens“ (Anth 7:231) – da Kant zufolge „Leben aber […] ein continuirliches Spiel des Antagonismus von beiden“ ist, stärken Lachen und Weinen die Lebenskraft: „Beide […], das Lachen und das Weinen, heitern auf; denn es sind Befreiungen von einem Hinderniß der Lebenskraft durch Ergießungen.“ (Anth 7:255) Wer deshalb allerdings glaubt, Männer dürften weinen, liegt bei Kant ganz falsch: Lachen ist männlich, Weinen dagegen weiblich (beim Manne weibisch), und nur die Anwandlung zu Thränen und zwar aus großmüthiger, aber ohnmächtiger Theilnehmung am Leiden Anderer kann dem Mann verziehen werden, dem die Thräne im Auge glänzt, ohne sie in Tropfen fallen zu lassen, noch weniger sie mit Schluchzen zu begleiten und so eine widerwärtige Musik zu machen. (Anth 7:255 f.)
Die Stärkung der Lebenskraft wirkt sich nach Kant jedoch nicht nur auf die körperliche Gesundheit positiv aus. Sie bildet zweitens auch eine natürliche Gegenkraft zu Trägheit und Untätigkeit, die die soziale und moralische Entwicklung des Subjekts behindern. Um die „Thätigkeit des Menschen aufzufrischen“ seien „von Zeit zu Zeit stärkere Erregungen der Lebenskraft“ durchaus sinnvoll (Anth 7:274). Durch ihre belebende Wirkung tragen die Affekte dazu bei, die Passivität „der Gemächlichkeit und des Wohllebens“ (Anth 7:325) zu überwinden, die einer aktiven Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung der Menschheit entgegenstehen: Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch sein thierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr thätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen. (Anth 7:324 f.)
Bemerkenswerterweise ist Kant also der Auffassung, dass Affekte dabei helfen können, einen Prozess einzuleiten, der schließlich ihre erfolgreiche Bekämpfung ermöglichen soll (bzw. die Bekämpfung problematischer Affekte, die echte Hindernisse darstellen). Sie sind ein weder notwendiges, noch hinreichendes, offenbar aber nützliches „Übergangsmittel“, das uns anstoßen kann, den mühsamen Weg aus der berühmten „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ anzutreten, die Kant in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? fordert. Unmündigkeit wird darin zu wesentlichen Teilen auf „Faulheit und Feigheit“ zurückgeführt: Es ist „so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der
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5. Affekte
für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurtheilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen“ (WA 8:35 m.H.).⁷⁴ Eine dritte positive Funktion von Affekten deutet Kant eher an, ohne dabei anzugeben, ob sie nur auf bestimmte Affekte zutrifft oder aber auf alle: Affekte können auch als Gegenmittel zu den moralisch sehr viel problematischeren Leidenschaften fungieren. Diese empirische These macht er an (aus heutiger Sicht durchgehend zweifelhaften) Pauschalisierungen nationaler Stereotypen fest: Wo viel Affect ist, da ist gemeiniglich wenig Leidenschaft; wie bei den Franzosen, welche durch ihre Lebhaftigkeit veränderlich sind in Vergleichung mit Italienern und Spaniern (auch Indiern und Chinesen), die in ihrem Groll über Rache brüten, oder in ihrer Liebe bis zum Wahnsinn beharrlich sind. – Affecten sind ehrlich und offen, Leidenschaften dagegen hinterlistig und versteckt. (Anth 7:252)
Viertens suggeriert Kant, dass Affekte die soziale und moralische Entwicklung des Subjekts nicht nur indirekt begünstigen können, indem sie Leidenschaften und dem Hang zur Faulheit entgegenwirken, sondern auch in einem direkteren Sinn positiv fördern. Im Kontext seiner Diskussion der Affekte in der Anthropologie nennt Kant dafür zwei Beispiele: Mitleid und ein herzliches, ungezwungenes Lächeln. Das Princip der Apathie: daß nämlich der Weise niemals im Affect, selbst nicht in dem des Mitleids mit den Übeln seines besten Freundes sein müsse, ist ein ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Affect macht (mehr oder weniger) blind. – Daß gleichwohl die Natur in uns die Anlage dazu eingepflanzt hat, war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen, nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung beizufügen. (Anth 7:253)
Kants Darstellung in dieser Passage erinnert erneut stark an Rousseau: Auch Rousseau begreift Mitleid (pitié) als natürliche „Stütze der Vernunft“; als eine natürliche Veranlagung, „die so schwachen und so vielen Übeln unterworfenen Wesen, wie wir es sind, angemessen ist: eine um so allgemeinere und dem Menschen um so nützlichere Tugend, als sie bei ihm jedem Gebrauch der Refle-
Damit ist vereinbar, dass Kant behauptet, auch eine natürliche Veranlagung zu Apathie könne der Moralität förderlich sein („[w]er damit begabt ist, der ist zwar darum eben noch nicht ein Weiser, hat aber doch die Begünstigung von der Natur, daß es ihm leichter wird als Anderen, es zu werden“) – allerdings fügt Kant hinzu, dass die „Naturgabe einer Apathie, bei hinreichender Seelenstärke […] das glückliche Phlegma (im moralischen Sinne)“ sei (Anth : m.H.). Ist die Seelenstärke nicht hinreichend ausgeprägt, um „Faulheit und Feigheit“ zu überwinden, kann die belebende Wirkung mancher Affekte nach Kant durchaus nützlich sein.
5.3 Positive Wirkungen
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xion vorangeht.“⁷⁵ Im Rahmen seiner eigenen Moraltheorie führt Kants Rede von Mitleid als einem „Surrogat der Vernunft“, das die „moralischen Triebfedern zum Guten“ provisorisch unterstützen könne, allerdings zu verschiedenen Interpretationsschwierigkeiten; im neunten Kapitel werde ich ausführlich auf diese Schwierigkeiten eingehen und aufzeigen, wie sie sich lösen lassen. Dennoch lohnt hier der Blick auf die zitierte Passage, da sie Kants ambivalente Haltung gegenüber Affekten deutlich zum Ausdruck bringt: Einerseits hält er fest, der Weise dürfe „niemals im Affect“ sein – was, wie ich gezeigt habe, keine emotionale Gleichgültigkeit impliziert; nicht jede Art von Gefühl, sondern nur der „blind“ machende Affekt wird zurückgewiesen. Trotzdem beurteilt Kant die natürliche Veranlagung zum Affekt des Mitleids positiv – sie sei „Weisheit der Natur“. Im neunten Kapitel schlage ich vor, die natürliche Veranlagung zu Mitleid als Ausgangsbasis für einen mehrdimensionalen Kultivierungsprozess zu verstehen, im Zuge dessen natürliches Mitleid in moralisches Mitgefühl transformiert wird. Hier genügt es festzuhalten, dass Kant dem Affekt des Mitleids eine positive Funktion für die moralische Charakterbildung prinzipiell zutraut. Auch in moralischer Hinsicht wird damit seine ausschließlich negative Beurteilung der Affekte in den zitierten Allsätzen deutlich relativiert. Eine Mischung aus somatischen und moralitätsfördernden Auswirkungen schreibt Kant dem ungezwungenen Lächeln bzw. dem Affekt der Fröhlichkeit zu: Das gutmüthige (offenherzige) Lachen ist (als zum Affect der Fröhlichkeit gehörend) gesellig, das hämische (Grinsen) feindselig. […] Kinder, vornehmlich Mädchen müssen früh zum freimüthigen, ungezwungenen Lächeln gewöhnt werden; denn die Erheiterung der Gesichtszüge hiebei drückt sich nach und nach auch im Inneren ab und begründet eine Disposition zur Fröhlichkeit, Freundlichkeit und Geselligkeit, welche diese Annäherung zur Tugend des Wohlwollens frühzeitig vorbereitet. (Anth 7:264 f.)
Dieses vage aristotelische Modell stellt die Erziehung zum ungezwungenen Lächeln an den Anfang eines mehrschrittigen Kultivierungsprozesses, der über eine zunächst äußere Gewöhnung eine innere Veränderung herbeiführt – die äußere Erheiterung der Gesichtszüge „drückt sich nach und nach auch im Innern ab“ und begründet damit eine echte innere Disposition zu Fröhlichkeit, Freundlichkeit und Geselligkeit. Für sich genommen ist diese habituell erworbene Disposition zwar nicht Ausdruck einer moralischen Gesinnung – die Kant zufolge auf dem moralischen Gesetz als oberstem Handlungsgrundsatz beruhen muss –, aber doch eine nützliche Disposition, um sich der moralischen „Tugend des Wohlwollens“ anzunähern.
Rousseau , S. , .
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5. Affekte
5.4 Die Veränderbarkeit affektiver Reaktionsmuster Die Untersuchung von Kants Diskussion konkreter Affekte hat gezeigt, dass er nicht nur nicht alle Gefühle, sondern auch nicht alle Affekte (als einem Teilbereich der Gefühle) negativ beurteilt. Die dargelegten positiven Wirkungszuschreibungen stehen offensichtlich im Widerspruch zu der rein negativen Beurteilung, die Kants abwertende Allsätze und seine drastischen Metaphern zum Ausdruck bringen. Aus moralanthropologischer Perspektive ist dieser Widerspruch deshalb interessant, weil es die Darstellungen einzelner Affekte und konkreter Wirkungen sind, die Kants generelle Thesen über Affekte in Frage stellen. In dem Augenblick, in dem sich Kant gemäß dem Anspruch seiner moralischen Anthropologie wirklich um eine konkrete Erfassung der verschiedenen Affektphänomene bemüht, wird seine negative Haltung deutlich relativiert. Implizit spricht er nun in verschiedenen Bedeutungen von Affekt: Es gibt nicht mehr nur Affekte, die die Kontrolle der Vernunft verhindern, sondern auch solche, die sich kontrollieren lassen und positive Wirkungen haben. Wenn er bestimmten Affekten eine antreibende, belebende und sogar moralitätsfördernde Wirkung zuerkennt, kommt dies gegenüber der selbst vorgenommenen Abwertung einer zumindest partiellen Rehabilitierung gleich. Man könnte Kant seine uneinheitliche Verwendung des Affektbegriffs vorwerfen. Ich deute die identifizierten Spannungen dagegen positiv: Sie rühren offenbar daher, dass Kant um eine angemessene begriffliche Erfassung emotionaler Phänomene ringt. Genau damit demonstriert er, wie wichtig sie für den anwendungsorientierten Teil seiner Ethik sind. Hinzufügen lässt sich, dass Kants Auffassung von Affekten durch das Nebeneinander von positiven und negativen Wirkungszuschreibungen an Überzeugungskraft gewinnt: Dieses Nebeneinander wird zwar nicht spannungsfrei beschrieben, der realen Vielfalt von Affekten und ihren Wirkungen aber sicher besser gerecht als seine negativen Allsätze. Wie ich argumentiert habe, verfolgt Kant mit seiner Analyse den praktischen Zweck, einen vernünftigen Umgang mit emotionalen Hindernissen zu fördern. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er sich überwiegend mit den negativen Auswirkungen von Affekten beschäftigt. Umso auffälliger aber ist es, dass er ihre positiven Wirkungen überhaupt diskutiert. Ich habe vorgeschlagen, vier solcher positiven Wirkungszuschreibungen zu unterscheiden – sie alle sind Wirkungen von Affekten empirischen Ursprungs. Überraschend nennt Kant manchmal jedoch auch solche Gefühle Affekte, die ihren Ursprung in der Vernunft haben: So schreibt er etwa, dass „die Vernunft in Vorstellung des Moralisch-Guten durch Verknüpfung ihrer Ideen mit Anschauungen (Beispielen) […] nicht als Wirkung, sondern als Ursache eines Affects in Ansehung des Guten seelenbelebend sein [kann], wobei […] ein Enthusiasm des guten Vorsatzes bewirkt wird“(Anth 7:254 m.H.). Ebenso wird auch Mut – nicht als natürliche Veranlagung, sondern als
5.4 Die Veränderbarkeit affektiver Reaktionsmuster
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Ausdruck einer moralischen Einstellung – als ein Affekt bezeichnet, der durch Vernunft verursacht und deshalb echte Tugendstärke sei: Der Muth als Affect (mithin einerseits zur Sinnlichkeit gehörend) kann aber auch durch Vernunft erweckt und so wahre Tapferkeit (Tugendstärke) sein. […] Es gehört nämlich zur Entschlossenheit etwas, was die Pflicht gebietet selbst auf die Gefahr der Verspottung von Anderen zu wagen, sogar ein hoher Grad von Muth, weil Ehrliebe die beständige Begleiterin der Tugend ist, und der, welcher sonst wider Gewalt hinreichend gefaßt ist, doch der Verhöhnung sich selten gewachsen fühlt, wenn man ihm diesen Anspruch auf Ehre mit Hohnlachen verweigert. (Anth 7:258)
Wenn Affekte wie der moralische Mut Reaktionen auf vernünftige Überzeugungen sein können, dann muss es nach Kant auf längere Sicht möglich sein, die eigenen affektiven Reaktionsmuster aktiv zu beeinflussen. Welche Qualität und Stärke unsere Affekte haben, hat nicht nur etwas mit empirisch-kontingenten Veranlagungen und ebenso kontingenten Umständen zu tun, unter denen diese Veranlagungen aktualisiert werden, sondern auch mit Einstellungen und Dispositionen, die wir zumindest teilweise willentlich beeinflussen können. Michael Hampe spricht in diesem Zusammenhang von einer Plastizität der menschlichen Natur: Dass Menschen veränderbar sind, […] dass zornige sich in mitleidvolle, friedfertige in aggressive, süchtige in besonnene und naive in süchtige Personen verwandeln können, belegt die Plastizität der menschlichen Natur.⁷⁶
Auch wenn Affekte in konkreten Situationen „überfallartig“ eintreten mögen, impliziert dies also nicht, dass sie rein passive Widerfahrnisse sind. Das Konzept „vernunftgewirkter“ Affekte und der Gedanke einer Erziehung zum offenen Lächeln, die eine echte innere Disposition zu Fröhlichkeit und Geselligkeit bewirkt, die sich ihrerseits in entsprechenden Affekten zeigt, verweisen darauf, dass Kant neben der akuten Affektkontrolle durch Selbstbeherrschung längerfristig auch die Möglichkeit einer Transformation der affektiven Reaktionsmuster selbst einräumt.
Hampe , S. .
6. Leidenschaften Kants Urteil über die Affekte ist ambivalent. Sein Urteil über die Leidenschaften fällt dagegen eindeutig negativ aus: Sie sind „ohne Ausnahme böse“.⁷⁷ Entschieden wendet er sich gegen ihre Apologeten und hält unmissverständlich fest, dass den Leidenschaften nicht einmal provisorisch irgendeine positive Funktion eingeräumt werden darf (Anth 7:267). In sachlicher Perspektive wird diese pauschale Verurteilung der Vielschichtigkeit und den positiven Wirkungen verschiedener Leidenschaften – etwa ihren belebenden und motivierenden Effekten – sicher nicht gerecht. Überraschend schließt sich Kant jedoch nicht ohne weiteres der traditionellen Verdammung der Leidenschaften an, sondern begründet detailliert, was sie zu gefährlichen Hindernissen für eine moralische und auch prudentielle Lebensführung macht. Eine genaue Auseinandersetzung mit dieser Begründung zeigt, dass der Begriff der Leidenschaft bei Kant ein terminus technicus ist, dessen Bedeutung viel enger gefasst ist als in konventionellen Begriffsverwendungen. Viele der klassischen Passionen wie Furcht, Zorn und Traurigkeit zählen bei Kant etwa nicht zu den Leidenschaften, sondern zu den Affekten.⁷⁸ Der Begriff der Leidenschaft ist für ein spezifisches Zusammenspiel von Vernunft und Sinnlichkeit reserviert. Leidenschaften sind eine Untergruppe maximenbasierter, dauerhafter Neigungen,⁷⁹ nämlich solche, die sich einer prudentiellen und moralischen Kontrolle der Vernunft widersetzen. Anders als bei der problematischen Gruppe von Affekten besteht der Kontrollverlust bei den Leidenschaften jedoch nicht darin, dass sie spontan auftreten und uns für kurze Zeit daran hindern, vernünftig nachzudenken. Er besteht vielmehr darin, dass sie den Prozess der Überlegung selbst korrumpieren und zwar mit dauerhafter Wirkung. Es ist diese anhaltende Korruption der Vernunft und nicht ihr sinnliches Moment, das die Leidenschaften in Kants Augen so problematisch macht. Der leidenschaftliche Akteur zeichnet sich dadurch aus, dass er der Maxime, seiner Leidenschaft zu folgen – etwa dem Verlangen nach Ruhm oder Macht oder auch beidem – uneingeschränkten Vorrang vor allen übrigen Handlungsgründen einräumt. Kant ergänzt seine allgemeinen Überlegungen zu den Leidenschaften durch eine ausführliche Betrachtung konkreter Beispiele. Gemäß seinen Ansprüchen an eine angemessene anthropologische Untersuchung demonstriert er, am Beispiel konkreter Leidenschaften und gestützt durch subtile psychologische
Nur der Habsucht spricht Kant erstaunlicherweise einen Ausnahmestatus zu; vgl. Abschnitt .. „Habsucht“. Vgl. Newmark , S. . Vgl. Kapitel „Begriffliche Voraussetzungen“.
6. Leidenschaften
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Beobachtungen, Strukturelemente und Funktionsweisen des leidenschaftlichen Vernunftmissbrauchs. Im Folgenden werde ich zunächst Kants allgemeine Konzeption der Leidenschaften erläutern und die komplexe Strategie der Selbsttäuschung herausarbeiten, die ihre Gefährlichkeit bedingt (6.1– 6.2). Anschließend werde ich seine Analyse konkreter Leidenschaften diskutieren und dabei sowohl die Stärken als auch die Schwächen dieser Analyse aufzeigen (6.3.–6.4). Der Blick auf die einzelnen Leidenschaften lohnt im Rahmen der hier angestellten Untersuchung doppelt: Kants Darstellungen geben ausführlich Aufschluss über grundlegende psychologische Elemente seines Menschenbilds und zugleich darüber, welche konkreten Hindernisse den Prozess moralischer Charakterbildung behindern. Wie ich zeigen werde, hat die Problematik der Leidenschaften bei Kant drei Dimensionen: eine prudentielle, eine moralische und eine moralanthropologische. In prudentieller Perspektive sind die Leidenschaften in zweifacher Hinsicht unklug. Eine einseitige Fixierung auf die jeweilige Leidenschaft führt erstens zu einer Vernachlässigung aller übrigen Interessen und Bedürfnisse. Zweitens kann sie – wie sich Kants Darstellung von Ehrsucht und Herrschsucht entnehmen lässt – so ausgeprägt sein, dass der leidenschaftliche Akteur sogar den Zweck seiner Leidenschaft verfehlt. Wer etwa leidenschaftlich nach Ruhm strebt, läuft nach Kant Gefahr, sich lächerlich zu machen und statt Ruhm nur Spott zu ernten. Auch läuft er Gefahr, dass andere seine Ruhmsucht als eine Schwäche erkennen, die sie für ihre Zwecke nutzen können. Besonders wichtig für Kant sind die beiden moralischen Problematiken der Leidenschaften: Wir sind nach Kant moralisch verpflichtet, alle unsere subjektiven Interessen dem moralischen Gesetz unterzuordnen. Das bedeutet, wir dürfen unsere subjektiven Interessen nur so weit verfolgen, wie sie moralisch zulässig sind, und müssen uns im Konfliktfall immer für das moralisch Gebotene entscheiden. Der leidenschaftliche Akteur ist darüber definiert, diese Entscheidung anders zu treffen: Er ordnet seine Leidenschaft dem moralischen Gesetz nicht unter, sondern setzt sie als wichtiger. Er verletzt also die nach Kant gebotene Rangordnung der Handlungsgründe und damit seine moralische Pflicht. Kants Definition der Leidenschaft vorausgesetzt, folgt ihre Verurteilung deshalb zwangsläufig aus seiner Konzeption der Moral. Bei Kant lässt sich jedoch noch eine weitere moralische Problematik der Leidenschaften finden, die sich nicht aus seiner Moralkonzeption deduzieren lässt. Sie kommt erst im Rahmen seiner moralanthropologischen Untersuchung in den Blick und wird im Rekurs auf psychologische Überlegungen begründet. Kant ist der Auffassung, dass jeder Mensch das Anliegen hat, sich als moralischer Akteur zu verstehen. Für den leidenschaftlichen Akteur ist jedoch genau dieses Anliegen ein Problem, denn der moralische Selbstanspruch konkurriert mit dem Prioritätsanspruch seiner Leidenschaft. Die Diskrepanz zwischen Leidenschaft
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6. Leidenschaften
und moralischem Selbstanspruch setzt deshalb psychologisch einen starken Anreiz zur Selbsttäuschung, nämlich dazu, die Leidenschaft – vor sich und anderen – moralisch berechtigt erscheinen zu lassen. Dieser Akt der Selbsttäuschung trägt maßgeblich zur Verfestigung der Leidenschaften bei.
6.1 Leidenschaft und Unvernunft Kant definiert Leidenschaften als dauerhafte Neigungen, die „pragmatisch verderblich“ (was in diesem Zusammenhang prudentiell unklug bedeutet⁸⁰) und „moralisch verwerflich“ sind (Anth 7:267). Sie beruhen, im Gegensatz zu Affekten, auf beständigen Maximen, d. h. auf subjektiven Prinzipien, die typischerweise die Form haben: Um Zweck Z zu erreichen, führe ich in Situationen des Typs S Handlungen des Typs H aus.⁸¹ Leidenschaften richten sich auf empirische Zwecke, enthalten jedoch immer ein reflektierendes, strategisches Moment: Leidenschaft setzt immer eine Maxime des Subjects voraus, nach einem von der Neigung ihm vorgeschriebenen Zwecke zu handeln. Sie ist also jederzeit mit der Vernunft desselben verbunden, und bloßen Thieren kann man keine Leidenschaften beilegen, so wenig wie reinen Vernunftwesen. (Anth 7:266)
Kants Formulierung, das Subjekt mache es sich zur Maxime „nach einem von der Neigung ihm vorgeschriebenen Zwecke zu handeln“, ist etwas unglücklich: Eine grundlegende These seiner Moralkonzeption lautet schließlich, dass das Subjekt durch keine sinnliche „Triebfeder“ dazu gezwungen werden kann, sich diese zum Zweck zu machen und sie in seine Maxime aufzunehmen – Zwecke schreibt es sich nur selbst vor (vgl. MS 6:380). Die definitorische Feststellung, dass Leidenschaften auf beständigen Maximen beruhen, bedeutet gerade, dass das Subjekt ihre Entstehung selbst zu verantworten hat. Denn, wie Henry E. Allison treffend formuliert, „all maxims are subjective in the sense that they are policies that rational agents freely adopt.They are, in short, self-imposed products of choice (Willkür) or, as Kant in one place puts it in the Groundwork, self-imposed rules (sich selbst
Zu Kants mehrdeutiger Verwendung des Begriffs „pragmatisch“ vgl. S. f. Vgl. Allison , S. f. und Timmermann , S. f.; beide diskutieren auch die verschiedenen Interpretationsschwierigkeiten, die Kants Maximenbegriff aufwirft. Mit Timmermann unterscheide ich drei Bedeutungen des Maximenbegriffs: Maximen erster Stufe, höherstufige Maximen und feste Grundsätze, vgl. Abschnitt . „Verschiedene Charakterbegriffe“.
6.1 Leidenschaft und Unvernunft
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auferlegte Regeln) (Gr 4:438; 105). One does not simply have a maxim, one makes something one’s maxim“.⁸² Nach Kant sind Leidenschaften also „jederzeit mit Vernunft verbunden“, doch der Gebrauch der Vernunft im Dienste der Leidenschaften ist in mehrfacher Hinsicht unvernünftig. Kant begreift Leidenschaften als übersteigerte Neigungen, durch die sich das Subjekt sowohl daran hindert, sie „mit der Summe aller [seiner] Neigungen zu vergleichen“ (Anth 7:265) als auch die Forderungen der Moral einzulösen. Es betrachtet den empirischen Zweck, auf den sich seine Leidenschaft richtet, als wichtigstes Handlungsziel und ordnet ihm alle übrigen Handlungsziele unter. Damit erhebt es zur Maxime, der Verfolgung seiner Leidenschaft uneingeschränkten Vorrang vor allen anderen Handlungsgründen zu geben. Dieser Vorrang ist Kant zufolge weder mit den subjektiven⁸³, lediglich anratenden Klugheitsregeln prudentieller Vernunft vereinbar („pragmatisch verderblich“) noch mit den objektiven, verbindlichen Prinzipien der moralisch-praktischen Vernunft („moralisch verwerflich“). Er widerspricht erstens der prudentiellen Empfehlung, alle Neigungen miteinander zu vergleichen und so gegeneinander abzuwägen, dass sie im Ganzen betrachtet größtmögliches Glück versprechen. In seiner Fixierung auf die Leidenschaft wird das Subjekt blind für seine übrigen Bedürfnisse und übersieht selbst elementare Bedingungen des eigenen Glücks (Anth 7:266). Diese Diagnose lässt grundsätzlich die Möglichkeit offen, dass der leidenschaftliche Akteur zumindest in dem Sinne vernünftig ist, dass er den Zweck seiner Leidenschaft mit geeigneten Mitteln verfolgt.⁸⁴ Doch mit seiner Analyse von Ehrsucht und Herrschsucht zieht Kant auch das in Zweifel: Der Ehrsüchtige und der Herrschsüchtige tendieren seiner Auffassung nach dazu, Mittel zu ergreifen, die für ihre Zwecke ungeeignet sind, sodass sie nicht nur ihr Glück im Ganzen verfehlen, sondern selbst noch den Zweck ihrer jeweiligen Leidenschaft.⁸⁵ Vor allem aber läuft diese Prioritätensetzung zweitens der moralischen Verpflichtung zuwider, sich die Vereinbarkeit mit dem moralischen Gesetz zur ausnahmslosen Bedingung der Verwirklichung persönlicher Interessen zu machen. Nach Kant dürfen wir unsere Neigungen nur soweit verfolgen, wie es das mora Allison , S. . Klugheitsregeln sind nach Kant „subjektiv“ und trotzdem allgemein: Sie sind allgemeine Regeln der Zweckrationalität, die angeben, auf welche Weise ein Subjekt seine empirisch bedingten Absichten systematisch ordnen und verfolgen sollte, um sein persönliches Glück zu fördern. Da Klugheitsregeln jedoch nur relativ zu den empirischen Absichten des Subjekts gelten, bezeichnet Kant sie als hypothetisch-assertorische Imperative mit bedingter – und in diesem Sinne: subjektiver – Gültigkeit; vgl. GMS : – . Diese Form des instrumentellen Vernunftgebrauchs heißt bei Kant Geschicklichkeit (vgl. GMS : f.). Vgl. Abschnitte .. „Ehrsucht“ und .. „Herrschsucht“.
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6. Leidenschaften
lische Gesetz erlaubt. Das allgemein verbindliche Prinzip der Moral verpflichtet uns, ihm alle unsere persönlichen Interessen unterzuordnen. Lassen wir zu, dass eine Neigung zur Leidenschaft wird, passiert jedoch genau das Gegenteil: Der Zweck, auf den die betreffende Leidenschaft sich richtet, wird dem Motiv der Pflicht nicht unter-, sondern übergeordnet; es kommt zu einer „Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür“ (RGV 6:50). Aufgrund dieser pflichtwidrigen „Verkehrung“ sind nach Kant alle Leidenschaften ohne Ausnahme „böse“ (Anth 7:267; vgl. RGV 6:33, 36, 93 f.): Selbst eine Leidenschaft zum Wohlwollen ist nach Kant moralisch abzulehnen, weil sie, wie alle Leidenschaften, auf einer verkehrten Hierarchisierung der Handlungsgründe beruht (Anth 7:267).⁸⁶ Leidenschaften stellen sich bei Kant als ein Verlust von innerer Freiheit und Selbstbeherrschung dar, den wir moralisch selbst zu verantworten haben: Der Affect thut einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst. Die Leidenschaft giebt sie auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn. (Anth 7:267; vgl. KU 5:272)
Setzt aber moralische Verantwortung für den Freiheitsverlust nicht Freiheit voraus? Wie können wir zugleich „Sklaven“ unserer Leidenschaft sein und für sie verantwortlich? Die Gleichzeitigkeit von Verantwortung und Freiheitsverlust wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Kant den Freiheitsverlust als Folge einer freien Entscheidung konzipiert: Leidenschaften beruhen auf Maximen, die frei gewählt und gewichtet werden, sodass der leidenschaftliche Freiheitsverlust ein selbst gewählter ist, den das Subjekt mit all seinen Konsequenzen zu verantworten hat, auch wenn es diese im Einzelnen nicht mehr zu kontrollieren vermag. Wie Kant sich die Gleichzeitigkeit von Verantwortung und fehlender Kontrolle vorstellt, verdeutlicht folgende Analogie: Wer in einer Situation, in der man normalerweise hätte bremsen können, unter Alkoholeinfluss einen Hund überfährt, wird dafür in der Regel auch dann moralisch verantwortlich gemacht, wenn ihm in
In der Anthropologie heißt es, alle Leidenschaften sind „der Form nach“ böse bzw. moralisch verwerflich (Anth :) – worin das formale Kriterium der Bösartigkeit besteht, erläutert Kant in der Religionsschrift: „Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht. Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: […er macht] die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes […], da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.“ (RGV : m.H.) Vgl. Abschnitt . „Verschiedene Charakterbegriffe“.
6.1 Leidenschaft und Unvernunft
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der konkreten Situation die nötige Kontrolle über sein Auto fehlte. Wir erwarten, dass der Fahrer im betrunkenen Zustand auf das Autofahren verzichtet – oder, wenn er sich die Entscheidung gegen das Autofahren im betrunkenen Zustand nicht zutraut, dass er sich entweder nicht betrinkt oder sein Auto von vornherein zu Hause lässt. Auch mit Blick auf die Leidenschaften nach Kant gibt es einen vergleichbaren Übergang von einer kontrollierbaren zu einer nicht mehr kontrollierbaren Phase. Um zu verhindern, dass eine Neigung zur unkontrollierbaren Leidenschaft wird, sind wir nach Kant verpflichtet, unsere Neigungen zu prüfen und denjenigen von ihnen entgegenzuwirken, die zu einer leidenschaftlichen Ausprägung tendieren. Gerade weil, wie Kant mehrfach betont, die Gefahr besteht, dass die Leidenschaft zur „Sucht“ oder zur „unheilbaren Krankheit“ wird, müssen rechtzeitig präventive Maßnahmen ergriffen werden. Die Gefahr eines leidenschaftsbedingten Kontroll- bzw. Freiheitsverlustes ist Kant zufolge insofern eine selbstverantwortete Gefahr, als das Subjekt selbst wählt, seiner Leidenschaft uneingeschränkten Vorrang zu geben. Ich habe dafür argumentiert, dass hier der Grund dafür liegt, warum Kant seine Warnung vor den Leidenschaften in besonders drastischen Bildern ausdrückt.⁸⁷ Alle diese Bilder dokumentieren den Verlust innerer Freiheit: Kant spricht von Sucht, Ketten, Sklaverei, unheilbarer Krankheit und Wahnsinn (Anth 7:253, 265, 266, 267, 274, 275). Über diese drastischen Metaphern geht Kant nun aber noch hinaus, wenn er betont, dass es sich bei den Ketten um selbstangelegte Ketten handelt und bei der Versklavung um eine Selbst-Versklavung. Dadurch wird die „Krankheit“ zu einem Zustand, der selbstverschuldet ist und, im Extremfall, unumkehrbar – das leidenschaftliche Subjekt will nicht geheilt werden: Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrentheils unheilbar: weil der Kranke nicht will geheilt sein und sich der Herrschaft des Grundsatzes entzieht, durch den dieses allein geschehen könnte. (Anth 7:266 m.H.)
Kant stellt in diesem Zusammenhang die bemerkenswerte These auf, dass der leidenschaftliche „Kranke“ zwar nicht geheilt werden will, aber trotzdem unglücklich ist: Weil indessen die Vernunft mit ihrem Aufruf zur innern Freiheit doch nicht nachläßt, so seufzt der Unglückliche unter seinen Ketten, von denen er sich gleichwohl nicht losreißen kann: weil sie gleichsam schon mit seinen Gliedmaßen verwachsen sind. (Anth 7:267)
Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist es ausgerechnet der Wunsch, moralisch zu sein, der sowohl das Unglück des leidenschaftlichen Subjekts als auch die Tendenz
Vgl. Abschnitt . zur Metaphorik.
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6. Leidenschaften
zur Unheilbarkeit seiner Leidenschaft bedingt. Beide Hypothesen mögen zunächst überraschen. Hält Kant in der zitierten Passage nicht ausdrücklich fest, dass sich das leidenschaftliche Subjekt der Herrschaft des Grundsatzes entzieht, der allein seine Heilung bewirken könnte; des Grundsatzes nämlich, das moralische Gesetz zu befolgen und die dafür nötige Selbstbeherrschung aufzubringen? Doch Kant zufolge kann das Subjekt die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes nicht ignorieren: Wer die nötige Selbstbeherrschung nicht aufbringt, wird durch den beharrlichen „Aufruf“ der Vernunft zu innerer Freiheit unvermeidlich daran erinnert, dass er sie aufbringen sollte. Kant behauptet, dass kein „Mensch (selbst der ärgste) […], in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz […] gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht [tut]. Dieses dringt sich ihm vielmehr kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf“ (RGV 6:36, vgl. MS 6:438). Als vernunftbegabte Wesen können wir Kant zufolge dem moralischen Gesetz gegenüber nicht völlig gleichgültig sein. Als allgemeingültige These erscheint dies zu stark; richtig aber ist, dass die meisten Menschen zumindest basale moralische Überzeugungen haben, gegen die sie nicht guten Gewissens verstoßen können (wenn es auch unter extremen Bedingungen möglich ist, etwa im Krieg, jede Vorstellung moralischer Integrität zu verlieren). Es fällt deshalb leicht, sich vorzustellen, dass das leidenschaftliche Subjekt in einem inneren Konflikt befangen ist, der aus der Unvereinbarkeit seiner Leidenschaft mit seinen moralischen Überzeugungen resultiert. Nach Kant ist dieser Konflikt unvermeidlich: Die einseitigen, subjektiven Ansprüche der Leidenschaft werden durch die objektiven Forderungen der moralisch-praktischen Vernunft fortlaufend in Frage gestellt. Da das Subjekt seine Leidenschaft aber so weit verinnerlicht hat, dass sie ihm geradezu zur zweiten Natur geworden ist („mit seinen Gliedmaßen verwachsen“), ist es kaum mehr in der Lage, die Forderungen der Vernunft einzulösen. Das Unglück, das dieser Konflikt bedeutet, ist also nicht identisch mit der bereits dargestellten Form des Unglücks, das aus der leidenschaftsbedingten Vernachlässigung aller übrigen subjektiven Interessen resultiert; ein Unglück, das man insofern als „prudentielles Unglück“ bezeichnen kann, als es mit der Nichtbeachtung der Ratschläge prudentieller Vernunft zusammenhängt. Die hier aufgezeigte zweite Form des Unglücks ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass die verbindlichen Forderungen der moralisch-praktischen Vernunft missachtet werden. Aufgrund des beharrlichen „Aufrufs“ der Vernunft zu innerer Freiheit ist sich das leidenschaftliche Subjekt dieser Missachtung schmerzlich bewusst. Nennen wir diese Form des Unglücks deshalb „moralisches Unglück“: Es äußert sich als eine tiefe innere Zerrissenheit zwischen der als berechtigt anerkannten moralischen Forderung nach Selbstbeherrschung einerseits und der damit unvereinbaren, aber bereits eingelösten Forderung der Leidenschaft andererseits, sich eben nicht zu beherrschen und ihrer Befriedigung absoluten
6.1 Leidenschaft und Unvernunft
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Vorrang einzuräumen. Dieses moralische Unglück wiederum gibt dem Subjekt einen Anlass, die Kluft zwischen den Forderungen der moralisch-praktischen Vernunft und den Forderungen seiner Leidenschaft durch eine Strategie der Selbsttäuschung in Form einer vermeintlichen Moralisierung seiner Leidenschaft zu überbrücken: Die normative Differenz zwischen beiden wird durch „Vernünfteln“ (Anth 7:265) scheinbar aufgehoben und die moralwidrige Maxime der Leidenschaft als ein Handlungsgrund ausgegeben, der moralisch gerechtfertigt ist. In einer vielzitierten Passage der Grundlegung (in der Kant über Neigungen allgemein, nicht aber über Leidenschaften spricht), definiert er das Vernünfteln als den Versuch, die strikte Verbindlichkeit moralischer Pflichten zu Gunsten von Bedürfnissen und Neigungen in Zweifel zu ziehen: Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Vernunft so hochachtungswürdig vorstellt, an seinen Bedürfnissen und Neigungen, deren ganze Befriedigung er unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt. Nun gebietet die Vernunft, ohne doch dabei den Neigungen etwas zu verheißen, unnachlaßlich […] ihre Vorschriften. Hieraus entspringt aber eine natürliche Dialektik d.i. ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und sie wo möglich unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen. (GMS 4:405)
Auch in Bezug auf die Leidenschaften, wie sie Kant in der Anthropologie diskutiert, dient das Vernünfteln dem Ausgleich mächtiger Gegengewichte. Kants Beispiele handeln aber nicht von einer Abwertung der Pflicht, sondern, im Gegenteil, von einer Aufwertung der Leidenschaft. Der vergebliche Versuch, die Forderungen der moralisch-praktischen Vernunft mit denen der jeweiligen Leidenschaft zu vereinbaren, zielt nicht darauf ab, die normative Kraft moralischer Pflichten herunterzuspielen oder ihre „Reinigkeit und Strenge“ zu bezweifeln, sondern setzt bei den Leidenschaften an: Der leidenschaftliche Akteur modifiziert nicht seine Vorstellung von Moral, sondern die Wahrnehmung seiner Leidenschaft. Vernünfteln bedeutet hier, den Forderungen der Leidenschaft ein Narrativ zu unterlegen, das sie moralisch berechtigt erscheinen lässt – Kant spricht von einer Leistung der Phantasie, die sich bestimmter Analogien bedient (Anth 7:269, 270, 275).⁸⁸ Analog kann das Vernünfteln auch dazu dienen, die Forderungen der Leidenschaft bloß prudentiell gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Auf diese Weise lässt sich zwar keine Vereinbarkeit mit den verbindlichen Forderungen der moralisch-praktischen Vernunft herstellen, aber immerhin ein (scheinbarer) Aus-
Ich danke Martin Sticker für den sehr guten Austausch zum Thema „Vernünfteln“ bei Kant.Vgl. van Ackeren und Sticker sowie Sticker , vgl. auch Guyer .
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6. Leidenschaften
gleich mit den Ratschlägen prudentieller Vernunft.⁸⁹ Im Vergleich zur scheinbaren moralischen Legitimierung der Leidenschaft kommt der prudentiellen in Kants System allerdings deutlich geringere Bedeutung zu: Eine bloß prudentielle Rechtfertigung (gleich ob nur scheinbar oder nicht) reicht nämlich nicht aus, um es auch nur so aussehen zu lassen, als ob der „Aufruf“ der Vernunft zu innerer Freiheit befolgt würde. Entscheidend ist in beiden Fällen, dass das leidenschaftliche Subjekt diesem Täuschungsmanöver selbst erliegt – das nämlich erlaubt es ihm, weiterhin primär seine Leidenschaft zu verfolgen und sich zugleich als moralische oder zumindest prudentiell-vernünftige Person zu verstehen. Die Legitimierung der Leidenschaft dient letztlich der Selbstlegitimierung als moralisches oder zumindest prudentiell-vernünftiges Subjekt. Sie zielt darauf ab, den moralischen bzw. prudentiellen Ansprüchen zu genügen, die das leidenschaftliche Subjekt selbst an sich stellt. Für diesen Versuch der Selbstlegitimierung bezahlt es allerdings einen hohen Preis: Es ist nicht mehr in der Lage, seine Leidenschaft als das zu erkennen, was sie Kant zufolge ist: Eine totalisierte Neigung, die eine moralisch- und prudentiell-vernünftige Berücksichtigung aller übrigen Handlungsgründe verhindert. Durch die Selbsttäuschung beraubt sich das leidenschaftliche Subjekt der grundlegenden epistemischen Bedingung innerer Freiheit – es hat sich vernünftelnd in den Dienst seiner Leidenschaft gestellt und damit die „Ketten der Sklaverei“ selbst angelegt. Es vermag sie aber nicht mehr als solche wahrzunehmen, da ihm seine Leidenschaft durch ihre Rationalisierung moralisch oder zumindest prudentiell gerechtfertigt erscheint. Aus diesem Grund ist die Leidenschaft „oft bis zum Wahnsinn heftig“ (Anth 7:271). Wahnsinn bzw. Wahn definiert Kant als „die innere praktische Täuschung, das Subjective in der Bewegursache für objectiv zu halten“ (Anth 7:274). Diese grundlegende Fehleinschätzung – nicht die unmittelbare Attraktivität des leidenschaftlich begehrten Gegenstands, Ereignisses oder Zustands – bedingt die Tendenz zur „unheilbaren“ Leidenschaft. Wer leidenschaftlich ist, will nicht geheilt werden, weil er nicht mehr in der Lage ist, seine innere Unfreiheit als solche zu erkennen.
Treffend schreibt Sussman: „Passions inconsistently borrow from the logic of both morality and self-love, managing to appear to be independent sources of practical reasons even though they do not constitute a truly coherent ground of value.“ (Sussman , S. )
6.2 Unbewusste Elemente der Selbsttäuschung
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6.2 Unbewusste Elemente der Selbsttäuschung Mit dem aktiven Verb „vernünfteln“ trägt Kant seiner These Rechnung, dass wir den leidenschaftsbedingten Verlust innerer Freiheit selbst zu verantworten haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es sich bei der uneingeschränkten Priorisierung der Leidenschaft und ihrer scheinbaren Legitimierung um vollständig bewusste Prozesse handelt. Bereits viele Jahrzehnte vor der expliziten Thematisierung des Unbewussten durch Eduard von Hartmann⁹⁰, Pierre Janet⁹¹ und insbesondere Sigmund Freud⁹² stellt Kant die subtile psychologische Beobachtung an, dass es sich bei der vernünftelnden Selbstlegitimierung um einen Prozess der Selbsttäuschung handelt, der (teilweise) unbewusst verläuft. Die Selbsttäuschung kann nur gelingen, wenn das Subjekt nicht alle Schritte der scheinbaren Angleichung von Vernunft und Leidenschaft durchschaut.Vor allem darf ihm nicht hinlänglich bewusst sein, dass es sich um eine scheinbare Angleichung handelt. Es mag dies zwar ahnen, wenn es durch die Vernunft zu innerer Freiheit aufgerufen wird – nach Kant kann die Selbsttäuschung nie so umfassend sein, dass der „bezauberte Mensch die Gründe wider seine Lieblingsneigung“ nicht mehr sieht (VKK 2:261). Doch das resultierende „moralische Unglück“ verstärkt die Tendenz noch, gegen eben diese Gründe zu vernünfteln und mit etwas Übung in der Selbstlegitimierung durch Scheingründe mag es dem leidenschaftlichen Subjekt gelingen, sich abzulenken und diese Ahnung zu verdrängen.⁹³ Die besonders große Gefahr der Leidenschaften für moralisches Handeln geht also nicht von ihrem sinnlich-empirischen Moment aus – den zugrunde liegenden
Philosophie des Unbewussten, Hartmann (Erstauflage ). L’automatisme psychologique, Janet (Erstauflage ). Die Traumdeutung, Freud (Erstauflage ); Das Ich und das Es, Freud (Erstauflage ). Gegenstück des „Aufrufs“ zu innerer Freiheit ist bei Kant die „Stimme“ des Gewissens. Auch sie kann verdrängt, aber nicht überhört werden: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten […] Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es in seiner äußersten Verworfenheit allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht vermeiden.“ (MS : m.H.,vgl. MS :). Auf die verschiedenen Bedeutungen des Gewissensbegriffs bei Kant kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; dennoch lässt sich festhalten, dass der „Aufruf“ der Vernunft und die „Stimme“ des Gewissens nicht nur rhetorisch, sondern auch inhaltlich aufeinander bezogen sind: In beiden Fällen ruft sich das Subjekt selbst durch seine Vernunft zur Pflichterfüllung auf; und die Leidenschaften sind für Kant ohne Zweifel Fälle „äußerster Verworfenheit“.
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6. Leidenschaften
Neigungen – sondern von ihrem rationalen Moment: Sie geht aus von der Strategie, die Leidenschaft vernünftelnd zu einem Handlungsgrund aufzuwerten, der moralisch oder zumindest prudentiell gerechtfertigt erscheint. Kants ablehnende Haltung gegenüber den Leidenschaften richtet sich gegen diese Strategie – dezidiert nicht gegen ihr sinnlich-empirisches Moment; denn die „Sinne betrügen nicht. Dieser Satz ist die Ablehnung des wichtigsten, aber auch, genau erwogen, nichtigsten Vorwurfs, den man den Sinnen macht“ (Anth 7:146). In Abgrenzung zu den Stoikern argumentiert Kant deshalb dafür, dass der wahre „Feind“ einer moralischen Gesinnung nicht in den sinnlichen Momenten der Neigungen zu suchen ist, sondern sich „gleichsam unsichtbar hinter der Vernunft“ verbirgt und eben „darum desto gefährlicher“ ist.⁹⁴ Während Affekte und einige Neigungen offen zutage treten, sind Leidenschaften als eine bestimmte Gruppe von Neigungen „hinterlistig und versteckt“ und können gerade deshalb tiefe Wurzeln schlagen (Anth 7:252, MS: 6:408): Aber jene wackern Männer [die Stoiker] verkannten doch ihren Feind, der nicht in den natürlichen, bloß undisciplinirten, sich aber unverhohlen jedermanns Bewußtsein offen darstellenden Neigungen zu suchen, sondern ein gleichsam unsichtbarer, sich hinter Vernunft verbergender Feind und darum desto gefährlicher ist. Sie boten die Weisheit gegen die Thorheit auf, die sich von Neigungen bloß unvorsichtig täuschen läßt, anstatt sie wider die Bosheit (des menschlichen Herzens) aufzurufen, die mit seelenverderbenden Grundsätzen die Gesinnung insgeheim untergräbt. (RGV 6:57)
Solche teilweise unbewussten Strategien der Selbstlegitimierung sind uns auch heute alles andere als fremd: Fanatische Hooligans kämpfen unter dem Slogan „Um uns loszuwerden, müsst ihr uns töten, denn Leidenschaft stirbt durch kein Verbot!“⁹⁵ gegen Stadionverbote in Folge gewaltsamer Ausschreitungen. Extreme Traditionalisten argumentieren unter Verweis auf ein stark überhöhtes Verständnis von Ehre, der „Ehrenmord“ sei ein legitimer, ja sogar notwendiger Akt. Und auch in weniger leidenschaftlichen Kontexten kommen die Strategien der vernünftelnden Selbstlegitimierung zur Anwendung: Viele Menschen erlauben sich etwa eine „moralische Auszeit“, nachdem sie in einer Weise gehandelt haben, die ihnen moralisch gut erscheint. Dahinter kann die mehr oder weniger explizite Auffassung stehen, das „moralische Soll“ mit der einen guten Tat für eine gewisse Zeit erfüllt zu haben oder der Eindruck, moralische und unmoralische Handlungen ließen sich miteinander verrechnen. So sind laut einer vielbeachteten Inwieweit Kant der stoischen Tugendkonzeption mit dieser Abgrenzung gerecht wird, spielt hier keine Rolle. Christoph Horn argumentiert, dass es sich um eine Missdeutung handelt, vgl. Horn , S. f. http://www.supside-kiel.net/index/?p=, abgerufen am . . .
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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psychologischen Studie Verbraucher nach dem Kauf von biologischen Produkten eher dazu bereit, sich unmoralisch zu verhalten, als nach dem Kauf konventioneller Produkte. Der Kauf von Bio-Produkten setzt offenbar Bedenken herab, andere zu bestehlen und zu betrügen.⁹⁶ Es lassen sich zahlreiche weitere Beispiele finden: Um unser soziales Gewissen zu beruhigen, kaufen wir keine allzu billigen Kleider mehr, die in Bangladesch genäht werden, sondern solche, die aus anderen Niedrigstlohnländern stammen (wodurch die Situation dort nicht besser und in Bangladesch eher noch schlimmer wird). Und um den Müll unserer Kapselkaffeemaschine zu kompensieren, kaufen wir Ökokaffeekapseln, die uns ein Produkt umweltfreundlich erscheinen lassen, das vor ein paar Jahren noch niemand brauchte.⁹⁷ Das Problem zieht sich offenbar durch die Jahrhunderte: In der philosophischen Tradition findet Kants Kritik am Vernünfteln in Platons spöttischen Angriffen auf die Sophisten einen frühen, polemischen Vorläufer.⁹⁸ Eine Metareflexion dieses Problems stellt der literarische Topos des moralisierenden Protagonisten dar, dessen unmoralische Motive durch die Erzählinstanz oder einfach durch die Handlungsabfolge offengelegt werden, von Shakespeares Polonius bis zu Heinrich Manns Untertan.
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften Kant selbst plausibilisiert seine allgemeinen Überlegungen zu den Leidenschaften anhand von Beispielen, die er der Tradition entlehnt. Er zeigt auf, wie das leidenschaftliche Subjekt seiner Leidenschaft, um sie aufzuwerten, den „Anstrich der Vernunft“ (Anth 7:270) verleiht, indem es sich auf gewisse Analogien stützt, die zwischen seiner Leidenschaft und moralisch oder prudentiell gerechtfertigten Handlungsgründen bestehen: zwischen sinnlicher Freiheitsvorstellung und moralischem Freiheitsbegriff, zwischen Rachbegierde und Rechtsbegierde, zwischen dem leidenschaftlichen Bestreben, andere Menschen zu Gunsten eigener Zwecke
„In line with the halo associated with green consumerism, results showed that people act more altruistically after mere exposure to green products than after mere exposure to conventional products. However, people act less altruistically and are more likely to cheat and steal after purchasing green products than after purchasing conventional products.“ (Mazar und Zhong ) Vgl. Welzer , S. . Der Gedanke der Selbstlegitimierung und des vermeintlichen Ausgleichs innerer Zerrissenheit spielt in Platons Kritik allerdings noch keine Rolle. Vgl. insbes. die Dialoge Menon (Platon ) und Sophistes (Platon ).
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6. Leidenschaften
manipulieren zu können (das sich als Habsucht, Herrschsucht oder Ehrsucht äußert) und prudentieller Klugheitsregel. Erst im Zuge dieser konkreten Analyse wird aus Kants allgemeiner Zurückweisung der Leidenschaften eine fundierte anthropologische Konzeption, die detailliert Auskunft gibt über die Zwecke, auf die sich Leidenschaften richten, über die sozialen und psychologischen Bedingungen ihrer Entstehung, ihre unterschiedlichen Ausprägungen und die Strategien, die herangezogen werden, um sie zu rechtfertigen. Kant unterscheidet zwei Arten von Leidenschaften. Demnach sind Leidenschaften entweder Auswüchse natürlicher bzw. angeborener⁹⁹ Neigungen oder Auswüchse erworbener Neigungen, die sozial und kulturell bedingt sind. Zur ersten Gruppe rechnet Kant in der Anthropologie die Leidenschaften zur Freiheit und zum „Geschlecht“, die er beide auf natürliche „Triebe“ zurückführt. Da beide mit Affekt einhergehen, werden sie als „erhitzte“ Leidenschaften (passiones ardentes) bezeichnet (Anth 7:268). Kant betont wiederholt, dass Leidenschaften „nur von Menschen auf Menschen gerichtete Neigungen sein können“ (Anth 7:270; vgl. 269, 410H). Der erste Teil dieser Behauptung – „von Menschen“ – lässt sich leicht verstehen: Weder Tiere noch reine Vernunftwesen können Leidenschaften haben. Da Leidenschaften immer auf beständigen Maximen beruhen, setzten sie ein rationales Vermögen voraus, das Tieren fehlt. Die Zwecke aber, auf die sich diese Maximen richten, sind empirische Zwecke, und da reine Vernunftwesen darüber definiert sind, keine empirischen Zwecke zu verfolgen, kann also nur der Mensch Leidenschaften haben. Schwieriger ist die Frage, warum sich Leidenschaften Kant zufolge auch nur „auf Menschen“ richten können, niemals „auf Sachen“ (Anth 7:268). Die deutlichste Auskunft dazu gibt die folgende Passage: Man sagt zwar von Menschen, daß sie gewisse Dinge leidenschaftlich lieben (den Trunk, das Spiel, die Jagd) oder hassen (z. B. den Bisam, den Brandwein): aber man nennt diese verschiedene Neigungen oder Abneigungen nicht eben so viel Leidenschaften, weil es nur so viel verschiedene Instincte, d.i. so vielerlei Blos-Leidendes im Begehrungsvermögen, sind H und daher nicht nach den Objecten des Begehrungsvermögens als Sachen (deren es unzählige giebt), sondern nach dem Princip des Gebrauchs oder Mißbrauchs, den Menschen von ihrer Person und Freiheit unter einander machen, da ein Mensch den Anderen blos zum Mittel seiner Zwecke macht, classificirt zu werden verdienen. – Leidenschaften gehen eigentlich nur auf Menschen und können auch nur durch sie befriedigt werden. (Anth 7:269)
Wie ich erläutert habe, zeichnen sich Leidenschaften nach Kant durch eine prudentiell unkluge und moralisch verwerfliche Priorisierung einzelner Neigungen
Die Rede von natürlichen bzw. angeborenen Leidenschaften bedeutet nicht, dass das Subjekt keine Verantwortung für sie trägt – für alle Leidenschaften gilt, dass sie auf selbst gewählten Maximen beruhen.
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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aus – wäre dies aber das einzige Kriterium, so könnte es Leidenschaften für die Jagd oder den Brandwein geben. Mit dem „Princip des Gebrauchs oder Mißbrauchs, den Menschen von ihrer Person und Freiheit unter einander machen, da ein Mensch den Anderen blos zum Mittel seiner Zwecke macht“, formuliert Kant nun ein zweites Kriterium: die missbräuchliche Instrumentalisierung seiner selbst oder anderer Menschen für die eigenen Zwecke. Tatsächlich beruhen alle Beispiele für Leidenschaften, die Kant diskutiert, auf einer solchen Instrumentalisierung. Selbst solche Leidenschaften, die sich vordergründig auf Sachen richten – etwa die Akkumulation von Geld – sind nach Kant nur deshalb Leidenschaften, weil ihnen eine unmoralische Haltung sich selbst oder anderen gegenüber zugrunde liegt, die im Falle der Habsucht im Motiv umfassender Macht zum Ausdruck kommt. Nach Kant ist es gleichgültig, ob das leidenschaftliche Subjekt diese Macht wirklich nutzen oder nur die Möglichkeit dazu haben will: „Die Neigung zum Besitz des Vermögens überhaupt ist auch ohne den Gebrauch desselben Leidenschaft.“ (Anth 7:409H). Was dies konkret bedeutet, wird die Analyse der einzelnen Leidenschaften zeigen. Die Leidenschaften der zweiten Gruppe sind nicht unmittelbar auf die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse ausgerichtet, sondern darauf, die Mittel zur Befriedigung beliebiger Bedürfnisse sicherzustellen. Unter den Bedingungen einer differenzierten Gesellschaft besteht eines der wichtigsten dieser Mittel darin, andere Menschen im Sinne der eigenen Absichten beeinflussen zu können. Die kulturbedingten Leidenschaften lassen sich deshalb als Leidenschaften der Macht bezeichnen. Ihr unmittelbares Ziel besteht in der Aneignung von geeigneten Mitteln zur Beeinflussung anderer Menschen; das mittelbare darin, die so gewonnenen Einflussmöglichkeiten zu beliebigen Zwecken einsetzen zu können. In einer eigenwilligen Wendung bezeichnet Kant die kulturbedingten Leidenschaften als „kalte“ Leidenschaften (passiones frigidae) (Anth 7:267 f.) – ein Oxymoron, das ihren mittelbaren Charakter betont und wohl hervorheben soll, dass der Anteil kalkulierender Reflexion bei ihnen ausgeprägter ist als bei den „natürlichen“ Leidenschaften. Das leidenschaftliche Streben nach Einfluss über andere Menschen tritt bei Kant in Form der traditionellen „unheiligen Trinität“¹⁰⁰ von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht auf, die bereits in den vorangegangenen Jahrhunderten die Debatte um die Leidenschaften maßgeblich prägt. Demnach sind es vor allem „Ehre, Gewalt und Geld“ (Anth 7:271), die uns Macht über andere Menschen verleihen und es uns erlauben, sie zu unseren Zwecken zu gebrauchen.
Zur allmählichen Rehabilitierung der Habsucht im Zuge der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus vgl. Hirschman , S. .
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6. Leidenschaften
6.3.1 Sex als Leidenschaft Sex als Leidenschaft wird von Kant in der Anthropologie ausdrücklich als Beispiel für natürliche Leidenschaften genannt (Anth 7:268), nicht aber ausführlich diskutiert. Das überrascht, denn bekanntlich hat Kant eine bizarre und zugleich recht nüchterne Auffassung von Sex: Die Partner degradieren sich selbst und einander zur „Sache“. Eine „Wiederherstellung ihrer Persönlichkeit“ ist nur möglich im Rahmen eines Ehevertrags, „indem die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe“ (MS 6:278). Gegen ehelichen Sex hat Kant nichts einzuwenden, zumindest dann nicht, wenn er der Fortpflanzung dient und damit der „Erhaltung der Art“ (vgl. MS 6:426). Die Vorstellung einer wechselseitigen Degradierung zur Sache scheint die „Geschlechtsneigung“ (Anth 7:268), sofern sie außerhalb der Ehe ausgeübt wird, nach Kants eigenen Kriterien eigentlich zur paradigmatischen Leidenschaft zu machen. Doch Leidenschaften beruhen Kant zufolge auf beständigen Maximen, was er bei „physischer Liebe“ ausschließt: Sie könne im Gegensatz zum erfolglosen Verliebtsein nicht zur Leidenschaft werden, weil sie „in Ansehung des Objects nicht ein beharrliches Princip enthält“: Man benennt die Leidenschaft mit dem Worte Sucht (Ehrsucht, Rachsucht, Herrschsucht u.d.g.), außer die der Liebe nicht in dem Verliebtsein. Die Ursache ist, weil, wenn die letztere Begierde (durch den Genuß) befriedigt worden, die Begierde, wenigstens in Ansehung eben derselben Person, zugleich aufhört, mithin man wohl ein leidenschaftliches Verliebtsein (so lange der andere Theil in der Weigerung beharrt), aber keine physische Liebe als Leidenschaft aufführen kann: weil sie in Ansehung des Objects nicht ein beharrliches Princip enthält. (Anth 7:266)
Analog heißt es an anderer Stelle: „[I]n der Neigung zum Geschlecht kann die Liebe zwar leidenschaftlich aber eigentlich nicht eine Leidenschaft genannt werden“ (Anth 7: 410H). Kant behauptet also: Sex kann nicht zur Leidenschaft werden, weil „physische Liebe“ im Hinblick auf das „Object“ nicht auf einer bleibenden Maxime beruhen kann. Doch warum sollte dies so sein? Wechselnde Partner schließen eine bleibende Maxime nicht aus: Das „Object“ sexuellen Begehrens muss schließlich keine bestimmte Person sein. Auch alle anderen Leidenschaften, die Kant diskutiert, lassen wechselnde Erfüllungsbedingungen zu. „Beharrlich“ sind Leidenschaften (bzw. die ihnen zugrunde liegenden Maximen) nur in dem Sinn, dass ihre Befriedigung nicht dauerhaft ist, weshalb das Subjekt nach immer wieder neuen Möglichkeiten suchen muss, um seine Leidenschaft zu erfüllen. Denkbar wäre auch, dass Kant in der zitierten Passage lediglich zum Ausdruck bringen will, dass einzelne sexuelle Akte nicht als Leidenschaft bezeichnet werden können, es aber eine Leidenschaft, die sich allgemein auf Sex richtet, durchaus geben kann. Doch auch diese Lesart löst das Problem nicht, da jeder
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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einzelne sexuelle Akt, der aufgrund einer solchen Sexleidenschaft begangen würde, innerhalb des Kantischen Systems nach der „beharrlichen“ Maxime beurteilt werden müsste, die ihr zugrunde liegt. Es bleibt also unklar,warum Kant die „Geschlechtsneigung“ zunächst als ein Beispiel für natürliche Leidenschaften anführt, diese dann aber nicht ausführlich diskutiert und an anderer Stelle sogar ihre Möglichkeit bestreitet. Die ostentative Nüchternheit, die Kant mit Blick auf diesen Themenkomplex an den Tag legt, verträgt sich allerdings auch schlecht mit der polemischen Rhetorik, die seine Analyse der Leidenschaften trägt.
6.3.2 Freiheit als Leidenschaft Die Leidenschaft zur Freiheit ist für Kant die „heftigste“ unter den natürlichen Leidenschaften. Sie beruht auf einem „Anspruch auf Freiheit“, der nicht durch Vernunft begründet ist, sondern einer „sinnlichen Vorstellung“ äußerer Freiheit entspringt, einem angeborenen „Trieb“ nach Unabhängigkeit von äußeren Zwängen (Anth 7:268 Anm.), der sich als das Verlangen äußert, den eigenen Willen ungehindert ausüben zu können. Eine solche sinnliche Vorstellung äußerer Freiheit, wenn sie auch nicht mehr ist als eine instinkthafte „dunkle Idee“ (Anth 7:268 Anm.), besitzt nach Kant bereits das neugeborene Kind: Es begreift seine körperliche Unselbständigkeit – „sein Unvermögen, sich seiner Gliedmaßen zu bedienen“ – unmittelbar als Zwang und tritt nur deshalb „mit lautem Geschrei in die Welt“, um darüber seinem natürlichen Anspruch auf Freiheit Ausdruck zu verleihen (Anth 7:268, vgl. 7:327). Dieser Freiheitsanspruch konfligiert mit den unvermeidlichen Abhängigkeiten menschlichen Lebens und Zusammenlebens; das neugeborene Kind ist auf die Zuwendung anderer Menschen angewiesen, und das Risiko, „mit anderen in wechselseitige Ansprüche zu kommen“ (Anth 7:268), kann selbst in basalen sozialen Zusammenhängen nicht ausgeräumt werden. In Gesellschaften, die keine positive Rechtsordnung haben, deren Autorität die äußeren Freiheitsrechte des Einzelnen schützt, ist das Individuum der Gefahr willkürlicher Übergriffe ausgesetzt: Wer nur nach eines Anderen Wahl glücklich sein kann (dieser mag nun so wohlwollend sein, als man immer will), fühlt sich mit Recht unglücklich. Denn welche Gewährleistung hat er, daß sein mächtiger Nebenmensch in dem Urtheile über das Wohl mit dem seinen zusammenstimmen werde? Der Wilde (noch nicht an Unterwürfigkeit Gewöhnte) kennt kein größeres Unglück als in diese zu gerathen und das mit Recht, so lange noch kein öffentlich Gesetz ihn sichert […]. Daher sein Zustand des beständigen Krieges, in der Absicht andere so weit wie möglich von sich entfernt zu halten und in Wüsteneien zerstreut zu leben. (Anth 7:268 m.H.)
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In dieser konstanten Bedrohung sieht Kant die Ursache der „Laster der Rohigkeit“. Wer sich unfreiwillig in Abhängigkeitsbeziehungen zu anderen Menschen befindet, fühlt sich „mit Recht“ unglücklich – es ist jedoch nicht der angeborene „Trieb“ zur Freiheit, der dem Anspruch, keinem willkürlichen Zwang unterworfen zu sein, seine Berechtigung gibt, sondern moralisch-praktische Vernunft. Gerechtfertigt ist der Anspruch nur als ein allgemein begründeter Anspruch, der allen Menschen gleichermaßen zukommt. Das aber bedeutet, dass die Sicherung der äußeren Freiheit des Einzelnen sie zugleich auch begrenzt; denn die berechtigte Forderung nach Schutz vor Verletzung der eigenen äußeren Freiheitsrechte geht mit der Verpflichtung einher, auch die äußeren Freiheitsrechte anderer nicht zu verletzen – eine Verpflichtung, die im Rahmen einer positiven Rechtsordnung notfalls mit Zwang durchgesetzt werden darf.¹⁰¹ Ein starkes „Freiheitsgefühl“, wie Kant es „Jagdvölkern“ zuschreibt, kann seiner Auffassung nach „veredelnde“ Wirkung haben: „Jagdvölker (wie die Olenni-Tungusi) haben sich sogar durch dieses Freiheitsgefühl […] wirklich veredelt“ – als „edel“ bezeichnet Kant hier offenbar die Bereitschaft, um der Freiheit willen eine mühsame Lebensform auf sich zu nehmen (Anth 7:269).Wird dieses Gefühl bzw. die Neigung zur Freiheit allerdings zum Anlass genommen, andere Menschen ihrer äußeren Freiheitsrechte zu berauben – wird etwa die Angst vor willkürlicher Gewalt als Vorwand missbraucht, selbst willkürlich Gewalt anzuwenden und andere zu unterwerfen –, dann verliert die nun zur Freiheitsleidenschaft gesteigerte Freiheitsneigung jede Berechtigung. Nach Kant schlägt das (auch nur befürchtete) Unglück eigener Abhängigkeit leicht in offensive Gewaltbereitschaft um: Der eigene Wille ist immer in Bereitschaft, in Widerwillen gegen seinen Nebenmenschen auszubrechen, und strebt jederzeit, seinen Anspruch auf unbedingte Freiheit, nicht blos unabhängig, sondern selbst über andere ihm von Natur gleiche Wesen Gebieter zu sein; welches man auch an dem kleinsten Kinde schon gewahr wird. (Anth 7:327)
Am Beispiel der Freiheitsleidenschaft lässt sich nun zeigen, wie das „Vernünfteln“ – also die scheinbare Rationalisierung und Verdeckung der wahren Handlungsmotive – zu einer besonders heftigen, im negativen Sinne „enthusiastischen“ Ausprägung dieser Leidenschaft führt: Das allgemeine Prinzip des Rechts lautet nach Kant: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“ (MS :). Der entscheidende Unterschied zwischen willkürlichem und berechtigtem Zwang besteht darin, „daß Zwang gemäß einem allgemeinen Gesetz ausgeübt werden darf (und muß), um wiederum jenen Zwang zu verhindern, vermittels dessen irgend jemand anderer zu etwas zu nötigen versucht, was zwar seinen Zwecken dienlich ist, nicht aber solchen, die jene anderen sich selbst gesetzt haben“ (Gregor , S. VIII).
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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So erweckt nicht allein der Freiheitsbegriff unter moralischen Gesetzen einen Affect, der Enthusiasm genannt wird, sondern die blos sinnliche Vorstellung der äußeren Freiheit erhebt die Neigung darin zu beharren oder sie zu erweitern durch die Analogie mit dem Rechtsbegriffe bis zur heftigen Leidenschaft. (Anth 7:269 m.H.)¹⁰²
In Bezug auf ihren normativen Status sind Freiheitsneigung und Freiheitsbegriff grundverschieden: Als Vernunftbegriff schließt der moralische Freiheitsbegriff alle Menschen ein und begründet moralisch verbindliche Forderungen. Die angeborene Vorstellung äußerer Freiheit und die resultierende Freiheitsneigung sind dagegen empirischen Ursprungs, haben lediglich die eigene äußere Freiheit zum Gegenstand und können keine Verbindlichkeit beanspruchen. Dennoch sieht Kant offenbar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen: Die sinnliche Vorstellung äußerer Freiheit ist Analogon des Vernunftbegriffs der Freiheit, wenn auch nicht mehr als ein bloß instinkthaftes Rechtsempfinden, eine „dunkle Idee von Freiheit“ (Anth 7:268 Anm.). Wie aus der zitierten Passage hervorgeht, entwickelt sich die Freiheitsneigung nicht aus der sinnlichen Vorstellung äußerer Freiheit als solcher, sondern erst „durch die Analogie mit dem Rechtsbegriffe“ zur heftigen Leidenschaft. Der Vorgang der Analogisierung ist offenbar an der Genese der Leidenschaft beteiligt. Das lässt sich folgendermaßen verstehen: Das leidenschaftliche Subjekt nutzt die (behauptete) Ähnlichkeit zwischen subjektiver Freiheitsneigung und objektivem Freiheitsbegriff, um den normativen Status des letzteren in einem Akt des Vernünftelns auf erstere zu übertragen (Anth 7:270). Im Resultat glaubt es, dass seine subjektive Freiheitsneigung es ebenso zu allgemein verbindlichen Forderungen berechtigt wie der objektive Freiheitsbegriff – mit dem Unterschied allerdings, dass diese Forderungen nur seine eigene Freiheit betreffen (die Analogisierung wird nur so weit betrieben, wie dies den leidenschaftlich verfolgten Zwecken dient), und genau das macht seine Leidenschaft so heftig und gefährlich: Es glaubt sich berechtigt, sein Verlangen nach äußerer Freiheit ohne Rücksicht auf die Interessen anderer durchsetzen zu dürfen, notfalls auch mit Gewalt. Die problematische Engführung von subjektiver Freiheitsneigung und objektivem Freiheitsbegriff demonstriert einen gedanklichen Prozess, den Kant an anderer Stelle als „mit Vernunft rasen“ (im Sinne einer Steigerungsform des Vernünftelns) beschreibt:
Im Gegensatz dazu geht „wahrer“ Enthusiasmus, so hält Kant im Streit der Fakultäten fest, immer nur „aufs Idealische und zwar rein Moralische […], dergleichen der Rechtsbegriff ist“ und kann nicht auf „Eigennutz gepfropft“ werden. Er ist das sinnlich empfundene Resultat eines Vernunftbegriffs und zwar „nicht ganz zu billigen“ (SF :), wird aber tendenziell positiv bewertet.
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6. Leidenschaften
Vernünftelei (ohne gesunde Vernunft) ist ein den Endzweck vorbeigehender Gebrauch der Vernunft, theils aus Unvermögen, theils aus Verfehlung des Gesichtspunkts. Mit Vernunft rasen heißt: der Form seiner Gedanken nach zwar nach Principien verfahren, der Materie aber oder dem Zwecke nach die diesem gerade entgegengesetzten Mittel anwenden. (Anth 7:200)
Die bemerkenswerte Pointe der aufgezeigten Analogisierung ist: Die „natürliche“ Leidenschaft zur Freiheit beruht zwar auf einem angeborenen „Trieb“, kann aber erst zur Leidenschaft werden, wenn das Subjekt über einen objektiven Begriff von Freiheit verfügt.
6.3.3 Rachbegierde Ob Kant die leidenschaftliche Rachbegierde zu den angeborenen, natürlichen oder zu den erworbenen, kulturbedingten Leidenschaften zählt, geht aus der Anthropologie nicht eindeutig hervor. Da er sie aber definiert als „Haß aus dem erlittenen Unrecht“, der das Bedürfnis nach Rache „aus der Natur des Menschen unwiderstehlich“ hervorbringt, steht zu vermuten, dass Kant die leidenschaftliche Rachbegierde zumindest in ihrer basalen Ausdrucksform als natürliche Leidenschaft ansieht. Für eine solche Zuordnung spricht auch, dass Kant die Rachbegierde mit der Metapher des Feuers und damit als „erhitzte“, also natürliche Leidenschaft beschreibt, „die, wenn sie erloschen zu sein scheint, doch immer noch ingeheim einen Haß, Groll genannt, als ein unter der Asche glimmendes Feuer überbleiben läßt“ (Anth 7:270). Hier zeigt sich deutlich, wie fragil die Unterscheidung von natürlichen und kulturbedingten Leidenschaften ist: Erstens sind die Leidenschaften zur Freiheit und zur Rache tatsächlich Leidenschaften, die sich von Menschen auf Menschen richten (im Falle der Freiheitsleidenschaft ist dieser Bezug abwehrend). Auch wenn sie natürliche Leidenschaften sind, haftet ihnen also ein soziales Moment an, das kulturspezifischen Bedingungen unterliegt. Zweitens scheinen die kulturbedingten Leidenschaften umgekehrt oft kulturelle Ausprägungen natürlicher Leidenschaften zu sein: So erklärt Kant etwa die Furcht, von anderen beherrscht zu werden – und damit die von ihm als natürlich definierte Freiheitsleidenschaft – zum Ausgangspunkt der kulturbedingten Leidenschaft der Herrschsucht (Anth 7:273). Es liegt deshalb nahe, Herrschsucht als Folge und Erweiterung der natürlichen Freiheitsleidenschaft unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten sozialen Ordnung zu verstehen. Analog steht zu vermuten, dass die als natürlich bestimmte Rachbegierde je nach Struktur des sozialen Umfelds auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommt und dabei eine kulturspezifische Prägung annimmt. Kant selbst exemplifiziert die Rachbegierde am Beispiel der Blutrache, die als soziales und kulturelles Phänomen gelten
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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muss (Anth 7:271). Sie ist Reaktion auf ein Unrecht, das einem durch andere zugefügt wurde – und dabei sind sowohl die Reaktion als auch die Unrechtserfahrung maßgeblich davon beeinflusst, was in der jeweiligen Kultur als Unrecht zählt. Beides deutet darauf hin, dass Kant einen graduellen Übergang von natürlichen und kulturbedingten Leidenschaften implizit zugesteht; dass in der Anthropologie dennoch die Unterschiede, nicht die graduellen Übergänge im Vordergrund stehen, mag daran liegen, dass Kant den besonders schädlichen Charakter der kulturbedingten Leidenschaften eigens hervorheben möchte. Kants Behauptung nämlich, die Laster der Kultur und Zivilisierung seien die „kränkendsten unter allen“ (RGV 6:32 f.), soll wohl auch eine Warnung vor dem Irrtum sein, den zivilisatorischen Fortschritt allein schon für einen moralischen Fortschritt zu halten, wogegen sich Kant an anderer Stelle ausdrücklich verwahrt: Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. (IaG 8:26)
Die Lasterhaftigkeit der kulturbedingten Leidenschaften mag subtiler und verdeckter sein als die ihrer natürlichen Korrelate, deshalb aber für die Realisierung der moralischen und prudentiellen Ansprüche der Vernunft nicht weniger schädlich – im Gegenteil. Schließlich fällt Kants Urteil über die Affekte auch deshalb milder aus als sein Urteil über die Leidenschaften, weil Affekte „ehrlich und offen [sind], Leidenschaften dagegen hinterlistig und versteckt“ (Anth 7:252). Nichts ist für eine vernünftige Bestimmung des Handelns gefährlicher, als ein Feind, der sich selbst vernünftig gibt und unter dem Deckmantel der Vernunft „gleichsam unsichtbar“ agiert (RGV 6:57). Da die „erhitzten“ natürlichen Leidenschaften Kant zufolge mit Affekt einhergehen, darf man annehmen, dass sie offener zutage treten als die „kalten“ bzw. erkalteten kulturbedingten Leidenschaften, die allgemein ein höheres Reflexionsniveau besitzen und sich deshalb durch Scheingründe besser tarnen und verbergen lassen. Je subtiler und raffinierter die vermeintliche Rationalisierung der Leidenschaften ist, desto gefährlicher ist ihre Wirkung im Hinblick auf eine vernünftige und selbstbestimmte Lebensführung. Die Möglichkeit zur subtilen Tarnung der Rachbegierde verdankt sich einer gewissen Ähnlichkeit zwischen der Rachbegierde und einer durch Vernunft begründeten „Rechtsbegierde“¹⁰³, aus der, wie Kant behauptet, ein gerechtfertigter Anspruch auf Rache erwächst:
Anders als sein Begriff der Leidenschaft ist Kants Begriff der Begierde moralisch neutral. Maximen, die Begierden inkorporieren, können moralisch erlaubt oder unmoralisch sein, je nachdem, ob
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6. Leidenschaften
Eine jede das Recht eines Menschen kränkende That verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Thäter gerächt (nicht blos der zugefügte Schade ersetzt) wird. (MS 6:460 m.H.)
Diese geradezu alttestamentarisch anmutende Auffassung nimmt durch die folgenden Einschränkungen eine etwas mildere Gestalt an: Die Bestrafung moralischer Vergehen darf nach Kant kein „Act der Privatautoriät des Beleidigten“ sein, sondern ist dem Gerichtshof der praktischen Vernunft vorbehalten. Nur Gott als das Ideal eines vollkommenen moralischen Wesens ist befugt, moralische Vergehen zu bestrafen. Der Mensch dagegen (dies klingt nun eher neutestamentarisch) ist ein schuldhaftes und vergebungsbedürftiges Wesen, das eine solche Strafe nicht einmal einfordern darf. Insbesondere aber kann Hass niemals die Ursache gerechtfertigter Strafen sein: Nun ist aber Strafe nicht ein Act der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes […] wenn wir die Menschen […] nach bloßen Vernunftgesetzen (nicht nach bürgerlichen) betrachten, so hat niemand die Befugniß Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Beleidigung zu rächen, als der, welcher auch der oberste moralische Gesetzgeber ist, und dieser allein (nämlich Gott) kann sagen: „Die Rache ist mein; ich will vergelten.“ Es ist also Tugendpflicht nicht allein selbst blos aus Rache die Feindseligkeit Anderer nicht mit Haß zu erwiedern, sondern selbst nicht einmal den Weltrichter zur Rache aufzufordern; theils weil der Mensch von eigener Schuld genug auf sich sitzen hat, um der Verzeihung selbst sehr zu bedürfen, theils und zwar vornehmlich, weil keine Strafe, von wem es auch sei, aus Haß verhängt werden darf. (MS 6:460 f.)¹⁰⁴
Da die Rachbegierde über den Hass definiert ist, kann sie also keine Legitimität beanspruchen. Sie ist Resultat verletzter Selbstliebe, dabei allerdings nur deshalb „eine der heftigsten und am tiefsten sich einwurzelnden Leidenschaften“, weil die ihr zugrunde liegende Maxime „vermöge der erlaubten Rechtsbegierde, deren Analogon jene ist, mit der Neigung verflochten“ ist (Anth 7:270 m.H.). Die Rechtsbegierde ist eine berechtigte, weil durch Vernunft begründete „Begierde, in einem Zustande mit seinen Mitmenschen und in Verhältniß zu ihnen zu sein, da jedem das zu Theil werden kann, was das Recht will“ – wird diese Begierde jedoch nicht durch praktische Vernunft geweckt, sondern durch persönliche Interessen, dann richtet sie sich nicht gegen eine allgemeine Ungerechtigkeit der Verhältnisse, sondern gegen das „gegen uns Ungerechte“. Sie hat dann nur den eigenen Vorteil, nicht eine
sie den Forderungen moralisch-praktischer Vernunft genügen oder nicht. Zum Verhältnis der Begriffe Leidenschaft, Neigung und Begierde vgl. Kapitel „Begriffliche Voraussetzungen“. „Die Rache ist mein; ich will vergelten“ steht bereits im Alten Testament (. Mose ,); hier scheint jedoch die neutestamentarische Variante gemeint, der Satz wird von Paulus wortwörtlich zitiert (Röm ,).
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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gerechtere „Gesetzgebung für jedermann“ zum Zweck (Anth 7:271 m.H.). In Kants Definition der leidenschaftlichen Rachbegierde als „Hass aus erlittenem Unrecht“ liegt die Betonung mithin nicht auf „Unrecht“, sondern auf „erlitten“; denn den Rachgierigen treibt nur das eigene Leid an, entscheidend ist sein subjektives Unrechtsempfinden, nicht die Frage, ob dieses Empfinden gerechtfertigt ist. Die scheinbare Legitimierung der Rachbegierde durch Überblendung mit der Rechtsbegierde setzt die Schwerpunkte dagegen genau umkehrt, betont das Unrecht und versucht, das eigene Leid als das tatsächliche Handlungsmotiv zu verbergen.
6.3.4 Ehrsucht Die Fähigkeit, die Absichten anderer Menschen richtig einschätzen und gegebenenfalls auch beeinflussen zu können, spielt in sozialen Interaktionen eine zentrale Rolle. Da Kant ihr deshalb eine wichtige prudentielle Funktion für die Förderung des eigenen Glücks beimisst, entspricht das Streben nach Einfluss über andere Menschen den Regeln prudentieller Vernunft (Anth 7:271¹⁰⁵, GMS 4:416 f.). Die zulässige Beeinflussung anderer Menschen ist jedoch moralisch streng begrenzt: Sie muss ihre moralischen Selbstbestimmungsrechte respektieren und darf niemals so weit gehen, sie zu Gunsten der eigenen Absichten zu bloßen „Mitteln“ herabzusetzen. Im breiten Spektrum der Einflussmöglichkeiten gehört deshalb Überzeugung zu den zulässigen Formen der Beeinflussung, Manipulation hingegen eindeutig nicht – weniger offenkundige Fälle wie Überredung oder Verführung müssten differenzierter betrachtet werden. Unter kompetitiven sozialen Bedingungen nimmt das Streben nach Einfluss Kant zufolge schnell manipulative Züge an und entwickelt sich zu Leidenschaften, die andere zum bloßen „Werkzeug“ des eigenen Willens degradieren (Anth 7:271). Die Sorge, andere könnten danach streben, Macht über einen zu gewinnen, führt bei Kant, ähnlich wie bei Hobbes, zu einem präventiven Wettrüsten: Um der Macht anderer zuvorzukommen, versucht man, sich Macht über sie zu verschaffen (RGV 6:27). Für Kant sind alle kulturbedingten Leidenschaften im Kern Leidenschaften der Macht – und die effektivsten Mittel, die die Kultur hervorgebracht hat, um Macht über andere zu erlangen, sind „Ehre, Gewalt und Geld“ (Anth 7:271). Aus diesem Grund verhandelt Kant die traditionelle Trias von Ehrsucht, Herrschsucht
Kant spricht in dieser Passage von der Klugheitsmaxime der technisch-praktischen Vernunft – da Maximen aber Regeln sind, nach denen ein Subjekt tatsächlich handelt (GMS :, Anm. ), bevorzuge ich hier den Begriff der Regel. Ich spreche außerdem von prudentieller Vernunft, da es hier nicht um technische Regeln der Geschicklichkeit geht, sondern allgemeiner um geeignete Mittel zur Erreichung von Glückseligkeit.
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und Habsucht als Paradebeispiele kulturbedingter Leidenschaften. Ihre Analyse ist besonders aufschlussreich, da Kant die vielen Hinsichten, in denen er gerade die kulturbedingten Leidenschaften als moralisch und prudentiell problematisch erachtet, in seinen konkreten Darstellungen noch sehr viel deutlicher hervortreten lässt als in seinen allgemeinen Überlegungen. *** Unter Ehrsucht versteht Kant eine niederträchtige Form von Ehrbegierde, die er auch Hochmut nennt. Der Ehrsüchtige will „immer oben […] schwimmen“ (MS 6:465), begegnet anderen Menschen mit Geringschätzung und verlangt von ihnen, sich im Vergleich mit ihm auch selbst geringzuachten (Anth 7:272, 203). Ehrsucht ist zu unterscheiden von gemäßigten, moralisch erlaubten Varianten der Ehrbegierde wie dem Bedürfnis, von anderen geliebt zu werden (Anth 7:266). Vor allem aber ist sie zu unterscheiden von der Ehrliebe bzw. dem edlen Stolz: „eine Hochschätzung, die der Mensch von Anderen wegen seines inneren (moralischen) Werths erwarten darf“ (Anth 7:272, vgl. MS 6:465). Der Ehrsucht eignet, wie aus Kants Ausführungen implizit hervorgeht, eine doppelte Nähe zum Schein, die dem oben dargestellten Verfahren vernünftelnder Selbstlegitimation einen doppelten Ansatz bietet (Anth 7:272 f.). Im ersten Fall stützt sich der Ehrsüchtige erneut auf das Bestehen einer gewissen Analogie, die es ihm ermöglicht, Ehrsucht und Ehrliebe einander gleichzusetzen: Beiden liegt ein Anspruch auf Wertschätzung zugrunde; der Ehrsüchtige aber übergeht, dass sich dieser Anspruch auf ganz unterschiedliche Weise äußert. Er reklamiert eine Wertschätzung für sich, die ihn von anderen Menschen abhebt. Seine Leidenschaft kann nur durch Formen der Anerkennung befriedigt werden, die (vielen) anderen nicht zuteilwerden. Sie zielt auf Distinktion und einen hohen sozialen Status ab. Im Gegensatz dazu steht die Ehrliebe bei Kant für eine Art der Wertschätzung, auf die jeder Mensch als vernunftbegabtes Wesen Anspruch hat, und die nicht zu Rivalitäten führt. Anders als Ehrsucht ist Ehrliebe kein kompetitives Konzept. Sie beruht vielmehr auf dem strikt egalitären Anspruch, allen Menschen aufgrund ihres inneren moralischen Werts gleiche Achtung entgegenzubringen. Der Ehrsüchtige stellt dagegen eine Forderung nach Wertschätzung, die andere notwendig herabsetzt, und verletzt damit seine Pflicht gegen andere, sie nicht als „bloße Mittel“ zur Befriedigung seiner Leidenschaft zu betrachten. Kant zufolge verletzt er außerdem auch seine Pflicht gegen sich selbst: Mit dem Verzicht auf innere Freiheit instrumentalisiert er seine eigene Person zur Befriedigung seiner Leidenschaft und degradiert sich damit selbst zum „bloßen Mittel“ (GMS 4:429). Letzten Endes führt dies zu der paradoxen Situation, dass sich der Ehrsüchtige gerade durch sein leidenschaftliches Verlangen nach übermäßiger Wertschätzung selbst herabsetzt.
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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Um seiner Forderung nach besonderer Wertschätzung Nachdruck zu verleihen und sie vor sich selbst zu rechtfertigen, kann sich der Ehrsüchtige außerdem – und dies ist der zweite Fall – auf herausragende Begabungen oder Verdienste berufen. Auch hier handelt es sich um „Vernünftelei“, denn keine Begabung und kein Verdienst kann eine Herabsetzung anderer tatsächlich legitimieren. Doch damit nicht genug: Die Begabungen und Verdienste, auf die der Ehrsüchtige verweist, sind möglicherweise nur scheinbare Begabungen und Verdienste. Ehrsucht nämlich ist ein „Bestreben nach Ehrenruf, wo es am Schein genug ist“ (Anth 7:272). Damit gerät der Ehrsüchtige in die Nähe des Betrügers, der Begabungen und Verdienste nur vortäuscht, sich selbst und anderen gegenüber. In moralischer Perspektive ist Ehrsucht nach Kant also problematisch, weil der Ehrsüchtige sich selbst und andere zu bloßen Instrumenten seiner Leidenschaft herabsetzt. Was die prudentielle Problematik der Ehrsucht betrifft, belässt er es nicht bei der allgemeinen Feststellung, dass sie, wie alle Leidenschaften, zu einer Vernachlässigung aller übrigen Bedürfnisse führt und deshalb eine zweckrationale Verfolgung des eigenen Glücks verhindert. Er behauptet vielmehr, dass die Ehrsucht strukturell so angelegt ist, dass sie selbst noch ihren eigenen unmittelbaren Zweck untergräbt: Hochmuth ist eine verfehlte, ihrem eigenen Zweck entgegen handelnde Ehrbegierde und kann nicht als ein absichtliches Mittel, andere Menschen (die er von sich abstößt) zu seinen Zwecken zu gebrauchen, angesehen werden; vielmehr ist der Hochmüthige das Instrument der Schelme, Narr genannt. (Anth 7:272 f.)
In Kants Modell wird die erhoffte Wertschätzung, die ja wiederum dazu dienen soll, andere für die eigenen Absichten gebrauchen zu können, umso konsequenter verfehlt, je vehementer der Ehrsüchtige seine Leidenschaft verfolgt: Je größer nämlich die Geringschätzung ist, mit der er anderen begegnet, desto stärker stößt er sie von sich ab (MS 6:466, Anth 7:262). Infolgedessen bleibt die Wertschätzung nicht nur aus, sondern wird in ihr Gegenteil verkehrt: Die Geringschätzung, die der Ehrsüchtige anderen entgegenbringt, ist beleidigend und provoziert sie dazu, „seinem Eigendünkel auf alle mögliche Art Abbruch zu thun, ihn zu zwacken und seiner beleidigenden Thorheit wegen dem Gelächter blos zu stellen“ (Anth 7:203). Kant stellt den Ehrsüchtigen nicht nur als einen „Toren“ dar, der auf andere lächerlich wirkt und deshalb mit Hohn und Spott bedacht wird, sondern auch als einen „Narren“, der sie in seiner Torheit beleidigt und damit Hass auf sich zieht: Die Thorheit, wenn sie beleidigend ist, heißt Narrheit. […] Hochmuth ist Narrheit, denn erstlich ist es thöricht, Anderen zuzumuthen, daß sie sich selbst in Vergleichung mit mir gering schätzen sollen, und so werden sie mir immer Querstreiche spielen, die meine Absicht
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vereiteln. Das hat aber nur Auslachen zur Folge. Aber in dieser Zumuthung steckt auch Beleidigung, und diese bewirkt verdienten Haß (Anth 7:210 f.)
Analog schlägt auch das übergeordnete Anliegen, andere für die eigenen Absichten zu gebrauchen, ins Gegenteil um: Der Ehrsüchtige macht sich zum „Instrument der Schelme“, die seinem Verlangen nach Ehre schmeicheln und so seine Abhängigkeit von der Meinung anderer noch verstärken. Auf diese Weise gewinnen sie ausgerechnet durch die „Leidenschaft des Toren über ihn Gewalt“ (Anth 7:272) und können ihn durch Steuerung seiner eigenen Neigungen schließlich für ihre Zwecke gebrauchen.
6.3.5 Herrschsucht Aus ähnlichen Gründen ist auch die Herrschsucht bei Kant sowohl in prudentieller als auch in moralischer Hinsicht ausschließlich negativ besetzt. In prudentieller Perspektive ist Herrschsucht ein unkluges Mittel, um andere für die eigenen Absichten zu gebrauchen, da sie aktiven Widerstand provoziert und auf diese Weise ihren Zweck verfehlt oder ihn sogar in sein Gegenteil verkehrt. Darüber hinaus ist sie in moralischer Perspektive verwerflich, da sie, ebenso wie die Ehrsucht, auf die Herabsetzung anderer abzielt, wenn auch nicht durch Geringschätzung, sondern durch physische Gewalt. Sie verletzt damit die äußeren Freiheitsrechte, auf die jeder Mensch unter allgemeinen Gesetzen Anspruch hat. (Anth 7:273, MS 6:232 f.) Bei der gewaltsamen Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen handelt es sich nach Kant um eine direkte und, wie er sich ausdrückt, „männliche“ Form der Herrschaftsausübung. Frauen dagegen herrschen indirekt und – zumindest gibt Kant keine anderslautenden Auskünfte – nur über das andere Geschlecht: Ihre Macht beruht nicht auf Zwang, sondern auf „Reizen“, die nur deshalb wirksam werden können, weil sich der Mann in dieser Weise gern beherrschen lässt (Anth 7:273, 306). Auch wenn diese Beschreibung weiblicher Herrschaft vergleichsweise harmlos erscheinen mag, fällt Kant mit ihr kein positives Urteil über weibliche Herrschaftsformen, sondern ein herablassendes Urteil über die Frau als solche. An verschiedenen Stellen und insbesondere im Abschnitt „Der Charakter des Geschlechts“ (Anth 7:303 – 311) zeichnet er ein passives, neigungsbestimmtes Bild der Frau, die zu einer prinzipiengeleiteten Lebensführung nicht in der Lage ist. Streng genommen können Frauen demnach auch keine grundsatzbasierten Leidenschaften entwickeln, sondern folgen ihren Neigungen viel unmittelbarer. Kants Beschreibung weiblicher Herrschaft fällt offenbar nur deshalb harmloser aus, weil er der Auffassung ist, dass Frauen über geringere kognitive Fähigkeiten verfügen und daher zu einer wirklich bösartigen Ausprägung ihrer Herrschaftsneigung
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ebenso wenig in der Lage sind wie zu einer autonomen Distanzierung von derselben. Bezeichnenderweise dient Kant der Unterschied zwischen Verstand und Neigung zur Unterscheidung von Mann und Frau: Ich würde in der Sprache der Galanterie (doch nicht ohne Wahrheit) sagen: die Frau soll herrschen und der Mann regieren; denn die Neigung herrscht, und der Verstand regiert. (Anth 7:309)
Diese physische Differenz ist keineswegs wertneutral: In der Ehe gleiche die Frau einem „blos auf Vergnügen bedachten Monarchen“, der zwar tun kann,was er will, „doch mit dem Umstande, daß diesen Willen ihm sein Minister an die Hand giebt“ – und dieser Minister, der sich darauf versteht, den Willen des Monarchen zu lenken, ist natürlich der Mann (Anth 7:310). Im Folgenden übergehe ich diese misogynen Tendenzen – die durch gegenläufige Passagen zum Glück relativiert werden – und lese Kant, wenn nötig gegen Kant, schlicht wörtlich, wenn er von der moralischen Entwicklung des Menschen spricht.¹⁰⁶ Herrschsucht muss meines Erachtens als Pendant der leidenschaftlichen Freiheitsneigung unter den differenzierteren sozialen Bedingungen einer komplexen Gesellschaft verstanden werden: Zum einen setzen nämlich beide „von der Furcht an, von andern beherrscht zu werden“ (Anth 7:273, vgl. 268) und haben also eine gemeinsamen Ursache. Zum anderen deutet auch die Tatsache, dass Kant im Abschnitt über die Herrschsucht darauf verzichtet, einen eigenen ihr ähnlichen Vernunftbegriff zu benennen, der für eine scheinbare Legitimierung herangezogen werden könnte (jenseits der Klugheitsregel, die Analogon des übergeordneten Zwecks ist, andere willkürlich beeinflussen zu können), auf eine Kontinuität zwischen Freiheitsleidenschaft und Herrschsucht hin: Auch der Herrschsüchtige kann sich auf eine gewisse Ähnlichkeit mit dem moralischen Freiheitsbegriff berufen, um seine Leidenschaft vernünftig erscheinen zu lassen. Der markanteste Unterschied zwischen beiden Leidenschaften besteht in der unterschiedlichen Reaktion auf die gemeinsame Ursache: Anders als im Fall der Freiheitsleidenschaft konzentriert sich der Herrschsüchtige nicht in erster Linie auf die direkte Abwehr von Einschränkungen seiner äußeren Freiheit, sondern auf die präventive Unterdrückung anderer, darauf, „sich bei Zeiten in den Vorteil der Gewalt über sie zu setzen“ (Anth 7:273); bei der Freiheitsleidenschaft ist die Gewichtung umgekehrt. Zusätzlich zu dem negativen Zweck, die Einschränkung seiner äußeren Freiheit zu verhindern, verfolgt der Herrschsüchtige den positiven Zweck, andere
Zu Kants misogynen Tendenzen vgl. etwa Kleingeld , S. – , Schott , S. – und Brandt , S. , , , . Für eine Verteidigung Kants gegen eine allzu starke feministische Kritik vgl. Mikkola .
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zu beherrschen, damit sie seinen Zwecken dienen. Gerade durch die Verfolgung dieses positiven Zwecks, der die Erreichung des negativen eigentlich erleichtern und sichern sollte, läuft der Herrschsüchtige nach Kant jedoch Gefahr, dass er beide Zwecke verfehlt: Wie der Ehrsüchtige bringt er andere gegen sich auf, die womöglich seine Furcht für ihre Zwecke zu gebrauchen wissen (Anth 7:272). Mit seiner dialektischen Beschreibung von Ehrsucht und Herrschsucht entwirft Kant ein psychologisch komplexes Modell der Leidenschaft als Selbstsabotage – dennoch stellt sich die Frage, inwieweit dieses Modell auch sachlich plausibel ist. Kant portraitiert den Ehrsüchtigen und den Herrschsüchtigen als lächerliche Figuren, die ihre eigenen Absichten untergraben. Häufig sind Hochmut und physische Gewalt aber durchaus geeignete Mittel, um die eigenen Absichten durchzusetzen. Kant beschränkt sich auf eine einseitige Darstellung zweier Strategien, die in vielen Kontexten ausgesprochen erfolgreich sind, und erklärt damit zwei Sonderfälle zum Inbegriff von Ehrsucht und Herrschsucht. Warum? Zwei Antworten scheinen denkbar: Möglich wäre erstens, dass Kant sein Anliegen, die moralische Verwerflichkeit der Leidenschaften offenzulegen und vor ihnen zu warnen, durch prudentielle Argumente zu stützen versucht, die verdeutlichen sollen, dass moralkonformes Verhalten für einen selbst vorteilhaft ist. Diese allgemein gängige Vorgehensweise weist Kant jedoch ausdrücklich zurück. Er betont wiederholt, dass moralische und außermoralische Handlungsgründe strikt voneinander zu unterscheiden sind, denn, so heißt es in der Grundlegung, Handlungsentscheidungen, die auf außermoralischen Handlungsgründen beruhen, sind unweigerlich heteronom (GMS 4:441). Der Versuch, moralische Argumente durch außermoralische Anreize abzustützen, hat Kant zufolge keinen verstärkenden, sondern sogar einen abschwächenden Effekt auf die Motivation, moralisch zu handeln: [A]lle Beimischung der Triebfedern, die von eigener Glückseligkeit hergenommen werden, [ist] ein Hinderniß, dem moralischen Gesetze Einfluß aufs menschliche Herz zu verschaffen. (KpV 5:156, vgl. 5:151, GMS 4:410 f.)
Die Annahme, dass Kants prudentielle Kritik an den Leidenschaften in der Anthropologie dazu dienen soll, seine moralische Kritik zu stützen, ist also nicht plausibel – der Grund für ihre parallele Diskussion scheint vielmehr darin zu bestehen, dass Leidenschaften im doppelten Sinn vernunftwidrig sind, in moralischer und in prudentieller Hinsicht. Eine stützende Relation besteht jedoch in umgekehrter Richtung: Mit Blick auf die konkrete Pflichtausübung hat das persönliche Glück nach Kant nämlich durchaus eine gewisse Relevanz: Unzufriedenheit und unbefriedigte Bedürfnisse können leicht zur Pflichtübertretung verleiten, weshalb er die Förderung des ei-
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genen Glücks als indirekte Pflicht begreift (GMS 4:399).¹⁰⁷ Es gibt demnach also moralische Gründe, sein Glück nicht durch Leidenschaften aufs Spiel zu setzen – nach Kant lässt sich Moralität nur moralisch begründen, für die lebenspraktische Förderung und Aufrechterhaltung persönlichen Glücks sprechen dagegen sowohl prudentielle als auch moralische Gründe. Überzeugender scheint mir deshalb die zweite Antwort: Wie ich dargestellt habe, ist Kants Idee der Glückseligkeit mit dem ganzheitlichen Anspruch einer systematischen Ordnung aller subjektiven Absichten verbunden.¹⁰⁸ Dieser ganzheitliche Anspruch verträgt sich nicht mit dem Gedanken, dass die leidenschaftliche „Totalisierung“ einer einzelnen Neigung erfolgreich sein könnte. Das Glück eines leidenschaftlichen Subjekts darf bei Kant kein echtes Glück sein. Trifft diese Diagnose zu, so ist die Vorstellung, dass sich der Ehrsüchtige und der Habsüchtige notwendig um ihr Glück bringen, weniger das Ergebnis empirischer Beobachtung als eine theoretische Vorentscheidung, unter der Kant seine anthropologische Untersuchung der Leidenschaften anstellt. Kant beginnt mit einer begrifflichen Festlegung, die das Verhältnis zwischen Vernunft und Leidenschaft in moralischer und in prudentieller Hinsicht definiert, und demonstriert dann im Rekurs auf empirische Beobachtungen, warum einzelne Leidenschaften in beiden Hinsichten unvernünftig sind. Dieser deduktive Ansatz erklärt auch, warum Kant keine positiv besetzten Leidenschaften diskutiert – etwa kognitive Leidenschaften wie Neugier oder Staunen und ihre konstruktive Bedeutung für die Wissenschaften.¹⁰⁹ Eine solche positive Beurteilung würde nach Kant nämlich voraussetzen, dass sie als rational kontrollierte Neigungen auftreten, und damit würden sie aus seiner engen Definition der Leidenschaft herausfallen.
6.3.6 Habsucht Eine Sonderstellung innerhalb des Kantischen Systems der Leidenschaften nimmt die Habsucht ein, strukturell wie mit Blick auf Kants Bewertung. Habsucht zielt Kant zufolge unmittelbar auf eine übermäßige Akkumulation von Geld ab, mittelbar aber ebenso wie Ehrsucht und Herrschsucht auf die Möglichkeit, andere Menschen nach Belieben beeinflussen zu können. Kant weist ihr allerdings insofern einen besonderen Status zu, als das Verlangen nach Reichtum leicht zum Selbstzweck mutiert, dem der Habsüchtige seine ganze Aufmerksamkeit widmet – Für eine ausführliche Diskussion vgl. Abschnitt . „Indirekte Pflichten“. Vgl. S. . Zur Bedeutung der kognitiven Leidenschaften in den Wissenschaften des . und . Jahrhunderts vgl. Daston .
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„unter Verzichtthuung […] auf allen Gebrauch“. Zugleich verleiht aber auch der ungenutzte Reichtum eine Macht, die alle anderen Formen der Macht zu übertreffen scheint (Anth 7:274). Der Reiche wird aufgrund seiner Unabhängigkeit und der Vielfalt seiner Handlungsoptionen von anderen demütig bewundert, denn alles, „was menschliche Kräfte hervorbringen können, kann man für ein Vermögen haben“ (V-Mo/Collins 27:400). Die immense Attraktivität und Selbstzweckhaftigkeit des Geldes erläutert Kant psychologisch als das illusorische Vergnügen an ungenutzten Genussmöglichkeiten: Sie [die Reichen] nähren sich also mit dem Gedanken von dem Genuß, den sie in ihrer Gewalt haben; sie gehn alle in prächtigen Kleidern; sie fahren in Kutschen mit 6 Pferden; sie eßen täglich 12 Gerichte; aber alles in Gedanken; […] Der Besitz des Vermögens dient ihnen zum wirklichen Besitz alles Vergnügens; sie können durch den bloßen Besitz des Vermögens alles Vergnügen genießen und alles Vergnügen entbehren. (V-Mo/Collins 27:400)
Gerade die Beschränkung auf den nur möglichen Genuss scheint diesen auf Dauer sicherzustellen.¹¹⁰ Ein Gedanke, der sich hundert Jahre später in Georg Simmels Philosophie des Geldes wiederfindet, der ihn darüber erläutert, dass Geld „ein absolut qualitätsloses Ding“ ist, dessen Akkumulation die berüchtigte Diskrepanz zwischen Wunsch und Erfüllung überwindet, weil Geld, das man nicht ausgibt, eben nicht vermag, „was doch sonst das armseligste Objekt kann: Überraschungen oder Enttäuschungen in seinem Schoße bergen“.¹¹¹ Auch Kant betont die Qualitätslosigkeit des Geldes, indem er schreibt, dass es uns ungenutzt das größte Vergnügen bereitet, weil es dann unendliche Möglichkeiten der Verwendung zu bieten scheint. Da wir nach Kant dazu tendieren, diese Möglichkeiten nicht „disjunktiv“, sondern „kollektiv“ zu begreifen und so dem Irrtum zu erliegen, wir könnten alles kaufen, erleben wir jede konkrete Ausgabe als Begrenzung unserer Möglichkeiten und damit als Verlust (V-Mo/Collins 27:403). Anders als Ehrsucht und Herrschsucht ist Habsucht nicht deshalb prudentiell unklug, weil sie Widerstand hervorruft – im Gegenteil, selbst dem Wucherer, so Kant unter Berufung auf Alexander Pope, wird noch Bewunderung zuteil (Anth 7:274 Anm.). Dank dieser Bewunderung ist die Macht des Habsüchtigen nicht nur größer, sondern auch sicherer als die des Ehr- oder Herrschsüchtigen. Zwar läuft auch er Gefahr, seine Zwecke zu verfehlen, wenn andere sein Interesse für ihre Zwecke zu gebrauchen verstehen (Anth 7:272), doch angesichts der allgemeinen Diesen Gedanken erweitert Kierkegaard in Entweder-Oder zum programmatischen Grundsatz der ästhetischen Lebensform in ihrer reflektiertesten Ausprägung. Vgl. die Kapitel „Die Wechselwirtschaft“ und „Das Tagebuch des Verführers“ in Kierkegaard . Simmel , S. ; vgl. Hirschman , S. f.
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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Bewunderung zieht er Kant zufolge weniger Groll auf sich als der Ehr- oder Herrschsüchtige. Doch obwohl der Habsüchtige seinen mittelbaren Zweck – die Möglichkeit zur Beeinflussung anderer Menschen – also durchaus erreichen kann, ist erwartungsgemäß auch er wie jeder leidenschaftliche Akteur unklug: In seiner Fixierung auf Geld macht er einen „Theil seines Zwecks zum Ganzen“ (Anth 7:266) und vernachlässigt darüber alle anderen Bedürfnisse – und zwar umso drastischer, je geiziger er ist. Überraschend mild und unentschieden fällt dagegen Kants moralische Beurteilung der Habsucht aus.Während er in der Metaphysik der Sitten noch schreibt, dass Habsucht die Pflicht zur Wohltätigkeit gegen andere verletzt und in besonders geiziger Variante auch die Pflicht, seine eigenen grundlegenden Bedürfnisse zu stillen (MS 6:432)¹¹², heißt es in der Anthropologie in einer irritierenden Passage: Diese ganz geistlose, wenn gleich nicht immer moralisch verwerfliche, doch blos mechanisch geleitete Leidenschaft, welche vornehmlich dem Alter (zum Ersatz seines natürlichen Unvermögens) anhängt und die jenem allgemeinen Mittel seines großen Einflusses halber auch schlechthin den Namen eines Vermögens verschafft hat, ist eine solche, die, wenn sie eingetreten ist, keine Abänderung verstattet und, wenn die erste der drei gehaßt, die zweite gefürchtet, sie als die dritte [im moralischen Sinn] verachtet macht. (Anth 7:274 m.H.)
Wie kommt Kant dazu, ausgerechnet diejenige Leidenschaft, die Jahrhunderte als „die tödlichste aller Todsünden“¹¹³ galt, als „nicht immer moralisch verwerflich“ zu bezeichnen? Kant formuliert diesen Gedanken auffallend vorsichtig; doch auch wenn die Habsucht nur unter bestimmten Bedingungen eine moralisch akzeptable Leidenschaft ist, steht dies in einem eklatanten Widerspruch nicht nur zur Tradition, sondern auch zu grundlegenden Thesen seiner eigenen Leidenschaftsauffassung: Wenn selbst wohlwollende Neigungen böse sind, sobald sie zur Leidenschaft mutieren, weil dabei die Befolgung des moralischen Gesetzes der betreffenden Neigung untergeordnet wird (Anth 7:267), warum sollte dann ausgerechnet die Habsucht eine Ausnahme bilden? Es erscheint äußerst seltsam, dass gerade diejenige Leidenschaft, die die größte Macht verleiht, andere zu manipulieren, unter bestimmten Bedingungen moralisch akzeptabel sein soll. Abwegig erscheint dies auch deshalb, weil sie offenbar früher als jede andere Leidenschaft
In der Metaphysik der Sitten nennt Kant die geizige Variante nicht Habsucht, sondern „kargen Geiz“, den er vom „habsüchtigen Geiz“ unterscheidet. Der karge Geiz zielt darauf ab, alle Mittel des Wohllebens anzuschaffen, um sie zu besitzen (Reichtum als Selbstzweck). Der habsüchtige Geiz stellt dagegen darauf ab, alle Mittel des Wohllebens anzuschaffen, um daraus größtmöglichen Genuss zu ziehen („Verschwendung“). In der Anthropologie übergeht Kant diesen Unterschied und betrachtet offenbar beide als Varianten der Habsucht. Hirschman , S. .
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als unheilbar gelten muss, da sie, sobald sie „eingetreten ist, keine Abänderung verstattet“ (Anth 7:274) und also die innere Freiheit des Subjekts besonders gefährdet (MS 6:434). Aus welchen Gründen verharmlost Kant also eine Leidenschaft, die gemessen an seinen eigenen Maßstäben moralisch besonders problematisch erscheint? Kants Behauptung, dass die Habsucht eine „ganz geistlose“ und „bloß mechanisch geleitete Leidenschaft“ ist, kann als Begründung wohl kaum überzeugen. Da die Habsucht wie alle Leidenschaften eine Maxime voraussetzt (Anth 7: 266, MS 6:432), kann „geistlos“ und „mechanisch“ hier nicht bedeuten, dass der Habsüchtige durch seine Neigung determiniert wird, ohne es sich auch nur unbewusst zur Maxime zu machen, ihr zu folgen.¹¹⁴ Ohne eine solche Maxime wäre die Habsucht nämlich keine Leidenschaft, sondern ein von außen determinierter, gewohnheitsmäßiger Zwang, der nur deshalb moralisch nicht verwerflich ist, weil er dem Habsüchtigen moralisch nicht zugerechnet werden kann. Wenn Kant also von einer geistlosen und mechanisch geleiteten Leidenschaft spricht, bedeutet dies wohl eher, dass der Habsüchtige seine Leidenschaft verfolgt, ohne viel Scharfsinn darauf zu verwenden, welche Mittel zur Vermehrung seines Reichtums am besten geeignet sind (etwa der geschickte Gebrauch seiner Macht über andere) und wohl auch ohne ausgeprägte Vernünftelei, denn die Fähigkeit, „[e]twas zu verdunckeln ist die Kunst gescheuter Köpfe“ (V-Anth/Pillau 25:737). Für diese Deutung spricht auch, dass Kant kein vernünftiges Analogon benennt, das eine vermeintliche Legitimierung stützen könnte. Kant scheint sich den Habsüchtigen als langweiligen und stumpfsinnigen Pedanten vorzustellen; geradezu spöttisch beschreibt er die Habsucht als Leidenschaft des Alters, die natürliches Unvermögen kompensieren soll (Anth 7:274). Kants Tendenz, die Habsucht trotz der Feststellung, dass Geld die größte Macht verleiht, weniger schlimm zu finden als die beiden anderen Leidenschaften der kulturbedingten Trias – Ehrsucht und Herrschsucht – ist aus der Sicht heutiger philosophischer Ökonomiekritik überraschend, fügt sich aber ausgezeichnet in einen ideologischen Transformationsprozess seiner Zeit: In seiner brillanten Studie Leidenschaften und Interessen zeichnet Albert Hirschman nach, wie die Habsucht im 17. und 18. Jahrhundert eine moralische Umwertung erfährt und dabei auch begrifflich aufgewertet wird: Im Mittelalter noch die schlimmste aller Leidenschaften wird die Habsucht zum gebilligten und schließlich sogar befürwor-
Wie Timmermann gehe ich davon aus, dass Maximen nicht notwendig bewusst gewählte Maximen sind – die aktivische Rede von „es sich zur Maxime machen“ besagt hier also nur, dass uns Maximen niemals aufgezwungen werden, denn nur unter dieser Bedingung können wir nach Kant überhaupt verantwortlich für unser Handeln sein. Vgl. Timmermann , S. .
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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teten „Interesse“.¹¹⁵ Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Gedanke, dass das Verlangen nach Reichtum ruhig und kalkulierend sei und deshalb „bestimmte menschliche Neigungen und Triebe unterdrücken und eine weniger vielgestaltige, weniger unberechenbare und eine eher „eindimensionale“ Persönlichkeit präg[t]“.¹¹⁶ Nach Hirschman kannte die Sorge über die zerstörerischen Kräfte der Leidenschaften zu dieser Zeit nur eine Ausnahme: die „Ausnahme, wie es damals schien, der „harmlosen“ Habsucht“. Ihre radikale Neubewertung als (vergleichsweise) unbedenkliches Interesse erlaubte es, eine Leidenschaft, die über Jahrhunderte verurteilt und verachtet worden war, auf einmal als nützliches Mittel zu betrachten, um andere Leidenschaften wie die Gier nach Macht oder Ehre zu bekämpfen und einzudämmen. Nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch mit Blick auf die gesellschaftspolitische Entwicklung konnten ihr damit förderliche Wirkungen zugesprochen werden.¹¹⁷ Hirschman bezieht seine Überlegungen nicht auf Kant.¹¹⁸ Umso erstaunlicher ist es, wie gut sie sich auf Kants Position übertragen lassen und zum Teil bis ins Detail Bestätigung finden: Auch Kants habsüchtiger Pedant zeichnet sich durch eine wenig vielgestaltige, wenig unberechenbare und eher eindimensionale Persönlichkeit aus. Er verfolgt seine Leidenschaft mit geistloser, mechanisch kalkulierender Ruhe. Zudem spricht Kant im Kontext der Habsucht ausdrücklich von „Interesse“ (Anth 7:272). Selbst die Vorstellung, dass sie andere Leidenschaften neutralisieren könnte, wird angedeutet: Die Macht des Geldes ist so groß, dass „man glaubt, dass sie den Mangel jeder anderen zu ersetzen hinreichend sei“ (Anth 7:274). Habsucht kann also durchaus als Gegengewicht der beiden anderen Leidenschaften der Macht – Ehrsucht und Herrschsucht – fungieren. Kant geht allerdings nicht so weit, sie deshalb als nützliche Leidenschaft zu bezeichnen; gegen ein positives Verständnis der Leidenschaften verwahrt er sich explizit (Anth 7:267). Dennoch schlägt sich die von Hirschman identifizierte, allgemeine Tendenz einer Verharmlosung der Habsucht erkennbar in seiner Auffassung nieder und scheint verantwortlich für das spannungsvolle Nebeneinander von Verurteilung und relativer Unbedenklichkeit in Kants moralischer Bewertung der Habsucht.
Hirschman , S. – . Hirschman , S. ; vgl. S. – . Hirschman , S. , – , – natürlich gab es Gegenstimmen, wie auch Hirschman ausdrücklich betont (vgl. S. f.). Die Existenz solcher expliziten Gegenstimmen falsifiziert jedoch nicht Hirschmans These, sondern weist vielmehr auf die Bedeutung der von ihm aufgezeigten Entwicklung hin. Hirschman erwähnt Kant in der gesamten Studie nur einmal und zwar im Kontext der bereits zitierten Feststellung, dass sich die „unheilige Trinität“ von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht von Dante bis zu Kant finden lässt; Hirschman , S. .
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6.3.7 Wahn „Wahn“ ist Kant zufolge eine eigenständige Leidenschaft. Das überrascht, denn unter Wahn scheint er im Kontext seiner Diskussion der Leidenschaften in der Anthropologie nichts anderes zu verstehen als den Vorgang der Selbsttäuschung durch Scheingründe, der Charakteristikum stark ausgeprägter Leidenschaften ist und ihre Tendenz zur Unheilbarkeit bedingt. Wie bereits gesehen, ist Wahn bei Kant definiert als „die innere praktische Täuschung, das Subjective in der Bewegursache für objectiv zu halten“ (Anth 7:274). Er entspricht damit der zweiten aufgezeigten Variante des „Vernünftelns“, die anders als die erste nicht versucht, die normative Kraft moralischer Pflichten herunterzuspielen, sondern umgekehrt die Forderungen der Leidenschaft so aufzuwerten, dass sie moralisch berechtigt erscheinen.¹¹⁹ Wie eng die begriffliche Verbindung von Wahn, Vernünfteln und Leidenschaft ist, wird auch daran deutlich, dass Kant Vernünfteln und Wahn begrifflich korreliert („mit Vernunft rasen“ wird als eine starke, wahnhafte Ausprägung des Vernünftelns definiert) und Leidenschaft wiederum explizit mit Wahn identifiziert (Anth 7:200, 252, 253, KU 5:275). Vorsichtiger heißt es zwar an anderer Stelle, dass Leidenschaften „mit dem Vernünfteln zusammen bestehen können“ (Anth 7:265 m.H.). Doch wie Kant betont, sind Leidenschaften „oft bis zum Wahnsinn heftig“ (Anth 7:271, vgl. auch 7:270) oder gar grundsätzlich „als ein Wahnsinn anzusehen, der über einer Vorstellung brütet, die sich immer tiefer einnistelt.“ (Anth 7:253). Wahn kann also zumindest als Merkmal heftiger Leidenschaften gelten und damit als Merkmal derjenigen Leidenschaften, die nach Kant besonders gefährlich sind. Wenn Wahn aber Charakteristikum heftiger Leidenschaften ist, wie kann er dann selbst eine Leidenschaft sein? Kant gibt darauf keine explizite Antwort. Doch im Kontext seiner übrigen Überlegungen zu den Leidenschaften erscheint es plausibel, Wahn als deren höchste Steigerungsform zu begreifen, als eine Art Meta-Leidenschaft, in die alle übrigen Leidenschaften kulminieren, wenn sie in Folge ihrer Scheinlegitimierung jeden Bezug zur Wirklichkeit und damit jeden konkreten Gegenstand verloren haben. Ganz im Sinne dieser Kulminationsthese ist der Wahn in der Anthropologie die letzte Leidenschaft, die Kant im Einzelnen betrachtet. Im Wahn ist die Phantasie nach Kant „Selbstschöpferin“ (Anth 7:275) – das lässt sich so verstehen, dass sich der Wahnsinnige zunehmend unabhängig macht von den empirischen Ausgangsbedingungen der zugrunde liegenden Leidenschaft und die Bedingungen, die seinen Wahn unterhalten, mehr und mehr selbst erfindet:
Vgl. S. .
6.3 Natürliche und kulturbedingte Leidenschaften
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Die Täuschung durch die Stärke der Einbildungskraft des Menschen geht oft so weit, daß er dasjenige, was er nur im Kopf hat, außer sich zu sehen und zu fühlen glaubt. (Anth 7:178)
Während die anderen Leidenschaften, die Kant untersucht, wahnhafte Verabsolutierungen empirisch bedingter Begierden sind – nach Freiheit, Rache, Ehre, Gewalt, Geld oder Einfluss über andere Menschen –, scheint der Wahn als Leidenschaft bloßer Wahn zu sein, ein verselbständigtes Gedankengebilde, das ohne Realitätsbezug auskommt. Der Wahnsinnige macht aus seiner Leidenschaft ein selbstgenügsames und selbstzweckhaftes System und ist schließlich, um eine berühmte Formulierung John McDowells abzuwandeln, „frictionless spinning in the void“. Wie eine Leidenschaft, die über eine bestimmte Absicht definiert ist, in bloßen Wahn übergeht, lässt sich nachvollziehen an David Van Reybroucks Darstellung von Mobutu in Kongo. Eine Geschichte. Rhetorisch bemerkenswert nah an Kant beschreibt Van Reybrouck Mobuto als einen herrsch- und habsüchtigen Tyrannen, der sich im Dienste seiner Leidenschaften selbst versklavt: Wie es seinem Volk ging, wurde Mobutu zunehmend egal. Er war so intensiv damit beschäftigt, seine Stellung zu sichern, dass er wichtige Regierungsaufgaben vernachlässigte. Autos, Ämter, Tagespauschalen und Botschaftsposten verteilte er mit manischer Besessenheit ohne Rücksicht auf die Staatskasse. […] Er und sein Gefolge waren durch wechselseitige Verpflichtungen und Vorteilsgewährungen miteinander verflochten. Die finanzielle Unterstützung dankten ihm seine Anhänger mit der Loyalität, die er benötigte, um an der Macht zu bleiben. Mobutu brauchte sie, sie brauchten Mobutu. Ein Zweckbündnis. Mobutu war der Sklave seines Machthungers.¹²⁰
Durch korrupte und oft auch extrem gewaltsame Machenschaften versucht Mobutu seine Macht zu sichern und auszubauen. Im Laufe seiner über dreißigjährigen Diktatur nehmen seine Aktivitäten zur Sicherung und Stärkung der eigenen Macht jedoch verstärkt wahnhafte Züge an und erscheinen häufig alles andere als funktional. Die folgende Szene aus dem Jahr 1983 verdeutlicht, dass Mobutu seinen unbedingten Machtanspruch auf zunehmend realitätsferne Weise verteidigt. Sein wahnhafter Machthunger entwickelt sich, so Van Reybrouck, zum „entfesselten Wahnsinn“: Mobutu, Oberbefehlshaber der Armee, der beim Aufstand in Shaba eine jämmerliche Figur abgegeben hatte, sollte nun den historisch seltenen Rang eines Marschalls erlangen! Die Idee stammte natürlich von ihm selbst. […] Die Fotos von der Zeremonie seiner Ernennung zum Marschall zeugen von beispielloser Selbstherrlichkeit. […] Jeder Marschall brauche einen
Van Reybrouck , S. .
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Wappenspruch, verkündete er […] Der seine laute: Toujours servir. Allzeit dienen. Das war nicht einmal mehr zum Lachen. Es war der traurige Gipfel des entfesselten Wahnsinns.¹²¹
In Kants Begriffen ließe sich diese Klimax so beschreiben: Mobutu wird vom paradigmatischen Herrschsüchtigen zum Wahnsinnigen.
6.4 Die tragische Dimension der Selbsttäuschung Kants Ausführungen zu einzelnen Leidenschaften verhalten sich zu seiner allgemeinen Konzeption der Leidenschaft teils als Präzisierungen, teils als Korrekturen: Seine Erläuterungen zu Freiheitsleidenschaft, Rachbegierde, Ehrsucht, Herrschsucht und Wahn unterstreichen seine negative Einschätzung der Leidenschaften; die Habsucht erfährt dagegen in moralischer Hinsicht eine unerwartete Aufwertung, die sie eher in die Nähe eines legitimen Interesses rückt. Da sich die ambivalente Beurteilung der Habsucht innerhalb der Kantischen Theorie nicht gut begründen lässt, habe ich im Rekurs auf Albert Hirschman dafür argumentiert, das positive Moment dieser Ambivalenz auf einen ideologischen Wandel in der Aufklärung zurückzuführen, der mit der Entkopplung der Habsucht von den anderen Leidenschaften die Voraussetzungen dafür schafft, den Gedanken des individuellen und gesellschaftspolitischen Fortschritts eng mit der Verfolgung ökonomischer Interessen zu verknüpfen. Wie ich gezeigt habe, ist auch Kants Analyse der beiden anderen kulturbedingten Leidenschaften teilweise problematisch, insbesondere in prudentieller Hinsicht: Vor dem Hintergrund allgemeiner Erfahrungswerte erscheint seine Darstellung des Ehrsüchtigen und des Herrschsüchtigen als lächerliche Figuren, die ihre Pläne durchkreuzen, einseitig verkürzt. Und auch mit seiner eigenen These, dass das Verfahren einer scheinbaren Rationalisierung die Kunst gescheiter Köpfe sei, verträgt sich die zugeschriebene „Torheit“ und „Narrheit“ nur dann, wenn zwischen kluger Vernünftelei und kluger Realisierung der eigenen Absichten unterschieden wird, und man im ersten Sinne klug sein kann, ohne dies auch im zweiten zu sein. Andererseits zeichnet Kant ein differenziertes und plausibles psychologisches Modell der Selbsttäuschung, das er in seinen Einzeldarstellungen präzise erläutert als Rationalisierungsprozesse, im Zuge derer aus einer gewissen Ähnlichkeit zwischen der jeweiligen leidenschaftlichen Neigung und einem Vernunftbegriff bzw. einer vernunftbegründeten „Begierde“ eine scheinbare Identität konstruiert
Van Reybrouck , S. .
6.4 Die tragische Dimension der Selbsttäuschung
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wird. In Kants Analyse kommt die Selbsttäuschung einer Selbstsabotage gleich: Das leidenschaftliche Subjekt verfehlt sein Glück und läuft Gefahr, sich von anderen für ihre Zwecke instrumentalisieren zu lassen. Kant misst der Selbsttäuschung und der Selbstsabotage so große Bedeutung bei, dass er den Wahn als eigenständige Leidenschaft diskutiert – ich habe dafür argumentiert,Wahn als die höchste Steigerungsform von Leidenschaft zu interpretieren, als verselbständigten Wahn. Die tragische Pointe der Selbsttäuschung besteht darin, dass ausgerechnet der Wunsch, sich als moralischer Akteur zu verstehen, das wichtigste Motiv für die scheinbare Legitimierung der Leidenschaft darstellt. Das zumindest implizite Anliegen, kein „schlechter Mensch“ zu sein, ist für das Selbstbild der meisten Menschen grundlegend. Die meisten wollen sich als Personen verstehen, deren einzelne Handlungsentscheidungen und allgemeine Lebensweise moralisch legitim sind, und für viele ist dies eine konstitutive Bedingung ihrer Identität. Eben dieses Anliegen setzt jedoch einen mächtigen Anreiz, unmoralische Handlungen und Lebensweisen vor sich selbst so aussehen zu lassen, als ob sie moralisch zumindest zulässig wären – und zementiert sie auf diese Weise. Als aktuelle Beispiele habe ich den Konsumenten genannt, der nach dem Kauf von Bio-Produkten weniger davor zurückschreckt, sich unmoralisch zu verhalten und den nur scheinbar umweltbewussten Kaffeetrinker. Kant stellt überzeugend dar, wie ein Anliegen, das an sich positiv zu bewerten ist, destruktive Folgen haben kann, wenn versucht wird, es auf inkonsistente Weise zu realisieren. *** Im ersten Kapitel wurde Kants moralische Anthropologie als eine Wissenschaft eingeführt, die dem Anspruch nach praktisch orientiert ist. Ihr Ziel besteht darin, dem Menschen nützliches Wissen bereitzustellen, damit er die Forderung der praktischen Vernunft, sich selbst zu einem besseren Menschen zu machen und auf eine moralische Verbesserung der Welt hinzuwirken, realisieren kann. Die Analyse von Affekten und Leidenschaften hat nun deutlich gemacht, wie Kant das erste Element dieses programmatischen Anspruchs – die Identifikation empirischer Hindernisse von Moralität – einzulösen versucht. Ich habe argumentiert, dass dies auf formaler und inhaltlicher Ebene geschieht: Die bewusste Deplatzierung der Affekt-Analyse innerhalb der Anthropologie und die auffallend starke Metaphorik in Kants Auseinandersetzung mit Affekten und Leidenschaften zielen darauf ab, Leser und Zuhörer aktiv einzubinden und ihre Selbsterkenntnis zu fördern, um so die Voraussetzungen für eine vernünftige Selbstkontrolle zu schaffen. Auf inhaltlicher Ebene wird die moralische und prudentielle Problematik der Affekte bzw. Leidenschaften auf eine kurzzeitige Verhinderung vernünftiger Überlegung bzw. ihre anhaltende Korruption zurückgeführt und am Beispiel einzelner Affekte und Lei-
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6. Leidenschaften
denschaften demonstriert. Besondere Berücksichtigung finden dabei soziale und psychische Umstände, die nach Kant die Entstehung schwer oder gar nicht mehr kontrollierbarer Affekte und Leidenschaften begünstigen – die genaue Kenntnis dieser Umstände soll einen verantwortlichen Umgang mit ihnen ermöglichen.
Teil II Hilfsmittel. Der moralische Schein, Charakterbildung und Mitgefühl
7. Der Moralische Schein Die beiden Aufgaben einer moralischen Anthropologie nach Kant sind komplementär: Seiner Diskussion von Affekten und Leidenschaften als Hindernissen einer moralischen Lebensführung steht eine Analyse empirischer Hilfsmittel gegenüber, die ersteren entgegenwirken und Moralität positiv fördern sollen. Innerhalb der Anthropologie sind dies vor allem zwei Hilfsmittel: der „moralische Schein“ und die Herausbildung eines Charakters, der auf bewusst gefassten Grundsätzen beruht. Emotionale Hilfsmittel, insbesondere die Kultivierung von Mitgefühl, werden vor allem in der Metaphysik der Sitten besprochen. Im Rekurs auf Passagen aus beiden Schriften sowie aus der Kritik der reinen Vernunft werde ich im Folgenden zunächst Kants spannungsvolle Konzeption des moralischen Scheins diskutieren (7). Anschließend untersuche ich die moralanthropologische Relevanz der notorisch schwierigen Unterscheidung von Revolution und Reform in Kants Charakterkonzeption. Mit Blick auf die moralische Entwicklung konkreter Akteure ist vor allem der Reformgedanke von Bedeutung. Er verweist auf ein weiteres zentrales Hilfsmittel, nämlich auf die moralische Erziehung (8). Danach zeige ich am Beispiel der Kultivierung von Mitgefühl, wie zwei Konzepte der Reform, nämlich die Reform der „Sinnesart“ und die Reform der „Denkungsart“, ineinandergreifen. Ich arbeite die moralischen Funktionen der Kultivierung von Mitgefühl nach Kant heraus und argumentiere im Rekurs auf neuere Emotionsforschung für ein Verständnis des Kultivierungsprozesses, das sowohl als KantInterpretation als auch sachlich überzeugen kann (9). *** Welche empirischen Maßnahmen können dabei helfen, problematische Affekte und Leidenschaften zu kontrollieren? Wie gesehen, sind viele Affekte bei Kant stark physisch konnotiert und werden im wörtlichen Sinn als Bewegungen beschrieben. Es überrascht deshalb nicht, dass er empfiehlt, ihnen auf physischer Ebene entgegenzuwirken: Wer zornig ist, so der einfache Ratschlag, soll sich hinsetzen, „weil die Gemächlichkeit des Sitzens eine Abspannung ist, welche mit den drohenden Geberdungen und dem Schreien im Stehen sich nicht wohl vereinigen läßt.“ (Anth 7:252) Gegen die Leidenschaften ist mit so simplen, äußerlichen Mitteln nichts auszurichten. Hier braucht es differenziertere und langfristige Maßnahmen: Sustine et abstine, ist die Vorbereitung zu einer weisen Mäßigkeit. Wenn man einen guten Charakter bilden will: so muß man erst die Leidenschaften wegräumen. Der Mensch muß sich in Betreff seiner Neigungen so gewöhnen, daß sie nicht zu Leidenschaften werden, sondern
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7. Der Moralische Schein
er muß lernen, etwas zu entbehren, wenn es ihm abgeschlagen wird. Sustine heißt: erdulde und gewöhne dich zu ertragen! (Päd 9:486 f.)¹²³
Da vollständig ausgeprägte Leidenschaften nach Kant unheilbar sind, muss ihnen präventiv begegnet werden: Wir sollen frühzeitig lernen, uns von unseren Neigungen zu distanzieren und mit Widerständen umzugehen; wir sollen lernen, Widerspruch zu akzeptieren und zu verzichten (Päd 9:487). Origineller und zugleich erstaunlich ist, dass Kant ausgerechnet eine bestimmte Form der Täuschung als geeignetes Mittel ansieht, um der leidenschaftlichen Selbsttäuschung vorzubeugen: Der „moralische“ bzw. „schöne Schein“ vorgetäuschter Tugenden sei eine erlaubte Form der Selbsttäuschung, die uns dabei helfe, „den Betrüger in uns selbst, die Neigung[¹²⁴], zu betrügen“ (Anth 7:151, vgl. 152). Je zivilisierter eine Gesellschaft ist, desto mehr gleicht der soziale Umgang Kant zufolge einem Schauspiel – die Menschen täuschen sich wechselseitig Zuneigung und Achtung vor, geben sich uneigennützig, machen Komplimente, die sie nicht ernst meinen und verbergen ihre Absichten hinter höflicher Distanz (Anth 7:151, 152; MS 6:473). In der Idee zu einer Geschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht kommentiert Kant den moralischen Schein negativ: Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. […] Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend. (IaG 8:26)
In der Metaphysik der Sitten, der Kritik der reinen Vernunft und insbesondere in der Anthropologie schreibt er ihm dagegen eine (bedingt) positive Funktion zu. Gleich mehrfach betont er, dass vorgetäuschte Moralität ein geeignetes Mittel sei, um echte Moralität zu fördern: Es ist zwar nur Scheidemünze, befördert aber doch das Tugendgefühl selbst durch die Bestrebung, diesen Schein der Wahrheit so nahe wie möglich zu bringen […]. (MS 6:437) Denn dadurch, daß Menschen diese Rolle spielen,werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung über. (Anth 7:151)
Der Status der Pädagogik ist umstritten; der Vorwurf der Inauthentizität wurde allerdings in jüngerer Zeit überzeugend relativiert, vgl. z. B. Louden , S. – und Moran , S. – . Dennoch stütze ich meine Argumentation hauptsächlich auf Schriften, die Kant selbst veröffentlich hat. Kants Formulierung ist an dieser Stelle ungenau und deshalb missverständlich – längst nicht alle Neigungen sind „Betrüger in uns selbst“; vgl. RGV :.
7. Der Moralische Schein
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[D]iese anfänglich leeren Zeichen [leiten] nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hin. (Anth 7:152) Selbst der Schein des Guten an Anderen muß uns werth sein: weil aus diesem Spiel mit Verstellungen, welche Achtung erwerben, ohne sie vielleicht zu verdienen, endlich wohl Ernst werden kann. (Anth 7:153)
Das bringt verschiedene Schwierigkeiten mit sich: Gemessen an den Maßstäben seiner eigenen Moraltheorie kann Kant weder den Selbstbetrug noch den Betrug anderer befürworten. Relativierend hält er deshalb fest, dass der Betrug des Betrügers eigentlich gar kein Betrug sei, sondern schuldlose Täuschung unserer selbst: Aber den Betrüger in uns selbst, die Neigung, zu betrügen, ist wiederum Rückkehr zum Gehorsam unter das Gesetz der Tugend und nicht Betrug, sondern schuldlose Täuschung unserer selbst. (Anth 7:151 m.H., vgl. 7:149)
Tatsächlich hat Kant seiner Darstellung des moralischen Scheins durch zwei Einschränkungen eine recht harmlose Gestalt verliehen: So behauptet er erstens, dass jeder weiß, wofür er ihn nehmen muss, und schließt auf diese Weise aus, dass ein Betrug anderer stattfindet (Anth 7:151, 152). Zweitens macht er deutlich, dass die Selbsttäuschung nicht darin bestehen darf, dass wir die Moralität, die wir vortäuschen, für echte Moralität halten; „der Schein des Guten in uns selbst muß ohne Verschonen weggewischt und der Schleier, womit die Eigenliebe unsere moralischen Gebrechen verdeckt, abgerissen werden“ (Anth 7:153). Wer moralische Tugenden nur vortäuscht, muss also wissen, dass er sich verstellt. Er muss wissen, dass er nur vorgibt, aus moralischen Motiven zu handeln, um seine wahren Motive – etwa den Wunsch nach Anerkennung oder Einflussmöglichkeiten – dem Anschein nach zu verbergen. Es ist also ein epistemisches Kriterium, das den Unterschied zwischen erlaubter und verbotener Selbsttäuschung markiert. Für Kant ist der moralische Schein eine Art soziales Theater, bei dem alle Beteiligten mitspielen und alle wissen, dass es sich um ein Spiel handelt. Eine erlaubte Selbsttäuschung findet dabei nur insofern statt, als die Akteure dadurch, dass sie Moralität vortäuschen, ohne dies zu beabsichtigen oder auch nur zu wissen, eine echte Moralisierung vorbereiten; das Motiv, das ihrem Handeln zugrunde liegt, ist kein moralisches. Trotz dieser Einschränkungen sind nicht alle Schwierigkeiten ausgeräumt: Unklar ist erstens, wie aus den „leeren Zeichen“ vorgetäuschter Tugenden „echte Gesinnungen“ werden können. Nach Kant beziehen sich moralische Werturteile bekanntlich auf Maximen, nicht auf äußere Handlungen. Es kommt darauf an, nicht bloß das Gute zu tun, sondern es darum zu tun, weil es gut ist (so die prägnante Formulierung dieses elementaren Grundsatzes Kantischer Moralphilosophie in der Pädagogik, 9:475). Es kommt also darauf an, nicht nur zufällig
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7. Der Moralische Schein
Gutes zu tun – selbst wenn dies aus Gewohnheit, Neigung oder Disziplin zuverlässig geschieht –, sondern es deshalb zu tun, weil man überzeugt ist, dass es moralisch gut bzw. richtig ist. Die Richtigkeit einer Handlung darf nicht bloß ein zufälliger Nebeneffekt sein, sondern muss intrinsisch mit dem ihr zugrunde liegenden Handlungsmotiv zusammenhängen.¹²⁵ Nun lässt sich aber die Überzeugung, dass es richtig und deshalb geboten ist, anderen mit Achtung zu begegnen, nicht herbeiführen, indem man Achtung nur lange genug vortäuscht. Zwischen einerseits bloß scheinbarer und andererseits moralisch begründeter Achtung gegenüber anderen Menschen besteht nur äußerlich eine Ähnlichkeit. Das Motiv, das der Akteur mit seinem Handeln verfolgt, und die Haltung, die er anderen und auch sich selbst gegenüber einnimmt, unterscheiden sich in beiden Fällen grundlegend. Angesichts dieser fundamentalen Differenz stellt sich die Frage: Soll die moralitätsfördernde Funktion, die Kant dem moralischen Schein zuspricht, vielleicht nur in einer Vorbereitung bestehen, die zwar zur moralischen Entwicklung selbst nichts beiträgt, jedoch bestimmte Fähigkeiten schult, die auch der moralische Akteur benötigt? Auch nur vorgetäuschte Tugend setzt schließlich – wie echte Tugend – die Fähigkeit voraus, sich von unmittelbaren Bedürfnissen und Neigungen distanzieren zu können; auch für falsche Zuneigung und falsche Freundlichkeit braucht es ein gewisses Maß an Selbstdisziplin. Nach dieser Deutung würde der moralische Schein zwar nicht dabei helfen, dass wir lernen, unsere Bedürfnisse und Neigungen aus moralischen Gründen zu kontrollieren – doch immerhin die Fähigkeit trainieren, sich überhaupt kontrollieren zu können. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob diese Fähigkeit für sich genommen, nach Kantischen Maßstäben, moralisch überhaupt positiv zu bewerten ist, denn im Prinzip kann die erlernte Selbstkontrolle natürlich auch dazu genutzt werden, unmoralische Neigungen, insbesondere Leidenschaften, zu fördern. Warum sollten sich Ehrsüchtige oder Habsüchtige nicht der vorgetäuschten Achtung oder Zuneigung bedienen? Kant würde wohl antworten, dass damit die Grenzen des erlaubten Scheins überschritten sind, und die erlaubte Täuschung in verbotene Täuschung übergeht – der eigenen Person, weil Leidenschaft nach Kant immer mit Selbsttäuschung einhergeht; aber auch anderer, wenn diese den leidenschaftsbedingten Zweck des moralischen Scheins nicht durchschauen. Die moralische Problematik der Leidenschaften überträgt sich auf die Mittel, die für ihre Zwecke eingesetzt werden. Wirklich harmlos kann der moralische Schein im Rahmen der Kantischen Moralkonzeption nur sein, wenn die nicht-moralischen Motive, die ihm zugrunde liegen, im Bereich des moralisch Erlaubten liegen.
Für eine ausführliche Darstellung vgl. Herman , Kapitel und , bes. S. – .
7. Der Moralische Schein
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Daran schließt die zweite Schwierigkeit an: Können die beiden genannten Einschränkungen den moralischen Schein wirklich legitimieren? Sind falsche Komplimente, falsche Zuneigung und falsche Achtung nach den strengen Gesetzen der praktischen Vernunft wirklich erlaubt? Und wäre der moralische Schein nicht wirkungslos und damit sinnlos, wenn er nicht doch irgendwie betrügen würde? Tatsächlich hält Kant – entgegen seiner Annahme, dass jeder weiß, wofür er ihn nehmen muss (Anth 7:151, 152) – in der Kritik der reinen Vernunft fest, dass keiner „die Schminke der Anständigkeit, Ehrbarkeit und Sittsamkeit“ durchschaut (KrV A748/B776).¹²⁶ Einen denkbaren Ausweg aus dieser Schwierigkeit bieten die „Erlaubnisgesetze der Vernunft“,¹²⁷ die Kant in Zum ewigen Frieden für den Bereich internationaler Politik formuliert: Demnach kann es Staaten erlaubt sein, vorübergehend bestimmte Praktiken fortzuführen (etwa ein Stehendes Heer zu unterhalten oder Staatsschulden aufzunehmen), obwohl diese dem Vernunftgesetz widersprechen; und zwar dann, wenn die zeitweilige Fortsetzung dieser Praktiken dem übergeordneten moralischen Zweck einer zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen insofern dient, als ihre sofortige Unterlassung seine Verwirklichung gefährden würde. Wichtig ist jedoch, dass dieser übergeordnete Zweck nicht aus den Augen verloren wird und die Reformanstrengungen orientiert (ZeF 8:344 f., 8:347, 373 Anm.; vgl. auch MS 6:426). Analog ließe sich Kants bedingt positive Beurteilung des moralischen Scheins als eine Konzession verstehen, die den konkreten Schwierigkeiten einer schrittweisen Moralisierung Rechnung trägt, indem sie bestimmte Übel übergangsweise erlaubt. In diesem Sinn wird der moralische Schein in der Kritik der reinen Vernunft als Provisorium beschrieben, das helfen kann, „den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen“, in einem späteren Stadium der moralischen Entwicklung aber „kräftig bekämpft“ werden muss: Allein diese Anlage, sich besser zu stellen, als man ist, und Gesinnungen zu äußern, die man nicht hat, dient nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen und ihn zuerst wenigstens die Manier des Guten, das er kennt, annehmen zu lassen; denn nachher, wenn die echten Grundsätze einmal entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß jene Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, weil sie sonst das Herz verdirbt und gute Gesinnungen unter dem Wucherkraute des schönen Scheins nicht aufkommen läßt. (KrV A748/B776)
Problematisch bleibt allerdings, dass die Akteure den Zweck der Moralisierung, der den moralischen Schein „provisorisch“ legitimieren könnte, in Folge der
Trotzdem beurteilt er die „vermeintlich echten Beispiele des Guten“ hier bedingt positiv und bezeichnet sie als „eine Schule der Besserung“ mit provisorischer Funktion (KrV A/B). Vgl. Brandt , S. .
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7. Der Moralische Schein
Selbsttäuschung eben nicht vor Augen haben; denn dafür müssten sie diesen Zweck in ihre Maxime aufgenommen haben. Sie können sich deshalb auch nicht auf Erlaubnisgesetze berufen, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Da sie die Moralisierung ohne Absicht voranbringen, ist ihnen die Perspektive, aus der sich der moralische Schein als ein nützliches vorübergehendes Übel interpretieren lässt, gar nicht zugänglich. Dies führt zu folgendem Ergebnis: Kant beschreibt den moralischen Schein als ein provisorisches, äußeres Hilfsmittel, das den Prozess der Moralisierung auf passive Weise einleitet – nicht das Subjekt selbst ergreift die Initiative, sich moralisch zu bessern, sondern der moralische Schein wirkt gewissermaßen durch es hindurch. Kant greift in diesem Zusammenhang auf die problematische, teleologische Formulierung zurück, die Natur habe „den Hang, sich gerne täuschen zu lassen, dem Menschen weislich eingepflanzt, selbst um die Tugend zu retten, oder doch zu ihr hinzuleiten“ (Anth 7:153). Diese Verteidigung des menschlichen Hangs zur Täuschung ist jedoch nicht nur deshalb überraschend, weil sie auf eine vermeintliche Weisheit der Natur rekurriert, sondern auch deshalb,weil moralische Selbsterkenntnis für Kant das oberste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst ist (MS 6:441). Sicher gibt es Gründe, bestimmte Formen des moralischen oder auch nur schönen Scheins positiv zu beurteilen – Kant erwähnt beispielsweise, wie wichtig es aus prudentiellen Gründen ist, seine Gedanken zurückhalten zu können, da Menschen sonst wohl nicht „nebeneinander auskommen […] und sich mit einander vertragen könnten“ (Anth 7:332). Als ein passives, äußeres Instrument der Moralisierung wirkt der moralische Schein in Kants Moraltheorie jedoch wie ein Fremdkörper, der zu begrifflichen Spannungen führt. Er bildet damit einen anschaulichen Kontrast zu aktiven Formen der moralischen Charakterbildung, die ich in den folgenden beiden Kapiteln herausarbeiten werde. In der aktiven Reform des eigenen Charakters (seiner Denkungsart und seiner Sinnesart) drückt sich das dynamische Selbstverhältnis aus, durch das, wie ich im ersten Kapitel erläutert habe, der Mensch seinen Charakter nach Kant „selbst schafft“.
8. Charakterbildung 8.1 Verschiedene Charakterbegriffe Der Begriff des Charakters kommt in der Anthropologie in verschiedenen, nicht immer klar abgegrenzten Bedeutungen vor. In expliziter Anlehnung an die Semiotik (semiotica universalis) wird er allgemein als „Unterscheidungszeichen“ eingeführt, das eine Sache durch ihre spezifischen Merkmale – eben das für sie Charakteristische – definiert (Anth 7:285). Der gesamte zweite Teil der Anthropologie handelt von den verschiedenen Dimensionen einer anthropologischen Charakteristik; untersucht werden der „Charakter der Person“, der „Charakter des Geschlechts“, der „Charakter des Volks“, der „Charakter der Rasse“ und der „Charakter der Gattung“. Für eine im engeren Sinn moralische Anthropologie ist vor allem der Charakter der Person relevant, der seinerseits unterteilt wird in einen „physischen Charakter“, einen „Charakter schlechthin“ und einen „moralischen Charakter“.¹²⁸ Die Unterscheidung der ersten beiden Elemente dieser dreifachen Differenzierung – die Unterscheidung von physischem Charakter und Charakter schlechthin – entspricht der Unterscheidung von Sinnesart und Denkungsart, die Kant in der Anthropologie in großer Übereinstimmung mit der Religionsschrift erläutert. Ausdrücklich wird der Charakter schlechthin mit der Denkungsart identifiziert, die Kant in der Religionsschrift auch als Gesinnung bezeichnet. Der moralische Charakter wiederum entspricht nur einer ganz bestimmten Denkungsart, nämlich der moralisch-guten. Der Charakter der Person umfasst also einerseits den physischen Charakter bzw. die Sinnesart und andererseits den Charakter schlechthin, die Denkungsart bzw. die Gesinnung. Die Beschaffenheit des letzteren entscheidet darüber, ob der Charakter einer Person gut oder böse ist (Anth 7:285, 286, 292, 294; RGV 6:47 f.).¹²⁹
Alle drei Begriffe werden bereits in der Passage Anth : eingeführt. Der Unterschied zwischen moralischem Charakter und Charakter schlechthin bzw. Denkungsart wird jedoch erst im Kontext der Ausführungen Anth : – deutlich. Die Frage, wie sich die Unterscheidung von „physischem Charakter“, „Charakter schlechthin“ und „moralischem Charakter“ zur Unterscheidung von „empirischem“ und „intelligiblem“ Charakter in der Kritik der reinen Vernunft verhält, die dort ihrerseits mit der Unterscheidung von Sinnesart und Denkungsart gleichgesetzt wird (KrV A/B), kann hier nicht diskutiert werden. Nach Claudia Blöser kommt der intelligible Charakter in der ersten Kritik in drei Bedeutungen vor – als vernünftige Fähigkeit, als individuelle Eigenschaft und als die gute oder böse Gesinnung einer Person; vgl. Blöser , S. . In der Anthropologie (wie auch in der Religionsschrift und der Pädagogik) liegt der Fokus auf der dritten Bedeutung.
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8. Charakterbildung
Um die Bedingungen moralischer Charakterbildung untersuchen zu können, muss zunächst etwas genauer betrachtet werden, wie Kant den physischen Charakter und den Charakter schlechthin differenziert: Der physische Charakter bzw. die Sinnesart ist dem Menschen angeboren. Er umfasst seine empirischen „Naturanlagen“ und „Temperamente“ und bestimmt sein „Naturell“. In Anlehnung an die antike Humoralpathologie unterscheidet Kant vier grundlegende Veranlagungen bzw. „Temperamente“, die die physische und psychische Konstitution eines Menschen bestimmen und darüber sein Fühlen, Denken und Wollen beeinflussen: das sanguinische, das melancholische, das phlegmatische und das cholerische Temperament (Anth 7:286 ff.). Im Rekurs auf die Vorrede der Anthropologie wird der physische Charakter allgemein als das bestimmt, was die Natur aus dem Menschen macht, „wobei das Subject großentheils passiv ist“ (Anth 7:292) – zugleich aber, und dies wird im Folgenden noch wichtig sein, auch als das, was sich aus ihm machen lässt (Anth 7:285). Der physische Charakter ist zwar angeboren, aber nicht unveränderlich. Seinen Charakter schlechthin – die spezifische Qualität seiner Denkungsart bzw. Gesinnung – muss der Mensch nach Kant dagegen selbst hervorbringen, indem er seine Lebensführung an Grundsätzen ausrichtet: Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subject sich selbst an bestimmte praktische Principien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat. Ob nun zwar diese Grundsätze auch bisweilen falsch und fehlerhaft sein dürften, so hat doch das Formelle des Wollens überhaupt, nach festen Grundsätzen zu handeln […], etwas Schätzbares und Bewundernswürdiges in sich. (Anth 7:292; vgl. 294).
Die enge begriffliche Verzahnung von Grundsätzen und Charakter macht es nötig, kurz darzulegen, was Kant unter ersteren versteht: Grundsätze sind eine bestimmte Art von Maximen. Kants Maximenbegriff ist mehrdeutig, und es gibt eine kontroverse Debatte über seine Interpretation. Eine überzeugende Lösung zeigt Timmermann auf, indem er drei Bedeutungen unterscheidet: Maximen erster Stufe, höherstufige Maximen und feste Grundsätze.¹³⁰ Maximen erster Stufe sind subjektive Prinzipien, nach denen eine konkrete, zurechenbare Handlung tatsächlich geschieht. In ihnen drückt sich die Wahl einer konkreten Handlungsweise aus – etwa: „Ich rauche, um mich zu entspannen“. Höherstufige Maximen beziehen sich dagegen auf die Bildung von Maximen niederer Stufe. Sie führen also nicht direkt zu bestimmten Handlungen, sondern betreffen den Prozess der Maximenwahl, denn „Maximen (und ihre Zwecke) werden im Lichte höherer
Vgl. Timmermann , S. – .
8.1 Verschiedene Charakterbegriffe
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Maximen (und ihrer Zwecke) gewählt“.¹³¹ Wie Timmermann betont, müssen solche höherstufigen Maximen weder besonders präzise sein, noch ausnahmslos befolgt werden. Sie bringen vielmehr allgemeine Tendenzen zum Ausdruck, etwa: „Bei der Wahl von Maximen erster Stufe folge ich meinen unmittelbaren Antrieben und Neigungen.“ Unter Grundsätzen wiederum versteht Kant besonders charakteristische, bewusst gefasste Maximen, im Lichte derer Zwecke gesetzt, Maximen niederer Stufe gewählt und einzelne Handlungsentscheidungen getroffen werden. Grundsätze können moralisch-gut, moralisch-neutral oder unmoralisch sein. So kann ich beispielsweise bewusst den Grundsatz fassen, stets strategisch und langfristig zu planen, um mir und meiner Familie Sicherheit zu verschaffen. Oder aber ich wähle mit Montaigne den Grundsatz, meine „Wünsche auf die leichtesten und nächstliegenden Dinge [zu] richten und […mich] damit zufrieden[zu]geben“.¹³² Als bewusst angenommene Maximen bestimmen Grundsätze die Denkungsart eines Menschen und bringen zum Ausdruck, was er als vernunft- und freiheitsfähiges Wesen bereit ist, aus sich selbst zu machen (Anth 7:285, 292). In diesem Sinne artikuliert sich in ihnen, was für ein Mensch jemand sein will.¹³³ In der Religionsschrift geht Kant von einer hierarchischen Ordnung von Maximen aus. Maximen werden aus bestimmten Gründen angenommen, und diese Gründe haben ihrerseits die Form einer Maxime (RGV 6:20). Nach Kant beruht also jede Maxime auf einer Maxime höherer Stufe. Einzig der „subjective oberste Grund aller Maximen“ verweist nur noch auf sich selbst (RGV 6:32; vgl. 6:22, 43 m.H.). Diese höchste Maxime reflektiert die Einstellung des Subjekts gegenüber dem moralischen Gesetz in grundlegender und ganzheitlicher Form. Nach Kant gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder mache ich mir die Einhaltung des moralischen Gesetzes zur ausnahmslosen Bedingung der Verwirklichung meiner subjektiven Interessen – in diesem Fall wähle ich das Gute um seiner selbst willen, und meine höchste Maxime ist gut. Oder ich mache mir die Einhaltung des moralischen Gesetzes nicht zur ausnahmslosen Bedingung der Verwirklichung meiner subjektiven Interessen – in diesem Fall ist meine höchste Maxime böse. Mit der Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheidet das Subjekt über die moralische Qualität seines Charakters bzw. seiner Gesinnung. Die Gesinnung kann also
Timmermann , S. . Montaigne , S. . Vgl. Bittner , S. . Zur Kritik von Bittners Beschränkung des Maximenbegriffs auf „Lebensregeln“ vgl. Allison , S. f. und Timmermann , S. f.; nach Timmermann entsprechen Lebensregeln der dritten Bedeutung von Maximen, also bewusst gefassten Grundsätzen.
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8. Charakterbildung
nach Kant nur gut oder böse sein, Zwischenstufen gibt es nicht.¹³⁴ Sie ist gut, wenn das Subjekt dem moralischen Gesetz in seiner obersten Maxime ausnahmslos Priorität einräumt gegenüber allen Maximen der „Selbstliebe“.¹³⁵ Hat es dagegen auch nur „die (gelegentliche) Abweichung von demselben [dem moralischen Gesetz] in seine Maxime aufgenommen“, ist seine Gesinnung böse (RGV 6:32, 36). Es ist wichtig, festzuhalten, dass der Erwerb einer guten Gesinnung nicht verlangt, sich von allen nicht-moralischen, persönlichen Interessen loszusagen – für sinnliche, bedürftige Wesen wie uns ist dies nach Kant gar nicht möglich. Verlangt wird „nur“, die Vereinbarkeit mit dem moralischen Gesetz als unhintergehbare Bedingung der Verfolgung nicht-moralischer Interessen anzuerkennen und einen möglichen Konflikt zwischen Moralität und „Selbstliebe“ immer zugunsten der moralischen Forderungen zu entscheiden. Nicht immer wird das Subjekt die Beschränkung seiner Selbstliebe durch das moralische Gesetz als Beschränkung erleben, denn mit der Anerkennung moralischer Forderungen verändert sich, was überhaupt erstrebenswert erscheint. Wer etwa aus moralischen Gründen zum Vegetarier wird, nimmt den Verzicht auf Fleisch in der Regel mit der Zeit weniger und vielleicht irgendwann gar nicht mehr als Verzicht wahr. Sein Verlangen, Fleisch zu essen, nimmt ab oder verschwindet sogar ganz. Die Wahl einer guten Gesinnung verlangt keine Entscheidung gegen die Selbstliebe, sondern eine Entscheidung gegen ihren Vorrang.¹³⁶
Als Inbegriff aller Maximen (vgl. Abschnitt . „Revolution und Reform“) muss die höchste Maxime auf sich selbst verweisen, zumal ihre Wahl nur unter dieser Bedingung als freie Wahl verstanden werden kann. Wer sich das moralische Gesetz zur obersten Maxime seines Handelns macht, wählt das Gute um seiner selbst willen. Sobald andere Gründe ins Spiel kommen, wird die Entscheidung für das Gute unweigerlich heteronom (zu diesem Thema vgl. Schwartz , S. ). Auch für eine böse Gesinnung sind wir Kant zufolge verantwortlich – nicht, weil wir das Böse um seiner selbst willen wählen (wie ich an späterer Stelle erläutere, ist Kant zufolge das Böse für den Menschen niemals Selbstzweck), sondern weil wir nicht (bzw. nicht immer) das Gute wählen, obwohl wir es könnten. Die Möglichkeit einer freien Gesinnungswahl wirft schwierige Fragen auf, die hier nicht behandelt werden können. Henry E. Allison argumentiert dafür, sie als konstitutive Bedingung der Möglichkeit eines moralischen Selbstverständnisses aufzufassen; vgl. Allison , S. – . Zur hierarchischen Ordnung von Maximen vgl. Paton , S. f. und Beck , S. f. „Alle materiale praktische Principien sind, als solche, insgesammt von einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Princip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit.“ (KpV :) Mit Barbara Herman lässt sich die kritische Frage stellen: „Why should we regard all material principles as of the same kind?“ Dies lässt sich wohl bestenfalls über eine formale Gemeinsamkeit rechtfertigen: „The point is a formal one. Material principles are principles of self-love because self-love is a concern for one’s own interests as one’s own interests. […] In that sense, all material practical principles are of the same kind.“ (Herman , S. ) Vgl. Herman , S. f.
8.1 Verschiedene Charakterbegriffe
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Trotzdem ist Kants Kriterium für den Erwerb eines moralisch-guten Charakters mit Blick auf seine lebenspraktischen Implikationen ausgesprochen anspruchsvoll: Die Forderung der praktischen Vernunft, dem moralischen Gesetz ausnahmslos Priorität einzuräumen, lässt sich nicht durch eine abstrakte Willensbekundung einlösen. Sie muss vielmehr konkret umgesetzt werden und sich in allen konkreten Maximen der Lebensführung niederschlagen. Ausnahmslos Vorrang hat das moralische Gesetz in der obersten Handlungsmaxime eines Subjekts nur dann, wenn es sich – und zwar aus Achtung vor dem moralischen Gesetz – tatsächlich in keiner denkbaren Situation erlaubt, nach unmoralischen Maximen zu handeln. Erschwerend kommt hinzu: Selbst bei besten Vorsätzen können wir Kant zufolge niemals wissen, ob der Versuch einer ausnahmslosen Befolgung des moralischen Gesetzes wirklich erfolgreich ist. Es besteht immer die Möglichkeit, dass wir uns über unsere wahren Handlungsgründe täuschen. Selbst wenn wir glauben, aus Pflicht zu handeln, ist unser Handeln möglicherweise nur pflichtgemäß (GMS 4:397). Außerdem können wir niemals wissen, ob wir zukünftig in der Lage sind, alle denkbaren Handlungsentscheidungen auch nur pflichtgemäß zu treffen. In Anbetracht dieser epistemischen Beschränkungen muss die uneingeschränkte Anerkennung der Priorität des moralischen Gesetzes im Sinne eines regulativen Ideals verstanden werden, dem wir uns kontinuierlich annähern sollen, ohne den Annäherungsprozess jemals abschließen zu können. Ganz im Sinne von Kants Konzeption eines dynamischen Selbstentwurfes, wie ich sie im ersten Kapitel erläutert habe, stellt sich der Erwerb eines moralisch-guten Charakters als Aufgabe dar: Sie besteht darin, sich konsequent um eine Lebensführung in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz und die dafür nötige Selbsterkenntnis zu bemühen (MS 6:441, RGV 6:48). Das Gegenstück des moralisch-guten Charakters – der böse Charakter bzw. die böse Gesinnung – ist bei Kant rein negativ durch das Fehlen einer unbedingten Orientierung am moralischen Gesetz definiert. Eine intrinsisch „boshafte“ Gesinnung, die „das Böse als Böses“, das heißt den „Widerstreit gegen das Gesetz selbst“ zum Grundsatz erhebt, wäre nach Kant nicht menschlich, sondern teuflisch (RGV 6:35, 37, Anth 7:293). Wie ich dargelegt habe, ist Kant zufolge kein Mensch dem moralischen Gesetz gegenüber gleichgültig. Intrinsische Bosheit ist seiner Auffassung nach keine menschliche Charaktereigenschaft, weil niemand „das Böse in sich [billigt…] und so giebt es eigentlich keine Bosheit aus Grundsätzen, sondern nur aus Verlassung derselben“ (Anth 7:293 f.).
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8. Charakterbildung
8.2 Unmoralische Grundsätze Mit dieser Feststellung relativiert Kant seine Zuschreibung eines bösen Charakters an den römischen Diktator Sulla wenige Zeilen zuvor. Wie aus dem Kontext deutlich wird, besteht die Funktion der Sulla-Passage nicht darin, ein Beispiel für einen intrinsisch bösen menschlichen Charakter zu benennen, sondern darin, aufzuzeigen, dass „Seelenstärke“ für die Charakterbildung wichtiger ist als „Seelengüte“. Unter Seelenstärke versteht Kant in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, gemäß den selbstgewählten Grundsätzen auch tatsächlich zu handeln. Seelengüte steht hier für eine natürliche oder angenommene Gutartigkeit, die nicht auf Grundsätzen basiert. Kommen „Seelengüte“ und „Seelenstärke“ zusammen, spricht Kant von „Seelengröße“ (Anth 7:293; vgl. KpV 5:24, MS 6:384; abweichend: Anth 7:242). Wie auch Diderot und Schiller ist Kant der zweifelhaften Auffassung, dass selbst unmoralische Grundsätze mehr Bewunderung verdienen als grundsatzlose Gutartigkeit:¹³⁷ Die Bösartigkeit als Temperamentsanlage ist doch weniger schlimm, als die Gutartigkeit der letzteren ohne Charakter[¹³⁸]; denn durch den letzteren kann man über die erstere die Oberhand gewinnen. – Selbst ein Mensch von bösem Charakter (wie Sylla), wenn er gleich durch die Gewaltthätigkeit seiner festen Maximen Abscheu erregt, ist doch zugleich ein Gegenstand der Bewunderung […]. (Anth 7:293; vgl. 292, Päd 9:488)
Kant spricht in dieser Passage von der „Bösartigkeit als Temperamentsanlage“, muss aber eine bösartige Denkungsart meinen, die sich an unmoralischen Grundsätzen orientiert, damit die Kontrastierung mit „Gutartigkeit […] ohne Charakter“ sinnvoll erscheint. Die These ist offenbar, grundsatzlose Gutartigkeit sei schlimmer als grundsatzbasierte Bösartigkeit (gleich, ob die Grundsätze auf eher harmlose Weise vom moralischen Gesetz abweichen oder „gewalttätig“ sind), denn letztere verrate wenigstens Seelenstärke. Der Vorzug, den Kant der Seelenstärke gegenüber der Seelengüte beimisst, ist ein Vorzug der Form: Er betrifft das „Formelle des Willens überhaupt, nach Grundsätzen zu handeln“ (Anth 7:292).Wer die Entscheidung trifft, sein Leben nach Grundsätzen zu führen, versucht, seinen einzelnen Handlungsentscheidungen eine konsequente Ausrichtung zu geben. Er nimmt eine aktive, auf Kohärenz bedachte Haltung gegenüber seinen Handlungsentscheidungen ein und beabsichtigt, seine Grundsätze langfristig durchzuhalten. Vollständige Kohärenz kann nach Kant jedoch nur durch „absolute
Vgl. Brandt , S. . „Ohne Charakter“ steht hier für das Fehlen eines grundsatzbasierten, nicht jeden Charakters.
8.2 Unmoralische Grundsätze
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Einheit des innern Princips des Lebenswandels überhaupt“ (Anth 7:295) erreicht werden. Da moralwidrige Grundsätze der, wie Kant annimmt, allgemein akzeptierten Forderung der praktischen Vernunft nach universeller Verallgemeinerbarkeit widersprechen, kann nur ein Leben, das im Einklang mit dem moralischen Gesetz geführt wird, durchgehend kohärent sein. Wer sich um der falschen Grundsätze willen um Kohärenz bemüht, hat bestenfalls einen ersten Schritt getan, der, konsequent zu Ende gedacht, zu einer kritischen Überprüfung der eigenen Grundsätze führen muss. Es wäre allerdings ein Missverständnis, davon auszugehen, dass grundsatzlose Menschen nicht nach Maximen handeln. Jede zurechenbare Handlung beruht nach Kant zumindest auf einer bewussten oder unbewussten Maxime erster Stufe.¹³⁹ Dies unterscheidet sie von nicht-zurechenbaren körperlichen Vorgängen wie Reflexen, dem Herzschlag oder dem Blutdruck, die das Subjekt allenfalls indirekt beeinflussen kann. Auch grundsatzlose Menschen handeln nach Maximen, folgen darin jedoch keinen bewusst gefassten, höherstufigen Grundsätzen. Sie handeln, ohne die Maxime ihrer Handlung im Lichte übergeordneter Grundsätze zu reflektieren und positiv oder negativ zu evaluieren. Was ihnen Kant zufolge fehlt, ist eine klare und kohärente Vorstellung davon, wie sie ihr Leben gestalten wollen. In einer vielzitierten Passage heißt es, dass grundsatzlose Menschen „wie in einem Mückenschwarm bald hiehin bald dahin [abspringen]“ (Anth 7:292). Auf den ersten Blick liegt es nahe, den Vergleich als Kritik an der Unbeständigkeit grundsatzloser Menschen zu deuten. Da aber Grundsatzlosigkeit nicht notwendig zu Unbeständigkeit führt, ist ihre Verschaltung nicht überzeugend: Von der Seelengüte einer Person zu sprechen, erscheint erst sinnvoll, wenn sie sich hinreichend zuverlässig entsprechend verhält. Seelengüte drückt sich in der allgemeinen Disposition aus, anderen wohlwollend und großzügig zu begegnen. Ich möchte deshalb eine andere Lesart vorschlagen: Kants Kritik richtet sich in erster Linie nicht gegen die Sprunghaftigkeit, sondern gegen die Passivität des Subjekts. Solange die Disposition zu Wohlwollen und Großzügigkeit nicht auf Einsicht und entsprechenden Grundsätzen beruht, sondern aus einer natürlichen Veranlagung oder bloßer Gewohnheit resultiert, bewirkt sie nur zufällig Gutes; zufällig in dem Sinne, dass der Maxime des Subjekts der „sittliche Gehalt“ fehlt (GMS 4:398), weshalb das Gute nicht „Wirkung von seiner That“ ist, sondern „blos Geschenk […] der Natur“ (MS 6:386).¹⁴⁰ Die kritische Kernaussage des Vergleichs ist mithin folgendermaßen zu deuten: Unter Verzicht auf eine aktive Stellungnahme, die auf höherstufigen Grundsätzen beruht, folgt das Subjekt seinen Nei-
Vgl. S. f. Vgl. S. f.
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8. Charakterbildung
gungen und Bedürfnissen in passiver, unreflektierter Weise – eben wie eine Mücke den Bewegungen ihres Schwarms. Die Frage, ob es sich dabei sprunghaft verhält oder nicht, spielt eine untergeordnete Rolle. Kants Urteil, ein Charakter, der auf falschen Grundsätzen beruht, sei besser als grundsatzlose Gutartigkeit, kann mit guten Gründen bezweifelt werden: Die vollständige Abstraktion von den Inhalten der Grundsätze ist offenkundig problematisch – wieso sollten Konsequenz und Willenskraft unabhängig von der Frage, wofür sie eingesetzt werden, positiv zu beurteilen sein? Schiller beantwortet diese Frage mit einer instrumentellen Rechtfertigung: Es koste den „konsequenten Bösewicht“ nur eine einzige Umkehrung seiner Maximen, „um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden“. Nach Schiller ist der „konsequente Bösewicht“ besser in der Lage, sich selbst zu kontrollieren, als eine Person, deren Tugendhaftigkeit auf entsprechenden Neigungen beruht. Daraus schließt er offenbar, dass es ersterem auch leichter fallen müsse, den Schritt „zur wahrhaften moralischen Freiheit“ zu vollziehen. Einer Person, die böse, aber konsequent ist, scheint er den freien Akt einer moralischen Charaktertransformation eher zuzutrauen als einer gutmütigen Person ohne Grundsätze: Offenbar kündigen Laster, welche von Willensstärke zeugen, eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freiheit an als Tugenden, die eine Stütze von der Neigung entlehnen, weil es dem konsequenten Bösewicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige Umkehrung der Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden.¹⁴¹
Schillers Überlegung kann jedoch nicht überzeugen: Es ist durchaus vorstellbar, dass grundsatzlose, aber gutartige Menschen eher bereit und in der Lage sind, sich für ein Leben nach moralischen Grundsätzen zu entscheiden und die dafür nötige Willenskraft aufzubringen, als „konsequente Bösewichte“, die stur an ihren falschen Grundsätzen festhalten. Gerade aus Kantischer Perspektive lassen sich zudem grundsätzliche Vorbehalte gegen Schillers instrumentelle Rechtfertigung anbringen: Aus einem guten Zweck lässt sich nicht folgern, dass auch die Mittel gut sind, durch die er sich erreichen lässt – einem Satz wie „der Zweck heiligt die Mittel“ würde Kant niemals generell zustimmen. Zwar ist er der Ansicht, dass unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Mittel übergangsweise gerechtfertigt sein können, obwohl sie dem Vernunftgesetz widersprechen („Erlaubnisgesetze „Über das Pathetische“, Schiller , S. ; Brandt zitiert diese Stelle als Beleg für die zeitgenössische Schurkenbewunderung, Brandt , S. f. Die Passage steht in einem auffälligen Kontrast zu Schillers berühmter Kant-Kritik im Distichon „Gewissensskrupel“ Schiller , S. . Vgl. S. , Fußnote .
8.3 Revolution und Reform
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der Vernunft“¹⁴²); doch warum dies für die nicht-universalisierbaren Grundsätze des „Bösewichts“ gelten sollte, ist völlig unklar.
8.3 Revolution und Reform Kants in der Anthropologie aufgestellte These, falsche Grundsätze seien besser als grundsatzlose Gutartigkeit, bleibt zweifelhaft – zumal er nach einer Passage aus den Vorlesungsmitschriften auch die Gegenthese vertritt: Unsere Maximen müßen wohl überlegt seyn, und es ist ärger böses zu thun aus Maximen, als aus Neigung; aber Gutes muß man aus Maximen thun. (V-Mo/Mron 27:1502)
Dennoch wird aus dem Kontext der Anthropologie-Passage deutlich, worauf es ihm ankommt: Der Erwerb eines moralisch-guten Charakters ist eine Aufgabe, die unsere Lebensführung als Ganzes betrifft und ein hohes Maß an Selbstkontrolle („Seelenstärke“) verlangt. In der Anthropologie nennt Kant „Erziehung, Beispiele und Belehrung“ (Anth 294) als empirische Mittel, die uns darin unterstützen können, diese umfassende Aufgabe zu bewältigen. „Der Mensch“, so der erste Satz der Pädagogik, „ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.“ (Päd 9:441) Mit der Erziehung rückt neben der zeitlichen auch die soziale Dimension individueller Charakterbildung in den Blick: Der Erwerb eines moralisch-guten Charakters ist ein langsamer, nach Kant sogar lebenslanger Prozess, der (zumindest teilweise) durch andere unterstützt werden muss (Päd 9:444, 446, 449 f., 486; KpV 5:152 f.; V-Anth/Fried 25:633). Analog zu seiner Unterscheidung von technischen, pragmatischen und moralischen Imperativen unterscheidet Kant drei Elemente einer umfassenden Erziehung: eine „scholastisch-mechanische Bildung in Ansehung der Geschicklichkeit“, eine „pragmatische in Ansehung der Klugheit“ und eine „moralische in Ansehung der Sittlichkeit“ (Päd 9:455). An anderer Stelle benennt Kant ein viertes Element: Disziplin, die allerdings auf das Nötigste beschränkt werden muss und niemals „sklavisch“ sein darf (Päd 9:449, 464).¹⁴³ Erziehung erfüllt also sowohl moralische als auch nicht-moralische Funktionen, doch auch ihre nicht-moralischen Funktionen zielen Kant zufolge letztlich auf Moralität ab. Bei der moralischen Erziehung ist darauf zu achten, dass der Mensch nicht „blos dressirt, ab-
Vgl. S. . Für eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Stufen der Erziehung vgl. Moran , S. – ; zum Zusammenhang von Charakterbildung und den Stufen der Erziehung vgl. Munzel , S. – ; vgl. außerdem Abschnitt . „Direkte und indirekte moralische Erziehung“.
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8. Charakterbildung
gerichtet, mechanisch unterwiesen“, sondern „wirklich aufgeklärt“ wird (Päd 9:450). Eine Person aufzuklären beinhaltet, sie in die Lage zu versetzen, selbständige Urteile und Handlungsentscheidungen zu treffen: „Satzungen und Formeln“, die nicht selbständig durchdacht, sondern bloß mechanisch befolgt werden, „sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ (WA 8:36)¹⁴⁴. Durch Zwang und mechanische Konditionierung kann niemals erreicht werden, was nach Kant Voraussetzung echter Aufklärung ist: eine „wahre Reform der Denkungsart“ (WA 8:36). Ein revolutionärer Umbruch führt nicht dazu, dass Vorurteile wirklich überwunden werden, sondern ersetzt sie nur durch neue. Die kontrastierende Metaphorik von Revolution und Reform scheint Kants Nachdenken über eine Transformation der Denkungsart sowohl auf individueller als auch auf auch kollektiver Ebene zu strukturieren – seine Verwendung dieser Metaphern ist aber zumindest mehrdeutig, wenn nicht widersprüchlich: Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurtheile werden eben sowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen. (WA 8:36)
In dieser Passage spricht sich Kant für eine Reform der Denkungsart und gegen eine Revolution aus. In der Anthropologie behauptet er dagegen, dass die Gründung eines Charakters explosionsartig erfolgen müsse und nur als „Revolution“ möglich sei. Es lohnt sich, die gesamte Passage zu zitieren: Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instincts auf einmal erfolgt, bewirken. Vielleicht werden nur Wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahre versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben. – Fragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch; denn der eine Eindruck erlischt, während dessen man an einem anderen arbeitet; die Gründung eines Charakters aber ist absolute Einheit des innern Princips des Lebenswandels überhaupt. (Anth 7:294 f.)
Auf ähnliche Weise spricht er sich auch in der Religionsschrift – so jedenfalls erscheint es auf den ersten Blick – gegen eine graduelle Reform der Gesinnung aus:
Hier zeigt sich, dass zwischen Erziehung und Aufklärung eine enge Beziehung besteht. Kant begreift auch letztere als einen stufenweisen Prozess, der über Kultivierung und Zivilisierung schließlich zu einer Moralisierung führen soll (IaG :; vgl. :; WA :; Päd :). Wie Erziehung erfüllt auch Aufklärung moralische und nicht-moralische Funktionen, zielt aber im Kern auf Moralität ab.
8.3 Revolution und Reform
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Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d.i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden. (RGV 6:47)
Die erste der zitierten Passagen bezieht sich auf die Ebene kollektiven Fortschritts, die zweite und dritte dagegen betreffen die Ebene individueller Charakterbildung. Doch so einfach lässt sich die Spannung nicht auflösen. In der Aufklärungsschrift sind beide Ebenen eng miteinander verbunden: Der kollektive Prozess einer „wahren Reform der Denkungsart“ zielt im Kern darauf ab, dass jeder Einzelne seine Denkungsart transformiert. Kant ist sogar der Ansicht, dass eine individuelle Transformation der Denkungsart in der Regel eine kollektive Transformation voraussetzt.¹⁴⁵ Es erscheint deshalb widersinnig, auf kollektiver Ebene davon auszugehen, dass eine Revolution scheitern muss und nur eine Reform gelingen kann, auf individueller Ebene dagegen anzunehmen, dass es sich genau umgekehrt verhält. Und tatsächlich fordert Kant in der Religionsschrift auch auf individueller Ebene ausdrücklich eine Reform ein: Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigene Kräfte diese Revolution zu Stande bringe und von selbst ein guter Mensch werde? Und doch gebietet die Pflicht es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns thunlich ist. Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmählige Reform aber für die Sinnesart (welche jener Hindernisse entgegenstellt) nothwendig und daher auch dem Menschen möglich sein muß. (RGV 6:47)
Doch auch die Unterscheidung von einer Revolution für die Denkungsart und einer Reform für die Sinnesart hilft nur bedingt – denn wie ist ihr Verhältnis zu verstehen? Irritierenderweise spricht Kant zudem nur wenige Zeilen später von einer „Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart“ (RGV 6:48 m.H.). Der Widerspruch zwischen den verschiedenen Verwendungsweisen lässt sich nur auflösen, wenn man Revolution und Reform als zwei verschiedene
„[Es gibt] nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun. Daß aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; […] Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werths und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden.“ (WA :)
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8. Charakterbildung
epistemische Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen versteht.¹⁴⁶ Dieser Lesart zufolge bezeichnet die Revolution keinen abrupten Umbruch (auch wenn Kant sie an manchen Stellen so beschreibt), sondern eine qualitative Transformation der inneren Geisteshaltung, eben der Gesinnung oder Denkungsart, in der sich das Verhältnis des Subjekts zum moralischen Gesetz ausdrückt. Es sind vor allem Passagen aus der Religionsschrift, die diese Lesart stützen und deutlich machen, dass die Revolution nicht in einem plötzlichen Umbruch bestehen kann (RGV 6:47, 48) – ich werde gleich ausführlich auf sie eingehen. Wie gesehen, kann die Gesinnung bei Kant zwei Qualitäten annehmen: Sie ist entweder gut oder böse, je nachdem, ob das Subjekt alle nicht-moralischen Interessen dem moralischen Gesetz unterordnet oder nicht. Der Übergang von einer bösen zu einer guten Gesinnung lässt sich einerseits in zeitlicher, andererseits in qualitativer Hinsicht betrachten. Was in qualitativer Hinsicht eine Revolution bedeutet, muss in zeitlicher Perspektive als Reform vollzogen werden – dieser Gedanke erscheint weniger merkwürdig, wenn man sich vor Augen führt, dass auch der gängige Begriff der „Werterevolution“ in der Regel keinen plötzlichen Umbruch bezeichnet, sondern eine qualitative Transformation, die Ergebnis (oder Ziel) eines langsamen Wertewandels ist. Analog steht die Revolution der Gesinnung bei Kant für eine qualitative Transformation, um die wir uns ein Leben lang bemühen müssen. Ob die Reform erfolgreich verläuft, können wir nach Kant nie sicher wissen – bestenfalls kann es uns gelingen, immer pflichtgemäß zu handeln; über die zugrunde liegenden Maximen (und damit den moralischen Wert unseres Handelns) können wir keine sicheren Aussagen treffen. Kant schreibt dem Menschen einen „unvertilgbaren Hang“ zu, moralwidrige, also böse Maximen zu wählen, der sich nicht aufheben, sondern nur bezähmen lässt (RGV 6:51, vgl. 6:30). Als sinnlich-vernünftige Wesen sind wir in der Lage, die „Heiligkeit“ des moralischen Gesetzes anzuerkennen, werden aber niemals selbst Heilige sein. Im besten Fall sind wir tapfere „Krieger“, die sich im Kampf gegen die „Ungeheuer“ moralwidriger Versuchungen bewähren (MS 6:405).Wer aus Einsicht in die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes den festen Entschluss fasst, ein
Für unterschiedliche Interpretationen des komplizierten Verhältnisses von Revolution und Reform vgl. Blöser , S. – ; Forschner ; Horn ; Klemme , S. ff.; Louden , S. f., ff.; Willaschek , S. – und Wimmer , S. ff.; Blöser, Forschner und Willaschek unterstützen wie ich eine perspektivische Interpretation des Verhältnisses von Revolution und Reform.Wimmer geht dagegen von einer strikten Dichotomie zwischen Denkungsart und Sinnesart aus und betont, dass eine Brücke zwischen Revolution und Reform nur vonseiten der Revolution bestehen kann. Gegen eine solche dichotome Lesart haben zuletzt einige Interpreten eingewandt, dass sie die Möglichkeit moralischer Erziehung und Charakterbildung ausschließt, vgl. etwa Herman , S. und Louden , S. , f., , .
8.3 Revolution und Reform
115
guter Mensch zu werden, indem er dem moralischen Gesetz in allen Handlungsentscheidungen Priorität einräumt, der „kann hoffen, daß er bei einer solchen Reinigkeit des Princips, welches er sich zur obersten Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Bessern befinde“. Der Entschluss zeichnet eine Person als ein „fürs Gute empfängliches Subject“ aus, doch nur „in continuirlichem Wirken und Werden“ wird sie tatsächlich ein besserer Mensch (RGV 6:48 m.H.; vgl. 6:51). In der folgenden Passage aus der Religionsschrift wird besonders deutlich, dass nicht bereits der Entschluss die Revolution ausmacht, sondern erst seine Verbindung mit dem fortgesetzten Bemühen um eine entsprechende Lebensführung, also um eine Lebensführung, deren Maximen mit dem moralischen Gesetz vereinbar sind. In einer holistischen, intelligiblen Perspektive stellen sich der feste Entschluss und das konsequente Bemühen um seine Verwirklichung als Einheit dar und lassen sich in dieser Einheit als Revolution betrachten: Dies [das beständige Fortschreiten vom Schlechten zum Besseren] ist für denjenigen, der den intelligibelen Grund des Herzens (aller Maximen der Willkür) durchschauet, für den also diese Unendlichkeit des Fortschritts Einheit ist, d.i. für Gott, so viel, als wirklich ein guter (ihm gefälliger) Mensch sein; und in sofern kann diese Veränderung als Revolution betrachtet werden; für die Beurtheilung der Menschen aber, die sich und die Stärke ihrer Maximen nur nach der Oberhand, die sie über Sinnlichkeit in der Zeit gewinnen, schätzen können, ist sie nur als ein immer fortdauerndes Streben zum Bessern, mithin als allmählige Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart anzusehen. (RGV 6:48 m.H.)
Die holistische, intelligible Perspektive identifiziert Kant mit Gott, der hier als Ideal epistemischer Vollkommenheit fungiert. Nur Gott kann wissen, ob eine Person die „Heiligkeit“ des moralischen Gesetzes wirklich anerkennt, und sich diese Anerkennung in der Wahl aller denkbaren Maximen dieser Person wiederspiegelt.¹⁴⁷ Anders ausgedrückt: Nur Gott kann wissen, ob der feste Entschluss, das moralische Gesetz ausnahmslos zu befolgen, auch wirklich trägt. „[F]ür die Beurtheilung des Menschen aber“ – und dies ist die Perspektive, die für eine moralische Anthropologie entscheidend ist – stellt sich die Revolution der Gesinnung als eine „allmählige Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart“ (RGV: 6:48) dar.¹⁴⁸ Findet eine solche Reform nicht statt, bedeutet der Entschluss, dem moralischen Gesetz in der obersten Maxime unbedingte Priorität zu geben, keine Revolution der Gesinnung.
Zur holistischen Perspektive Gottes vgl. Willaschek , S. f., f. Im selben Kontext fordert Kant außerdem eine „allmählige Reform […] für die Sinnesart“ ein (RGV: :); was das bedeutet, diskutiere ich im neunten Kapitel.
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8. Charakterbildung
Wenn Kant die Revolution an manchen Stellen als zeitlich datierbaren Umbruch beschreibt („[v]ielleicht werden nur Wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahre versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben“ (Anth 7:294)), so lässt sich das vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen Interpretation folgendermaßen verstehen: Als zeitlich datierbares Ereignis bezeichnet die Revolution lediglich einen Teilaspekt der geforderten Gesinnungsrevolution, nämlich den bewusst gefassten Entschluss, die Priorität des moralischen Gesetzes unwiderruflich anzuerkennen. Der Entschluss bedeutet nicht die Revolution selbst, sondern die Absicht, diese durchzuführen.¹⁴⁹ Für sich genommen ist er deshalb notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung einer unwiderruflichen Revolution der Gesinnung. Er kann als „kleine Revolution“ bezeichnet werden, die notwendiger Bestandteil einer gelingenden Reform ist, die sich in holistischer, intelligibler Perspektive als Gesinnungsrevolution darstellt. Heiner Klemme und einige andere Interpreten scheinen diese „kleine Revolution“ mit der Revolution der Gesinnung zu identifizieren. Wie Klemme selbst bemerkt, stellt sich dann allerdings die Frage: „Warum aber handelt der Mensch nach seiner irreversiblen Revolution der Denkungsart überhaupt noch böse?“¹⁵⁰ Er antwortet darauf, indem er die Dichotomie von Denkungsart und Sinnesart bekräftigt und das Böse als eine „äußere Kraft“ beschreibt, die nach der Revolution der Denkungsart auf der Ebene der Sinnesart fortwirkt und „unsere freie Willkür bedrängt“.¹⁵¹ Diese Darstellung ist aus zwei Gründen problematisch: Erstens ist Kant zufolge nicht die Sinnesart böse, sondern unser „Hang zur Annehmung böser Maximen“ (RGV 6:29). Als Gegenstand einer moralischen Bewertung muss dieser Hang der freien Willkür entspringen; denn „nichts [ist] sittlich- (d.i. zurechnungsfähig‐) böse, als was unsere eigene That ist“ (RGV 6:31). Die Annahme „böser“ Maximen beruht auf einer freien Entscheidung. Wenn das Böse eine Kraft ist, dann also keine „äußere“, die unsere freie Willkür bedrängt, sondern eine „innere“, die uns selbst zuzurechnen ist. Daraus folgt zweitens, dass die Annahme böser Maximen nach einer unwiderruflichen Revolution der Denkungsart nicht mehr möglich ist.Wer nämlich nach der Revolution noch böse Maximen annimmt, für den ist die Vereinbarkeit mit dem moralischen Gesetz offensichtlich nicht ausnahmslos Bedingung seines Handelns, und das bedeutet, dass die unwiderrufliche Revolution der Denkungsart gar nicht stattgefunden hat. Begreift man den moralisch-guten Charakter dagegen als ein regulatives Ideal, dem sich das Subjekt
Es erscheint sinnvoll, diesen Entschluss mit Horn als „erfolgreichen ersten Vorgriff auf die vollständige Revolution“ zu verstehen, der die Möglichkeit einer moralisch angemessenen Motivation sicherstellt; vgl. Horn , S. . Klemme , S. . Klemme , S. .
8.3 Revolution und Reform
117
kontinuierlich annähern soll, dann besteht jederzeit die Möglichkeit, dass es gegen dieses Ideal verstößt und, wie Kant sagt, böse handelt. Eine kritische Gegenfrage könnte lauten, wie ich mit Kants These umgehe, „[f]ragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch“ (Anth 7:294). Nach meinem Verständnis richtet sich Kant mit dieser These nicht gegen die Vorstellung einer allmählichen Charakterbildung. Allein schon die Tatsache, dass er nicht „guter“, sondern „besserer“ Mensch schreibt, deutet auf eine sukzessive Entwicklung hin. Er scheint vielmehr die Annahme zurückzuweisen, der moralische Wert dieser Entwicklung ließe sich graduell bestimmen und an der Entwicklung selbst ablesen. Ob der Charakter einer Person gut oder böse ist, hängt Kant zufolge allein von der zugrunde liegenden Gesinnung ab, und die lässt sich nur holistisch beurteilen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Kants Kritik am Fragmentarischen auch als Kritik an einer fragmentarischen Methode der Reform verstehen: Der Reformprozess braucht notwendig Zeit, soll aber nicht fragmentarisch verlaufen, sondern am Ideal eines einheitlichen, moralisch-guten Charakters orientiert sein. Es kommt nach Kant nicht darauf an, diese oder jene Tugend zu erlernen, sondern die zugrunde liegende Denkungsart zu reformieren; denn seiner Auffassung nach gibt es „nur Eine Tugend und Lehre derselben, d.i. ein einziges System, das alle Tugendpflichten durch Ein Princip verbindet“ (MS 6:207). Aus demselben Grund richtet sich Kant in seinen Schriften immer wieder gegen moralische Erziehungsansätze, die versuchen, Moralität durch verschiedenartige Gründe zu motivieren, anstatt sich auf das Motiv der Pflicht zu beschränken (auch diese Kritik ließe sich als Kritik an einer fragmentarischen Methode reformulieren¹⁵²): Statt „allerwärts Bewegursachen zum Sittlichguten“ aufzutreiben (GMS 4:411 Anm.), durch persönliche Vorteile zu moralischem Handeln anzureizen (GMS 4:411 Anm.; KpV 5:152) und jedes „Laster“ einzeln zu bekämpfen (RGV 6:48), muss „der reine moralische Bewegungsgrund an die Seele gebracht werden“ (KpV: 5:152); denn „alle Beimischung der Triebfedern, die von eigener Glückseligkeit hergenommen werden, [ist] ein Hinderniß, dem moralischen Gesetze Einfluß aufs menschliche Herz zu verschaffen.“ (KpV 5:156). Nur wer lernt, klar zwischen moralischen und außermoralischen Handlungsgründen zu unterscheiden, von persönlichen Vorteilen zu abstrahieren und allein aus dem Motiv der Pflicht zu handeln, ist nach Kant in der Lage, sich vom „Gängelband“ einer heteronomen Lebensweise zu lösen (KpV: 5:152). Kant weist den Versuch, „fragmentarisch“ ein besserer Mensch zu werden, also deshalb zurück, weil der moralisch-gute Charakter kein Aggregat von Einzeltugenden ist, die unabhängig
Ein systematisches Erziehungskonzept darf nach Kant allerdings „fragmentarische“ im Sinne von kasuistischen Übungen enthalten; vgl. (MS :, ).
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8. Charakterbildung
voneinander erlernt und auch durch außermoralische Handlungsgründe motiviert werden können. Der moralisch-gute Charakter zeichnet sich seiner Auffassung nach vielmehr durch „absolute Einheit des innern Princips des Lebenswandels überhaupt“ aus (Anth 7:295). Nur Tugenden, die durch die Anerkennung des moralischen Gesetzes motiviert sind, haben moralischen Wert.
8.4 Direkte und indirekte moralische Erziehung Dies hat Folgen für Kants Verständnis moralischer Erziehung: Alles wird verdorben,wenn man sie [die moralische Erziehung] auf Exempel, Drohungen, Strafen u.s.w. gründen will. Sie wäre dann blos Disciplin. Man muß dahin sehen, daß der Zögling aus eignen Maximen, nicht aus Gewohnheit gut handle, daß er nicht blos das Gute thue, sondern es darum thue, weil es gut ist. Denn der ganze moralische Werth der Handlungen besteht in den Maximen des Guten. Die physische Erziehung unterscheidet sich darin von der moralischen, daß jene passiv für den Zögling, diese aber thätig ist. Er muß jederzeit den Grund und die Ableitung der Handlung von den Begriffen der Pflicht einsehen. (Päd 9:475)
Ziel und Methode moralischer Erziehung dürfen sich nicht widersprechen. Exempel, Drohungen und (körperliche) Strafen führen nicht zu moralischer Selbstbestimmung. Die Vorstellung, Moralität könne das Ergebnis einer passiven Disziplinierung sein, erscheint im Rahmen des Kantischen Modells geradezu paradox. Passive Disziplinierung zielt auf die Produktion von Gewohnheiten ab, die mechanisch ausgeübt und gerade nicht selbständig durchdacht werden (vgl. auch MS 6:480). Denkbar ist immerhin, dass passive „Disciplin“ dazu führt, dass sich ein Subjekt unter bestimmten Umständen zuverlässig pflichtgemäß verhält. Doch sobald sich die Umstände so verändern, dass die antrainierten Verhaltensweisen nicht mehr dem entsprechen, was pflichtgemäß zu tun wäre, scheint auch nur äußerlich angemessenes, pflichtmäßiges Handeln aktive Kompetenzen vorauszusetzen, die im Zuge einer ausschließlich passiven Disziplinierung nicht entwickelt werden können. Um nämlich in einer unbekannten Situation entscheiden zu können, welche Handlung überhaupt pflichtgemäß wäre, reicht mechanische Übung nicht aus – man muss vielmehr in der Lage sein, selbständig zu erkennen, welche Merkmale der Situation moralisch relevant sind, und wie ihre moralische Beurteilung ausfallen sollte. Durch passive Disziplinierung lässt sich zwar lernen, in bestimmten Situationen bestimmte Urteils- und Verhaltensmuster zuverlässig zu reproduzieren, nicht aber, auch nur äußerlich angemessen auf unbekannte Herausforderungen zu reagieren. In zahlreichen alltäglichen Situationen setzt auch nur pflichtmäßiges Handeln bereits moralische Urteilsfähigkeit voraus.
8.4 Direkte und indirekte moralische Erziehung
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Moralische Erziehung muss nach Kant auf Einsicht und selbständiges Denken abzielen; denn das „geht auf die Principien hinaus, aus denen alle Handlungen entspringen“ (Päd 9:450). Moralische Prinzipien dürfen nicht einfach übernommen werden. Es kommt darauf an, sie selbst zu durchdenken, sie als eigene anzunehmen und sich mit ihnen zu identifizieren. Wir müssen deshalb Kant zufolge lernen, dass moralisch-gute Handlungen nicht aus Gewohnheit resultieren, sondern „eine Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grundsätze“ sind (MS 6:384). Diese Formulierung enthält zwei gegenläufige Forderungen: Einerseits sollen die Grundsätze fest sein (im Sinne eines Resultats abschließbarer Überlegung), andererseits sind sie Gegenstand kontinuierlicher „Läuterung“. Die beste Lesart scheint mir zu sein, dass eigentlich nicht die Grundsätze fest und unveränderlich sein sollen, sondern die Motivation, nach wohlüberlegten Grundsätzen zu handeln – die Grundsätze selbst müssen immer wieder kritisch überprüft werden, auch sie dürfen nicht zur Gewohnheit werden. Disziplinarische Maßnahmen dürfen (und müssen) Kant zufolge nur am Anfang der Erziehung eine gewisse Rolle spielen (KpV 5:152, Päd 9:449). Doch diese „negative“, propädeutische Form der Erziehung (die Kant auch „physische“ Erziehung nennt) muss sobald wie möglich durch „positive“ Formen ersetzt werden, die tatsächlich die moralische Charakterbildung fördern (Päd 9:442). Manche Interpreten bezweifeln, dass moralische Erziehung diese positive Funktion erfüllen kann. So heißt es etwa in einer berühmten Passage bei Lewis White Beck: [E]ven for children, education for morality is successful only when conducted in the Socratic manner. Strictly speaking, moral education is perhaps impossible, since morality is a product of a sudden inward revolution in the manner of willing and each act must be regarded as if it were an entirely fresh beginning.¹⁵³
Das Verhältnis der Metaphern von Revolution und Reform und die Problematik einer plötzlichen Revolution innerhalb von Kants Konzeption moralischer Charakterbildung habe ich bereits diskutiert. Doch Beck wirft noch eine zweite Frage auf: Ist moralische Erziehung „strictly speaking“ unmöglich (bei Kant)? Diese Frage enthält verschiedene Teilfragen, die unterschiedlich umfassende Antworten verlangen. Ich beschränke mich auf folgenden Aspekt: Ist es prinzipiell möglich, moralische Erziehung bei Kant so zu denken, dass sie mit der moralischen Freiheit des Subjekts vereinbar ist und trotzdem einen relevanten Beitrag zu seiner moralischen Entwicklung leistet? Beck suggeriert, dass das sokratisch-dialogische Modell, das Kant vorschlägt (MS 6:411, 478, 479), streng genommen gar keine moralische Erziehung ist. Beck , S. .
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8. Charakterbildung
Kant fordert einen solchen relevanten Beitrag ausdrücklich ein: Moralische Erziehung muss eine „echte moralische Wirkung aufs Herz“ entfalten (KpV 5:157). Wird unter Wirkung in diesem Zusammenhang eine direkte Wirkung verstanden, die als Resultat moralischer Erziehung unausweichlich eintreten muss, so steht dies tatsächlich im Widerspruch zu Kants grundlegender These, dass Moralität auf freier Selbstbestimmung beruht. Unter dieser Prämisse folgert Beck also zu Recht, dass moralische Erziehung unmöglich ist, denn der Gedanke, dass moralische Freiheit erzwungen werden kann, ist selbstwidersprüchlich. Wird die angestrebte Wirkung dagegen indirekt verstanden als eine Wirkung, die gefördert werden kann, aber nur dann eintritt, wenn das Subjekt sich frei dazu entscheidet, so entsteht kein Widerspruch: Im indirekten Modell hängt der Erfolg moralischer Erziehung wesentlich davon ab, dass das Subjekt „den Grund und die Ableitung der Handlung von den Begriffen der Pflicht“ selbst einsieht (Päd 9:475) – das Subjekt wird aktiv eingebunden als eine Person, die für Gründe empfänglich ist und in der Lage, nach ihnen zu handeln. Setzt aber, so ließe sich einwenden, das indirekte Modell moralischer Erziehung damit nicht voraus, was erst erzielt werden soll, nämlich ein autonomes Subjekt? Und hat Beck dann nicht doch recht, wenn er behauptet, dass moralische Erziehung unmöglich ist? Tatsächlich setzt Kants Erziehungskonzept die prinzipielle Fähigkeit zu moralischer Freiheit voraus und geht zugleich davon aus, dass diese Fähigkeit maieutisch entwickelt werden kann (oder sogar muss¹⁵⁴). Das Konzept ist deshalb aber nicht in einem problematischen Sinne zirkulär. In expliziter Anlehnung an die sokratische Maieutik begreift Kant moralische Erziehung als ein dialogisches Verfahren, das das Subjekt darin unterstützt, seine prinzipielle Fähigkeit zu moralischer Selbstbestimmung durch einen Prozess der Selbstreflexion und Selbsttransformation in eine konkrete Kompetenz zu überführen. Das Subjekt soll lernen, seine eigenen Fähigkeiten zu nutzen und zu erweitern, indem es diese im dialektischen Austausch mit seinem Lehrer an konkreten Beispielen schult. Wie bei Platon kommt moralischer Erziehung bei Kant die Aufgabe zu, dem Subjekt wie eine Hebamme dabei zu helfen, sich seiner eigenen Fähigkeiten bewusst zu werden.¹⁵⁵ Im besten Fall erfüllen die pädagogischen Übungen einen dreifachen Zweck: Das Subjekt wird sich seiner Fähigkeiten bewusst und entwickelt sie zugleich weiter; außerdem wird auch die Erziehungsmethode weiterentwickelt:
Für meine Argumentation reicht aus, dass sie entwickelt werden kann. Ob einzelne Individuen auch ohne moralische Erziehung zu kompetenten moralischen Akteuren werden können, wird von Kant nicht eindeutig beantwortet; vgl. zu diesem Thema Moran , S. – . Vgl. Theaitetos in Platon .
8.4 Direkte und indirekte moralische Erziehung
121
Der Lehrer leitet durch Fragen den Gedankengang seines Lehrjüngers dadurch, daß er die Anlage zu gewissen Begriffen in demselben durch vorgelegte Fälle blos entwickelt (er ist die Hebamme seiner Gedanken); der Lehrling, welcher hiebei inne wird, daß er selbst zu denken vermöge, veranlaßt durch seine Gegenfragen (über Dunkelheit, oder den eingeräumten Sätzen entgegenstehende Zweifel), daß der Lehrer nach dem docendo discimus selbst lernt, wie er gut fragen müsse. (MS 6:78)
Gute moralische Erziehung ist für Kant Befähigung zur Verwendung und Erweiterung der eigenen, angeborenen Fähigkeiten: Dem Subjekt wird gezeigt, dass es „selbst zu denken“ vermag (MS 6:78), es lernt, „seine eigene Würde [zu] fühlen“ (KpV 5:152), seine Vernunft wird „auf ihr eigenes Princip aufmerksam“ gemacht (GMS 4:404) und ihm „dasjenige von Pflichtbegriffen“ abgefragt, was „schon in seiner Vernunft natürlicherweise enthalten“ ist (MS 6:411). In diesem Sinne lernt das Subjekt, wie Kant betont, nicht wirklich „etwas Neues“ (GMS 4:404); denn wie sich bei der Beurteilung von Anwendungsfällen zeigt, trägt es die „Anlagen zum Guten“ bereits in sich (RGV 6:28; Päd 9:446). Trotzdem lernt es etwas Entscheidendes: Der dialektische Austausch über Übungsbeispiele legt versteckte oder unterentwickelte Fähigkeiten sowie Inkohärenzen in der Beurteilung offen und trägt so wesentlich zur Selbsterkenntnis und damit zur moralischen Charakterbildung bei. Zugleich werden diese Fähigkeiten trainiert und auf diese Weise der Übergang von einer allgemeinen moralischen „Anlage“ zu konkreter moralischer Kompetenz maßgeblich unterstützt. Kants Negation des Neuen bedeutet also keine Marginalisierung moralischer Erziehung. Sie lässt sich vielmehr als Ausdruck eines emanzipatorischen Anliegens verstehen: Jeder Mensch besitzt die Anlage zu Freiheit und Moralität. Moralisches Wissen ist deshalb kein Geheimwissen, zu dem Priester, Rechtsgelehrte oder Angehörige einer weltlichen Obrigkeit einen privilegierten Zugang haben, sondern allen Menschen gleichermaßen zugänglich. Auch der Lehrer ist ein Lernender („docendo discimus“, MS 6:78) und hat dem Schüler lediglich Erfahrung voraus (der zitierten Passage zufolge lernt der Lehrer nur etwas über die Methode der Erziehung – da wir nach Kant jedoch alle zeitlebens Lernende bleiben, spricht nichts dagegen, dass die Dialoge auch ihm helfen, seine moralische Urteilskraft zu schärfen). Ausgehend von dieser egalitären Prämisse, zielt moralische Erziehung bei Kant nicht auf die Vermittlung von Verboten und Geboten ab, die wenige formulieren, und alle anderen nur befolgen sollen, sondern auf die Entwicklung der eigenen deliberativen und evaluativen Fähigkeiten, die es jedem ermöglichen sollen, vorherrschende Gebote und Verbote kritisch zu hinterfragen. In einem zweiten Sinn lässt sich zudem durchaus sagen, dass das Subjekt etwas „Neues“ lernt – in der dialogischen Auseinandersetzung über konkrete Anwendungsfälle lernt es, zu identifizieren, welche empirisch-kontingenten Aspekte einer Handlungssituation moralisch relevant sind. Wichtig ist dies vor allem mit Blick auf
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8. Charakterbildung
Pflichten, die Kant als „unvollkommen“ bezeichnet, weil sie (im Unterschied zu „vollkommenen“ Pflichten) nicht vorschreiben, eine bestimmte Handlung durchzuführen oder zu unterlassen, sondern bestimmte Zwecke zu fördern (MS 6:389 f.).¹⁵⁶ Zu den unvollkommenen Pflichten zählt Kant etwa die Pflicht, seine körperlichen und geistigen Talente zu entwickeln (MS 6:444 f.), sich moralisch zu verbessern (MS 6:446) und Menschen in Not zu helfen (MS 6:453). Wie vollkommene Pflichten gelten auch unvollkommene Pflichten kategorisch, müssen aber je nach Kontext unterschiedlich spezifiziert werden. Die Frage, welche konkreten Handlungen den vorgeschriebenen Zweck am besten fördern, lässt sich nicht unabhängig von äußeren, kontingenten Umständen beantworten. Die praktische Vernunft lässt der Urteilskraft des Einzelnen deshalb einen gewissen „Spielraum“ bei der Entscheidung, wann und in welcher Weise er seine Pflicht konkret erfüllt (MS 6:390). Ob etwa eine Situation als Notlage zu beurteilen ist, welche Hilfsmaßnahmen geeignet und angebracht sind, und wer sie erbringen sollte, hängt ab von den Bedürfnissen der Notleidenden, von natürlichen und sozialen Umständen, von institutionellen Zusammenhängen, von den Möglichkeiten der potentiellen Helfer und weiteren empirischen Faktoren. Relevant ist außerdem die Frage,welche anderen Pflichten im konkreten Kontext greifen, und wie sie sich am besten vereinbaren lassen.¹⁵⁷ Die Spezifizierung unvollkommener Pflichten muss deshalb als eine komplexe Leistung verstanden werden, bei der vernünftige Momente a priori und empirische Momente vermittelt werden. Diese Vermittlungsleistung (die Kant der Urteilskraft zuschreibt) lässt sich an „kasuistischen Fragen“ üben. Zu diesem Zweck stellt Kant in der Metaphysik der Sitten etwa die Frage, ob Reiche, deren Wohlstand auf strukturelle Ungerechtigkeiten zurückzuführen ist, überhaupt verdienstvoll handeln, wenn sie Armen etwas davon abgeben: Das Vermögen wohlzuthun, was von Glücksgütern abhängt, ist größtentheils ein Erfolg aus der Begünstigung verschiedener Menschen durch die Ungerechtigkeit der Regierung, welche eine Ungleichheit des Wohlstandes, die Anderer Wohlthätigkeit nothwendig macht, einführt. Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Nothleidenden erweisen mag, wohl überhaupt den Namen der Wohlthätigkeit, mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet? (MS 6:454)
Kant formuliert seine Frage keineswegs neutral. Er spricht nicht wertfrei über die strukturellen Ursachen ungleicher Wohlstandsverteilung, sondern wählt Begriffe
Kant korreliert die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten mit der Unterscheidung von engen und weiten Pflichten sowie der Unterscheidung von Rechtspflichten und Tugendpflichten, bestimmt ihr Verhältnis in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten jedoch anders als im Hauptteil; für eine ausführliche Diskussion vgl. Hill Jr, Thomas E. ; Ludwig und Vogt . Zu diesem Thema vgl. Vogt .
8.4 Direkte und indirekte moralische Erziehung
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und Formulierungen („Begünstigung“, „Ungerechtigkeit“, „brüstet“), die über sein Urteil keinen Zweifel lassen und zugleich den Adressaten, uns Lesern, das gleiche Urteil nahelegen. Als Teil eines didaktischen Programms sind solche suggestiven Methoden sicher nicht unproblematisch, da sie eine selbständige Urteilsbildung möglicherweise eher behindern als fördern. Andererseits fordert eine offenkundig evaluierende Beispielbeschreibung vielleicht eher zu einer eigenen Stellungnahme heraus als eine, die ihre evaluativen Momente verdeckt. Moralische Urteile werden niemals in einem „normativ ‚luftleeren‘ Raum“ gefällt.¹⁵⁸ Sie sind immer maßgeblich davon beeinflusst, durch welche Begriffe wir eine Handlungssituation interpretieren. Wir nehmen Handlungssituationen nicht unmittelbar wahr, sondern vermittelt durch evaluative soziale Praktiken und Begriffe, die unsere Wahrnehmung prägen. Welche Aspekte einer Handlungssituation moralisch relevant erscheinen, hängt deshalb immer auch von kontingenten sozialen Normen ab. Als Interpretationen von Handlungssituationen sind die Übungsbeispiele nie neutral. Die selbständige Urteilsbildung scheint jedoch weniger durch die Tatsache gefährdet zu sein, dass immer evaluative Konzepte in die Beispielschreibungen einfließen, als durch einen falschen Umgang mit dieser Tatsache. Idealerweise sollte der sokratische Dialog zwischen Lehrern und Schülern eine kritische Reflexion dieser evaluativen Konzepte einschließen. Natürlich bietet eine solche Reflexion keinerlei Garantie, dass – um auf Kants Formulierung zurückzukommen – alte Vorurteile wirklich überwunden und nicht nur durch neue ersetzt werden. Doch obwohl Kritik zu neuen Fehlurteilen führen kann, ist das Instrumentarium vernünftiger, kritischer Reflexion das einzige, das uns zur Verfügung steht, um auch diese Irrtümer wieder zu korrigieren: Thus in the end there is no escaping the fact that human reason – feeble, fallible, imperfect, corrupted reason – is always our last resort, even our only ultimate resource, for criticizing everything, including our own misunderstandings and abuses of reason itself. […] We rely on reason to criticize feelings, desires, inspirations, revelations, and even reason itself, not because it is infallible but rather because is only through reason that we have the capacity to criticize or correct anything at all.¹⁵⁹
Die Details der Kantischen Erziehungskonzeption können hier nicht behandelt werden. Festhalten lässt sich aber: Um mit der Freiheit des Subjekts vereinbar zu sein, muss moralische Erziehung bei Kant indirekt gedacht werden. Der indirekte Beitrag,
Vgl.Wellmer , S. – Wellmer geht es in diesem Buch um die Frage der intersubjektiven Geltung moralischer Urteile. Wood , S. .
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8. Charakterbildung
den moralische Erziehung zur Charakterbildung leistet, ist jedoch keineswegs trivial. Der sokratisch-dialogische Lernprozess ist mehrdimensional und dynamisch: Er schließt erstens eine kritische Reflexion über eine angemessene moralische Beurteilung einer exemplarischen Handlungssituation ein, wie sie in Übungsbeispielen beschrieben ist; idealerweise zweitens eine kritische Reflexion der evaluativen Konzepte, die in die Situationsbeschreibung einfließen – was möglicherweise zu einer Revision der moralischen Beurteilung führt – und drittens eine kritische Reflexion darüber, wie die Erziehungsmethode verbessert werden kann. Moralische Erziehung ist bei Kant also weder „unmöglich“ noch „irrelevant“, sondern, wie Kant selbst betont, „sehr schwer“, nämlich „das größte Problem und das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden“ (Päd 9:446). Der Grundgedanke der Kantischen Antwort auf diese Herausforderung ist in neo-sokratischen Ansätzen bis heute aktuell: Im Anschluss an Platon und Kant entwickelt Leonard Nelson sein Modell des Sokratischen Gesprächs. Auch in diesem Modell, das den Dialog zum moderierten Gruppengespräch erweitert, wird die „Paradoxie […] wie es möglich ist, durch äußere Einwirkung einen Menschen zu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen zu lassen“ durch eine indirekte Methode aufgelöst: Die Gesprächsteilnehmer werden von außen dazu angeregt und begleitet, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und zu eigenen Einsichten zu kommen.¹⁶⁰
Nelson , S. f. – Nelson geht vor allem in zwei Hinsichten über Kant hinaus: Der sokratische Dialog wird zum sokratischen Gespräch in der Gruppe erweitert und ein suggestives Fragen des Moderators vermieden.
9. Mitgefühl 9.1 Reform der Sinnesart? Das vorangegangene Kapitel demonstriert die Bedeutung des Reform-Gedankens auf der Ebene der „Denkungsart“. Kant fordert jedoch ausdrücklich auch eine Reform für die „Sinnesart“ ein. In der Religionsschrift spricht er innerhalb weniger Zeilen von einer Revolution der Denkungsart, einer Reform der (verkehrten) Denkungsart und einer Reform der Sinnesart (RGV 6:47, 48). Wie die beiden Reformen sich zueinander verhalten, wird von Kant nirgendwo explizit thematisiert. Eine mögliche Interpretation besteht darin, die Reform der Sinnesart als Reform der Denkungsart zu deuten. Diese Lösung findet sich bei Willaschek, dem zufolge eigentlich nicht die Sinnesart, sondern die Denkungsart reformiert wird, und zwar durch eine Verbesserung des empirischen Handelns, also dadurch, dass immer mehr Handlungsentscheidungen zumindest pflichtgemäß getroffen werden: Der Gegenstand dieser Reform ist also nicht die „Sinnesart“ selbst. Reformiert wird die Gesinnung [die Denkungsart], und zwar durch eine Veränderung des empirischen Handelns.¹⁶¹
Tatsächlich scheint sich die geforderte Reform in erster Linie auf die Denkungsart zu beziehen. Sie ist aber, wie ich im Folgenden zeigen möchte, nicht auf die Denkungsart beschränkt, sondern schließt eine substanzielle Reform der Sinnesart ein. Wie ich dargestellt habe, identifiziert Kant die Sinnesart in der Anthropologie mit dem angeborenen, physischen Charakter einer Person, den er als natürliche physische und psychische Konstitution erläutert (Anth 7:286).¹⁶² Der physische Charakter steht für das, was die Natur aus dem Menschen macht – zugleich aber auch für das, was sich aus ihm machen lässt (Anth 7:285). Der physische Charakter ist angeboren, zugleich aber veränderlich. Genau dies eröffnet die Möglichkeit seiner Reform. Dies gilt vor allem für das psychische „Temperament der Seele“, das dem Gefühls- und Begehrungsvermögen entspricht (Anth 7:286). Im Folgenden wird die gezielte Veränderung von Gefühlen und emotionalen Dispositionen im Mittelpunkt stehen. Zunächst lässt sich festhalten, dass aus psychologischer Perspektive unwahrscheinlich ist, dass ein Mensch seine Denkungsart transformiert, ohne dass dies irgendwelche Auswirkungen auf seine Sinnesart hat – also auf seine Wahr-
Willaschek , S. . Vgl. S. f.
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9. Mitgefühl
nehmung, seine emotionalen Dispositionen und Gefühle.¹⁶³ Bei einer ausschließlichen Reform der Denkungsart müsste die Diskrepanz zwischen Denken und entsprechendem Handeln einerseits und Gefühlen und Neigungen andererseits immer größer werden. Der Prozess moralischer Charakterbildung wäre dann ein Prozess, bei dem die innere Zerrissenheit kontinuierlich wächst. Diese unplausible Konzeption moralischer Charakterbildung entspricht ausdrücklich nicht Kants Position. Im Gegenteil, je tugendhafter das Subjekt wird, desto weniger ist es geneigt, gegen moralische Forderungen zu verstoßen; das „fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht“ ist nach Kant Indiz dafür, dass eine Reform des Charakters zum Guten wirklich stattfindet: Frägt man nun: welcherlei ist die ästhetische Beschaffenheit, gleichsam das Temperament der Tugend, muthig, mithin fröhlich, oder ängstlich-gebeugt und niedergeschlagen? so ist kaum eine Antwort nöthig. Die letztere sklavische Gemüthsstimmung kann nie ohne einen verborgenen Haß des Gesetzes statt finden, und das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht (nicht die Behaglichkeit in Anerkennung desselben) ist ein Zeichen der Ächtheit tugendhafter Gesinnung […]. (RGV 6:23 f. Anm.; vgl. MS 6:485)
Das Einzige, was Kant ausschließt, ist, dass wir „jemals dahin kommen, alle moralische[n] Gesetze völlig gerne zu thun“ (KpV 5:83 m.H.) – und zwar aus empirischen Gründen: Als bedürftige, endliche Wesen müssen wir immer mit der Möglichkeit sinnlich bedingter Handlungsantriebe rechnen, nach denen zu handeln unmoralisch wäre. Wir müssen deshalb grundsätzlich bereit und in der Lage sein, uns aktiv gegen die Aufnahme moralwidriger Antriebe in unsere Maxime zu entscheiden. Aus diesem Grund bleibt bei Kant auch die höchste Form menschlicher Tugend mit dem Gedanken der Pflicht und des Selbstzwangs „nach einem Princip der innern Freiheit“ verbunden (KpV 5:83; MS 6:405). Tugend, so heißt es in der Metaphysik der Sitten, ist „die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nöthigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst constituirt“ (MS 6:405; vgl. 380, 394, 408). Aufgrund seiner Bedürftigkeit und Endlichkeit ist Tugend der höchste Grad moralischer Vollkommenheit, den der Mensch nach Kant erreichen kann – auf „heilige Wesen“, deren Willen per definitionem mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt, ist der Begriff nicht anwendbar (vgl. MS 6:379, 383).
Unwahrscheinlich ist auch, dass eine weiterreichende Reform der Denkungsart ohne eine Reform der Sinnesart überhaupt möglich ist, letztere scheint nicht nur Folge, sondern auch Voraussetzung einer Reform der Denkungsart zu sein. Das Ineinandergreifen beider Reformen ist Thema in den letzten beiden Abschnitten dieses Kapitels.
9.1 Reform der Sinnesart?
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Nach Kant ist das „fröhliche Herz […] Zeichen der Ächtheit tugendhafter Gesinnung“; eine Koppelung von Tugend und „sklavischer Gemüthsstimmung“ weist er entschieden zurück. Das „fröhliche Herz“ bedeutet allerdings kein vollkommenes Glück. Mehrfach betont Kant, dass Glück und Tugend nicht identisch sind: Die (einander entgegengesetzten) Versuche der Epikureer und Stoiker, zwischen diesen „äußert ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität zu ergrübeln“, lehnt er explizit ab. Er kritisiert, beide würden den Unterschied zwischen Glück und Glückswürdigkeit übersehen: Den Epikureern zufolge sei bereits glückswürdig, wer das eigene Glück fördert; nach den Stoikern dagegen bereits glücklich, wer glückswürdig ist (vgl. KpV 5:110 – 112, 130). Doch in gewisser Weise ist „Tugend ihr eigener Lohn“, der sich „in einem Zustande der Seelenruhe und Zufriedenheit“ äußert (MS 6:377, vgl. 391). Es gibt also bei Kant ein gewisses Glück der Glückswürdigkeit. Wer moralisches Handeln dagegen „blos als Frohndienst“ begreift und seiner Pflicht ohne jede „Lust“ folgt, misst ihr nach Kant keinen „inneren Wert“ bei: Was man […] nicht mit Lust, sondern blos als Frohndienst thut, das hat für den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Werth und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung so viel möglich geflohen. (MS 6:484 m.H.)
Im Zuge einer moralischen Reform seiner Denkungsart bildet das Subjekt demnach auch emotional ein positives Verhältnis zu seinen moralischen Pflichten aus – es erfüllt sie nicht immer, aber doch häufig gerne, weil es das,was diese Pflichten von ihm verlangen, für richtig hält. Je stärker und für das jeweilige Subjekt wichtiger eine moralische Überzeugung ist, desto wahrscheinlicher spiegelt sich diese auch in seinen Gefühlen und Neigungen wider. Die Reform der Denkungsart führt also nach Kant geradezu von selbst zu einer partiellen Reform der Sinnesart. Letztere ist aber für Kant nicht bloß ein willkommener, moralisch aber irrelevanter Nebeneffekt, der aufgrund der psychischen Konstitution des Menschen in der Regel automatisch eintritt, wenn dieser seine Denkungsart transformiert. Die Reform der Sinnesart beschränkt sich nicht darauf, „Indiz“ der Reform der Denkungsart zu sein, sondern ist selbst moralisch relevant. Die Aufgabe moralischer Charakterbildung schließt deshalb eine gezielte Reform der Sinnesart ein. Wie sich die moralische Bedeutung dieser Reform verstehen lässt, möchte ich im Folgenden herausarbeiten. Dabei wird sich zeigen, dass sie eine grundlegende Unterscheidung bei Kant in Frage stellt: Die binäre Unterscheidung von „selbstgewirkten“, moralischen Gefühlen, die ihren Ursprung in der Vernunft haben, einerseits und empirischen Gefühlen, die ihren Ursprung in der Natur haben, andererseits. Am Beispiel von Mitgefühl lässt sich zeigen, dass Kant außerdem eine moralische Kultivierung empirischer Gefühle bzw. emotionaler Dispositionen einfordert.
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9. Mitgefühl
9.2 Indirekte Pflichten Sowohl die Kultivierung von Mitgefühl als auch die Kultivierung einer „fröhlichen Gemütsstimmung“ sind Kant zufolge Pflicht. In beiden Fällen handelt es sich allerdings um indirekte bzw. bedingte Pflichten (MS 6:456 f.; 485). Was ist darunter zu verstehen? Indirekte Pflichten lassen sich allgemein als verkürzte oder elliptische Pflichten bestimmen, die auf übergeordnete direkte Pflichten verweisen und keinen eigenständigen moralischen Zweck beinhalten. Direkte Pflichten können vollkommen oder unvollkommen sein: Entweder schreiben sie vor, bestimmte Handlungen durchzuführen bzw. zu unterlassen (vollkommene Pflichten) oder bestimmte Zwecke zu fördern (unvollkommene Pflichten).¹⁶⁴ Alle indirekten Pflichten, die Kant diskutiert, sind direkten unvollkommenen Pflichten untergeordnet – sie beziehen sich nämlich auf Mittel zu Zwecken, die letztere vorschreiben. Nur unter der Voraussetzung, dass wir diese obligatorischen Zwecke bereits in unsere Maxime aufgenommen haben, hat die Erfüllung indirekter Pflichten moralischen Wert. Indirekte Pflichten verweisen also immer auf einen moralischen Zweck, der nicht durch sie selbst, sondern durch die übergeordnete direkte Pflicht spezifiziert wird. An Kants Beispielen lässt sich zeigen, was dies bedeutet: So ist etwa die Kultivierung einer „fröhlichen Gemütsstimmung“ nach Kant indirekte Pflicht, weil es unvollkommene direkte Pflicht ist, moralisch ein besserer Mensch zu werden. Die Kultivierung eines fröhlichen Gemüts ist also nicht selbst ein Zweck, den wir uns aus moralischen Gründen setzen sollen, sondern Mittel zum Zweck der moralischen Vervollkommnung (MS 6:485). Analog beziehen sich auch die anderen indirekten Pflichten, die Kant in der Tugendlehre diskutiert – die Kultivierung von Mitgefühl (MS 6:456 f.), die Kultivierung des Gewissens (MS 6:401), der Verzicht auf Tierquälerei (MS 6:443)¹⁶⁵ und die Förderung der eigenen Glückseligkeit (MS 6:388) – auf Mittel zur Erfüllung übergeordneter direkter Pflichten. Kant selbst hebt den Unterschied von direkter und indirekter Pflicht besonders mit Blick auf letztere hervor: Im Gegensatz zur Förderung der Glückseligkeit anderer könne die Förderung der eigenen Glückseligkeit nicht direkt geboten sein, da jeder Mensch von Natur aus nach Glückseligkeit strebe, und „[w]as ein jeder unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Begriff von Pflicht“ (MS 6:386). Da aber „Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel […] große Versuchungen zu Übertretung seiner Pflicht“
Vgl. S. . Für eine kritische Auseinandersetzung mit Kants These, dass das Verbot von Tierquälerei „direct […] betrachtet […] immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ ist, nicht den Tieren gegenüber (MS :), vgl. Korsgaard und Timmermann . Beide kritisieren Kant an dieser Stelle mit Kantischen Mitteln.
9.2 Indirekte Pflichten
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darstellen, kann es nach Kant indirekte Pflicht sein, die eigene Glückseligkeit bis zu einem gewissen Grade zu fördern „und sie nicht blos auf fremde zu richten“ (MS 6:388). Als indirekte Pflicht hat sie dabei nicht die eigene Glückseligkeit zum Zweck, sondern moralische Integrität: Sie verweist nicht auf die Maxime: „Ich fördere meinen Wohlstand (bzw. beuge Armut vor), um mein Glück nicht zu gefährden“; sondern auf die Maxime: „Ich fördere meinen Wohlstand (bzw. beuge Armut vor), um meine moralische Integrität nicht zu gefährden“: Wohlhabenheit, Stärke, Gesundheit und Wohlfahrt überhaupt, die einem Einflusse entgegen stehen, können also auch, wie es scheint, als Zwecke angesehen werden, die zugleich Pflicht sind; nämlich seine eigene Glückseligkeit zu befördern und sie nicht blos auf fremde zu richten. – Aber alsdann ist diese nicht der Zweck, sondern die Sittlichkeit des Subjects ist es, von welchem die Hindernisse wegzuräumen, es blos das erlaubte Mittel ist; […] Wohlhabenheit für sich selbst zu suchen ist direct nicht Pflicht; aber indirect kann es eine solche wohl sein: nämlich Armuth, als eine große Versuchung zu Lastern, abzuwehren. Alsdann aber ist es nicht meine Glückseligkeit, sondern meine Sittlichkeit, deren Integrität zu erhalten mein Zweck und zugleich meine Pflicht ist. (MS 6:388 m.H.; vgl. KpV 5:93)
Jede Handlung, die als Erfüllung einer indirekten Pflicht gelten soll, muss mithin auf einer Maxime beruhen, die den Zweck der übergeordneten Pflicht enthält (im hier diskutierten Fall den Zweck moralischer Integrität). Der Ausdruck „indirekte Pflicht“ lässt sich deshalb, wie Timmermann treffend bemerkt, als „convenient shorthand expression“¹⁶⁶ bezeichnen; indirekte Pflichten nennen nur die Mittel, nicht den Zweck, zu dem sie dienen. Laut Timmermann gleichen indirekte Pflichten hypothetisch-technischen Imperativen. Für beide gilt: „[T]hey merely advise us about how to realize an end to which we are already committed.“¹⁶⁷ Der einzige Unterschied besteht Timmermann zufolge darin, dass die jeweiligen Zwecke, die das Subjekt bereits zuvor in seine Maxime aufgenommen hat, unterschiedliche Quellen haben: Im Falle indirekter Pflichten sind sie durch praktische Vernunft vorgegeben, im Falle hypothetisch-technischer Imperative handelt es sich um beliebige, empirische Zwecke (etwa: „Wenn Du beweglich bleiben willst, sitze nicht immer nur am Schreibtisch“). Da die Zwecke vorausgesetzt werden, gehe es in beiden Fällen nur noch um die technische Frage, wie sie sich unter den gegebenen empirischen
Timmermann , S. . Timmermann , S. ; vgl. S. . Die systematische Frage, ob es immer angemessen ist, die Anwendungsregeln moralischer Prinzipien als rein technische (bzw. prudentielle) zu bezeichnen, kann hier nicht diskutiert werden.
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9. Mitgefühl
Bedingungen am besten realisieren lassen; „and this is a „consequentalist“ matter, a technical problem, a question of skill“.¹⁶⁸ Timmermann zieht daraus den Schluss, dass die Einhaltung indirekter Pflichten nur „by accident“ erforderlich ist: [I]f something is an “indirect” duty, it is obligatory to do so only by accident. […] A matter of “indirect” duty is a mere means, an action in itself morally neutral that is implied or suggested by a direct duty via technical imperatives.¹⁶⁹
Die Formulierung „obligatory… by accident“ mutet paradox an. Vermutlich ist damit nicht der allgemeine Umstand gemeint, dass indirekte Pflichten empirische und in diesem Sinn (aus der Perspektive der Vernunft) zufällige Bedingungen reflektieren. Tatsächlich lassen sich indirekte Pflichten nur im Rekurs auf empirische Bedingungen begründen, das aber ist kein Alleinstellungsmerkmal indirekter Pflichten, sondern gilt auch für direkte. Auch die Inhalte direkter Pflichten hängen zu unterschiedlichen Graden von empirischen Bedingungen ab, die in ihre Begründung einfließen. Die direkte Pflicht, Menschen in Notlagen zu helfen, begründet Kant etwa damit, dass „sie als Mitmenschen, d.i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen, anzusehen sind“ (MS 6:453; vgl. 393, 451). Im Rahmen der Kantischen Konzeption folgt die direkte Pflicht zur Nothilfe aus praktischer Vernunft (weil die entgegengesetzte Maxime dem kategorischen Imperativ widerspricht); dennoch fließen empirisch-zufällige Aspekte in ihre Begründung ein, nämlich die Bedürftigkeit des Menschen. Nur weil es empirisch wahr ist, dass Menschen bedürftig sind und auf wechselseitige Unterstützung angewiesen, gibt es eine Pflicht zur Nothilfe.¹⁷⁰ Timmermann scheint spezifischere Gründe für seine These zu haben, dass indirekte Pflichten nur „by accident“ verbindlich sind: Seiner Auffassung nach
Timmermann , S. . Timmermann , S. . Überzeugend hält Nancy Sherman zu diesem Thema fest: „Substantive moral principles and duties of end […] are themselves a putting into practice of the laws given in a metaphysic of morals [MS :]. Moreover, the derivation of duties is itself constrained by the idea of a Categorical Imperative whose tests of consistency are informed, to a varying degree, by the human case. The duties that result represent further conditions of finitude – such as our mortality, and our capacities to be hurt, deceived, tempted, and coerced.“ (Sherman , S. ) Auch der kategorische Imperativ selbst ist Sherman zufolge ein „anthropologisches Konstrukt“: „Kant himself would be the first to concede that the Categorical Imperative, as opposed to the moral law, is itself an anthropological construct. It addresses the problem of moral law for a finitely rational agent who can be aware of the moral law and yet oppose it because of inclination. This is the standing occasion for an imperative.“ (Sherman , S. )
9.2 Indirekte Pflichten
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besteht zwischen der Befolgung indirekter Pflichten (gleich, um welche es sich handelt) und dem moralischen Status einer Person kein „notwendiger“ Zusammenhang. „Nicht notwendig“ bedeutet hier, „that one could, perhaps by sheer strength of will, remain a moral person even without performing actions in accordance with any of the „indirect“ duties mentioned above; there is no necessary connection between the two.“¹⁷¹ Damit ist vermutlich gemeint, dass die Befolgung indirekter Pflichten unter bestimmten Bedingungen verzichtbar ist; nämlich dann, wenn eine Person andere Wege findet, die ihnen übergeordneten direkten Pflichten einzulösen. Sie kann eine moralische Person bleiben (oder werden), ohne indirekte Pflichten zu erfüllen, wenn sie ihren direkten Pflichten auf alternative Weise nachkommt („perhaps by sheer strength of will“). Unter dieser Voraussetzung haben die indirekten Pflichten für sie keine Verbindlichkeit und stellen mithin für sie überhaupt keine Pflichten dar. Es ist bezeichnend, dass Timmermann auf Willensstärke als denkbare Alternative verweist: Dies erweckt den Eindruck, dass es bei der Erfüllung indirekter Pflichten darum geht, verschiedene Formen der moralischen Unvollkommenheit des menschlichen Willens auszugleichen, insbesondere das Phänomen der Willensschwäche, das in Kants Augen allgegenwärtig ist (vgl. RGV 6:29 f.). Mit Blick auf die indirekte Pflicht zur Förderung des eigenen Wohlstands scheint dies eine plausible Deutung der Kantischen Position. Kant schreibt: „Wohlhabenheit für sich selbst zu suchen ist direct nicht Pflicht; aber indirect kann es eine solche wohl sein: nämlich Armuth, als eine große Versuchung zu Lastern, abzuwehren.“ (MS 6:388 m.H.) Es ist also nach Kant nur dann indirekt Pflicht, den eigenen Wohlstand zu fördern, wenn Armut die Einhaltung moralischer Pflichten bedroht. Unter zwei Bedingungen scheint diese indirekte Pflicht nicht zu greifen – nämlich entweder dann, wenn der eigene Wohlstand hinreichend groß ist; oder wenn die eigene Armut nicht als „große Versuchung zu Lastern“ wahrgenommen wird, weil beispielsweise ein starker Wille zur Tugend vorliegt. Eine bewusst gewählte Armut (wie etwa in einem Bettelorden) bedeutet keine Verletzung einer indirekten Pflicht. Auch eine aus eigener Kraft nicht abwendbare Armut kann natürlich nicht als Verletzung einer indirekten Pflicht gelten – in diesem Fall besteht vielmehr für andere eine direkte Pflicht zu helfen, die Kant ausdrücklich nicht als „Barmherzigkeit“ verstanden wissen will (MS 6:457), sondern, so jedenfalls deutet er an, als „Schuldigkeit“ (MS 6:449). In Bezug auf die indirekte Pflicht zur Förderung des eigenen Wohlstands ist Timmermann also zuzustimmen: Die moralische Integrität einer Person hängt nicht notwendig davon ab, dass sie ihren Wohlstand fördert.Unzureichend scheint
Timmermann , S. m.H.
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9. Mitgefühl
seine Deutung jedoch mit Blick auf die indirekte Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl. Sie nämlich ist nicht durch Alternativen ersetzbar. Bezeichnenderweise spricht Kant nicht davon, dass die Kultivierung von Mitgefühl indirekte Pflicht sein kann, sondern ist (vgl. MS 6:456, 457). Zwar kann auch Mitgefühl mit Blick auf die Unvollkommenheit des menschlichen Willens eine gewisse ausgleichende Funktion zugesprochen werden – worin diese besteht und worin nicht, werde ich in Abschnitt 9.3 herausarbeiten.Wie ich in den Abschnitten 9.4 bis 9.7 zeige, ist dies jedoch weder der einzige, noch der wichtigste Grund, der aus moralischer Perspektive für eine Kultivierung von Mitgefühl spricht. Es gibt eine wichtigere zweite Funktion, im Rahmen derer Mitgefühl nicht durch Willensstärke ersetzbar ist. Sie hängt intrinsisch mit der direkten Pflicht zur aktiven Anteilnahme bzw. Förderung der Glückseligkeit anderer zusammen und besteht nicht darin, menschliche Schwächen auszugleichen, sondern darin, eine moralisch angemessene Reaktion auf die spezifischen Wünsche und Bedürfnisse anderer Menschen zu ermöglichen.
9.3 Mitgefühl als Ausgleich moralischer Unvollkommenheit In der Einleitung zur Tugendlehre unterscheidet Kant grundsätzlich zwei Arten unvollkommener Pflichten (also Pflichten, bestimmte Zwecke zu fördern): Die eine Gruppe hat die Förderung der eigenen Vollkommenheit zum Zweck, die andere die Förderung der Glückseligkeit anderer. Der Förderung dieser beiden allgemeinen moralischen Zwecke ist eine Reihe konkreterer Pflichten untergeordnet, die Kant im Hauptteil der Tugendlehre verhandelt. Zur ersten Gruppe gehören etwa Pflichten zur Entwicklung der eigenen körperlichen und geistigen Talente und zur Selbsterkenntnis; zur zweiten Gruppe Pflichten zur Wohltätigkeit, zur Dankbarkeit und zur „teilnehmenden Empfindung“. Unter der Überschrift „Theilnehmende Empfindung ist überhaupt Pflicht“ führt Kant die Kultivierung von Mitgefühl als indirekte bzw. bedingte Pflicht ein. Mitgefühl fungiert als Oberbegriff für Mitleid und Mitfreude, wenn auch Mitleid in Kants Ausführungen eine zentralere Rolle spielt. Den moralischen Zweck, der dieser indirekten Pflicht übergeordnet ist, bezeichnet Kant wahlweise als tätiges und vernünftiges Wohlwollen, als Menschlichkeit oder als tätige Teilnehmung am Schicksal anderer (MS 6:456, 457); im Folgenden verwende ich übergreifend die Formulierung „aktive Teilnahme“. Alle drei Formulierungen verweisen auf den abermals übergeordneten moralischen Zweck der Glückseligkeit anderer. Wie Francis Hutcheson, David Hume und Adam Smith setzt Kant voraus, dass der Mensch eine natürliche Anlage zu Mitgefühl besitzt. Aus ihr erwachsen Gefühle von Mitleid und Mitfreude, die sich „unter nebeneinander lebenden Menschen natürlicher Weise verbreite[n]“. Es handelt sich dabei um „natürliche (äs-
9.3 Mitgefühl als Ausgleich moralischer Unvollkommenheit
133
thetische) Gefühle“, die „an sich selbst nicht Pflicht“ sind. Pflicht, wenn auch nur indirekte, ist es jedoch nach Kant, das natürliche Mitgefühl zu kultivieren, und es als „Mittel zur Theilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen“ (MS 6:457). Es folgt eine Passage, in der Kant den Kultivierungsprozess beispielhaft beschreibt: So ist es Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Nothwendigste abgeht, umzugehen, sondern sie aufzusuchen, [nicht¹⁷²] die Krankenstuben, oder die Gefängnisse der Schuldener u.dergl. zu fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren könne, auszuweichen: weil dieses doch einer der in uns von der Natur gelegten Antriebe ist, dasjenige zu thun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde. (MS 6:457)
Mitgefühl soll uns demnach darin unterstützen, „dasjenige zu thun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde“. Es ist naheliegend und üblich, diesen Halbsatz auf die moralische Unvollkommenheit des Menschen zu beziehen: Wie die Förderung eines gewissen Wohlstands und ausreichender Gesundheit soll offenbar auch die Kultivierung von Mitgefühl dazu dienen, menschliche Schwächen auszugleichen und so die Erfüllung moralischer Pflichten erleichtern. Grundsätzlich scheinen mir zwei Interpretationen dessen möglich, worin diese ausgleichende Funktion bestehen kann: in der Abstützung pflichtmäßiger Handlungen (starke Lesart der Ausgleichsfunktion) oder in der Vorbeugung gegen mögliche Hindernisse für moralisches Handeln (schwache Lesart der Ausgleichsfunktion). Nach der starken Lesart wäre die Kultivierung von Mitgefühl indirekte Pflicht, weil Mitgefühl uns dabei helfen kann, auch dann immerhin pflichtgemäß zu handeln, wenn das moralische Motiv aktiver Teilnahme für sich genommen nicht hinreichend stark ist. Mitgefühl kann demnach eine unterstützende Rolle spielen, indem es ein zu schwaches moralisches Motiv durch empirische Antriebe ergänzt. Zwar sind Handlungen, die auf solchen „gemischten“ Motiven beruhen, nach den strengen Kriterien der Kantischen Moraltheorie nicht moralisch-gut, sondern nur pflichtgemäß, aber – so ließe sich zu ihrer Verteidigung anführen – doch immerhin besser als pflichtwidrige Handlungen. Für diese Lesart scheint auf den ersten Blick zu sprechen, dass Kant Mitleid in der Anthropologie als „einstweiliges Surrogat der Vernunft“ bezeich-
In der Akademie-Ausgabe fehlt dieses „nicht“, das aus dem Kontext jedoch klar hervorgeht. Vgl. die folgerichtige Ergänzung in: Kant, Immanuel (): Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Hg. v. Bernd Ludwig. Hamburg: F. Meiner.
134
9. Mitgefühl
net, das provisorisch „den Zügel führen“ soll, bis die Vernunft „zu der gehörigen Stärke gelangt“ ist (Anth 7:253).¹⁷³ Ob diese Passage jedoch wirklich auf eine starke Lesart der zitierten Passage aus der Metaphysik der Sitten hindeutet, ist aus zwei Gründen zweifelhaft: Zum einen spricht Kant in der Anthropologie nicht davon, dass die Kultivierung von Mitleid zu einem provisorischen „Surrogat“ indirekte Pflicht ist. Zum anderen ist umgekehrt in der Metaphysik der Sitten nicht von einem Provisorium die Rede. Unabhängig davon sprechen zwei Schwierigkeiten gegen die starke Lesart: Erstens, warum sollten wir davon ausgehen, dass Mitgefühl immer zu pflichtmäßigen Handlungen führt? Ebenso gut kann es zu unmoralischen Handlungen verleiten; etwa dazu, den Betrug eines Freundes zu decken oder für ihn zu stehlen. Zweitens droht die Kultivierung von Mitgefühl auf die Kultivierung eines „unlauteren“ Willens hinauszulaufen, der „nicht, wie es sein sollte, das Gesetz allein zur hinreichenden Triebfeder in sich aufgenommen hat: sondern mehrentheils (vielleicht jederzeit) noch andere Triebfedern außer derselben bedarf, um dadurch die Willkür zu dem, was Pflicht fordert, zu bestimmen“ (RGV 6:30 m.H.). Unter Unlauterkeit versteht Kant die „Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen“ (RGV 6:29).¹⁷⁴ Um die erste Schwierigkeit abzuwenden, könnten Vertreter der starken Lesart sich darauf berufen, dass Kant die Kultivierung von Mitgefühl nur unter der Bedingung befürwortet, dass sie aus moralischen Gründen erfolgt – indirekte Pflichten verweisen auf übergeordnete moralische Zwecke, und die Kultivierung natürlichen Mitgefühls ist nur dann „indirekt“ gut, wenn sie durch den moralischen Zweck aktiver Teilnahme motiviert ist. Der Kultivierung muss also ein moralisches Anliegen vorausgehen, damit diese überhaupt als Erfüllung einer indirekten Pflicht gelten kann. Ist dies nicht der Fall, bedeutet die Kultivierung natürlichen Mitgefühls – in Kants Beispiel etwa durch den Besuch von Krankenhäusern – keine Erfüllung einer indirekten Pflicht.Wer aber aus moralischen Gründen motiviert ist, sein Mitgefühl zu kultivieren, sollte kohärenterweise auch motiviert sein, es zu kontrollieren und nicht handlungswirksam werden zu lassen, wenn dies seinen moralischen Überzeugungen widerspricht (was natürlich nicht bedeutet, dass dies in jedem Einzelfall gelingt). Die unterstüt-
Diese Darstellung von Mitleid als Provisorium erinnert an Kants Beschreibung des moralischen Scheins – und führt zu ähnlichen Problemen. Wie der moralische Schein wird Mitleid in dieser Passage als ein passives Instrument der Moralisierung beschrieben und auf eine „weise“ Einrichtung der Natur zurückgeführt: Es „war Weisheit der Natur“, uns mit einer Veranlagung zu Mitgefühl auszustatten, um „den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes […] zur Belebung beizufügen“ (Anth :); vgl. Kapitel „Der Moralische Schein“. Vgl. Baron , S. f.
9.3 Mitgefühl als Ausgleich moralischer Unvollkommenheit
135
zende Funktion des Mitgefühls besteht der starken Lesart zufolge nicht darin, uns das moralische Gesetz näherzubringen, sondern darin, Pflichten umzusetzen, die wir bereits anerkennen. Dies führt zur zweiten, gravierenderen Schwierigkeit: Kant wendet sich in der Religionsschrift in aller Deutlichkeit gegen den „Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen“; und zwar „selbst wenn es in guter Absicht und unter Maximen des Guten geschähe“ (RGV 6:29 m.H.). Der starken Lesart (und einer entsprechenden Deutung der zitierten Passage aus der Anthropologie) stehen zahlreiche Passagen gegenüber, in denen Kant unlautere Handlungsmotive ausdrücklich zurückweist. Die Kultivierung einer mitgefühlsbasierten „Stütze“ im Sinne der starken Lesart kann im Rahmen der Kantischen Moralkonzeption nicht indirekte Pflicht sein. Sie würde nämlich „das für unerreichbar vorspiegeln, was nur eben darum nicht erreicht wird, weil das Gesetz nicht in seiner Reinigkeit (als worin auch seine Stärke besteht) eingesehen und vorgetragen […wird] oder gar unächte oder unlautere Triebfedern zu dem, was an sich pflichtmäßig und gut ist, gebraucht werden“ (MS 6:217; vgl. etwa auch GMS 4:406; MS 6:441, 477). Die gute Absicht, die das moralische Motiv der Kultivierung verrät, ändert für Kant nichts daran, dass jede pflichtmäßige Handlung, die ohne die Unterstützung außermoralischer Handlungsmotive nicht erfolgen würde, heteronom ist. Die Kultivierung einer emotionalen „Stütze“ kann deshalb nicht in seinem Sinne sein. Der Vorwurf der Kultivierung eines unlauteren bzw. heteronomen Willens wird hinfällig, wenn man die ausgleichende moralische Funktion natürlichen Mitgefühls im Sinne der schwachen Lesart versteht. Nach dieser Lesart soll Mitgefühl nicht das moralische Motiv ergänzen, sondern mögliche Hindernisse beseitigen, die es uns erschweren könnten, unsere Pflichten gegen andere zu erfüllen. Hindernisse dieser Art können Neigungen und Gefühle wie Bequemlichkeit, Antipathie oder Abscheu sein, denen die Kultivierung von Mitgefühl auf emotionaler Ebene entgegenwirkt.¹⁷⁵ Im Unterschied zur starken Lesart wird die Pflichterfüllung hier also nicht auf direkte, sondern auf indirekte Weise erleichtert: Die Kultivierung zielt nicht darauf ab, eine emotionale „Stütze“ aufzubauen, die dann greifen soll, wenn das moralische Motiv allein nicht hinreichend stark ist, sondern darauf, auf emotionaler Ebene Bedingungen zu schaffen, die unsere moralische Willenskraft nicht unnötig strapazieren. Sie ist demnach indirekte Pflicht, weil es fahrlässig und anmaßend wäre, den eigenen unvollkommenen Willen ohne Not
Das bedeutet allerdings nicht, dass „negative“ Gefühle aus moralischer Sicht immer zu verurteilen sind: Auch sie können sich nach Kant moralisch positiv auswirken, wenn sie „die nöthigende Kraft des moralischen Gesetzes begleiten [und] jener ihre Wirksamkeit empfindbar machen (z. B. Ekel, Grauen etc., welche den moralischen Widerwillen versinnlichen), um der blos -sinnlichen Anreizung den Vorrang abzugewinnen.“ (MS :)
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9. Mitgefühl
auf die Probe zu stellen.Wird die unterstützende Funktion von Mitgefühl auf diese Weise verstanden, bedeutet die indirekte Pflicht zu seiner Kultivierung keine Aufforderung zur Kultivierung eines unlauteren Willens. Die indirekte Pflicht lautet nämlich nicht: „Kultiviere dein Mitgefühl, damit es dir als außermoralische motivationale Stütze dienen kann!“ sondern vielmehr: „Kultiviere dein Mitgefühl, um emotionale Hindernisse abzubauen, die es dir unnötig schwer machen, deine Pflichten gegen andere zu erfüllen!“ Kants Forderung, dass das moralische Motiv bei jeder einzelnen moralisch relevanten Handlungsentscheidung hinreichender Handlungsgrund sein soll, wird in keiner Weise eingeschränkt. Die schwache Lesart lässt sich im Rahmen der Kantischen Konzeption plausibel verteidigen. Sie erfasst jedoch nicht alle Dimensionen der indirekten Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl und lässt, wie ich glaube, die wichtigsten außer Acht. Die bisher diskutierten Lesarten verstehen die indirekte Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl als Korrektur menschlicher Unvollkommenheit – und zwar der Unvollkommenheit des Verpflichteten. Die moralische Funktion des Mitgefühls besteht demnach darin, ihm in Anbetracht seiner „Gebrechlichkeit“ (RGV 6:29) die Erfüllung seiner Pflicht zu erleichtern (auf direkte Weise nach der starken, auf indirekte Weise nach der schwachen Lesart). Zwar geht es um Pflichten gegen andere. Wenn es aber so ist, dass sich die Funktion von Mitgefühl darauf beschränkt, mir meine Pflicht zu erleichtern, dann ist es für andere Menschen im Prinzip gleichgültig, ob ich Mitgefühl aufbringe oder nicht, solange ich nur tue, was ich ihnen schuldig bin. Für sie ist nur wichtig, dass ich meinen Pflichten ihnen gegenüber nachkomme; und insofern dies grundsätzlich auch ohne Mitgefühl möglich ist, macht es für sie keinen Unterschied, ob ich dafür mehr oder weniger Willenskraft benötige. Sollte sich die moralische Bedeutung von Mitgefühl nach Kant in (indirekter) Pflichterleichterung erschöpfen, so besteht tatsächlich kein intrinsischer Zusammenhang zwischen dem moralischen Zweck aktiver Teilnahme und dem empirischen Mittel der Kultivierung von Mitgefühl – denn es würde bedeuten, dass sich die Pflicht zur aktiven Teilnahme grundsätzlich auch ohne Mitgefühl erfüllen ließe, wenn wir nur weniger unvollkommen wären; manchen Menschen mag es gelingen, genügend Willenskraft aufzubringen. Wäre dies Kants Position, so wäre sie kritikwürdig, denn in vielen Situationen macht es für uns einen Unterschied, ob andere ihre Pflichten uns gegenüber mit oder ohne Mitgefühl erfüllen. Eine Hilfeleistung, die mit Widerwillen erfolgt, wird häufig gar nicht als Hilfeleistung wahrgenommen. Auf angemessene Weise Anteil zu nehmen, bedeutet in der Regel nicht nur, dieses oder jenes zu tun, sondern es mit der richtigen Haltung zu tun, wobei sich diese richtige Haltung auch auf emotionaler Ebene ausdrückt. Tatsächlich besteht in manchen Situationen die richtige Art der Unterstützung schlicht in emotionaler Anteilnahme: Mitgefühl zu zeigen, kann also selbst aktive Teilnahme sein. Wie ich zeigen möchte, bestimmt
9.4 Mitgefühl als Mittel zur Förderung der Glückseligkeit anderer
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Kant die moralische Bedeutung von Mitgefühl jedoch keineswegs so restriktiv. Es lassen sich im Text verschiedene Anhaltspunkte dafür finden, dass seiner Auffassung nach ein intrinsischer Zusammenhang zwischen Mitgefühl und aktiver Teilnahme besteht. Auch gibt es einen deutlichen Hinweis darauf, dass der Ausgleich menschlicher Unvollkommenheit nicht das primäre Anliegen von Kants Konzeption des Mitgefühls ist: Schließlich bezieht er die indirekte Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl nicht auf den moralischen Zweck der Selbstvervollkommnung (vgl. MS 6:391 f., 444 f.), sondern auf den moralischen Zweck der Glückseligkeit anderer.¹⁷⁶
9.4 Mitgefühl als Mittel zur Förderung der Glückseligkeit anderer Kant schreibt, die Kultivierung von Mitgefühl sei indirekte Pflicht, „weil dieses doch einer der in uns von der Natur gelegten Antriebe ist, dasjenige zu thun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde“ (MS 6:457). Marcia Baron hat eine Möglichkeit aufgezeigt, diese Formulierung so zu interpretieren, dass Mitgefühl und aktive Teilnahme intrinsisch zusammenhängen: Sie betont die Tatsache, dass es sich bei den übergeordneten Pflichten gegen andere um unvollkommene Pflichten handelt, also um solche, die nicht aus sich heraus hinreichend spezifizieren, was genau zu tun ist. Dasjenige, „was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde“, besteht Baron zufolge darin, konkret zu identifizieren, durch welche Handlungen sich der moralische Zweck der Glückseligkeit anderer fördern lässt. Dazu nämlich müssen verschiedene empirische Faktoren berücksichtigt werden. Baron gibt folgendes Beispiel: I cannot from duty do my elderly and ailing neighbor’s laundry, since it is not my duty to do her laundry (though doing her laundry falls under the heading of an imperfect duty).¹⁷⁷
Um unvollkommene Pflichten gegenüber anderen konkretisieren zu können, muss die spezifische Situation derjenigen Menschen berücksichtigt werden, um die es jeweils geht. In eben diesem Zusammenhang spielt Mitgefühl eine unverzichtbare epistemische Rolle: Es macht uns auf die individuellen Bedürfnisse und Wünsche anderer Menschen aufmerksam und deutet darauf hin, wie wir ihnen helfen können.
Indem ich die Glückseligkeit anderer fördere, fördere ich auch meine eigene moralische Vollkommenheit, doch ist letztere hier nicht das Motiv, sondern vielmehr Ergebnis von Handlungen, durch die ich zum Glück anderer beitragen will. Baron , S. .
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9. Mitgefühl
Auf diese Weise, so hält Baron fest, „[o]ur sympathetic impulses do indeed accomplish something that the representation of duty alone would not accomplish […].They help us to have more than a merely notional sense that we ought to help others, and they draw our attention to human need and to ways we might help.“¹⁷⁸ Die Sensibilität, die nötig ist, um die Bedürfnisse und Wünsche anderer Menschen wahrnehmen zu können, lässt sich demnach nicht durch Willenskraft ersetzen. Besitzt eine Person ein hohes Maß an Willenskraft, kann jedoch aufgrund mangelnden Mitgefühls nur dann erkennen, dass und in welcher Weise andere Menschen Hilfe benötigen, wenn man sie explizit darauf hinweist, dann fehlt ihr eine zentrale moralische Kompetenz. Mitgefühl, so definiert Kant, ist eine „Wirkung der Einbildungskraft, die sich in die Stelle des Leidenden versetzt“ (MS 6:320 Anm.). Die hineinversetzende Arbeit der Einbildungskraft macht deutlich, dass Mitgefühl bestimmte Erlebnisqualitäten und kognitive Inhalte vereint: Die Situation des anderen wird aus seiner Perspektive nachempfunden (bzw. aus der Perspektive, die man für die Perspektive des anderen hält). Gerade deshalb scheint Mitgefühl geeignet, um die unvollkommene Pflicht zur aktiven Teilnahme zu konkretisieren. In der Anthropologie findet sich eine Passage, die einerseits erneut Kants problematisches Geschlechterbild demonstriert, andererseits aber auch zeigt, dass er die Fähigkeit, sich emotional in die Lage anderer Menschen zu versetzen, als moralisch notwendig erachtet; und zwar nicht nur mit Blick auf Hilfestellungen im engeren Sinn, sondern allgemeiner mit Blick auf einen rücksichtsvollen und nachsichtigen Umgang miteinander: [D]er Mann, welcher einem Weibe oder Kinde Beschwerlichkeiten oder Schmerz ersparen will, muß so viel feines Gefühl haben, als nöthig ist, um anderer ihre Empfindung nicht nach seiner Stärke, sondern ihrer Schwäche zu beurtheilen, und die Zartheit seiner Empfindung ist zur Großmuth nothwendig. (Anth 7:236 m.H.)
Nach Kant wäre niemandem ein Vorwurf daraus zu machen, wenn er von Natur aus nur wenig Mitgefühl empfindet – hat jemand aber nur deshalb Schwierigkeiten, die Bedürfnisse und Wünsche anderer Menschen wahrzunehmen, weil er sein Mitgefühl nicht kultiviert, dann erfüllt er seine Aufgabe der moralischen Charakterbildung nicht so, wie es die Pflicht zur aktiven Teilnahme verlangt. Gerade wer von Natur aus wenig Mitgefühl mitbringt, ist aus moralischen Gründen verpflichtet, es zu kultivieren.
Vgl. Baron , S. .
9.5 Der Prozess der Kultivierung
139
9.5 Der Prozess der Kultivierung Was genau aber bedeutet es, Mitgefühl zu kultivieren? Explizit äußert sich Kant zu dieser Frage nur knapp: Wir sollen Orte aufsuchen, an denen sich Arme aufhalten, Krankenhäuser und Gefängnisse, denn dort könne man sich des „schmerzhaften Mitgefühl[s] […] nicht erwehren“ (MS 6:457). Für sich genommen scheint diese Passage zunächst nahezulegen, die Kultivierung als Aktivierung eines mechanischen Prozesses zu verstehen: Wir sollen uns bewusst und in moralischer Absicht mit Situationen konfrontieren, von denen wir wissen, dass sie Mitgefühl bei uns auslösen. Das ausgelöste Mitgefühl selbst (das Kant in diesen Beispielen lediglich in seiner „schmerzhaften“ Form, dem Mitleid, thematisiert) aber ist passiv, in Kants Worten „pathologisch“,¹⁷⁹ und äußert sich genau so, wie es das eben von Natur aus tut. Die uns zurechenbare Aktivität beschränkt sich mithin darauf, dass wir uns bewusst äußeren Stimuli aussetzen, die ihrerseits einen natürlichen Mechanismus aktivieren. Was den Mechanismus selbst betrifft, sind wir geradezu „wehrlos“, die ausgelösten Gefühle stellen sich reflexartig ein. Betrachtet man die zitierte Passage jedoch vor dem Hintergrund grundlegender Kantischer Festlegungen, so wird deutlich, dass die bewusste Stimulierung „pathologischer“ Gefühle nur ein erster Schritt sein kann, auf den der eigentliche Prozess der Kultivierung noch folgen muss. Im Zuge dieses Prozesses, so die These, für die ich im Folgenden argumentieren möchte, muss das natürliche Mitgefühl bzw. die ihm zugrunde liegende natürliche Disposition selbst transformiert werden. Eine Kultivierung mit dem Ziel einer Stabilisierung „pathologischen“ Mitgefühls erscheint im Rahmen des Kantischen Modells völlig sinnfrei – und zwar sowohl mit Blick auf eine vernünftige Selbstkontrolle als auch mit Blick auf den ihr übergeordneten moralischen Zweck einer aktiven Teilnahme am Schicksal anderer. Wie sich aus dem Kontext erkennen lässt, ist unsere natürliche („pathologische“) Veranlagung, Mitgefühl zu empfinden, nach Kant nicht zu wenig, sondern tendenziell zu stark ausgeprägt: Er geht davon aus, dass sich Gefühle von Mitleid oder Mitfreude „unter nebeneinander lebenden Menschen natürlicher Weise verbreite[n]“ (MS 6:457). Diesen Vorgang beurteilt er jedoch nicht positiv, sondern tendenziell negativ: Die „Empfänglichkeit für das gemeinsame Gefühl des Vergnügens oder Schmerzens (humanitas aesthetica), was die Natur selbst giebt“
Pathologisch bedeutet hier empirisch bedingt und in diesem Sinn passiv hervorgerufen: „Diejenige Lust (oder Unlust), die nothwendig vor dem Gesetz vorhergehen muß, damit die That geschehe, ist pathologisch; diejenige aber, vor welcher, damit diese geschehe, das Gesetz nothwendig vorhergehen muß, ist moralisch. Jene hat empirische Principien (die Materie der Willkür), diese ein reines Princip a priori zum Grunde (bei dem es lediglich auf die Form der Willensbestimmung ankommt).“ (VT : Anm.; vgl. MS :)
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9. Mitgefühl
ist Kant zufolge „unfrei“. Sie bewirkt eine passive Form der „Mitleidenschaft“, die sich wie „ansteckende Krankheiten“ verbreitet (MS 6:456 f.). Beide Dimensionen dieses negativen Urteils – die der Unfreiheit und die der Krankheit – sind im Konzept „pathologischer“ Gefühle angelegt. Die Metapher der Krankheit rückt die natürlichen Gefühle von Mitleid und Mitfreude in die Nähe problematischer Affekte, die Kant ebenfalls mit Krankheiten vergleicht. Tatsächlich heißt es von Mitleid ausdrücklich, dass es als ein problematischer, „blind“ machender Affekt auftreten kann (Anth 7:253); als ein Affekt also, der es für eine kurze Zeit schwer oder sogar unmöglich macht, das eigene Verhalten vernünftig zu kontrollieren.¹⁸⁰ Die Kultivierung von Gefühlen bzw. Affekten, die eine vernünftige Selbstkontrolle bedrohen, kann nach Kant nicht indirekte Pflicht sein. Würde sich der Prozess der Kultivierung auf das beschriebene Szenario beschränken und wäre also rein mechanischer Art, dann liefe er der Pflicht zur vernünftigen Selbstkontrolle entgegen. Vor allem aber würde die indirekte Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl ihren moralischen Zweck – den der aktiven Teilnahme bzw. der Glückseligkeit anderer – verfehlen, wenn sie nicht über die bewusste Stimulierung „pathologischer“ Gefühle hinausginge. Das natürliche Phänomen „passiver Mitleidenschaft“ („humanitas aesthetica“) wird von Kant ausdrücklich als Gegenbild einer aktiven Teilnahme, einer vernunftbegründeten „humanitas practica“ eingeführt (MS 6:457). Passive Mitleidenschaft erscheint in Kantischer Perspektive kritikwürdig, weil es sich um eine zugelassene Passivität handelt, durch die wir uns selbst daran hindern, das zu tun, wozu wir moralisch verpflichtet sind, nämlich nach Möglichkeiten zu suchen, der leidenden Person zu helfen. Wer es beim Besuch eines Krankenhauses dabei belässt, sich von Mitleid einfach nur „anstecken“ zu lassen, gibt sich passiv seinem Mitleid hin und wird so – um die Metapher fortzuführen – gleichsam selbst zum Krankheitsfall, anstatt sich um die echten Patienten zu kümmern. Seine Anteilnahme besteht, wie Kant an anderer Stelle kritisiert, in einer „thatleere[n] Theilnehmung seines Gefühls“, die sich darin erschöpft, „sympathetisch zu anderer ihren Gefühlen das seine mittönen und sich so blos leidend afficiren zu lassen“ (Anth 7:236 m.H.). Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist es nicht das Phänomen der Ansteckung oder Affizierung als solches, das Kant kritisiert – nichts spricht gegen ein ansteckendes Lachen –, sondern die Selbstbezüglichkeit einer solchen „tatleeren Teilnehmung“ in Momenten, in denen es darauf ankäme, sich nicht auf sich selbst, sondern auf den anderen zu konzentrieren und ihn aktiv zu unterstützen.
Vgl. Kapitel „Affekte“.
9.6 Emotionale Ansteckung, Empathie und Mitgefühl
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9.6 Emotionale Ansteckung, Empathie und Mitgefühl Emotionale „Ansteckung“ ist ein Begriff, der auch in der heutigen Emotionsforschung eine zentrale Rolle spielt: Das Phänomen einer automatischen emotionalen Ansteckung gilt als Vorläufer oder einfachste Form von Empathie, die viele Autoren wiederum von Mitgefühl unterscheiden.¹⁸¹ Kant unterscheidet nicht zwischen Empathie und Mitgefühl, doch eine Differenzierung beider scheint in seinen Überlegungen angelegt. Um zu verstehen, worauf es ihm bei der moralisch motivierten Kultivierung von Mitgefühl ankommt, ist es sehr nützlich, diese implizite Differenzierung aufzugreifen und Kants Überlegungen in ihrem Lichte zu interpretieren. In der heutigen Forschungsdiskussion umfasst der Begriff der Empathie eine Reihe von psychischen Phänomenen, die gemeinsam haben, dass die Stimmung oder der emotionale Zustand anderer Personen geteilt wird – auf Traurigkeit wird mit Traurigkeit reagiert, auf Freude mit Freude. Empathie beruht demnach allgemein auf einem „Mitschwingen, eine[r] Entsprechung zwischen den bei einem Anderen wahrgenommenen und selbst verspürten Emotionen“.¹⁸² Für meine Zwecke reicht eine basale Unterscheidung von Stimmungen und Emotionen aus: Stimmungen sind ungerichtete Gefühlszustände, die sich auf tendenziell unbestimmte Weise äußern; Emotionen dagegen gerichtete Gefühlszustände, also solche, die spezifischere kognitive Inhalte aufweisen: Im Gegensatz zur heiteren Stimmung ist Freude als Emotion Freude über etwas (und gegebenenfalls Mitfreude mit jemandem). Mitgefühl als ein komplexes Gefühl, das Erlebnisqualitäten, kognitive Inhalte und, wie ich im Folgenden erläutern werde, auch ein motivationales Moment vereint, ist nach dieser Definition eine Emotion. „Emotionale Ansteckung“ als einfachste Form bzw. Vorläufer von Empathie bezeichnet das Phänomen einer unwillentlichen Übernahme der Stimmung oder des emotionalen Zustands anderer Personen. Nach der wirkmächtigen Studie von Hatfield, Cacioppo und Rapson beruht diese (in der Regel abgeschwächte) emotionale Übernahme auf Mimikry, einer automatischen Imitation bestimmter Merkmale, die wir an anderen Menschen wahrnehmen (oder auch nur wahrzunehmen glauben) – etwa ihres Gesichtsausdrucks, ihrer Körperhaltung oder ihrer Tonlage.¹⁸³ Wer das Lächeln einer anderen Person unwillkürlich mit einem Lächeln beantwortet und dadurch fröhlich gestimmt wird, hat sich emotional an-
Hoffman ; Singer und Lamm , S. – . Emotionale Ansteckung, Empathie und Mitgefühl werden in der Forschungsliteratur nicht einheitlich voneinander abgegrenzt. Ich rekurriere hier auf eine typische Abgrenzung, wie sie sich bei vielen Autoren findet. Olbrich , S. ; Olbrich diskutiert auch die Empathie-Fähigkeit von Tieren, die ich hier ausklammere. Hatfield, Cacioppo und Rapson .
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9. Mitgefühl
stecken lassen. Eine Fähigkeit, die – wie auch Kant vermutet – offenbar angeboren ist, denn bereits Neugeborene lassen sich emotional anstecken und fangen oft zu weinen an, wenn sie andere Babys weinen hören. Von kognitiv komplexeren Formen der Empathie (bzw. Empathie im engeren Sinn) wird die automatische emotionale Ansteckung vor allem durch das Fehlen einer Differenzierung zwischen Selbst und anderen unterschieden.¹⁸⁴ Die „angesteckte“ Person ist sich nicht bewusst, dass ihre Emotionen durch die (vorgestellten) Emotionen anderer Personen verursacht sind. Auf der Ebene emotionaler Ansteckung findet deshalb noch kein,wie Kant sagt, Setzen der eigenen Person „in die Stelle des Leidenden“ statt (MS 6:320 Anm.).Wir lassen uns von den Emotionen anderer Personen anstecken, ohne uns in sie hineinzuversetzen und von ihrem Standpunkt aus zu fühlen, wie wir uns vorstellen, dass sie fühlen.¹⁸⁵ Entsprechend sind Reaktionen, die auf eine emotionale Ansteckung folgen, tendenziell selbstbezogene Reaktionen: Das Subjekt reagiert auf eine als eigene wahrgenommene Emotion, obwohl diese durch die (vorgestellte) Emotion anderer ausgelöst wurde.¹⁸⁶ Bei komplexeren Formen von Empathie dagegen, die ich im Folgenden „perspektivisch“ nennen möchte, werden die Emotionen anderer ebenfalls geteilt, das Subjekt ist sich jedoch bewusst, dass es empathisch an einer Situation teilhat, die nicht ihm, sondern einer anderen Person zustößt, in die es sich einfühlt. Der perspektivischen Empathie kann dabei durchaus eine emotionale Ansteckung vorausgehen. In voll ausgeprägter Form schließt sie eine kognitive Übernahme der Perspektive des anderen ein, ohne jedoch auf diese reduzierbar zu sein, da zu ihr immer auch eine emotionale Teilnahme, eine selbst gefühlte Emotion, gehört. Im Unterschied zur emotionalen Ansteckung kennzeichnet die perspektivische Empathie also das Bewusstsein, dass die eigene Emotion eine Situation reflektiert, in die man sich nur stellvertretend versetzt – ich leide mit einem Patienten mit, als ob ich er wäre und ein Bein verloren hätte; ich teile also seinen emotionalen Zustand (wenn auch vermutlich in abgeschwächter Form), ohne jedoch zu vergessen, dass nicht ich, sondern er sein Bein verloren hat. Dieses Bewusstsein ist eine wichtige Voraussetzung, um die Selbstbezogenheit der emotionalen Ansteckung zu überwinden. Tatsächlich kann perspektivische Empathie dazu führen, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse und Wünsche anderer Menschen richten und sie als praktische Aufforderung verstehen – etwa als Aufforderung, den Schmerz der leidenden Person zu lindern. Ein solcher Transfer der Aufmerksamkeit findet aber nicht
Leiberg und Singer , S. . Darwall , S. . Stephen Darwall verschaltet auf sehr aufschlussreiche Weise Ergebnisse der neueren Emotionsforschung mit Mitgefühl (sympathy) bei Hume und Smith. Ich verdanke seiner Analyse wichtige Anregungen. Olbrich , S. .
9.6 Emotionale Ansteckung, Empathie und Mitgefühl
143
notwendig statt: Erstens ist möglich, dass die empathische Teilhabe zu stark ausfällt und nicht angemessen reguliert werden kann, so dass sie zu Überforderung und persönlichem Unbehagen führt.¹⁸⁷ Selbst wenn wir die Bedürfnisse der anderen Person noch wahrnehmen, kann dies zur Folge haben, dass letztlich doch die eigenen Bedürfnisse im Vordergrund stehen, etwa das Bedürfnis, die unangenehme Situation so schnell wie möglich zu verlassen. Dies scheint Kant im Blick zu haben, wenn er betont, es sei „Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Nothwendigste abgeht“ zu umgehen und nicht „die Krankenstuben, oder die Gefängnisse der Schuldener u.dergl. zu fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl […] auszuweichen“ (MS 6:457 m.H.) Zweitens schließt perspektivische Empathie nicht aus, dass uns die Bedürfnisse und Wünsche der Person, in die wir uns einfühlen, gleichgültig sind: Es ist möglich, den Schmerz einer anderen Person empathisch zu teilen und dabei keinerlei Interesse an ihren Bedürfnissen und Wünschen zu zeigen, sondern ganz bei den eigenen Bedürfnissen zu bleiben. Der Schmerz einer anderen Person kann ein willkommener Anlass ein, um sich im eigenen Schmerz zu gefallen, während das Bewusstsein, dass man diesen Schmerz nur stellvertretend erlebt, beruhigende Sicherheit verschafft. Die indirekte Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl zielt bei Kant deshalb meines Erachtens nicht auf perspektivische Empathie ab, sondern noch darüber hinaus. Es scheint um eine Form der Anteilnahme und Zuwendung zu gehen, die sich wirklich um des anderen willen auf seine Bedürfnisse richtet und mit der motivationalen Bereitschaft verbunden ist, sich um sein Wohlergehen zu kümmern. In der heutigen Debatte ist es üblich, diese Form der motivationalen Anteilnahme von Empathie abzugrenzen und als Mitgefühl (bzw. Sympathie oder empathische Besorgnis) zu bezeichnen. Empathie bedeutet, dass der emotionale Zustand des anderen perspektivisch geteilt wird (man fühlt die Emotionen einer anderen Person mit). Mitgefühl ist dagegen intrinsisch auf den anderen und seine Bedürfnisse bezogen (man empfindet Mitgefühl für die andere Person) und schließt die Motivation ein, ihm zu helfen (vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Kant vornehmlich Mitleid, nicht Mitfreude diskutiert).¹⁸⁸ Beide Emotionen können, müssen aber nicht zwangsläufig gemeinsam auftreten: Mitgefühl für eine andere Person zu empfinden, bedeutet nicht unbedingt, dass die eigenen Emotionen den Emotionen der anderen Person gleichen: Wer Mitgefühl für eine verzweifelte Person empfindet und sie trösten möchte, muss nicht selbst verzweifelt sein. Tatsächlich kann eine empathisch geteilte Verzweiflung es sogar
Vgl. Leiberg und Singer , S. . Singer und Lamm , S. ; vgl. Leiberg und Singer , S. f. und Darwall , S. .
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9. Mitgefühl
unmöglich machen, sich soweit von den eigenen Emotionen zu distanzieren, dass man in der Lage ist, wirklich mit Mitgefühl auf die Verzweiflung des anderen zu reagieren und ihm zu helfen. Diese begriffliche Differenzierung ermöglicht einen völlig anderen Blick darauf, wie der von Kant geforderte Kultivierungsprozess zu verstehen ist. Dies lässt sich an einer Passage aufzeigen, in der Kant auf bemerkenswerte Weise veranschaulicht, dass es Formen von Empathie gibt, deren Kultivierung tatsächlich überhaupt nichts zur Herausbildung eines moralischen Charakters beitragen würde: Es ist eben nicht die lieblichste Bemerkung an Menschen: daß ihr Vergnügen durch Vergleichung mit Anderer ihrem Schmerz erhöht, der eigene Schmerz aber durch die Vergleichung mit Anderer ähnlichen oder noch größeren Leiden vermindert wird.[¹⁸⁹] […] Man leidet vermittelst der Einbildungskraft mit dem Anderen mit (so wie, wenn man jemanden, aus dem Gleichgewicht gekommen, dem Fallen nahe sieht, man unwillkürlich und vergeblich sich auf die Gegenseite hinbeugt, um ihn gleichsam gerade zu stellen) und ist nur froh in dasselbe Schicksal nicht auch verflochten zu sein.* Daher läuft das Volk mit heftiger Begierde, die Hinführung eines Delinquenten und dessen Hinrichtung anzusehen, als zu einem Schauspiel. Denn die Gemüthsbewegungen und Gefühle, die sich an seinem Gesicht und Betragen äußern, wirken sympathetisch auf den Zuschauer und hinterlassen nach der Beängstigung desselben durch die Einbildungskraft (deren Stärke durch die Feierlichkeit noch erhöht wird) das sanfte, aber doch ernste Gefühl einer Abspannung, welche den darauf folgenden Lebensgenuß desto fühlbarer macht. (Anth 7:238 f.)
Dies ist zunächst eine sehr optimistische Einschätzung dessen, was Menschen dazu motiviert haben mag, Hinrichtungen zu besuchen. Viele Zuschauer trieb vermutlich der Wunsch nach „Belebung“ in einem ganz anderen Sinn zu den Hinrichtungen, nämlich in Form von Sensationsgier, Schadenfreude oder sogar Sadismus: Nachdem am 25. April 1792 in Paris die erste Hinrichtung durch Guillotine stattgefunden hatte, waren viele Zuschauer offenbar so enttäuscht von dem beschleunigten Verfahren, dass am Folgetag angeblich der martialische Ruf
Kant betont, dass diese „psychologische Wirkung“ zwar nicht liebenswürdig, aber auch nicht unbedingt unmoralisch ist, so lange wir anderen kein Leiden wünschen, „damit man die Behaglichkeit seines eigenen Zustandes desto inniglicher fühlen möge“ (Anth :). Das trifft auf viele Fälle sicher zu, scheint aber für das folgende Beispiel – die Betrachtung von Hinrichtungen als wohltuendes Schauspiel – gerade nicht zu gelten. Wie Kant selbst dieses Beispiel moralisch beurteilt, geht aus dem Text nicht hervor. Zwar befürwortet er die Todesstrafe für Mörder (MS :) – was, wie einige Interpreten überzeugend darlegen, dem Moralgesetz widerspricht (vgl. v. a. Cohen , S. ) – doch folgt daraus nicht, dass es moralisch zulässig ist, sich an ihrer Hinrichtung zu erfreuen. Mit Blick auf die von ihm strikt verurteilten „formalen Hinrichtungen“ von Karl I und Ludwig XVI nimmt Kant an, dass sie auf „die mit Ideen des Menschenrechts erfüllte Seele“ eine ganz andere Wirkung haben müssen, nämlich ein „Schaudern […], das man wiederholentlich fühlt, so bald und so oft man sich diesen Auftritt denkt“ (MS :).
9.6 Emotionale Ansteckung, Empathie und Mitgefühl
145
„Rendez-moi ma potence de boi, / Rendez-moi ma potence!“ (Gebt mir meinen Galgen zurück!) durch die Pariser Straßen schallte.¹⁹⁰ Unabhängig davon wird das ansteckende Moment der Empathie in Kants Beschreibung sehr deutlich: „die Gemüthsbewegungen und Gefühle, die sich an seinem Gesicht und Betragen äußern, wirken sympathetisch auf den Zuschauer“. Ebenso deutlich aber ist die hineinversetzende Arbeit der Einbildungskraft und das sichere Bewusstsein der Zuschauer, dass sie es nicht selbst sind, die hingerichtet werden – und auch nicht eine Person, die ihnen nahesteht. Eben dieses Bewusstsein erlaubt es ihnen, am Mitleiden Gefallen zu finden, und die Hinrichtung als ein im Ganzen wohltuendes Schauspiel zu erleben, das „den darauf folgenden Lebensgenuß desto fühlbarer macht“. Die empathische Teilhabe an der Angst und dem Schmerz einer Person, die ihr Leben verliert, wird im Kontrast zur eigenen Situation als ein belebendes Ereignis wahrgenommen. Die Zuschauer leiden mit dem Todeskandidaten mit, aber empfinden kein tiefergehendes Mitgefühl für ihn – sein Tod mag ihnen gerechtfertigt erscheinen oder einfach gleichgültig sein. Das empathisch geteilte, aber klar ihm zugeordnete Leid wird deshalb nicht zum Anlass genommen, die Aufmerksamkeit auf seine Bedürfnisse zu richten (die in seiner ausweglosen Situation vielleicht nur noch darin bestünden, seine Hinrichtung nicht als Spektakel zu inszenieren), sondern dazu, sich ganz auf die eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren und die eigenen schmerzhaften Emotionen zu einer positiven, belebenden Erfahrung umzudeuten. Die Frage, wie man dem Todeskandidaten helfen könnte – sei es auch nur, indem man nicht „mit heftiger Begierde“ seiner Hinrichtung zuschaut – stellt sich aus dieser selbstbezogenen Perspektive nicht. Innerhalb des Kantischen Systems ergibt es keinen Sinn, eine solche selbstbezogene Perspektive als Ziel der Kultivierung von Mitgefühl anzusehen. Kants Kritik an einer „thatleere[n] Theilnehmung seines Gefühls“ zeigt vielmehr, dass es darauf ankommt, natürliches, passives Mit-leid in kultiviertes, aktives Mit-leid zu überführen und dem anderen so gut es geht zu helfen. Der moralische Nutzen perspektivischer Empathie, so wird vor diesem Hintergrund deutlich, hängt wesentlich davon ab, zu welchem Zweck bzw. aus welchen Gründen man sich in andere einfühlt. Anders als das beschriebene mechanische Szenario der Kultivierung unterstellt,¹⁹¹ ist die emotionale Reaktion dabei nicht unabhängig vom Zweck der Einfühlung, sondern spiegelt diesen wider: Es macht einen Unterschied, ob wir Orte aufsuchen, an denen sich Arme aufhalten, Krankenhäuser und Gefängnisse, um uns (analog zum Hinrichtungs-
Vgl. Arasse , S. f. Vgl. S. .
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9. Mitgefühl
beispiel) empathisch zu beleben oder aber, um unser Mitgefühl zu kultivieren (was, wie ich noch zeigen werde, einschließen muss, die Menschen dort zu unterstützen). Der je verfolgte Zweck hat Einfluss darauf, welche Emotionen sich vor Ort einstellen: Es fühlt sich anders an, das Leid einer anderen Person als ein Schauspiel zu erleben oder aber als Aufforderung, ihr nach Möglichkeit zu helfen. Auch unterscheidet sich maßgeblich, auf welche Aspekte der Situation man überhaupt emotional reagiert, und wie man sie reflexiv weiterverarbeitet. Es ist deshalb sachlich abwegig – und, wie ich gezeigt habe, im Rahmen der Kantischen Konzeption kontraproduktiv –, die Kultivierung von Mitgefühl als einen Prozess zu verstehen, der in der aktiven Stimulierung „pathologischer“ Gefühle besteht. Die „pathologische“ Ebene entspricht der angeborenen Fähigkeit zu emotionaler Ansteckung, die selbst auf bestimmte Weise reguliert und geformt werden muss, wenn sie dabei helfen soll, die unvollkommene Pflicht zu aktiver Teilnahme bzw. der Förderung der Glückseligkeit anderer zu spezifizieren. Mitgefühl zu kultivieren, bedeutet nicht einfach, einen natürlichen Mechanismus zu aktivieren. Es bedeutet vielmehr, auf der Grundlage dieses Mechanismus durch Reflexion und gezieltes Handeln eine emotionale Disposition (mit durchaus mechanischen, aber selbst regulierten Elementen) auszuprägen, deren zentrales Moment weniger in einem emotionalen „Mitschwingen“ als in einer emotional getragenen Aufmerksamkeit und handlungsorientierten Fürsorge für den anderen besteht. Wie wichtig es in sachlicher Perspektive ist, die empathische Reaktion selbst reflexiv zu regulieren und nicht nur den akuten Umgang mit ihr, habe ich bereits angedeutet: Eine zu starke empathische Reaktion kann es unmöglich machen, den anderen zu unterstützen, selbst wenn man dies eigentlich gerne möchte. Wer auf die hoffnungslose Traurigkeit eines anderen mit hoffnungsloser Traurigkeit reagiert, wird kaum mehr in der Lage sein, ihm zu helfen. Eine klare Differenzierung zwischen der eigenen Person und der des anderen schafft Distanz und erlaubt es, die eigene Traurigkeit abzumildern und Empathie mit in Mitgefühl für den anderen umzuwandeln. Dies kommt nicht nur dem anderen zugute, sondern auch der helfenden Person selbst, die sich vor Überforderung schützt. Umgekehrt besteht auch die Möglichkeit, eine empathische oder mitfühlende Reaktion zu verstärken, etwa indem man sich ganz bewusst in die Lage des anderen versetzt. In beiden Fällen verändert die bewusste, reflexive Auseinandersetzung Stärke und Inhalt der gefühlten Emotionen, die sich nicht mehr adäquat als „pathologische“ Reflexe bzw. automatisches Ergebnis eines natürlichen Mechanismus beschreiben lassen. Emotionen, die Reaktion auf beeinflussbare Überzeugungen sind, sind keine passiven Widerfahrnisse, sondern Erlebnisse, die wir bis zu einem gewissen Grad aktiv steuern können. Kant führt diesen Gedanken nicht explizit aus. Er ist jedoch problemlos mit seiner Position vereinbar und lässt, anders als das beschriebene mechanische Szenario, die indirekte Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl sowohl
9.7 Transformiertes Mitgefühl
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mit Blick auf die übergeordnete Pflicht zu aktiver Teilnahme als auch mit Blick auf vernünftige Selbstkontrolle sinnvoll erscheinen. Kultivierung ist ein langfristiger Prozess. Bei der indirekten Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl steht deshalb nicht die momentane, sondern die langfristige Regulierung der eigenen Emotionen im Vordergrund. Es geht darum, eine Disposition zu entwickeln, die es erlaubt, auf Notlagen anderer Menschen unmittelbar mit Mitgefühl (im hier erläuterten Sinn einer auf den anderen gerichteten Emotion) zu reagieren, mit einem Gefühl also, das dem moralischen Zweck aktiver Teilnahme entspricht. Der natürliche Mechanismus wird im Sinne der eigenen moralischen Überzeugungen modifiziert und zwar am besten, indem man, wie ich noch ausführen werde, seinen Überzeugungen entsprechend handelt. Es ist sicher weder möglich, noch überhaupt wünschenswert, vollständige Kontrolle über seine Emotionen zu gewinnen. Falsch und moralisch problematisch erscheint jedoch auch die Vorstellung, wir hätten keinerlei Einfluss auf Stärke und Inhalt unserer Emotionen. Eine gezielte Reform der Sinnesart stellt sich als moralische Aufgabe dar. Sich den Zweck aktiver Teilnahme zu eigen zu machen, schließt ein, zu lernen, das Leid anderer Menschen in einer Weise wahrzunehmen und emotional zu reflektieren, die zu aktiver Teilnahme motiviert. Der Kultivierungsprozess macht auf sehr anschauliche Weise deutlich, wie eine Reform der Denkungsart und eine Reform der Sinnesart bei der moralischen Charakterbildung ineinandergreifen: Er setzt bei der natürlichen Fähigkeit zu emotionaler Ansteckung an, um auf ihrer Grundlage in reflexiver Auseinandersetzung die Fähigkeit zu perspektivischer Empathie und schließlich Mitgefühl auszubilden. Mit zunehmender Sensibilität oder, in Kants Worten, „feinem Gefühl“ (Anth 7:236) für den anderen wächst dabei auch die Kompetenz, die unvollkommene Pflicht zu aktiver Teilnahme mit Blick auf die Bedürfnisse konkreter anderer Personen zu spezifizieren und entsprechende Handlungsentscheidungen zu treffen.
9.7 Transformiertes Mitgefühl In Anbetracht der Tatsache, dass Kant die Kultivierung von Mitgefühl nur knapp erläutert, geht meine Deutung notwendig über seine expliziten Äußerungen hinaus. Wo sie dies aber tut, ist sie immer an impliziten Differenzierungen und grundlegenden Anliegen der Kantischen Ethik orientiert: Die Analyse der zitierten Passagen aus der Anthropologie und der Metaphysik der Sitten hat gezeigt, dass Kant in verschiedenen Bedeutungen von Mitgefühl bzw. Mitleid spricht, die er moralisch unterschiedlich bewertet. Ihre Differenzierung anhand der eingeführten Unterscheidung von emotionaler Ansteckung, Empathie und Mitgefühl lässt deutlich werden, wie die humanitas aesthetica, die Kant für sich genommen
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9. Mitgefühl
durchaus kritisch sieht, einen echten Beitrag leisten kann zur gebotenen humanitas practica; nämlich durch eine Kultivierung, die erstere im Sinne der letzteren modifiziert und so das Stadium bloßer „Ansteckung“ und „thatleerer Theilnehmung“ überwindet. Diese Deutung der Kultivierung erlaubt es, die folgende, bereits zitierte Passage neu zu interpretieren: Obzwar aber Mitleid (und so auch Mitfreude) mit Anderen zu haben an sich selbst nicht Pflicht ist, so ist es doch thätige Theilnehmung an ihrem Schicksale und zu dem Ende also indirecte Pflicht, die mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu cultiviren und sie als so viele Mittel zur Theilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen. (MS 6:457 m.H.)
Kant schreibt, es sei indirekte Pflicht, „die mitleidige[n] natürliche[n] (ästhetische[n]) Gefühle in uns“ als Mittel „zur Theilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen“. Nach der vorgeschlagenen Interpretation entspricht das natürliche Mitleid der Fähigkeit zu emotionaler Ansteckung. Von dieser heißt es nun, sie solle nicht nur als Mittel zur Teilnahme aus moralischen Grundsätzen, sondern auch als Mittel zu einem Gefühl verwendet werden, das diesen Grundsätzen gemäß ist.¹⁹² Man könnte vermuten, dass es sich bei diesem Gefühl um das „vernunftgewirkte“ Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz handelt, das bei Kant die Funktion hat, dem objektiven Gesetz subjektive Geltung zu verleihen. Das Gefühl der Achtung wird von Kant auch als „das moralische Gefühl“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein besonderes Gefühl, das seinen Ursprung in der Vernunft hat und „a priori erkannt wird“ (KpV 5:73).Von allen Gefühlen empirischen Ursprungs ist das Gefühl der Achtung deshalb „specifisch unterschieden“ (GMS 4:401 Anm.). Es ist definiert als unmittelbare „Wirkung […] vom Bewußtsein des moralischen Gesetzes“ und drückt die Anerkennung des moralischen Gesetzes durch das
Es scheint noch eine zweite stärkere Lesart möglich: Dieser zufolge sollen wir das natürliche Mitleid als Mittel zur Teilnehmung aus moralischen Grundsätzen und als Mittel zur Teilnehmung aus dem ihnen gemäßen Gefühl benutzen. Damit letzteres keine heteronome Motivation bedeutet (denn, wie ich im folgenden Absatz argumentiere, ist dieses „gemäße Gefühl“ nicht Achtung vor dem moralischen Gesetz, sondern ein den Grundsätzen entsprechend kultiviertes Mitgefühl), muss Mitgefühl nach dieser Lesart als emotionale Verkörperung der Grundsätze verstanden werden, so dass eine Handlung aus dem „gemäßen Gefühl“ einer Teilnehmung aus den betreffenden Grundsätzen gleichkommt. Eine echte Gleichsetzung beider erscheint allerdings problematisch; denn – hier teile ich die Auffassung von Sabine Döring – eine Handlung aus Mitgefühl kann nur dann rational sein, wenn wir unser Mitgefühl (zumindest im Nachhinein) als handlungsentscheidend autorisieren (vgl. Döring ). Dies müsste ausführlicher diskutiert werden, hier konzentriere ich mich auf die erste Lesart.
9.7 Transformiertes Mitgefühl
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Subjekt aus (KpV 5:78).¹⁹³ Tatsächlich ist Kant der Auffassung, dass Achtung kultiviert werden muss (KpV 5:38; MS 6:399 f.). Er macht jedoch sehr deutlich, dass empirische Gefühle dabei keine Rolle spielen. Die Kultivierung des moralischen Gefühls der Achtung erfolgt vielmehr, indem „gezeigt wird, wie es abgesondert von allem pathologischen Reize und in seiner Reinigkeit, durch bloße Vernunftvorstellung, eben am stärksten erregt wird“ (MS 6:400 m.H.). Natürliches Mitleid ist also sicher kein geeignetes Mittel, um Achtung zu kultivieren. Es ist aber, wie ich gezeigt habe, ein geeignetes Mittel bzw. eine geeignete Ausgangsbasis, um ein Gefühl zu kultivieren, das tatsächlich dem Grundsatz aktiver Teilnahme „gemäß“ ist, nämlich Mitgefühl. Nach Kant müssen wir zu seiner Kultivierung Orte aufsuchen, an denen sich Arme aufhalten, Krankenhäuser und Gefängnisse. Sofern der Besuch allerdings nur der Kultivierung von Mitgefühl dient, ist er im Rahmen der Kantischen Konzeption äußerst problematisch: Es würde gegen den kategorischen Imperativ verstoßen, die Armen, Patienten und Gefangenen bloß als Mittel zur Kultivierung der eigenen moralischen Kompetenz zu gebrauchen.¹⁹⁴ Neben der Kultivierung muss der Besuch deshalb auch den Zweck haben, aktiv an ihrem Schicksal teilzunehmen. Dies kann etwa durch finanzielle Unterstützung der Gefangenen geschehen, die in den Gefängnissen des 18. Jahrhunderts selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen mussten und deshalb in der Regel auf Unterstützung von außen angewiesen waren. Die von Kant vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erfüllung der indirekten Pflicht zur Kultivierung von Mitgefühl scheinen sich von der Erfüllung der übergeordneten unvollkommenen Pflicht zur aktiven Teilnahme nicht trennen zu lassen. Wenn dies richtig ist, stellt sich der Kultivierungsprozess noch anspruchsvoller dar als bisher gezeigt: Der geforderte Besuch der Armen, Patienten und Gefangenen dient nicht nur der reflexiven Transformation der eigenen emotionalen Dispositionen im Sinne des Zwecks aktiver Teilnahme, sondern beinhaltet auch, dass diesem Zweck gemäß gehandelt wird. Dabei kommt es nach Kant wesentlich darauf an, nicht „gönnerhaft“ als Wohltäter aufzutreten, sondern der anderen Person respektvoll zu begegnen. Jede herabsetzende, „beleidigende Art des Wohlthuns“ (MS 6:457) muss vermieden werden:
Das „vernunftgewirkte“ moralische Gefühl der Achtung kann hier nicht ausführlich behandelt werden; vgl. zu diesem Thema Schadow , S. – . Schließlich lautet die berühmte zweite Formulierung des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS :)
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9. Mitgefühl
So werden wir gegen einen Armen wohlthätig zu sein uns für verpflichtet erkennen; aber weil diese Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meiner Großmuth enthält, die doch den Anderen erniedrigt, so ist es Pflicht, dem Empfänger durch ein Betragen, welches diese Wohlthätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demüthigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten. (MS 6:448 f.)
In der folgenden Passage ist die moralische Kultivierung emotionaler Dispositionen einerseits und moralisches Handeln andererseits tatsächlich eng verzahnt: „thue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohlthun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohlthun überhaupt) in dir bewirken!“ (MS 6:402) Die beste Art der Kultivierung von Mitgefühl scheint demnach darin zu bestehen, seine Pflicht zu aktiver Teilnahme zu erfüllen; was umgekehrt mit zunehmend kultiviertem Mitgefühl immer besser gelingt. Sowohl aus sachlichen als auch aus kantimmanenten Gründen, so hoffe ich gezeigt zu haben, ist es sinnvoll, den Prozess der Kultivierung von Mitgefühl nicht als mechanische Stimulierung „pathologischer“ Gefühle zu verstehen, sondern als moralisch motivierte Transformation einer natürlichen Veranlagung. Kultiviertes Mitgefühl lässt sich in die strikte Unterscheidung von einerseits „pathologischen“ und andererseits moralischen Gefühlen nicht einordnen. Im Zuge der Kultivierung wird eine empirische Disposition durch Reflexion und gezieltes Handeln so umgewandelt, dass sie es ermöglicht, den spezifischen Gehalt der Pflicht zu aktiver Teilnahme (bzw. ihre Implikationen in konkreten Situationen) überhaupt erst zu erkennen und sie mit der richtigen Haltung zu erfüllen. Worin dieser spezifische Gehalt besteht, hängt von den Bedürfnissen des anderen ab und impliziert nicht notwendig konkrete Handlungen – in manchen Situationen mag man den Bedürfnissen des anderen am besten entgegenkommen, indem man einfach Mitgefühl zeigt; und zwar im hier erläuterten Sinn einer Anteilnahme, die nicht auf die eigenen Bedürfnisse gerichtet ist (wie der Wunsch nach Belebung im Hinrichtungsbeispiel), sondern auf die Bedürfnisse der Person, in die man sich einfühlt.
10. Selbsterkenntnis als Prozess Kants moralische Anthropologie antwortet auf die Frage, was es bedeutet, moralische Forderungen konkret zu verwirklichen. Sie basiert auf einer dynamischen Konzeption der menschlichen Natur: Der Mensch ist definiert über die Fähigkeit, an sich selbst zu arbeiten, und über die Verpflichtung, diese Arbeit auch zu leisten. Ziel dieser Arbeit an der eigenen Person, die Kant ausdrücklich als unabschließbar bezeichnet, ist die Herausbildung eines moralischen Charakters. Für Kant ist der Charakter eines Menschen also nicht feststehend und dem Handeln vorgängig. Er entsteht erst durch Handeln und verändert sich mit diesem. Die Verwirklichung moralischer Pflichten ist für Kant kein mechanisches Verfahren. Sie ist eine interpretative Praxis, die beinhaltet, empirische Zusammenhänge in ihrer moralischen Bedeutung zu erfassen und angemessen auf sie zu reagieren. Im Zentrum der Kantischen Ethik stehen konkrete Personen, keine idealen Subjekte. Sie müssen ihre Fähigkeit, moralisch zu handeln, im Umgang mit konkreten, förderlichen wie hinderlichen Bedingungen, entwickeln. Moralische Kompetenz muss deshalb mit Kant als eine Kompetenz gedacht werden, die graduell ausgebildet wird und dabei fragil bleibt – sie umfasst erstens, wie man weiß, die Entwicklung rationaler Fähigkeiten, zweitens aber auch die Entwicklung emotionaler Fähigkeiten und drittens einen selbstreflexiven, produktiven Umgang mit psychischen Mechanismen, die unser Urteil über das, was in einer Situation moralisch von uns gefordert ist, verzerren. Ihre Entwicklung schließt Fortschritte ein (etwa die sukzessive Ausbildung von Mitgefühl) und Rückschläge (etwa die „vernünftelnde“ Zementierung von Leidenschaften gerade in Folge des Wunsches, sich selbst als moralische Person zu verstehen). Nun lässt sich nicht leugnen, dass Kants Analyse von emotionalen Hilfsmitteln und Hindernissen einer moralischen Lebensführung und Charakterbildung Schlagseite hat: Die emotionalen Hindernisse werden deutlich ausführlicher und differenzierter dargestellt. Seine Rhetorik der Abschreckung, die bestimmte Formen des Affekts und insbesondere Leidenschaften mit Krankheit und Verfall korreliert, lässt sich dabei auf verschiedene Weise interpretieren. In historischer Perspektive dient sie sicher der Abgrenzung von der zeitgenössischen Konjunktur des Sentimentalismus. Innerhalb von Kants Werk markiert sie die Abkehr von eigenen moralsensualistischen Tendenzen in den 1760er Jahren. Immerhin denkbar wäre auch eine geheime Faszination für die Kehrseite des eigenen vernunftzentrierten Projekts. Mir scheint sie aber vor allem Ausdruck dessen, was ich als pessimistische Grundhaltung der Kantischen Anthropologie und Moralpsychologie rekonstruiert habe: Kants Ausgangspunkt für das Projekt moralischer
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Charakterbildung ist ein „krummes“, problematisches Subjekt, das sich mit mehr Hindernissen konfrontiert sieht, als ihm Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Doch Kant belässt es nicht bei dieser allgemeinen Diagnose, sondern beschäftigt sich intensiv mit konkreten Hindernissen und Hilfsmitteln. Mit seinen Analysen einzelner Leidenschaften und einzelner Affekte sowie seiner Aufforderung zur Kultivierung bestimmter emotionaler Dispositionen, insbesondere des Mitgefühls, konkretisiert er seine Moralpsychologie und erhöht zugleich die Möglichkeiten identifikatorischer Lektüren: Ein Leser der Anthropologie könnte sich etwa in der Beschreibung des Habsüchtigen nicht wiederfinden, partiell aber in der des Ehrsüchtigen. Kant betont immer wieder die Verschiedenheit individueller Veranlagungen – entsprechend haben wir auch im Umgang mit Hindernissen und Hilfsmitteln unterschiedliche Aufgaben. Seine detaillierte Darstellung einzelner emotionaler Dispositionen soll seine Leser darin unterstützen, den Blick für die je eigene psychische Konstitution zu schärfen. Sie leistet damit einen Beitrag zu individueller moralischer Selbsterkenntnis. Moralische Selbsterkenntnis ist für Kant das „erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst“ und Anfang „aller menschlichen Weisheit“. Weisheit ist hier zu verstehen als Inbegriff und Ziel menschlicher Tugend (MS 6:441, HN 23:402). Kant beschreibt den Prozess moralischer Vervollkommnung als ein Stufenmodell, das mit der „Höllenfahrt der Selbsterkenntnis“ durch die „schwerer zu ergründende[n] Tiefen […] des Herzens“ beginnt. Zunächst muss überprüft werden, ob die „Quelle“ unserer Handlungen „lauter oder unlauter“ ist, um dann „die Wegräumung der inneren Hindernisse“ und schließlich die Entwicklung unserer moralischen Anlage zu ermöglichen: Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst […] in Beziehung auf deine Pflicht – dein Herz, – ob es gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter [ist…]. Das moralische Selbsterkenntniß, das in die schwerer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche in der Zusammenstimmung des Willens eines Wesens zum Endzweck besteht, bedarf beim Menschen zu allererst die Wegräumung der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens) und dann die Entwickelung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens in ihm zu entwickeln (nur die Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung). (MS 6:441)
Die delphische Forderung: „Erkenne dich selbst!“ zielt hier zunächst auf die moralische Überprüfung der eigenen Maximen. Das Ergebnis einer solchen Überprüfung kann niemals vollständige Selbsterkenntnis sein: Ob unsere Handlungsmotive moralisch gut sind, können wir nach Kant nie sicher wissen. Einfacher lässt sich dagegen feststellen, ob sie unmoralisch sind. Laut Kant tendieren wir dazu, „vor unsern eignen Augen die mechanic unserer eigennützigen Antriebe
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[zu] verbergen“, weshalb Motive, die uns gut erscheinen, es nicht notwendig auch tatsächlich sind (Refl 19:113; vgl. MS 6:447). Wenn wir dagegen glauben, aus unmoralischen Motiven zu handeln, ist kaum wahrscheinlich, dass sie letztlich doch moralisch sind. Es besteht einfach kein Grund, sich einzureden, dass moralische Motive unmoralisch sind. Anders als das Stufenmodell auf den ersten Blick nahelegt, möchte ich vorschlagen, die Annäherung an das Ideal moralischer Selbsterkenntnis als einen dialektischen Prozess zu verstehen, der keineswegs allein auf der Ebene des Denkens stattfindet. Kants These, dass moralische Selbsterkenntnis Voraussetzung für die Überwindung innerer Hindernisse ist und diese Überwindung wiederum Voraussetzung für die Entwicklung unserer moralischen Anlage, bedeutet nicht, dass jeder dieser Schritte vollständig durchlaufen sein muss, bevor der nächste angegangen werden kann, oder dass dies auch nur möglich wäre. Eine solche strikte Abgrenzung der einzelnen Stufen gegeneinander würde implizieren, dass wir uns bis zu einer bestimmten Zeit in unserem Leben ausschließlich um Selbsterkenntnis bemühen müssten, danach darum, Hindernisse wegzuräumen, um uns schließlich, wenn wir es überhaupt so weit bringen, der Entwicklung unserer moralischen Anlage widmen zu können. Das ist offenkundig absurd und entspricht sicher nicht Kants Verständnis moralischer Entwicklung. Moralische Selbsterkenntnis ist vielmehr insofern „aller menschlichen Weisheit Anfang“, als partielle Selbsterkenntnis Voraussetzung der Identifikation und Überwindung innerer Hindernisse ist: Nur wenn ich ein inneres Hindernis als solches erkenne, kann ich damit beginnen, es „wegzuräumen“. Umgekehrt trägt aber auch die Überwindung innerer Hindernisse maßgeblich zur Selbsterkenntnis bei – dies gilt besonders für die Überwindung von Leidenschaften, die Kant über den Gegenbegriff der Selbsttäuschung definiert. Nach Selbsterkenntnis zu streben, erschöpft sich deshalb nicht darin, die eigenen Maximen zu prüfen, sondern schließt gegebenenfalls die erfolgreiche Überwindung derjenigen Selbsttäuschung ein, die nach Kant den leidenschaftlichen Akteur charakterisiert. Kants weiterführende Behauptung, die Überwindung der inneren Hindernisse müsse der Entwicklung unserer moralischen Anlage vorausgehen, verweist meines Erachtens auf seine grundlegende These, dass sich der Charakter eines Menschen nur holistisch beurteilen lässt – moralisch gut ist der Charakter einer Person nur dann, wenn alle ihre Maximen mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen; der gute Charakter ist ein regulatives Ideal.¹⁹⁵ Die Überwindung der Leidenschaften als maximenbasierter innerer Hindernisse ist deshalb Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung unserer moralischen Anlage zu einem moralisch-guten Cha-
Vgl. Abschnitt . „Revolution und Reform“.
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rakter, nicht aber Voraussetzung dafür, dass wir mit ihrer Entwicklung überhaupt beginnen können. Die moralische Charakterbildung beinhaltet jedoch nicht nur die Überwindung innerer Hindernisse, sondern auch die Kultivierung innerer Hilfsmittel. Im Rahmen der skizzierten Dialektik gilt auch hier, dass sich beide Momente wechselseitig stützen. Die Überwindung innerer Hindernisse erleichtert die Kultivierung innerer Hilfsmittel, und umgekehrt trägt die Kultivierung innerer Hilfsmittel zur Überwindung innerer Hindernisse bei: So kann kultiviertes Mitgefühl als Korrektiv gegenüber ausbeuterischer Habsucht oder andere herabsetzender Ehrsucht dienen. Auch allgemeiner lässt sich festhalten, dass die gezielte Kultivierung emotionaler Dispositionen im Sinne des moralischen Gesetzes einer leidenschaftsbedingten Selbsttäuschung vorbeugt. Wie ich gezeigt habe, sieht Kant den wichtigsten Anlass für diese Selbsttäuschung – die scheinbare Legitimierung der Leidenschaft, die der Leidenschaftliche sich selbst gegenüber vornimmt – in dessen innerer Zerrissenheit, nämlich in der Diskrepanz von Leidenschaft und moralischem Selbstanspruch. Dieser Diskrepanz wirkt die moralische Kultivierung emotionaler Dispositionen entgegen, indem sie zu einer partiellen Harmonisierung von moralischen Überzeugungen einerseits und Gefühlen und Neigungen andererseits beiträgt. Auf diese Weise vermindert sie den Anlass zur leidenschaftlichen Selbsttäuschung und erleichtert den Prozess der Selbsterkenntnis. Nach meiner Lesart ist moralische Selbsterkenntnis keine abstrakte Denkoperation, sondern ein aktives Selbstverhältnis. Kants Modell moralischer Entwicklung ist deutlich vielschichtiger, als es das von Wood aufgerufene Vorurteil des „stiff, inhuman, moralistic Prussian ogre“¹⁹⁶ nahelegt. Zu einer umfassenden moralischen Charakterbildung nach Kant gehört sehr viel mehr als Denken, nämlich der Umgang mit teils verfestigten, teils überwundenen Leidenschaften, teils kontrollierten, teils unkontrollierten Affekten, teils natürlichem, teils kultiviertem Mitgefühl. Kant unternimmt den Brückenschlag zwischen abstrakter Moraltheorie und konkreter moralischer Praxis und plädiert damit für ein umfassendes Verständnis von Ethik, die sich mit den empirischen Realisierungsbedingungen moralischen Handelns beschäftigen muss.
Wood S. XII.
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Personenregister Ackeren, Marcel van 65 Allison, Henry E. 5, 37, 60 f., 105 f. Anderson, Elizabeth 5 Arasse, Daniel 145 Aristoteles 15, 55 Baron, Marcia 5, 134, 137 f. Baxley, Anne Margaret 2, 5 Beck, Lewis White 106, 119 f. Becker, Wolfgang 11 f., 16 Betzler, Monika 2 Bittner, Rüdiger 105 Blackburn, Simon 4 f., 32 Blöser, Claudia 103, 114 Bojanowski, Jochen 30, 37 Brandt, Reinhard 2, 10, 16, 38, 83, 101, 108, 110 Brown, John 52 Buchenau, Stefanie 36 Cacioppo, John T. 141 Cassirer, Ernst 3, 11 Cohen, Alix 2, 10, 12, 14, 25 Cohen, Hermann 144 Darwall, Stephen 49, 142 f. Daston, Lorraine 85 Denis, Lara 2, 5, 49 Döring, Sabine 148
Hartmann, Eduard von 67 Hatfield, Elaine 141 Henrich, Dieter 49 Herman, Barbara 2, 23 f., 100, 106, 114 Hill, Thomas E. 122 Hirschman, Albert O. 71, 86 – 89, 92 Hobbes, Thomas 79 Hoffman, Martin L. 141 Hogan, Desmond 36 Horn, Christoph 68, 114, 116 Höwing, Thomas 38 Hume, David 20, 49, 132, 142 Janet, Pierre 67 Jost, Lawrence J. 2 Kierkegaard, Søren 86 Kleingeld, Pauline 31, 35, 83 Klemme, Heiner F. 8, 17 f., 114, 116 Kobusch, Theo 41 Kohl, Katrin 42 Korsgaard, Christine M. 16, 128 Lamm, Claus 141, 143 Leiberg, Susanne 142 f. Louden, Robert B. 2, 4, 10 – 12, 23, 25, 32, 98, 114 Ludwig, Bernd 122, 133
Forschner, Maximilian 114 Foucault, Michel 26 Freud, Sigmund 67 Frierson, Patrick R. 2, 10, 12, 35, 47
Maasen, Sabine 15 Mann, Heinrich 69 Mazar, Nina 69 McDowell, John H. 91 Mikkola, Mari 83 Montaigne, Michel de 31, 105 Moran, Kate A. 98, 111, 120 Munzel, Gisela F. 2, 10, 111 Murdoch, Iris 32 – 34
Gregor, Mary 74 Guyer, Paul 5, 8, 25, 65
Nelson, Leonard 124 Newmark, Catherine 43, 58
Halbig, Christoph 43, 49 Hampe, Michael 57
Olbrich, Erhard 141 f. O’Neill, Onora 32
Engstrom, Stephen 36 Erdmann, Benno 10 Esser, Andrea 2, 47
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Personenregister
Paton, Herbert James 106 Platon 69, 120, 124 Pogge, Thomas 2, 17, 19
Sticker, Martin 65 Sturm, Thomas 2, 10, 12 Sussman, David G. 66
Rapson, Richard L. 141 Recki, Birgit 5, 8, 34, 47, 49 Reybrouck, David Van 91 f. Rousseau, Jean-Jacques 29 f., 54 f.
Tarbet, David W. 20 Timmermann, Jens 2, 25 f., 37, 60, 88, 104 f., 128 – 131 Trampota, Andreas 2
Schadow, Steffi 37, 149 Schiller, Friedrich von 4 f., 108, 110 Schönecker, Dieter 36 Schopenhauer, Arthur 25 Schott, Robin M. 83 Schwartz, Maria 106 Sensen, Oliver 2 Shakespeare, William 69 Sherman, Nancy 2, 5, 130 Simmel, Georg 86 Singer, Tania 141 – 143 Smith, Adam 49, 132, 142
Vogt, Katja M.
122
Wellmer, Albrecht 123 Welzer, Harald 69 Willaschek, Marcus 3, 24 f., 32, 114 f., 125 Wimmer, Reiner 114 Wood, Allen W. 2, 5, 10, 12, 17, 25, 29, 36 f., 123, 154 Wuerth, Julian 2 Zhong, Chen-Bo
69
Sachregister Achtung, Gefühl der 8, 19, 47, 107, 148 f. Affekt 4 – 7, 11, 29 f., 34 f., 37 – 58, 60, 68, 70, 77, 93 f., 97, 140, 151 f., 154 Aktive Teilnahme 132 – 134, 136 – 140, 143, 146 – 150 Analogisierung 65, 69, 75 f., 78, 80, 83, 88 Anthropologie 13 – Moralische Anthropologie 1 – 7, 10 f., 19, 23 f., 26, 29, 56, 93, 97, 103, 115, 151 – Physiologische Anthropologie 14, 21 f. – Pragmatische Anthropologie 11 – 14, 21 f., 25 Apathie 5, 47 – 51, 54
Habsucht 29, 34, 58, 70 f., 80, 85 – 89, 91 f., 100, 152, 154 Herrschsucht 29, 34, 59, 61, 70 – 72, 76, 79, 82 – 89, 92, 112
Charakter 12, 16, 30, 82, 97, 103 – 105, 107 f., 110 – 113, 116 – 118, 125, 151, 153 Charakterbildung 1, 4 – 8, 11, 16, 23 f., 26, 31, 34, 51, 55, 59, 97, 103 – 124, 126 f., 138, 147, 151 f., 154 – Reform und Revolution 7 f., 97, 102, 111 – 119, 125 – 127, 147
Pflicht – Direkte Pflicht 128, 130 – 132 – Indirekte Pflicht 8, 85, 128 – 137, 140, 143, 146 – 149 – Unvollkommene Pflicht 122, 128, 132, 137 f., 146 f., 149 – Vollkommene Pflicht 122, 128 Pragmatisch 12 f.
Denkungsart 7 f., 16, 97, 101 – 105, 108, 112 – 117, 125 – 127, 147
Rachbegierde
Kultivierung 1, 4 – 8, 31, 49, 53, 55, 97, 112, 127 f., 132 – 141, 143 – 150, 152, 154 Leidenschaft 4 – 7, 11, 29, 34 f., 37 – 45, 47 f., 50, 54, 58 – 94, 97 f., 100, 151 – 154 Maxime 60 – 62, 64 f., 88, 104 – 116 Mitgefühl 4 – 9, 49, 55, 97, 125 – 152, 154 Moralischer Schein 6 f., 97 – 102, 134
69, 76 – 79, 92
Ehrsucht 34, 59, 61, 70 – 72, 79 – 82, 84 – 86, 88 f., 92, 100, 152, 154 Emotionale Ansteckung 140 – 142, 146 – 148 Empathie 141 – 147 Erziehung 1, 3, 8, 23, 33, 55, 57, 97, 111 f., 114, 117 – 124
Selbsterkenntnis 7, 19, 38, 41 f., 93, 102, 107, 121, 132, 151 – 154 Selbsttäuschung 6 f., 59 f., 65 – 69, 90, 92 f., 98 – 102, 153 f. Sex als Leidenschaft 72 f. Sinnesart 7 f., 16, 97, 102 – 104, 113 – 116, 125 – 127, 147
Freiheit als Leidenschaft
Unglück 63 – 65, 67, 73 f.
73 – 76, 83, 92
Gesinnung 55, 68, 98 f., 103 – 107, 112 – 117, 125 – 127 Glück, Glückseligkeit 9, 12, 16 – 19, 53, 61, 65, 79, 81, 83 – 85, 93, 106, 117, 127 – 129, 132, 137, 140, 146 Grundsatz 3, 46, 48, 54 f., 63 f., 68, 97, 104 f., 107 – 112, 119, 133, 148 f.
Vernünfteln 22, 65 – 69, 74 – 76, 80 f., 90, 92, 151 Wahn
43, 54, 63, 66, 90 – 93
Zweck 15–19 – Empirischer Endzweck
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Sachregister
– Empirischer Zweck 129
14, 16 – 18, 60 f., 70,
– Moralischer Zweck 2, 14, 16 – 19, 22 – 24, 101, 128, 132, 134, 136 f., 139 f., 147 – Vernünftiger Endzweck 18