Angesichts des Anderen. Emmanuel Levinas – Elemente seines Denkens 9783506767714

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Angesichts des Anderen. Emmanuel Levinas – Elemente seines Denkens
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Casper Angesichts des Anderen

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STUDIEN ZU JUDENTUM UND CHRISTENTUM Herausgegeben von Josef Wohlmuth

2009

Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich

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BERNHARD CASPER

Angesichts des Anderen Emmanuel Levinas – Elemente seines Denkens

2009

Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich

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Umschlagabbildung: Emmanuel Levinas, Foto Privatbesitz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706

© 2009 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn ISBN 978-3-506-76771-4

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Vorwort ˇ Jan Patocka, Verfasser der Charta 77 und dann selbst Opfer des Totalitarismus hat in seinem Essay „Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts und das zwanzigste Jahrhundert als Krieg“ ausgeführt, dass ein künftiges authentisches Denken nur aus einer „Solidarität der Erschütterten“ hervorgehen könne 1 . Diese Wahrheit gilt heute mehr als je zuvor. Und das uns in ihr Angehende muss denn auch als der eigentliche Anstoß für das gelten, was das Denken von Emmanuel Levinas in Gang setzte, – nicht erst nach der Katastrophe des Holocaust, durch den Levinas seine Eltern und Geschwister verlor, sondern im Grunde vom Anfang seines Denkens an in seinem Erschrecken über eine tödlich totalitäre Rationalität, die um ihrer eigenen grenzenlosen Macht willen den Anderen und das Andere vergisst. Ich durfte Levinas zum ersten Mal in den 70er Jahren bei den Kolloquien des Istituto Enrico Castelli in Rom begegnen und habe später zusammen mit einigen deutschen, französischen, italienischen und niederländischen Kollegen – und vor allem unter Beteiligung von Paul Ricœur – in Paris einen Arbeitskreis ins Leben rufen können, der vom Boden des levinasschen Denkens aus den Zugang zu dem den Menschen als Menschen auszeichnenden religiösen Verhältnis neu zugänglich zu machen suchte. Der kleine Kreis von Kollegen verstand nur zu gut das Votum, deutschen Boden nicht mehr zu betreten, das Levinas nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hatte. „Es ist meine einzige Möglichkeit, mit meinem Psychismus angesichts des Vorgefallenen zurecht zu kommen“, bekannte er uns. Und es beschämte uns, dass er uns derart um Verständnis bat. Aber Levinas kam uns, zusammen mit seiner Frau, – und ich habe selten liebendere Menschen kennengelernt als dieses Ehepaar –, dann oft und in für ihn beschwerlichen Reisen buchstäblich bis zur Grenze entgegen: zu Seminaren in Basel – und, um Bischof Klaus Hemmerle die Teilnahme zu ermöglichen, zu Zusammenkünften in holländischen Klöstern jenseits der Stadtgrenze von Aachen. 1983 nahm an einer solchen Zusammenkunft auch Józef Tischner teil, der geistige Inspirator der polnischen Solidarnosc-Bewegung. Die geistige Konterbande, die dabei mit über die Grenze des Eisernen Vorhangs genommen wurde und geeignet war, die Geschichte zu verändern, wird sich in einem Archiv für Schriftliches nie auffinden lassen. Bei diesen Zusammenkünften ging es uns immer wieder um die eine Frage, wie in der geistigen Situation, in die uns das 20. Jahrhundert gebracht hatte, das Menschliche des Menschen und mit ihm der Zugang zu einem Transzendieren auf den Anspruch durch unbedingten Sinn hin zu gewinnen sei. 1 Jan Patocka. ˇ Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte. Stuttgart (Klett-Cotta) 1988, 158,

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Vorwort

Aus diesen Symposien, zu denen sich dann noch eine wichtige von Otto Pöggeler im Husserlarchiv in Löwen veranstaltete Tagung zu der Frage der möglichen Übersetzung der entscheidenden Levinasschen Denkfiguren aus dem Französischen ins Deutsche gesellte, und meiner eigenen intensiven Beschäftigung mit dem Œuvre von Levinas insgesamt gingen für mich je bei Gelegenheit die hier veröffentlichten Studien zu einzelnen entscheidenden Elementen seines Denkens hervor. Ich habe sie im Hinblick auf den Zusammenhang, in dem sie untereinander stehen, leicht überarbeitet und teilweise neu gegliedert und hoffe, dass sie so für jene eine Hilfe sein können, denen gerade in der Epoche der scheinbar nur mehr technisch-rationalen Vernunft an dem gelegen ist, was letztlich die Menschlichkeit des Menschen gründet. Das Eindringen in solche Grundelemente eines anspruchsvollen und reich gegliederten Denkens kann sich dabei vor der Notwendigkeit finden, wiederholen zu müssen. Eine solche Wiederholung bedeutet keineswegs Redundanz. Vielmehr ergibt sie sich aus dem Wesen einer umfassenden Hermeneutik. Wer wirklich in ein Gebirge eindringen will, um ein des einen und selben Gebirges Kundiger zu werden, darf das nicht nur von einem Punkt aus und von einer Seite des Gebirges her tun. Vielmehr muss er den Zugang von den verschiedenen Seiten und in verschiedenen Kontexten suchen. Deshalb soll der Titel dieser Sammlung „Elemente“ auch nicht besagen, dass hier Studien zu restlos allen Elementen des Levinasschen Denkens vorgelegt werden. Es geht mir viel mehr vor allem um die Zugänge, die mir im Hinblick auf die Herkunft des Levinasschen Denkens von der Phänomenologie und die Frage nach einem heute möglichen Zugang zu der Vernunft des biblischen Glaubens wichtig erscheinen. Studien zum Beispiel, die ausdrücklich danach fragen, in welcher Weise das levinassche Denken in der talmudischen Überlieferung verwurzelt ist, wollte ich nicht vorlegen. Solche Studien sind ohne Zweifel wichtig und aufschlussreich. Allerdings ist auch die Auslegung der Schätze des Talmud wie der Bibel in ihrem Vollzug auf Denken angewiesen. Aufgrund der neuesten Entwicklungen sind wir in der glücklichen Lage, jetzt mit einer vollständigen Ausgabe der Schriften von Emmanuel Levinas rechnen zu können. 2 Es wird allerdings noch einiger Jahre bedürfen bis diese vollständig erschienen sind. Bis dahin sind alle, die tiefer in das Denken von Levinas eindringen und sich mit ihm auseinandersetzen wollen, auf die vielen an sehr unterschiedlichen Orten erschienenen Einzelausgaben der von Levinas selbst veröffentlichten und bislang in der Rezeption wirksam gewordenen Texte angewiesen. Ich hoffe, dass gerade in dieser Situation meine

2 Emmanuel Levinas Œuvres Complètes werden im Verlag Grasset (Paris) erscheinen. Als

erster Band ist für das Spätjahr 2009 Inédits I. Carnets de guerre. Notes diverses vorgesehen. Der Verfasser gehört selbst dem Comité Scientifique für die Herausgabe der Œuvres an.

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Vorwort

Studien, die Grundelemente des levinasschen Denkens im Zusammenhang vor Augen stellen, eine Hilfe sein können. Um dem deutschen Leser den Rückgang auf das französische Original zu erleichtern, habe ich bei der Zitation das französische Original immer als erstes angeführt, dahinter in Klammern aber, wo dies möglich war, eine vorliegende deutsche Übersetzung angegeben. Mir ist in dem Umgang mit dem Denken von Emmanuel Levinas einsichtig geworden, dass dieses mehr als viele andere Aufbrüche des Denkens, die unsere jüngste Vergangenheit bestimmten, fähig ist, in einer uns unausweichlich aufgegebenen globalen Zukunft, in welcher die größte Gefahr für den Menschen der Mensch selbst ist, den Weg zu finden, der den Menschen rettet. In ganz besonderer Weise ist das levinassche Denken aber dazu angetan, in einer vorkonfessionellen Tiefendimension der Vernunft, die sich indessen aus gelebter und denkender Glaubenserfahrung speist, das die biblische Wahrheit bezeugende Miteinander von Juden und Christen auf einem fruchtbaren Wege zu halten. Wittnau, den 3. November 2008

Bernhard Casper

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„… das Wort hören und Frucht bringen in Geduld“ (Lk 8,15)

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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Menschsein – Leibbürgenschaft angesichts des Anderen . . . . . . 1. Ein litauischer Jude in der Schule der Phänomenologie . . . . . 2. Heidegger und die Fundamentalontologie des sich zeitigenden Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das leibhafte Vorgeladenwerden durch den Anderen . . . . . . . 4. Ein Empirismus höherer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bekehrte Intentionalität und Denken als Weisheit der Liebe im Dienst der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Erleiden und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Illéité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Das Worumwillen des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der imaginäre Beginn des Sprechens im synchronisierenden Thematisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Umkehr des Sprechens in das „für-den-Anderen“ . . . . . 3. Die Spur des „absolut Anderen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Diachronie als Spur der Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Sinn der Rede von Illéité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. „ER“ im Erlösungsdenken Rosenzweigs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der „Stammsatz der Erlösung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verdeutschung von Ex 3,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das Bezeugen der Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Der Sinn der Rede von Schöpfung. Überlegungen im Anschluss an Emmanuel Levinas . . . . . . . . . . 1. Exposition der Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Frage nach dem Sinn vom Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Sinn von „sein“ in seinem Sich-ereignen zwischen dem Anderen und mir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eröffnet sich durch diesen Zugang die Bedeutsamkeit von Wirklichkeit überhaupt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zur Verantwortung für den Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verantwortung in ihrem Ursprung in der Zeitigung des Menschseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

3. Die Aufhebung des intentionalen Schemas und der in ihm gegebenen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Unendlichkeit der Vorladung in das Leibbürge-sein für den Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Identität als Erwählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Verantwortung und die Intentionalität einer Rechtsordnung . . . 1. Verantwortung und ihre Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Intentionalität des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Biblisch verstanden … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Der Andere, der Dritte und die Bürgschaft für die Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Dritte in der Unterscheidung von dem Anderen . . . . . . . 2. Der „Dritte im Bunde für die Gerechtigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . 3. Das gegenwärtige Dilemma des Ausbleibens einer denkerisch zureichenden Fundierung der Rechtsordnung . . .

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VIII. Zeit und messianische Zeit. 97 Zu einer Grunddimension des religiösen Geschehens . . . . . . . . 1. Was ist Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Zeit und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Messianische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 IX. Über die Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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X. „Wider-gebärende Dankbarkeit“. Geben und Schulden in dem Ereignis der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XI. Die Seinsfrage, der Andere und die Zeitigung des religiösen Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Sein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Seinsfrage und der Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Worumwillen des praktischen „seins“ in der „Wirklichkeit ohne die Versöhnung der Zeit“ . . . . . . . . . . . . . XII. Die Möglichkeit einer Philosophie der Religion – heute . . . . . . . 1. Die vergegenständlichende Beschäftigung mit den Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das philosophische Fragen nach dem religiösen Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Relecture der überlieferten Wege in das religiöse Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

4. Sich-einlassen mit der Geschichtlichkeit und der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sich-transzendieren im Geschehen der Geschichte selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Vorladung durch den Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Wahrheit und Unwahrheit in der historischen Konkretion von Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XIII. Anders als Husserl und jenseits von Heidegger. Zur Bedeutung von Levinas für eine künftige Geschichte des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Hinweise auf Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

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I. Menschsein Leibbürgenschaft angesichts des Anderen

Über Emmanuel Levinas zu sprechen heißt, über einen epochalen Denker zu sprechen. Wir verstehen epochal dabei in dem Sinn, dass das Wesentliche, das ein solcher Denker zu sagen hat, im Überschreiten einer ganzen Epoche menschlichen Selbstverständnisses geschieht, die eben durch dieses Überschreiten selbst zu einer vergangenen Epoche wird. Zugleich aber wird durch ein solches Denken eine neue Epoche eröffnet und zugänglich. In Kants Kritik der reinen Vernunft kann man das Paradigma schlechthin eines in diesem doppelten Sinne epochalen Denkens sehen. Denn der Genitiv Kritik der reinen Vernunft kann ja zum einem als genitivus subjectivus gelesen werden. Es geht in Kants „Kritik der reinen Vernunft“ um ein Denken, das durch das Subjekt der reinen Vernunft geschieht. „Der reinen Vernunft“, das kann aber ebenso einen genitivus objectivus bedeuten. Was in Kants Denken geschieht, ist eine Kritik an der reinen Vernunft, – nämlich jener die sich im europäischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts naiv und als in einem dogmatischen Schlummer befangen vollzogen hatte. Der Titel insbesondere des zweiten Levinasschen Hauptwerkes „Autrement qu’être ou au delà de l’essence“ will durch sich selbst ganz bewusst in ähnlicher Weise einen Epocheneinschnitt markieren. „Autrement qu’être“: anders als bisher, nämlich im Summen- und Generalhorizont des scheinbar von allen verstandenen Wörtchens sein, soll hier das erschlossen werden, worum es dem Denken geht. Und Wirklichkeit soll „au delà de l’essence“ erschlossen werden: jenseits von dem, was bisher als das angesehen wurde, was Wirklichkeit ausmacht. Die These, dass Levinas ein epochaler Denker in dem eben skizzierten Sinne sei, ist zugegebenermaßen kühn. Und man kann sich fragen, ob man Levinas und sein Werk damit nicht überfordert. Levinas selbst hat es immer abgelehnt, mit seinen Schriften neben die „Elefanten der Philosophiegeschichte“ gestellt zu werden. Er hat mich nach einem Vortrag in Rom, in welchem ich sein Denken mit dem Heideggers konfrontierte, einmal gefragt, wie ich ihn, die „kleine Fliege“, denn überhaupt „hinter diesen Elefanten“ stellen könne. Das war freilich eine vieldeutige Frage. Denn auch Sokrates könnte man ja als die Stechfliege verstehen, welches das scheinbar sicher daliegende Denken der Athener in eine fruchtbare Unruhe versetzte. Wenn ich also die These aufstelle, das Denken von Levinas sei ein epochales Denken, so liegt die Beweislast dafür auf meiner Seite. Und was ich in den folgenden einführenden Überlegungen tun kann, ist denn zunächst einmal auch nur, auf einige Grundgedanken im Werke von Levinas aufmerk-

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sam zu machen, die es dann vielleicht doch erlauben, eine solche These zu halten. Diese Grundgedanken werden mit einer gewissen Notwendigkeit mit Umständen des Lebens von Levinas verbunden sein.

I. Ein litauischer Jude in der Schule der Phänomenologie Levinas wurde als Sohn eines jüdischen Buchhändlers am 30.12.1905 nach dem julianischen Kalender, – am 12.1.1906 nach dem gregorianischen – in dem litauischen Kaunas geboren. Als Abiturient erlebte er in Charkow die bolschewistische Revolution mit und ging dann zum Studium der Philosophie nach Straßburg. 1928 zog er von dort in das benachbarte Freiburg, um die Phänomenologie Husserls kennenzulernen. Husserl nahm den jungen Levinas in seinen engeren Schülerkreis auf. Dabei mag die Tatsache, dass Husserl ein – zum Protestantismus konvertierter – Jude war, durchaus eine Rolle gespielt haben. Was lernte Levinas nun aber von diesem Lehrer? Edmund Husserl, der Begründer des gegenüber Rationalismus, Idealismus und Neukantianismus ganz neuen Denkansatzes der Phänomenologie, wurde in seinen Analysen des menschlichen Denkens, die sich zunächst in zwei großen Werken niederschlugen, nämlich den „Logischen Untersuchungen“ (1900) und den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ (1913), von der Absicht geleitet, zu einer neuen Ursprungswissenschaft vorzustoßen. Diese sollte von nichts anderem als dem Erkenntnisgeschehen selbst bestimmt sein. Und dieses versuchte Husserl als Intentionalität zu fassen. Dabei ging Husserl allerdings ganz selbstverständlich von dem cartesischen Schema des „ego – cogito – cogitatum“ aus. Dieses Schema des Erfassens von Wirklichkeit wollte er allerdings dadurch reinigen, dass er forderte, man müsse von allem, was wir in diesem geschehenden Verhältnis zu Wirklichkeit schon zu wissen meinen, Abstand nehmen; man müsse allen scheinbar selbstverständlichen Vormeinungen gegenüber epochè üben. Dadurch suchte Husserl dieses Geschehen rein und ursprünglich zu erfassen. Was den Husserlschüler Levinas aber nun auf seinen eigenen Weg des Philosophierens brachte, war das Faktum der sogenannten hyletischen Daten, d.h. der „materiellen“ sinnlichen Gegebenheiten, auf die wir doch offenbar angewiesen sind, wenn wir überhaupt anfangen wollen zu erkennen. Husserl war auf diese hyletischen Daten durchaus aufmerksam. Es ist mit Recht gesagt worden, dass sein Denken dem Anliegen des Empirismus nahe stand. 1 In diesem Zusammenhang gelangte Hussserl zu der Theorie der passiven Syn1 Vgl. Dazu HWPh 7,165 und im Hinblick auf „Positivismus“ Husserl selbst in Hua III, 1,45.

EDEHH 155 (SpA 171) bemerkt Levinas „Man erkennt einmal mehr, wie sehr Husserl dem empiristischen Schema treu bleibt“.

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thesis, die ein wichtiges Moment der Phänomenologie wurde. Man kann das Levinassche Denken kaum verstehen, wenn man nicht diese Husserlsche Lehre der passiven Synthesis in Rechnung stellt. Levinas übernimmt sie in gewisser Weise von Husserl, interpretiert sie allerdings zugleich selbst neu. Während Husserl 1928 in seinen Cartesianischen Meditationen, an deren Übersetzung ins Französische der junge Levinas beteiligt war und die Husserl dann 1929 an der Sorbonne in Paris vortrug, insgesamt im Horizont eines transzendentalen Subjektivismus verbleibt, stellt sich für Levinas das, was in der passiven Synthesis geschieht, grundsätzlich als ein asymmetrisches Geschehen dar. In der passiven Synthesis zeigt sich, dass ich im Erkennen kraft meines ego cogito keineswegs der absolute Herr des Erkennens bin, sondern dass ich vielmehr im Erkennen des anderen bedürftig bin. Dieses „andere“ muss hier nicht ausschließlich als der andere Mensch verstanden werden. Vielmehr ist es zunächst einmal das Andere überhaupt, welches ich nicht gemacht habe und dessen Herr ich deshalb auch nicht bin. Wollte man hier biblische Sprache einführen, so könnte man sagen, Levinas vertiefe die Husserlsche Theorie der passiven Synthesis und des Angewiesenseins auf die hyletischen Daten in Richtung auf die Einsicht, dass jedes Geschehen des Erkennens eine Ausübung des Status meiner Geschöpflichkeit ist. Ich bin Geschöpf neben anderen Geschöpfen. Und ich bedarf der anderen Geschöpfe, um zu „sein“, d.h. zu „sein“ und als Mensch zu sein, d.h. zu sprechen. Ich bedarf der anderen Geschöpfe, also der Wirklichkeit überhaupt außerhalb meiner, um zu sein, um zu leben; und um als Mensch leben: d.h. zu sprechen. Deshalb gibt es für mich auch grundsätzlich Neues, welches nicht von vornherein in den apriorischen Horizont einer transzendentalen Subjektivität und deren ideale Synchronie einholbar ist. Die so genannte „Urimpression“ in der Husserl den letzten Rechtsgrund aller Bewusstwerdung von Weltinhalten sah, so formuliert Levinas, ist die „Nicht-Idealität“ in ausgezeichneter Weise. Sie ist die „unvorhersehbare Neuheit von Inhalten, die dieser Quelle allen Bewusstseins und allen Seins entspringen“ 2 . Damit hängt dann auch zusammen, dass für Levinas Wirklichkeit überhaupt in der Analyse der Zeitlichkeit ihrer Bewusstwerdung letztlich nicht in einer immerwährenden Retention festgehalten oder in einer zeitlos immerwährenden Memoria aufbewahrt werden kann., sowenig sie in einer endgültigen Protention absolut vorweggenommen werden kann. Dabei darf man daran erinnern, dass gerade die Lehre von der anamnesis, der memoria, in der scheinbar schon alles zu Wissende enthalten ist, für das abendländische Denken von seinen Anfängen bei Platon an eine fundierende Rolle spielte.

2 EDEHH 155 (SpA 172–173).

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II. Heidegger und die Fundamentalontologie des sich zeitigenden Daseins Man kann einen anderen wichtigen Anlass für diese Einsicht, welche später bei Levinas zu der Figur der Diachronie führen sollte, ebenfalls mit dem Jahr 1928 verbinden. Denn in diesem Jahre erschienen einerseits, aus den Manuskripten von Edith Stein und Martin Heidegger erhoben, Husserls Vorlesungen über die „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ 3 . In diesen Vorlesungen bildet die Analyse von Zeit mittels der Kategorien von Protention und Retention aber das theoretische Hauptstück. Andererseits aber begann 1928 Heidegger, der als Nachfolger Husserls von Marburg nach Freiburg berufen worden war, in Freiburg zu lesen. Das Werk, das Heidegger berühmt machen sollte, „Sein und Zeit“ war ein Jahr zuvor erschienen. Levinas hörte im Wintersemester 1928/29 in Freiburg Heideggers Vorlesung „Einleitung in die Philosophie“ und machte später nie einen Hehl daraus, welche Frucht er daraus gezogen hat. Er brachte dies Freunden gegenüber auf die Formel: „Ich suchte in Freiburg Husserl, aber ich fand Heidegger“ 4 . Fragen wir uns, worin die Bedeutung dieser Begegnung des jungen Levinas mit dem Heidegger von „Sein und Zeit“ bestand, so kann man darauf mit einem Satz antworten: Sie bestand in dem Durchbruch durch eine reine Bewusstseinsphänomenologie, so wie sie Husserl betrieben hatte, in eine Phänomenologie (wenn man das denn auch so nennen will) des sich zeitigenden Daseins. In Heideggers Vorlesung des Wintersemesters 1928/29 findet sich die berühmte Passage, die sagt, dass der Ort der Wahrheit „nicht der Satz“ sei, „sondern das Dasein oder gar umgekehrt“. 5 Wenige Zeilen weiter heißt es dann aber „die Seinsart des Daseins im Unterschied zu der des Vorhandenen suchen wir in der Orientierung am Miteinandersein von Dasein und Dasein zu bestimmen“. Hier ist der Raum vorgegeben, in dem sich das Denken von Levinas fortan bewegen und dabei allerdings auch über das Denken Heideggers noch einmal hinausgehen sollte. Versteht sich Phänomenologie grundsätzlich als Korrelationsforschung und orientiert sich die klassische Husserlsche Phänomenologie an der Korrelation des Erkennens mit seinem Erkannten, so wird hier die grundlegende Korrelation in dem geschichtlichen „Miteinandersein von Dasein und Dasein“ entdeckt, und zwar in deren Zeiti3 Jetzt Hua X: Edmund Husserl. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, hrsg. von

Rudolf Böhm. Haag 1966.

4 Zu dem Verhältnis von Levinas zu dem Heidegger von „Sein und Zeit“ vgl. näherhin das

Videointerview mit Levinas in SWF 3 am 11. Juni 1981 unter dem Titel „Geisel für den Anderen. Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas“. Der Text des Interviews erschien in spanischer Übersetzung unter dem Titel „El rostro, la primogenitura y la fecundidad“ in der Revista de filosofia 107 (Lomas de Santa Fé, Mexiko) (2003) 19–28. 5 GA 27, 109.

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gung, in deren geschichtlichem Geschehen selbst. Heidegger bleibt in dieser „Korrelation“ allerdings insgesamt dem verpflichtet, was er die Seinsfrage nennt.

III. Das leibhafte Vorgeladenwerden durch den Anderen Levinas sucht hingegen, und dies insbesondere nach dem 2. Weltkrieg und den furchtbaren Erfahrungen des Holocaust, das Miteinandersein von Dasein und Dasein „autrement qu’être“ aus der Unmittelbarkeit des Vorgeladenwerdens durch den Anderen heraus zu denken. In persönlichen Gesprächen hat Levinas immer wieder darauf verwiesen, welche Bedeutung für sein Denken die These Kants „von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ 6 gewonnen habe 7 . In dieser These spricht Kant seine Einsicht aus, dass im Vernunfthaushalt des Menschen der reinen praktischen Vernunft, d.h. der sittlichen Vernunft als dem vernünftigen Verhältnis zu dem anderen Menschen als diesem anderen Menschen selbst, das (oder der) Primat zukomme. Wie wir schon erwähnten, übersetzte Levinas 1928 Husserls Cartesianische Meditationen ins Französische. Und in diesen kann nun besonders die 5. Meditation geradezu wie eine Herausforderung zu Levinassens eigenem Denken gelesen werden. Denn in dieser entdeckt Husserl ja die phänomenologische Differenz zwischen Körper und Leib, – eine Differenz, die es sprachlich so nur im Deutschen gibt. Der andere Mensch ist – cartesianisch gelesen – für mich zunächst nur Körper unter anderen physikalisch zu beschreibenden Körpern. Meinen eigenen Körper aber erfahre ich als „meinen Leib“, d.h. als den einzigen Körper, in dem ich „unmittelbar schalte und walte“, wie Husserl sich ausdrückt 8 . An dem Ursprung des Schaltens und Waltens, durch welches der andere Mensch Leib, leibhaftes Dasein und dadurch aber er selbst ist, – an diesem Ursprung stehe ich nicht. Dieser Ursprung des leibhaften Daseins des Anderen ist mir schlechthin entzogen. Infolge dessen kann ich sein ursprüngliches, einmaliges und sterbliches „Leiben und Leben“ in einer ganz besonderen Weise nur erleiden. Das ist ein Erleiden, das über das bloße Erleiden, welches durch meine Sinnlichkeit erfolgt, hinausgeht. Ich muss es erleiden, dass der andere Mensch mit sich selbst beginnen kann, was er will . Dieses Leiben und Leben des Anderen lässt sich in keine apriorische Zeit als die durch

6 KpV A 216. 7 Vgl. dazu den bis jetzt nicht im französischen Original erschienenen Aufsatz Emmanuel

Levinas. The primacy of pure practical reason. In: Man and World 27, 445–453. Dordrecht (Kluwer) 1994. 8 Hua I,128.

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das „jemeinige“ ego-cogito vollzogene Gefüge von Retention und Protention einholen. Ich kann dem leiblich daseienden sterblichen anderen Menschen nur begegnen in einer diachronen jede Vorwegnahme aufbrechenden Korrelation, – wenn wir diesen phänomenologischen Grundbegriff „Korrelation“ hier denn überhaupt noch stehen lassen wollen. Denn in dieser Situation des faktisch gelebten Lebens gibt es keine apriorische Symmetrie, auf die ich von einem übergeordneten Standpunkt herabblicken könnte und sie so überblicken würde. Die Zeit des leibhaftigen Anderen ist nicht meine Zeit, wenngleich sie mich unbedingt angeht und herausfordert. Und aus diesem Herausgefordert-werden, dieser „assignation“, dieser Vorladung, entspringt denn auch erst jede Sprache, die eben deshalb ihrem Wesen nach Passion ist. Ich spreche immer zu dem Anderen, den ich in seinem Ursprung, welcher in seinem eigenen sterblichen Leiben und Leben liegt, erleide. In diesem zwischenmenschlichen Verhältnis der Begegnung mit dem anderen Menschen als ihm selbst gewinnt das Phänomen der „passivité plus passive que toute passivité antithètique à l’acte“, das Phänomen des Ur-erleidens, das in Levinassens Denken eine zentrale Rolle spielt, erst seinen vollen Sinn. Die Analysen der Empfindung unter dem Gesichtspunkt des diachronen Erleidens sind dazu gleichsam nur ein Vorspiel. Ich, der ich mich keineswegs einfach nur in cartesianischer Manier als ego-cogito vorfinde, sondern allererst in meinem mitmenschlichen Leiben da bin, erleide den Anderen – und natürlich auch das Andere. In diesem diachronen Ereignis aber geschieht das, was wir mit dem eigentümlichen Kollektivsingular „die Geschichte“ beim Namen zu nennen uns seit dem 18. Jahrhundert angewöhnt haben. Und hier bildet sich nun der Topos aus, den wir heute gerne als Titel über das ganze Denken von Levinas schreiben: Geisel für den Anderen. Das ist die Grundbefindlichkeit, in der wir uns als Menschen, d.h. als die sich selbst verwirklichen müssenden schon finden. Diese Grundbefindlichkeit ist das eigentliche „Transzendentale“, von dem her das Menschliche gedacht werden muss. Der ernsteste und gewichtigste Fall, der ursprünglichste Fall, in welchem unser leibhaftiges Dasein geschieht, – und es geschieht immer nur korrelativ –, ist das Verhältnis zu dem anderen Menschen als ihm selbst; dem anderen Menschen, der letzten Endes nur in seinem eigenen Leiben und Leben, in welchem er als er selbst mit sich selbst frei etwas beginnt, da ist. Dieses Verhältnis erweist sich als das ursprünglichste Verhältnis, in das ich mich durch mein Menschsein als solches schon eingesetzt finde. Dieses Verhältnis zu wählen, habe ich keine Wahl. Ich finde mich vielmehr als Mensch in ihm schon vor. Dieses Verhältnis konstituiert mich als Menschen ursprünglich. In meinem Mich-zeitigen, meinem Etwas-mit-mir-selbst-beginnen, finde ich mich immer schon in dem Verhältnis zu einem Anderen, dessen Zeit meine Herrschaft über meine Zeit transzendiert und also durchkreuzt.

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Man kann sich das an einem einfachen Beispiel klarmachen: Sobald ein Kind geboren wird, zeigt sich gegenüber der Zeit, in der Vater und Mutter etwas mit sich selbst anzufangen gewohnt sind, eine neue und selbständige Zeit, die ihre Rechte einfordert. Und ich muss dieser Faktizität im Zurücknehmen meines eigenen Zeitigungswillens gerecht werden. Dies ist die Wurzel des ethischen Verhältnisses. Um diesem Verhältnis, durch das ich Mensch bin, gerecht zu werden, aber lohnt es sich zu leben – und, dahin kann man dies extrapolieren, lohnt es sich auch im objektivierenden Umgang mit der Wirklichkeit diese im Hinblick auf deren Gegenständlichkeit exakt zu analysieren. Im Vernunfthaushalt des Menschen hat dieses ursprünglichste Verhältnis zu dem Anderen als dem Anderen selbst derart aber den Primat. Dies meint der Satz, dass ich „Leibbürge für den Anderen“ bin. In meinem eigenen Mich-zeitigen bürge ich mit meinem eigenen leibhaftigen sterblichen Dasein dafür, dafür, dass es mit dem leibhaftigen Leben des anderen „gut weitergehen möge“ und dass es derart mit unserem gemeinsamen Leben am Ende „gut ausgehen möge“, wiewohl ich dieses „Ende“ in keiner Weise in der Hand habe. Dies ist die Grundsituation, die mich herausfordert. Sie macht mich als den Verantwortlichen aus. Sie stellt meine Würde und Bürde zugleich dar, die mich allerdings letzten Endes wirklich erst zum Menschen macht, – und mein Leben fruchtbar werden läßt. Im Anschluss an Kants Zweite Fassung des Kategorischen Imperativs „Handle so, dass Du die Menschheit sowohl in Deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ 9 hat Levinas das dort von Kant Ausgesprochene auf eine kurze und heute allgemeinverständliche Formel zu bringen versucht. Dabei hat er die talmudische Einsicht zu Hilfe genommen, dass nämlich jede göttliche Weisung zwei Seiten habe. Sie bestehe immer zugleich in einem Gebot und einem Verbot. In der Grundbefindlichkeit der Verantwortlichkeit besteht das Verbot in dem Imperativ: „Töte den Anderen nicht!“. Die positive Seite dieser göttlichen Weisung aber besteht in dem Gebot: „Laß den Anderen in seiner Sterblichkeit nicht allein!“ 10 . In dieser doppelten Weisung verbalisiert sich die transzendentale, d.h. die Bedingung der Möglichkeit angebende Befindlichkeit menschlichen Menschseins und d.h. fruchtbaren sterblichen Menschseins. Dieses geschieht allerdings immer wieder nur von neuem geschichtlich. Deshalb ist dieses „Transzendentale“ der Leibbürgenschaft für den Anderen, zu dem Levinas hinführen will, denn auch nicht so gegeben, wie wir sonst einen transzendentalen Horizont zu denken gewohnt sind: als statisch vorhandener Horizont. Vielmehr ist dieses Transzendentale nur gegeben als Herausforderung, Vorladung, als „assigna9 GMS BA 66–67.

10 So in dem in der oben Anm. 4 angeführten Interview.

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tion“. Es ist nur gegeben im Lichte des Sich-zeitigen-müssens eines jeden/ einer jeden von uns selbst insofern wie wir selbst sind. Am Ende seines 2. Hauptwerkes „Autrement qu’être“ hat Levinas den Satz, mit dem in der ganzen europäischen Philosophie der äußerste Horizont allen Denkens angegeben wurde, aufgegriffen. Dieser klassische Satz der überlieferten abendländischen Philosophie heißt: Was der menschliche Intellekt als Erstes begreift als das Bekannteste und wohinein er alle Begriffe auflöst, ist das Wörtchen „seiend“ 11 . „Sein“, das war für alles philosophische Denken in der Epoche der Metaphysik das große Summenwort, der Generalhorizont, in dem alles gedacht wurde. Levinas greift die Struktur dieses Grund-Satzes einer 2000jährigen Geschichte des Philosophierens auf und formuliert als die weiter führende Einsicht: „Alles zeigt sich und wird sagbar im Sein um der Gerechtigkeit willen …“ 12 Dieser Satz zeigt das an, was beim ersten Lesen des Titels des zweiten Levinasschen Hauptwerkes womöglich rätselhaft bleibt: „Autrement qu’être …“. Das, was sich unter Menschen als das Erstverstandene und Letztintendierte zeigt, ist nicht einfach „Sein“ – gedacht als bloß positivistisch zu verstehende Vorhandenheit, als Vorliegen – und in diesem Sinne „Faktizität“. Vielmehr ist das, worum es uns in erster uns in letzter Linie geht, das, was sich „im Sein“ mit der Vokabel „Gerechtigkeit“ zu Wort meldet: das gerechte „sein“ meiner mit dem Anderen. Dies aber zeigt sich nur an im Modus der Herausforderung an, d.h. im Hineingerufenwerden in eine offene prekäre, aber uns zugemutete Zukunft. Levinas hat dies gerne mit dem Wort des Markel aus Dostojewskis „Brüdern Karamasow“ verdeutlicht: „Alle sind verantwortlich für alles und ich mehr als alle anderen“. Wenn davon die Rede war, dass Husserls Denken nach Husserls eigener Absicht dem Anliegen des Empirismus entgegenkommen wollte, so kann man nun sagen, dass Levinas zu einem Empirismus höherer Ordnung vorstößt. Erfahren wird von uns vor allem die in eine offene Zukunft hinein sich zutragende, mir zugemutete und mich herausfordernde Geschichte zwischen mir selbst und dem anderen Menschen und den anderen Menschen selbst. Diese Herausforderungssituation führt, da auf sie noch nicht zureichend geantwortet wurde, in der Menschheitsgeschichte deshalb auch immer wieder zu Revolutionen.

11 Thomas von Aquin. De Veritate q 1 a 1. 12 AQ 207 (JS 354).

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IV. Ein Empirismus höherer Ordnung In der Hermeneutik der derart zu verstehenden Faktizität des Menschlichen sehe ich die epochale Bedeutung des Levinasschen Denkens. Man kann es, wenn man hier eine Vokabel des späten Heidegger heranziehen will, ein andersanfängliches Denken nennen. Denn es nimmt seinen Anfang nicht einfach von dem in sich ruhenden fundamentum inconcussum des ego-cogito. Vielmehr fängt es damit an, dass ich mich mit dem Verhältnis des Antwortenmüssens der ursprünglichen Verantwortlichkeit einlasse, jenem Verhältnis, in das ich mich schon eingesetzt finde: in einer „passivité plus passive que toute passivité antithétique de l’acte“ 13 . Und hier muss allerdings nun auf die Differenz hingewiesen werden, in der sich das Levinassche Denken zu dem Denken Heideggers sieht. Levinas hat die Differenz in der sein eigenes Denken zu dem Heideggers steht, vor allem an dem Verständnis des Todes festgemacht. Im Zentrum von „Sein und Zeit“ steht das Verständnis des Daseins als des „Daseins zum Tode“. Der Heidegger von „Sein und Zeit“ begriff das „Dasein zum Tode“ als das eigentliche Vermögen, das den Menschen zum Menschen macht. Ich habe eine endliche, begrenzte Zeit, in der ich etwas mit mir selbst beginnen muss, in der ich mich zeitigen muss, so wie der Baum seine Früchte zeitigt; und in der ich so ans Licht bringe, wer ich bin. Das macht mich zum Menschen. Der Tod enthüllt sich als „die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte unüberholbare Möglichkeit des Daseins“. 14 Er macht, dass das Dasein ihm selbst wesenhaft erschlossen ist 15 . Das Dasein zum Tode als Existential ermöglicht, dass ich mich selbst entschlossen übernehme, dass ich ich selbst werde. Das Dasein zum Tode ermöglicht mein entschlossenes Selbstsein. Es erweist sich so als die Grundmöglichkeit meiner selbst. Dieses Existential erweist sich logisch als die mich von grundauf bestimmende „Möglichkeit meiner Unmöglichkeit“, meines Nicht-seins. Und in dieser Befindlichkeit bin ich mit mir alleine gelassen. Das macht mich gerade zu dem, der mit sich selbst fertig werden muss, so könnte man formulieren. Dieser Einsicht in das Existentials des Daseins zum Tode als der „Möglichkeit meiner Unmöglichkeit“ stellt Levinas nun aber den Satz entgegen: „Der Tod zeigt sich als die Unmöglichkeit der Möglichkeit“. 16 Dieser Satz mag uns sogar leichter einleuchten als die durch Introspektion in den Daseinsvollzug gewonnene These Heideggers von dem Tod als dem äußersten Vermögen meiner selbst. Der Tod, so beobachten wir ja für gewöhnlich, kommt von außen 13 AQ 91 (JS 164). 14 SuZ 258.

15 Vgl. SuZ 260ff. 16 SMB 16 (Eigennamen 31–32).

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auf mich zu. Er wird erlitten. Er bedeutet, dass ich einmal keine Möglichkeiten mehr habe. Er bedeutet die unumstößliche Erfahrung meiner Grenze: das Nein zu allen meinen Möglichkeiten: das heißt. die Unmöglichkeit meiner Möglichkeit als meines Vermögens. Gerade in der Akzeptanz dieser Grenze sieht Levinas aber nun die eigentliche Positivität endlichen, sich selbst verwirklichenden Daseins, – sich selbst verwirklichen müssenden, sich selbst verwirklichen dürfenden Daseins. Dieses Verständnis des Todes hat seine Wurzeln im biblischen und jüdischen Denken. Rosenzweig, auf den sich Levinas ja an entscheidender Stelle beruft, verdeutlicht dieses Verständnis an der talmudischen Auslegung von Gen 1,31. Nach jedem Schöpfungstag sagt Gott im Schöpfungsbericht der Bibel das Geschaffene sei gut. Am 6. Schöpfungstag jedoch, an welchem der Mensch geschaffen wird, bestätigt der Schöpfer sein Werk mit einem „sehr gut“ (tow meod). Was bedeutet dieses „sehr gut“? Die jüdischen Bibelausleger des 2. Jhdts. nach Chr. antworten auf diese Frage indem sie das Wort meod (sehr) durch Buchstabenumstellung als „der Tod“ lesen. „ ‚Sehr gut‘, das ist der Tod“. Das heißt: gerade die Endlichkeit, gerade die Sterblichkeit, gerade die Grenzsetzung der Unmöglichkeit aller meiner Möglichkeiten, ist das höchste Siegel der Liebe Gottes zu diesem einzigartigen Wesen Mensch. Gott konnte ein freies, sich selbst aufgegebenes Wesen, sich, dem Unendlichen, gegenüber nicht anders schaffen als in dieser Weise, dass er es als sterbliches schuf. „Sehr gut“, so interpretiert der Talmud, „das ist der Tod“. 17 Diese Auslegung hat sich in der jüdischen Überlieferung bis in die Legenden um den Rabbi Löw von Prag durchgehalten. Gott schickt dem Rabbi Löw, so wird erzählt, einen Engel mit einer Rose als Zeichen seiner Liebe. Die Blüte der Rose öffnet sich und auf ihrem Grunde erscheint der Tod. Am neuen Rathaus in Prag findet sich diese Szene in einer Skulptur dargestellt. Die philosophische Besinnung, die Levinas vorlegt, sieht dementsprechend gerade die Endlichkeit, gerade die Grenzenhaftigkeit des sich selbst aufgegebenen Menschen als das an, was diesen erkennen läßt, dass er als solcher unbedingt gewollt, d.h. dass er als er selbst unbedingt geliebt ist. Die Zustimmung zu diesem Grundverhältnis bedeutet deshalb nichts anderes als eine Verehrung der „Gloire de l’Infini“, der Herrlichkeit des Unendlichen – „gepriesen sei ER“. Mit der Wendung „Gloire de l’Infini“ bringt Levinas das dem Menschen widerfahrende Verhältnis zu Gott zur Sprache. Der Tod, – nicht einfach eine äußerste Möglichkeit meiner selbst, der ich Dasein zum Tode bin, sondern Unmöglichkeit der von mir gleichsam nur erträumten „grenzenlosen“ Möglichkeiten meiner selbst. Diese Unmöglichkeit, das Versagen meiner mich ausmachenden Potenzen, begegnet mir faktisch aber in dichtester Gestalt in dem anderen Menschen. 17 Vgl. dazu Franz Rosenzweig. GS 2, 173

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Denn der Quellpunkt, an dem der Andere er selbst ist, ist mir schlechthin entzogen. Deshalb begegnet der Andere mir in gewisser Weise wie der Tod , – als Unmöglichkeit meiner Möglichkeiten. Bedeutet dieses nun aber ein Verhängnis? Bleibt hier dann nur der Kampf aller gegen alle, in welchem der Eine den Anderen, der ihm begegnet „wie der Tod“, seiner Herrschaftssphäre einzuverleiben suchen muss, wie Sartre dies meinte?

V. Bekehrte Intentionalität und Denken als Weisheit der Liebe im Dienste der Liebe Levinas geht hinter die von Sartre aufgedeckte Phänomenologie des zwischenmenschlichen Verhältnisses zurück und zeigt, dass in dem Verhältnis zu dem Anderen, welcher sich als der Andere in der Tat als der Tod meiner Möglichkeiten darstellt, sich die Chance verbirgt, sich in das Verhältnis eines unendlichen Geliebtwerdens hinein freizugeben. In diesem unendlichen Geliebtwerden darf ich in meiner Sterblichkeit als ich selbst sein und in ihr fruchtbar werden. Und der Andere und die Anderen dürfen in ihrer Sterblichkeit sein und fruchtbar werden. Und derart dürfen wir denn auch miteinander in eine offene Zukunft hinein leben, die unsere gemeinsame Zukunft ist. Man mag dieses Sich-Freigeben meiner selbst in das Verhältnis eines unendlichen Geliebtwerdens hinein den Akt einer gläubigen Vernunft nennen. In ihr gebe ich mich in einer „intentionalité bouleversée“ 18 , einer bekehrten Intentionalität, die anerkennt, dass sie sich in einer „passivité plus passive que toute passivité“ schon angegangen findet, ehe sie selbst sich auf etwas hin ausspannen kann, frei in eine ursprünglichere Wahrheit hinein. In diesem Mich-freigeben als der Seele des Denkens, die im Danken liegt, verehre ich die Gloire de l’Infini. Ich gebe dem UNENDLICHEN – gepriesen sei ER – die Ehre. Philosophieren erweist sich derart dann nicht als feststellendes Herrschen über alle denkbaren Weltinhalte, sondern als „sagesse de l’amour en service de l’amour“. 19 Oder, so an anderer Stelle: „Wenn das Wesen der Philosophie darin besteht, diesseits aller Gewissheit zum Prinzip (Ursprung) zurückzugehen, wenn sie von der Kritik lebt, dann ist das Antlitz des Anderen der eigentliche Anfang der Philosophie.“ „Thèse d’héteronomie qui rompt avec une tradition trés vénerable“ 20 Gehen wir von der Sprache aus, und zwar nicht nur als von einem bloß semantischen und linguistischen System, sondern von der Sprache in „ihrem 18 Vgl. EDEHH 196 (SpA 225) „bouleversement d’intentionalitè“. 19 AQ 207 (JS 353). 20 EDEHH 178 (SpA 207).

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ganz wirklichen Gesprochenwerden“ 21 , gehen wir von dem Dire als dem ursprünglichen Sprachgeschehen aus, welches Levinas von allem Dit, allem Gesagten, das daraus hervorgeht, unterscheidet, dann zeigt sich, dass solches Dire, das sich zwischen dem Anderen und mir selbst zuträgt, immer schon Bitte ist, prière – Gebet. „L’essence du discours est prière“ 22 lautet ein zentraler Satz im Werk von Levinas. Die Sprache in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden ist Bitte, weil ich in meinem antwortenden, ver-antwortlichen Sprechen mich an den Anderen als ihn selbst wende mit der Bitte, mich anzuhören und anzunehmen und mit mir in eine gemeinsame Zukunft zu gehen. Die Sprache „in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden“ 23 ist prière aber auch in dem Sinne, dass ich mich mit diesem „performativen Sprachakt“ an die „Gloire de l’Infini“ freigebe und sie verehre. In dieser Weise deckt Levinas in allem Geschehen von menschlicher Geschichte als menschlicher , (– ein Verhältnis, das sich zugleich immer welthaft zuträgt –), das über alle Endlichkeit hinausgehende Verhältnis auf. „Das Denken denkt mehr als es denkt“, lautet ein bekannter Satz Husserl, den Levinas gerne zitiert 24 . Hier, im Geschehen der „Sprache in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden“ zwischen dem Anderen und mir gewinnt dieser Satz seine intensivste Bedeutung. Das Denken, welches „Weisheit der Liebe im Dienste der Liebe“ ist, findet sich in einer Spur , welche nicht automatisch zu etwas gegenständlich Aufzufindendem hinführt – wie die Spur eines Wildes im Schnee. Vielmehr findet der Denkende sich in einer Spur, die nur durch ihn selbst in Freiheit aufgenommen werden kann, d.h. in bezeugender Nachfolge. Als solche ist diese Spur der „Gloire de l’Infini“, die sich in der Leibbürgenschaft für den Anderen zeigt, aber vielleicht tauglich, dass Juden und Christen heute gemeinsam in dem finalen Schmelztiegel einer globalen und zum ersten Mal mit der Möglichkeit eines Gattungsselbstmordes konfrontierten Epoche der Menschheitsgeschichte das „Joch des Himmelreiches“ in geschwisterlicher Verbundenheit auf sich nehmen. Levinas hat sein eigenes Denken als prophetisches Denken verstanden.

21 Franz Rosenzweig. GS 2, 194 22 EDEHH 95 (SpA 113).

23 Franz Rosenzweig. GS 2, 194 24 EDEHH 135 (SpA 137), vgl. dazu Hua I,84.

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II. Erleiden und Transzendenz Jedes bedeutende philosophische Denken weist eine innere Einheit auf. Und diese kann denn zumeist auch mit einem einzigen Wort angezeigt werden, welches die Quelle, aus der heraus sich dieses Denken entfaltet, als eine Ur-einsicht zur Sprache bringt. Im Falle von Emmanuel Levinas, scheint mir dieses eine Wort die Rede von der „passivité plus passive que toute passivité antithétique de l’acte“ 1 zu sein. Und was will diese Rede sagen? Warum ist das in ihr Angezeigte so grundlegend für die Erschließung von Wirklichkeit insgesamt, d.h. für das Verstehen des on he¯ on, um welches es dem philosophischen Denken geht? Um dies zu klären möchte ich von der Abhandlung „Intentionalité et sensation“, ausgehen, die Levinas 1965 für die Revue Internationale de Philosophie schrieb. In dieser geht Levinas zunächst auf das Wesentliche phänomenologischen Denkens überhaupt ein. Dieses sieht er darin, dass Phänomenologie Ursprungsforschung zu sein beansprucht. Das will sagen, dass sie hinter alles Selbstverständliche zurückzugehen versucht, um so zu den primordialen Gegebenheiten zu kommen, welche allein der letzte Rechtsgrund von Erkennen sind 2 . Zum anderen aber versteht sich Phänomenologie als strenge Korrelationsforschung. Die ursprüngliche Wirklichkeit kann nur aufgedeckt werden in der Einkehr in die nicht mehr hintergehbare correlatio von noesis und noema als den ersten und umfassendsten Zusammenhang. „Der Zugang zum Sein wird bestimmt durch das Sein, das aufgrund dieses Zugangs identifiziert wird.“ 3 Im Horizont eines solchen „Zur-Sache-kommens“ des phänomenologischen Vorgehens zeigt sich nun aber auch eine neue Einsicht in das, was in Intentionalität geschieht, nämlich die neue Idee eines Über-sich-hinausgehens des Ich (l’idée neuve d’une sortie de soi), als „eines primordialen Ereignisses, das alle anderen bedingt“ (événement primordial conditionnant tous les autres) 4 . Dieses Ereignis aber kann nicht psychologisch oder sonst in irgendeiner Weise kausalanalytisch erklärt werden. Levinas belegt in „Intentionalité et sensation“ das Wort „Ereignis“ (événement) nicht durch ein Husserlzitat. Das macht deutlich, dass in diesem Wort bereits eine eigene Husserlinterpretation spricht, die Levinas im übrigen bereits in dem Aufsatz „De l’évasion“, „Über den Ausbruch“ vorgetragen 1 AQ 91. 2 Dazu, dass Husserl hier Anliegen des Empirismus aufnimmt, vgl. oben S. 16, Anm. 1. 3 „Les abords de l’Être sont prescrits par l’Être identifié à partir de ces abords“ EDEHH 145

(SpA 155).

4 EDEHH 145 (SpA 155).

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hatte 5 . Später wird er dieses Ereignis auch das „anfängliche Ereignis der Transzendenz“ (l’initial événement de la transcendance) 6 nennen. Für dieses anfängliche Verständnis von Transzendenz, von Sich-überschreiten, ist aber die Empfindung (sensation) konstitutiv. Deren Phänomenalität entfaltet Levinas von Husserl ausgehend und zugleich über Husserl hinausgehend. Dabei stellt er sich auf den Boden von Husserls „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“. Nach Levinas stellt Heidegger mit Recht in der Vorbemerkung zu diesen von ihm herausgegebnen Vorlesungen fest, dass deren durchgängiges Thema „die zeitliche Konstitution eines reinen Empfindungsdatums“ 7 sei. Levinas beginnt derart in einer relecture Husserls die Passivität, das Erleiden, welches mit der Angewiesenheit des intentionalen Aktes auf Empfindung gegeben ist, in der Zeitlichkeit der Intentionalität zu verankern. Wäre Bewusstsein „Bewusstsein überhaupt“, dann wäre alles zu Erkennende dem Erkennenden zeitlos gegenwärtig, in einer alles identifizierenden Idealität. Erkennen wäre dann leidensloses Erkennen, das seinem Wesen nach immer schon über alle Grenzen hinausgekommen ist. Und es wäre zugleich Erkennen des letztlich nur einzigen und selben transzendentalen Subjekts. Das Erkennen oder das intentionale In-der-Welt-sein aber ist im Gegensatz dazu immer nur Erkennen des bestimmten leibhaftigen sterblichen Menschen. Retention aber, in der das vorerst einmal Erkannte festgehalten wird und von der aus eine bestimmte Protention – vorerst einmal – möglich ist, ist in Wirklichkeit immer nur die eines gezeitigt-sich-zeitigenden Subjekts. Deshalb gibt es grundsätzlich ein Draußen und ein Jenseits, eine exteriorité. Es gibt ein Draußen, das sich in der Unverfügbarkeit der hyletischen Daten in den Empfindungen (sensations) zu Wort meldet. Dies Sich-zu-Wort-melden aber geschieht zeitlich.. Es geschieht derart, dass der Intendierende sein intentum nicht von vornherein „schon hat“. Erkennen gründet in dem endlich sterblichen Sich-ereignen des Daseins des Intendierenden und derart in einem ursprünglichen Er-leiden. Oder positiv ausgedrückt: es gibt für den Menschen Neues unter der Sonne. Die Urimpression, der letzte Rechtsgrund aller Bewusstwerdung, ist intentional nicht einholbar. Sie ist, so formuliert Levinas „die Nicht-Idealität in ausgezeichneter Weise. Sie ist die unvorhersehbare Neuheit von Inhalten, die dieser Quelle allen Bewusstseins und allen Seins entspringen“ 8 Auf diese Weise erweist sich die Urimpression ihrerseits aber „angefüllt“ (comblée) „über alle Vorhersicht, alle Erwartung, alle Anlage und alle Kon5 In: Recherches philosophiques V (1935–1936). Als Monographie wiederaufgelegt 1982 = E. 6 EDEHH 146 (SpA 157).

7 Edmund Husserl. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, hg. von Martin Heidegger 2 Tübingen 1980, 1. Vgl, jetzt auch Hua X. 8 EDEHH 155 (SpA 172).

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tinuität hinaus“. Und daher muss sie als: „ganz Passivität, Rezeptivität eines ‚Anderen‘, welches das ‚Selbe‘ durchdringt“ 9 (receptivité d’un „autre“, pénétrant das le „même“) verstanden werden. Sie muss als Passivität in einem radikaleren und ursprünglicheren Sinne verstanden werden als die Passivität, die in einem zeitlos geschlossenen idealistisch-identitätstheoretischen Seinsverständnis innerhalb des Akt-Potenz-Schemas gedacht wird. Dieses seines zeitlich im Spiel von Retention und Protention uneinholbaren Verhältnisses zu der Urimpression wegen, dieses seines Ur-erleidens wegen, muss das Denken als „das Festhalten einer Fülle, welche sich entzieht“ begriffen werden 10 . Heidegger hat, so meine ich, nach der „Kehre“ dieses sich ereignende Verhältnis als das Verhältnis des Sich-verdankens des Denkens zu thematisieren versucht. Und meldet sich so kann man sich fragen, dieses Erleiden nicht auch in den Entwürfen des Fallibilismus, ohne dass es von diesem freilich als solches bedacht wird? Alle Leidenschaft der Forschung, gerade auch der naturwissenschaftlichen, wenn sie denn wirklich nach der Wahrheit fragt und nicht nur auf technische Perfektion aus ist, gründet in diesem unerschöpflichen Sich-geben des apriorisch Uneinholbaren. Für Levinas wichtig ist nun aber, dass dieses uneinholbare Ur-erleiden ein Verständnis von Zeit mit sich bringt, das über das klassische sich im Timaios Platons meldende und in der Physik des Aristoteles findende Verständnis von Zeit ebenso hinausführt wie auch noch über das von Husserl in seinen Vorlesungen über die „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ als Einheit von Retention und Protention begriffene. Das sich im Ur-erleiden Gebende kann nicht in eine zeitlos zu habende und zu besitzende retentio eingeholt werden. Es zeigt sich als das ursprünglich andere vielmehr nur in einer Diachronie, d.h. einer mich von außen her leibhaftig – hier zunächst durch die sensatio – einfordernden anderen und neuen Gegenwart. Es gibt sich mir nur in der Durchkreuzung meiner mir schon verfügbaren Zeit als das Mich-angehen einer neuen Zeit. Genau an dieser Stelle seines Denkens findet Levinas den Terminus „Diachronie“, der ebenso wie „l’autre“ und „passivité plus passive que toute passivité antithéthique de l’acte“ signifikant für sein Denken wird. In der uneinholbaren Ursprünglichkeit der Empfindungen, auf welche die Intentionalität als die des leibhaftigen Menschen angewiesen ist, kommt ein von mir in meinem bisherigen Michzeitigen unauflösbares Anderes auf mich zu, mit dem ich noch nicht fertig bin.

9 EDEHH 156 (SpA 173).

10 EDEHH 156 (SpA 173).

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Ur-erleiden (passivité plus passive) – Leibhaftigkeit des Erkennens und Geschichtlichkeit des jeweils Erkennenden bedingen und erhellen sich derart gegenseitig. Nun ist aber diese zwar von Husserl ausgehende, aber über Husserl hinausführende Einsicht in ein Ur-erleiden, welches den Menschen als das Sichtranszendierende Wesen kennzeichnet, nicht nur von höchster Bedeutung für das „sein-bei“ den Inhalten der Welt, das wir zunächst vor Augen haben, wenn wir von dem in der sensatio sich meldenden Anderen sprechen. Vielmehr gewinnt es für Levinas seine tiefste Bedeutung allererst in der Dimension der reinen praktischen Vernunft. Es wurde schon auf die Bedeutung hingewiesen, die Kants These „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ 11 für Levinas gewann. Diese These besagt, dass im Vernunfthaushalt des Menschen der reinen praktischen Vernunft, – das heißt der sittlichen Vernunft, dem vernünftigen Verhältnis zu dem anderen Menschen als diesem anderem Menschen selbst, – das Primat zukomme. In der Faktizität, dem tatsächlich gelebten Verhältnis der „reinen praktischen Vernunft“, welches den Menschen zu dem geschichtsfähigen und für seine Geschichte verantwortlichen Wesen macht, gewinnt das Phänomen der „passivité plus passive que toute passivité“, das allem Verständnis von Sein als Gefüge von Akt und Potenz voraufliegt, erst seinen vollen Sinn. Die Analysen der Empfindung unter dem Gesichtspunkt des diachronen Erleidens sind dazu nur ein Vorspiel. Ich, keineswegs einfachhin als ego-cogito, sondern wirklich allererst in meinem Leiben da-seiend, erleide den Anderen (und das andere). In diesem diachronen Ereignis aber geschieht, was wir mit dem merkwürdigen Kollektivsingular „die Geschichte“ beim Namen zu nennen uns seit dem 18. Jahrhundert angewöhnt haben. Woraufhin aber geschieht Geschichte? Welches ist, wenn dies denn benannt werden soll, deren „Ziel“? Was ist das von Geschichte „Intendierte“? Man kann hier mit dem Wort „Gerechtigkeit“ antworten. Dabei muss man sich aber darüber klar sein, dass sich diese als ein intentum zeigt, das in einer anderen Weise gegeben ist als alle anderen intenta sonst. Es ist nämlich ganz wesentlich im Modus der Hoffnung gegeben. Erhoffte Gerechtigkeit ist das, woraufhin ich mich in meinem leibhaftigen Mich-verwirklichen im Erleiden des leibhaften Anderen überschreite; woraufhin ich mich im Erleiden der von mir unaufhebbaren Grenze doch ständig im Ereignis der Begegnung mit dem Anderen transzendiere. „Alles zeigt sich und wird sagbar im Sein um der Gerechtigkeit willen“, wird Levinas am Ende seines zweiten Hauptwerkes „Autrement qu’être“ 12 formulieren. Das Wort 11 KpV A 216. Vgl. oben S. 19, Anm. 7. 12 AQ 207 (JS 354).

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„Gerechtigkeit“ hat dabei das ganze Gewicht, das Gerechtigkeit in ihrem biblischen Verständnis hat. Dass für Levinas Gerechtigkeit derart im Zentrum alles Verständnisses von Wirklichkeit überhaupt steht, kann wie eine Wiederaufnahme des Grundgedankens der Politeia Platons erscheinen. Und dass Levinas an Platon anknüpft, leugnet er nicht. Jedoch wird von Levinas im Ausgang von der Phänomenologie Husserls und in der Aufnahme der Heideggerschen Daseinsanalytik Gerechtigkeit zugleich auch neu gedacht. Und hier, im Lichte von Leibhaftigkeit und Zeitigung, findet das Verhältnis des Ur-erleidens als des „Geisel-seins-für-den-Anderen“, denn auch seinen ursprünglichen Ausweis. In meinem sterblich-leibhaftigen Mich-verwirklichen finde ich mich in dem Ur-erleiden angegangen und herausgefordert durch den mir leibhaftig, und nur leibhaftig, begegnenden Anderen, – und zwar in einer zweifachen Weise. Ich finde mich nämlich zum einen herausgefordert, meine intentio derart alles zu Ende zu bringen, dass ich mich zu allem mache, dadurch zu transzendieren, dass ich mich zurücknehme.. Und ich finde mich zum anderen herausgefordert, mich in einem in einem fundamentalen Mich-verdanken zu zeitigen. Das Gegenmodell dazu wäre ein Transzendieren, welches dadurch geschähe, dass ich mich und mein In-der-Welt-sein willkürlich als die Totalität setze. Diese ständige Versuchung des als welthabenden Bewusstseins existierenden Menschen totalitär zu werden muss ihrerseits überschritten werden. Und erst darin besteht wahres Transzendieren. Das wahre Transzendieren bleibt in seiner Wahrheit nur dadurch, dass es sich in Geduld vollzieht. „Patience“ wird deshalb zu einem weiteren wichtigen Grundwort für Levinas. In ihr lasse ich mich darauf ein, mich mit dem leibhaftig Anderen in einen Gang des diachronen Geschehens von Geschichte freizugeben. Mit Recht fragt Levinas, ob man Transzendenz schon im etymologischen Sinn nicht viel eher verbal als ein Hinübergehen (franchissement), als den Akt des Sich-überschreitens (enjambement), als einen Gang (marche) verstehen müsse denn als eine vorgestellte Substanz: die Transzendenz 13 . Aber wohin führt dieser Gang? Das Wort „Gerechtigkeit“ kann für dieses „Wohin?“ in der Tat zunächst einmal nur als eine formale Anzeige dienen. Der Gang des Transzendierens, in den hinein mich das Ur-erleiden herausfordert und einlädt, erweist sich für den, der ihn festlegen will, als ein Sich-überschreiten „ohne Korrelat – wie das von keinem Erwarteten noch zerstörte Warten – Noesis ohne Noema“ 14 . Aber er erweist sich für das in der patience herausge13 EDEHH 160 (SpA 180). Vgl. auch EDEHH 226 (SpA 277). In der bisherigen Philosophie

wurde alle Transzendenz „als Wissen gedacht“ .

14 SMB 40–41 (Eigennamen 52) „… ce mouvement qui se situe entre le voir et le dire, ce language

de pure transcendance sans corrélatif – comme l’attente que rien attendu ne détruit pas – noèse sans noème – …“.

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forderte Ur-erleiden doch in der derart möglichen Weise orientiert durch die Möglichkeit einer Erfüllung, die meine Möglichkeiten, über die ich autonom verfüge, überschreitet. In diesem ihrem von ihr unfassbaren Grunde findet sich die „passivité plus passive que toute passivité antithétique de l’acte“ als das religiöse Verhältnis. Insofern alles Sprechen, jeder ernsthafte discours auf dieser passivité als dem ursprünglichen Hören beruht, kann Levinas deshalb formulieren: „L’essence du discours est prière“ 15 . Das Wesen des diachronen Ereignisses der Begegnung mit dem Anderen, ist Gebet. Levinas hätte wohl nichts dagegen, wenn man formulieren würde: Die Leidenschaft der Vernunft zeigt sich im Gebet. Vernunft würde hier dann allerdings nicht nur im Sinne der cartesischen Vernunft begriffen, sondern in einer Einbringung der reinen praktischen Vernunft, – und das heißt denn bei genauerem Zusehen: der inkarnierten leibhaftigen leidenden und hoffenden Vernunft –, in die Geschichtlichkeit der Geschichte. Wir werden letztlich an unserem Ant-worten gemessen. Wir werden daran gemessen, wie wir der Grundsituation unseres Menschseins gerecht werden,welche in unserem Ur-erleiden liegt, d.h. in unserer Geschöpflichkeit. Diese aber bedeutet zugleich unsere Erwählung. Dass wir derart unserer conditio humana „gerecht“ werden können, geschieht als das kostbarste Geschenk unseres Daseins, – aus Gnade.

15 Entrn 20 (SpA 113).

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III. Illéité Die folgenden Überlegungen wollen einen Begriff erörtern, – wenn immer man dies einen Begriff nennen darf –, der im Werk von Emmanuel Levinas zwar nur an einigen wenigen Stellen gebraucht wird, der aber gleichwohl geeignet erscheint, das Ganze dieses Denkens als das aporetische Ganze, das jedes ursprüngliche Denken darstellt, zum Vorschein zu bringen. Von „illéité“ spricht Levinas zum erstenmal – soweit ich sehe – in dem 1963 in der Tijdschrift voor Filosofie erschienenen Aufsatz „La trace de l’autre“. Das zweite Hauptwerk „Autrement qu’être ou au-delà de l’essence“ nimmt diesen Begriff auf, der später dann aber, wie auch andere solche „Schlüsselworte auf Zeit“, z.B. „temps achevé“, wieder dem Schweigen anheimgegeben werden; ein Zeichen für die Zeitlichkeit des Denkens selbst, zu der sich Levinas ausdrücklich bekennt und die sein Denken in dessen eigener Geschichte denn auch bedeutet. Unsere Untersuchung soll klären, welchen Sinn die Rede von der illéité für Levinas hat; insbesondere wie die zugleich religiöse wie ethische Wurzel seines Denkens sich in dieser Rede zeigt. Zum anderen soll unsere Untersuchung durch einen Vergleich mit dem Denken Franz Rosenzweigs mögliche Kontexte der Überlieferung aufzeigen, die geeignet erscheinen, das Levinassche Denken besser zu verstehen.

A. Das Worumwillen des Denkens Wir setzen dabei mit einer Schlusspassage von „Autrement qu’être“ ein, in der Levinas denn auch ausdrücklich das Worumwillen seines Denkens zu bestimmen sucht: „La philosophie: sagesse de l’amour au Service de l’amour.“ 1 Was wird hier unter Liebe verstanden und was unter Weisheit? Sagesse: Das bedeutet nach Levinas offenbar mehr als das, was Philosophie und auch Phänomenologie 2 bisher zur Sprache brachten. Weisheit ist gekennzeichnet durch jenes „au-delà“, welches in der Bewegung des Denkens und deshalb auch im Titel des zweiten Hauptwerkes von Levinas als das entscheidende Wort angesehen werden muss. Es wird also für ein adäquates Erfassen dessen, was „sagesse“ bedeutet, alles darauf ankommen, dieses „au-delà“ mitzuvollziehen, so allerdings, dass dieser Mitvollzug dabei selbst Denken bleibt. 1 AQ 207 (JS 353). 2 Zum Verständnis von Phänomen bei Levinas vgl. Stephan Strasser, Le concept de ‚phénomène‘

chez Levinas et son importance pour la philosophie religieuse, in: Revue philosophique de Louvain 76 (1978) 328–342.

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Folgen wir den Anweisungen, die Levinas für den Mitvollzug des „au-delà“ gibt, so scheint mir zunächst einmal außer Frage zu stehen, dass das Feld des zu Bedenkenden, angesichts dessen sich der Abstoß zu der Bewegung des „au-delà“ zu vollziehen hat, in den Texten klar angegeben wird. Es ist das Feld der Verantwortung des einen für den anderen. Wobei dieses Feld von vornherein freilich nicht unter den Vorbedingungen einer nur überlieferten Ethik gesehen werden soll, sondern vielmehr ursprünglich. Es ist das Feld des Sagens, auf welchem sich – oder besser: als das sich das Verhältnis des einen zu dem Anderen vollzieht. Dieses Feld ist so weit wie „sein“ und zugleich durch das „au-delà“ gekennzeichnet. Versuchen wir dieses „Feld“ – die Metapher sei hier hilfsweise gestattet – in dem, als was es geschieht, in einem ersten Schritt zu beschreiben. Die Beschreibung kann sich dabei offensichtlich zunächst einmal nur egologisch verankern. 1. Der imaginäre Beginn des Sprechens im synchronisierenden Thematisieren Ich spreche. Das meint: ich entfalte ein Redeuniversum, das sich als Versammlung des Seins des Seienden in einer Gegenwart zeigt: als Thematisation, Präsentation und Re-präsentation. Dieses Redeuniversum bedeutet Intentionalität, welche im Spiel von Noesis und Noema 3 die Rückkehr zu mir selbst zum Inhalt hat 4 , Einheit der transzendentalen Apperzeption des Ich-denke 5 . Zeitlich gesehen bedeutet Sprechen derart verstanden immer Synchronisation, selbst wenn sich das Sprechen in der „Kontemporaneität“ von Offenbarung und Verbergung ereignet 6 . Das Denken hält das Verborgene entweder für (nur) noch nicht offenbar. Oder das Denken denkt, dass die Offenbarung nur geschehen könne um den Preis der Verbergung des Verborgenen. Aber auch in diesem zweiten Falle würde ja in Wirklichkeit das Verborgene schon in einer durch die Relation gegebenen Gleichzeitigkeit mit dem Offenbaren gedacht. So reflektiert Levinas offensichtlich und legt dem Leser dabei eine Erinnerung an Schelling und Heidegger nahe. 7 Es darf hier allerdings darauf hingewiesen werden, dass selbst dieses Synchronisieren, welches als Grund der Möglichkeit von aussagender Sprache erscheint, nach Levinas seinen letzten Grund in der Suche nach der Gerechtigkeit hat. „Das Urteil und der Aussagesatz erwachsen aus der Gerechtigkeit, 3 Vgl. AQ 188 (JS 323). 4 Vgl. auch EDEHH 187 (SpA 209) und den Verweis auf Fichtes A = A. 5 Vgl. AQ 181 (SpA 312).

6 EDEHH 200 (SpA 232). 7 Ein ausdrücklicher Verweis auf Heidegger findet sich EDEHH 189 (SpA 212) und 192

(SpA217).

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die das Zusammentragen ist, die Versammlung, das Sein des Seienden.“ 8 Insofern kann die thematisierende Sprache denn auch „ordre ancillaire ou angélique de la justice“ 9 genannt werden. Dieser Fundierungszusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Thematisation kann indessen hier nicht eingehender dargelegt werden. 2. Die Umkehr des Sprechens in das „für den Anderen“ Dieser Entfaltung der synchronisierenden transzendentalen Apperzeption in dem Geflecht der die Welt gliedernden vergegenwärtigenden Sprache, die zunächst einmal als Ausgangspunkt für das Nachdenken erscheint, widerfährt in Wirklichkeit aber immer schon eine Umkehr: „un bouleversement de l’intentionalité“ 10 , „une inversion de l’ordre“ 11 , „une subversion de l’essence en substitution“ 12 . Daß diese Umkehr die für das ganze Levinassche Denken entscheidende Grunderfahrung bedeutet, kommt schon äußerlich in der großen Zahl der Substantive zum Ausdruck, mit denen Levinas immer wieder diese grundstürzende Erfahrung zur Sprache bringt. Man könnte diesen Substantiven mindestens ebenso viele Verben zur Seite stellen: „s’invertir“, „se convertir“, „desarçonner“, „virer“, „bousculer“; in gewisser Weise auch „trancher sur“. Aber wie und als was können wir diese Erfahrung eines bouleversement de l’intentionalité fassen? Wie ist diese Umkehr zu denken? Sie ist, dies bekennt Levinas ausdrücklich, ihrerseits nicht noch einmal in eine Reflexion einzuholen 13 . Sondern sie geht aus einer ursprünglichen, d.h. asymmetrischen Erfahrung hervor: der Erfahrung des Anderen, der mich in die Verantwortung einfordert. Sprechen als erzählendes, darlegendes, synchronisierend-vergegenwärtigendes Sprechen wird umgekehrt und verwandelt in Antworten: in ein Antworten, das im ganzen mit sich selbst in seiner Sterblichkeit dem unverfügbaren Anderen antwortet. Wird der transzendentale Horizont des thematisierenden Sprechens „Sein“ genannt, so gilt: „l’être s’invertit en Substitution“. Es geschieht eine „Subversion de l’essence en Substitution“ 14 . La „positivité de l’essence vire en dette involontaire“ 15 .

8 AQ 205 (SpA 351). 9 AQ 205 (SpA 351). 10 EDEHH 196 (SpA 225).

11 AQ 199 (JS 341). 12 AQ 206 (JS 352). 13 Vgl. EDEHH 195 (SpA 223). 14 AQ 206 (JS 352). 15 AQ 197 (JS 338).

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Gerade diese ursprüngliche Erfahrung des Anderen, die mein zunächst scheinbar nur synchronisierendes Sprechen in das Ereignis der Antwort umkehrt, kann nun aber nicht verstanden werden, solange sie nur im Gange eines immanenten Transzendierens, also etwa eines dialektischen Voranschreitens verstanden wird. Vielmehr zeichnet sich diese Umkehr dadurch aus, dass das Sagen von einem absoluten Draußen getroffen wird; einem von dem intentional-synchronisierenden Sprechen in keiner Weise Erreichbaren, dem sich das Sprechen aber nun gänzlich anheim gibt: „Dire sans correlation noématique dans la pure obéissance.“ 16 . Diese Umkehr ist also nur als eine radikale Umkehr des Ganzen zu beschreiben. Sie stellt sich nicht als dialektischer Überschritt innerhalb eines Ganzen zu einer neuen Phase des Ganzen dar, sondern als absolutes und ursprüngliches Neuwerden des Ganzen, d.h. des Sprechens selbst. Man könnte hier auch von einer ungeschuldeten (und insofern dem Sprechenden selbst un-möglichen) aber absoluten Neugründung sprechen, einer schlechthin anderen Fundierung, die sich denn ja auch in einer ausdrücklichen Umkehr der Fundierungsrichtung zur Sprache bringt, dort wo von dem „Dire sans correlation noématique“ gesprochen wird: „Ce que s’y présente est en train de s’absoudre de ma vie et me visite comme déjà ab-solu.“ 17 Es ist in den Grenzen, die uns hier gesetzt sind, nicht möglich, die ganze Phänomenologie, oder vielmehr Anti-phänomenologie, der asymmetrischen Beziehung zu dem Anderen darzustellen, die das Werk von Levinas entfaltet. Was es hier festzuhalten gilt, ist, dass die Wahrnahme dieser Beziehung das Geschehen einer Umkehr bedeutet. Diese geht mit einer Erfahrung einher, die einem Denken durchaus zugänglich ist, welches die eigene Zeitlichkeit annimmt: nämlich der Erfahrung der Absolutheit des Anderen als des Fremden 18 . Aber der Andere fordert mich gleichwohl ein. Ich werde von ihm heimgesucht. Man könnte diese Erfahrung die Wurzel aller ethischen Erfahrung nennen und darf sich fragen, ob sie sich sachlich nicht schon in der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ 19 findet. Levinas selbst spricht von einer „experience de l’absolument extérieur“ 20 . Es ist die Erfahrung der Nacktheit und Formlosigkeit des Antlitzes des Anderen 21 , in welchem mich gleichwohl der absolute Anspruch des Anderen anruft. Zur Wahrnahme dieses Anspruches gelange ich deshalb auch nur in einer Umkehr der zu sich selbst zurückkehrenden intentionalen Bewe-

16 AQ 184 (JS 317). 17 EDEHH 202 (SpA 234). 18 EDEHH 194 (SpA 222).

19 Kant GMS BA 67. 20 EDEHH 190 (SpA 214). 21 EDEHH 194–195 (SpA 222).

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gung, nämlich in einem „mouvement sans retour“ 22 , einer Bewegung, welche die Brücke hinter sich abbricht und sich im ganzen in eine ihr schlechthin unbekannte Zukunft hineinbegibt: die andere Zukunft, die in keiner Weise etwa die Eigentlichkeit der Zukunft des Daseins zum Tode sichern will. Es ist nicht die Daseinsbewegung des Odysseus, sondern die Abrahams 23 . 3. Die Spur des „absolut Anderen“ Nicht nur die biblische Metaphorik, die Levinas hier wie auch sonst immer wieder in seinem Werk ins Spiel bringt, 24 zeigt nun allerdings, dass es bei dieser Beziehung letztlich um eine „religiöse Beziehung“ geht, so ungenau und im Sinne von Levinas vielleicht sogar falsch diese Bezeichnung auch sein mag. Um dies zu erfassen, reicht es allerdings nicht, darauf zu achten, dass die in der Umkehr der intentionalen Bewegung geschehende Erfahrung des Anderen insofern absolut ist, als der Andere mir schlechthin unverfügbar ist. Diese Erfahrung allein könnte noch in der von Levinas ja als Bestandteil des Seinsdenkens denunzierten Erfahrung der Dialektik von Offenbarung und Verbergung bleiben. Sie könnte Erfahrung von intentional eingeholter Beziehung eines auf mich Bezogenen sein. Worauf es Levinas aber nun gerade ankommt, ist dies: aus der Umkehr als solcher heraus zu denken; d.h. derart, dass die Erfahrung der Anderheit des Anderen und die sich darin meldende absolute Anderheit aus einem transzendental-subjektiven intentionalen Schema herausgewunden werden. Oder, so kann man auch sagen: derart, dass das „au-delà“ nicht einfach nur den Sinn hat, den es in einer schulmäßigen negativen Theologie hatte. 25 Levinas versucht dieses sich in der conversio des intentionalen Schemas meldende Un-verhältnis mittels der die Temporalität ins Spiel bringenden Figuren der Spur (la trace) und des Rätsels (l’énigme) zu denken. Dabei wird die Spur allerdings sofort in einem besonderen Sinne verstanden; nämlich nicht als Spur, die jemand mit der Absicht hinterläßt, etwas Bestimmtes zum Ausdruck zu bringen. So verstanden wäre die Spur nur signe eines signifié 26 . Levinas möchte die Spur aber so verstanden wissen wie die Spur, die derjenige, der das perfekte Verbrechen begehen wollte, unab22 EDEHH 189 (SpA 212). 23 EDEHH 191 (SpA 215). 24 Vgl. AQ 94, 116, 99, 112, 141, 150, 156f., 165, 186, 181, 189, 190–192, 200, 229. 25 Insofern es hier nämlich nicht einfach nur um Negation der Endlichkeit geht, sondern die

positive Erfahrung des Vorgeladenseins in das Gebot. Es ist hier allerdings die Frage zu stellen, ob dies dann nicht schon ein Denken bedeutet, das erst durch das Offenbarungsereignis zum Denken ermächtigt ist. 26 EDEHH 199 (SpA 230): „La trace n’appartient pas à la phénomenologie“. Ebenso ist das Rätsel bei Levinas letztlich unlösbares Rätsel. Vgl. EDEHH 203 seq. (SpA 236ff.).

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sichtlich dadurch hinterläßt, daß er die Spuren, die er machte, zu verwischen suchte. Die Spur, um die es Levinas geht, stört die intentionale Ordnung der Welt; und zwar gerade dadurch, daß sie sich nicht als ein Zeichen in der Welt kundgibt. Vielmehr heißt „laisser une trace“ in diesem Sinne gerade: „s’absoudre“. Wer derart eine Spur hinterläßt „n’a rien voulu dire ni faire par les traces qu’il laisse“. Inwiefern bedeutet die „assignation“, die Vorladung und die Heimsuchung durch den Anderen aber nun derart eine Spur des „absolut Anderen“? Sie bedeutet dies in einer nur in der Umkehr selbst wahrzunehmenden Bedeutung insofern, als die Unbedingtheit des Anderen in der Absolutheit seines (meine Verantwortung für ihn herausfordernden) Daseins zwar erkannt wird. Die Gründung dieser Absolutheit, die zugleich die Gründung der absoluten Forderung an mich ist, den Anderen in seiner Sterblichkeit nicht allein zu lassen 27 , kann von dem präsentierenden Denken aber nicht eingeholt werden. Sie ist vielmehr „schon vorbeigegangen“. Sie ist immer schon vorbeigegangen. Sie wird intramundan nie zum Phänomen. Sondern sie macht sich lediglich in dem oben beschriebenen Sinne als Spur, die intramundan gerade nichts sagen will, bemerkbar. „Dans la trace a passé un passé absolument révolu.“ 28 Das, was in dem unbedingten Angegangensein durch den anderen Menschen für mich seine Spur hinterlassen hat, hat sich zugleich doch von aller innerweltlichen intentional einholbaren Bedeutung ab-solviert, obwohl es, und gerade insofern es, unendlich verpflichtet: „la trace … oblige à l’égard de l’Infini, de l’absolument Autre“ 29 . Geht man von dem überlieferten metaphysischen Denken aus, so ist man versucht zu sagen, dass hier im Grunde nur das alte Problem der relatio des Unendlichen zu dem Endlichen gestellt werde. Und Levinas selbst scheut sich ja denn auch nicht, seinen Gedanken des schon vorübergegangenen unbedingten Grundes der absoluten Verpflichtung dem Anderen gegenüber und der darin geschehenen Absolvenz des unbedingt Anderen mit der plotinischen absoluten Trennung des Hen von der Welt zu belegen. „Seul un être transcendant le monde peut laisser une trace“ 30 , d.h. eine Spur, welche die Ordnung der Welt stört, gerade weil sie selbst un-weltlich ist, weil sie von jenseits der Welt herkommt. Allein mir scheint, dass der Levinassche Gedanke trotz der durch Levinas selbst hier und anderenorts geschehenden Rückbindung an die philosophische Überlieferung sich nach zwei Hinsichten von dieser Überlieferung unterscheidet.

27 DD 263. 28 EDEHH 200 (SpA 232). 29 EDEHH 200 (SpA 232). 30 EDEHH 201 (SpA 233).

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Zum einen wird der Ort, an welchem ich die Spur des ganz Anderen und ihre unbedingte Bedeutsamkeit wahrnehme, eben nicht ontologisch, sondern „heterologisch“ in der Wahrnahme der Verantwortung meines freien Selbstseins für den Anderen ausgemacht. Und zum anderen wird die Spur des „absolument Autre“ ausdrücklich in der jede intramundane Zeitlichkeit transzendierenden Zeitlichkeit, in die ich mich allerdings schon verwickelt finde, zur Sprache gebracht. Unter beiden Hinsichten kann dann aber die Beziehung zu dem unendlichen und unbedingten Grund meiner Verantwortung für den Anderen (in die sich mein Sagen umkehrt) nicht mehr als correlation, sondern nur noch als irrectitude gedacht werden; oder, wie es auf derselben Seite heißt, als „relation laterale“ 31 . 4. Die Diachronie als Spur der Ewigkeit Diese „Beziehung beiseite“ und „außerhalb“ jeder Beziehung, diese irrectitude, zeigt sich zeitlich als die Diachronie. Denn die Zeit, die das Ego in seinem Sich-Zeitigen in Retention und Protention ist, die Zeit, die als die Synchronie des transzendentalen Subjekts begriffen werden kann 32 , – oder auch, mit Heidegger, als die Einheit der Ekstasen der Zeit in der Eigentlichkeit des Daseins zum Tode 33 –, sie wird in ihrem Sich-in-sich-Schließen unterbrochen. Sie wird gestört durch die Vorladung vor die formfreie 34 , an-archische Ursprünglichkeit des Anderen. Die Verantwortung für den Anderen verbietet mir in ihrem Eintreten jede schon gegebene und letztlich teleologisch strukturierte Kontinuität. Sie hebt mich vielmehr aus dem Sattel solcher Kontinuität und Identität, auf dem ich bisher einherritt, und stürzt mich in eine Bewegung sans retour. Insofern wird meine in einer zusammenhängenden Bewegung gründende Zeit durch die Vorladung in die Verantwortung depotenziert. Sie vermag gerade nicht mehr alles. Sie wird ihres Charakters des transzendentalen Horizontes entkleidet und in ein Nichts des Vermögens von Zeit hineingerissen. Dies spricht sich in jener „passivité plus passive que toute passivité antithétique de l’acte“ „ aus, als welche Levinas immer wieder die Verantwortung kennzeichnet. Diese passivité wird nur wirklich als „patience“ – Geduld. Aber was veranlaßt mich denn, derart der Auflösung meiner zeitlich verfaßten Identität zuzustimmen? Oder umgekehrt: Was hindert mich daran, den Anderen in mein planendes Synchronisieren nicht dennoch erneut ein31 EDEHH 198 (SpA 228). 32 Vgl. AQ 179 (JS 308). 33 Vgl TI 15 (TU 54) u.ö. 34 EDEHH 194 (SpA 221).

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zuholen und so die gestörte Einheit der Zeit, in welcher ich doch scheinbar alleine Identität finden kann, wiederherzustellen? Was hindert mich daran, mich meinem Tode zu verweigern dadurch, dass ich den Anderen als den mich gefährdenden ausschalte? Die Antwort, die das Denken von Levinas darauf gibt, geht wiederum aus der Umkehr hervor, die dieses Denken schon vollzogen hat: aus der Umkehr, die etwa in dem Satz zum Ausdruck kommt, man müsse das Unrecht dem Anderen gegenüber mehr fürchten als den eigenen Tod 35 . Es ist die Umkehr, die mich anfänglich nicht mehr von mir her denken lässt, sondern von der unbedingten Würde des Anderen her. Es ist die Umkehr, welche „retournement de l’heteronomie en autonomie“ 36 bedeutet. Und diese lässt sich – dies scheint mir nun entscheidend zu sein – allerdings auch nicht mehr transzendentalphilosophisch von dem Anderen her begründen. Denn dies würde lediglich eine symmetrische Vertauschung der Seiten eines immer noch synchronisierenden Begründungsverhältnisses bedeuten. Die transzendentalegologische Begründung geschähe dann nur von dem alter ego her. Vielmehr ist dieses Verlassen der eigenen Zeit und einer durch das Ego synchronisierten Zeit in der Übernahme der Verantwortung nur zu begründen, wenn mich in der ursprünglichen Anderheit des Anderen, und damit gerade im Bruch meiner Zeit, das „Unbedingte“ und „Unendliche“ anspricht. Es ist nur denkbar, wenn mich darin, wie Levinas mit einem das biblische „kabod“ aufnehmenden Wort sagt, „la gloire de l’Infini“ anspricht 37 und sich verherrlicht, „se glorifie“ 38 . Nur dann kann das „sein“ für das, was jenseits meines Todes liegt und das sich letzten Endes in der Annahme der Verantwortung für den Anderen vollzieht, sinnvoll sein. Das heißt aber, dass die Diachronie, die wir zunächst nur als rupture, nur als Bruch meiner egologisch-synchronisierend verfaßten Zeit verstanden, sich jetzt in einem ganz neuen Sinne zu verstehen gibt. Sie wird nämlich zur Spur einer immer schon geschehenen Gründung der unbedingten Würde des Anderen und damit des asymmetrischen Verhältnisses meiner Verantwortung. Sie wird zur Spur einer ganz anderen Zeit, die weder mit einer transzendentalen Synchronie noch auch mit einer bloß innergeschichtlichen (im Sinne einer schlechten Unendlichkeit unabsehbar weitergehenden) Diachronie verrechenbar ist. Le „Synchronisme se désaccorde, la totalité se transcende dans un autre temps“ oder auch: Das Rätsel, das uns von der Illéité her zukommt, „impose une toute autre version du temps“ 39 . Diese ganz andere Zeit hat sich, indem sie in dem diachronischen Bruch 35 DD 265. Der dort folgende Satz „de préferer l’injustice subie à l’injustice commise“ findet sich

schon bei Platon, Gorgias 469c.

36 AQ 189 (JS 325). 37 Vgl. etwa AQ 179ff. (JS 309ff.). 38 AQ 184 (JS 316). 39 EDEHH 214 (SpA 256).

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des asymmetrischen Geschehens der Verantwortung ihre Spur ließ, immer schon ab-solviert. Sie ist schon vorbeigegangen. Sie zeigt sich so als „sanscommencement“, „Anfangslosigkeit“, als „dia-chronie de la transcendance“, „un temps n’entrant pas dans l’unité de l’apperception transcendantale“ 40 . Sie hinterläßt ihre Spur als „un passé qui n’a jamais été représenté“, als „la provocation qui ne s’est jamais présentée“ 41 . Sie zeigt sich als das „profond jadis jamais assez jadis“ 42 , wie Levinas mit einem Vers von Paul Valery sagt. Die Spur des diachronen Bruches, der sich ereignet, insofern ich mich der Verantwortung stelle, „est la passe même vers un passé plus éloigné que tout passé … où se dessine l’éternité“ 43 . Man könnte also auch davon sprechen, dass sich in dem die Übernahme der Verantwortung kennzeichnenden diachronen Bruch die Durchdringung von Zeit und Ewigkeit zutrage; oder vielleicht besser: die Durchdringung meiner Zeit und unserer Zeit miteinander einerseits und einer anderen unendlichen Zeit andererseits, nämlich der Zeit der Herrlichkeit des Unendlichen. Dies wird noch deutlicher, wenn darauf geachtet wird, dass die Diachronie als die Spur einer schon vorübergegangenen absolut anderen Zeit sich keineswegs nur als „plus éloigné que tout passé“ zeigt, sondern auch „que tout avenir“. Sie zeigt sich als „un futur jamais assez futur plus lointain que le possible“ 44 . Denn worauf ich mich verlasse, wenn ich mich in die Verantwortung für den Anderen hinein verlasse im diachronen Zerbrechenlassen meiner Zeit, das ist ja keineswegs der Andere in seiner faktischen Zeitlichkeit als einer solchen. Sondern es ist, wie Levinas besonders in dem Abschnitt „La Sagesse du Désir“ 45 ausführt, jenes auch dem Dritten gerecht werdende Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, jene Vernünftigkeit eines erfüllten Friedens 46 , das gleichwohl meinem synchronisierenden Konstituierenkönnen entzogen ist, weil es der Friede mit dem Anderen und allen Anderen ist. Allein in dem in der Verantwortung geschehenden diachronen Bruch zeigt sich diese Zukunft, die über alle machbare Zukunft hinausgeht, als das, was mich unbedingt angeht; als das, wovon ich mich in meinem Desir unendlich und unbedingt angegangen erfahre und was derart denn also auch Grund der Möglichkeit meines zum Sagen, zu Poiesis und Synchronie führenden Eros ist 47 . Ich werde dadurch Zeuge jenes unendlich Zukünftigen. Die Zeugenschaft ist durch sich 40 AQ 179 (JS 309). 41 AQ 184 (JS 316). 42 EDEHH 198 (SpA 228). 43 EDEHH 201 (SpA 234). 44 TI 232–233 (TU 372). 45 AQ 195ff. (JS 334ff.).

46 Vgl. AQ 203ff. (JS 346ff.). 47 Vgl. etwa AQ 203–204 (JS 347ff.).

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selbst prophetisch 48 . Sie vollzieht sich aber mit Notwendigkeit diachronisch. Denn sie ist keineswegs, wie die Politik, die „Kunst des Möglichen“. Sondern sie zeigt jenes „unmögliche“ futur an, das in die Verantwortung vorlädt, das sich aber „zugleich“ in seinem Zum-Vorscheinkommen auch schon absolviert hat. 5. Der Sinn der Rede von Illéité Angesichts dieser Durchdringung unserer in der conversion zur Verantwortung aufs Spiel gesetzten Zeitlichkeit mit einer ganz anderen unendlichen und unbedingten Zeit gewinnt nun aber auch die Rede von Illéité ihren Sinn. Denn was will sie sagen? Liest man die nicht sehr zahlreichen, aber für das ganze Levinassche Denken bedeutsamen Stellen zusammen, so zeigt sich, daß „Illéité“ durchgängig im Zusammenhang mit der Rede von jener Spur gebraucht wird, die sich in dem diachronen Bruch zeigt und die zugleich das Rätsel ist 49 . Die in dem diachronen Bruch wahrnehmbare Spur ist Spur einer unumkehrbaren und uneinholbaren Vergangenheit, Spur jenes passé immémorial, das dem Denken unerträglich ist 50 . Das Profil, welches diese uneinholbare Vergangenheit gewinnt, aber ist das des „ IL“ 51 . Warum?, so kann man sich fragen. Offenbar deshalb, weil einerseits IL für ein Subjekt steht, für eine Person; andererseits aber für die dritte Person, d.h. jene Person, die nicht in der ausschließlichen Beziehung zu mir steht. Diese zunächst einmal sprachlichen Gründe für die Wahl des Wortes IL und die daraus als Neologismus abgeleitete Abstraktbildung „Illéité“ zum Zwecke der Anzeige des Grundes für die in dem diachronischen Bruch wahrnehmbare Spur werden aber vertieft, wenn man genauer danach fragt, wessen Spur denn in dem diachronischen Bruch lesbar wird. Es ist die Spur des Unendlichen, von keinem synchronisierenden Bewußtsein Einholbaren, mich aber gleichwohl unendlich, d.h. unbedingt Angehenden. Jedoch: „angehen“ im Sinne des Verpflichtens, der unbedingten Vorladung in ein „Du sollst“, kann mich nur ER und nicht ein ES, eine Struktur, ein System oder dergleichen. Also ist „Spur des Unendlichen“ nicht sächlich zu lesen, so als gehe es hier um ein Seiendes in dem

48 Vgl. dazu AQ 185–194 (JS 319–334). 49 EDEHH 199, 201–202 (SpA 230ff.); AQ 196, 202 (JS 337,345ff.). 50 Vgl.AQ 191, Anm 21 (JS 329, Anm. 21). 51 EDEHH 199 (SpA 229).

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Widerspiel von Seiendem und Sein 52 . Sie ist „persönlich“ zu lesen – und nur so überhaupt zu lesen. „La ‚relation avec l’illéité‘ est ‚personelle et éthique‘ “. 53 Diese unbedingte Verpflichtung, die Verantwortung für den Anderen als den mir welthaft unauflösbaren Anderen zu übernehmen, trifft mich aber nicht nur aus einer unvordenklichen Vergangenheit. Sondern sie trifft mich zugleich auch aus einer unausdenklichen Zukunft, wie ja gezeigt wurde. Deshalb kann es denn heißen: „… dans le prophétisme l’Infini … signifie comme illéité à la troisième personne“ 54 . Das heißt: in dem Augenblick, in welchem ein Mensch indem er sich dem Anspruch stellt derart zum Propheten wird, ruft ihn eine unendlich zukünftige Stimme an: die Stimme, welche die Gerechtigkeit und den Frieden verheißt und die gleichwohl insofern dritte Person bleibt, als sie mich direkt nur in dem Anderen anspricht, für den ich Verantwortung übernehme. In der Übernahme der Verantwortung wird derart die „non-phenomenalité“ einer Ordnung lesbar, „qui à mon insu“ – ohne daß dies intentional konstituiert wäre – sich schon in mich eingeschlichen hat wie ein Dieb, wie Levinas mit Hiob 4,12 sagt. Die Nicht-Phänomenalität dieser Ordnung, die gleichwohl unendlich bedeutsam ist, aber zeigt Levinas mit dem das ER in seine Ständigkeit bringenden Wort „Illéité“ an. „Signifie comme illéité.“ 55 Illéité markiert also jenen „Beziehungspunkt“, so könnten wir in einer von vornherein falschen, weil eben verräumlichenden und synchronisierenden Sprache sagen, auf den jene Un-Beziehung oder „relation an-archique“ 56 immer wieder zuläuft – jene „intrigue qui rattache à ce qui absolument se détache“ 57 . In dieser „relation an-archique“ und in dieser „intrigue“ aber gebe ich mich an das von der Notwendigkeit nicht einzuholende passé immémorial und zugleich das futur plus lointain que le possible frei. Illéité zeigt sich als das unendliche, d.h. immer neu da-seiende und darin doch entzogene Beziehungsgegenüber des nicht ausgeschlossenen unbedingten Dritten: ER, zu dem ich immer neu in der subversion de l’essence en substitution 58 „in Beziehung“ gerate. Als solches „Beziehungsgegenüber“ der nicht-intentionalen, an-archischen Beziehung erweist sich Illéité aber als der grundlose „Grund der Möglichkeit“ der Anderheit des Anderen. Als solche nur im diachronischen Bruch und der Verantwortung gegenüber der Anderheit des Anderen lesbare unvordenkliche und unausdenkliche Transzendenz aber ermöglicht es das mit „Illéité“ sprachlich Angezeigte schließ52 Vgl. dazu insgesamt EDEHH 201 (SpA 233ff.). 53 EDEHH 199 (SpA 230). 54 AQ 191 (JS 328). 55 AQ 191 (JS 328). 56 AQ 201 (JS 354). 57 AQ 188 (JS 323). 58 AQ 206 (JS 352).

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lich, das Wort GOTT im Ernste auszusprechen, ohne dass dies im Horizont von „Gottheit“ geschehen müsste 59 . Die Anspielung auf Heideggers Humanismusbrief 60 ist unüberhörbar.

B. „ER“ im Erlösungsdenken Rosenzweigs Gerade dieser letzte Versuch „entendre un Dieu non contaminé par l’être“ 61 lässt nun aber auch die Nähe des Levinasschen Gedankens zu dem Franz Rosenzweigs sichtbar werden. Levinas hat auf diese Nähe selbst aufmerksam gemacht 62 . Wer das Werk Rosenzweigs kennt und die Ausführungen über Illéité liest und insbesondere ihre Schlussthese, dass nämlich „Illéité débordant … fait prononcer le mot Dieu, sans laisser dire divinité“ 63 , ist ja sofort daran erinnert, dass Rosenzweig den Gottesnamen aufgrund gründlicher Überlegungen zu seiner Verdeutschung der Schrift schließlich mit dem in Versalien gesetzten persönlichen Fürwort ER wiedergab. Dabei zeigen die Überlegungen, die zu dieser Übersetzung führen, auf weite Strecken deutliche Parallelen mit den Gedankengängen von Levinas. 1. Der „Stammsatz der Erlösung“ Am frühesten treten diese in einer Tagebuchnotiz hervor, die Rosenzweig im Jahre 1910 – also in der Phase der intensiven Auseinandersetzung mit Hegel – niederschrieb und die er in einem Brief seinem Vetter Hans Ehrenberg 64 mitteilte. Die Tagebuchnotiz beschäftigt sich mit der Frage, wie Geschichte zu denken sei und welche konstitutive Bedeutung das verantwortliche Subjekt für die Geschichte habe. Im Kontext dieser Frage muss sich Rosenzweig mit dem Grundproblem des Verhältnisses Gottes zu der denkbaren Geschichte befassen und schreibt dazu: „Daher weigern wir uns auch, ‚Gott in der Geschichte‘ zu sehen, weil wir die Geschichte (in religiöser Beziehung) nicht als Bild, nicht als Sein sehen wollen; sondern wir leugnen Gott in ihr, um ihn in dem Pro-

59 AQ 206 (JS 353). 60 Vgl. M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit (1954) 102. 61 AQ X (JS 19). 62 TI XVI (TI 31). 63 AQ 206 (JS 353).

64 Zu Hans Ehrenbergs Bedeutung für das Denken Rosenzweigs in der Auseinandersetzung mit

Hegel vgl. Heinz Jürgen Görtz, Tod und Erfahrung. Rosenzweigs „erfahrende Philosophie“ und Hegels „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins“ Düsseldorf (Patmos) 1984.

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zeß, durch den sie wird, zu restaurieren. Wir sehen Gott in jedem ethischen Geschehen, aber nicht in dem fertigen Ganzen, in der Geschichte; …“ 65 Diese Stelle erscheint wie die Vorwegnahme der später im Stern der Erlösung vorgetragenen Theorie der notwendigen Trennung der Urphänomene und des Ausganges des Denkens von dem „ereigneten Ereignis“, welche Trennung und welcher Ausgang nötig sind, um sowohl die Verantwortlichkeit des Menschen wie die Souveränität Gottes im Hinblick auf die Verantwortlichkeit des Menschen und die Selbständigkeit des Weltphänomens zu retten. 66 Dabei ist es auffällig, dass bereits hier ein „autrement qu’être“ behauptet wird – wir wollen die Geschichte „nicht als Sein sehen“ –, dass andererseits aber „in jedem ethischen Geschehen“ Gott gesehen wird; – Gott, der derart einerseits in dem ereigneten Ereignis des Gebotes der Offenbarung als der Gegenwärtige erfahren wird, – „Wie er dich liebt, so liebe Du!“ –, der sich aber andererseits in diesem Geschehen zugleich als der Absolute absolviert. In Rosenzweigs Stern der Erlösung findet sich dazu eine aufschlussreiche Überlegung, die zugleich bereits deutlich auf die spätere Verdeutschung des Gottesnamens mit dem persönlichen Fürwort ER vorverweist. Es handelt sich um die in dem Abschnitt „Grammatik des Pathos (Die Sprache der Tat)“ vorgetragene Erläuterung des „Stammsatzes der Erlösung“. Da sich Rosenzweigs Denken als Sprachdenken versteht, muss das in jeder Befolgung des Gebotes der Offenbarung – freilich un-teleologisch – ins Spiel kommende Woraufhin jener Schritte, die in der Befolgung des Gebotes „Liebe!“ gegangen werden, in der Sprache symbolisch lesbar sein. Aufgrund seiner im I. Teil des Stern dargelegten Phänomenologie der Urphänomene kann Rosenzweig nun aber zeigen, dass in dem „ereigneten Ereignis“ der als Offenbarung geschehenden Wirklichkeit die drei Urphänomene „Gott“, „Welt“ und „Mensch“ in einer bestimmten, durch eine Umkehr ihrer Phänomenalität gekennzeichneten Weise zusammentreten. Dies kann allerdings nur „unphänomenologisch“, nämlich durch das Sich-einlassen des Sprechenden mit diesem Ereignis selbst wahrgenommen werden. Denn in dem ereigneten Ereignis der von Rosenzweig ausdrücklich biblisch verstandenen Offenbarung kehrt sich das Phänomen der „Gottheit“ (das reine metaphysische Ur-phänomen Gott) in Beziehung zu dem reinen metalogischen Ur-phänomen der Welt um in das „Nichts-als-Prädikat“ des „gut!“ des Schöpfers 67 . In Bezug zu dem Menschen als dem metaethischen Selbst aber kehrt sich das Phänomen der Gottheit um in das „Nichts-als-Subjekt“ des göttlichen Ich. 65 GS 1, 112 66 Vgl. dazu auch Bernhard Casper, Franz Rosenzweig: Die gerettete Verantwortung. Über ein

Grundmotiv seines Denkens, in: Ders. Religion der Erfahrung. Einführungen in das Denken Franz Rosenzweigs. Paderborn (Schöningh) 2004, 157–176. 67 GS 2, 257 und 124–173.

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Dieses Ich zeigt sich als das Ich des Liebenden, das im Augenblick erfahren wird: dem Augenblick des Getroffenwerdens durch die, Geliebtwerden und Liebesgebot in einem offenbarwerdenlassende, göttliche Liebe 68 . Das ewige Wesen der Gottheit kehrt sich um „zur jeden Augenblick neuerwachten, immer jungen, immer ersten – Liebe“ 69 . Der verborgene Gott wird zu dem „ecce Deus fortior me, qui veniens dominabitur mihi“, wie Rosenzweig mit den Worten der Vita nuova Dantes sagt 70 . Auch bei Levinas findet sich in unserem Kontext das, „plus fort que moi“, das zumindest als eine Anspielung auf die Dantestelle verstanden werden kann 71 . Die Erlösung aber, oder „Die ewige Zukunft des Reiches“ muß, wenn immer sie „denkbar“, d.h. zu erhoffen sein soll und im Gebet erreicht werden kann, nicht nur die Gottheit und die Phänomene der metalogischen Welt und des metaethischen Menschen je für sich in Beziehung bringen, sondern Gott und Welt und Mensch miteinander schlechthin. Der wohl entscheidendste Durchbruch, der in Rosenzweigs Denken in der Auseinandersetzung mit Hegel geschieht, ist, dass diese Beziehung der Offenbarung und Erlösung, ausdrücklich in der Zeitlichkeit bedacht wird, in welcher sie durch den geschichtlichen (metaethischen), aber in der Offenbarung in die Verantwortung der Liebe gerufenen Menschen geschieht. Deshalb steht es für Rosenzweig denn auch außer Frage, dass die Erlösung als das schlechthinnige Zusammentreten von Gott und Welt und Mensch nicht erdacht werden und so zur Sprache gebracht werden kann, sondern dass sie vielmehr eben nur erhofft werden kann und erbetet werden muss. Die Zukunft des Reiches liegt weiter weg als jede dem Subjekt der Intentionalität in der Protention erreichbare Zukunft. Gleichwohl wird das Harren auf die Erlösung, das Beten um das Kommen des Reiches, in der Sprache sichtbar; und zwar in dem „Stammsatz der Erlösung“, der das göttliche „Ich“ aller Augenblicke der Offenbarung mit dem „gut!“ der Bejahung der Schöpfung durch den Schöpfer zusammenschließt; nämlich in dem „Er ist gut“ 72 . Wir können hier nicht den sprachtheoretischen Status dieses Satzes erläutern, der nach Rosenzweig überhaupt nur chorisch gesprochen werden kann, also durch eine Gemeinsamkeit von Sprechenden getragen sein muss, denen je die Offenbarung des Gebotes der Liebe widerfahren ist und die auf deren unausdenkliche Zukunft vertrauen. Worauf es uns hier ankommt, ist lediglich, zu zeigen, dass sich das Ich Gottes (welcher im Augenblick der biblisch verstandenen Offenbarung die Liebe gebietet) in der Hoffnung auf die Erlösung, im Erbeten des Reiches und also in dem in der Hoffnung und 68 Vgl. GS 2, 174–228. 69 GS 2, 178. 70 GS 2,178. 71 AQ 199 (JS 341). 72 GS 2,258.

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im Gebet möglichen Reden von Gott in die dritte Person: „ER“ verwandelt. Und dies allerdings derart, dass dadurch der hier, im Stammsatz der Erlösung genannte ER (ER ist gut) gerade jedem intentionalen Zugriff entzogen wird, dem jede dritte Person innerhalb des Phänomens Welt mit Notwendigkeit ausgesetzt ist. 73 Daher kommt es denn auch, dass das Getroffenwerden von der Liebe und dem Liebesgebot des „ecce Deus fortior me, qui veniens dominabitur mihi“ bereits im Ereignis der Offenbarung nur als diachroner Bruch zu erfahren ist; und erst recht jenes hoffende und betende Reden, in welchem das chorische Sprechen der Gemeinde sagt: „Denn ER ist gut.“ Die ganze Denkbewegung des Sterns der Erlösung ist dadurch gekennzeichnet, daß der „Welttag des Herrn“, der sich in der Kontinuität der Schöpfung als einer unendlich bejahten und in der freien Tat des geliebten und zu Liebe berufenen Menschen zugleich verwirklicht, und die diesem Welttag zugehörige doppelte Zeit von Natur und Geschichte, aufgebrochen werden in den „Gottestag der Ewigkeit“ 74 , d.h. also durchdrungen und durchschnitten von einer ganz anderen Zeit, der Zeit der Erlösung. 75 Das ER des Stammsatzes der Erlösung „ER ist gut“ kann also nur in der Zeitlichkeit eines diachronen Bruches gesprochen werden, welcher gleichwohl konstitutiv ist für das von der Offenbarung – dem Ruf in die Verantwortung für den Anderen – getroffene Dasein meiner selbst. Dieses Sprechen des Stammsatzes der Erlösung bedeutet ein Sich-anheimgeben an Gottes Zeit, welche die Zeit der Erlösung ist. Diese Zeit aber zeigt sich zugleich als die unvordenkliche, protologisch paradiesische und als die unausdenkliehe, eschatologische Zeit. „Die Einheit, die von der Philosophie wie eine Selbstverständlichkeit voraussetzungsmäßig für das All beansprucht wurde – für uns ist sie erst letztes Ergebnis, ja Ergebnis des Ergebnisses, ein Punkt, der schon so jenseits der ‚Bahn‘ liegt wie ihr göttlicher Ursprung jenseits ihres Anfangs“ 76 . Der Bruch beider Zeiten und die Durchdringung beider Zeiten wird erfahrbar in dem Ereignis des Getroffenwerdens von der Offenbarung, dem man in dem Denken von Levinas das Getroffenwerden von der Vorladung in die Verantwortung zur Seite stellen kann.

73 Mit der These „An diesem Satz (ER ist gut) müssen alle anderen Sprachformen anzuknüpfen

sein“ (GS 2, 258) hat Rosenzweig die Summe seines Sprachdenkens genannt: Den Zusammenhang von Sprache und der Sehnsucht nach Erlösung, die als Erlösung nur göttlich-weltlich-menschlich und zugleich zeitlich zu denken ist. Indessen harrt gerade dieses Sprachdenken als Sprachdenken noch seiner Ausarbeitung. 74 GS 2,287f. 75 Es darf hier erneut auf die oben Anm. 64 zitierte Arbeit von H. J. Görtz hingewiesen werden, die zeigt, in welcher Weise gerade diese Differenz zwischen „Welttag des Herrn“ und „Gottestag der Ewigkeit“ Rosenzweigs Antwort auf Hegel darstellt. 76 GS 2,287.

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2. Die Verdeutschung von Ex 3,14 Das Ernstnehmen dieses Bruches in der Erfahrung des Anspruches von Offenbarung führt bei Rosenzweig später dann auch zu der Verdeutschung des Gottesnamens mit dem in Versalien gesetzten ER. Die theoretische Bemühung Rosenzweigs um die Übersetzung des Gottesnamens kann man verfolgen vor allem in dem auf den Herbst 1925 zu datierenden Durchschreibeheft Rosenzweigs zu Exodus, in welchem die Bemerkungen Rosenzweigs zu Bubers Rohübersetzung festgehalten wurden. Rosenzweig konnte selbst damals infolge seiner Krankheit schon nicht mehr schreiben. 77 Der Übersetzungsentwurf Bubers zu Ex 3,14 zeigt, daß Buber zunächst den Luthertext „Ich werde sein, der ich sein werde“ übernehmen wollte. Rosenzweig wischt mit einem lapidaren „mit sein geht es nicht. Das ist im Deutschen hoffnungslos platonisiert wie in allen nachplatonischen Sprachen, das mittelalterliche Hebräisch nicht ausgenommen. Wir wollen doch nicht die Abscheulichkeiten der Septuaginta weitergeben“ 78 , die Lutherübersetzung und damit das ho on der Septuaginta vom Tisch. Den philologischen Grund dafür hatte er bereits in dem Durchschreibeheft zu Gen 7,6 genannt: „ ‚Hajah‘ hat ja nicht die Verstockheit unseres Seins, sondern die Plötzlichkeit eines Eintretens.“ 79 In einem späteren Brief an Martin Goldner heißt es: „Denn das hebräische ‚hajah‘ ist ja nicht wie das indogermanische ‚sein‘ seinem Wesen nach Kopula, also statisch, sondern ein Wort des Werdens, Eintretens, Geschehens.“ … „Nur weil dieser dir gegenwärtig Werdende dir immer gegenwärtig werden wird, wenn du ihn brauchst und rufst – ich werde dasein –, nur deshalb ist er dann unserem Nachdenken, Nach-denken freilich auch der Immerseiende, der Absolute, der Ewige, losgelöst dann von meiner Bedürftigkeit und meinem Augenblick, aber doch nur loszulösen, weil jeder zukünftige Augenblick eines jeden an der Stelle dieses meines jetzigen stehen könnte. Diese Ewigkeit wird also nur sichtbar an einem, an meinem Jetzt; dieses ‚absolute Sein‘ nur an meinem präsenten Dasein, jenes ‚Reine‘ nur am Unreinsten.“ 80 . Wenn Rosenzweig in seinem Durchschreibeheft zu Ex 3,14 dann fortfährt: „Die Worte sind nicht Philosophie der Bibel“, sondern ganz aus dem Augenblick heraus wachsend und dadurch freilich auch die Ewigkeit fassend. Der 77 Das Original des Durchschreibeheftes befindet sich im Martin-Buber-Archiv der Hebräischen

Universität Jerusalem. Die Überlegungen sind später auch in einem Brief an Martin Goldner vom 23. Juni 1927 eingeflossen und in den Aufsatz, “Der Ewige“. Mendelssohn und der Gottesname“, den Rosenzweig kurz vor seinem Tode 1929 schrieb. Dem Martin-Buber-Archiv sei an dieser Stelle gedankt dafür, daß es die Materialien zur Verfügung stellte. 78 Durchschreibeheft zu Exodus S. 8. Die Abschrift verdanke ich Frau Anna Bauer. 79 Durchschreibeheft zu Genesis S. 14. Die Abschrift verdanke ich Frau Anna Bauer, 80 GS 1, 1161.

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Gegenwärtige ist auch der Seiende, aber das Sein braucht nicht gegenwärtig zu werden“, dann wird darin die ganze Umkehr der Fundierungsverhältnisse deutlich, die sich in der Diachronie der Offenbarung zuträgt. Wie soll das Tetragramm, das die Septuaginta mit ho on wiedergegeben hatte, dann aber übersetzt werden? Die Überlegungen Rosenzweigs dazu basieren auf Vers 14 – in dem Entwurf Bubers auf Kolon 2 der S. 8: „Kolon 2 ist nun wie alle Namenserklärungen kein Name, sondern ein wirklicher gesprochener Satz, das wataumer (du sollst sagen), dem dann erst die Zusammenballung in den Namen, das watrika (du sollst nennen) folgt. Also: da das Gegenwärtigsein, das Zurstelle-sein nur so ausgedrückt werden kann: Ich werde dasein, als der ich dasein werde.“ 81 Das bedeutet aber für Kolon 5 des Buberschen Entwurfes: „Und Kolon 5 nun als wirklicher Name und ‚der‘ Name, beide Teile des Satzes zusammenschmiedend, nicht etwa in seiner ersten Hälfte schon enthalten (denn dort musste man noch fragen: was oder wie? Worauf dann die zweite Hälfte die Antwort gab), sondern ganz abgeschlossen gesagt: ICH BIN DA schickt mich zu euch.“ Ist „ICH-BIN-DA schickt mich zu Euch“ aber der sich offenbarende Name, der nur im Augenblick der Offenbarung selbst als erste Person gegenwärtig wird, so erscheint es schlüssig, in der sich der Offenbarung erinnernden und in der auf die Verheißung der Offenbarung vertrauenden Rede, den Gottesnamen mit dem persönlichen Fürwort in der dritten Person wiederzugeben. „Da bietet sich nun, da die vokativische Lösung sich als zu grotesk von selber verbietet, das persönliche Fürwort, das ja in seinen drei Personen nichts anderes bezeichnet als die drei Dimensionen des Mir-Gegenwärtigseins: die Anredbarkeit, die Vernehmbarkeit, die Beredbarkeit.“ 82 Und in dem Aufsatz „Der Ewige“: „Nur im Fürwort ballt sich die Bedeutung des Einen jeweils in einer der drei „Weisen Gegenwärtigen in der jeweils gemeinten Art von Gegenwart zu einem Wort zusammen. Im Fürwort natürlich, das nicht in der Objektivität der Erzählung oder berichteten Rede verschluckt wird, sondern mit der explosiven Kraft der Mündlichkeit aus der immer vergangenen Sprache des Buches in die Gegenwart hervorspringt …“ 83 Das Durchschreibeheft sagt zu dem nun allein aus dem in Versalien gesetzten ER bestehenden Kolon 8, 84 in ihm springe jetzt „das Asbaschgeheimnis des Raschbam herrlich hervor“, nämlich die Gleichsetzung des Tetragramms 81 Für die in Klammern beigegebenen Erklärungen vgl. Rachel Rosenzweig, Solidarität mit den

Leidenden im Judentum Berlin, New York. 1978, 90f.

82 GS 1, 1162. 83 GS 3, 806–807. 84 Vgl. dazu jetzt: Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit

Franz Rosenzweig (1954) 158. „So sollst du zu den Söhnen Jissraels sprechen: / ER, / der Gott unserer Väter …“

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JHWH mit dem „ehjeh“ „ich werde dasein“. 85 Diese „Ineinssetzung des fernen mit dem nahen“, 86 des „ganzen“ mit dem „eigenen“ Gott ist für Rosenzweig die „monotheistische Pointe“ und der „Offenbarungskern der Bibel“. 87 Man wird diese These mit jenem „Bedürfen des anderen und, was dasselbe ist“, – dem „Ernstnehmen der Zeit“, in welchem Rosenzweig den Kern seines „Neuen Denkens“ sieht, 88 zusammenlesen müssen, um zu verstehen, welche Schlüsselbedeutung die Übersetzung des Gottesnamens mit den in Versalien gesetzten ER hat. Dieses ER zeigt gerade nicht das „in der Objektivität der Erzählung oder der berichteten Rede verschluckte“ Er eines nur weltauslegenden Verhältnisses an, sondern den immer schon von jenseits des so verstandenen Seins her sprechenden ICH-BIN-DA, welcher in seinem ICH-BIN-DA die Zeit des in die Verantwortung für den Anderen gerufenen Menschen selbst geschehen macht. Die Zeit wird durch Ihn zu der „lebendig gewordenen Zeit“ vor der „das Verlangen des Menschen nach Ewigkeit“ schweigen lernt. 89

C. Das Bezeugen der Spur Nun soll hier nicht behauptet werden, dass alle Implikationen, die mit der Wiedergabe des Gottesnamens durch das persönliche Fürwort ER für Rosenzweig gegeben sind, auch für Levinas gegeben wären. Und erst recht soll nicht behauptet werden, dass Levinas sie von Rosenzweig übernommen habe. Sie scheinen mir aber ein erhellendes Licht auf das Denken von Levinas zu werfen. Es geht beiden offensichtlich um die Erschließung des Gottesverhältnisses aus dem Sich-ereignen dieses Verhältnisses selbst heraus. Während Rosenzweig in seinem „neuen Denken“ dieses aber in dem sich in jedem ursprünglichen Sprechen zwischen Menschen zutragenden Spiel zwischen den drei Urphänomenen zugänglich macht und für den Gottesnamen 85 Vgl. dazu Rachel Rosenzweig, a.a.O. „Rabbi Schmuel ben Meir (Raschis Enkel 1985–

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1174, Rameru/Nordfrankreich: sein Kommentar zur Weisung ist der sog. Rabbinischen Bibel, Migra’ot Gedolot, beigedruckt), bewies, daß JHWH auch vom grammatikalischen Standpunkt aus nicht andres ist als,ehjeh. Das ist der hauptsächliche tiefe einfache Wortsinn dieser Bibelworte, doch offenbart man sie keinem, es sei denn dem Demütigen“, d.h. denen, die keinen Mißbrauch mit dieser einfachen Erklärung treiben. Er war ein Vertreter des strengen Wortsinns, wich auch oft von den Erklärungen seines Großvaters ab und schrieb seine Exegese in einer Geheimschrift, bei der statt des ersten hebräischen Buchstabens a der letzte t, statt des zweiten b der zweitletzte s usw. benutzt wurde, in aschkenasischer Aussprache a-s-b-sch. Vgl. dazu bei Levinas das Zitat Is 57,19 (AQ 189), in welchem Gott spricht als der, der die Frucht der Lippen geschaffen hat: „Friede, Friede den Fernen und den Nahen“. GS 3, 810. GS 3, 151–152. GS 3, 815.

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das absolute persönliche Fürwort ER findet, geht Levinas von der immer neuen diachronen Begegnung mit dem Anderen aus, der als die uneinholbare Gabe des Anderen mich je als „er“ vorlädt; er selbst. Derart aber gerate ich in die Spur, deren Ursprung, – und man könnte darin die Ironie eines unausweichlichen Rückfalls in die Sprache der Metaphysik sehen –, Levinas dann mit einer klassischen tranzendental – generischen Abstraktbildung auf -tas 90 anzeigt: Illéité. Man könnte sprachpraktisch einen Widerspruch darin sehen, dass Levinas das Denken in das Verhältnis zu einer „illéité infinie“ führen möchte, die es aber gerade erlauben soll „prononcer le mot Dieu, sans laisser dire ‚divinité‘ “ 91 . Der Widerspruch löst sich, wenn man darauf achtet, dass die ganze Sprachhandlung, die ihren Inbegriff in dem Terminus „illéité“ findet, ihren performativen Sinn in der „subversion de l’essence en substitution“ 92 findet, in dem bezeugenden Einführenwollen dessen, der den Gedanken mitdenkt in die „trace“, den Weg eines Nachfolgens. Nur das Bedeuten der Spur „établit une relation avec l’illéité“ 93 . Dieses Bedeuten aber wird sichtbar in dem „retournement de l’heteronomie en autonomie“, d.h. der Verantwortung für den anderen. Diese erweist sich in ihrem Vollzug als „la façon même dont l’Infini se passe“ 94 , als „sagesse de l’amour au Service de l’amour“ 95 , als „la rationalité de la paix“ 96 .

90 Vgl. etwa veritas, bonitas usw. 91 AQ 206 (JS 353).

92 Vgl. dazu Ludwig Wenzler. Das Antlitz, die Spur, die Zeit. Zeitlichkeit als Struktur und als Denk-

form des religiösen Verhältnisses. Freiburg (Breisgau) Universität.Habil.-Schrift 1988.

93 EDEHH 199 (SpA 230). 94 AQ 189 (JS 325). 95 AQ 207 (JS 353). 96 AQ 203 (JS 348).

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IV. Der Sinn der Rede von Schöpfung Überlegungen im Anschluß an Emmanuel Levinas

Wer heute von Schöpfung spricht, stößt damit in der Öffentlichkeit zumeist auf Zustimmung. Denn mit diesem Wort assoziieren wir zumeist den Inbegriff dessen, was es angesichts der problematisch gewordenen Epoche der Technik im Umgang des Menschen mit der Wirklichkeit zu bejahen und zu bewahren gilt. Wer von Schöpfung spricht, meint damit für gewöhnlich, daß der Mensch, der so viel kann, doch nicht alles machen darf, was er machen kann. Er meint, daß es für das menschliche Handeln ein Maß gebe, gegen das der Mensch sich nicht vergehen dürfe, wolle er nicht selbst untergehen.

1. Exposition des Problems Indes kommt, wer von Schöpfung redet, sehr schnell in Schwierigkeiten, wenn er genauerhin sagen soll, was er unter Schöpfung denn verstehe; – und vollends, wenn er dies durch Reflexion begründen soll. Denn die Rede von der Schöpfung ist keine wissenschaftliche Rede. Sie hat vielmehr ihren Ursprung in dem biblischen Glauben. Und nur als eine solche wurde sie denn auch zugespitzt hin auf das Bekenntnis zu der Welt als einer Schöpfung aus dem Nichts. Freilich mußte in dem Maß, in dem der biblische Glaube in die Welt des Griechentums eintrat, dieser Glaube auch mit den Mitteln des griechischen Denkens interpretiert werden. Dies geschah einerseits durch die Übertragung der Kosmogonie, die Platon im „Timaios“ gegeben hatte, auf das Verhältnis von Gott und Welt und andererseits durch die Interpretation des Verhältnisses von Gott und Seiendem durch die „Metaphysik“ des Aristoteles. Das Verhältnis zwischen Gott und dem Kosmos stellte sich dar als das Verhältnis zwischen dem unbewegten Beweger und dem Seienden als dem Insgesamt des Bewegten. Dass Schöpfung dies und nur dies meine, mußte aber in dem Maß fraglich werden, in welchem das Sein des Seienden, so wie dies letztendlich in der Neuzeit geschah, durchgängig und in erschöpfender Weise nur noch als das Gefüge von endlichen Kausalketten verstanden wurde. Die Frage, ob die Welt als Schöpfung verstanden werden dürfe, so wie der Glaube dies tut, wird in diesem Verständnis von Wirklichkeit dann nämlich mit Notwendigkeit zu der Frage danach, ob gezeigt werden könne, dass der Kosmos sich nicht aus sich selbst entwickelt habe, sondern ihm vielmehr ein Schöpfer als eine vorgeordnete Ursache vorangehe. Gab es vor dem Urknall einen Schöpfer?

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Der Sinn der Rede von Schöpfung

Die Frage nach dem Sinn der Rede von Schöpfung wurde insbesondere im Horizont der spätabendländischen Gestalt von Metaphysik deshalb zu der Frage, ob man beweisen könne, daß der Kosmos endlich und nicht vielmehr unendlich sei, derart, daß er eines ihm transzendenten Schöpfers denn auch gar nicht bedürfe, sondern sich vielmehr selbst genüge. Nun hat schon Thomas von Aquin, nachdem er anfänglich meinte, diese Frage mit den Mitteln der Vernunft klären zu können, eingesehen, daß eine solche Klärung nicht möglich ist. Er hielt eine zwar nicht der Natur, wohl aber der Dauer nach unendliche Welt mit dem Glauben an Gott als den Schöpfer durchaus für vereinbar. 1 Und in der Neuzeit hat Kant gezeigt, daß und warum die Frage, ob die Welt einen Anfang in der Zeit habe, oder ob sie keinen Anfang in der Zeit und keine Grenzen im Räume habe, mit den Mitteln der Vernunft nicht zu entscheiden ist. 2 Dieser Befund legt nun aber die Vermutung nahe, daß mit dem Bekenntnis des Glaubens zu der Welt als Schöpfung womöglich überhaupt keine Aussage über ein endliches Abhängigkeitsverhältnis gemacht werden soll, das als Kausalität im Sinne des neuzeitlich verstandenen Satzes vom zureichenden Grund begriffen werden kann. 3 Vielmehr steht zu vermuten, daß das Bekenntnis zu dem Sinn des Seienden als der Schöpfung aus Nichts eher das meint, was wir im Sinne einer formalen Anzeige, vorläufig und in heuristischer Absicht, eine – vielmehr die – „Grundqualität“ aller Wirklichkeit nennen können.

2. Die Frage nach dem Sinn von Sein Wie aber kann das Denken zu dem, was hier formal angezeigt wird, einen zureichenden Zugang gewinnen? Kann dieser Zugang überhaupt auf dem Wege einer Metaphysik gewonnen werden, die Sein ausschließlich als „Vorhandenheit“ denkt? Heidegger hat der „christlichen Weltauffassung“ vorgehalten, daß sie, insbesondere im Zuge der Rezeption des Aristotelismus, seit dem 13. Jahrhundert das Sein des Seienden vorschnell derart verstehe. Das Vorhandene aber werde als „Hergestelltes“ verstanden und derart als ens creatum. „Die antike Ontologie war in ihren Fundamenten und Grundbegriffen trotz anderer Ursprünge der christlichen Weltauffassung und Auffassung des Seienden als ens creatum gleichsam auf den Leib zugeschnitten. Gott ist als das 1 Thomas von Aquin, De aeternitate mundi n 306 und 310 und Richard C. Dales, Medieval

discussions of the eternity of the world, Leiden u.a. 1990, 132–140.

2 KrV A 426ff., B 454ff. Die Schriften Kants werden zitiert nach der Akademieausgabe, Berlin

1910–1955.

3 Vgl. dazu I. Kant, Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine

ältere entbehrlich gemacht werden soll, BA 52 Anm. [= Akademieausgabe 8,213].

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ens increatum das herstellungsunbedürftige Seiende schlechthin und für alles andere Seiende die causa prima.“ Dieses „Schaffen der Schöpfung“ hat aber „den allgemeinen ontologischen Charakter des Herstellens“. 4 Gegenüber diesem Verständnis der Wirklichkeit muß aber gefragt werden: Gibt es denn nicht Seiendes, „das seinem Seinssinn nach gerade nicht als Vorhandenes begriffen werden kann?“ – und folglich denn also auch nicht als Hergestelltes? Ist nicht vielmehr „das Seiende, was am wenigsten als Vorhandenes begriffen werden kann, das Dasein, das wir je selbst sind […]“? Und zeigt sich derart dann das Dasein nicht gerade als „dasjenige, auf das alles Verstehen von Vorhandenheit, Wirklichkeit zurückgehen muß?“ 5 Was Heidegger hier und auch an anderen Stellen über das ohne Zweifel im neuzeitlichen Christentum landläufige Verständnis des Seienden als eines ens creatum ausführt, weist uns in der Tat auf die Notwendigkeit hin, hinter den scheinbar selbstverständlichen Sinn von Sein als „Anwesenheit“ und „Vorhandenheit“ zurückzufragen, um mit dem Zugang zu einem ursprünglicheren Verständnis von „sein“ 6 vielleicht auch einen ursprünglicheren Zugang zu der bekennenden Rede von Schöpfung zu gewinnen. Ein solcher ursprünglicherer Zugang zu dem Sinn von „sein“ kann nun aber nur in einer phänomenologischen Besinnung gewonnen werden. Dabei dürfen wir mit Husserl davon ausgehen, daß phänomenologische Forschung „Korrelationsforschung“ bedeutet 7 ein Sich-Einlassen „mit dem Verhältnis selbst“, in welchem sich das Denken findet. Wir werden über Husserl hinaus mit Heidegger dieses Verhältnis aber als das Verhältnis verstehen, welches sich dadurch „ereignet“, daß das Dasein als jenes Seiende, „dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“, 8 „sich zeitigt“. Erst in diesem Sinne gilt: „Jede phänomenologische Analyse ist wesentlich Zeitanalyse.“ 9 Phänomenologische Besinnung kann derart nur geschehen als Hermeneutik des sich selbst aufgegebenen geschichtlichen Daseins, das sich indessen stets als In-der-Weltsein verwirklicht. Nur in dieser Hermeneutik menschlichen „seins“gewinnt das Denken Zugang zu dem Sinn von „sein“. Allerdings muß sich menschliches sterbliches „sein“, das sich selbst als Inder-Welt-sein aufgegeben ist, immer schon als „Dasein mit anderem Dasein“ verstehen. 4 Ga 24,167 und 168. 5 Ga 24,169.

6 Um auf den ursprünglich verbalen Charakter des mit dem Zeitwort „sein“ Gemeinten hinzu-

weisen und ein substantivierendes Vorverständnis auszuschalten, schreiben wir im folgenden den Infinitiv dieses Wortes zumeist klein. 7 Vgl. dazu Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua 1,38. Allerdings hat bereits Hermann Cohen, besonders in seinem Spätwerk, den Terminus Korrelation in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt. 8 SuZ, 12. 9 Eugen Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939, Den Haag 1966, 16.

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Von diesem „point de départ“ aus, in dem wir uns über Heidegger hinaus mit Levinas als in den nicht mehr hintergehbaren Ausgangspunkt für die Frage nach dem Sinn von „sein“ stellen, kann es uns womöglich gelingen, einen Zugang zu dem Verständnis von Sein als Schöpfung zu gewinnen.

3. Der Sinn von „sein“ in seinem Sich-ereignen zwischen dem Anderen und mir Denn das Problem des „Anderen“, das im Philosophieren unseres Jahrhunderts zugleich mit dem Problem der Sprache und dem der Geschichte so deutlich zutage getreten ist, lenkt die Besinnung des Denkens auf einen Sinn von „sein“, der einem Denken verborgen bleiben mußte, welches Sein ausschließlich als Vorhandenheit verstand. Vermutlich war Franz Rosenzweig der erste, der dieses „neue Denken“, das einen neuen Zugang zu dem Sinn von „sein“ ermöglicht, in seinem Wesen mit der Formel erfaßte: Menschsein als sprachliches Dasein geschehe „im Bedürfen des Anderen, und was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit“. 10 Rosenzweig geht bei dieser Entdeckung des Anderen als des Anderen ausdrücklich auf Kants Entdeckung der Freiheit als dem „Wunder in der Erscheinungswelt“ 11 zurück und damit auf die Einsicht in den „Primat der reinen praktischen Vernunft“ und die dieser „in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ 12 gegebenen obersten Handlungsmaxime des kategorischen Imperativs, vornehmlich in dessen zweiter Fassung. 13 In derselben denkgeschichtlichen Überlieferung steht Emmanuel Levinas, der, den von Heidegger aufgedeckten ursprünglicheren Sinn von „sein“ aufnehmend, in hermeneutischer Deskription am deutlichsten das Geschehen von „sein“ zwischen dem Anderen und mir erschlossen hat. Ging insbesondere das neuzeitliche Denken davon aus, daß die erkennende Erschließung von Sein in dem erkennenden ego cogito fundiert ist und somit jede -logie notwendig „Egologie“ ist, so deckt Levinas in einem Durchbruch durch die Phänomenologie Husserls auf, daß das Ich sich immer schon in dem Verhältnis des „Angegangenwerdens von dem Anderen“ findet, den es intentional nicht einholen kann. Zeitlich zeigt sich dies darin, daß ich den Anderen als den Anderen nicht vergegenwärtigen kann. Denn er besteht als der Andere in seiner Freiheit; das heißt er kann mit sich und seinem In-derWelt-sein frei etwas neu beginnen. Eben dadurch wird aber ständig die mir 10 GS 3,151–152. 11 GS 3,127.

12 KpV A 216. 13 GMS BA 66–67: „Handle so, dal! du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der

Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“

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durch mich erschlossene Welt als Totalität in Frage gestellt. Das durch mich geschehende Welterschließen – und derart „sein“ – ist nicht alles. Sondern es „gibt“ noch „anderes“. Dies wird mir am unausweichlichsten dadurch deutlich, daß es den anderen Menschen gibt. Dieses Angegangenwerden durch den für mich intentional uneinholbaren Anderen – und darin auch durch das andere –, „erleide“ ich immer schon. Dieses Leiden ist ein Leiden, das die Allmacht meines cogito als eines intentional entwerfenden immer schon von Grund auf in Frage stellt. Es zeigt sich als ein Leiden, das allem Leiden, das als mein Akt angesehen werden kann, schon vorausliegt und insofern von Levinas „passivité plus passive que toute passivité“ genannt werden kann. Aber eben diese, all meinem intentionalen Welterschließen vorausliegende Korrelation des Erleidens „konstituiert“ mich. Sie ereignet sich immer schon und ständig neu. Und nur dank dieses Ereignisses bin ich. Insofern dieses Ereignis aber dank des Anderen als des Anderen selbst geschieht, hat dieses diachron sich zutragende, die Synchronien meiner Welthabe störende und mich dennoch zugleich in mein Menschsein einsetzende, „Verhältnis“ einen „ethischen“ Sinn. Allerdings darf Ethik hier dann nicht als metaphysica specialis verstanden werden. Das Ethische hat hier den ursprünglicheren Sinn, dem gemäß es von Anfang an zu meinem Menschsein gehört, daß ich mir nur „in dem Geschehen“ des Verhältnisses zu dem „Anderen gegeben“ bin. 14 Ich finde mich in mein Menschsein dadurch eingesetzt, daß ich „verantwortlich“ bin. Ich muß dem Anderen als dem Anderen selbst antworten. Und was dabei auf dem Spiel steht, ist nicht einfachhin mein Mir-vorwegsein, so wie dies nach der bekannten Strukturformel für die Sorge in „Sein und Zeit“ scheinen könnte. 15 Vielmehr ist es unser gemeinsam gelingensollendes „sein“, – unser „Heil“. Wiederum könnte man dies bei Kant in dem „Reich Gottes“ als dem Worumwillen des im kategorischen Imperativ mich einfordernden sittlichen Sollens präfiguriert sehen. Levinas beschreibt dieses Geschehen aber, anders als Kant, in seiner diachronen Zeitigung selbst. Ich finde mich durch den Anderen als den Anderen „vorgeladen“ 16 und derart als „ôtage des autres“. 17 Dadurch aber erhalte ich die Chance, je wieder zu meiner Identität zu gelangen, welche sich als die Identität dessen zeigt, der zur Verantwortung für den Anderen „erwählt“ ist. 18 Das heißt meine vermeintlich in der Substantialität der natura rationalis oder neuzeitlich in 14 Über die Bedeutung des Ethischen bei Levinas vgl. AQ 120, Anm. 35 und 189. Vgl. ausserdem

unten 133–143 „Die Seinsfrage, der Andere und das Geschehen des religiösen Verhältnisses“ .

15 SuZ, 196. 16 AQ 164 (JS 284). 17 AQ 163 (JS 282).

18 Vgl. AQ 163 (JS 282).

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dem ego-cogito gründende Identität wird aufgehoben in eine „geschichtliche“ Identität der geschehenden Verantwortung. Und ich bin der einzige, der diese Verantwortung wahrnehmen kann. Ich finde mich gerade in dem sittlichen Sollen der Verantwortung für den Anderen in meine Freiheit gerufen. In der Tatsächlichkeit dieser Verantwortung aber bin ich mir unbedingt „selbst“ gegeben „aus dem Nichts endlicher Voraussetzungen“ heraus. Denn dies, daß ich mich so, als Verantwortlicher, – daß niemand mich hier vertreten kann –, gerufen vorfinde, dies ist durch keine endliche Ursachenkette zu erklären. Wäre dies durch eine Kausalkette zu erklären, so wäre ich es „nicht selbst“, der als er selbst – unvertretbar – in die Verantwortung gerufen ist. Ich hätte dann immer ein mich von der Schuld befreiendes Alibi. Derart zeigt sich also: Ich finde mich selbst, ohne daß dafür eine arch¯e namhaft zu machen wäre, in mein Selbstsein als Verantwortlicher eingesetzt: ex nihilo. Dies hat selbst Nietzsche gesehen, der angesichts der Durchstreichung aller Werte und des dann bleibenden Nichts doch das „stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick“ 19 als den Ausgangspunkt für das Denken stehen ließ – allerdings ohne diese Verantwortung als eine zu verstehen, die ich gegenüber dem Anderen habe. In der Einsicht, daß ich mir selbst als der unvertretbar in die Verantwortung Vorgeladene unbedingt selbst gegeben bin und dies nicht aus endlichen Gründen erklärt werden kann – es mir andererseits aber auch nicht freisteht, mich so zu wollen oder nicht so zu wollen, – scheint mir ein primordialer Zugang zu der Phänomenalität von „unbedingtem Sich-Gegeben-sein aus dem Nichts“ zu liegen; der Zugang zu einer „Korrelation“, die einerseits als Eingesetztsein erfahren wird, das heißt die sich nicht in „Selbstmächtigkeit“ gründen kann; die andererseits aber als Korrelat auch nichts Endliches, keine namhaft zu machende arch¯e angeben kann. Vielmehr weiß ich nur: Es „ist“ unbedingt und grenzenlos so, „daß“ ich verantwortlich bin. Ich bin für mich selbst in dieser Erwählung zu der Verantwortung unbedingte „Gabe“. In der Konkretion des Geschehens meines geschichtlichen Daseins wird mir dieses grundlose Eingesetztsein in die Verantwortung aber „offenbar“ in dem Verhältnis zu dem anderen Menschen „als“ dem anderen. Dieser geht mich als er selbst an gerade in seiner von meiner welterschließenden Intentionalität uneinholbaren Freiheit – als „Wunder in der Erscheinungswelt“. Er entzieht sich so gerade „als“ er selbst jedem Erklärungsversuch, jeder Einordnung in eine Kausalkette. Derart wird er mir offenbar als unbegründbare und offensichtlich doch unbedingt gegründete „Gabe“, die zu empfangen und anzunehmen ich gerufen bin.

19 Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, in: Sämtliche Werke. [KSA] hg. G. Colli/M.

Montinari. München (DTV) 1980, Bd. 5, 294.

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Und besteht darin nicht ursprünglich die Phänomenalität dessen, was man, bei Einklammerung aller etwa am Modell des Herstellens abgelesenen Vorverständnisse, unter dem unbedingten Sich-Gegebenwerden aus dem Nichts verstehen kann? Generell gilt: „La création est le fait que l’intelligibilité m’est anterieure.“ Aber ihren konkreten Sitz im Leben gewinnt diese Erfahrung zunächst in der Erfahrung des Anderen, der sich in seinem Angesicht zeigt: „Nous arrivons à l’idée de création en partant de l’expérience du visage“. 20 Das Verhältnis des sich zeitigenden Daseins zu dem „Schöpfer“, wenn es denn gestattet ist, dieses Wort des Glaubens nun in eine hermeneutische Phänomenologie einzuführen, erschließt sich dann als die sich nur in der Wahrnahme des Anderen und der Verantwortung offenbar werdende „relation dans l’indépendance“. Die „Trennung“ zwischen dem im Angesicht des Anderen sich selbst aufgegebenen „Selbst“ und dem „Anruf“, der mich selbst in die Verantwortung ruft, erweist sich hier als „die eigentliche Konstitution des Denkens“. 21 Das Verhältnis, um das es hier geht, kann nur als ein „paradoxes“ gedacht werden. Denn die Beziehung der Abhängigkeit gibt hier dem Abhängigen gerade seine Unabhängigkeit als solche. “Die Schöpfung aus Nichts zerbricht das System, sie setzt ein Seiendes außerhalb jeden Systems, d.h. dort, wo seine Freiheit möglich ist.“ 22

Deshalb kann die Relation, um die es hier geht, auch nicht mittels der aristotelischen Kategorie des pros ti gedacht werden. Sie kommt nicht als Bestimmung an einer anwesenden Substanz oder als Beziehung zwischen vorliegenden Substanzen vor. Vielmehr zeigt sie sich erst in ihrem diachronen SichEreignen selbst - und zwar derart, daß durch dieses Sich-Ereignen offenbar wird, daß das „correlatum“ des Verhältnisses, um das es hier geht, nie in eine abgeschlossene Gegenwart eingeholt werden und mit dem den Zugang zu dem Verhältnis gewährenden Selbst verglichen werden kann. Deswegen bleiben der phänomenologisch beschreibenden Sprache hier denn auch nur Anzeigen wie die „Herrlichkeit des Unendlichen“ oder „Illeité“: immer wieder ER. 23

20 Emmanuel Levinas, Liberté et commandement, Saint-Clement-la-Riviere 1994, 271. 21 TI 77 (= TU 147) „La séparation est la constitution même de la pensée“.

22 TI 78 (= TU 149) „La création ex nihilo rompt le système, pose un être en dehors de toute

système, c’est à dire là où sa liberté est possible“.

23 Vgl. AQ 191, 206 und EDEHH 187–202.

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4. Eröffnet sich durch diesen Zugang die Bedeutsamkeit von Wirklichkeit überhaupt? Die Schwäche dieser Erschließung der Rede des Glaubens von Schöpfer und Schöpfung könnte man darin sehen, daß sie sich einseitig auf die Phänomenalität der sich selbst aufgegebenen und zur Verantwortung für den Anderen herausgeforderten Freiheit stütze. Gerät diese Deutung der Rede des Glaubens nicht in Gefahr, das aus dem Auge zu verlieren, was eine ältere Theologie, und vornehmlich die des 18. Jahrhunderts, mit der Gleichsetzung von Natur und Schöpfung erreichte? Kann ein derart verstandener naturphilosophisch-ontologischer Sinn von Schöpfung aufgegeben werden? Führt die These, die, soweit ich sehe, als erster Hermann Cohen aufgestellt hat, daß nämlich der „eigentliche Sinn des monotheistischen Schöpfungsbegriffes in der Ethik“ liege 24 und in deren Nachfolge Levinas sich in gewisser Weise findet, nicht zu einem Verlust der „Ehrfurcht vor der Schöpfung“, insofern diese die nichtmenschliche Wirklichkeit meint? Mit anderen Worten: Liegt einer Erschließung der Rede des Glaubens von Schöpfung, wie wir sie zu eröffnen versuchten, nicht ein ungerechtfertigter Anthropozentrismus zugrunde, der die doch so offensichtlich marginale Stellung des Menschen im Kosmos aus den Augen verliert? Dazu ist, so meine ich, folgendes zu sagen: Daran, daß die Entwicklung der modernen astrophysikalischen Kosmologie uns zu sehen gelehrt hat, welche Randstellung der Mensch im Kosmos einnimmt und in welche uns übergreifenden und jedem menschlichen Vermögen entzogenen Gesetze wir mit unserem bißchen Leben einbegriffen sind, daran kann keinerlei Zweifel sein. Pascals Wort von den unendlichen Räumen, „deren Schweigen mich schaudern macht“, 25 ist angesichts unserer heutigen Erfahrung des Kosmos ein eher noch gefüllteres Wort geworden. Dennoch können wir nicht daran vorbeisehen, daß der einzige Ort, durch welchen uns „Welt zugänglich“ wird, „wir selbst“ sind. Wir selbst sind gleichsam das einzige Schlüsselloch, durch welches uns die Welt als das Insgesamt der Sachverhalte zugänglich wird; mit Kant: als die Welt der durch unser Hinsehen sichtbar werdenden Erscheinungen, die sich indessen in der Sinnlichkeit räumlich-zeitlich verifizieren lassen. Und auch wir selbst werden uns nur so zugänglich. Was Heidegger über Kant hinaus aufdeckte, ist aber dies, daß die Konstitution der jeweiligen geschichtlichen Welt als des Horizontes, in dem jeweils alles Seiende in seinem Sein erscheint, durch unser „Uns-zeitigen“ geschieht.

24 Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Köln 1959, 77. 25 Blaise Pascal, Œuvres complètes. Pensées n. 91. Ed. Jacques Chevalier, Paris 1954, 1113.

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Derart ereignet sich jeweils wieder die Menschen zugängliche Welt. Welchen Sinn aber hat dieses Sich-ereignen und damit der Sinn von Sein? Gehen wir von dem aus, was wir mit Levinas zu zeigen versuchten, daß nämlich der Sinn menschlichen „seins“ in seinem Sich-zeitigen letztlich in der Herausforderung zum Antworten auf den Anderen besteht, daß darin die unhintergehbare Schuldigkeit des Menschen besteht, durch die er in das Geschehen seines Selbstseins eingesetzt ist, dann tritt der Sinn der „Wirklichkeit überhaupt“ und im Ganzen, insofern sie „für“ den Menschen und von ihm sagbare Wirklichkeit ist, in dieses Licht. Anders gesagt: Die Erkenntnis der Sachverhalte, aus denen die mir jeweils zugängliche Welt besteht, mit Kant: die Erkenntnis der phainomena, ist durchaus eine sich gebende Erkenntnis, die meine produktive Einbildungskraft nicht einfachhin „machen“ kann. Aber diese so verstandene Welt erscheint als eine ständig nur relative, über deren absoluten Sinn nichts auszumachen ist. Auf einen solchen absoluten Sinn von „sein“ stoßen wir erst in der Grundsituation, in der wir uns selbst als Freiheit gegeben und aufgegeben sind – in der Herausforderung durch den Anderen. Hier ist keine Ausflucht mehr möglich. Hier finden wir uns als wir selbst und doch zugleich im Vernehmen einer absoluten Forderung. Und in das Licht dieser Forderung, mich als der Verantwortliche zu verwirklichen, tritt denn auch die – immer nur vorläufige – Erkenntnis der Sachverhalte der Welt. Denn so sehr die den Sachverhalten immanenten Gesetze mir auch vorgegeben sind, so sehr muß ich andererseits mit den Sachverhalten meiner und unserer Welt doch „umgehen“. Ich beginne mit ihnen ja ständig etwas, schon dadurch, daß ich sie mir erkennend erschließe. Wissenschafttreiben ist selbst eine Tätigkeit der praktischen Vernunft. Welches aber ist der Sinn meines Umgehens mit der Wirklichkeit, durch das ich mich zeitige? Dieser erschließt sich nur aus der Grundsituation, die Levinas mit dem „Leibbürge-sein-für-den-Anderen“ angezeigt hat und auf die in einem noch ungeschichtlichen Denken der kategorische Imperativ hinweist. Der „Sinn von sein“, so könnte man sehr einfach sagen, liegt darin, daß es mit dem Anderen/den Anderen und mir „gut weitergehe“. Genauer müßte man sagen: Der Sinn von sein, der sich für uns gerade auch und allererst in unserem Umgang mit dem wissenschaftlich zu erhebenden sächlichen sein herstellt, ist der, daß wir mit diesem „sein“ als einem „zukünftigen“ heil werden wollen. Der Sinn von „sein“ als der, auf den hin wir uns in unserem Dasein vorweg sind, liegt in dem „Erlöst-werden“. Von dieser Daseinszeitigung insgesamt her gewinnt auch unser Erschließen von Welt, als der im Sachverhalten bestehenden, erst seinen Sinn. Die Herausforderung zu der Mitarbeit an dieser Geschichte der Erlösung aber trifft mich in der Ursituation der grundlosen Erwählung zu der Verantwortung für den Anderen. In dieser Situation geht mir das mein sterbliches Vermögen übersteigende Verhältnis auf, in welchem ich mich als in einer

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vorgängigen Passivität schon finde. Daß ich mich diesem Verhältnis anvertraue, mich in es hinein freigebe, entschlüsselt mir den Sinn nicht nur meines höchsteigenen Daseins, in dem ich unvertretbar bin, sondern den Sinn der mir zugänglichen und mir im Handeln aufgegebenen Welt. Oder von dem Worumwillen her gelesen: Gott hat die Welt geschaffen „nur um der tora willen“. 26 Der Sinn der Rede von „Schöpfung“ entschlüsselt sich von der „Offenbarung“ der unbedingten und grenzenlosen Anforderung her, die mir in der Leibbürgschaft für den Anderen aufgeht und deren Worumwillen die „Erlösung“ ist. 27 Die Wirklichkeit darf deshalb als Schöpfung verstanden werden, „weil“ sie die in meinem Umgang mit ihr zu verantwortende ist. Sie wäre das nicht, wenn es neben ihr nur das Nichts gäbe. Denn dann wäre alles, was ich tue, beliebig. Sie wäre das auch nicht, wenn sie als solche göttlich wäre. Denn dann könnte ich ebenso tun, was ich wollte. Alles wäre nur ein Sich-Darstellen Gottes selbst. Derart setzt sich das Verständnis von Sein als Schöpfung in aller Deutlichkeit von einem sowohl „nihilistischen“ wie „pantheistischen“ Verständnis ab. Erst dort, wo „Gott“ , der „verborgene und dennoch nicht unbekannte“ – denn er geht mich ja in der Herausforderung an verantwortlich für den Anderen zu sein – und der „Mensch“ als der unvertretbar verantwortliche klar voneinander geschieden gedacht werden und die „Welt“ als die immer noch unfertige verstanden wird, die jedoch dem Menschen zu der je neuen Gestaltung aufgegeben ist, kann sinnvoll von Schöpfung gesprochen werden. Nur in diesem Kontext kann für ein hermeneutisches Denken sich der Zugang zu der glaubenden Rede von Gott und Schöpfung erschließen.

26 GS 3,84, vgl. 2,455 und 3,522. 27 Deshalb gilt: „Wer von der Stimme der Offenbarung noch nicht erreicht ist, hat kein Recht,

den Gedanken der Schöpfung, als wäre er eine wissenschaftliche Hypothese, anzunehmen.“ (GS 2,149). Von Schöpfung kann sinnvoll nur in einem zugleich revelatorischen wie soteriologischen Sprachgebrauch gesprochen werden.

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V. Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zur Verantwortung für den Anderen 1. Hinführung Seit dem Beginn des abendländischen Denkens stand das Interesse an der Identität im Mittelpunkt alles Philosophierens. Das to gar auto des Parmenides 1 gibt davon ebenso Zeugnis wie die Suche nach dem on he on als dem inneren Worumwillen der prima philosophia bei Aristoteles 2 . Und auch den Thomismus des Hochmittelalters kann man mit Recht als „Identitätssystem“ verstehen und damit in eine Analogie zu den Identitätssystemen des Deutschen Idealismus bringen 3 . Die Suche nach der Identität erweist sich dabei in einem und demselben Akt als die Suche nach dem Ursprünglichen, d.h. die Suche nach dem, was die Seienden bei sich selber sind, wie als die Suche nach dem ursprünglichen Sein des Fragenden. Denn dieser kann als Fragender nur zu sich selbst, d.h. zu seiner Freiheit kommen, wenn er als der sterbliche vernünftige Mensch zu den Seienden in ihrer Wahrheit gelangt. Die Suche nach der „Wahrheit“, die „Euch freimachen wird“ (Joh 8,32), kann insofern in der Tat als das movens alles Philosophierens und aller Wissenschaften verstanden werden. Nur durch die Einsicht in das, was ein jedes ursprünglich als das von seinem Grunde her mit sich Identische ist, findet auch der fragende Mensch zu seiner Identität, zu seinem Selbstsein, in welchem er von Grund auf mit sich selbst eins und also frei sein kann. Die Suche nach diesem Grunde der Wahrheit als der Selbigkeit, die sich in vor- und außereuropäischen Kulturen in einem mythischen Verständnis der Wirklichkeit artikulierte, hat sich in den mehr als zwei Jahrtausenden des abendländischen Denkens an dem mit dem Wort „sein“ Gemeinten festgemacht, als an der Anzeige für das umfassend Ursprüngliche. Zu ihm muß das zwischen den Seienden hin und her gehende Denken aufsteigen, um in solchem dialegesthai je wieder seine eigene Identität zu erlangen. Dabei wurde stets vorausgesetzt, daß der Denkende diese Identität auch wirklich erlangen könne. Denn er findet sich als die psyche pos ta panta 4 , oder christlich: als das Ebenbild Gottes, in dem Sein, welches Identität gibt, schon gegründet. Er

1 Fragment 3, Diels I,231. 2 Metaphysik 1003 a 21.

3 Vgl. dazu Gustav Siewerth Der Thomismus als Identitälssystem, Düsseldorf 1979 (= GW II). 4 Aristoteles. Peri Psyches III 431 b 21.

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braucht sich dieser Gründung nur wiederzuerinnern 5 . Hegel sucht von hierher denn auch, die Identität des geschichtlichen Menschen in der Geschichte zu gewinnen. Durch die neuzeitlichen objektivierenden Wissenschaften, welche sich ausschließlich an dem jeweils einzelnen festmachen, das in seiner hypothetischen Gegenständlichkeit exakt erschlossen wird, gerät dieses Verständnis von Identität aber in eine tiefe Krise, „welche das Fachwissenschaftliche in seinen theoretischen und praktischen Erfolgen nicht angreift und doch ihren ganzen Wahrheitssinn durch und durch erschüttert“ 6 . In dieser Krise sucht die Phänomenologie Husserls einen neuen Stand für das Selbstverständnis des Menschen zu gewinnen, indem sie es unternimmt, unter Einklammerung aller Vorverständnisse sich ursprünglich mit der „Korrelation“ 7 , mit „der tiefsten Wesensverbundenheit von Vernunft und Seiendem“ als dem „Rätsel aller Rätsel“ unmittelbar einzulassen 8 . Im Horizonte dieses Sich-Einlassens entdeckt Heidegger schließlich die Zeitigung des sterblichen Daseins als des Inder-Welt-seins und schließlich das Ereignis als das Sich-zeitigen des Gevierts, in welchem „Sein“ sich je wieder in Offenbarung und Verbergung erschließt 9 . Für Levinas aber erschließt sich dieses sich zeitigende Verhältnis, in welchem Menschsein sich als geschichtliches je neu zuäußerst ver-wirklicht als die geschehende Verantwortung.

2. Verantwortung in ihrem Ursprung in der Zeitigung des Menschseins Um die Bedeutung dieses Ausgangs von Verantwortung für die in jedem ernsthaften Philosophieren sich stellende Frage nach Identität in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation zu ermessen, darf zunächst einmal darauf hingewiesen werden, daß Verantwortung ein Wort ist, welches sich als Summentitel für das, was Menschsein ausmacht, überhaupt erst mit dem

5 Vgl. Platon. Menon 85 d und Phaidon 75 e. 6 Edmund Husserl. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänome-

nologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg., eingel. u. mit Registern vers. v. E. Ströker. Hamburg 1982, 12. 7 Über Phänomenologie als Korrelationsforschung vgl. Hua I 38; Ideen I 185 = Hua III/l 206; Die Krisis, a.a.O. 19 u. 72. 8 Husserl. Die Krisis A.a.O. 13. 9 Zum Verständnis des Ereignisses bei Heidegger vgl. B. Casper: „„Ereignis“ Bemerkungen zu Franz Rosenzweig und Martin Heidegger“ In: Ders. Religion der Erfahrung. Einführungen in das Denken Franz Rosenzweigs. Paderborn (Schöningh) 2004, 85–100.64; ferner Stephanie Bohlen: Von der Offenheit des Seins zur Offenbarung des Seyns. Heideggers Weg zum anderen Anfang des Denkens, in: Archivio di filosofia 11 (1994), S. 539–552.

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Mündigwerden des Menschen am Ende der Neuzeit herausbildet 10 . Als solcher Inbegriff für das mündige Menschsein unterscheidet sich das, was im emphatischen Sinne mit Verantwortung gemeint ist von der bloßen Imputabilität, der z.B. zivil- oder strafrechtlichen Verantwortung, d.h. der Zurechnung von bestimmten Taten in einem finiten und in seiner Begrenzung nicht weiter hinterfragten Regelsystem menschlichen Zusammenlebens. Verantwortung im emphatischen Sinn meint vielmehr, daß der Mensch für sich und seine Welt überhaupt und im ganzen die Verantwortung trägt; Und daß dies ihn erst zum Menschen macht. Kein geringerer als Nietzsche hat ja in dem Zusammenbruch aller Werte, die er verkündete, das „stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit als jene Wurzel stehen gelassen, aus welcher der erhoffte neue und freie Mensch erwachsen kann 11 . Aber wie entfaltet sich diese Wurzel der Verantwortlichkeit, in welcher Menschsein gründet, auch wenn alle überlieferten Wertesysteme eingeklammert werden? Um dies mit Levinas für das Denken zugänglich zu machen, dürfen wir von der Einsicht ausgehen, daß unser sterbliches Dasein – als das Da jenes Seienden, dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst“ geht 12 – überhaupt erst in seinem Sich-zeitigen da ist. Unser Dasein hat von Grund auf die Struktur des „Sich-vorweg-seins – im-schon-sein-in … – als Seinbei“ 13 . Die Frage, die Levinas an diese in der Fundamentalontologie Heideggers erschlossene Struktur des Sich-zeiti-gens unserer selbst stellt, ist aber, ob eben diese in Entwurf, Geworfenheit und ekstatischem Sein-bei sich verwirklichende Struktur in einer letzten Hinsicht einfachhin und nur dem Vermögen des Menschen entspringt. Am Paradigma des Alterns 14 zeigt Levinas auf, daß mein Mich-zeitigen eher erlitten als aus meinem Vermögen heraus vollbracht wird. „„La temporalisation comme laps – perte du temps – n’est précisement ni initiative d’un moi, ni mouvement vers un quelconque telos d’action.“ 15 . Vielmehr wird die Zeitigung menschlichen Daseins erlitten als das „Wider-sich im Sich“ 16 . Zeitigung geschieht primordial als eine Passivität, die jeder als Korrelat zur 10 Das Wort (Verantwortung), auf das respondere des römischen Rechts zurückgehend, taucht

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als Abstractum im Deutschen, im Englischen und auch im Französischen erst sehr spät auf; im Französischen erst zur Zeit der Revolution. Und es mutet als solches zunächst wie ein sprachliches Zeichen für das Mündigwerden des neuzeitlichen Menschen an. Es fungiert gleichsam als ein Synonym für Kants Rede von der Autonomie als der Quelle aller Sittlichkeit. Fr. Nietzsche. Zur Genealogie der Moral. Sämtliche Werke [KSA], hg. G. Colli/M. Montinari, München (DTV) 1980, Bd. 5, 294. Heidegger SuZ 12. Heidegger SuZ 196. AQ 18 (JS 50) „senescence“, vgl. auch AQ 66 (JS 124) („vieillissement“); 69; 73. AQ 66 (JS 124). AQ 66 (JS 124) „contre soi en soi“.

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Aktivität vollbrachten Passivität vorausliegt 17 . In der Entdeckung dieser Passivität, durch die jedes sterbliche Dasein überhaupt erst als es selbst in sein „sein“ eingesetzt wird, dürfen wir den ersten entscheidenden Levinasschen Beitrag zu einem neuen Verständnis des Menschen sehen. Im Gegensatz zu Husserl sieht Levinas die sich in der Zeitigung meiner selbst zutragende Zeit gerade nicht durch die intentionale synthetisierende Leistung von Retention und Protention konstituiert. Vielmehr finden wir uns in unserer Zeitigung immer schon in einem Zeitverlust vor, der sich als „keines Subjektes Werk“ erweist 18 . Aus dieser Einsicht ergibt sich aber, daß Hussrl, indem er „la temporalisation comme laps“ intentional in das Bewußtsein einholt, in Wirklichkeit das Ich (le Moi) als das betroffene „übergeht“ 19 . Denn erst als der Betroffene des „Zeitverlustes“ bin ich der, der ich als geschichtlicher in Wirklichkeit bin. Jedoch auch die Fundamentalontologie Heideggers dringt mit dem Aufweis des Existenzials des Daseins zum Tode nicht bis zu der vollen primordialen Befindlichkeit des Menschen als eines geschichtlichen durch. Denn in der Fundamentalontologie wird das „Sein zum Tode“ als ein „Sein zu einer Möglichkeit“ verstanden, als „Seimmöglichkeit des Daseins“ 20 ; und zwar als die „eigenste, unbezügliche und unüberholbare“ Möglichkeit, die in der Befindlichkeit der Angst „vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz“ offenbar wird und damit das Dasein vor die Möglichkeit „eines eigentlichen Ganzseinkönnens“ bringt 21 . Diesem Heideggerschen Verständnis des Todes als der Möglichkeit der Unmöglichkeit, welche das endliche Dasein zu seiner Ganzheit bringen kann, stellt Levinas das Verständnis des Todes als der „Unmöglichkeit der Möglichkeit“ 22 entgegen. Wozu sich das Denken in dieser Umkehr des fundamentalontologischen Verständnisses des „Daseins zum Tode“ als der ausgezeichneten Seinsmöglichkeit des Daseins öffnet, ist der Schritt über die „Ontologie“ und das in dieser herrschende Verständnis von Sein hinaus. Denn in der erlittenen Zeitigung meiner selbst stoße ich, nicht nur angesichts meines eigenen Todes, auf die „Unmöglichkeit meiner Möglichkeiten“, sondern auch in der Begegnung mit dem anderen Menschen, der „wie ich“ ist, und der doch nicht ich bin. Mein Mich-entwerfen, meine Intentionalität erfährt, wie durch meinen Tod, so auch durch den Anderen als den Anderen, in ihrem Sich-Zeitigen ihre absolute Grenze. Der Tod ist nicht schlichtweg von 17 Vgl. dazu oben S. 27–32. 18 AQ 66 (= JS 125) „La perte du temps n’est l’œuvre d’aucun sujet“. 19 AQ 67 (= JS 125). 20 SuZ 261. 21 SuZ 263–266.

22 EDEHH 104 (= SpA 76) „l’impossibilité de la possibilité“; vgl. DD 82–83 (= WG 86).

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der Möglichkeit nur meines Seinkönnens her gedacht der „Meister“, der mich zu meiner Eigentlichkeit bringt 23 . Vielmehr liegt das Ereignis des Verhältnisses zu dem Anderen als das ursprüngliche Verhältnis meinem Sein voraus: „… nur im Anderen ruft der Tod mich dringend auf zu meinem letzten Wesen, zu meiner Verantwortung“ 24 ; – oder später: „Im Sein zum Tode … bin ich nicht dem Nichts gegenüber, ich bin vielmehr gegenüber dem, was gegen mich ist, als ob … die Annäherung des Todes eine der Modalitäten der Beziehung mit dem Anderen wäre“ 25 . Gewiß, Heidegger hat in „Sein und Zeit“ nicht nur vom „Mit-sein“, sondern auch vom „Mitdasein“ gesprochen 26 . Und man darf daraus schließen, daß er das Ereignis der Begegnung von Dasein mit anderem Dasein als anderem durchaus nicht einfachhin übersehen hat. Bei Levinas wird in der Zeitigung meines Daseins, durch die ich allererst bin und Zugang zu dem habe, worum es dem Denken geht, die Vorladung durch den Anderen als Anderen aber zu der primordialen Situation schlechthin. In dieser wird der Sinn des Menschlichen überhaupt gefunden. Ist sowohl die Phänomenologie Husserls wie erst recht die Fundamentalontologie Heideggers geleitet von der Suche nach dem vortheoretischen, ursprünglichen Gegebensein des Menschseins, so findet Levinas dieses in der unhintergehbaren Zeitigungssituation, in der ich mich schon von dem Anderen als dem Anderen vorgeladen finde. Diese Situation kann indessen nie von einem vermochten transzendentalen Horizont her zugänglich werden, sondern vielmehr nur von dem „Einzigen“ her, nämlich von mir her in meinem Mich-zeitigen. Es mag aufschlußreich sein, daß Levinas sich dabei zum Zwecke der Illustration der Einsicht Kants in die Unzurückführbarkeit der Mannigfaltigkeit des Gegebenen auf die analytische Identität der transzendentalen Apperzeption bedient. Im Gegensatz zu der Nichtherstellbarkeit der Identität zwischen transzendentaler Apperzeption und Mannigfaltigkeit des Gegebenen geschieht in der Geiselschaft des sühnenden Moi-ôtage für alle Anderen aber Identität. 27 23 Vgl. TI 153 (= TU 259) „La mort n’est pas ce maître“ Levinas spielt hier möglicherweise

sowohl auf Lacan wie auf Paul Celans „Todesfuge“ an.

24 TI 154 (= TU 259) „La mort … n’est présente qu’en autrui; et seulement en lui, elle me rappelle

à ma dernière essence, à ma responsabilitè“.

25 TI 210–211 (= TU 342) „Das l’être pour la mort …, je ne suis pas en face du néant, mais en

face de ce qui est contre moi, comme … si l’approche de la mort demeurait l’une des modalités du rapport avec Autrui“. 26 SuZ 114, 118, 121, 123, 163. 27 EDEHH 234, Anm. 1 (= SpA 290 Anm. 9) „L’identité analytique de l’Apperception transcendentale chez Kant se distingue de la multiplicité du donné irreductible à cette identité. Mais le Moi-ôtage est une identité qui en expiant est tous les autres“ Biblisch wird man hier an die Gestalt des Knechtes Gottes denken dürfen, auf die Levinas selbst ausdrücklich EDEHH 196 verweist.

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3. Die Aufhebung des intentionalen Schemas und der in ihm gegebenen Identität Im Kontext der Phänomenologie ernötigt die Entdeckung der „passivité plus passive que toute passivité antithétique de l’acte“, daß das intentionale Schema, so wie es von Husserl verstanden wurde, aufgegeben werden muß. Intentionalität wird bei Husserl nämlich „von Anfang an begriffen … als abzielend auf ein ideales Objekt“ 28 , einen „identischen und idealen Gegenstandspol“ 29 . In diesem als ihrem Gegenstand erfüllt sich die Intentionalität. Sie erfährt in ihm ihre sie befriedigende „Sättigung“ 30 . Wenn denn aber „die Identität als solche ohne die identifizierende Tätigkeit … überhaupt nicht gedacht werden kann“, so folgt daraus für das Wesen der intentionalen Analysen Husserls, daß in ihnen das „Wirkliche … zu seinem Pendant … ein von vornherein idealisierendes Denken“ hat, welches „Synthesis der Identifikation ist“. Husserls „intentionale Analyse folgt aus dem ursprünglichen Idealismus der identitätsbildenden Intentionalität“. Das heißt aber, dass diese „Identität als Resultat … die Abstraktion“ ist, „auf die, wie auf das Haupt der Meduse, ein versteinertes Denken fixiert ist“ 31 In dem „bouleversement de l’intentionalité“ 32 , das sich im Ur-erleiden des Angegangenwerdens durch den Anderen als den Anderen zuträgt, bricht diese versteinernde idealisierende Identifikation jedoch auf und verwandelt sich in eine „intrigue de responsabilitè“ 33 , d.h. ein „nichtintentionales und unumkehrbares Aufeinanderbezogensein von Voneinandergetrenntbleibenden“ 34 . Diese primordiale Situation des „Aufeinanderbezogenseins von Voneinandergetrenntbleibenden“ diese „Verstrickung in die Verantwortung“ zeigt sie sich in ihrem Sich-Ereignen-als das „vorursprüngliche Sagen“, als das „Sagen vor allem Gesagten“ 35 . In diesem Ur-ereignis von Sprache, in welchem meine Menschlichkeit gründet, finde ich mich in der Unmöglichkeit durch eine Reduktion von allem auf die Einheit der transzendentalen Apperzeption endgültig die Quelle 28 EDEHH 146 (SpA 157) „d’emblée concue comme visant un objet ideal“. 29 EDEHH 147 (= SpA 157) „un pôle objectif, identique et ideal“. 30 EDEHH 196 (SpA 225) „saturation“. Inwieweit J.L. Marions Unterscheidung zwischen „phé-

nomène saturé et non saturé“ von der Sache her hier ihre Wurzel hat, bleibt zu untersuchen.

31 EDEHH 147 (= SpA 158) „l’identité comme telle serait inconcevable sans l’œuvre d’iden-

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tification dont elle reste le pole ideal. … C’est une pensée d’emblée idéalisante, déja synthèse d’identification … qui fait pendant au réel de l’experience sensible“. „L’analyse intentionelle découle de l’ideéalisme originel de l’intentionalité identificatrice. … L’identité-resultat, est l’abstraction que fixe une pensée médusée …“ EDEHH 196 (SpA 225). AQ 6 (= JS 29). JS 29 Anm. g des Übersetzers Thomas Wiemer. AQ 56(= JS 107) „Dire d’avant tout Dite“.

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für alle meine Akte in die Hand zu bekommen 36 . Ich finde mich vielmehr in meinem „sein“ als dem „Leibbürge-sein für den Anderen“ vor, als dem nicht intentional saturiert thematisierbaren. Dieses „sein“ läßt sich in keine abgeschlossen konstituierte Gegenwart einholen. Vielmehr steht in der Zeitigung dieses „seins“ mein Selbstsein je wieder neu auf dem Spiel. Denn insofern ich als ich selbst im Transzendieren bestehe, im Hinausgehen über mich zum Anderen meiner, kann ich mein Selbstsein überhaupt nur in dem je neuen Ereignis des Antwortens, in der Verantwortung für den Anderen gewinnen. Dieses Ereignis bleibt, insofern es immer neu geschehen muß, aber auch immer prekär. Es wird nie in eine anschaubare, in endgültige Gegenwart hinein eingebrachte Identität eingeholt. Allerdings, so wird man sagen dürfen, gewinne ich als ich selbst im geduldigen Ertragen dieser Situation in paradoxer Weise eine Identität neuer Art. Es ist die Identität, die „ihren Grund in der Unmöglichkeit“ hat, „sich der Verantwortung, der Sorge um das Einstehen für den Anderen zu entziehen“ 37 . Gegenüber der Synchronie, dem Zusammenbringen in dem Einen, in dem bislang alles Denken von Sein als Anwesenheit sein telos zu sehen schien, wird hier in der Zeitigung meiner selbst im Angesicht des Anderen die ursprünglichere Situation der Unmöglichkeit entdeckt, dieses telos als endgültig erschöpftes zu erreichen. „Sein“ – des Seienden und meiner selbst – ereignet sich vielmehr in der „Diachronie der Zeit“ als einem „Auseinanderfallen der Identität“. Es ereignet sich als die Situation, in der „das Selbe nicht mehr das Selbe erreicht“. Gerade in dieser Situation aber kommt mir meine Identität „wider willen von außen zu, wie eine Erwählung oder wie die Inspiration nach Art der Einzigkeit des Vorgeladenen“ 38 . Diese Unerreichbarkeit des Selben kann man nun aber ein Jenseits der Immanenz in der Immanenz nennen, ein Jenseits des Diesseits, das zu dem ganzen Sich-Zeigen (und in diesem Sinne: der ganzen „Phänomenalität“) des Diesseits gehört, insofern dieses als menschliche Wirklichkeit gelten können soll, nämlich Wirklichkeit, zu der ich des Anderen und der diachron sich ereignenden Zeit bedarf. Und man kann sich fragen, ob diese „Wirklichkeit ohne die Versöhnung der Zeit“, welche unsere letzte menschliche Wahrheit ausmacht 39 , nicht auch 36 Vgl. AQ 179 (= JS 309). 37 AQ 17 (= JS 48) „L’identité du sujet tient ici en effet à l’impossibilité de se dérober à la

responsabilité“.

38 AQ 67 (= JS 126) „disjonction de l’identité oú le même ne rejoint pas le même“. „L’identité du

même dans le „je“ lui vient malgré soi du dehors, comme une élection ou comme l’inspiration, en guise de l’unicité d’assigné“. 39 Ich entnehme diesen Terminus den nachgelassenen Aufzeichnungen Dag Hammarskjölds. Vgl. Dag Hammarskjöd. Zeichen am Weg. München/Zürich 1965, 132: „In diesem – wie in anderem – ist Realismus das Gegenteil von Profanierung. Jene Wahrheit, die wir ertragen müssen, ist die Wirklichkeit ohne die Versöhnung der Zeit.“

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schon von Kant insofern zumindest gesichtet worden ist, insofern er nämlich in den Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ das Tor zu einer prinzipiell uneinholbaren, weil nämlich ganz auf die menschliche Freiheit gestellten Zukunft aufstößt, die allerdings, insofern sie denn menschlich sein soll, unter dem Geheiß des kategorischen Imperativs vornehmlich in seiner zweiten Fassung steht. Die der menschlichen Freiheit anheimgegebene Zukunft wird nur dann eine menschliche sein, wenn ich in meinem Mich-zeitigen jederzeit wie mich selbst so jeden anderen Menschen als Zweck an sich achte. Levinas bringt diese Menschlichkeit als das zur Sprache, was als das „autrement qu’être ou au-delà de l’essence“ in der Daseinsbewegung des Menschen auf dem Spiele steht und jedes von mir als transzendentale Synthesis Besitzbare zerbricht. Es meldet sich aber zu Wort in der mich als mich selbst vorladenden unendlichen Passion der Ver-antwortung.

4. Die Unendlichkeit der Vorladung in das Leibbürge-sein für den Anderen Endet das Levinassche Denken damit aber nicht in einer reinen Negativität? Man wird mit Levinas hier zunächst einmal darauf achten müssen, daß sich in der Zeitigung meiner selbst in der „passivité plus passive que toute passivité“ einerseits die Vorgängigkeit dieser passivité zeigt, d.h. das Schon-eingesetztsein in den Stand der riskierten Leibbürgenschaft, andererseits aber das Angegangenwerden von dem Anderen sich als das erweist, was gerade mich als mich selbst meint. Die in dem diachronen Angegangenwerden durch den Anderen zu Tage tretende Verpflichtung, ihn „nicht zu töten“ und zugleich „ihn in seiner Sterblichkeit nicht alleine zu lassen“ 40 , erweist sich als Anspruch, der aus einer unvordenklichen Vergangenheit auf mich zukommt, – „profond jadis, jadis jamais assez“ (Paul Valery) 41 . Dieser Anspruch ist nicht in der Reihe der endlichen causae festzumachen. Vielmehr war er als Anspruch an die Menschlichkeit des Menschen immer schon da, wo immer es Menschen gab, die nach dem menschlichen Miteinander als einem Guten 42 suchten. 40 Vgl. Francois Poirie. Emmanuel Levinas. Qui êtes-vous?, Lyon 1987, S. 99 („Je ne peux pas

laisser autrui seul à sa mort, même si je ne peux supprimer la mort“). Vgl. ebenso Intention, Ereignis und der Andere (Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wolzogen), in: HaM 136 („Du sollst mich in meinem Sterben nicht alleine lassen“). Vgl. auch WG 213. 41 AQ 198 (SpA 228) Vgl. JS 235, Anm. e, zit. nach P. Valery. ‚Cantiques des Colonnes‘ . 42 Daß Levinas immer wieder an Platon anknüpft und insbesondere an dessen Rede in der Politeia von dem Guten als dem epekeina tes ousias (vgl. etwa Ti 76 (= TU 146); EDEHH 189 (= SpA 213); AQ 5 (= JS 28), AQ 23 (= JS 58), kommt nicht von ungefähr.

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Die Negativität des Unvermögens zur Identität zieht das „Sich“ hier in ein die Endlichkeit überschreitendes Verhältnis zu einem schlechthin mehr als Menschenmöglichen, dem nachzukommen mein sich zeitigendes „Sich“ aber doch erst zu seiner Fülle bringt. Wäre dem nicht so, dann würde ich an diesem Verhältnis nicht leiden in jenem Grund-Leiden, das mich in meiner Zeitigung als einer menschlichen ausmacht. Und ebensowenig würde ich an der Infinition, der Unendlichkeit der Verantwortung 43 leiden, in die mich mein „Leibbürge-sein für den Anderen“ hineinzieht. Dieses Leiden der Infinition zeigt sich in der Frage: Wann bin ich der Vorladung, die mich durch den Anderen angeht, denn je schon genug nachgekommen? Mit dem, was in der Liebe auf dem Spiel steht, werde ich nie fertig. In intentionaler Protention ist hier kein telos erreichbar. Die Positivität des mich durch den Anderen im Zerbrechen meines intentionalen Könnens treffenden Anspruches, die mich in die menschliche Ursituation der Ver-antwortung stellt, „die nicht in mir hat beginnen können“ 44 , nennt Levinas auch Inspiration 45 , Anhauch, der den Menschen erst zum Menschen macht – „Pneuma des seelischen Lebens“ 46 . Diese Inspiration gibt aber auch meiner Leiblichkeit als meiner Leidensfähigkeit allererst ihren Sinn 47 . Der Sinn der Leiblichkeit meiner selbst und des der Leiblichkeit inhärenten Psychismus 48 besteht darin, daß ich den Anderen austragen kann. Sie besteht in der Mütterlichkeit 49 , die sich in einer ganz anderen Situation auch ebenso als Väterlichkeit zeigen kann 50 In beiden ereignet sich Fruchtbarkeit 51 meiner selbst, der ich mich von dem Anderen im Bruch meines Synchronisierens betreffen lasse. Das Verhältnis, in dem ich mich derart zu der unendlich mich angehenden Positivität finde, kann Levinas denn auch das Verhältnis der Erwählung (vgl. JS 310 u.ö.; TU 361) nennen,

43 TI 222 (= Tu 360). 44 AQ 206 (= JS 352).

45 Vgl. AQ 180 u.ö. (= JS 310). 46 AQ 160 (= JS 277) „le pneuma même du psychisme“. 47 Vgl. AQ 70 (= JS 131); 93ff. (= JS 167f.); 97 (= JS 174); 150 Anm. 21 (= JS 260 Anm. 21);160

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(= JS 278). DD 134–136 (= WG 103–105); EDEHH 118 (= SpA 93); 142 (= SpA 148); 156 (= SpA 174ff.); Vgl. ferner sub pp. 496–497 (= SpA 311). TI 138ff. (= TU 236ff.); 179 (= TU 295). Entrn 107–119, bes. 110, 116, 118f. TI 24–26 (= TU 68–71); 29 (= TU 76); 78 (= TU 149);82 (= TU 152); vgl. Innerlichkeit: TI 28 (= TU 74);32f. (= TU 80f.); 102 (= TU 182); 122f.(= TU 212f.). EDEHH 226 (= SpA 276); 227 (= SpA 278). AQ 85ff. (= JS 154ff.); 87ff. (= JS 157ff.); 146 (= JS 254). Vgl. AQ 95 (= TI 171). Vgl. TI 189, 245, 249, 255–256, 258 (= TU 309, 391, 398, 407f, 411). Der Sinn von Fruchtbarkeit, der in der biologischen Fruchtbarkeit sein nächstes Paradigma hat, findet seine eigentliche Erfüllung in dem Verhältnis der Bürgenschaft für den Anderen.

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– äußerste Korrelation, die in gemäßer Weise nur von dem erkannt werden kann, der sich als er selbst mit ihr einläßt 52 . Und in diesem Kontext bekommt dann auch die Rede von Schöpfung ihren genuinen Sinn. Ich finde mich schon im Verhältnis der Verantwortung. Insofern finde ich mich im Verhältnis einer „responsabilité sans liberté“. Vom Vermögen meiner Zeitigung her gesehen zeigt sich diese als die Verantwortung dessen, „qui vient trop tard dans l’être pour ne pas le supporter tout entier“ 53 , der zu spät ins Sein eintritt, um nicht doch die ganze Verantwortung für das Sein auf sich zu nehmen. Ich bin zu spät ins Sein eingetreten. Das will sagen: Ich finde das Sein schon vor. Aber zugleich finde ich mich derart im Sein vor, daß mir die Verantwortung für das Sein insgesamt aufgegeben ist. Für dieses Eingesetztsein in die Verantwortung kann ich keine causa innerhalb der Seienden finden. Die hier sich zeigende Urkorrelation aber kann man biblisch als das Verhältnis der Geschöpf lichkeit verstehen. Dieses unbedingte Eingesetztsein in die Verantwortung für das Sein insgesamt gewinnt seinerseits seinen Sinn aber in der menschlichen Brüderlichkeit. Diese aber ist von mir her nicht vollendbar. Sie bleibt die unendliche Aufgabe, die mein mich zu einer finalen Identität schließen wollendes Ich immer neu beunruhigt und die Möglichkeit zu solcher Identität zerstört. Was in dieser Herausforderung bedeutet (signifie), ist aber nicht eine Welt-Zeit, d.h. eine Weile, die sich als identische Synthesis des Seins zwischen den füreinander jeweils Anderen endgültig herstellen könnte, ein Äon. Ein solcher Äon bedeutete bereits Herrschaft. Sondern das, was hier „bedeutet“, kann nur als „royaume du ciel“ 54 angezeigt werden: das Königreich der Himmel, das in aller Geschichte herausfordert und doch jenseits einer in der Immanenz sich herstellenkönnenden Synthesis bleibt. Levinas findet sich hier sowohl in einer gewissen Nachfolge Kants und dessen Verständnisses des höchsten Gutes als des Reiches Gottes in der „Kritik der praktischen Vernunft“ 55 wie des Rosenzweigschen „Sterns der Erlösung“ 56 . 52 Insofern das Levinassche Denken Explikation dieser Korrelation ist, bleibt es dem ursprüngli-

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chen Anliegen der Phänomenologie, nämlich Korrelationsforschung zu sein, treu. Korrelation zeigt sich hier aber als ereignetes Ereignis. Sub 501 (SpA 318–319). AQ 231 „Le royaume du ciel est éthique“. Es fällt auf, dass Levinas im Gegensatz zu Rosenzweig disen biblischen Titel sehr viel zurückhaltender verwendet und eigentlich nirgends direkt vom „Reich Gottes“ spricht, sondern eher von „temps messianique“ Vgl. dazu unten 97–108. KpV A 231. Vgl. zu dem „Reich Gottes“, dem „Gott alles in allem“, welches als das transgeschichtliche Worumwillen der Geschichte, auf das hin der „Stern der Erlösung“ orientiert gleichwohl in jedem Akt der Nächsten-liebe konstitutiv am Werk ist. GS 2,446 u.ö. Bei Kant vgl. dazu auch Die Religion innerhalb der Grenzen … A 130ff: „Der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens ist der Begriff von einem Volke Gottes unter ethischen Gesetzen“. Und im Opus Postumum:

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5. Identität als Erwählung Dank dieser Beanspruchung durch die in keine endliche Geschichte hinein aufzulösende und doch alle Geschichte zwischen Menschen als Menschen, in ihrem Sich-Ereignen herausfordernde „messianische Zeit“, kann man dann aber in einem verwandelten Sinne davon sprechen, daß sterbliche Menschen zu ihrer Identität finden. Das un-intentionale Geschehen der Verantwortung, das seinen Ursprung nicht in einer Gegenwart hat, in der ich mich als in einem fundamentum inconcussum festsetzen würde, sondern vielmehr in der unendlichen Beanspruchung, verleiht mir eine „neue Identität“, nämlich die „des erwählten Einzigen“ 57 . Denn nur ich als ich selbst kann hier antworten. Ich als ich selbst bin hier unendlich herausgefordert. Mir ist die ganze Last auferlegt. Ich bin zwar zu spät in das Sein eingetreten, um es zu begründen. Und doch ist mir die Verantwortung für das „ganze Sein“, in das ich vorgeladen bin, durch den Anderen auferlegt. „Etre ‚soi‘„, – „ ‚Sich‘ sein heißt immer, einen Grad der Verantwortung mehr haben“ 58 . Und dies kann Levinas denn auch mit dem Satz aus den Papieren des Starez Sosima in Dostojewskis „Die Brüder Karamasoff“ wiedergeben: „Ein jeder von uns ist vor allen an allem schuldig, ich aber bin es mehr als alle anderen“ 59 . In dieser „Schuldigkeit“, welche Erwählung bedeutet, zeigt sich in neuer Weise Identität. „Sich nicht entziehen können – das ist das Ich. … Auserwählung, in der das Ich sich als das Ich vollzieht …“ 60 . Diese Identität ist aber keine zeitlos vorliegende. Sie kann ebendeshalb auch nicht Gegenstand eines dem Subjekt gegenüber vorliegenden finiten Themas werden. Sie besteht vielmehr erst in der durch das Ereignis der Herausforderung zur Verantwortung gegebenen je neuen Selbigkeit 61 . Sie kann nie intentional eingeholt werden als intentum einer intentio. Sie geschieht vielmehr immer nur wieder als „Austritt aus der Identität … inmitten der Identität“, als das „Für-den-Anderen der Verantwortung“ 62 . Findet man hier Heideggers Existenzial des Schuldigseins wieder 63 , aber eingebracht in die existenziale Situation der Zeitigung von „Dasein mit anderem Dasein“?

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„Das Reich Gottes auf Erden: das ist die letzte Bestimmung des Menschen.“ (Akad.-A. XV Nr. 1396). AQ 185 (= JS 336) „de l’unique élu“. Sub 502 (SpA 320). AQ 186 (= JS 320), vgl. DD 134–135 (= WG 104). Dostojewski. Die Brüder Karamasoff. Kap. VI, 2a und g. TI 223 (= TU 361). AQ 209 (=JS 357) „L’identité de l’elu – c’est-à-dire de l’assignié – qui signifie avant d’être“. AQ 195 (= JS 335). SuZ §§ 58–60; 62.

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Levinas nennt dieses „Trauma der Verantwortlichkeit und nicht der Kausalität“ 64 auch das Verhältnis der Stellvertretung (substitution), des Eintretensfür; – oder auch das Verhältnis der Sühne (expiation). „Aber das Geisel-Ich (le Moi-otage) ist eine Identität, die alle anderen ist, indem es sühnt 65 Es ist sicher zu fragen, wie das Verhältnis der expiation näherhin zu verstehen sei. Setzt es nicht schon das Faktum eines Falles voraus, einer nicht nur gefährdeten, sondern bereits nicht mehr stimmigen, in das Böse geratenen Geschichte? Aber geht nicht auch Kant von der Faktizität des Bösen in der Geschichte aus? Man kann es „in jedem, auch dem besten Menschen voraussetzen“ 66 . Und kann vollends ein Philosophieren nach Auschwitz die Faktizität des Bösen einklammern? Die im ständigen diachronen Bruch gegebene „Identität der Erwählung“ in der Vorladung in die Verantwortung durch den Anderen ist dann aber eine in dieser Situation gegebene. Sie zeigt sich, biblisch gesprochen, als die Identität des ebed JHWH, auf den Levinas denn ja auch an wichtigen Stellen seines Werkes verweist 67 . Ist die Levinassche Analyse der Grundbefindlichkeit der Verantwortung als der Passion des Vorgeladenwerdens durch den Anderen, in welchem Vorgeladenwerden sich die „Herrlichkeit des Unendlichen“ zugleich offenbart wie verbirgt, deshalb aber eine weniger philosophische? Oder geschieht hier vielleicht der Durchbruch in ein neues Philosophieren, welches die geschichtliche Faktizität des Menschen in anderen Weise ernst nimmt als dies in einem zeitlos idealisierenden Philosophieren geschehen konnte?

64 Sub 505 (SpA 326) „Mais traumatisme de la responsabilité et non pas de la causalité“ 65 EDEHH 234 (Anm. 1) (= SpA 290, Anm. 9)“ Mais le Moi-ôtage est une identité qui en expiant

est tous les autres“.

66 Die Religion innerhalb der Grenzen A 25. 67 Vgl. dazu etwa EDEHH 196 (= SpA 224): „In seiner Stellung selbst ist es (das Ich BC)

durch und durch Verantwortlichkeit oder Diachronie, wie im 53. Kapitel des Buches Jesaja“. Eine Anspielung auf Jesaja 6,8 findet sich in AQ 186 und 190. Die bei Levinas häufigen Anspielungen auf Gen 4,9: „bin ich der Hüter meines Bruders?“ wird man im Lichte von Jesaja 53 lesen dürfen.

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VI. Verantwortung und die Intentionalität der Rechtsordnung Eines der fundamentalen Probleme der heutigen säkularisierten Gesellschaften besteht in der Frage, wie diese für die Rechtsordnungen, nach denen sie leben, einen Grund finden sollen. Das Auseinanderklaffen von Legalität und Moralität im öffentlichen Bewußtsein macht dieses Problem deutlich. Und erst recht wird es offenbar in dem Begründungsnotstand, der eintritt, wenn Moralität ausdrücklich eingeklammert und Legitimität durch reine Legalität ersetzt wird, diese aber ihre Begründung nur mehr in den real existierenden Machtverhältnissen findet 1 . Gesetze können ihren Grund dann nur noch in einem dezisionistischen Positivismus finden oder in einer Ideologie; – allenfalls in einem Sozialpragmatismus. Einen Weg aus diesem Grund-dilemma scheint nun das mit dem Terminus Verantwortung Gemeinte zu bieten. Denn das mit diesem Wort Gemeinte scheint als eine Grunderfahrung des Menschlichen auch dem säkularen Bewußtsein noch zugänglich zu sein. Hat doch selbst Nietzsche in der Durchstreichung aller Moral das Wissen um die Verantwortlichkeit als jenen Grund stehengelassen, auf welchem der neue Mensch Fuß fassen kann. 2

1. Verantwortung und ihre Intentionalität Aber was verstehen wir unter Verantwortung? Das Wort geht auf das „respondere“ des römischen Rechts zurück. Es taucht als Abstractum im Deutschen, im Englischen und auch im Französischen erst sehr spät auf; im Französichen erhält es seine gefüllte Bedeutung erst im Zeitalter der Revolution 3 . Sein emphatisches Auftauchen in der Sprache mutet wie ein Zeichen für das Mündigwerden des neuzeitlichen Menschen an. Es fungiert wie ein Synonym

1 Vgl. dazu etwa Roger Caillois: „daß … die Legalität ihre Grundlage in der Macht hat“ (Nouvelle

Revue Française Nr. 982, Oktober 1937, p. 675).

2 „Das stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewußtsein

dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden“. F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Sämtliche Werke [KSA] hg. G. Colli/M. Montinari Band 5, 294. 3 Michel Villey. Esquisse historique sur le mot ‚responsable‘. Jacques Henriot. Note sure la date et le sens du mot ‚responsabilité‘, in: Archives de philosophie du Droit. 22 (Paris 1977), 45–62. Für das Deutsche vgl. J. und W. Grimm. Deutsches Wörterbuch, Bd. 25, 81–82. Zu vergleichen sind auch „verantwortlich“ und „Verantwortlichkeit“, das erst mit Texten des 19. Jahrhunderts belegt ist.

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für Kants Rede von der Autonomie als dem Schibboleth der Aufklärung, – und derart denn eben auch der Quelle aller Sittlichkeit. In dieser durch die Aufklärung gefüllten Bedeutung müssen wir das Wort denn allerdings auch klar unterscheiden von der Bedeutung, die es im rechtstechnischen Sinne hat, nämlich als Ersatz für den älteren Begriff der Imputabilität. Diese wird nun zur „Verantwortung“ in dem klar definierten Sinne der zivilrechtlichen und strafrechtlichen Zurechnung. Wenn wir im folgenden im Kontesxt unserer Frage nach dem Verhältnis von Verantwortung und der Intentionalität der Rechtsordnung von Verantwortung und Verantwortlichkeit sprechen, so haben wir aber die umfassendere Bedeutung im Auge, der gemäß der Mensch als sittliches Wesen in sich und als solches das von seinem Grunde her mit Verantwortung begabte Wesen ist. Wir verstehen unter Verantwortung eine – oder „die“ Grundbefindlichkeit des Menschseins überhaupt. Aber wie zeigt sich dieser Grund? Mit dieser Frage haben sich in dem auf Husserl aufbauenden phänomenologischen Denken unseres Jahrhunderts zunächst vor allem zwei Philosophen beschäftigt: nämlich der Heideggerschüler Wilhelm Weischedel mit seiner 1933 erschienenen Schrift „Das Wesen der Verantwortung“ und Roman Ingarden in der erst 1968 vorgetragenen Abhandlung „Über die Verantwortung“. Beide suchen, ausgehend von Husserl, das primordiale Phänomen der Verantwortlichkeit korrelational-intentional zu erfassen 4 . Intentionalität meint in diesem Verständnis der frühen Phänomenologie „Sinn zu haben“ bzw. etwas „im Sinne zu haben“ 5 . Bei Heidegger wird dieses „etwas im Sinne zu haben“ dann aber zu dem „Zeitigungssinn“ des Daseins 6 . Und was hat der Verantwortliche derart „im Sinn“? Auf diese Frage sucht Weischedel formal durch den Rückgang auf die von Heidegger aufgedeckte Sorgestruktur des Daseins zu antworten. Indem er diese als korrelative Struktur faßt, kommt er jedoch nicht ohne ein Gegenüber aus, auf das Verantwortung antwortet. Wenn Verantwortlichkeit letzten Endes auch in der „tiefen Selbstverantwortlichkeit“ als der „radikalen Freiheit des Menschen“ wurzelt 7 , so muß dieses Geschehen nach Weischedel doch immer zugleich als Geschehen vor Gott, d.i. religiöse Verantwortung, wie als Geschehen der Verantwortung vor den Anderen, d.i. soziale Verantwortung, verstanden werden 8 . Verantwortung bedeutet in ihrer vollen Phänomenalität nicht einfach Selbst4 Zu Phänomenologie als Korrelationsforschung vgl. Hua 1, 38. 5 Hua 3, 1, 206.

6 Vgl. dazu B. Casper. Vollzugssinn und objektgeschichtliche Methode. In: B. Fraling, H. Hoping

u. J. C. Scannone (Hrsg.): Kirche und Theologie im kulturellen Dialog . Für Peter Hünermann, Freiburg i.Br. 1994, 33–42. 7 W. Weischedel. Das Wesen der Verantwortung. Frankfurt 3 1972, 110. 8 Vgl. a.a.O. 93ff.

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bezüglichkeit, sondern den „Anspruch eines Sein-könnens, das als Zukunft auf den Menschen zukommt und von ihm ein je verschiedenes Eins-werden“ fordert. In dieser Forderung des „je verschiedenen Einswerdens“ kann man den Versuch einer Kritik Weischedels an „Sein und Zeit“ sehen, den Heidegger denn auch wahrnahm, aber als ungemäß ablehnte 9 . Das je verschiedene, in verschiedenen Ordnungen in der Korrelation der Verantwortung geschehende Einswerden suchte Roman Ingarden später im Rückgriff auf eine ältere Stufe der Phänomenologie wertontologisch zu fundieren. Über allen Werten im einzelnen steht dabei der Wert der Gerechtigkeit 10 . Ebenso sieht Ingarden bereits, daß zu Verantwortung als rationalem Geschehen eine spezifische Zeitlichkeit gehört 11 , nämlich eine weder im Sinne Kants als bloße Anschauungsform fungierende noch auch eine im Sinne des Neuplatonismus gegenüber der Ewigkeit nichtige Zeit, sondern eben die Zeit des Menschen, menschliche Geschichte, in der das Unbedingte selbst geschieht. Hat man die Versuche Weischedels und Ingardens vor Augen, so kann man nun freilich ermessen, welchen Durchbruch das Werk von Emmanuel Levinas in dem Verständnis von Verantwortung bringt. Denn Levinas gelingt es, die primordiale Situation aufzudecken, in der die Rede von Verantwortung letztlich einen Sinn hat. Diese Situation kann nicht von dem ego-cogitocogitatum aus erschlossen werden, auf das Husserl zurückgeht – und mit ihm auch Sartre. Und sie ist auch nicht einfachhin in dem Dasein gegeben als dem Seienden, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Vielmehr gibt sie sich allererst in dem Vorgeladenwerden meiner selbst durch den anderen Menschen als ihn selbst. Dieses Vorgeladenwerden durch den Anderen stellt das Grundereignis dar, in welchem von Verantwortung zu sprechen allererst einen Sinn hat. Wenn man will, kann man den Rückgang auf diese Ursituation als eine Aufnahme der 2. Fassung des kategorischen Imperativs verstehen, den Kant allerdings, fasziniert von der Allgemeinheit des Sittlichen, gerade im Hinblick auf die Anderheit des Anderen, d.h. im Hinblick auf den ganzen Ernst der „Selbstzwecklichkeit“ des Anderen, nicht ausgearbeitet hat.

9 Vgl. dazu das im Archiv der Philosophischen Fakultäten der Universität Freiburg erhaltene

Gutachten Heideggers zu der Dissertation Weischedels. „Höchst merkwürdig ist die Auseinandersetzung mit ‚Sein und Zeit‘, die sich durch die Arbeit hindurchzieht. Statt sich an das zu halten, was der … Verfasser in den vielen Vorlesungen und Übungen bei mir hätte lernen können, verfällt er in die landläufige und vor allem von theologischer Seite gepflegte Auffassung von ‚Sein und Zeit‘, das heisst: Er zwängt diese Abhandlung in den Aufgabenkreis einer Anthropologie und Ethik, in dem sie keinen Augenblick stand und steht. Die Kritik des Verfassers ist unhaltbar, weil sie den Fragepunkt völlig verfehlt. Die Kritik ist aber auch für das Ganze der Arbeit überflüssig.“ (Universitätsarchiv Freiburg, Signatur B 42/74.) 10 Roman Ingarden. Über die Verantwortung. Stuttgart 1970, 37. 11 a.a.O. 109ff.

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Levinas entdeckt diese Ursprungssituation geschehenden Menschseins als die allen meinen sittlichen Akten vorausgehende Passivität. Und er entdeckt sie gerade in ihrem Geschehen, d.h. in ihrer Zeitlichkeit. Verantwortung verwirklicht sich in ihrer Zeitigung. Für mich als den Verantwortlichen bedeutet das Sich-Einlassen mit einer solchen in der Vorladung durch den Anderen geschehenden Zeitigung ein Zerbrechen der mit meiner Subjektivität zunächst scheinbar gegebenen Synchronie. Der Zeitigungssinn, der damit gegeben ist, daß ich mich meiner Verantwortung für den Anderen stelle, zeigt sich als der eines Hinausgeführtwerdens über mich selber zu dem Draußen der Zeit des Anderen. Verantwortung ereignet sich diachronisch. Diachronie sprengt nun aber das, was in der Phänomenologie Husserls unter Intentionalität als dem „eigentlichen Rechtstitel der Erkenntnis“ verstanden wird: „Enthüllung“ von „Gegenständen als Sinneseinheiten“, als „identischen Substraten für Prädikationen“ 12 . Im diachronen Geschehen der Verantwortung, durch welches ich als ich selbst der Herausforderung durch den Anderen entspreche, findet ein „bouleversement de l’intentionalité“ statt, eine „mutation de l’intentionel en éthique“ 13 . Es ereignet sich eine relation, die in ihrer „rectitude (est) plus tendue que l’intentionalité“ 14 . Denn Intentionalität nimmt als Noese ihren Weg immer über ein in sich eines Bewußtsein. Im Geschehen der Verantwortung hingegen geht es um eine „noèse insaissisable“ 15 . Diese „noèse insaissisable“, mit der Levinas in gewisser Weise an Husserls Bemerkungen über die „Mehrmeinung“ in dessen Pariser Vorträgen anknüpft 16 , hat zum Korrelat nicht ein neues noema. Vielmehr führt sie in eine völlig neue Ordnung, nämlich die eines sich inkarnierenden Gebens 17 , die Ordnung der sich ereignenden Güte. Dieses Ereignis aber erweist sich nicht nur als das in einer unendlichen Anforderung gründende, sondern zugleich als das in eine unendliche Aufgabe 12 Hua 1, 19 und 18. 13 EDEHH 196 und 225 (= SpA 225 und 275). 14 EDEHH 229 (SpA 283).

15 AQ 97 (= JS 174). 16 Hua 1,20 und 29; ferner 84: „… daß dieses Vermeinte in jedem Moment mehr ist (mit einem

Mehr Vermeintes), als was dem jeweiligen Moment als explizit Gemeintes vorliegt“. Bei Levinas vgl.: „Denken, das mehr denkt als es denkt“. EDEHH 135: „Et voilà que la pensée dirigée sur l’objet dans toute la sincérité naïve, pense plus qu’ elle ne pense et autrement qu’elle ne pense actuellement et, dans ce sens, n’est pas en elle-même immanente, même si, par son regard, elle tient ‚en chair et en os‘ l’objet qu’elle vise!“ (= SpA 137). 17 Vgl. dazu TI 139 „La „pensée incarnée“ ne se produit pas initialement comme une pensée qui agit sur le monde.“ (TU 237) Vgl. Sub 496–497 (= SpA 311) und EDEHH 142 (= SpA 149). In diesem Sinne deutet Levinas denn auch die poetische Sprache Celans, vgl. Np 60 (= En, 57).

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rufende. Denn es zeigt sich zum einen als die nicht-intentionale Relation, die nicht in mir beginnen konnte. Vielmehr finde ich mich in ihr schon „malgré moi“ 18 . Ich überschreite mich im Vernehmen der in der Verantwortlichkeit geschehenden Vorladung in eine mich in meinem Mich-zeitigen immer schon ständig angehende und sich darin doch zugleich jedem noematischen Zugriff entziehende unbedingte Verpflichtung hinein. Diese ist unendlich, weil sie durch keine Begründung, die eine Abfolge in der Zeit darstellen würde, hintergangen werden kann; und weil sie zugleich unausschöpfbar verpflichtet. Allein in dieser un-intentionalen unendlichen Verpflichtung, die mich im Angesicht des Anderen trifft, kann aber der orientierende Grund für all mein sterbliches Mich-zeitigen liegen, wenn dieses denn ein meiner Menschlichkeit in seiner Fülle entsprechendes sein soll. Wenn Weischedel in dem Versuch seiner phänomenologischen Deskription gesagt hatte, Verantwortung geschehe als Relation gegenüber einem Anspruch, der als Zukunft auf den Verantwortlichen zukomme und von diesem ein „je verschiedenes Eins-werden“ fordere, so zeigt sich bei Levinas, wie diese von Weischedel nur nebeneinander gestellten Ordnungen des Religiösen, des Sozialen und der Selbstfindung in dem diachronen Ereignis der Verantwortung zusammengehören. Vorgeladen durch den Anderen als den Anderen, – d.h. im Ursprung bereits in der „sozialen Situation“ –, werde ich über mich als scheinbar monadisches transzendentales Subjekt dadurch hinausgeführt, daß ich mich verantwortlich zeitige. Ich lasse mich damit aber auf die unendliche und unbedingte Forderung ein; auf die „Herrlichkeit des Unendlichen“. Nur in diesem diachronen und un-intentionalen Ereignis aber kann ich in der Paradoxie sterblichen Daseins eins mit mir selbst werden.

2. Die Intentionalität des Gesetzes Hat man das derartige Sich-Ereignen von Verantwortung bedacht, so wird nun aber auch die Frage zugänglich, welchen Sinn für eine hermeneutische Phänomenologie Rechtsordnung und Gesetz haben können: – das Gesetz, das nach Platon nicht in sich „das Beste“, sondern nur „das Zweitbeste“ (deuteron hairetéon) ist 19 . Jedoch: vielleicht ist das Gesetz nicht nur deshalb das Zweitbeste, weil es in der menschlichen Geschichte und in ihren faktischen Umständen, d.h. den Verhältnissen der Macht, die in ihr herrschen, einer Institution bedarf, die verhindert, daß der Mensch dem Menschen ein Wolf werde. Daß das Gesetz

18 Vgl. AQ 206 (= JS 352). 19 Nomoi 875, d 3–4.

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– auch – eine solche Veranstaltung ist, darin sind sich Platon, Hobbes und Kant einig 20 Man muß sich aber fragen, ob der eigentliche und tiefere Grund dafür, daß wir als Menschen in der Zeitigung unseres Daseins der Institutionen von Recht und Gesetz bedürfen, letztlich nicht sowohl in der Sterblichkeit wie in der Weltlichkeit unseres Daseins liegt. Gerade wenn man von dem diachronen Urakt menschlichen Daseins ausgeht, dem Ertragen der Wahrheit als der „Wirklichkeit ohne die Versöhnung der Zeit“ 21 , wird diese Begründung sichtbar. Denn bereits in dem Sich-Einlassen mit der Diachronie, die im Geschehen der Verantwortung offenbar wird, verbirgt sich eine Anerkennung meiner Sterblichkeit. Ich bin, wiewohl zu unendlicher Verantwortung für den Anderen herausgefordert, doch endlich. Es ist ja gerade die „Unmöglichkeit meiner Möglichkeiten“ 22 , die mir in meinem verantwortlichen Mich-zeitigen offenbar wird. Ich erkenne meine Endlichkeit an, indem ich mich auf die Unterbrechung (rupture) der als Möglichkeit durch meine Subjektivität leistbaren Synchronie einlasse. Ich lasse mich darauf ein als die in der Verantwortung andrängende und zu ertragende Wahrheit. Ich kann dem Anderen als dem Anderen selbst, – dem Anderen als Person, unbedingtem Zweck an sich selbst – nur antworten, wenn ich mich über die von mir in meiner Zeitigung intentional zu einer Einheit gebrachte Synthesis hinausrufen lasse. Im Hören auf den Anderen als den Anderen, welches in der Ver-antwortung geschieht, nehme ich die Endlichkeit meines konkreten Mich-zeitigens an. In dieser Endlichkeit meines sterblich-konkreten Mich-zeitigens liegt es nun aber auch begründet, daß ich mich im Akt der in sich unendlichen Verantwortung nicht dem Anderen und zugleich dem Dritten (und Vierten und Fünften) zuwenden kann. Diese sind ja keineswegs intentionale Objekte, sondern andere Andere, die meine verantwortliche Zuwendung ebenso wie der erste Andere, der nächste Beste, ganz einfordern. Aus dieser Situation des Auftauchens des Dritten entspringt die Notwendigkeit einer Ordnung des Rechtes. Diese trägt der paradoxen Situation Rechnung, welche in der Zeitigung menschlichen Daseins durch die Differenz zwischen grenzenloser Verpflichtung gegenüber dem Anderen und der Notwendigkeit sterblicher Verwirklichung gegeben ist. Die hier zu Tage tretende Problematik ist ebenso aber auch durch mein In-der-Welt-sein gegeben. Ich zeitige mich sterblich in meinem Leibe als in der Welt seiendes Dasein. Meine Welt, in der ich mich zeitige, ist aber nicht das 20 Vgl. Platon. Nomoi 875 b 7–8. Hobbes Leviathan I,13 (De cive 59 – der „homo homini lupus“-

Spruch geht zurück auf Plautus. Asinaria 495). Kant MST A 31. Über den Zusammenhang zwischen Verantwortung für den Anderen und Tod vgl. generell bei Levinas TI (TU 259); AQ 159–162 (JS 276–281); vgl. EDEHH 230 (SpA 284); Entrn 257 u. 262. 21 Dag Hammarskjöld. Zeichen am Wege. München 1965, 132. 22 Vgl. TI 212 (TU 344); TA 57, Anm. 5 (ZA 44, Anm. 6).

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unendliche Sein überhaupt. Sondern sie ist einerseits eine der Erreichbarkeit ihrer materiellen Inhalte und ihrer Geschichtlichkeit wegen begrenzte Welt. Und sie ist andererseits eine mitgeteilte Welt, in die ich mich mit anderem Dasein 23 teile. Diese Mit-teilung, in der ja denn auch Sprache als eine jeweils neu allgemeinverständliche Sprache entspringt, ist aber Mitteilung nicht nur zwischen zweien, sondern den vielen, die jeweils füreinander andere sind. In dieser primordialen Situation sich zeitigenden menschlichen Daseins entspringt die Notwendigkeit, die Güter , d.h. die bejahbaren Inhalte einer insgesamt und deshalb auch im einzelnen begrenzten Welt, miteinander zu teilen. In dieser Situation entsteht die Notwendigkeit einer zuteilenden und einer ausgleichenden Gerechtigkeit 24 . Auch bei Platon ist es ja nicht das Gute schlechthin, das geteilt wird. Unter dem Anspruch, gut zu sein, steht vielmehr ein jeder ungeteilt. Es sind vielmehr die Güter , die geteilt werden müssen – in einer Beschränkung der Habsucht, des „Prinzips Eigennutz“, der „pleonexia“. In dieser kann man den platonischen Terminus für den seiner Mitmenschlichkeit wie Sterblichkeit nicht eingedenk seienden conatus essendi sehen 25 . Aber noch vor aller Verstrickung in die faktisch ungerechte und derart böse Geschichte kann man in der Selbstbeschränkung des unendlichen conatus essendi, welcher aus einer Anerkennung der Sterblichkeit wie des mit-geteilten In-der-Welt-seins des sich zeitigenden Daseins hervorgeht, den inneren Sinn des Regelwerkes, der „taxis“, von Recht und Gesetz sehen. Diese erscheinen derart dann als Mittel zu einer aus einem als Antworten auf die „Herrlichkeit des Unendlichen“ verstandenen Verantwortung hervorgehenden Verwirklichung von unendlich bestehen könnender Gerechtigkeit. Als derartiges Regelwerk muß das von einem geschichtlichen Gesetzgeber als taxis verfasste Gesetz nun aber, im Gegensatz zu dem unendlichen primordialen Akt der Verantwortung, von einer endlichen Intentionalität bestimmt sein. Daß es für das menschliche Sich-zeitigen Gesetze gibt, ist zunächst einmal ein Erfordernis des sterblichen Ver-antwortlichseins selbst. Wir haben mit der Rechtsordnung „etwas im Sinn“. Wir intendieren nämlich, der unbedingten Würde aller anderen Menschen gerecht zu werden angesichts unserer Sterblichkeit und der Endlichkeit der Welt, in die wir uns teilen. 26 23 Zu „Mit-Dasein der Anderen“ vgl. bei Heidegger SuZ 297; ferner „Miteinandersein“ GA 21,6

und 151. GA 29/30,100 und „Miteinander-sein“ GA 24,197.

24 Vgl. dazu Aristoteles. Nikomachische Ethik und E. Wolf. Vom Wesen der Gerechtigkeit. In:

ders. Rechtsgedanke und biblische Weisung . Tübingen 1948, 9–32.

25 Nomoi 875 B 7. 26 Derart darf denn auch das Kirchenrecht keineswegs nur binnentheologisch oder gar lehramts-

positivistisch begründet werden. Es erweist sich – wenn es denn Recht ist – vielmehr in der Gemeinschaft der Glaubenden immer auch als Statthalter der aus dem Personsein als solchem sich ergebenden Pflichten und Rechte.

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Angesichts der Endlichkeit unseres Uns-miteinander-zeitigens bringt die aus dieser Situation erwachsende Rechtsordnung eine endliche Intentionalität des von ihr Gesatzten als einem endlichen Entwurf von Zukunft mit sich. Es bringt die finite Inhaltlichkeit einer Gesetzesordnung mit sich. Denn das Gesetz muß verbindlich sein. Es muß eine für alle anderen Anderen und d.h. auch für den Gesetzgeber selbst dauernde Ordnung durch allgemeine Sätze aussprechen. Es muß sich als eine vom Bewußtsein durch die synchronisierende Identifikation einer Einheit in der Vielheit geleistete Ver-gegenwärtigung (re-présentation) aussprechen. Seine Intentionalität hat die Form der thematisierenden Synchronie – oder gemäß der alten Formel Ulpians: einer in endlichen Propositionen verfaßten constans et perpetua voluntas 27 . Es muß auf konkrete endliche „Fälle“ anwendbar sein. Damit steht das Gesetz denn aber kraft seines intentionalen Charakters scheinbar in einem Gegensatz zu dem Ursprungsakt der im Augenblick geschehenden unvermittelten und unendlichen Verantwortung. Dieses Gegensatzes wegen kommt es denn ja auch dazu, daß Recht und Gesetz häufig als der dem wirklichen Leben entgegenstehende Zwang verstanden werden können. Und daher kommt es, daß eine Alternative „entweder Verantwortung oder Gesetz“ aufgebaut werden kann, die scheinbar durch die paulinische Polemik gegen den nomos sogar ihre theologische Rechtfertigung erhält. Sucht man aber, wie wir dies taten, die Notwendigkeit dafür, Gesetze als menschliche Werke zu schaffen, in der unendlichen Vorladung durch den Anderen selber und der in dieser sich zeigenden Notwendigkeit, sie in einem leiblichen, sterblichen Dasein in einer mit den vielen anderen geteilten Welt zu verwirklichen, so zeigt sich, daß das Gesetz als menschliche intentionale Leistung zu dem Mittel für eine solche Verwirklichung wird; – und derart in der Tat zum nur Zweitbesten. Das Beste selbst kann nur die unmittelbar in der Verantwortung geschehende gerechte Daseinsverwirklichung in der Begegnung mit dem Anderen als ihm selbst sein; immer freilich in den Bedingungen unserer Endlichkeit. Andererseits ist dieses intentionale Wesen des Gesetzes, das eine transzendentale Vorgabe für Menschsein auf Zeit bedeutet, wie alles Äußerste des Menschen aber zweideutig und gefährdet. Denn die Synchronie als intentionaler Grundzug des Sich-zeitigens menschlichen Daseins in der Gesetzgebung kann in die Idolatrie einer Behauptung des vom Gesetzgeber vermochten Absoluten umschlagen. Kants Wort von dem Recht als dem „Augapfel Gottes auf Erden“ 28 kann idolisch verstanden werden, wenn der das Gesetz Gebende und Verwaltende sich selbst darin absolut setzt. Er ist dann nicht 27 Ulpian Fragment 10. 28 I. Kant. Pädagogik. Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie

der Wissenschaften. Bd. IX, 490.

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mehr dessen eingedenk, daß er selbst als allererster durch den Anspruch, welcher in dem Gemeinten des menschlichen Regelwerkes des Gesetzes spricht, unendlich in die Verantwortung vorgeladen ist. Deshalb muß schon bei der Schaffung des Gesetzes dessen synchronisierende Intentionalität als eine solche verstanden werden, die nicht absoluter Selbstzweck ist, sondern im Dienste des Grundverhältnisses der Verantwortung steht. 29 Dieser Dienstcharakter der Intentionalität des Gesetzes muß sich denn ja auch in der Judikatur immer wieder herausstellen. In der Judikatur bleibt die Verantwortung, so könnte man sagen, das ständige wache Gewissen, – oder auch das stete Wissen um das „auch nicht“, im Sinne von Levinas also die „mauvaise conscience“ – der Rechtsordnung. Nur dadurch erweist sich diese als eine lebendige, – als „lebendiges Gesetz“ 30 . In einem derart lebendigen Recht bedeutet die Intentionalität der Zeitigung des Gesetzes aber dann in Wirklichkeit auch nicht eine absolut geschlossene Synchronie. Sie erweist sich vielmehr als die gebrochene Intentionalität einer „contemporanéité du multiple“ 31 . Die vielen Anderen und ich an erster Stelle, die wir alle dadurch mündige Menschen sind, daß wir je unsere Zeit haben und darin in die Verantwortung füreinander vorgeladen sind, wir bringen für dieses unser Uns-zeitigen-miteinander eine Regel zur Sprache. Als Regel der contemporanéité hat das Gesetz als Gesagtes die Struktur der bedingten Simultaneität. Diese muß indessen, wie schon Rosenzweig gezeigt hat, immer wieder aufgebrochen werden in die Aktualität des „Heute“ hinein 32 . Dies geschieht durch den, der gemäß dem Gesetz handelt. Es geschieht ebenso durch den, der das Gesetz auslegt. Nur so erweist das Gesetz sich als lebendiges, das nicht in einem zeitlos synchronisierenden Bewußtsein und in Texten eingefroren vorliegt, sondern seine Wirklichkeit im gelebten Dasein gewinnt.

29 Vgl. bereits Friedrich Carl von Savigny. System des heutigen römischen Rechtes. Bd. 1, Berlin

1840, 332: „Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freie Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen inwohnenden, Kraft sichert.“ 30 Une loi vive. Ich bilde diesen Terminus im Anschluß an den Ricœurschen Begriff der „metaphore vive“. 31 Vgl. dazu AQ 203 (JS 347). 32 Gesetz, „das sich im Augenblick, wo es vernommen wird, in Tat umsetzt“. In der Auseinandersetzung mit Martin Buber „Die Bauleute. Über das Gesetz.“ GS 3,707.

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Biblisch verstanden … Biblisch verstanden stellt sich das „Gesetz“ dar als das sich dem Bund verdankende und immer neu zu lernende Gesetz 33 . Es gilt: „Gerechtigkeit bedeutet die immer neue Revision der Gerechtigkeit und das Erwarten einer besseren Gerechtigkeit“ 34 . Oder, so kann man mit Rosenzweig sagen: Die unendliche göttliche Verheißung hält das Gesetz bei Kräften 35 . Bleiben wir bei dem, was eine die Zeitigung des Daseins mit dem Anderen ernst nehmende Phänomenologie deutlich machen kann, so werden wir sagen dürfen: das Gesetz erweist sich einerseits als der Ausdruck der Sorge des sich zeitigenden Daseins und seines Könnens. Als solches hat es die intentionale Gestalt des synchronisierenden Entwurfes. Aber das Sich-vorweg-sein der Sorge zeigt sich in der Wurzel der Bedingungen seiner Möglichkeit zugleich durchkreuzt von einer in der Verantwortung als menschlichem Urakt deutlich werdenden Verheißung, nämlich der Verheißung des über unser bloß Menschenmögliches, unser bloßes Können, hinausgehenden und es zugleich erfüllenden erhofften Heiles. In dieser Hoffnung offenbart sich der wahre transzendente Ursprung allen menschlichen Rechtes.

33 Vgl. etwa GS 2,362: „Tora, sie Lernen und Halten, ist die allzeit gegenwärtige Grundlage eines

jüdischen Lebens“.

34 „Justice est toujours revision de la justice et attente d’une justice meilleure“. E. Levinas. De

l’Unicité, in: Archivio di Filosofia LIV (1986), 307.

35 Vgl. dazu bei Rosenzweig GS 3,629 „Die Verheißung rettet das Gesetz vor dem Schicksal,

Gesetz der Menschen, Menschensatzung zu werden“. In diesem Sinne ist denn für Rosenzweig die Tora auch „nur scheinbar abgeschlossen. In Wahrheit in einer dauernden An- und Einformung neuer Inhalte begriffen“ (GS 3,522).

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VII. Der Andere, der Dritte und die Bürgschaft für die Gerechtigkeit In einem philosophischen Denken von Rang stellen sich die offenen Fragen als das dar, was uns letztendlich zu denken gibt. Im Falle des Denkens von Emmanuel Levinas laufen sie in der Frage nach dem Dritten zusammen. Offene Fragen sind keine blinden Flecken, die der Sehende selbst nicht sieht. Sie stellen sich auch nicht als Verdrängungen im Sinne der Psychoanalyse dar. Vielmehr verstehen wir unter ihnen die von einem Denker selbst benannten offenen Fragen. Sie werden aus der Mitte seines Denkens heraus allererst als Fragen sichtbar. Um möglichst differenziert deutlich zu machen, was im Denken von Levinas in der Frage nach dem Dritten zum Fragen herausfordert, möchte ich mir gestatten, dies zunächst einmal zu rekonstruieren.

1. Der Dritte in der Unterscheidung von dem Anderen Fragen wir uns, was der Dritte in der Unterscheidung von dem Anderen sagen will, so stoßen wir zunächst auf zwei Grundbedeutungen: Der Dritte, das meint zunächst einmal den unbeteiligten Anderen. Es meint den Unparteiischen, den Neutralen, den allgemeinen Anderen, der deshalb auch mit allen Anderen verglichen werden kann und – in den indoeuropäischen Sprachen zumindest – in der Konjugation des Verbums „sein“ einen eigenen Fall ernötigte: den der 3. Person. Dieser eigene dritte Fall wird etymologisch gesehen aber mit einem neuen Stamm angezeigt, – nicht mehr dem „bin/bist“, sondern dem alles vergleichenden „ist“. Dieser Fall der dritten Person ist der Fall der Sprache, in welchem dann auch allererst Wissenschaft im Sinne des Urteilens und der sicheren Aussagen möglich werden, propositionales Reden, das Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, zeitloses sicheres Gelten. Die dritte Person und die Verwurzelung alles epistemischen Sprechens in dieser scheinen also den Idealfall für jenes Streben darzustellen, das Aristoteles insgesamt in der Metaphysik thematisiert und das als ein Grundstreben des Menschen angesehen werden darf: das oregesthai eidenai, das Streben danach zu wissen, d.h. zu sehen 1 , oder, nimmt man die aristotelische Bestim-

1 Aristoteles. Metaphysik 980 a 21.

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mung der prot¯e ousia als des to ti e¯ n einai hier mit zur Hilfe: das Streben danach gesehen zu haben 2 . Lässt man sich indessen, so wie Levinas das in seinem Denken zu tun versucht, mit dem ursprünglichen Geschehen von Sprache selbst ein, dem Dire, das heißt mit der „Sprache in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden“ 3 als dem Ersten und Ursprünglichen, so zeigt sich, dass das Reden in der dritten Person ein abkünftiges Sprechen ist. Lässt man sich nämlich mit dem ursprünglichen Geschehen von Sprache ein – dem Dire selbst vor allem dit – so zeigt sich, dass Sprechen ursprünglich nicht isoliert konstatierend, sondern, solchem Konstatieren vorausgehend, immer schon performativresponsorisch geschieht. Dies ist im übrigen denn auch die Konsequenz aus J.L. Austins „How to do things with words“: The total speech act in the total speech situation is the only actual phenomenon which, in the last ressort, we are engaged in elucidating“ Und: „The truth or falsity of astatement depends not merely on the meanings of words but on what act you were performing in what circumstances“ 4 . Im Prinzip hat dies durchaus auch Aristoteles in Peri Hermeneias gesehen, wenn er etwa die Bitte als legitime Gestalt des Sprechens gelten lässt. Dem epistemischen Sprechen soll nach Aristoteles jedoch ausschließlich der Aussagesatz zugrunde gelegt werden. 5 Aus dem ganzen Geschehen von Sprache wird im aussagenden Reden in der dritten Person aber ausgeblendet: a) dass es im Sprechen um das unvertretbare Sprechen meiner selbst zu dem anderen Menschen als ihm selbst geht. Ausgeblendet wird das „secret du soi“ 6 . b) wird ausgeblendet, dass das ursprüngliche Sprechen dank einer „inajournable urgence“ 7 geschieht, einer unvertagbaren Dringlichkeit, die mich zwingt, hier und heute, jetzt zu sprechen, und c) dass das, was im ursprünglichen Sprechen geschieht, in welchem ich als ich selbst zu einem Anderen als ihm selbst spreche, den Anderen und mich in eine offene Zukunft hinein führt. Diese steht im Sprechen auf dem Spiel. Sie ist recht eigentlich erst die Sache des Sprechens. Der Andere ist für mich gerade dadurch der Andere, dass er als derjenige, der mit sich selbst und der Welt etwas beginnen kann, der mir Ungleichzeitige ist. Sein Selbstsein, – durchaus verstanden im Sinne der Selbstzwecklich2 Vgl. Aristoteles. Metaphysik 1032 b 1–2. 3 Um hier die Wendung Franz Rosenzweigs zu gebrauchen. Vgl. GS 2, 194. 4 J.L. Austin. How to do things with words. Oxford 1962, 147 und 144. 5 Vgl. Aristoteles. Peri Hermeneias 17 a 2. 6 Sub 506 (= SpA 327). 7 TI 187 (= TU 307).

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keit Kants und erst recht im Sinne des „Selbst“ Kierkegaards –, gründet gerade darin, dass sein Sich-zeitigen nur sein höchsteigenes, unvertretbares Sich-zeitigen sein kann. Das ursprüngliche Sprechen ist deshalb notwendig ein dia-chrones Geschehen. In dem Zeitbruch der Dia-chronie werden die miteinander Sprechen füreinander als die sterblich Sprechenden offenbar. In solchem Sprechen als der „Sprache in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden“ nehme ich immer meine eigene Endlichkeit an, meinen Tod, der nicht einfach als Existential des „Daseins zum Tode“, d.h. als meine Möglichkeit begriffen werden kann, sondern vielmehr als „Unmöglichkeit meiner Möglichkeit“ 8 verstanden werden muss, – als unerbittliche Begrenzung meiner von dem Anderen her. Gerade diese zeitliche Struktur einer fundamentalen Diachronizität ursprünglich geschehender Sprache wird jedoch ausgeblendet, wenn das Reden in der dritten Person zum einzigen Horizont jedes Sprechens gemacht wird. Das konstatierend propositionale Reden, dessen alles erschöpfende Maßeinheit der neutrale Dritte ist, erweist sich so seinem Wesen nach zugleich als das abgeschlossen synchrone Reden, das alles in die Gleich-gültigkeit, d.h. in die universale Vergleichbarkeit in einer und derselben Zeit bringt. Diese hat nur eine immanente, aber keine wirkliche Zukunft. Die scharfe Abhebung des abkünftigen synchronen Redens gegenüber dem ursprünglich diachronen Sprachgeschehen steht bei Levinas ganz offensichtlich zunächst einmal im Dienste einer Rettung der ursprünglicheren „Phänomene“, – wenn man dies denn noch Phänomene nennen will –, nämlich der ursprünglichen Wirklichkeit des Anderen als des Anderen selbst, „dessen Schöpfer ich nicht war“ 9 . Damit steht es zugleich aber im Dienste der Rettung meiner selbst als des moi responsable, das sich in diesem Ur-Verhältnis als in einer „passivité plus passive que toute passivité“ 10 vorfindet. Bliebe es nun allerdings nur bei dieser scharfen Abhebung des überzeitlichen transzendentalen Redens, dessen Subjekt allein der neutrale überall gleichgültige Dritte ist, von dem ursprünglich antwortend-verantwortlichen Sprechen im Angesicht des Anderen, so würde Levinassens „phenoménologie bouleversée“ 11 lediglich auf eine reine Alternativik hinauslaufen, ähnlich etwa der Bubers zwischen dem Ich-Du und dem Ich-Es. 2) Dass dies indessen nicht zutrifft, zeigt bei Levinas nun gerade aber die vertiefte Besinnung auf den Dritten an, in welcher erkannt wird, dass der Dritte eben keineswegs nur der neutrale Dritte ist, wie dies zunächst scheinen mag, sondern vielmehr der Andere eines Anderen. Mein Nächster, durch 8 Vgl. ausführlich dazu DMT 32–64 und DD 82–83 (= WG 84–86). 9 Sub 506 (= SpA 326).

10 Vgl. dazu oben S. 27–32. 11 Vgl. dazu EDEHH 196 „bouleversement de l’intentionalité“ (= SpA 225).

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dessen Antlitz ich in das Verhältnis einer ursprünglichen Verantwortung vorgeladen bin, ist seinerseits „Dritter im Verhältnis zu einem Anderen“ 12 oder, so kann denn auch gesagt werden: In den Augen des Anderen „schaut mich schon der Dritte an“ 13 . Dieses Mich-anschauen des Dritten in den Augen des Anderen jedoch „erschließt die Menschheit“ 14 . Insofern das ursprüngliche Sprechen immer zugleich diachron – ereignishaft geschieht und – wenn auch nur vorläufig – synchronisierend , derart nämlich, dass es nicht nur von dem Anderen und mir, sondern von den vielen, von unseren Zeitgenossen, verstanden werden will, steht der Dritte als der Andere schon mit in der Aufmerksamkeit, wo immer ursprüngliches Sprechen, Sagen, Dire überhaupt beginnt. Im Antlitz des Anderen stehen in Wirklichkeit immer schon die Dritten mit in der Rede, nicht nur die „Nächsten“, sondern auch die „Fernen“. Levinas greift dafür ausdrücklich auf den Propheten Jesaja zurück 15 . Aber wird in dieser Weise dann nicht die Differenz zwischen dem Anderen und dem Dritten aufgehoben? Lassen wir für einen Augenblick einmal das seit Hegel so bedeutungsgeladene Wort „aufheben“ als Mittel unseres Fragens stehen, so wird alles darauf ankommen wie innerhalb des Levinasschen Kontextes „aufheben“ verstanden werden könnte. Und daran könnte sich dann vielleicht auch zeigen, warum es hier nicht einfach nur um eine Wiederaufnahme der Ethik Kants geht. Mir scheint deshalb, weil Levinas in seinem Denken keine Konstruktion eines wie auch immer gearteten transzendentalen Bewusstseins sucht, sondern ein ursprüngliches Achten auf das Sich-zeitigen des Menschseins, das sich im Geschehen der Sprache zeigt. In einem solchen Hören auf das, was sich in dem ursprünglichen Ereignis der Sprache zwischen dem Anderen und mir zuträgt, zeigt sich nun aber nicht nur, dass dieses ursprüngliche Ereignis mich all meiner vermeintlichen absoluten Besitzerrechte beraubt („me dépouille de la possession qui m’enserre“ 16 ) und so jede abschließende transzendentale Horizontbildung verhindert, vielmehr zeigt sich auch, dass solches Sprechen in seinem Geschehen immer prophetisches Sprechen ist: „prédication, l’exhortation, parole prophétique“ 17 . Solches Sprechen bleibt wesentlich das von mir her (kraft meiner Potenz zu sprechen) nicht abschließbare Sprechen. Der Ort, an dem sich dies zeigt, ist aber der Dritte; nicht als der, über den in der dritten Person abschließend gesprochen werden kann, sondern, der Dritte, 12 Sub 507 „… l’autre, mon prochain, est aussi tiers par rapport á un autre, prochain lui aussi …“

(= SpA 329).

13 TI 188 (= TU 307/308). 14 Vgl. TI 188 (= TU 308).

15 AQ 200 (= JS 343); vgl. Jes 57,19. TI 188 (= TU 308). 16 TI 188 (= TU 308). 17 TI 188 (= TU 308).

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der sich in der Epiphanie des Antlitzes des Anderen mit anzeigt. Indem der Dritte so verstanden wird, wird aus der Sprache als einem reinen System des dit, einem sich selbst genügenden vollständigen Synchronisieren, ein diachron aufgebrochenes Sprechen, dessen Intendiertes da ist und zugleich doch und noch nicht da ist, dessen erhoffte Fülle den Sprechenden angeht und ihn zugleich nackt dastehen läßt, d.h. ohne irgendwelche Verfügungsrechte. Der Dritte als der Andere des Anderen erscheint als der Statthalter dieser Fülle.

2. Der „Dritte im Bunde für die Gerechtigkeit“ Dies ist nun aber auch der Ort, an dem danach gefragt werden kann, wie Gerechtigkeit und Recht unter Zugrundelegung des Levinasschen Denkens verstanden werden könnten. Um in dem Jahr, in dem wir nicht nur den 100. Geburtstag von Levinas begehen, sondern gerade auch des 200. Todestages Schillers gedacht haben, mit einem anschaulichen Beispiel zu dienen: Schillers berühmte Dichtung „Die Bürgschaft“ – ins Französische könnte man dies, wenn denn ein solches Wort existierte, mit „ôtage-té“ übersetzen –, berichtet wie durch zwei Freunde, die füreinander bürgen bis dahin, dass beide ihr Leben füreinander hergeben, am Ende auch der Tyrann Dionys zu dem neuen und wahren Leben der universalen Brüderlichkeit bekehrt wird; – dem Leben, welches denn auch erst die wahre égalité und mit ihr die liberté authentische Wirklichkeit werden lässt. Der Tyrann bekehrt sich zu einem neuen Vollzug seines Daseins. In diesem findet er sich nicht schon vor wie in Naturgegebenheiten, die man in konstatierender Sprache beschreiben kann. Er tritt in diese universale Brüderlichkeit aber auch nicht durch ein bloßes autonomes ethisches Sich-entschließen ein. Vielmehr muss er, – die poetische Beschreibung, die Schiller von diesem Neuwerden des Dionys gibt, ist sehr genau, – vielmehr muss er darum bitten zu der Wirklichkeit des Bundes der universalen Brüderlichkeit zugelassen zu werden: „Ich sei, gewährt mir die Bitte/In Eurem Bunde der Dritte.“ 18 Nur auf diese Weise des Darum-bittens kann er überhaupt zum „Dritten im Bunde“ werden, eine Bestimmung, die im übrigen ja einen unüberhörbaren biblischen Herkunftston hat. Be-rith, Bund, ist bekanntlich eines der wichtigsten Leitworte der ganzen Bibel. Er wird zum Dritten in einer gewährten, sich schenkenden gemeinsamen Strebewirklichkeit, die orientiert ist durch den erleuchtenden Stern universaler Brüderlichkeit. Das Dilemma besteht nun allerdings darin – und darüber spricht Schiller nicht mehr – dass der Tyrann Dionys auch nach seiner Bekehrung zu 18 Friedrich Schiller. Sämtliche Werke. Darmstadt 8 1987, I, 356.

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dem Bund der universalen Brüderlichkeit weiterregieren muss. Und wie wird er dies tun? Welche Urteile wird er in der Gemeinschaft, der er vorsteht, sprechen? Und welches Gesetz wird er als Ordnung und Regel für diese Gemeinschaft setzen? Wir wohnen in diesen Fragen gleichsam der Geburt dessen bei, was die Parolen Gerechtigkeit und Recht als politische Entitäten anzeigen wollen. Das von beiden Worten Gemeinte ist in seiner Wirklichkeit ernötigt durch die Tatsache, dass das Sich-zeitigen von Menschen miteinander, gerade auch als das diachrone Geschehen eines Verantwortlichwerdens für den Anderen, sich als ein Sich-zeitigen von endlichen, sterblichen Daseienden darstellt. Für jeden der derart sterblich Daseienden bedeutet aber der jeweils Andere die Unmöglichkeit seiner Möglichkeiten. Und dies bedeutet zugleich die Herausforderung Leibbürge für den Anderen zu werden, d.h. „ihn in seiner Sterblichkeit nicht alleine zu lassen“. Diese durch unsere Geschichtlichkeit gegebene fundamentale Begrenztheit, das begrenzte sterbliche sein meiner selbst ex nihilo, verunmöglicht das apriorische Verfügen über eine „monadologische Intersubjektivität“ als „transzendentale Seinssphäre“, welche man vielleicht gemäß Husserls 5. Meditation als Grundlage für Gerechtigkeit und Recht anzusetzen versuchen könnte 19 . Vielmehr kann sich die gemeinsame konkrete und d.h. In-der-Welt-seiende Daseinsverwirklichung durch die „Dritten im Bunde“ in ihrem gelebten Verhältnis zueinander je nur wieder geschichtlich zutragen. Dabei wird dieses Sich-Zutragen allerdings auch jeweils für eine gewisse Dauer bleibende geschichtliche Gestalten annehmen. Und diese können und müssen dann in der verstehenden Auslegung ihrer durchaus auch in setzender und urteilender Sprache, d.h. in der 3. Person zugänglich gemacht werden. Dabei bleibt unbedingt und derart gleichsam zeitlos gültig nur die in der „passivité plus passive que toute passivité“ geschehende Herausforderung Leibbürge für den Anderen zu sein. Das bedeutet negativ: ihn nicht zu töten, – positiv: ihn in seiner Sterblichkeit nicht alleine zu lassen. Im Antworten auf diese in dem Angegangenwerden durch die „gloire de l’Infini“ gründenden Herausforderung geschieht Gerechtigkeit. Sie geschieht als geschichtliche Verwirklichung der Bürgschaft für den Anderen. Ulpian beschreibt Gerechtigkeit ja ganz richtig als „constans et perpetua voluntas jus suum unicuique tribuendi“. 20 Was sich im Geschehen von Gerechtigkeit zuträgt, stellt sich keineswegs einfachhin bloß als ein kognitiver Akt dar, sondern als ein durch die Zeitigung des Daseins selbst vollzogenes Tun. Andererseits kann ein solches „voluntatives“ Geschehen sich dann durchaus in einem in Aussagen zur Sprache bringenden „jus“ niederschlagen.

19 Vgl. Hua 1, 121. 20 Ulpian. Fragment 10.

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Das Problem liegt hier freilich in dem Substantiv „jus“. Denn dieses Substantiv ernötigt es in der Tat durch Urteile festzulegen, was jeweils Recht ist. Es ernötigt es das, was in der Zeitigung des Daseins nur diachron im Verhältnis zu dem Anderen als dem Anderen geschehen kann, in einen synchronen Kontext einzubringen. Die relative Synchronie einer tatsächlich gelebten Lebenswelt ernötigt Recht als gesatztes. Sie ernötigt Recht-sprechung und Urteile gerade umwillen des Anderen als des Anderen, der mich unbedingt als er selbst angeht, zugleich aber als Anderer der Anderen und unter Anderen mich herausfordert; Anderen unter Anderen, die jeweils nur in einer Welt, d.h. einem mit Anderen geteilten synchronen Zusammenhang da sind. Dieser bestimmte eine und gleichzeitige Zusammenhang, den der gerechte Gesetzgeber ordnen muss, kann ihn nun allerdings in die Versuchung führen zu leugnen, dass die „Welt noch nicht fertig“ ist 21 , sondern vielmehr, durch den geschichtlichen, von dem Anderen als ihm selbst herausgeforderten und so sich selbst aufgegebenen Menschen immer noch weiter geschieht. Sieht er daran vorbei, so wird er zum „Tyrannen des Himmelreiches“, wie Rosenzweig dies in aller Deutlichkeit im III. Teil des Sterns der Erlösung herausgearbeitet hat, der im übrigen mit dem Motto der Erstausgabe von Schillers Räubern „in tyrannos“ überschrieben ist. Rosenzweig hat dadurch seinen ausdrücklich so verstandenen theologisch-politischen Traktat, nämlich Stern III, bewusst in die Problematik hineingestellt, die durch die Französische Revolution ans Tageslicht getreten war, nämlich wie denn fraternité, egalité und liberté zusammenzubringen seien. Die entscheidende Einsicht des Rosenzweigschen theologisch-politischen Zeitigungsdenkens ist dabei, dass Welt einerseits die je konkrete Welt meinen muss, andererseits aber einen prophetischen Erwartungshorizont darstellt: „Die Ganzheit ihres Seins aber in der vollen Länge der erfüllten Zeit muss erst noch entstehen“. 22

3. Das gegenwärtige Dilemma des Ausbleibens einer denkerisch zureichenden Fundierung der Rechtsordnung Fragt man sich, was Levinas für die mögliche Grundlegung einer Philosophie des Rechtes durch seine phénoménologie bouleversée des Dritten leisten kann, so ist dies zunächst einmal sicher nur, dass er die hier alles fundierenden Verhältnisse ans Licht hebt. Hinsichtlich einer möglichen Philosophie des Rechtes hat dieses zunächst lediglich eine kritische Funktion. Im Sinne eines 21 Vgl. dazu Franz Rosenzeig. GS 2, 243–244 „Die unfertige Welt“. 22 GS 2, 244.

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Ursprungsdenkens weist die phénoménologie bouleversée du Tiers nur auf, welches die Ursprünge und die Bedingungen der Möglichkeit für Recht und Staat sein müssten. 23 In der Moderne ist eine philosophische Begründung des Rechtes einerseits vor allem von Hobbes her versucht worden, andererseits im Anschluss an Kant und dann an Hegels Rechtsphilosophie, dem bislang wohl letzten Versuch Recht und Religion zusammenzubinden. Die Versuche, Recht in einem Naturrecht zu gründen, zeigen zwar ein Bedürfnis des Denkens an, bleiben aber, wie Erik Wolff immer wieder herausgearbeitet hat, so lange unbefriedigend als philosophisch nicht geklärt ist, was unter „Natur“ verstanden werden soll. 24 Versuche einer Phänomenologie des Rechtes zu entwickeln, so wie sie etwa von Husserls Sohn Gerhart unternommen wurden 25 oder in Frankreich von Charles Donius 26 , sind bisher ephemer und marginal geblieben. Und ähnliches wird man angesichts vereinzelter Versuche sagen müssen, solches von Heidegger her ins Werk zu setzen. 27 Erst recht kann aber ein blosser Rechtspositivismus, nach Kant ein „hölzerner Kopf, der schön sein mag, nur schade!, dass er kein Gehirn hat“ 28 , das Denken nicht befriedigen. Gleichwohl scheint ein solcher in der Frage, wie Recht fundiert werden könne heute weitgehend die responsio communis darzustellen. In ihrem Lehrbuch „Rechtsphilosophische Grundbegriffe“ 29 gelangen Nauke und Harzer nach einer differenzierten Darstellung der gegenwärtigen Lösungen einschliessich der der Diskursethik zu dem abschliessenden Urteil: „Gegenwärtig befindet sich die Rechtsphilosophie in einer ziemlich ausweglosen Situation. Es gibt einen Satz auf den die meisten Wissenschaftler/Wissenschaftlerinnen und Politiker/Politikerinnen, die über Recht nachdenken, sich einigen können: Absolute Maßstäbe für Gerechtigkeit gibt es nicht, d.h. es gibt keine Metaphysik des Rechts. So geht Recht in politischer Bewegung auf. Es gibt nur vorübergehende Regelfestsetzung.“ Die Autoren fügen unter Verweis z.B. auf 23 Auf diese wahren Bedingungen der Möglichkeit hat neuerdings in einer glänzendenden, die

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landläufige Fundierung des Rechtes bei Kant durch eine rein subjektive Freiheit korrigierenden und die Objektivität der Freiheit herausarbeitenden Analyse Gerold Prauss aufmerksam gemacht. Gerold Prauss. Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel . Freiburg i.Br. (Alber) 2008. Vgl. dazu Erik Wolff. Das Problem der Naturrechtslehre. 2 1959. Gerhart Husserl. Recht und Welt. Halle 1929. Ders. Recht und Zeit. Frankfurt 1955. Charles Donius. Analyse existentiale du Droit. Strasbourg 1955. Ders. Existentialisme, Phénomenologie et philosophie du droit. In: Archives de Philosophie du droit. Paris (Sirey) 1957, 221–231. Die einzige Arbeit zu dem Thema, die mir bekanntgeworden ist: Walter Heinemann. Die Relevanz der Philosophie Martin Heideggers für das Rechtsdenken. Diss. Freiburg/Br. 1970. Kant. Metaphysik der Sitten. AB 32. Wolfgang Naucke und Regina Harzer. Rechtsphilosophische Grundbegriffe. Fünfte, neu bearbeitete Auflage. München 2005, 157. Eine knappe ausgezeichnete Darstellung der gegenwärtigen Situation bietet auch: Hasso Hofmann. Neuere Entwicklungen in der Rechtsphilosophie. Berlin 1996.

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Otfried Höffe dann allerdings hinzu: „Der Widerstand gegen diese bequeme Annahme nimmt nur langsam, aber beharrlich, Gestalt an.“ Und unmittelbar daran anschliessend: „Die Politik ist es zufrieden, weil ihr der ganze Bereich des Rechts nach Willkür zu Verfügung steht. Die Willkür gewinnt gegenwärtig durch Mehrheiten Gestalt“. Dass dieser Zustand das Denken nicht befriedigen kann, liegt auf der Hand. Deshalb ist man zunächst einmal geneigt, das Unterfangen von KarlOtto Apel und Jürgen Habermas zu begrüßen, innerhalb einer „Universalpragmatik“ durch „Diskursethik“ das Recht zu fundieren, – wobei dies rein zweckrational im Horizont einer radikal saekularisierten Gesellschaft geschehen soll. Diese kennt aber nur noch ein autoreferentielles „Transzendieren“. Und was kann dann „Ethik“ bedeuten? Inwieweit jüngste Äusserungen von Habermas zu „Religion“ 30 seine bisherige Diskursethik in einen neuen Zusammenhang stellen, bleibt abzuwarten. Fragt man sich, was das Levinassche Denken über seine kritische Funktion hinaus möglicherweise zu einer ausgearbeiteteren philosophischen Grundlegung von Recht beitragen könnte, so ist, so meine ich, an erster Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass es Levinas in der Verwurzelung des Denkens in einer „bekehrten Intentionalität“ um das geht, was man in Anlehnung an den Sprachgebrauchs des späten Heidegger ein „andersanfängliches Denken“ nennen könnte. Diesem geht es nicht darum, einen zeitlos gegebenen synchronen transzendentalen Bewusstseinsgehalt zu finden. Vielmehr gründet es in einem Sich-einlassen mit jenem „Ur-erleiden“, das mich zum geschichtlichen Leib-bürgen für den Anderen und den Dritten macht. Damit macht diese endliches Dasein gründende Ur-erleiden mich aber zugleich zum Leibbürgen für das zu dem Anderen und dem Dritten notwendig gehörende Andere von Welt, welches in der Seinsart des Dritten gegeben ist und als Welt nur synchronisierend zur Sprache gebracht werden kann. Dies wird bei Levinas allerdings kaum ausgearbeitet. Diese Grund „korrelation“ der passivité ereignet sich jedoch für das durch die „Unmöglichkeit seiner Möglichkeit“ 31 gezeichnete sterbliche Dasein diachron immer neu. Die Synchronizität des Rechtes muss deshalb immer neu in das Licht des ursprünglichen diachronen Ereignisses eingebracht werden. 32 30 Jürgen Habermas/Jan Philipp Reemtsma. Glauben und Wissen. Frankfurt a.M. 2001. 31 Vgl. oben Anm. 8.

32 Vgl. dazu auch die Analysen der Zusammengehörigkeit von Synchronie und Diachronie, die

Ludwig Wenzler im Nachwort zu der deutschen Übersetzung von „Le temps et l’autre“ (ZA) gegeben hat. Emmanuel Levinas. Die Zeit und der Andere. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. Hamburg (Meiner) 1984, 67–92. Neuausgabe in der „Philosophischen Bibliothek“, Bd. 546, Hamburg 2003. Eine von Levinas gewünschte Übersetzung ins Französische durch Guy Petitdemange erschien in: Emmanuel Levinas. Cahier dirigé par Catherine Chalier et Miguel Abensour (= Cahier de L’Herne; 60), Paris 1991, 185–198.

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Indem das Denken sich damit einlässt, antwortet es auf die ursprüngliche assignation (die man in der unzeitlich transzendentalen Phänomenologie Husserls Ur-korrelation nennen könnte) und es wird durch diese zugleich in eine Infinition hineingeführt. Das sich derart auf die Ursprungsverhältnisse besinnende Denken gibt der „Gloire de l’Infini“ 33 die Ehre. Daraus ergeben sich dann aber Verhältnisse, die in erster Linie nicht als Rechte, sondern als Pflichten zur Sprache gebracht werden müssen. Bei aller Kritik, die Levinas an Äußerungen Simone Weils im einzelnen geübt hat, ist er mit ihr, – so scheint mir, – doch darin einig, dass die Menschenrechte von einem in den Ursprung zurückgehenden Denken, nur als „Pflichten gegenüber dem menschlichen Wesen“ verstanden werden können: „obligations envers l’être humain“ 34 , nämlich deshalb, weil sie sich aus dem Verhältnis zu einer „Wirklichkeit“ ergeben, die „außer der Welt liegt, d.h. […] außerhalb jedes Bereiches, der den menschlichen Fähigkeiten zugänglich ist“. Ohne diesen anderen Anfang bei dem Verhältnis der in der passivité plus passive que toute passivité mich unbedingt angehenden „obligations“ muss jedes „Recht“ unter Menschen zynisch bleiben. In der neueren Diskussion um Recht und Verfassung ist im deutschen Sprachraum etwa von Ernst Wolfgang Böckenförde und neuerdings von Habermas immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die einseitige Beziehung der Grundlegung von Recht auf das Verständnis von Freiheit als Willkür-Freiheit im Sinne Kants und der „déclaration des droits de l’homme“ von 1789 35 eine positive Bestimmung von Freiheit außen vor lässt. „Einer so angesetzten Grundlegung „fehlt die Orientierung an einem Woraufhin, das in Freiheit ergriffen wird. … Das Verhältnis von Freiheit und Recht bleibt ein bloßes Außenverhältnis“. 36 Kann aber dann und insbesondere angesichts einer Gesellschaft, die sich faktisch als die einer „entgleisenden Modernisierung/Saekularisierung“ erweist, einer „in vereinzelte, selbstinteressiert handelnde Monaden“ auseinanderfallende Gesellschaft von Einzelnen, „die ihre subjektiven Rechte nur noch wie Waffen gegeneinanderrichten“, was sich denn äußert in „einer politisch unbeherrschten Dynamik von Weltwirtschaft

33 AQ 179f. (= JS 308f.) 34 Simone Weil. Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen. Übers. und hrsg. von

Friedhelm Kemp. Olten und Freiburg 1976, 71. Simone Weil. Ècrits de Londres et dernières lettres. Paris (Gallimard) 1957. 74. Simone Weil sah in diesem politischen Glaubensbekenntnis ausdrücklich ein Gegenstück zu der „Déclaration des droits de l’homme“ von 1789/93. 35 Vgl. Kant. Metaphysik der Sitten (1797) AB 33: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann. 36 E. W. Böckenförde. Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt 1991, 45.

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und Weltgesellschaft“ 37 , ein von den Anderen als den Dritten bejahbares Recht überhaupt noch gefunden werden? „Wieweit können staatlich geeinte Völker allein aus der Gewährleistung der Freiheit des einzelnen leben ohne ein einigendes Band, das dieser Freiheit vorausliegt?“, fragt Böckenförde 38 und antwortet darauf mit der mittlerweile zur gängigen Münze gewordenen These: „Der freiheitlich saekularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ 39 Habermas mahnte in dieser Situation 2004 unter Beisein des damaligen Kardinals Ratzinger, dessen „kosmologische und heilsgeschichtliche Annahmen“ er allerdings auszuklammern wünschte, die Solidarität an, die im demokratischen Prozess selber liege, als der „nur gemeinsam auszuübende(n) kommunikative(n) Praxis“ 40 . Aber wie gelangen wir zu der Solidarität? Mir scheint, dass das Levinassche Denken, welches allerdings ausdrücklich einen am Phänomen ausgewiesenen religiösen Gehaltssinn hat, hier hilfreich sein kann. Denn es führt als eine Hermeneutik der Faktizität in eine Besinnung auf das tatsächliche Sich-ereignen von Geschichte. Geschichte ereignet sich in ihrem Ursprung immer zwischen dem Anderen und mir und den im Angesicht des Anderen mich vorladenden Dritten, welche nicht nur die nächsten Dritten vertreten, sondern auch die „Fernen“: „l’humanité tout entière“ 41 . Der Sterblichkeit – biblisch positiv:der Geschöpflichkeit – der Daseienden wegen muss dieses Geschehen der Geschichte zwischen Menschen als ihnen selbst immer wieder neu geschehen. Das in solchem Geschehen „Intendierte“ – wenn wir dieses Wort hier dann noch gebrauchen wollen, – besser: das in solchem Geschehen aufmerksam Erwartete und Erhoffte, als das worauf die in der passivité geschehende attente sich ausgespannt findet, ist aber die Gerechtigkeit. „Alles zeigt sich und wird sagbar im Sein um der Gerechtigkeit willen …“ 42 formuliert Levinas am Ende von „Autrement qu’être“ in deutlicher Anspielung auf die alte Transzendentalienformel „quod primum cadit in intellectum 43 . Die in solchem Geschehen Gerechtigkeit zur Sprache Bringenden d.h. der Gesetz“geber “ so gut wie jeder Richter aber auch alle Rechtsgenossen können sich dann selbst aber weder als Herren des Gesetzes noch als Besitzer von 37 J. Habermas, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern. 2004, Heft 1,

I–III.

38 A.a.O. 111. 39 A.a.O. 112.

40 A.a.O. 41 TI 188 (= TU 307–308). 42 AQ 207 (= JS 354). „Tout se montre et se dit dans l’être pour la justice …“ 43 Thomas v. A. De veritate 1,1.

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Rechten, sondern vielmehr nur als Bürgen 44 , als Geiseln für die Gerechtigkeit verstehen. Sie stehen mit dem Sich-zeitigen ihres Daseins, mit ihrem Leiben und Leben als sie selbst für die Gerechtigkeit als geschehensollende ein. Sie halten sich in dem Verhältnis der substitution 45 , des Eintretens für … Ich weiß nicht, ob sich heute viele Juristen selbst so verstehen. Darum kann es hier auch nicht gehen, sondern darum, wie sich die mit dem Recht Befassten und alle Rechtsgenossen, geht man mit Levinassens Denken zu den Ursprüngen von Gerechtigkeit zurück, selbst verstehen könnten. Wenn schon das Wesen jedes ernsthaften discours nach Levinas sich als prière erweist, Gebet, so wohl doch erst recht das Wesen jenes discours, der im Recht-setzen und Recht-sprechen geschieht: als der Akt des Daseins, der sich seinem Wesen nach als Bitten um das Gelingen einer offenen und prekären aber gemeinsamen Zukunft zeigt. Dieses Sich-zeitigen des Daseins findet sich aber in der Bewegung eines Sich-transzendierens auf solches, wozu es durch seine Vernunft berufen ist und was sich doch zugleich als mehr erweist als das, was es kraft seiner endlichen Potenz als einer endlichen vermag. Es findet sich in einem im weitesten Sinne religiösen Verhältnis. Deshalb bleibt das Recht auch nur dann wahr, wenn es sich nicht in konstatierenden Propositionen, die sich nur selbst behaupten, erschöpft, so nötig solche synchronisierenden Propositionen auch sind. Es bleibt nur wahr, wenn es sich in einer es begleitenden und es so tragenden Bewegung eines radikalen Sich-transzendierens hält. „Justice est toujours revision de la justice et attente d’une justice meilleure“ formulierte Levinas 1986 in seinem Vortrag „De l’Unicité“ auf einem der letzten Castelli-Kolloquien, an denen er teilnahm. 46

44 It. Mallevadori; i quali si fanno garanti. Frz. Se portent garants. Engl. To go bail for. 45 Vgl. dazu AQ 125–166 und die eingehende Interpretation der „substitution“, die Ludwig Wenz-

ler in seiner leider bislang nur in der Universitätsbibliothek Freiburg/Br. öffentlich zugänglichen Habilitationsschrift gegeben hat: Ludwig Wenzler. Das Antlitz, die Spur, die Zeit. Zeitlichkeit als Struktur und als Denkform des religiösen Verhältnisses nach Emmanuel Lévinas. 1987. Freiburg (Breisgau) Universität, Habil.schrift 1988. EDEHH 98 stellte Levinas im übrigen bereits für die Intentionalität im Sinne Husserls klar: „La conception phénoménologique de l’intentionalité consiste, essentiellement, à identifier penser et exister.“ Bereits auf dem Niveau derart verstandener Intentionalität müsste man die Differenz zwischen als bloßem Sich-Auskennen in Richtigkeiten konzipierter jurisscientia und einer jurisprudentia entfalten. Zu dieser Differenz vgl. Kant. Die Metaphysik der Sitten. Rechtslehre AB 31. 46 Emmanuel Levinas. De l’Unicité, in: Archivio di Filosofia LIV (1986), 307.

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VIII. Zeit und messianische Zeit Zu einer Grunddimension des religiösen Geschehens

1. Was ist Zeit? Die Schwierigkeit, sich Rechenschaft darüber zu geben, was Zeit denn sei, liegt für das philosophische Denken ganz offensichtlich in dem Umstand, den schon Augustinus klar benannte: das unserer Erfahrung Allerbekannteste entzieht sich zugleich jedem Es-aussagen-wollen. „Was ist also ‚Zeit‘? wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht“. 1 In der Einheit eines urteilenden Sprachaktes kann offensichtlich die „Sache“ nicht vorgelegt werden, um die es hier geht, soll sie nicht zugleich ihres Eigentlichsten beraubt werden, nämlich jenes allem abgeschlossenen Vorlegen gegenüber widerständigen Sich-entziehens, jenes allem wissenden Verfügenwollen entgleitenden Verfallens, das doch gerade erst das proprium von Zeit als Zeit ausmacht. Nun ist es aber Sinn philosophischen Denkens, jedenfalls in der Weise, in der sich dieses seit der griechischen Klassik entwickelt hat, nicht nur das on h¯e on zu erschließen, sondern das Denken zugleich zu einem eidenai zu führen, so wie dies der erste Satz der aristotelischen Metaphysik sagt, – einem Wissen, das gemäß der Urbedeutung des griechischen eidenai ein Sehen ist. Solches Wissen kann aber nur dann wahres Wissen sein, wenn es ein erschöpfend überschauendes Wissen ist. Es kann Wissen nur als beherrschendes Wissen sein, so wie dies das Ende des Buches Zeta der Metaphysik darlegt: das Seiende kann nur gut verwaltet werden, wenn nur einer der Herrscher ist, nämlich der nous. 2 Dies aber wiederum ist nur dann der Fall, wenn das in seinem Sein beherrschend zu verwaltende Seiende in einem Schon-so-sein, in einer abgeschlossenen Vergangenheit vorliegt, d.h. wenn das Sein des Seienden sich in seinem eidos als to ti e¯ n einai verstehen lässt, wie wiederum die Metaphysik des Aristoteles in aller Deutlichkeit sagt. 3 Und das Mittelalter hat sich diesem Verständnis des Seins des Seienden angeschlossen: „esse rei … nihil aliud est nisi definitio“. 4 Diese definitio muß aber abgeschlossen sein, wenn sie denn wahr sein soll. Wird in diesem intentionalen Kontext aber die Frage „quid est tempus?“ gestellt, so ist, will man die Sache, die hier das Denken herausfordert, nicht 1 Augustinus. Confessiones XI, 14,17. 2 Aristoteles. Metaphysik 1076a 3–5. 3 Metaphysik 1032 b 1–2. 4 Vgl. HWPh. 9,186.

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verlieren, ein Scheitern des Denkens unvermeidlich. Oder aber, dies ist die Alternative, das Denken muß das Verstehen von Zeit in jenen Generalhorizont des Vorverständnisses von Sein als eines abgeschlossenen, schon vorliegenden, eines e¯ n einai, einzuholen versuchen. Und dies, – so scheint es –, ist in der griechischen Klassik geschehen. Denn sowohl in Platons Timaios wie in der Physik des Aristoteles, welche die auch für uns heute noch gültigen Paradigmen des Verständnisses von Zeit entwickeln, wird Zeit – wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung – als bewegtes und gezähltes Abbild der Ewigkeit verstanden. Gegenüber dem in dem Einen bleibenden Aion zeigt sich im Timaios der Chronos als dessen in Zahlen fortschreitendes Bild. 5 In der Physik des Aristoteles wird der Chronos bestimmt als der „arithmos ¯ kata to próteron kai hysteron“. 6 Die Kinesis ist aber die Bewegung, kin¯eseos die sich in dem einen Sein zuträgt. Dieses aber fällt mit dem aei, dem Aion der Welt zusammen als dem chronos apeiros, der als solcher unsterblich und göttlich ist. 7 In diesem Kontext entfaltet sich auch noch Augustins Deskription von Zeit im 11. Buch der Confessiones, wenngleich dort das Werden und Vergehen des Seins in der Zeit ganz in der inneren Erfahrung des sterblichen Menschen entfaltet wird. Die Prekarietät von Sein zeigt Augustinus am Sein jenes Seienden auf, das vor allen anderen Seienden zugleich ist und nicht ist, des Menschen. Die Zerrissenheit zwischen exspectatio und memoria, die in die Einheit eines bleibenden „est“ einzuholen der den Gang nach innen vollziehende Denkende sich als unfähig erweist, wird zum Inbild des Seins des Menschen überhaupt: „ecce distentio est vita mea“. 8 Dennoch hält sich Augustins Besinnung auf die Zeit grundsätzlich in dem von der griechischen Klassik entworfenen Denkzusammenhang. Das Rätsel des Phänomens der Zeit wird im Denken denkwürdig in dem chorismos zwischen endlichem und ewigen Sein, dem chorismos zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem. Und man wird sich fragen dürfen, ob in diesem Kontext nicht schließlich auch noch Husserls „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ steht. Denn diese Phänomenologie bedarf jedenfalls der transzendentalen Einheit des Bewusstseins um Zeit als in Protention und Retention sich zutragende explizieren zu können. 9

5 Platon. Timaios 37d 6–7. 6 Aristoteles. Physik 219b 1–2.

7 Vgl. Cael 283b 26ff. Über die vorklassischen griechischen Zeitverständnisse vgl. das gründliche

Werk von Michael Theunissen. Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit. München (Beck) 2000 und meine Besprechung in der Philosophischen Rundschau 2002, 97–104. 8 Augustinus. Confessiones XI. 29,39. 9 Vgl. hier insbesondere die §§ 36–39 in: Edmund Husserl. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins 2 Tübingen (Niemeyer) 1980, S. 63–71 (= Hua 10).

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Es kann gar keine Frage sein, daß dieses in der griechischen Klassik grundgelegte Verständnis von Zeit aber ein ganz wesentliches Fundament für das Sich-entfalten der Wissenschaften im Abendland und insbesondere für das Sich-entfalten der objektivierenden Wissenschaften in der Neuzeit geblieben ist. Die neuzeitlichen Wissenschaften setzen überall eine schon gegebene Einheit von Sein voraus, die es gemäß dem Ineinsfall von scientia und potentia zu beherrschen gilt, wenngleich diese Einheit sich in einer zählbaren Bewegung zuträgt und somit gerade diese zählbare als kausalanalytisch zu erschließende Bewegung das Feld der immer noch weitergehenden, nie abgeschlossenen Forschung ist. Zeit muß der Tendenz nach notwendig deshalb auch als universale Zeit verstanden werden: ein Eingeholtwerden-können von allem Seienden in eine allumfassende und prinzipiell jedenfalls in eine mathesis universalis einzustellende Bewegung. Zeit erweist sich so in der Tat als notwendige transzendentale Anschauungsform aller vergegenständlichenden Wissenschaften. Allerdings wurde in der Physik die Idee einer universalen Zeit seit Einstein aufgegeben. Zeit wird dort nur noch als die Zeit eines jeweiligen einzelnen Inertialsystems verstanden. 10 Dieser Paradigmenwechsel scheint mir bedeutsam. Er soll zumindest angezeigt werden, auch wenn er hier nicht weiter auf seine grundsätzliche Bedeutsamkeit hin entfaltet werden kann.

2. Zeit und Geschichte Die nach Kant und dem Deutschen Idealismus von der Mitte des 19. Jahrhunderts an im Angesicht der objektivierenden Wissenschaften und diesen gegenüber einsetzende Entdeckung des propriums der menschlichen Geschichte als einer Geschichte der Freiheit hat es nun aber mit sich gebracht, daß gerade auch die Frage des Denkens nach der Zeit al s der Zeit ganz neu gestellt werden konnte. Signifikant dafür erscheint Hegels Scheitern an dem Versuch, die menschliche Geschichte als Ablauf einer einzigen, wenn auch dialektisch sich entfaltenden Bewegung zu verstehen. Der Protest der Historiker, – und im eigentlichen Sinne gibt es solche erst seit dem 19. Jahrhundert –, wendet sich offen gegen diese Hegelsche Konstruktion der Geschichte. Er wehrt sich gegen die Mediatisierung menschlicher geschichtlicher Geschichte in eine einzige und allgemeine sich rein logisch zu begreifen gebende Abfolge hinein. Denn eben durch eine solche würde menschliches Selbstsein als ein solches vernichtet. Es ist hier nicht im einzelnen darzulegen, wie im Denken des mittleren und späten Schelling, im Denken Kierkegaards, dem Diltheys und seines Gesprächspartners Yorck von Wartenburg und auf andere Weise 10 Vgl. dazu Jürgen Mittelstraß (Hg.). Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Stuttgart

(Metzler) 1996, IV, S. 832.

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auch in dem Werk Bergsons schließlich jenes neue Verständnis von Zeit vorbereitet wird, 11 das sich zunächst in den Notbehelfen des Neukantianismus in der Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften äußert und denkerisch schließlich in Heideggers „Sein und Zeit“ klar ans Licht tritt. Zeit wird hier nicht mehr nur chronologisch-chronometrisch und derart sich als ein einziges continuum entfaltend begriffen. Vielmehr wird Zeit dezidiert als menschliche Geschichte verstanden. Diese kann aber, wie vielleicht als erster Schelling in der letzten Vorlesung seiner „Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ bemerkt, in keiner Weise mit einer „Vernunftwissenschaft“ erfasst werden. „Mit der Vernunftwissenschaft ist eine Philosophie der wirklichen Geschichte unmöglich.“ 12 Denn Vernunftwissenschaft hat zu ihrem Gegenstand immer nur das abgeschlossen vorliegende Mögliche, d.h. im Sinne Schellings: die Idee, das apriorisch schon Geschaute. Deshalb bleibt sie negative Philosophie. Sie findet ihre Grenze an dem, was tatsächlich positiv und unableitbar als es selbst, d.h. ex nihilo zukommend (zu-künftig) sich ereignet. Im Kontext der Philosophie der Mythologie: Sie findet ihre Grenze an dem „activen Gott“, der sich allererst als der wirkliche und erlösende Gott erweist. Und „kein philosophisch sich dünkender Hochmut“ kann „uns abhalten, dankbar anzunehmen, daß unverdient und aus Gnaden uns zu Theil werde, was wir anders nie erlangen können“. 13 Muß nach Hegel das Dasein undankbar sein, um Denken sein zu können, 14 so wurzelt nach dem späten Schelling das wahre Denken gerade in dem Verhältnis der Dankbarkeit; dies aber, weil Zeit und Sein sich in unvorwegnehmbarer Ursprünglichkeit ereignen. Gegenstand eines solchen Denkens ist, wie Schelling auf den letzten Seiten dieser berühmten 24. Vorlesung sagt, nicht das Allgemeine, und in diesem Sinne die „Vernunft“, sondern das Ich, das Individuum, die „Persönlichkeit“, die eine Person sich gegenüber fordert. 15 Franz Rosenzweig, der sich als Historiker und Schüler zunächst des südwestdeutschen Neukantianismus wie andere begabte Freiburger Studierende in dem zweiten Dezennium des 20. Jahrhunderts (unter ihnen Heidegger) in die bedrängende Frage nach der Geschichtlichkeit der Geschichte gestellt sah, hat, ohne Zweifel angeregt durch sein Schellingstudium, in seinem genialen Werk „Der Stern der Erlösung“ Geschichte derart als Zeit zu bedenken versucht, die jeweils ursprünglich, offen und unabgeschlossen zwischen Menschen und darin zugleich zwischen Menschen und Gott geschieht. In seinen, 11 Vgl. dazu Peter Hünermann. Der Durchbruch geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert. Frei-

burg (Herder) 1967.

12 F.W.J. Schelling. Philosophie der Mythologie Darmstadt (WBG) 1957, I, S. 568, Anmerkung 1. 13 Philosophie der Mythologie, I, S. 567–568.

14 G.W.F. Hegel. Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften von 1830. Hamburg (Meiner)

1959, S. 45.

15 Vgl. Philosophie der Mythologie I, S. 569.

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dem „Stern“ nachgeschickten Prolegomena, nämlich dem Aufsatz „Das neue Denken“, versteht er – den linguistic turn in einem modus sui generis vorwegnehmend – das neue, sich mit der Wirklichkeit der Geschichte im Ernste einlassende Denken als Sprachdenken. Dieses zeigt sich aber von einem idealistisch-metaphysischen Denken dadurch unterschieden, daß es des Anderen bedarf , und, was dasselbe ist, die Zeit ernst nimmt. 16 Aber was heißt das: die Zeit ernst nehmen, sich mit der ganzen, d.h. der nicht durch Vorverständnisse verkürzten und durch Ausblendungen verfälschten Wirklichkeit der Zeit einlassen? Es ist für Rosenzweigs Denken grundlegend, dass er mit aller Deutlichkeit die Zeit, in der etwas geschieht, von der Zeit unterscheidet, die als „sie selber geschieht“. 17 Die Zeit als die Zeit, in der etwas geschieht, kann verstanden werden als der überschaute Raum des numerus motus, das gezählte Abbild der Ewigkeit; Zeit, die ich in einer ästhetischen Distanz vor mich bringe, als das apriorische Bezugsnetz von bewegt sich Zutragendem. Die Zeit hingegen, die „selber geschieht“, können Menschen nur als sie selbst leben; und sie wird erläutert durch das „Bedürfen des Anderen“, über das und über den ich nie apriorisch verfüge. Die Zeit insofern sie selber geschieht ernst nehmen heißt für den Sprechenden und derart Denkenden so: „Alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein.“ 18 Die Zeit ernstnehmen als die zwischen dem andern und mir selber geschehende heißt bei allem Vermögen der Vernunft sich doch ständig das Unvermögen einzugestehen; Unvermögen gegenüber dem andern im Sinne des anderen Menschen als des anderen Menschen selbst. Ebenso unvermögend bin ich aber bei aller Fähigkeit des vernünftigen einordnenden Erfassens gegenüber den zu erforschenden und zu erfahrenden „Sachen“ in ihrem ursprünglichen Sich-geben. Rosenzweig verstand sein eigenes Denken derart als „erfahrendes Denken“. 19 Er kommt mit diesem faktisch einem Grundanliegen des Empirismus und auch des Fallibilismus entgegen. Man wird sehen müssen, dass auch Husserl, der ja durchaus von den Anliegen des Empirismus herkam, 20 in seiner spätesten Philosophie an der Schwelle einer solchen Phänomenologie der Erfahrung stand. 21 In seinem Freiburger Studienjahr 1928/29 hat der junge Emmanuel Levinas sich – womöglich bereits in anfänglicher Kenntnis des Rosenzweigschen 16 Vgl. GS 3, 151–152. 17 GS 3, 148.

18 GS 3, 151. 19 Vgl. dazu meine Studie „Was kann erfahrendes Denken heißen?“ in: Wolfdietrich Schmied-

Kowarzik. Franz Rosenzweigs „neues Denken“ . Freiburg (Alber) 2006, 737–753.

20 Vgl. dazu HWPh 7,165. 21 Vgl. dazu etwa Hua 6, 449: „So angesehen liegt im Empirismus die Tendenz auf eine wis-

senschaftliche Entdeckung der alltäglich vertrauten und doch wissenschaftlich unbekannten Lebenswelt.“

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„Sterns der Erlösung“ – unter Anleitung Husserls selbst intensiv in dessen Phänomenologie vertieft. Wichtig wurden ihm dabei die gerade eben von Edith Stein aus den Manuskripten erhobenen und von dieser gemeinsam mit Martin Heidegger herausgegebenen frühen „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“, 22 die freilich für ihn in Kontrast traten zu Einsichten, die er aus Husserls Phänomenologie der hyletischen Daten und der passiven Synthesis einerseits und andererseits vor allem aus der 5. der Cartesianischen Meditationen Husserls, welche den Leib im Unterschied zum bloßen Körper in das phänomenologische Denken einführt, gewonnen hatte. Levinas beteiligte sich damals auch an der Übersetzung der Cartesianischen Meditationen ins Französische. Freilich hat Levinas nie einen Hehl daraus gemacht, dass über Husserl hinaus Heideggers Entdeckung der Zeitigung des Daseins in „Sein und Zeit“ und die in der Vorlesung Heideggers vom WS 1928/29 „Einleitung in die Philosophie“ vorgetragene These, der Ort der Wahrheit sei nicht der Satz, sondern das Dasein, für seinen eigenen weiteren Weg bestimmend wurden. 23 Was Levinas daraus erwuchs, war nämlich nichts weniger als ein neues Verständnis von Zeit, mit dem er über Husserl – und wie sich später zeigen sollte in einer bestimmten Hinsicht auch über Heidegger – hinausging. Ist die intentionale Analyse nach Husserl „geleitet von der Grunderkenntnis, dass jedes cogito als Bewusstsein zwar im weitesten Sinne Meinung seines Gemeinten ist, aber dass dieses Vermeinte in jedem Moment mehr ist (mit einem Mehr Vermeintes), als was im jeweiligen Moment als explizit Gemeintes vorliegt“ 24 , so führt Levinas dieses Verständnis von Intentionalität als „Mehrmeinung“ weiter zu der Unterscheidung zwischen einer „objektivierenden“ und einer „transitiven“ Intentionalität. Diese zeigt sich aber als die „transitive Intentionalität der Inkarnation“. 25 Das Ernstnehmen der Leibhaftigkeit der Intentionalität, d.h. des Angewiesenseins des intentionalen Aktes auf die „sensation“, welche immer die Empfindung eines einmaligen sterblichen Menschen ist, bringt Levinas zu der Einsicht in die prinzipielle Uneinholbarkeit von leibhaftig geschehender Zeit in die Retentio. 26 Und gerade die Urimpression als der letzte Rechtsgrund aller Bewusstwerdung ist „ideell“ nicht einholbar. Sie zeigt sich vielmehr als „die Nicht-Idealität in ausgezeichneter Weise. Die unvorhersehbare Neuheit von Inhalten, die dieser Quelle allen Bewusstseins und allen Seins entspringen, ist Urzeugung, Über22 Vgl. dazu oben Anm. 9 23 Ga 27, 109. In persönlichen Gesprächen pflegte Levinas zu formulieren: „Ich ging nach Frei-

burg und suchte Husserl. Aber ich fand Heidegger.“

24 Hua 1,84. 25 EDEHH 143 (= SpA 150). „… l’intentionalité transitive de l’incarnation“. 26 Vgl. dazu insgesamt die Abhandlung „Intentionalité et Sensation“ von 1965, EDEHH 145–164

(SpA 145–184).

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gang von Nichts ins Sein …“. 27 Infolgedessen gibt es für das Denken und Erfahren wirklich schlechthin Neues. Denken und Erfahren zeigen sich in ihrem Ursprung als „ganz Passivität, Rezeptivität eines Anderen“. Erkennen kann deshalb nur verstanden werden als „Festhalten einer Fülle, die sich entzieht“. 28 Und daraus folgt dann für das Bewusstsein von Zeit: Zwar wird dieses immer durch das Spiel von Protention und Retention konstituiert. Aber noch vor einem solchen Bewusstsein von Zeit ist Zeit Diachronie, an-archische Begegnung mit dem von mir retentional uneinholbaren „anderen“. Gilt dieses für jedes ernsthafte Erkennen, auch das naturwissenschaftliche, dem es ja gerade darum geht, nicht bei sich selbst zu bleiben, sondern über sich selbst hinaus zu gelangen, zu dem was von sich her „wirklich ist“, so gelangt dieses Zeit konstituierende Verhältnis doch zu einer noch höheren Gestalt dort, wo „das“ andere mir als der andere Mensch begegnet: die Andere und der Andere. Die Relation des Mich-angehens intensiviert sich dort zu dem Verhältnis der „assignation“, der Vorladung, welche eine „rectitude de relation“ darstellt, „plus tendue que l’intentionalité“: 29 Direktheit des Mich-angehens, die ausgespannter ist als jede Ausspannung von Intentionalität. Was sich hier im Sich-zutragen von Begegnung – und derart im Sein von Zeit – offenbart, ist die Unausweichlichkeit des Antwortenmüssens, die Unausweichlichkeit des In-die-Verantwortung-gestellt-seins: „responsabilité sans choix, une communication sans phrases et mots“. 30 In solchen Augenblicken der in die Antwort geforderten Begegnung mit dem anderen Menschen als dem Anderen geschieht aber, um hier den Rosenzweigschen Terminus einzusetzen, die Zeit nicht als die Zeit in der etwas geschieht, sondern die „Zeit, die als sie selber geschieht“ . Es geschieht die Zeit als sich ereignende Geschichte zwischen Menschen. Und ebenso geschieht in dieser Ursituation „die ursprüngliche Sprache“, 31 Sprache vor aller anderen Sprache, wie sie sich auch äußern mag.

27 EDEHH 155 (= SpA 172–173). „la proto-impression est la non-idéalité par excellence. La

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nouveauté imprévisible de contenus qui surgissent dans cette source de toute conscience et de tout être – est création originelle (Urzeugung), passage du néant à l’être (á un être qui se modifiera en être-pour-la-conscience, mais ne se perdra jamais).“ EDEHH 156 (= SpA 173) „… toute passivité, receptivité d’un autre …“. „… comme retenue d’une plenitude qui échappe“. EDEHH 229 (= SpA 283). A.a.O. EDEHH 225 (= SpA 275). „… langage originel“

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3. Messianische Zeit Worum geht es aber in solchem ursprünglichen, in eine beherrschbare archè retentional uneinholbaren Geschehen von Zeit selber? Kann dies überhaupt gedacht und zur Sprache gebracht werden, wenn immer Sprache und Denken meinen: etwas dingfest machen? Man könnte versucht sein, hier dann doch die Antwort der Antike einzusetzen: es geht im das aei on, das „ewige Sein“, oder, – in der Formulierung des Christen Boethius –, es geht um die „interminabilis vitae simul tota et perfecta possessio“. 32 Andererseits könnte man im Sinne mancher Interpreten Derridas antworten: es geht um nichts als um lediglich je wieder neue Bedeutungseinheiten, die sich selbst aber ständig je wieder relativieren und gegenseitig vernichten, weil ein allen Bedeutungsverschiebungen, aller differance, zugrundeliegendes Aleph nicht aufzufinden ist. Die Levinasschen Analysen der diachron sich je neu ereignenden Zeit der Verantwortung von zwischen Menschen sich zutragender Geschichte folgen nicht einfach einem dieser beiden Antwortstränge. Sie decken vielmehr zunächst einmal auf, dass der Akt der inkarnierten transitiven responsorischen „Intentionalität“ einerseits als „passivité plus passive que toute passivité“ verstanden werden muß: ein Erleiden, das leidender ist als alles Leiden im Sinne des Akt-Potenzschemas 33 . Aber dieser Akt zeigt sich andererseits doch als Transitivität, d.h. ein fragendes, suchendes Sich-überschreiten, welches man mit Prousts „recherche du temps perdu“ 34 anzeigen kann, als Suchen nach einer unvordenklichen verlorenen Zeit, in der man alleine erst in Wirklichkeit verweilen könnte. „Kein Gedächtnis“, keine memoria, „vermöchte dieser Vergangenheit auf der Spur zu bleiben. Es ist eine unvordenkliche Vergangenheit (passé immémorial)“. 35 Aber in jeder primordialen Erfahrung des In-die-Verantwortung-Vorgeladenseins zeigt sich in unfestlegbarer Weise die „Spur“ 36 dieses „passé immémorial“, dieses „tiefen Einst, nie genügend Einst“. 37 Ebenso aber zeigt sich in jedem in die Verantwortung für den Anderen vorgeladenen Akt des Antwortens, welches nur durch die „Einzigkeit des Ichs“ geschehen kann 38 , ein Über-mich-hinausgehen in eine Zukunft, die in keine Retention einholbar ist und derart auch jede prognostische Protention sprengt: „un futur jamais assez futur, plus lointain que le possible“. 39 32 Boethius. De cons.phil. V, 16. 33 Vgl. dazu oben S. 27–32.

34 EDEHH 156 (= SpA 173). 35 EDEHH 198 (= SpA 229).“Aucune mémoire ne saurait suivre ce passé à la trace. C’est un

passé immémorial …“

36 Zu dem Verständnis von Spur bei Levinas vgl. EDEHH 187–202 (= SpA 209–235). 37 AQ 134 (= JS 235). Die Passage stellt ein Zitat aus einem Gedicht Paul Valerys dar. 38 EDEHH 196 (= SpA 224) „L’unicité du Moi …“. 39 TI 232–233 (= TU 372).

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In dem diachronen Ereignis der Begegnung wird sterbliches dem anderen gegenüber verantwortliches Dasein fruchtbar . Diese Fruchtbarkeit zeigt sich als ein entscheidendes Maß des Menschlichen. Dank der Fruchtbarkeit erfreue ich mich zunächst einmal einer „unendlichen Zeit“. Allein: diese unendliche, von mir nicht zu beendende immer neue Chance der Fruchtbarkeit erweist sich zugleich doch auch als die „Infragestellung der Wahrheit, die sie verspricht“. 40 Das heißt aber: „Die Wahrheit“ der diachronen Begegnung mit dem Anderen, Zeit, die derart selber geschieht, fordert zugleich eine unendliche Zeit und „eine Zeit, auf die sie das Siegel setzen können wird (un temps qu’elle pourra sceller) – eine vollendete Zeit“, d.h. eine zu ihrer vollständigen Wahrheit und Erfüllung gelangte Zeit, „un temps achevé.“ 41 Diesen „temps achevé“ nennt Levinas im nächsten Satz aber „le temps messianique“, die messianische Zeit, in der sich das bloß fortwährende (le perpétuel) „in Ewiges verwandelt“. Dieser „messianische Triumph ist der reine Triumph“. 42 Er kennt kein Wenn und Aber mehr. Ist diese Ewigkeit der messianischen Zeit aber eine „neue Struktur von Zeit“ oder ist sie „eine äußerste Wachsamkeit des messianischen Bewusstseins?“ Diese Frage stellt Levinas am Ende seines ersten Hauptwerkes ohne sie zu beantworten, weil sie über „den Rahmen dieses Buches“ hinausführen würde. 43 Jedoch auch wenn diese Frage offen bleibt, liefern die sorgfältigen Analysen von Zeit als diachron – und in ihrem Anspruch diakonisch sich ereignender 44 menschlicher Geschichte wichtigste Hilfen, um die konstitutive Bedeutung von „messianischer Zeit“ für das Geschehen des religiösen Verhältnisses zu verstehen. Sie lassen nämlich sichtbar werden, warum es in dem Sich-zeitigen von Menschen miteinander in ihrem In-der-Welt-sein nicht nur um unverbunden kaleidoskopartig sich aneinanderreihende je neue Bedeutungszusammenhänge geht, sondern insgeheim immer schon um die „ganz erfüllte Zeit“, in der man miteinander erst in Wahrheit „sein“ könnte: den Triumph des „Reiches der Gerechtigkeit“, die „Eschatologie des messianischen Friedens“. 45 Dieser zeigt sich als das insgeheim Erstverstandene und Letztintendierte wie Levinas am Ende seines zweiten Hauptwerkes ausführt: „Alles zeigt sich und wird sagbar im Sein um der Gerechtigkeit willen“. 46

40 TI 261(= TU 416). „… la remise en question de la vérité qu’elle promet.“ 41 A.a.O. 42 A.a.O. „Le triomphe messianique est le triomphe pur“. 43 A.a.O.

44 Dazu, dass das diachrone Verhältnis auch immer ein zur Diakonie herausgefordertes ist vgl.

EDEHH 194–197 (= SpA 222–226).

45 TI X = TU 21. 46 AQ 207 (= JS 353.) „Tout se montre et se dit dans l’être pour la justice …“ Vgl. oben 84 und

91–96.

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Dieser Satz, mit dem Levinas formal gleichsam das alte scholastische „quod primo intellectus concipit quasi notissimum, et in quo omnes conceptiones resolvit, est ens“ 47 aufnimmt und zugleich revolutioniert, wird durch die Analysen von Zeit als zwischen Menschen verantwortlich geschehender Zeit einleuchtender. Und natürlich könnte dieser Satz, achtet man nur auf das in ihm zur Sprache kommende Wort „Gerechtigkeit“ schon bei Platon stehen. Levinas hat daraus nie einen Hehl gemacht. Denkgeschichtlich gehen diesem gerade für die Phänomenologie des religiösen Verhältnisses wichtigen Durchbruch einerseits Hermann Cohens Spätwerk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ (1919) und andererseits der „Stern der Erlösung“ Franz Rosenzweigs (1921) voraus. Man wird von dieser Aufdeckung der messianischen Zeit in den geheimen Abgründen jeder Zeit her aber auch zu Walter Benjamins Geschichtsphilosophie ein Verhältnis finden. Wer sich denkend mit der Geschichte einlässt und es anderen überlässt, sich „bei der Hure „Es war einmal“ im Bordell des Historismus auszugeben“, der „bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“. 48 Wer sich denkend mit der Geschichte einlässt, findet sich im Fragen nach dem Sinn des Geschehens von Zeit zwischen Menschen als ihnen selbst zuletzt von dem äußersten Gedanken einer „messianischen Stillstellung des Geschehens“ der Geschichte getroffen. 49 Er findet sich denkend in dem Schock des äußersten Hier und Jetzt seiner „Gegenwart als der „Jetztzeit“, „in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind“. 50 Der Engel der Geschichte, der auf die Trümmer der vergangenen, weil immer auch gescheiterten Geschichte blickt, kann seine Flügel deshalb nicht über diesen Trümmern schließen, weil ein Sturm, der „vom Paradiese her“ weht, ihm dieses verwehrt. 51 Gerade das aber treibt den Engel der Geschichte weiter in eine Zukunft, die keine gleichgültige, nur im Sinne des numerus motus der Bewegung auf uns zukommende Zeit ist. „Den Juden wurde die Zukunft … nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“ 52 Dabei müsste eine solche messianische Zeit aber auch alle gescheiterte menschliche Geschichte in ein erlöstes Sein hinein verwandeln, wenn wir uns so knapp und missverständlich ausdrücken dürfen. Die messianische Zeit müsste alle schon geschehende Ungerechtigkeit sühnen und versöhnen. Aber ist dies möglich? Sie müsste alle verdrängte Zeit, die geschehen wollte, 47 Thomas v. A. Quaest. disp. de veritate q1a1. 48 Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Frankfurt (Suhrkamp) 1980, I, 2, S. 702. 49 A.a.O., S. 703. 50 A.a.O., S. 704. 51 A.a.O., S. 698. 52 A.a.O. S. 704.

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aber nicht geschehen konnte und so die Geschichte zwischen Menschen fixierte und Menschen in Gefangenschaft hielt, 53 alle derart missratene und in Knechtschaft und Tod hineingeführt habende Zeit erlösen. Denn sonst wäre solche messianische Zeit nicht wirklich der „reine Triumph“. Sie müsste ja mit dem quälenden Wissen um unerlöste Zeit existieren. Wer die Zeitigung von Zeit zwischen Menschen denkend so versteht, wird schließlich auch Zugang zu Adornos bekanntem Schluß der „Minima Moralia“ gewinnen: „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.“ 54 Im Umgang mit dem von der Geschichte der Religionen und den von dem mit so verschiedenen Methoden arbeitenden Religionswissenschaften vorgelegten Fakten kann man, so meine ich, von der Phänomenalität der messianischen Zeit her einen Blick für die zentrale Bedeutung des Festes und der Liturgien in allen Religionen gewinnen. Im biblischen Kontext gehören hierher vor allem die Feier des Sabbats und des Jubeljahres. 55 In der herausgehobenen „Zeit in der Zeit“ wird symbolisch der Sinn aller Zeit gefeiert. In der politischen Geschichte fällt von der geheimen Gegenwart der messianischen Zeit in jeder Zeit Licht auf das Anliegen der immer wieder in der menschlichen Geschichte stattfindenden Revolutionen. Und derart fällt dann auch Licht auf den idolischen Charakter sich selbst absolut setzender Totalitarismen. Für das Gespräch zwischen Judentum und Christentum nach der Katastrophe des Holocaust werden die Analysen des Verhältnisses von Zeit und messianischer Zeit, so scheint mir, eine ganz entscheidende Hilfe für ein neues „um des Reiches der Himmel“ willen geschehendes Aufeinander-zugehen und Miteinander-gehen des Weges“ sein können. Insbesondere scheint mir aber auch die christliche Theologie in sich durch ein solches Sich-einlassen mit der Zeit, die diachron – und im Anspruch diakonisch – selber geschieht, neue Kategorien finden zu können, um das in Christus inkarnierte Geheimnis des Glaubens, welches in der Frühzeit des Christentums mit den Mitteln der griechischen Metaphysik zur Sprache gebracht wurde, im 21. Jahrhundert neu zu verstehen und neu zur Sprache zu bringen. Denn mir scheint, dass sich darin Rosenzweig und Levinas einig

53 Vgl. hier die Bedeutung des Freudschen Phänomens der Verdrängung durch Maurice Merleau-

Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin (De Gruyter) 1966, 107–108.

54 Theodor W. Adorno. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt

(Suhrkamp) 1982, 333.

55 Vgl. Stéphane Mosès. Le don et la dette selon les sources bibliques. In: Le don et la dettes.

Textes réunis par Marco M. Olivetti. Padova (Cedam) 2004, S. 361–369.

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sind: „Die theologischen Probleme wollen ins Menschliche übersetzt werden und die menschlichen bis ins Theologische vorgetrieben“. 56

56 GS 3, 153.

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IX. Über die Freundschaft Den Satz, den Aristoteles zu Beginn des Buches Theta der Nikomachischen ¯ oudeis heloit’an z¯en“, „Keiner möchte ohne Ethik vorträgt: „aneu gar philon Freunde leben, auch wenn er alle übrigen Güter besäße“ 1 hat, so scheint mir, für die Erschließung des tatsächlich gelebten menschlichen Daseins eine ähnlich fundamentale Bedeutung wie der erste Satz der aristotelischen Metaphysik: „Alle Menschen streben von Natur aus danach, zu wissen“ 2 und wie das Grundaxiom der Nikomachischen Ethik: „Das Gute (ist das), was alle begehren“. 3 In allen drei Sätzen kommt ein letztes und zugleich erstes gründendes Worumwillen (hou heneka) menschlichen Daseins zur Sprache, welches zugleich den Sinn von Sein überhaupt anzeigt, insofern dieses ein von menschlichem Dasein tatsächlich zu vollziehendes meint: eidenai – ephi¯emai ¯ z¯en. Diese drei Vollzüge markieren die „transzendentalen – m¯e aneu philon Horizonte“, in denen menschliches Leben, sofern es denn wahrhaft menschliches sein will, sich zuträgt: Die Wahrheit wissen, das Gute erstreben, mit Freunden leben. Wie diese drei Horizonte – nennen wir sie vorerst einmal so – sich aufeinander beziehen, wie sie aufeinander verweisen oder sich möglicherweise gegenseitig implizieren, das hat Aristoteles aber allenfalls ansatzweise als ein Problem des Denkens ausgearbeitet. Daß hier ein Problem liegt, das kommt freilich in eigentümlichen Aporien zum Vorschein, die an einigen Stellen der aristotelischen Überlegungen zu der philia auftauchen; vor allem in jener sehr ¯ grundlegenden Frage gegen Ende des Buches Jota, ob auch der eu-dáimon, der ganz im Glück Seiende, des Freundes bedürfe. Aristoteles bindet diese ¯ ti dei philon“: ¯ Frage an das Sprichwort „hotan ho daim¯on eu dido, „Wenn der Daimon sich glücklich, – in vollständig gelingender Weise –, gibt, was braucht es da noch Freunde?“ 4 Die „Sache“, welche die Aporie an den Tag bringt, ist hier ganz offensichtlich das unter Eudaimonia zu Verstehende; ein Wort, das wir in unserer modernen Sprache vielleicht nicht gleich mit „Glück“ oder „Glückseligkeit“ wiedergeben sollten, sondern eher mit: „in gelingender Weise in dem Gotte sein“, „sich auf göttliche Weise verwirklichen“; oder einfach: „göttlich leben“. 1 Nik. Ethik, 1155a 5–6. 2 Metaphysik, 980 a 1. „Pantes anthropoi tou eidenai oregontai physei“. 3 Nik. Ethik, 1094 a 3. „tagathon, hou pant’ephietai“.

4 Nik. Ethik, 1169 b 7–8. Aristoteles. Die Nikomachische Ethik. Eingeleitet und übertragen von

Olof Gigon. Zürich 1951, 269 bringt die Übersetzung: „Wenn die Gottheit es gut gibt, was bedarf es der Freunde?“. Die Übersetzung in Ernst Grumach (Hg.). Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Berlin 1956, Band 6, 194–203 lautet: „Wenn Du der Gottheit Segen hast, was soll ein Freund?“.

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Ein entscheidender Gehaltssinn solcher Eudaimonia ist nun aber die Autarkie 5 , die Selbstursprünglichkeit und Selbstgenügsamkeit; und dieser deckt sich mit dem Gehaltssinn von Freiheit. Frei ist ja nach Aristoteles, was sich selber Ursprung ist und keines anderen bedarf: „eleútheros ho heautou heneka ¯ 6. kai m¯e allou on“ Diesem Gehaltssinn widerstreitet es nun aber ganz offensichtlich, dass der ¯ und eleutheros, – der Glückliche und Freie – bedürftig sein soll, eudaimon ¯ bedürftig des Freundes. dass er sich als ende¯es zeigt, nämlich ende¯es philon, Im Kontext des 9. Buches der Nikomachischen Ethik löst Aristoteles diesen Widerspruch mit Berufung darauf, dass es doch offenbar das größte aller von außen kommenden Güter sei, Freunde zu haben 7 . Deshalb sei es fehl am ¯ solche dem ganz Glücklichen und Freien abzusprechen. Das Platz (atopos) Argument läuft hier zum einen auf den transzendentalen Grundsatz „ohne Freunde möchte niemand leben“ zurück und verbindet diesen zugleich mit der Grundthese „Der Mensch ist ein Polis-Wesen“ (politikon gar ho anthropos) 8 . Und deshalb wird der Mensch denn auch nur „Gut-Tun“ können“ (eu-poiein) und Gut-Wirken“ (eu-ergetein) in der Gemeinschaft mit Freunden. Dies aber führt dann zu der Gleichung: „Soweit Gemeinschaft … soweit ¯ ist Freundschaft … und das Rechte“ (kath’hoson koin¯onosin, epi tosouton 9 esti philía kai to díkaion) . Die philia hat derart als ihr Worumwillen die polis, deren Konstituens ja bereits Platons Politeia in der „Gerechtigkeit“ (dikaiosyn¯e) gesehen hatte. Die so verstehendene autarkeia ist für Aristoteles der Inbegriff des guten, gelingenden Lebens, des „eu-z¯en“ 10 . Diese in einem noematischen Gehaltssin sich zeigenden Zusammenhänge sind einleuchtend, sofern – und dies ist allerdings die Voraussetzung – dieser Gehaltssinn selbst als ein zeitlos bewusst werdender Horizont von philia – koinonia/polis – philia – dikaion und autarkia – eu-z¯en verstanden wird. Dieses noema einer sich als zeitlos transzendentalsubjektiv verstehenden noesis bekommt nun allerdings Risse und Sprünge, es treten in ihm Aporien zutage, sobald man es, um hier Kategorien des frühen Heidegger zu benutzen, in seinem Vollzugs- oder Zeitigungssinn zu lesen versucht; d.h. sobald man nicht mehr nur die Frage stellt: Freundschaft: was ist das?, sondern vielmehr die Frage: Freundschaft, wie geht das? Wie trägt sich das zu? Wie ereignet sich das, dass Menschen Freunde werden? Aristoteles war, so scheint mir, auf diese Frage durchaus, zumindest anfänglich, aufmerksam. Denn er bemerkt ja ausdrücklich: „philia … eti dè pros5 Nik. Ethik 1069 b 5. 6 Metaphysik 982 b 26.

7 Nik. Ethik 1169 b 10. 8 Nik. Ethik 1169 b 18. 9 Nik. Ethik 1159 b 29–31.

10 Vgl. Politik 1252 b 30–31.

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deîtai chronou kai syn¯etheías: Die Freundschaft bedarf der Zeit und des gegenseitigen Vertrautwerdens. 11 Die Freundschaft, die ihrem Gehalt nach einerseits mit der Autarkeia ineinsgesetzt wird, sie bedarf doch andererseits der Zeit. Sie ist in diesem Sinne gerade nicht un-bedürftig, an-ende¯es. In welchem Sinne dieses „Bedürfen der Zeit“ aber gedacht werden soll, das sagt Aristoteles nicht. Fragt man sich dies nun aber, so wird zunächst einmal deutlich, dass Zeit in einem solchen Bedürfen der Zeit, wie es für die Freundschaft notwendig ist, nicht so verstanden werden kann, wie Aristoteles Zeit in der Physik versteht, nämlich als arithmòs kin¯eseos katà to próteron kaì hýsteron 12 : Zeit, welche die gezählte Synchronie einer in sich homogenen und derart einen Bewegung bedeutet. Als solche Zeit erweist sich die analog zu den Himmelsbewegungen auf unseren Uhren und in unseren Kalendern abgebildete Zeit. Das Bewusstsein solcher Zeit ist, wie Husserl gezeigt hat, formal in der Einheit von Protention und Retention gegeben. 13 Natürlich ist die Wirklichkeit von Freundschaft immer auch in das Netzwerk derart chronologisch ablaufender Zeit eingestellt. Man kann den Beginn und wichtige Ereignisse einer Freundschaft, vielleicht auch deren Ende, im Kalender durch den Tag der Aufkündigung der Freundschaft oder den Todestag eines Freundes verzeichnen. Aber das Ereignis der Freundschaft ist zuallererst jener Zeit bedürftig, die Zeit in einem viel radikaleren Sinne ist als solche Zeit eines gezählten Ablaufs, welcher Ablauf vom Standpunkt des Zählenden her gesehen, vom Standpunkt des nous, der den Ablauf als solchen überschaut, ein in sich einer Ablauf ist, d.h. für das Bewusstsein die in eine Einheit hinein gesammelte Zeit: Synchronie. Die Freundschaft bedarf einer ganz anderen Zeit als einer derart nur chronologisch verstandenen. Sie bedarf nämlich der Zeit, welche sich zwischen dem Einen selbst und dem Anderen selbst als sie selbst zuträgt, – zwischen den beiden Freunden, die gerade deshalb Freunde sind, „weil er er war, weil ich ich war“, um hier das berühmte Wort Montaignes angesichts seiner durch den Tod des Freundes zu Ende gekommenen Freundschaft mit Étienne de la Boétie anzuführen“ 14 . „Weil er er war“, d.h. weil er seine einmalige, ursprüngliche und unwiederholbare Zeit hatte; weil er als dieses einmalige 11 1156 b 25. Aristoteles fügt an: „Denn wie das Sprichwort sagt, lernt man sich erst kennen,

wenn man das bekannte „Scheffel Salz“ miteinander gegessen hat.“

12 Physik 219 b 2. 13 Hua 10. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917). Hg. v. R. Boehm. Den

Haag (Nijhoff) 1966.

14 M. Montaigne, Essays, hrsg. Von P. Villey, V.-L. Saulnier, vol. 1, Paris 1965, 188: „Si on me

presse de dire pourquoy je aymois, je sens que cela ne peut s’exprimer“. Später fügt Montaigne als Zusatz aber an: „qu’en respondant: Par ce que c’estoit luy; und als einen noch späteren Zusatz (mit anderer Tinte). „par ce que c’estoit moy“.

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Dasein zum Tode existierte. Und weil „ich ich war“, d.h. weil ich ebenso nur als meine eigene unverwechselbare Zeit da bin. Das tatsächliche Geschehen der Freundschaft bedarf, um hier die Kategorien Rosenzweigs zu benutzen, der Zeit nicht nur als der chronologischen „Zeit, in der etwas geschieht“, sondern als der Zeit, die „selber geschieht“. 15 Freundschaft zeigt sich als das ursprüngliche Ereignis zwischen dem Einen als ihm selbst und dem Anderen als ihm selbst. Dieses Geschehen hat seinen ursprünglichen Sitz im Leben, nicht in der Ordnung von in der transzendentalen Anschauungsform von physischer Zeit vorkommenden Weltgegenständen, sondern in der Ordnung menschlichen geschichtlichen Daseins und des in diesem herausgeforderten Miteinander-Daseins. Freundschaft ist eine Seinsweise jenes Seienden, dem „es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“ 16 und für das deshalb „die Möglichkeit höher steht als die Wirklichkeit“ 17 , d.h. für welches sich Geschichte als die von dem Dasein selbst zu übernehmende und zu verantwortende als das ursprüngliche Konstituens erweist. Freundschaft kann sich nur als das Verhältnis zwischen „Seienden“ darstellen, welche nicht nur in einer Zeit sind, sondern selbst Zeit haben und derart die Zeit sind . In diesem Charakter des verantwortlichen Zeit-habens, welches diejenigen, die Freunde werden, in ihrem Ursprung auszeichnet, liegt aber zugleich beschlossen, dass jeder der derart Da-seienden endlich ist. Und das heißt: er kennt prinzipiell ein Draußen; eine exteriorité, ein ihm nicht Verfügbares, an welchem sein Können seine Grenze findet. Zur Freundschaft befähigtes Dasein zeigt sich als Dasein zum Tode. Dieses Dasein zum Tode bedeutet aber, wie Levinas zeigt, nicht nur das Vermögen meiner eigenen endlichen Zeit als einer endlichen. Natürlich bin ich als Dasein zum Tode der, welcher seinen eigenen Tod vermag. Ich bin derjenige, der sterben kann. Aber darüber hinaus und noch viel ursprünglicher bedeutet die Endlichkeit meines Selbstseins als die Endlichkeit meines Etwas-mit-mir-selbst-Beginnenkönnens und derart die Endlichkeit meines Zeithabens, dass ich mit dem prinzipiellen Unvermögen meines Vermögens konfrontiert bin. Dies aber wird mir ursprünglich und leibhaftig durch den Anderen bewusst, angesichts von dessen Ursprünglichkeit, wir könnten auch sagen: Freiheit, angesichts deren ich schlechthin und in einem absoluten Sinne nichts vermag. Der Andere ist mir in seiner Ursprünglichkeit, in der er sich als er selbst zeigt, schlechthin entzogen. Er lässt sich in seinem Selbstsein in die Synchronie meines Könnens in keiner Weise einholen.

15 GS 3, 148. Hervorhebung BC. 16 SuZ 12. 17 SuZ 38.

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Während für Heidegger das Verhältnis zum eigenen Tode die Möglichkeit des Ganzseinkönnens einräumt, 18 welche aus der „Möglichkeit der Unmöglichkeit“ des eigenen Daseins entspringt, bedeutet für Levinas der Tod die „Unmöglichkeit der Möglichkeit“ 19 , das ursprüngliche Nicht-Können, das sich im Grunde meines Menschseins findende Unvermögen. Dieses aber erfahre ich ursprünglich in dem Verhältnis zu dem Anderen als ihm selbst. Derart gilt: „La mort c’est la mort d’autrui contrairement à la philosophie contemporaine attachée à la mort solitaire de soi“ 20 . Und deshalb ist es denn auch „möglich, dass wir Verantwortungen und menschliche Bindungen haben, durch die der Tod einen Sinn erhält – denn der Andere betrifft uns von Beginn an gegen unseren Willen“. 21 In dieser „affection malgré nous“ durch den Anderen als den Anderen von Anfang an, der in der Bedeutsamkeit des Todes als des Annulliertwerden all meines Könnens offenbar wird, zeigt sich zugleich der all mein synchronisierendes Können übersteigende Sinn der Freundschaft an. Es kommt vielleicht nicht von ungefähr, dass in berühmten historischen Beispielen der Freundschaft, etwa in der vita Augustins oder eben der Montaignes, das Wissen um den Freund als Freund gerade angesichts des Todes des Freundes in letzter Vollendung an den Tag tritt. Und dass sich durch dieses schlechthin diachrone Ereignis des Todes des Freundes die Frage nach dem Selbst, nach mir selbst, in unüberbietbarer Dringlichkeit stellt. „Factus eram ipse mihi magna quaestio“, „ich wurde mir selbst zu der großen Frage“, so bekennt Augustin angesichts des Todes des Freundes. 22 In dieser Frage aber wird offenbar, dass in der Bewegung der Zeitigung des eigenen Daseins schon mehr am Werke ist als die Bewegung einer nur selbstgenügsamen, autosuffizienten absolut und unangefochten in sich ruhenden Synchronie. Vielmehr stürzt mich diese Erfahrung meines Unvermögens schlechthin, die sich in der Form des Todes des Freundes zuspitzt, in eine Bewegung eines ihres Zieles völlig unvermögenden und derart intentionslosen rein fragenden Mich-überschreitens. Dieses findet seinen Ausdruck dann etwa darin, dass ich dem Freund angesichts meines schlechthinnigen Unvermögens in dem diachronen Bruch Gott anheimgebe, ihm à-Dieu sage, so wie dies, darin die Leviansschen Überlegungen zu dem Sinn des À-Dieu aufnehmend, Derrida am Grabe seines Freundes Levinas getan hat. 23 18 Vgl. DMT 45. 19 EDEHH 104 (= SpA 76). 20 Np 154 (= En 98).

21 AQ 166 (= JS 287). „… Nous pouvons avoir des responsabilités et des attachements par

lesquels la mort prend un sens – c’est que, dès le départ, Autrui nous affecte malgré nous.“

22 Confessiones IV, 4, 9. 23 Jacques Derrida. Adieu à Emmanuel Lévinas. Paris 1997.

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Gerade diese angesichts ihres eigenen Intentums aber ohnmächtige und sich derart an eine Nichtung aller möglichen intenta freigebende Bewegung, die angesichts meiner eigenen synchronisierenden und sich so zeitigenden endlichen Intentionalität anhebt, wird vielleicht aber auch deutlich, warum mir der Andere wirklich zum Freund im eigentlichen Sinne wurde. Läßt man einmal all die Formen uneigentlicher Freundschaft beiseite, die von dem philosophischen Diskurs über Freundschaft immer gesehen wurden (Freundschaft umwillen des Nutzens oder der Lust, umwillen der Bedürfnisse oder des Geschmacks) 24 , so ergibt sich als letzter Grund, der anzeigt, warum Freunde im eigentlichen Sinne wirklich Freunde wurden, dies: sie erkannten in der diachronen Begegnung miteinander, dass in dem jeweils Anderen als ihm selbst dieselbe Frage, durch die er sich selbst zur Frage wurde, am Werke war. Man mag das mit Kant die Erkenntnis der Würde des Anderen nennen; Würde, so muß man dann vielleicht hinzufügen, die durch keine auf ein leeres Abstractum „Menschheit“ hin zeitlos generalisierende Rationalität einzuholen ist, sondern die sich gerade erst in dem einmaligen, sterblichen geschichtlichen Dasein des Anderen zeigt. 25 Gerade insofern ich in dem diachronen Bruch eines alles in die „isot¯es“ 26 einer einen und allgemeinen Synchronie einholen wollenden Bewusstseins auf diese in seiner Sterblichkeit selbst gründende „Würde“ des Anderen aufmerksam werde, kann ich ihm Freund werden. Und es erklärt sich daraus dann allerdings auch, warum ich nur wenigen Menschen wirklich Freund werden kann; wenngleich das unendliche Worumwillen, das in dem Verhältnis der Freundschaft am Werk ist, in dem Verhältnis mit jedem anderen Menschen als dem Anderen an den Tag treten kann. Meiner Endlichkeit wegen und der Endlichkeit der diachronen Begegnungen wegen, die wirklich bis zu diesem Kern der transzendierenden Grundfrage vordringen, ist aber verwirklichte Freundschaft nicht mit sehr vielen möglich. Ein „Seid umschlungen Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt“ 27 würde, so sehr es den prinzipiell unendlichen Charakter der in der Freundschaft am

24 Vgl. dazu Aristoteles Nikomachische Ethik 1156 a 6ff. und Kant. Eine Vorlesung über Ethik.

Hg. von Gerd Gerhardt. Frankfurt/M. (Fischer) 1990, 219ff.

25 Vgl. dazu die Differenzierung, die Derrida in seiner Kantinterpretation zwischen dem Anderen

als Fall des allgemeinen Sittengesetzes (erste Fassung des kategorischen Imperativs) und dem Anderen als dem einmaligen Anderen selbst vornimmt. In: Politique de l’amitié suivie de l’oreille de Heidegger . Paris 1994. Deutsch bei: Klaus Dieter Eichler (Hg.). Philosophie der Freundschaft, 192ff. 26 Nik. Ethik 1158 b 1. 27 Friedrich Schiller. „An die Freude“ . Beethoven hat diese Verse für das Finale seiner 9. Symphonie gewählt.

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Werk seienden transzendierenden Bewegung zur Sprache bringt, 28 die konkreten Bedingungen der Möglichkeit des Gegebenwerdens geschichtlichen endlichen Daseins überspringen. Es ist aber auch deutlich, dass dort, wo solche in der sterblich einmaligen Zeitigung des Daseins von zweien (oder mehreren) wurzelnde und in dem diachronen Ereignis offenbar werdende gelingende Freundschaft sich zuträgt, der unbedingte und grenzenlose Sinn menschlichen MiteinanderZeithabens, menschlicher Geschichte, Menschen anrührt. Von daher kann dann, so scheint mir, in neuer Weise die von Aristoteles gesehene Interdependenz von philia – agathon – eudaimonia – dikaion – polis verständlich werden. Polis sollte man dann allerdings in unseren gegenwärtigen Sprachen nicht mit „Staat“ wiedergeben. Denn dieses lateinische Wort trägt ja schon durch sich selbst den Charakter des ungeschichtlich zur Ruhe Gebrachten, Statischen, des ein für alle mal Gesetzten und in absoluter Synchronie Gesicherten in das Verständnis von Wirklichkeit ein, um die es hier geht. Und dieses Charakters wegen haben Freundschaften sich ja historisch gesehen so häufig auch als Gegeninstanzen gegen den Staat verstanden; oder zumindest als die Inseln, die es ermöglichten, in einem Staat menschlich zu bleiben und zur Menschlichkeit des Staates beizutragen. Wie Hermann Cohen beobachtet hat, kommt es nicht von ungefähr, dass man gerade in Zeiten geschichtlicher Krisen, in welchem ein Missbehagen an der vorhandenen Kultur (und dem damit verbundenen Staat) aufsteigt, sich „an das Urgefühl der Freundschaft“ klammert. 29 Man sollte Polis in dem von Aristoteles gesichteten Zusammenhang dann vielleicht eher als das „Ereignis gelingenden mitmenschlichen Daseins“ zu verstehen suchen. 30 Gerade auch die Polis erweist sich als eine sich nur in diachronem Geschehen verwirklichende. Sieht man derart das Geschehen von Freundschaft aber in dem diachronen Ereignis verwurzelt, in welchem ein Mensch den Anderen in seiner Würde annimmt als den in seinem eigenen sterblichen Dasein sich zeitigenden und sich dann selbst zur Frage werdenden, dann wird auch der Satz des Aristoteles auf neue Weise verständlich, der, wie ich meine, einer der wichtigsten Sätze der Nikomachischen Ethik über die Freundschaft ist. ¯ pros heautòn el¯elythenai.“ „Ta philika dè ta pròs tous Pélas … horízontai … ek ton „Das freundschaftliche Verhalten zu Menschen, die uns nahe stehen, (und die

28 Die Verse Schillers schließen insofern mit Recht: „Brüder überm Sternenzelt muß ein guter

Vater wohnen“.

29 Hermann Cohen. Ethik des reinen Willens 2 1907, 574. 30 Zu dem hier entstehenden Grundproblem des Verhältnisses von Intentionalität der Verantwor-

tung und Intentionalität des gesetzten Rechtes vgl. oben 75–83.

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bekannten Wesensmerkmale der Freunschaft) stammen (wie man annimmt), aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst.“ 31

Das freundschaftliche Verhältnis entspringt aus dem Erbarmen, das einer mit sich selbst hat. Es hat den Grund seiner Möglichkeit darin, dass ich an mir selbst leide, dass ich von mir selbst bedrängt werde, dass ich mir selbst zur Frage werde. Es hat den Grund in jener in mir selbst bereits waltenden Diachronie, die Paul Ricœur in „Soi même comme un autre“ so ausführlich analysiert hat. 32 Ich ruhe nicht einfach in mir selbst in geschichtsenthobener seliger Synchronie, wie etwa das Kunstwerk. 33 Sondern ich werde mir immer wieder zur Frage. Dies widerfährt mir immer wieder mit mir selbst. Dadurch werde ich immer wieder versucht. Wo gewinne ich dann aber Stand? Was lässt mich in mir ruhen, so dass ich verlässlich bin? Und nur so kann ich ja einerseits für den Anderen Freund werden und andererseits in Bejahung seiner selbst auf ihn zugehen und ihn als Freund annehmen. Die Kraft zur Freundschaft gewinne ich aus der positiven Kraft des eleein mit mir selbst. Wieso kann ich aber Erbarmen haben mit mir selbst? Muß sich mir dies nicht schenken als die Gabe einer Eudaimonia der Versöhnung? Ich meine, dass an dieser Stelle der Gedanke des Aristoteles durchaus offen ist für eine christliche Erfüllung. Diese würde besagen, dass aus der Erfahrung heraus, die Menschen in der geschichtlichen Gestalt Jesu gemacht haben, dass nämlich Gott „uns zuerst geliebt hat“, 34 im Glauben ein versöhntes Verhältnis des Menschen zu sich selbst möglich wird. Und dass dieses dann in neuer Weise das – immer angefochtene – Verhältnis der Freundschaft unter Menschen ermöglicht. Dies ist ohne die Bindung an die Person Jesu freilich auch schon die Erfahrung Israels. Hermann Cohen zitierte im Wintersemester 1913/14 in seinen Berliner Vorlesungen, die für ihn später dann zu der „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ führten, aus dem Talmud: „Wie ER dich liebt, so liebe Du“. 35 Dieses „Wie ER dich liebt“, ist aber kein Wissen, welches das sterbliche Dasein in der Synchronie in der Autonomie seiner Vernunft besäße. Vielmehr wird diese Erfahrung nur in einem diachronen, durch die Brüche des Nicht-verfügenkönnens hindurch sich zutragenden Ereignis 31 Nik. Ethik 1166 a 1–2. Die hier gebotene Übersetzung stammt aus der unter Anmerkung 4

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angegebenen von Grumach herausgegebenen deutschen Aristotelesausgabe. Die in der Anmerkung 4 angegebene Übersetzung von Gigon lautet: „Das freundschaftliche Verhalten zu Freunden und die Umgrenzung der Freundschaft scheint aus dem Verhalten zu uns selbst abgeleitet zu werden.“ A.a.O. 260. Paul Ricœur. Soi même comme un autre. Paris (Seuil) 1990. Vgl. dazu Mörickes Gedicht „Auf eine Lampe“: „Was aber schön ist, selig ist es in sich selbst.“ (Mörikes Werke hrsg. Von Harry Mayne, Bd. 1, Leipzig/Wien 1914, 85). 1 J 4, 19. Vgl. dazu Franz Rosenzweig. GS 1, 663 und 2, 228.

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gemacht, in welchem sich Gnade gibt. Deswegen kann dann, wie Rosenzweig zu sehen meint, das aristotelische Verständnis von philia nicht über das der Liebe zum Freund hinaus zu der Liebe zu dem Fremden oder gar zu dem Feind erweitert werden. Das aristotelische Verständnis von Freundschaft, das „keine wirkliche Geschichte zulassen will“, 36 bleibt nach Rosenzweig in einem Verständnis von Freundschaft als „Genuss“ befangen. 37 Aristoteles entwickelt den Begriff der philia „am Freund“; – übrigens in einer wundervollen Weise, wie Rosenzweig ausdrücklich bemerkt. Die Offenbarung aber „entwickelt ihn am „Fremdling“ bzw. am „Feind“. 38 Damit zeigt Rosenzweig das Hinausgehen der Offenbarung über ein rein fundamentalontologisches phänomenologisches Verstehen von philia in aller Deutlichkeit an. Mit diesem surplus des Verständnisses der philia im Kontext der biblischen Erfahrung ist eine Verschärfung des diachronen Moments in dem Ereignis von philia gegeben. Denn hier bin ich in meiner Zeitigung nicht mehr nur einfachhin mit der Zeit des Anderen, sondern mit der unmöglichen Möglichkeit der erfüllten Zeit des Heiles aller Menschen konfrontiert. Derrida hat dieses bei ihm namenlos bleibende, der Sache nach aber messianisch-eschatologische Moment dem Verständnis von Freundschaft in aller Deutlichkeit herausgearbeitet und so das aristotelische „O Freunde, es gibt keine Freunde“ interpretiert 39 . „Freundschaft ist niemals etwas gegenwärtig Gegebenes; sie gehört zur Erfahrung des Wartens, des Versprechens oder der Verpflichtung. Ihr Diskurs ist der des Gebets, und zur Debatte steht hier das, was die Verantwortlichkeit in die Zukunft öffnet.“ 40 Vielleicht ist dies die wichtigste Einsicht des gegenwärtigen philosophischen Diskurses über Freundschaft: Freundschaft bedeutet in sich Gebet. Es darf über der Einsicht in die diachronische Differenz, die jede Freundschaft in ihrer Tiefe gründet, aber nicht vergessen werden, dass das Geschenk der Freundschaft Hilfe zum Glaubenkönnen in einem „vorchristlichen“ und formal anzeigenden Sinne wird, um hier Heideggers Terminologie mit heranzuziehen. 41 Der Freund kann gerade in dem diachronen Ereignis der Freundschaft dem Freunde Zeuge für frei sich schenkende Liebe werden und die zeitlich sich zutragende Freundschaft zum Wink dessen was Boethius viel36 GS 3, 61. 37 GS 3, 61. 38 GS 3, 85.

39 Vgl. J. Derrida. Politique de l’amitié suivie de l’oreille de Heidegger. Paris 1994. Montaigne, auf den

sich Derrida beruft, schreibt das Wort Aristoteles zu, Kant in: Eine Vorlesung über Ethik, hrsg. Im Auftrag der Kantgesellschaft von Paul Menzer, Berlin 1924, 254–265 wohl eher richtiger dem Sokrates. Am ehesten ist bei Platon hier das Ende des Lysis (223b 7–8) heranzuziehen mit der Einsicht in die Unmöglichkeit einer begrifflichen Bestimmung von Freundschaft. 40 Vgl. J. Derrida. Zitiert nach Klaus Dieter Eichler (Hg.). Philosophie der Freundschaft. 2. Aufl. Leipzig 2000, 185. 41 Martin Heidegger. Phänomenologie und Theologie. Frankfurt/M. (Klostermann) 1970, 31.

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leicht mit der „interminabilis vitae simul tota et perfecta possessio“ 42 anzeigen wollte.

42 Boethius. De consolatione philosophiae V, 6.

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X. „Widergebärende Dankbarkeit“ Geben und Schulden in dem Ereignis der Sprache

Wir versuchen den Zusammenhang von „Gabe“ und „Schuld“ oder auch „Verpflichtung“ zu verstehen. In meinem Beitrag zu diesem Thema möchte ich mir gestatten, zunächst einmal die Substantive, die dieses Thema bestimmen, zu verbalisieren. Ich möchte über Geben und Schulden nachdenken. Denn es kommt mir darauf an, noch vor allem Gehaltssinn, den „Gabe“ und „Schuld“ oder auch „Verpflichtung“ haben können, deren Zeitigungssinn zu bedenken. Bei einer Besinnung auf diese fundamentalen menschlichen Verhaltensweisen halten wir uns ja nicht einfach nur im Bereich regionaler Horizonte auf, etwa dem Horizont des Ökonomischen und Rechtlichen 1 oder dem einer Soziologie des Tausches, 2 so sehr die Erforschung solch klar definierter ontischer Horizonte im Lichte der ontologischen Fragestellung auch sinnvoll und diese Horizonte für die Ergebnisse der philosophischen Besinnung ein Probierstein sein mögen Unsere Besinnung soll vielmehr versuchen, bis zu den usprünglichen und in diesem Sinne transzendentalen Verhältnissen durchzudringen, in welchen Wirklichkeit überhaupt sich gibt. Sie soll sich mit dem ursprünglichen Geschehen des Sich-Gebens einlassen, in welchem Geben und Schulden als menschliche Zeitigungsweisen allererst ihren Sinn gewinnen. Nach Geben und Schulden lässt sich derart überhaupt erst im Kontext des Geschehens menschlichen Da-seins angemessen fragen, – jenes Daseins, dem es, wie Heidegger gezeigt hat, „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“ 3 . Deshalb ist unser gegenwärtiges philosophisches Fragen nach dem Zusammenhang von Geben und Schulden ja ganz offensichtlich auch besonders herausgefordert durch die auf Heidegger zurückgehende Hermeneutik geschichtlicher Faktizität.

1 Man kann das Ökonomische insgesamt durch die Begriffe von Soll und Haben (dave; debito

e avere; le doit et avoir) formiert ansehen. Im Recht stehen gegebenen, formulierten Rechten, entsprechende Pflichten gegenüber. 2 Vgl. dazu Marcel Mauss. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Frankfurt (Suhrkamp), 1968. Französischer Originaltitel: „L’essay sur le don.“ 3 SuZ 12.

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I. Heideggers Hermeneutik der Faktizität Bereits in der im Kriegsnotsemester 1919 vorgetragenen Vorlesung „Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem“ stellt der junge Heidegger in deren „Zweitem Teil. Phänomenologie als vortheoretische Urwissenschaft“ als zentrale Frage die Frage nach dem „es gibt“ 4 . In deren Kontext taucht denn auch bereits das Schlüsselwort „Ereignis“ auf. 5 Sein und Zeit nimmt diese Frage auf. 6 Und vollends widmet sich das „andersanfängliche Denken“ des späten Heidegger schließlich dem „Sein“ als einem Sich-geben. Das „es ist“ wird jetzt in aller Ausdrücklichkeit gedacht als „es gibt“. 7 „Sein ist nicht. Sein gibt Es als das Entbergen von Anwesen.“ 8 Dieses „es gibt“ zeigt sich dem Fragenden aber zuletzt als „es gibt Zeit“. Es zeigt sich als die Gabe von Zeit, „das stete, den Menschen angehende, ihn erreichende, ihm gereichte Verweilen.“ 9 „Die Zeit ist nicht. Es gibt die Zeit.“ 10 Und zwar gemäß der Strukturformel für die Sorge in Sein und Zeit 11 als das „lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart“. Dieses Einander-reichen „gibt“ allererst und ursprünglich „Sein“. 12 Derart erweisen sich Zeit und Sein in ihrem Ursprung als Gabe; so wie dies in Weiterführung der Intentionalitätsanalysen Husserls für den Kontext eines von Husserl ausgehenden Denkens ja auch Jean-Luc Marion gezeigt hat. 13 In diese Gabe ist aber das Da-sein schon verstrickt: in seinem In-derWelt-sein und seinem Sich-zeitigen. Die Gabe ist nur Gabe für den, dem sie gegeben wird. Deshalb erweist sich als notwendig korrelierende Antwort auf das Geschehen des Sich-gebens 14 von Zeit und Sein der Dank. Als diesen versteht Heidegger, ausgehend von dem althochdeutschen Substantiv „gidanc“ 15 das Denken. 16 In diesem besteht die in Sein und Zeit thematisierte Schuldigkeit des Daseins, die sich derart aus dem Ursprungsgeschehen von Zeit und Sein als der gemeinsamen Wurzel von theoretischer und praktischer Ver4 Vgl. Ga 56/57, 63ff. 5 Ga 56/57, 75.

6 Vgl. dazu etwa SuZ 7, S. 214, 226–227, 316. 7 Martin Heidegger. Zur Sache des Denkens. Tübingen (Niemeyer) 1969, 5 (= Ga 14,9). 8 A.a.O., S. 6. 9 A.a.O., S. 13.

10 A.a.O., S. 16. 11 SuZ, S. 196.

12 Zur Sache des Denkens a.a.O., S. 15. 13 Vgl. dazu Jean-Luc Marion. Réduction et donation. Paris (PUF) 1989 und ders. Le phénomène

saturé, in: Jean-Francois Courtine. Phénoménologie et théologie. Paris 1992.

14 Bei substantivierten und durch Bindestrich gegliederten Infinitiven schreibe ich das Verbum

klein, um auf den Zeitwortcharakter des Ausdrucks aufmerksam zu machen.

15 Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch 4, 1940. 16 Martin Heidegger. Was heißt denken? Tübingen 4 1984, S. 94.

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nunft ergibt. Jede Scheidung von Ontologie und Ethik erweist sich gegenüber diesem ursprünglichen Verhältnis von Zeit, Sein und Denken, – Gabe und Dank –, als sekundär; ebenso wie sich aus dieser Urkorrelation denn ohne Mühe auch eine relecture der überlieferten Lehre von der Konvertibilität der Transzendentalien durchführen lässt: Die Wahrheit fällt ineins mit dem zu Tuenden, dem Guten und derart dem „Sein“. Sie erweist sich letztlich allein als das Freiheit Gewährende. Insofern ist es in der Tat töricht, Heidegger ein Vergessen der Ethik anzulasten. Es geht in Heideggers Denken vielmehr um deren Begründung. Das Denken findet sich als eigentliches Denken, – Vernunft vor allem Verstand –, immer schon in dem Verhältnis zu dem Sichgeben, der Gebung von Zeit und Sein. Es ist dieser Gebung verpflichtet. Dieses Verhältnis, das sich vom Dasein her gelesen als Dank artikuliert, bedarf dabei selbst aber der Zeitigung. Es geschieht deshalb wesentlich in den modi des Wartens und Harrens. Das Dasein, das sich mit diesem Verhältnis einlässt, hat hier nichts in der Hand. Es ist in diesem Sinne gerade nicht autonom. Es ist vielmehr ganz und gar auf das Vernehmen angewiesen 17 – und derart erst Vernunft. Das Verhältnis des Dankens fundiert deshalb auch erst eigentliches Denken, worauf denn vor allem der späte Heidegger immer wieder hinweist: „Lernt erst danken, dann könnt ihr denken“. 18 Die Gabe aber erweist sich gerade dadurch als Gabe, daß sie sich immer nur in Entbergung und Verbergung zugleich zuträgt, 19 als Geben aus einem An-sich-halten heraus, als Ereignis, das sich zugleich als Ent-eignis sowohl für den Gebenden erweist wie für das Dasein, welches die Gabe von Zeit und Sein empfängt. Die „schrankenlose Entbergung“ 20 würde die Gabe als Gabe ebenso zerstören wie den sie Empfangenden und den im Dank ihr Antwortenden. Dabei erweist sich schließlich das im Sich-geben von Zeit und Sein sich zutragende „Gegen-einander-über“ 21 , die sich zutragende „Gegnet“ 22 von Geben und Verdanken eben nicht nur als Einander-Gegenüber von sterblichem Dasein und Welt, sondern darin zugleich auch als die Begegnung der „Sterblichen“ mit den „Unsterblichen“.

17 Vgl. dazu schon Kant im opus postumum. Vgl. unten Anmerkung 27. 18 Mitteilung des Herausgebers des Bandes 75 der Heidegger Gesamtausgabe, Curd Ochwadt an mich. Vgl. ferner: Martin Heidegger. Gelassenheit. Pfullingen (Neske) 2 1960, S. 66–67: „G:

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der Edelmut wäre das Wesen des Denkens und somit des Dankens./L.: Jenes Dankens, das sich nicht erst für etwas bedankt, sondern nur dankt, daß es danken darf.“ Vgl. dazu Martin Heidegger. Über den Humanismus. Frankfurt (Klostermann) 1947, S. 23: „Es gibt sich und versagt sich zumal.“ Ders.: Zur Sache des Denkens. A.a.O., S. 23.: „Muß der Entzug zum Eigentümlichen des Ereignisses gehören?“ Zur Sache des Denkens. A.a.O., S. 23. Ga 12, 176 und 184. Martin Heidegger. Gelassenheit. Pfullingen (Neske) 1959, 50.

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II. Vertiefung der geschichtlichen Faktizität im Ausgang von dem tatsächlichen Geschehen von Sprache Diesem Ursprungsdenken Heideggers, wird man zustimmen können. Und man wird auch sehen dürfen, daß ganz entscheidende Grundphänomene des derart geschichtlich sich zeitigenden und erst so denken könnenden Daseins, wie etwa das seiner Versuchbarkeit und sein Geworfensein in eine Geschichte, die immer schon eine uneigentliche und verfallene ist, ebenso wie das „Miteinandersein von Dasein und Dasein“ 23 dadurch einsichtiger werden. Ich frage mich aber, ob das von Heidegger Gesehene nicht noch einmal gerade im Hinblick auf das Verstehen der Faktizität der Geschichte selbst vertieft wird, wenn man, wie Rosenzweig dies bereits 1919 tat, als den point de départ die Sprache wählt; und zwar die Sprache in ihrem „ganz wirklichen Gesprochenwerden“. 24 „Die Sprache in ihrem „ganz wirklichen Gesprochenwerden“ das meint Sprechen, insofern es sich zwischen dem Anderen selbst und mir selbst ereignet. Rosenzweigs Sprachdenken erweist sich darin als der radikalste Durchbruch durch das überlieferte Denken, daß es von vornherein den Ausgang von nur einem transzendentalen Subjekt, oder auch nur von dem einen, wenn auch für alle in seiner Sorgestruktur maßgebenden Dasein hinter sich lässt und von der tatsächlichen ursprünglichen Zeitigung von Sprache zwischen den jeweils füreinander Anderen ausgeht; mit Levinas: von der jenseits der parmenideischen Einheit zu suchenden ursprünglichen Pluralität von „sein“. Rosenzweigs „Neues Denken“ gründet sich als Sprachdenken radikal im „Bedürfen des anderen und, was dasselbe ist“, derart im „Ernstnehmen der Zeit“. 25 1. „Das Denken ist ein Sprechen, und dieses ein Höhren“ (Kant, op. postumum) Wie stellt sich solchem Denken aber die wechselseitige Zugehörigkeit von Geben und Schulden dar? Gerade das Zurückgehen in die Zeitigung lässt dies deutlicher zu Tage treten. Indem ein Sprechender spricht, spricht er selbst. Aber er spricht als er selbst immer schon zu einem Anderen und von einer Sache. Im Grunde beschreibt das alte, in der aristotelischen Rhetorik zu findende, dort freilich nicht weiter auf seine Zeitigung bedachte Schema diese Ursprungssituation von Sprache sehr gut. 26 Es stellt sie auch in die konkrete politische Redesituation ein. 23 Ga 27, 109. 24 GS 2,194.

25 GS 3, S. 151–152. 26 Aristoteles. Rhetorik 1358.

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Indem Denken als achtsames Sprechen eines sterblichen Menschen in der angegebenen Ursprungssituation geschieht, gibt sich dem Sprechenden aber was er sagen kann. Denn der Denkende und aus der Kraft des Denkens Sprechende will ja nicht einfachhin und in absoluter Autonomie nur sich selbst sagen. Wollte er dies, so wüsste er nicht, was er sagt. Vielmehr will er sagen, was sich ihm in seiner Aufmerksamkeit antut, was sich ihm derart in dem Urverhältnis seiner denkend-sprechenden Zeitigung gibt. Derart kann man bereits den Satz aus Kants opus postumum verstehen: „Das Denken ist ein Sprechen und dieses ein Höhren“. 27 Denken, Erkennen und Sprechen gehen aus einem Leiden hervor, in welchem der Sprechende gerade dadurch je wieder zu seinem Eigenen kommt, daß er über das nur Eigene hinausgeführt wird. Gerade dadurch verpflichtet das sich so Gebende den Sprechenden aber auch. Der Sprechende schuldet sich dem Anderen, das sich ihm antut. Durch dieses Sich-Transzendieren auf das andere hin, das der Sprechende dem Anderen, das sich ihm antut, schuldet, durch diese Enteignung des bloßen Gedankens, der ja nur mein Gedanke sein könnte, im wirklichen Wort 28 – geschieht aber ursprünglich Zeit selber. Zeit geschieht nicht nur als Verlauf innerhalb einer Synchronie, sondern als Zeitbruch: Diachronie. Es ereignet sich unvorhersehbar Neues, das sich ursprünglich, d.h. aus dem Nichts gibt. Eben deshalb wird, so bemerkt Rosenzweig, in der Tat jemand, der wirklich etwas zu sagen hat, dieses auch neu sagen. Gerade in diesem „Neu-sagen“ zeigt sich, daß das, was sich ihm als ursprüngliche Einsicht gibt, ihn als ihn selbst verpflichtet. Gerade darin gründet aber auch, daß er es dem Anderen sagen kann, der als der Andere selbst absolut eigenen Ursprungs ist; und dadurch gerade der, der selbst sprechen kann. Der „nicht nur Ohren hat, sondern auch einen Mund“. 29 Gerade daß das zur Sprache zu Bringende sich gibt, daß ich es verdanke, so wie der Andere es im Denken verdankt, dies erlaubt, daß wir im diachronen Ereignis des Gespräche aufeinander hören und zueinander sprechen und wir dennoch gerade darin wir selbst werden und Geschichte sich ereignet; daß Zeit selber wirklich wird. Sowohl Husserl wie zunächst auch Heidegger suchen in den 20er Jahren die Frage nach dem Verhältnis mit dem anderen Menschen in einem gewissen Rückgang auf Leibnizens Monadologie zu lösen. 30 Dasselbe bewegt den Anderen wie den Einen, so scheint dort die in sich plausible Grundthese 27 Immanuel Kant. Akademieausgabe Band 21. Berlin 1936, 103. 28 Ferdinand Ebner. Schriften. Hg. v. Franz Seyr. II. Band. München (Kösel) 1963, 977. „Expro-

priation des Gedankens durch das Wort“.

29 GS 3, 152. 30 Vgl. dazu die 5. Cartesianische Meditation Husserls, welche überschrieben ist „Enthüllung

der transzendentalen Seinssphäre als monadologische Intersubjektivität“. Hua 1, 121 mit Ga 27,142f. „Leibniz’ Monadologie und die Interpretation des Miteinanderseins“.

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zu lauten, die indes die Zeitigung von Sprache zwischen dem je füreinander geschichtlich Anderen überblendet. Rosenzweig hingegen stellt in dem Ansatz seines die Zeit, „die selber geschieht“, ernstnehmenden Sprachdenkens, welches später Levinas aufnehmen wird, das ursprüngliche Sich-schenken, welches den als ihn selbst in seiner geschichtlichen Einmaligkeit Sprechenden zum Sich-überschreiten verpflichtet, in den Mittelpunkt. Weil das ursprüngliche Wort sich gibt, – und nicht gemacht wird – können der Andere selbst und ich selbst mich auf es hin überschreiten. Wir schulden dies dem ursprünglichen Wort, das sich in der Zeitigung gibt. Und gerade dadurch kommen wir zu uns selbst, gelangen wir in unser Eigenes. Daß das ursprüngliche Wort sich gibt bedeutet dann freilich auch, daß es zugleich an sich hält. Wäre das Wort endgültig und absolut erschöpfend gesagt, würde jede Geschichte als die Geschichte sterblicher sprechender Menschen erlöschen. Das Ernstnehmen der Zeit hängt deshalb für Rosenzweig zuinnerst damit zusammen, daß der Mensch sich gerade als Sterblicher gegeben ist. Im Sinne des Talmud belegt Rosenzweig dies damit, daß nach dem Verständnis des Talmud das „sehr gut“, welches Gott nach der Erschaffung des Menschen am 6. Schöpfungstag spricht, den Tod bedeutet. Dieser ist das Siegel der Liebe Gottes, mit der Gott das vollkommenste all seiner Geschöpfe ins Dasein ruft 31 . Rosenzweigs Sprachdenken versteht sich dezidiert als eine Philosophie des sterblichen Menschseins. Erst in dem derartigen Sich-Ereignen endlicher Zeit zwischen Menschen trägt sich das ursprüngliche Wort als Gabe und Verpflichtung zu, – als verpflichtendes Sich-geben. Das im ursprünglichen Sprechen Sich-gebende verpflichtet zur Antwort, welche letztlich Antwort des sich zeitigenden Daseins im ganzen ist und deshalb nie nur isoliert verbale Antwort. Vielmehr verpflichtet das ursprüngliche Wort zu der Antwort, die sich als Sprachhandlung des Daseins immer auch schon im tatsächlichen geschichtlichen Handeln vollzieht. Hier liegt die gemeinsame Wurzel von Ontologie und Ethik, die von Kant gesuchte gemeinsame Wurzel von theoretischer und praktischer Vernunft. 2. Der ständige Überschuss über das Gesagte Was aber verpflichtet in der sich zueignend-enteignenden Gabe des ursprünglichen Wortes letztlich und welches ist unser Verhältnis zu dem letztlich Verpflichtenden? Danach muß eigens gefragt werden. Wir haben dies im bisherigen Gang unserer Überlegungen dadurch zu erhellen versucht, daß wir dar31 GS 2, S. 173. Im Talmud vgl. dazu Genesis rabba IX, 5.

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auf aufmerksam machten, daß das Gespräch zwischen dem Anderen selbst und mir selbst nur möglich sei, wenn einerseits die Eigenursprünglichkeit der Sprechenden und Hörenden gewahrt bleibe, andererseits das zur Sprache Gebrachte sich als Gabe gebe, d.h. als Neues dem schon Gesagten gegenüber und zwar derart, daß es weder das letztlich von mir Gemachte noch von dem Anderen Gemachte sei, sondern im Sinne der Redeweise der Devise der Phänomenologie die „Sache“ als das ursprünglich zu Sagende selbst. Diese will allerdings sowohl von dem Sprechenden wie dem Hörenden je als ihnen selbst vernommen werden. An sich selbst gibt sich das zur Sprache Gebrachte als das aus eigenem Ursprung sich Gebende. Wenn wir die von Rosenzweig in Stern gebrauchten Horizonte ins Spiel bringen wollen, so erweist sich, dass sich die zur Sprache gebrachte „Sache“ sowohl im Lichte des hypothetischen Urphänomens Welt zeigt wie immer auch des ebenso hypothetischen Urphänomens des Selbst. In allem tatsächlich zur Sprache Gebrachten spricht Welt und spricht ein endlich sterbliches Selbst. Welt und Selbst geben sich in allem Gesagten als die weder von dem Einen noch von dem Anderen als absolutem Schöpfer „gemachte“ Gabe des in der Sprache zur Sprache Gebrachten Und nur deshalb können der Andere und ich selbst, können wir miteinander sprechen, schulden wir einander das Miteinander-sprechen. Gerade dieses Gabecharakters des zur Sprache Gebrachten wegen, weist das Sprechen selbst aber nun ständig einen Überschuß über das Gesagte auf, wie Levinas durchaus im Sinne des Rosenzweigschen Sprachdenkens herausgearbeitet hat. 32 Gerade weil das zu Sagende sich gibt, ist das Sprechen (Dire) damit nie endgültig fertig. Die Gabe verwandelt sich nie in absoluten Besitz. Vielmehr schulde ich als Sprechender gerade angesichts des Gabecharakters dessen, was ich sagen durfte, die Dankbarkeit des neuen Sagens. 3. Exkurs: Das Sich-geben aus dem Nichts und die Vergebung Wem schulde ich diese Dankbarkeit? Dies kann in der Sprache nicht mehr benannt werden. Das zu Sagende gibt sich in seiner Ursprünglichkeit ja buchstäblich aus dem Nichts. Es zeigt sich in seiner Ursprünglichkeit als „don du rien“. 33 Es gibt sich gratis und umsonst. Vielleicht kommt es daher, daß man auf den Dank hin, der einem von jemandem ausgesprochen wird, gerne mit einem „keine Ursache“ antwortet, 32 Vgl. hier das Verhältnis von Dire und Dédire und von Dire und dit, etwa in AQ 6f., 47f., 195f.

In diesem Sinne gilt das Rosenzweigsche Axiom GS 2, 244: „Die Welt ist noch nicht fertig“.

33 Ich benutze hier den Titel des Werkes von Jean Duvignand über das Fest. Jean Duvignand. Le

don du rien. Essai d’anthroplogie de la fête. Paris (ed. Stock) 1977.

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– mit „di niente“, „de rien“, „de nada“. 34 Man weist damit auf den Gabecharakter der Gabe hin, für die man nur Vermittler war. Die Gabe hat sich als Gabe selbst und umsonst gegeben. Sie erscheint als reinere Gabe, wenn sie dem Verhältnis des Tausches, des „do ut des“ enthoben ist. Und derart kann denn auch in Beethovens „Fidelio“ Leonore, die ihr Leben für den Gatten einsetzte, auf dessen Frage: „Meine Leonore, Was hast du für mich getan?“ mit „Nichts, nichts mein Florestan“ antworten 35 . Hier, in dem Sich-geben der Gabe aus dem Nichts heraus, der reinen Gratuität der Gabe des ursprünglichen Wortes, öffnet sich denn aber auch der Zugang zu dem, was in der Ver-gebung geschieht, dem par-don. Was in der Vergebung geschieht, ist ja im Grunde dieses, daß jemand ein Unrecht, das ihm von einem Anderen widerfuhr, durchstreicht, daß er es nicht mehr in Rechnung stellt. Durch diese Negation einer Negativität im zwischenmenschlichen Verhältnis und letztlich von der Quelle alles Guten her aber gibt sich – und zwar umsonst, „gratis“ – die Positivität einer neuen Zukunft. Diese Zukunft war im System der zu verrechnenden und zu sühnenden Schuld nicht da. Vergebung geschieht immer als „unverdiente Gnade“, „gratia gratis data“. Und wer gibt, daß es ein solches Ereignis überhaupt gibt? Alles kann aus dem in der Sprache nicht zu benennenden Ursprung heraus neu beginnen. Ich möchte in diesem Lichte denn auch das in vielen, wenn auch nicht in allen ursprünglichen Religionen verbreitete Feiern eines Neujahrfestes sehen. Im Ritus dieses Festes wird sehr häufig ja das Alte verbrannt, werden die Ahnenhütten abgerissen und neu gebaut, wird das Unterste zuoberst gekehrt (confusion des formes) usw., damit die „neue Zeit“ nun wieder rein aus dem Nichts von Voraussetzungen beginnen kann. 36 Rosh-Hashana und Yom Kippur sowie das Begehen des Jubeljahres zeigen sprachphänomenologisch gesehen dieselben Züge. 37 Dieses religiöse Begehen der Vergebung und des Neuanfangs kann es aber nur geben, weil überhaupt und immer schon „alles Sein“ Gabe und Gnade ist. „Die Umschreibung der Existentialbehauptung eines Ist-Satzes durch das 34 Englisch antwortet man in dieser Situation mit „You’re welcome“. Man begrüßt, daß es den

Anderen gibt, dem man etwas geben konnte. Das Gute als das Ursprüngliche gibt sich immer nur um seiner selbst willen. Mit Recht legt deshalb Ignazio Silone Coelestin V. die Worte in den Mund: „C’è solo il bene, puro e semplice; non c’è ‚a fin di bene‘“. Ignazio Silone. L’avventura d’un povero cristiano. Milano (Mondadori) 1968, 131–132. 35 2. Aufzug, 5. Auftritt. Ich folge hier dem Text der berühmten Aufführung mit der Bayerischen Staatsoper von 1957 unter Ferenc Friscay. 36 Vgl. Mircea Eliade. Die Religion und das Heilige. Salzburg o. J. (Otto Müller), S. 450f. 37 Vgl. dazu Hermann Cohen. Religion der Vernunft. Aus den Quellen des Judentums. Köln (Melzer) 1959, S. 252–275. Franz Rosenzweig, GS 2,359–364 und Stéphane Mosès. Le don et la dette selon les sources bibliques. In: Marco Maria Olivetti (Hrsg.) Le don et la dette. Padova (Biblioteca di Archivio di Filosofia) 2004, 361–369.

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„Es gibt“ ist nicht ohne tiefen Sinn. In ihr wird alles Sein als Gabe, d.h. im letzten Grund als Gnade begriffen“, so Ferdinand Ebner bereits 1921. 38 Letzten Endes artikuliert sich in diesem Gabecharakter von „sein“ und der darauf antwortenden Dankbarkeit das Schöpfungsverhältnis, in welches sich das Verhältnis der befreienden und erlösenden Gnade einzeichnet. „… ein yeclich creatur ist dasselb von recht und in der warheyt Got schuldig, und besunder ein yeclich redlich creatur“, 39 sagt die Theologia Deutsch. Deshalb ist das Danken der menschlichste Akt der redlichen Menschen. Bei Heidegger wird dieses Grundverhältnis zu „Sein“ als Gabe und Gnade in der reinen Formalität einer Analyse der Zeitigung beschrieben. Für Rosenzweig hingegen erfüllt sich im sich selbst verstehenden biblischen Glauben dieses Verhältnis als das des unbedingten Geliebtwerdens. Denn in dem Sprechenkönnen, in welchem sich mir das andere des zu Sagenden als reine Gabe gibt und ich zugleich in das Verhältnis zu den anderen Sprechenden trete, welche ich höre und zu denen ich spreche, finde ich mich als der Sprechenkönnende selbst gemeint. Ich finde mich in dem Ursprung meiner selbst, in welchem ich der Mich-zeitigende bin, grenzenlos bejaht. Derart aber finde ich mich zusammen mit den Anderen, die ich hören kann und zu denen zu sprechen kann; und zusammen mit dem, wovon zu sprechen ist – in der Welt. Das Ereignis der Sprache als das Sich-geben des zu Sagenden ist für Rosenzweig nicht zu denken, ohne daß das erste der drei hypothetischen Urphänomene, nämlich Gott, ins Spiel kommt. Jedes ursprüngliche Sprachereignis partizipiert an dem Wunder des „ereigneten Ereignisses“ der Offenbarung, das sich in seiner Augenblicksentsprungenheit 40 als die lebenspendende Gebung 41 erweist. In dieser Gebung erfahren sich die dank ihrer sprechen Könnenden unbedingt und grenzenlos gemeint, bejaht, d.h. aber geliebt. In der Gabe des Sprechenkönnens wird das „stumme Selbst“ des Menschen zu der „redenden Seele“. 42 Und zwar geschieht dies in einem diachronen Bruch mit dem Sich-zeitigen, in welchem das Selbst, welches sich zu sich selbst 38 Ferdinand Ebner. Schriften. Hrsg. von Franz Seyr. München (Kösel) 1963, II, S. 293. Vgl. dazu

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auch Bernhard Casper. „Che tutto l’essere è grazia …“. Riflessioni sulla concezione del’essere nel pensiero di Ferdinand Ebner. In: Silvano Zucal und Anita Bertoldi (Hrsg.), La filosofia della parola di Ferdinand Ebner. Brescia (Morcelliana) 1999, S. 41–50. Hermann Mandel (Hg.). Theologia Deutsch. Leipzig (Deichert) 1908, S. 103 (Nr. 56). Dafür, daß Franz Rosenzweig die Theologia Deutsch kannte, vgl. GS 3, S. 81. GS 2, S. 178. Schon in Hermann Cohens Aufsatz „Einheit oder Einzigkeit Gottes“ von 1917 findet sich die Passage: „… ‚Die Gabe der Thora‘ (Mathan Thora). Auch mit Gabe wird das hebräische Wort nicht genau übersetzt. Denn die Gabe ist ein Objekt, das gegeben wird. Mathan aber ist nicht Mathana. Es müßte also übersetzt werden dürfen, wenn dieser Wortgebrauch üblich wäre: Die Gebe, nämlich die Gebung.“ Hermann Cohen. Jüdische Schriften, 1. Band, Berlin (Schwetschke) 1924, S. 96–97. GS 2, 221.

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verhält, sich in absoluter Autonomie ohne das Bedürfen des Anderen und derart in reiner Synchronie zu verwirklichen suchte. Das Ursprungsereignis von Sprache erweist sich als die Gabe der Befreiung zu einem Sprechenkönnen von dem anderen (Welt) und zu den Anderen (Menschen). Dies ist aber nur die Kehrseite der Befähigung zum Vernehmen und Hören. Im Herzen der Gabe der Vernunft zeigt sich so unbedingtes Geliebtwerden, welches zu sich kommt in der Ant-wort der Gegenliebe. In der Antwort auf die Gabe des unbedingten Geliebtwerdens besteht letztlich die Schuldigkeit des vernünftigen sprechendürfenden sterblichen Daseins. Man kann diese Grundbefindlichkeit sterblicher Vernunft, wie M. Olivetti dies getan hat, durchaus mit dem Satz des Römerbriefes decken: „Dies bleibt ihr einander immer schuldig, daß ihr einander liebet“. 43 Rosenzweig legt in seiner Hermeneutik dieses Urverhältnisses, in welchem sich das sterbliche Dasein findet, nun allerdings den allergrößten Wert darauf, daß sich dieses Verhältnis selbst ereignet. Es geschieht in einer Umkehr oder Bekehrung des, sofern es sich nur selbst zu konstituieren versucht, liebeleeren Daseins. Niemand kann lieben, wenn er nicht zuvor geliebt wird. In dem augenblicksentsprungenen ereigneten Ereignis der Offenbarung wird wird das autonome Selbst, das trotzig mit sich selbst in absoluter Synchronie endgültig fertig zu werden suchte, bekehrt zu der diachron im Verhältnis zu dem Anderen sich zeitigenden „redenden Seele“. 44 Der im Selbstsein bestehende Mensch wird derart aber zum Zeugen dieses Verhältnisses. In diesem Zum-Zeugen-werden besteht demnach letztlich die Schuldigkeit dessen, dem die Gabe der sprechendürfenden Vernunft gegeben wird. Und hier liegt nach biblischem und talmudischem Verständnis, das Rosenzweig aufnimmt, denn auch erst die Legitimation für die Rede von Gott. „Wenn ihr mich bezeugt, so bin ich Gott, und sonst nicht.“ 45 Im Zeugnis besteht die eigentliche Antwort auf die Gabe des sprechendvernünftigen da-sein-dürfens. Dieses Zeugnis kann seine Wahrheit aber nun nicht gleichsam isoliert noetisch, sondern es muß sie in dem gelebten Dasein insgesamt erweisen. Die Schuldigkeit, die sich aus dem Ereignis der Gabe ergibt, führt in den Imperativ „Wie ER dich liebt, so liebe Du“. 46 Dieser führt aber in eine offene Zukunft, welche die Zukunft des nun dank der Gabe der Liebe zu sich selbst befreiten Daseins im Bedürfen des Anderen ist. 43 R 13,8. Vgl. dazu Marco M. Olivetti „Religion und Intersubjektivität“. In: Markus Enders und

Holger Zaborowski (Hg.). Phänomenologie und Religion. Zugänge und Grundfragen. Freiburg (Alber) 2004, 123–132. 44 GS 2, 221. Vgl. dazu oben Anmerkung 39 „redlich creatur“. 45 GS 2, 191. 46 GS 2, 228.

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Die Gabe wird hier zur Aufgabe der Liebe, die nur handelnde NächstenLiebe sein kann. Sie kann gerade der geschichtlichen Bedingtheit der sterblichen Vernunft wegen, nicht All-liebe sein. Gleichwohl bleibt ihr innerstes Verlangen, ihr eigentlicher désir, das Verlangen danach, daß alles von der Liebe durchseelt sein möge, daß „Gott alles in allem“ sei. 47 Ihr Verlangen ist das Verlangen nach Erlösung. Dieses Verlangen ist ihr aufgegeben. Diesem Verlangen weiß sich das in dem ursprünglichen Sprachgeschehen von der unbedingten Liebe vorgeladene Dasein verpflichtet. Diesem Verlangen gegenüber weiß sie sich schuldig. Das antwortende Sich-halten in diesem Verlangen stellt die umfassende Schuldigkeit dar, in welcher das Dasein sich findet. Derart ist ihm ein Weg aufgegeben, welcher einerseits nur der Weg des Sich-zeitigenden Daseins selbst sein kann. Andererseits ist dieser Weg aber in seinen einzelnen Schritten erleuchtet von der Betroffenheit durch die Gabe. Für das zu sich selbst durch das ereignete Ereignis befreite Dasein geschieht diese Erleuchtung in den einzelnen, der Zeitigung selber bedürftigen Schritten der Lebensverwirklichung nach Rosenzweig durch die Sprachhandlung des Gebetes. Das Gebet erweist sich also, so können wir nun sagen, als wichtigstes Moment jener Grundschuldigkeit, in welcher das Dasein als die sterblich geschichtliche des Anderen und der Zeit bedürftige Vernunft sich findet. Im Geschehen des Betens artikuliert sich die Grundschuldigkeit, in welcher sich das die Gabe unbedingten Geliebtseins erfahrende und zugleich weltverwirklichende Dasein mit anderem Dasein findet. Dies zeigt sich in einer ultima analysis des diachron dialogischen Geschehens von Sprache. Derart konkretisiert sich die These, die Levinas vorgetragen hat: „L’essence du discours est prière“. 48 Discours kann hier dann freilich nicht als isolierter Sprachakt verstanden werden und schon gar nicht als in bloßen Aussagesätzen bestehende Sprache. Vielmehr kann discours dann nur als das Sich-ereignen des Sprechens des sterblichen Daseins selbst in seinem Bedürfen des Anderen und dem Ernstnehmenmüssen der mit ihm selber geschehenden Geschichte verstanden werden.

47 GS 2, 446. 48 Entrn 20.

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4. „Widerberende dankbaerkeit“ und die Fruchtbarkeit als das Maß des Menschlichen Mir scheint, daß von dieser sich derart erschließenden Grundsituation dann aber auch eine relecture älterer Gedanken möglich ist, so wie wir sie z.B. im Werke des Meisters Eckhart finden. In seiner berühmten Predigt „Intravit Jesus in quoddam castellum“ (Lc. 10,38) spricht Eckhart in einer Korrektur an einer, wenn man so will, bloß negativen Theologie von der „widerberenden dankbaerkeit“, der widergebärenden Dankbarkeit als dem Grundakt geschöpflichen sterblichen Daseins. Im Stande solch „widergebärender Dankbarkeit“ kann aber nur ein Mensch sein, der zugleich rein empfangene Jungfrau und gebärender Mensch ist: „Wîp“. „Wîp ist daz edelste Wort, daz man der sêle zuo gesprechen mac, und ist vil edeler dan juncvrouwe. Daz der mensche got empfaehet in im, daz ist guot, und in der empfenclichkeit ist er maget. Daz aber got vruhtbaerlich in im werde, daz ist bezzer; van vruhtbaerkeit der gâbe daz ist aleine dankbaerkeit der gâbe, und da ist der geist ein wîp in der widerbernden dankbaerkeit …“. „‚Weib‘ ist der edelste Name, den man der Seele zulegen kann, und ist viel edler als ‚Jungfrau‘.“ Daß der Mensch Gott in sich empfängt, das ist gut, und in dieser Empfängnis ist er Magd. Daß aber Gott fruchtbar in ihm werde, das ist besser; denn Fruchtbarwerden der Gabe, das allein ist Dankbarkeit für die Gabe, und da ist der Geist Weib in der widergebärenden Dankbarkeit …“. 49

Erst in der Fruchtbarkeit der sich in der Sprache offenbarenden Gabe von Sein kommt diese Gabe zu ihrem ganzen „sein“. In der widergebärenden, d.h. nicht der wiederholt gebärenden, sondern der antwortend gegen-gebärenden 50 und so ursprünglich Neues, bisher nie Dagewesenes gebärenden Dankbarkeit kommt die Gabe zu ihrer Fruchtbarkeit. Solche Fruchtbarkeit wird dadurch zu dem eigentlichen Maß des Menschlichen. Man kann, so scheint mir, im Lichte dieser Einsicht des Meisters Eckhart durchaus wiederum Levinas lesen: „Das unendliche Sein, d.h. das Sein, das immer von neuem beginnt – das Sein, das nicht auf die Subjektivität verzichten kann, weil es ohne sie nicht von neuem beginnen könne – ereignet

49 Meister Eckhart. Werke I, S. 26–27. Hg. v. Niklaus Largier. Frankfurt/M. (Deutscher Klassiker

Verlag) 1993.

50 Zu der ursprünglichen Bedeutung von wider: Bezeichnung der Richtung im Raum und im

Sinne von contra und der erst später einsetzenden Bedeutung von „abermals“ vgl. Jacob und Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch 29, S. 871–893 und Friedrich Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 10 Berlin 1963, S. 858–859. Gwendoline Jarczyk und PierreJean Labarrière übersetzen in: „L’étincelle de l’âme“ , Paris (Albin Michel) 1998, S. 43: „La gratitude qui engendre en retour“.

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sich in der Gestalt der Fruchtbarkeit.“ 51 Und: „Die Fruchtbarkeit öffnet eine unendliche und diskontinuierliche Zeit“. 52 In diesem Ereignis, das man an dem diachron dialogischen Ereignis von Sprache ablesen kann, zeigen Geben und Schulden letztlich ihr Zueinandergehören.

51 TI 246 (= TU 392).“ L’être infini, c’est à dire l’être toujours recommecant – et qui ne saurait

se passer de subjectivité, car il ne saurait sans elle recommencer – se produit sous les espèces de la fécondité“. 52 TI 277 (= 437). „La fécondité ouvre un temps infini et discontinu“.

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XI. Die Seinsfrage, der Andere und die Zeitigung des religiösen Verhältnisses Wenn wir heute nach einer Religionsphilosophie zwischen Ethik und Ontologie fragen, so werden wir uns zunächst einmal Rechenschaft geben müssen darüber, daß wir keinen der drei in diesem Thema genannten Titel im Zeitalter eines nachmetaphysischen Bewußtseins unbefangen gebrauchen können. Weder können wir Ontologie im Sinne einer metaphysica specialis verstehen, so wie sie sich seit dem späten 17. Jahrhundert herausgebildet hat. Noch auch können wir Ethik im Sinne einer in einer Ontotheologie angesiedelten Teildisziplin verstehen. Und schließlich können wir auch Religionsphilosophie kaum in dem Sinne begreifen, in dem sie als die aus der natürlichen Theologie entstandene Lehre verstanden und im Deutschen Idealismus zum Thema gemacht wurde. Und vollends ist das „Zwischen“ problematisch. Denn wie kann Denken etwas denken, was sich „zwischen“ und nicht an einem bestimmten Ort oder als der Ort findet? Was indessen in dieser offen zutage liegenden Problematik auf dem Spiel steht, ist die Suche nach dem ursprünglichen Zugang, den wir heute zu dem religiösen Verhältnis finden können, wenn immer ein solches Verhältnis denn zu der Wirklichkeit unseres Menschseins gehört.

1. „Sein“ Ich will bei der Suche nach einem solchen Zugang von Heideggers „Kant und das Problem der Metaphysik“ ausgehen. In dieser berühmten Kantinterpretation von 1929 stellt Heidegger im Rückgriff auf jene Wende, durch welche am gründlichsten und deshalb auch am nachhaltigsten aufgedeckt wurde, was Philosophie in der Moderne heißen könne, die alte Grundfrage nach dem Sein neu. Die Ontologie, so stellt Heidegger fest, wird durch Kant als sie selbst überhaupt „zum erstenmal zum Problem“. Sie wird „erstmals auf ihre innere Möglichkeit befragt“. 1 Diese Frage nach der Möglichkeit der Ontologie aber erweist sich als die Frage nach dem „Wesensgrund der Transzendenz des vorgängigen Seinsverständnisses“. 2 Oder sie erweist sich als die Frage danach, wie denn „das endliche Seiende, das wir Mensch nennen, seinem innersten Wesen nach sein“ muß, „damit es überhaupt offen sein kann 1 Ga 3,12 und 3,17. 2 Ga 3,42–43.

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zu Seiendem, das es nicht selbst ist“ und das sich „daher von sich aus muß zeigen können“. 3 Ontologie wird von Kant erstmals nicht mehr als Ontotheologie gedacht, sondern als die Frage nach dem Sein in sich, dem Sein des für das Erkennen erscheinenden Seienden. Dabei aber deckt Kant auf, daß die Zeit „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“ ist. 4 D.h. aber, wie Heidegger in seiner Interpretation des Schematismuskapitels der „Kritik der reinen Vernunft“ darlegt, der Mensch erweist sich dank seines Sich-zeitigens, das ihn zutiefst ausmacht, als jenes Wesen, das zu Ontologie fähig ist, zur Rede von Seiendem. Die transzendentale Einbildungskraft erlaubt das reine „Anblick bilden im reinen Bilde der Zeit“. 5 Alles Seiende ist Seiendes als angeblicktes. Anders erscheint es für den Menschen nicht. Anders bildet sich nicht die Transzendenz des Erkennens. Ontologie als Transzendentalphilosophie bedeutet nichts anderes als „die ausdrückliche Enthüllung des systematischen Ganzen der reinen Erkenntnis, sofern es die Transzendenz bildet“. 6 Und daraus folgt denn auch, daß Ontologie als Transzendentalphilosophie im Kantschen Sinne ihrem inneren Wesen nach atheistisch sein muß. Die „ontologische Erkenntnis“ hat nur „empirischen Gebrauch“. 7 Sie bricht im sich zeitigenden Vermögen des „reinen Gegenstehenlassens“ den Spielraum auf für das, „was Sein und Nichtsein heißen kann“. 8 Und weiter ist da (zunächst scheinbar) nichts. Freilich tritt durch die Einsicht in diesen Zusammenhang zugleich in aller Schärfe die Endlichkeit des in seinem transzendentalen zeitigenden Entwerfen die Möglichkeit von Transzendenz erbildenden Seienden, d.h. des Menschen, an den Tag. Die erste der Kantschen, das Feld der Philosophie umreißenden Fragen „Was kann ich wissen?“ erläutert die vierte „Was ist der Mensch?“. Dieser erweist sich aber gerade im Durchdenken der ersten Frage als der endliche. Er erweist sich als „wesenhaft existente Endlichkeit“. 9 Dies aufzudecken war nach Heidegger die innerste Absicht Kants in seiner „Metaphysik von der Metaphysik“. 10 Durch eben diese zeigt sich: „Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm“. 11 3 Ga 3,42–43. 4 Ga 3,49–50. Vgl. KrV A 34/B 50. 5 Ga 3,131 (Hervorhebung BC); vgl. auch GA 3,21–22. Erkennen ist primär Anschauen. Und

Ga 3,139. Seinsverständnis: Der in der transzendentalen Einbildungskraft gebildete Horizont.

6 Ga 3,124; vgl. auch Ga 3,15–16: Ontologische Erkenntnis als transzendental philosophische

apriorische Synthesis.

7 Ga 3,124. 8 Vgl. Ga 3,84; auch 139: „Seinsverständnis … der in der transzendentalen Einbildungskraft

gebildete Horizont“.

9 Ga 3,230. 10 Ga 3,230. 11 Ga 3,229.

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Durch diese Loskoppelung der Ontologie von jeder Theologie, – sei sie „natürlich“ oder geoffenbart –, scheint nun aber zunächst einmal jedem Ansatz für eine Religionsphilosophie der Boden entzogen zu sein. Allerdings darf man nicht übersehen, daß gerade erst durch diese radikale Entflechtung das derart nun im Widerspiel von Welt und Dasein schlechthin endlich gedachte Sein selbst zur Frage wird. Eine, wie es schien, letzten Endes selbstverständliche, sich selbst explizierende Ontologie wird abgelöst durch die Seinsfrage. An die Stelle eines scheinbar selbstverständlichen Vorverständnisses von Sein, als des eigentlichen Aprioris allen Philosophierens, tritt die Frage nach dem Sein. An die Stelle einer Substanzontologie tritt die Aufmerksamkeit auf die Fragwürdigkeit von Sein; Aufmerksamkeit, welche sich zugleich als die Aufmerksamkeit auf die Fragwürdigkeit des Daseins als des von Grund auf endlichen Daseins erweist. Die Endlichkeit als Endlichkeit sowohl von Welt wie Dasein tritt zutage. In der Wiederholung der Grundfrage der Metaphysik „ti to on“ durch die Fundamentalontologie wird „im Da-sein als solchem die Zeitlichkeit als transzendentale Urstruktur“ 12 sichtbar. Und dies führt nun freilich nicht zu einem Transzendieren hin zu einer verstandenen Ewigkeit. Vielmehr ernötigt es, darin zumindest nimmt Heidegger den augustinischen Imperativ „intra in teipsum“ auf, die „existenziale Interpretation von Gewissen, Schuld und Tod“. 13 Diese werden in „Sein und Zeit“ auf diese Weise vor-ethisch als reine Phänomene des Daseins gelesen. Sie führen in die Not des Sich-Entwerfens als die eigentliche Not des Menschen, die in den Zeitigungsstrukturen der Sorge deutlich wird. 14 Die Besinnung auf diese Not macht den Sinn des Philosophierens aus. Dieses kann nie „absolutes Erkennen“ sein. 15 Vielmehr macht die Fundamentalontologie offenbar, daß es „dergleichen wie Sein“ nur gibt (und allerdings auch geben muß), „wo Endlichkeit existent geworden ist“. 16 Transzendenz gewinnt so den nächsten Sinn der „endlichen Transzendenz“, 17 den des Horizontes eines endlichen Seinsverständnisses, eines jeweil igen In-der-Welt-seins. Dies führt nun aber keineswegs zu einem transzendentalen Subjektivismus. Vielmehr wird in dem Aufweis der Verklammerung von Zeit und Sein, von dem her Heidegger denn auch Kant schlüssig interpretieren kann, nur deutlich, daß der Mensch als endliches, seinsverstehendes Dasein auf Hinnahme

12 Ga 3,242. 13 Ga 3,242.

14 Die Sorge erweist sich als „Einheit der transzendentalen Struktur der innersten Bedürftigkeit

des Daseins“ (Ga 3,236).

15 Ga 3,297. 16 Ga 3,228. 17 Ga 3,139.

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von Sich-Gebendem angewiesen ist. 18 Er ist auf Anschauung angewiesen. Und deshalb bedarf es der transzendentalen Anschauungskraft als der Mitte, welche Anschauung und Verstand verbindet. Und: „Angewiesen auf das Seiende, das er nicht ist, ist er [der Mensch, BC] zugleich des Seienden, das er je selbst ist, im Grunde nicht mächtig“. 19 Der Boden, auf dem er zu stehen meint, wird ihm, indem er ihn zu sichern sucht, zu dem Abgrund. 20 Die „Endlichkeit im Dasein“ erweist sich nicht „als vorhandene Eigenschaft“, sondern als das „obzwar meist verborgene Erzittern alles Existierenden“. 21 Das In-derWahrheit-sein des Erkennens als Offenbarsein des Seins des Seienden erweist sich zugleich auch immer als ein In-der-Unwahrheit-sein. 22 Denn es kann auf die Frage „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?“ keine Antwort geben. 23 Und die Aufgabe der Philosophie kann deshalb letztlich nur sein „den Menschen der Angst auszuliefern“, ihm bei „all seiner Freiheit die Nichtigkeit seines Daseins offenbar zu machen“. 24 Nun kann man sich freilich fragen, ob dieser Aufweis des Hineingehaltenseins des sich als In-der-Welt-sein zeitigenden Daseins in das Nichts bei damit zugleich sich zeigender Angewiesenheit auf das Seiende als Sich-gebendes nicht mehr bedeutet als lediglich ein Sich-Transzendieren in der Endlichkeit. Bedeutet dieses Transzendieren nicht vielmehr doch, in welcher Weise auch immer, ein Hinausgehen über die Endlichkeit? Bernhard Welte etwa hat das so verstanden und von diesem Punkt aus seine Religionsphilosophie entfaltet als eine Explikation des Sinnpostulates, das sieh in dem Hineingehaltensein des in der Welt seienden Daseins in das Nichts zeigt. 25 Den philosophischen Glauben bei Karl Jaspers wird man ähnlich verstehen dürfen. Heidegger selbst hat es in der Davoser Disputation mit Ernst Cassirer abgelehnt, davon zu sprechen, daß man von Endlichkeit nur reden könne, wenn man zugleich Unendlichkeit mitdenke. Er fürchtete ganz offensicht18 Vgl. dazu Ga 3,147; 154; 189; 297; 298. 19 Ga 3,228. 20 Ga 3,228. 21 Ga 3,238 (Hervorhebung BC). 22 Ga 3,281.

23 Was ist Metaphysik? Ga 1,9; 103ff; 122: „Die Philosophie kommt nur in Gang durch einen

eigentümlichen Einsprung der eigenen Existenz in die Grundmöglichkeiten des Daseins im Ganzen. Für diesen Einsprung ist entscheidend: einmal das Raumgeben für das Seiende im Ganzen; sodann das Sichloslassen in das Nichts, d.h. das Freiwerden von den Götzen, die jeder hat und zu denen er sich wegzuschleichen pflegt; zuletzt das Ausschwingenlassen dieses Schwebens, auf daß es ständig zurückschwinge in die Grundfrage der Metaphysik, die das Nichts selbst erzwingt: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“. 24 Ga 3.286 und Ga 3.291 (Hervorhebung BC). 25 Bernhard Welte, Religionsphilosophie, Freiburg, in: Ders. Gesammelte Schriften, hg. von Bernhard Casper. III. Abteilung, Band 1 eingeführt und bearbeitet von Klaus Kienzler. Freiburg (Herder) 2008.

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lich, Unendlichkeit als etwas dem Denken Zugängliches in das Philosophieren einzuführen. Ein Unendlichkeit verstehendes Denken müßte selbst unendlich sein. Ein un-endliches Denken ist aber ein Widersinn. 26 Dennoch wird man, gerade wenn man die Zeitigung als die Wurzel des seins endlichen Daseins ernst nimmt, in dieser Einsicht des Daseins in seine Fragwürdigkeit und Bedürftigkeit so etwas wie Erwartung und Hoffnung sehen dürfen; ein Hoffen-dürfen, das ja denn auch bei Kant erst den Zugang zu der Ordnung des Religiösen eröffnet.

2. Die Seinsfrage und der Andere Dieser Zugang zu einem Verhältnis, das wir zunächst einmal in heuristischer Absicht das „religiöse“ nennen wollen, scheint mir nun aber ursprünglicher zugänglich zu werden, wenn man mit Heideggers Fundamentalontologie und zugleich über diese hinaus sein gerade nicht nur von dem, dem Sein des Seienden den Horizont gebenden sich zeitigenden Dasein her versteht, sondern wenn man auch diese Horizontalität noch als eine Abstraktion begreift und die Seinsfrage dort verwurzelt sein läßt, wo sie am ursprünglichsten verwurzelt ist, nämlich in dem Dasein mit anderem Dasein. Heidegger kennt die Seinsart des „Mitdaseins der Anderen“ in SuZ durchaus. Aber er thematisiert dies sogleich auf das „alltägliche Mitsein“ hin. 27 Nach dem Erscheinen des Bandes 60 der Gesamtausgabe wird man sagen dürfen, daß dies offensichtlich damit zusammenhängt, daß Heidegger von seinen Anfängen an in der Zuwendung zu Luther, Augustinus und dem Neuen Testament innerhalb einer Hermeneutik der Faktizität an dem Phänomen des Verfallens und des Schonverfallenseins des Daseins interessiert war. 28 Andererseits will Heidegger aber von dem Grundansatz der Analytik des sich zeitigenden Daseins her die These Kants „Vom Primat der reinen praktischen Vernunft in Verbindung mit der spekulativen“ 29 aufnehmen. Jedoch hat, so darf man dann fragen, reine praktische Vernunft als ihren wahren und einzigen Spielraum nicht nur den, der durch die 2. Fassung des kategorischen Imperativs angegeben ist? Muß man nicht, gerade wenn man die Zeitigung des Daseins als Zeitigung ernst nimmt, den Faden des Denkens letztlich in dem Ereignis der Begegnung meines Daseins mit anderem Dasein als dem letzten Rechtsgrund seines inter-esses festmachen? Ist dieses Ereignis

26 GA 3,272. 27 Vgl. SuZ 117ff.

28 Vgl. dazu in Ga 60 „Phänomenologie des religiösen Lebens“, Frankfurt 1995, z.B. 64, 137,

148, 268–269, 272, 113, 144, 264 u.ö.

29 KpV A 215.

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nicht das letztlich denk- weil fragwürdige? Findet sich Dasein wie in das Nichts nicht letztlich in dieses Ereignis geworfen? Levinas fragt aus diesem Grunde mit Recht, ob denn die Ontologie im Sinne der Fundamentalontologie von „Sein und Zeit“ wirklich fundamental sei. 30 Gegenüber einem Verständnis von Sein, das aus der transzendentalen Synthesis des Verstehens des sich entwerfenden Daseins resultiert, beruft sich Levinas auf die geschehende Sprache. Sprache zeigt sich keineswegs nur als ein Gefüge, das Seiendes als festgestellt Anwesendes vorliegen läßt. Vielmehr zeigt sich Sprache „in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden“ 31 erst gegeben, insofern ich des Anderen als des Anderen bedarf und eben darin Zeit als diachron sich ereignende ernst nehme. 32 Gegenüber der Sprache, als der ananke stenai 33 , d.h. zum Stehen bringendes Vorliegenlassen, geht Levinas auf die Wurzel des sich ereignenden Geschehens von Sprache zurück; auf Sprache, die „in einer Relation begründet ist, die früher ist als das Verstehen“ und die allererst „Vernunft ermöglicht“. 34 Das Ereignis der Wirklichkeit zeitigt sich ursprünglich zwischen dem intentional für mich uneinholbaren Anderen und mir. Ich finde mich in der Wurzel meines Daseins in die Notwendigkeit des Hörens und Antwortenmüssens gestellt. Mein Dasein ereignet sich derart als dire vor allem dit. Das in Sprache erschlossene Seiende – und wie soll Seiendes anders zu Bewußtsein kommen denn als zur Sprache gebrachtes? – verdankt sich also nicht einfachhin einer Selbigkeit, welche durch die synchronisierende transzendentale Synthesis zustande gebracht wird. 35 Vielmehr wird Seiendes als bedeutendes erst gegeben im Geschehen zwischen dem Anderen und mir. Dieses Geschehen 30 Entrn 13–24. Über das Verständnis von Sein in den beiden Epochen des Werkes von Emma-

31 32 33

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nuel Levinas vgl. im übrigen die sehr kundige Abhandlung von Wolfgang Nikolaus Krewani, Der Wandel des Seinsbegriffs bei Emmanuel Levinas, in: „Philosophisches Jahrbuch“ , 102 (1995), 279–292. GS 2, 194. GS 3,151–152. AQ 191, Anm. 21 (= JS 329, Anm. 21): „Die unvordenkliche Vergangenheit ist dem Denken unerträglich. Von daher die Forderung des Anhaltens: ananke stenai. Die Bewegung über das Sein hinaus wird zu Ontologie und zu Theologie. Von daher auch die Idolatrie des Schönen“. – Vgl. Thomas Wiemer, Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache bei Emmanuel Levinas und ihrer Realisierung im philosophischen Diskurs, Freiburg/München 1988, 312ff. Entrn 17 (= SpA 108): „si le language n’est pas fondé dans une relation antérieure à la compréhension et qui constitue la raison“. Die Selbigkeit erweist sich als Grund der Allgemeinheit des Vorstellens (vgl. Ga 3,111). Der Verstand als das Vermögen der Regeln beruht auf dem Vorstellen einer bleibenden Einheit als der Selbigkeit des Regelganzen (Ga 3,150). Und das innerste Wesen der Zeit, das darin besteht, daß sie sich aus der Zukunft zeitigt, muß nach Heidegger als „im Vorgriff der Selbigkeit“ geschehend gedacht werden (Ga 3,187). Zeit wird hier also ausdrücklich gemäß ihrem synchronisierenden Wesen gedacht.

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aber geschieht als Diachronie, da die Zeit des Anderen, die der Andere in seiner Freiheit ist, in ihrer Ursprünglichkeit für mich uneinholbar bleibt. Zu der Wirklichkeit in ihrer eigentlichen Ursprünglichkeit vorzudringen, heißt, mit der Aufmerksamkeit der Vernunft bis zu diesem Ereignis zwischen dem Anderen und mir vorzudringen. Dieses Ereignis benötigt mich und mein schon gegebenes In-der-Welt-sein einerseits, mein Schon-sein-in. Andererseits geht es aber ebenso über mein Können hinaus. „Das Menschliche gewährt sich erst einer Beziehung, die kein Können ist“. 36 Derart bringt Levinas den ursprünglicheren Ursprung als das Geschehen von „Dasein mit anderem Dasein“ zum Vorschein; als Geschehen von sein, verbal verstanden, als Zeitwort und nur in seiner Zeitigung selbst zugänglich, als diachrones Geschehen, das je wieder die Synthesen meines Schon-Verstehens als eines Schon-seins-in (demeure) aufbricht. Dieses Durchdringen zu dem ursprünglicheren Ursprung aber gelingt nur der von Kant so genannten „reinen praktischen Vernunft“, die auf die Menschheit nicht nur in der eigenen Person, sondern „in der Person eines jeden Anderen“ aufmerksam ist. In diesem Sinne findet Kant „für das Menschliche einen Sinn“, „ohne ihn durch die Ontologie zu bemessen“. 37 Will man diese Vernunft ethische Vernunft nennen, so wird hier in der Tat Ontologie in der Ethik fundiert und die Ethik gemäß Kants These „vom Primat der reinen praktischen Vernunft in Verbindung mit der spekulativen“ zu der Ersten Philosophie. Levinas ist diesem Sprachgebrauch zunächst gefolgt, hat ihn aber später eher wieder aufgegeben. Und es scheint mir auch sinnvoller, ihn aufzugeben, um Äquivokationen zu vermeiden, die sich im Verhältnis zu einer ihre eigenen Fundamente nicht bedenkenden Ethik als einer metaphysica specialis ergeben könnten. Denkt man den Levinasschen Gedanken mit, so geht es in ihm darum, in einer hermeneutischen Phänomenologie, welche den ursprünglichen Zugang zu Wirklichkeit in der Zeitigung des Daseins zu gewinnen sucht – und dieser Ausgangspunkt ist Levinas mit Heidegger gemeinsam –, zu dem vorzudringen, was das Ereignis der Wirklichkeit als das Geschehen zwischen dem Anderen und mir ausmacht. In der Zeitigung dieses Ereignisses aber erweist sich, daß Wirklichkeit sich keineswegs nur als die von meinem Dasein entworfene Welt eröffnet. Vielmehr ereignet sie sich über das die Sachverhalte im Horizont der Selbigkeit entgegen stehen lassende Sein des Seienden hinaus als das mitmenschlich bedeutsame Sein. „La responsabilité pour les autres se place en-dehors ou au

36 Entrn 24 (= SpA 119): „L’humain ne se offre qu’une relation qui n’est pas un pouvoir“ 37 AQ 166 (= JS 287): „ … trouve un sens à l’humain sans le mesurer par l’ontologie“.

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delà de l’être“. 38 Dieses „au delà de l’être“ kann aber überhaupt nur in seinem diachronen Sich-zeitigen gedacht werden. Das derart sich zutragende Sich-zeitigen meines Daseins im Angesicht des Daseins des Anderen als Ereignis der „reinen praktischen Vernunft“ verdankt sich nun aber einem sowohl unbedingten wie unendlichen Anspruch. 39 Mein Mich-zeitigen im Angesicht des Anderen erweist sich, wenn es denn der Vorladung durch den Anderen als den Anderen gerecht werden will, als ein Sich-zeitigen, das sich keineswegs einfachhin in meinem Leistenkönnen gründet. Vielmehr verdankt es sich einem abgründigen unvordenklichen und unausdenklichen Seingelassensein. Es findet sich in einer Korrelation, die sich anders zeigt als jede vom Denken einholbare endliche Korrelation. Man darf sie vielleicht ein „kerygmatisches“ oder „prophetisches“ Geschehen nennen. Sie „zeigt“ sich als die nur im Geschehen selbst sich zutragende Spur des unverhältnismäßigen Verhältnisses zu der „Illéité“. 40 Dieses kann man dann in einem postmetaphysischen Sinne das „religiöse Verhältnis“ nennen. In diesem geschehenden Un-verhältnis gewinnt das Existenzial der Schuldigkeit über den Sinn der Frage „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?“ hinaus den Sinn: „Aber warum habe ich das Recht zu sein?“ In allem meinem Tun erleide ich angesichts des Anderen diese Frage in der „passivité plus passive que toute passivité“. Die Situation, die in dieser Situation zur Sprache kommt, erweist sich so als die Ursprungssituation des Menschlichen als eines solchen. Durch diese Situation finde ich mich vorgängig zu meinem Dasein als einem sich entwerfenden in einem Anspruch, der mich dazu entbindet, den Anderen nicht zu töten und ihn zugleich in seiner Sterblichkeit doch nicht alleine zu lassen. Levinas hat immer wieder aufgewiesen, inwiefern dieser mich ansprechende und in das praktische sein 41 freisetzende Anspruch nicht nur unbedingt ist, sondern auch unendlich: in der Zeitreihe durch kausale Ableitung nicht begründbar und zugleich mich in eine unerschöpfliche Aufgabe rufend, die mich indessen erst zu meinem Selbst-sein befreit. Durch die Wahrnehmung dieses Anspruches hole ich aber nun keineswegs das ein, wofür in der nennenden Sprache Chiffren stehen wie „das Unendliche“, „das Unbedingte“ und „das Gute“. Ich werde vielmehr nur dessen Zeuge. 42

38 Np 76. 39 Vgl. dazu zusammenfassend B. Casper, Der Zugang zu Religion im Denken von Emmanuel

Levinas, in: „Philosophisches Jahrbuch“ , 95 (1988), 268–277.

40 Vgl. dazu oben 33–44. 41 „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist“. Kant, KrV A 800/B 828. 42 Zu dieser Zeugenschaft vgl. AQ 179–194 (= JS 308–334).

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3. Das Worumwillen des praktischen „seins“ in der „Wirklichkeit ohne die Versöhnung der Zeit“ Was aber steht in dem immer neuen Ereignis von praktischem sein zwischen dem Anderen und mir auf dem Spiel? Mit Kant: das zu Erhoffende. Und dieses kann in der Situation dieser unserer „Wirklichkeit ohne die Versöhnung der Zeit“ 43 in der proponierenden Sprache nur durch eine Chiffre angezeigt werden, – eben jene, die auch Kant, durchaus als Philosoph, wählte: das „Reich Gottes“; 44 oder mit Fichte, Schelling und Rosenzweig: „Gott alles in allem“. 45 Versuchen wir, das Verhältnis zu dem Unendlichen, das „nicht mehr die Struktur einer intentionalen Korrelation“ 46 hat, selbst zur Sprache zu bringen, so müssen wir dafür das Wort Gebet wählen. In diesem Sinne ist für Levinas jedes ursprüngliche Geschehen von Sprache zwischen dem Anderen und mir schon Gebet. 47 Und derart hat auch Franz Rosenzweig davon gesprochen, daß das Urphänomen alles wirklichen menschlichen Lebens Gebet sei. 48 Heidegger antwortet in der Davoser Disputation auf Cassirers Hinweis auf die Unbegreiflichkeit der Freiheit dadurch, daß er ausführt, Freiheit sei in der Tat kein Gegenstand des theoretischen Erfassens. Dennoch aber sei sie Gegenstand des Philosophierens. Und dies könne nur bedeuten, „daß

43 Um hier ein Wort Dag Hammarskjölds aufzugreifen. Dag Hammarskjöld, Zeichen am Wege,

München 1965, 132.

44 Vgl. Alfred Habichler, Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant. Entwicklungsgeschichtliche

und systematische Studie zur Kantischen Reich-Gottes-Idee, Mainz 1989.

45 1. Kor. 15,28; Eph. 1,23. Vgl. bei J.G Fichte, Anweisung zum seligen Leben, Werke hg. LH.

Fichte V, 518; Fr.W. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, Werke 1856–61, VII, 484; Franz Rosenzweig, GS 2, 446. Vgl. ferner dazu auch Fr. Schleiermacher, KGA I, 2, 324. 46 EDEHH 216 (= SpA 258) „La relation avec l’Infini n’a donc plus la structure d’une Corrélation intentionelle“. 47 Entrn 20 (= SpA 113) „L’essence du discours est prière“. 48 GS 1, 816: „… denn Magie und Gebet sind grade deshalb die religiösen Urphänomene, weil sie nicht spezifisch religiös sind wie Opfer und Mysterien, sondern Urphänomene alles Lebens“. Ebd. 817: „Aber das echte Gebet ist echt, weil jene zur Magie führen könnenden Triebe in es aufgenommen werden. Selbst das Dein Wille geschehe, ist doch was es ist nur, weil wenigstens dies selber, dies daß Gottes Wille geschehen möge, dem Beter ein so leidenschaftlicher Wunsch ist, wie nur je ein Magier ihn gewünscht haben kann“. GS 3, 592: „… daß wir alle Tat, alle wahre Tat nur erbeten dürfen, nicht ertüfteln, erdenken, daß wir sie nur finden, nicht suchen und erfinden können. / Nicht das Werk einer „Freiheit“, Sittlichkeit und ähnlicher noch nie gesehener Renommierfabeltiere neuheidnischer Mythologie, ist die Tat, sondern die Erfüllung eines Gebets. Unter Gebet hier das und nur das verstanden, was Sie alle kennen oder kennenlernen werden in der reinen Hoffnung und Gelassenheit, mit der Eltern warten, daß ihnen ihr Wunsch erfüllt wird. Es gibt kein vollkommeneres Gebet als dies …“.

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Freiheit nur ist und sein kann in der Befreiung. Der einzige adäquate Bezug zur Freiheit im Menschen ist das Sich-befreien der Freiheit im Menschen“. 49 Befreiung in ihrer Zeitigung kann sich nur praktisch zutragen im tatsächlichen Geschehen zwischen den jeweils füreinander Anderen. In diesem ständig praktischen Sich-zeitigen von sein, das nicht ohne mein höchsteigenes Michzeitigen im Angesicht des Anderen geschieht, aber finde ich mich schon angegangen von einem mehr als nur Menschlichen, – einem Engel, wie Heidegger Cassirer im Hinblick auf den kategorischen Imperativ zugestehen will. 50 Melden sich, so kann man sich fragen, in der Gestalt des im kategorischen Imperativ dem Menschen gebietenden Engels in Heideggers Denken vielleicht zum erstenmal „die Göttlichen“ als „die winkenden Boten der Gottheit“? 51 Und meldet sich darin vielleicht schon das Verhältnis, das den Denkenden in der „Erwartung des letzten Gottes“ 52 beansprucht? 53 Aber wie weit trägt hier das philosophische Erkennen als ein philosophisches? Ist die Einsicht, daß der Mensch sich in der Verwirklichung seiner Freiheit, vorgeladen durch die Freiheit des Anderen, immer schon in dem Verhältnis eines Betens findet, schon ein Gottesaufweis? Ist dies philosophische Theologie im Sinne der alten metaphysica specialis? Man kann Heideggers Entschluß verstehen, selbst angesichts des kategorischen Imperativs nicht von Gott zu sprechen; mit dem Hinweis darauf, es gehe in dem Imperativ ja um ein Gebot, also um etwas Endliches, also um das Verhältnis des Daseins zu etwas „Geschaffenem“, also allenfalls zu einem Engel. 54 Aber vielleicht kann man diesen Entschluß denn doch auch im Lichte der Antwort interpretieren, die der alte Papst dem Zarathustra gibt: „Irgend ein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit“. 55 Daß es ein Gott war und kein Götze wird man dann freilich nur daraus erkennen können, daß die

49 Ga 3,285. 50 Ga 3,279. „Auch dieses Hinausgehen zu einem Höheren ist immer nur ein Hinausgehen zu

endlichen Wesen, zu Geschaffenem (Engel)“.

51 Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 6 1990, 144

Ga 7,151.

52 Ga 65, 403–417. (Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis). 53 Über dieses geschehende Verhältnis als Gestalt der Zeitigung der Freiheit vgl. die Veröffent-

lichungen von Umberto Regina, Servire l’essere con Heidegger, Brescia 1995, und Pietro De Vitiis, II problema religioso in Heidegger, Roma 1995; ferner Stephanie Bohlen, Die Freiheit des Menschen und die Frage nach Gott. In: Marco M. Olivetti (Hg.) Philosophie de la religion entre éthique et ontologie. Padova (Cedam) Biblioteca dell’Archivio di Filosofia 1996, 327–340. 54 Ga 3,279. Das Verständnis des Seienden als eines „geschaffenen“ lehnt Heidegger bekanntlich ansonsten als ein metaphysisch-christliches ab. Der Bericht über die „Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger“ wurde von Otto Friedrich Bollnow und Joachim Ritter verfasst. offensichtlich aber von Heidegger approbiert. Vgl. dazu Ga 3,315. 55 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Sämtliche Werke [KSA] hg. Von G. Colli/M. Montinari, Band 4, S. 325.

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hier in An-Spruch nehmende Macht fruchtbar wird in der Ermöglichung des Lebens des Anderen.

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XII. Die Möglichkeiten einer Philosophie der Religion – heute Während es in einer jüngst vergangenen Epoche der Geschichte des Denkens so scheinen konnte, als sei die Wirklichkeit von Religion eher ein Randphänomen oder eine bloße Funktion von Gesellschaft, ist unsere Gegenwart dadurch stigmatisiert, dass in ihr die Frage nach Religion als Religion erneut in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses tritt. Dies hängt ohne Zweifel damit zusammen, dass in den weltpolitischen Bewegungen, des beginnenden 21. Jahrhunderts der Zusammenhang von Religion als religiöser Überzeugung und politischer Macht auffällig wurde und auch der Zusammenhang von solcher Überzeugung mit dem Missbrauch von Macht und und mit den Ausbrüchen von Gewalt. Dass diese Sachverhalte uns ängstigen, hängt allerdings zugleich damit zusammen, dass heute zum ersten Mal in unserer Geschichte alle Menschen auf diesem einen Planeten Erde tatsächlich unausweichlich zu einem Zusammenleben auf Gedeih und Verderb gezwungen sind. Sie sind eben dadurch in einer ganz neuen Weise dazu herausgefordert, zu klären, was sie denn mit sich selbst anfangen wollen, wie und wo sie ihre wahre Identität finden wollen, ihren Halt und den Sinn ihres Daseins miteinander. Dass in dieser Situation ein Sich-hinwenden zu faktisch vorhandenen Gestalten von Religion aufblüht, ist ebenso verständlich wie die Suche nach neuen Gestalten von Religiosität aller Art, wie das entschiedene Nein zu allen verfassten Religionen, weil deren Existenz in der bisherigen Geschichte der Menschheit doch nur Unfrieden gebracht habe. Aber solch entschiedener Säkularismus trägt seinerseits häufig wiederum Züge eines religiösen Bekenntnisses an sich. Eine neueste soziologische Studie beobachtet in der europäischen Gesellschaft eine „Entfesselung des Religiösen“, und zwar gerade als Ergebnis der Säkularisierung. 1 Was der Marburger Alttestamentler Otto Kaiser bereits vor 20 Jahren zu Jesaja 8,8–9 schrieb, dass nämlich „die Krise einer Gesellschaft zugleich die Krise ihres Gottesverhältnisses spiegelt“, 2 scheint sich auch unabhängig von allem biblischen Glauben heute neu zu bestätigen.

1 Vgl. Klaus Eder. Europäische Säkularisierung – ein Sonderweg in die postsäkulare Gesell-

schaft? In: Berliner Journal für Soziologie. Band 12, Heft 3. Leverkusen (Leske und Buderich) 2002. 2 Das Alte Testament Deutsch. Das Buch des Propheten Jesaja. Kapitel 1–12. Übersetzt und erklärt von Otto Kaiser. 5. völlig neu bearbeitete Auflage. Göttingen 1981, 82.

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Nun kann in dieser Situation für den unter dem Gesetz des Wissenwollens stehenden Menschen 3 sicher nicht irgend eine Behauptung oder bloße Meinung weiterhelfen, und auch nicht die Frage nach dem Nutzen, unter deren Gesetz heute in zunehmendem Maße die Wissenschaften stehen, 4 sondern nur die Frage nach der Wahrheit. Religion, ihre Gestalten und Äußerungen, Religiosität als menschlicher Vollzug: Was ist das in Wahrheit? Aber wie soll auf diese Grundfrage eine Antwort gefunden werden? Welchen Zugang finden Erfahrung, Wissen und Denken denn zu dem, was Religion in Wahrheit ist?

1. Die vergegenständlichende Beschäftigung mit den Religionen Man wird angesichts dieser Frage nach dem was „Religion“ denn letzten Endes „ist“, zunächst einmal auf die vielfältigen Beschäftigungen verweisen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts doch den vielen faktischen geschichtlichen Religionen zugewandt und eine Fülle von wissenschaftlichen Disziplinen hervorgebracht haben: die Geschichte einer einzelnen und die Geschichte der vielen Religionen, aber auch Disziplinen wie Religionspsychologie und Religionssoziologie, Religionsforschung im Kontext der Ethnologie und schließlich Religionsphänomenologie, in dem Sinn, in dem Chantepie de la Saussaye, Gerardus van der Leeuw u.a. dieses Wort in ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber philosophischer Phänomenologie verwandten. Alle diese Disziplinen haben zu einer Fülle von Einzelerkenntnissen geführt, zu Wissen von historisch Gegebenem, vielleicht auch zu Erkenntnissen von mehr oder minder gesetzmäßigen Zusammenhängen und zur Wahrnehmung von morphologischen Strukturen, die in vielen Religionen in analoger Weise zu beobachten sind. Unser Wissen um das in den historischen Religionen Vorkommende, insbesondere auch unser Wissen um die Texte der Religionen, ist in den letzten 200 Jahren in einem früher nie vorstellbaren Maße angewachsen. Aber haben wir dadurch auch schon besser verstanden, was Religion denn wirklich und in Wahrheit ist? Verhält es sich nicht vielmehr so, dass gerade der objektivierende Abstand zu der Fülle des historisch Gegebenen, der für die objektivierende wissenschaftliche Beschäftigung mit der materialen Faktizität der Religionen notwendig ist, das religiöse Verhältnis als solches aus dem Spiel des Erkennens ausklammert? Kein Religionsforscher muß selbst religiös sein. Und darf er es überhaupt? Gilt hier nicht der hellsichtige Satz aus Nietz3 Vgl. dazu Aristoteles. Metaphysik 980 a 21 (= 1,1). 4 Vgl. dazu Volker Ladenthin. Wissenschaft am Ende – ihrer Epoche? Über das Verschwinden

der Wahrheit in der Welt des Nutzens, in: Forschung und Lehre. Bonn. Deutscher Hochschulverband Heft 1/2003, S. 11–13.

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sches Zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung: „Eine Religion …, die in historisches Wissen … umgesetzt werden …, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet“? 5 Gewiß, die Fülle der auf Wissen abzielenden Beschäftigungen mit den vorfindbaren Äußerungen der in der Menschheitsgeschichte vorzufindenden „Religionen“ führt uns in eine sinnenhafte Nähe zu diesen. Und wenn der alte Satz gilt: „omnis cognitio incipit a sensibus“, 6 ist solche Nähe vielleicht ein Anfang von Erkenntnis. Die Fülle des derart wahrgenommenen faktischen Religiösen und die Pluralität der Hinsichten, unter denen es mit Gewinn, d.h. mit der Frucht gegenständlicher Erkenntnisse erschlossen werden kann, zeigt uns auch, dass das, was wir in heuristischer Absicht vorläufig einmal „Das Religiöse“ nennen wollen, offensichtlich in alle Bereiche menschlichen Lebens und Miteinander-lebens hineinreicht. Aber erkennen wir dadurch auch schon, was es letztendlich als es selbst bedeutet; und in diesem Sinne: was es wirklich ist? Ist mit der historischen vergegenständlichenden Beschäftigung mit Religion und mit den Religionen unsere Suche nach der Wahrheit des religiösen Verhältnisses selbst auch schon an ihr Ziel gekommen?

2. Das philosophische Fragen nach dem religiösen Verhältnis Es ist ganz offenkundig, dass es, um dieses eigentlich Ziel unseres Interesses zu befriedigen, noch einmal einer ganz neuen Erkenntnisbemühung bedarf, einer äußersten Anstrengung des Denkens, einer prot¯e epistem¯e, der es darum gehen muss, das, was das religiöse Verhältnis als solches bedeutet, in seiner unverstellten Ursprünglichkeit zu erschließen, und die dann allerdings auch davon absieht, bloß vergegenständlichende Kenntnis sein zu wollen, die für diesen oder jenen Zweck nützlich zu machen ist. Im Sinne einer solchen äußersten und ersten Anstrengung des Denkens möchte ich Philosophie der Religion verstehen. Und ich verstehe unter diesem Titel dann auch nicht einfachhin eine Religionsphilosophie so wie sie sich seit der Aufklärung im schulphilosophischen Fächerkanon herausgebildet hat, sondern eben in der Tat jenes Fragen nach dem Letzten und Ursprünglichen, das sich seit der Antike in jedem ernsthaften Philosophieren als einer „Ersten Kenntnis“, einer prote episteme, einem ersten Fragen des Menschen nach sich selbst und nach der Wahrheit meldet.

5 Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studien-Ausgabe hg. v. Giorgio Colli und

Mazzino Montinari. Berlin 1967ff., Band 1, 296.

6 Thomas v. A., Sth I q 1 a 9 c „omnis nostra cognitio a sensu initium habet“.

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3. Relecture der überlieferten Wege in das religiöse Verhältnis Welche Möglichkeiten aber hat ein solches wahrhaft denkendes, d.h. alle vergegenständlichenden Erkenntnisweisen ernstnehmendes und diese doch zugleich überschreitendes Sich-einlassen mit „dem Religiösen“ in der geschichtlichen Gegenwart, in die wir gestellt sind? Wenn jedes philosophische Fragen das Fragen geschichtlicher, sterblicher Menschen ist und auch das Geschick einer zur Geschichtslosigkeit tendierenden pantechnischen Epoche diese Grundsituation nicht aufheben kann, dann ist es durchaus möglich, dass in einem ersten Anlauf das Denken sich in dem Bemühen, das religiöse Verhältnis zu erschließen jenen Wegen zuwendet, auf denen das religiöse Verhältnis dem Menschen in der überlieferten Geschichte des Denkens zum Problem wurde. Deshalb mag es denn auch gestattet sein, hier in einem Exkurs auf das von der Phänomenologie her kommende, sich mit Heidegger auseinandersetzende und in diesem Kontext dann die antike und mittelalterliche Philosophie im Hinblick auf die Gottesfrage neu interpretierende christliche Denken einzugehen, so wie es sich etwa bei dem Freiburger Religionsphilosophen Bernhard Welte (1906–1983) zeigte. Dieses die großen überlieferten und insbesondere mittelalterlichen Gedanken aufnehmende Denken bereitete im übrigen ja gerade für eine ganze Reihe von insbesondere katholischen Theologen den Boden, im Ausgang von dem dann auch Levinas rezipiert werden konnte. Die große Meisterschaft Weltes durch die er denn auch auf viele seiner Schüler wirkte und bis heute wirkt, bestand zu einem sehr wesentlichen Teil darin, dass er, herausgefordert durch das Denken des 20. Jahrhunderts, die alten Texte, in welchen die religiöse Frage in der abendländischen Geschichte verhandelt wurde, neu las und in ihnen Möglichkeiten für die Erschließung der religiösen Frage heute entdeckte. Eine in ihren technischen Möglichkeiten explodierende Zeit will uns glauben machen, dass wir alle Probleme, die es für uns gebe, lösen könnten. In der Tat: wir können mit dem, was wir wissen, viele Probleme lösen. Aber wir finden uns zugleich doch unfähig, auf die eigentlich menschlichen Probleme, in denen wir uns selbst zur Frage werden, eine zureichende Antwort zu geben: auf die Frage nach der Endlichkeit, auf die Frage nach der Grenzen, die wir in aller Erfahrung doch zugleich mit erfahren, auf die Frage nach dem Guten und dem Bösen und der Gerechtigkeit. Bernhard Welte hat in einer von der Daseinsanalytik Heideggers angeregten relecture der Texte Thomas von Aquins, des Meisters Eckhart, Blaise Pascals, aber auch Kants, Hegels und Schellings hier Wege in das, was Religion heißt, aufzuweisen versucht, die durchaus auch heute mitvollziehbar sind. Die uns scheinbar unmittelbar vorliegende Wirklichkeit unserer Welt und unserer selbst wird uns im Geschehen, in welchem wir sie zu erfahren suchen,

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zugleich doch immer neu fragwürdig. Es bricht in ihr eine Differenz auf, die in einen unendlichen Regress führt. Dieser zeigt sich als abgründig und bodenlos. Und er bleibt gleichwohl unter dem Geheiß der Frage, von woher das unmittelbar Gewusste jedes Wissens, das gleichwohl zugleich immer erneut in die Fragwürdigkeit gerät, „Klarheit und Entschiedenheit empfangen könnte“. 7 Mir scheint eine der wichtigsten Leistungen dieser Rezeption der Überlieferung darin zu liegen, dass sie einsichtig machen konnte, in welcher Weise das Denken, welches im Lichte des unendlichen Regresses selbst die letzte Frage stellt: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ ein anderes Fragen ist als alles zu vergegenständlichenden Ergebnissen führende Untersuchen; wenngleich dieses andere Fragen immer auf solches vergegenständlichende Untersuchen bezogen bleibt. Es ist das bei aller möglichen endlichen Wissenschaft bleibende erstaunte Fragen, das sich in dem Diskurs des 20. Jahrhunderts zum Beispiel in dem Satz Albert Einsteins manifestiert: „Das ewig Unbegreifliche an der Welt ist ihre Begreiflichkeit“. 8 In einem solchen ersten Erstaunen aber gewinnt das angesichts aller gegenständlichen Erkenntnis doch zugleich über sich hinausgehende Denken als ein letztes Fragen Zugang zu dem religiösen Verhältnis. Und es wird derart, wie Klaus Hemmerle, der sicher wichtigste Schüler Bernhard Weltes, ausgeführt hat, von einem fassenden, zu einem lassenden Denken. 9 Es wird zu einem in seinem Erfassen sich zugleich verdankenden Denken. 10 Für ein solches Denken gewinnen dann aber auch die Worte „Sein“ und „Nichts“ eine neue, gegenüber einer spätabendländisch schulphilosophischen Onto-Theologie verwandelte Bedeutung. Welte erwuchs diese Einsicht nicht nur durch Heidegger, sondern z.B. auch in der Auseinandersetzung mit dem kritischen Fallibilismus. 11 Mir scheint, dass diese relectures der klassischen „Wege“ in das religiöse Verhältnis, zu denen Augustins 7. Buch der Confessiones ebenso gehört wie Anselms unum argumentum und die Quinque viae des Thomas, heute nach wie vor eine grundständige Möglichkeit der denkenden Erschließung des religiösen Verhältnisses darstellen, – welche die Chance haben, wesentliche Grundverhältnisse dessen zu klären, was Menschein überhaupt ausmacht. Nur wenn dies geklärt wird, haben wir die Chance, ein aufgeklärtes Verhältnis 7 Bernhard Welte. Gesammelte Schriften. III. Abteilung, Band 3. Freiburg (Herder) 2008, S. 26. 8 Albert Einstein. Physik und Realität, in: Journal of the E. Franklin Institute 221 (1936), in: 3,315. 9 Klaus Hemmerle. Das Heilige und das Denken. Zur philosophischen Phänomenologie des

Heiligen, in: Bernhard Casper. Klaus Hemmerle. Peter Hünermann. Besinnung auf das Heilige, Freiburg (Herder) 1966, 22ff.; parallel dazu Bernhard Welte. A.a.O. 31. 10 Klaus Hemmerle spricht in „Das Heilige und das Denken“ a.a.O. 30ff. von verdankendem Denken. Vgl. dazu auch Martin Heidegger. Gelassenheit. Pfullingen (Neske) 1959, 66–67: „G der Edelmut wäre das Wesen des Denkens und somit des Dankens. – L jenes Denkens, das sich nicht erst für etwas bedankt, sondern nur dankt, daß es danken darf.“ 11 Hier ist vor allem an die Beschäftigung Weltes mit Hans Albert zu erinnern, die denen, die an Weltes Seminaren teilnahmen, in Erinnerung ist.

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zu uns selbst und d.h. dann auch zu den konkreten Gestalten des Religiösen zu gewinnen.

4. Sich-einlassen mit der Geschichtlichkeit und der Sprache Dabei werden wir nun freilich darauf zu achten haben, dass der eigentliche point de départ der relecture der großen alten Zeugnisse des Denkens gerade für Welte nicht einfach nur in einer Phänomenologie der Endlichkeit bestand, sondern – und in steigendem Maße – in der Einsicht in die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins. Diese Einsicht in die Geschichtlichkeit als die Grundverfassung menschlichen Daseins und In-der-Welt-seins führt das Denken dann aber zu dem Ereignis von Sprache als dem ursprünglichen Zugangsort für das Bedenken des religiösen Verhältnisses als eines äußersten menschlichen Sich-imVerhältnis-findens. Und es führt zugleich damit zu dem Sich-zeitigen von Zeit selber als zu dem Horizont einer Philosophie der Religion. Daß Welte etwa in dem Titel des 1975 vorgelegten Sammelband „Zeit und Geheimnis“ die Zeit und das Geheimnis mit einem explikativen „und“ zusammenschloß, war dafür ebenso signifikant wie etwa die Ausarbeitung eines neuen Erfahrungsverständnisses, die vornehmlich in den 70er Jahren geschah 12 . In diesem zeigt sich nämlich stärker als in dem Ausgang bloß von dem Wahrnehmen der Endlichkeit, wie Welte, zu einer Erschließung des religiösen Verhältnisses als eines von dem wirklichen geschichtlichen Menschen tatsächlich gelebten gelangt. An die Stelle einer bloßen Phänomenologie des Bewusstseins als einer Möglichkeit für den Zugang zu der Gottesfrage tritt hier eine Hermeneutik des faktischen Daseins. Phänomenologie kann sich hier nicht länger nur als „deskriptive Wesenslehre“ der transzendental reinen Erlebnisse“ 13 vollziehen. Gerade dieser Zugang durch eine „Hermeneutik der Faktizität“ wird nun aber in dem Levinasschen „Denken angesichts des Anderen“ in einer noch sehr viel intensiveren Weise entfaltet.

12 Vgl. dazu die ausgezeichnete Habilitationsschrift von Joachim Piecuch. Doswiadczenie Boga.

Propozycja BernhardaWeltego na tie sporu o pojecie doswiaczenia fenomenologicznego (Die Erfahrung Gottes. Eine Erörterung des Phänomenologischen Denkens Bernhard Weltes) Opole 2004. Die Arbeit bringt auf den Seiten 529–538 eine deutsche Zusamenfassung ihres Gedankenganges. 13 Edmund Husserl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Wesenslehre I § 75 = Hua 3, 1, 156.

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5. Sich-transzendieren im Geschehen der Geschichte selbst Menschliches, je in einer Welt seiendes Dasein ist nicht einfach vorhanden wie eine in einem immerwährenden Präsens fiktional vorgestellte Natur. Vielmehr geschieht es in der immer neuen welthaften Selbstbestimmung des Menschen in seinem Dasein mit anderen Menschen. Menschliches sterbliches Dasein bedeutet ständig: Sich-vorweg-sein; sich entwerfen in eine offene Zukunft hinein, welches Sich-entwerfen sich freilich schon in eine vorhandene Vergangenheit geworfen findet und erst so ihre tatsächlichen hier und heute sich gebenden Möglichkeiten wahrnehmen kann. Dies ist die von Heidegger explizierte Sorgestruktur, die dann Gadamer und auch Ricœur 14 aufgenommen haben. Sie findet sich aber auch schon in dem unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges und des Zusammenbruchs der alteuropäischen Ordnung geschriebenen „Stern der Erlösung“ Franz Rosenzweigs. Denn dieses Werk geht von dem meta-ethischen Sich-entwerfen des einzelnen Menschen aus, das zunächst einmal kein Maß hat als dieses Sichentwerfen selbst, den Menschen als den „Freiherr seines Ethos“ 15 . Aus solchem Sich-entwerfen als einem Suchen, das er als ein Wünschen verstand, gehen, so meinte Cassirer zeigen zu können, die Mythen hervor. „Die ‚erste Kraft‘ (Mächtigkeit), in der sich im mythischen Dasein sein eigenes Sein offenbart, ist … die Kraft des Wunsches. Aber warum ist sie die erste?“, so fragt Heidegger mit Recht in seiner großen Rezension des sich dem „Mythischen Denken“ zuwendenden Bandes 2 der „Philosophie der symbolischen Formen“ Cassirers. 16 Worin gründet die unhintergehbare Ursprünglichkeit dieses umfassendsten Wünschens? – Das ewig Unbegreifliche nicht im gegenständlichen Erkennen, sondern im tatsächlich gelebten Leben, so könnte man in der Abwandlung des Wortes Einsteins sagen, ist, dass Menschen sich mit dem Faktischen nie zufrieden geben, sondern in ihrem Wünschen ständig über sich selbst hinausgehen zu einem Äußersten, das sie offenbar doch nie erreichen. Welte hat diese Grundbewegung des Sich-zeitigenden und sich in solcher Zeitigung immer neu übersteigenden Daseins vor allem in seinen drei von Ingeborg Feige posthum veröffentlichten Vorlesungen über Wahrheit, Geschichtlichkeit und Offenbarung als das Angegangenwerden des Daseins von dem je Besseren, am Ende: dem Vollkommenen gedeutet; eine Bewegung des Sich-Transzendierens – oder sollten wir besser sagen: des je neu über sich Hinausgeführtwerdens? – in der geschehenden Zeitigung menschlichen Dasein selbst. Dieses Herausfordernde und die Bewegung menschlicher 14 Vgl. dazu z.B. Paul Ricœur. Soi-même comme un autre. Paris (Seuil) 1990. Deutsch: Das Selbst

als ein Anderer. München (Fink) 1996.

15 GS 2,90. 16 Deutsche Literaturzeitung 1928. 21. Heft, S. 1010.

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Geschichte in Gang Setzende und in Atem Haltende aber liegt als „eine Einheit, die alles umfängt und versammelt“, 17 jenseits alles nur zu endlichen Zwecken Nützlichen. Und derart zeigt sich in der Geschichte als dem Sichzeitigen menschlich-mitmenschlichen Daseins so „etwas wie ein unermüdliches Bemühen, das Bild Gottes erscheinen zu lassen im vergänglichen Stoff des menschlichen Lebens“. 18 Dort wo Welte ausdrücklich die Hermeneutik der Faktizität Heideggers aufnimmt, erschließt sich das Sich-zeitigen menschlichen Daseins selbst als das sich ständig transzendierende und darin von dem Mehr-als-Menschlichen angegangene und herausgeforderte. Der Mensch erweist sich so gerade darin, dass ihm seine eigene Geschichte aufgegeben ist, als der homo religiosus. Welte kann dadurch eine ganze Reihe von Grundphänomenen menschlichen Daseins, z.B. das Streben nach Macht und mehr Macht besser verstehen.

6. Die Vorladung durch den Anderen Jedoch gewinnt dieser Weg des Denkens, der nicht nur in einer Analyse des Erkenntnisaktes, einfachhin sondern in einer Hermeneutik der Faktizität geschichtlichen Daseins Zugang zu dem religiösen Verhältnis gewinnt, eine noch ganz andere Dimension wenn wir mit Levinas unsere Aufmerksamkeit darauf richten, dass wir uns in dieser unserer Suche nach Identität, in der wir ständig über uns selbst hinausgeführt werden, immer schon in dem Verhältnis zu dem anderen sterblichen Menschen als ihm selbst finden ebenso wie zu dem Anderen, das uns als das nicht Menschliche begegnet. Die im Denken sich artikulierende und in Sprache deutlich werdende ursprüngliche menschliche Erfahrung geschieht nie zeitlos monologisch, so wie dies von dem Ideal eines überzeitlich rationalen Denkens und einer diesem korrespondierenden Sprechen her erscheinen könnte. Vielmehr wird ein sich auf das Geschehen von Sprache in ihrem „ganz wirklichen Gesprochenwerden“ 19 einlassendes Denken dessen inne, dass ich, um zu „sein“ immer schon des Anderen als des Anderen bedarf und in diesem Bedürfen auch schon gezwungen bin, die Zeit als die zwischen dem Anderen und mir geschehende Zeit ernst zu nehmen. Hermeneutik der Faktizität bedeutet hier die Aufmerksamkeit auf das tatsächlich und ursprünglich geschichtlich sich Ereignende in seinem Sich-ereignen selbst. Sie zeigt sich insofern in einem radikalen Sinn als erfahrendes Denken. 17 Bernhard Welte. Gesammelte Schriften. I. Abteilung, Band 2. Hrsg. von Ingeborg Feige. Freiburg

(Herder) 2006, S. 302 (= Geschichtlichkeit und Offenbarung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Bernhard Casper und Ingeborg Feige. Frankfurt (Knecht) 1993, 76). 18 A.a.O. 303 (= Geschichtlichkeit und Offenbarung. A.a.O. 77). 19 Franz Rosenzweig. GS 2, 194.

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Das tatsächlich geschichtlich Sich-ereignende geschieht ursprünglich aber immer zwischen dem einen sterblichen, geworfen sich entwerfenden Dasein, – mir – und dem anderen ebenso sich in seinem eigenen und in diesem seinem Ursprung unerreichbaren sterblichen Dasein – dir, dem anderen als dem Anderen. Zu diesem Anderen als dem Anderen finde ich mich – geworfen mich entwerfend – immer schon in einem Verhältnis des Antwortens. Dieses aber erweist sich derart als das Verhältnis der Ver-antwortung. In dieses finde ich mich schon eingesetzt, insofern Sprechen eben nur Sprechen ist, wenn es mehr ist als ein zum reinen Monolog degeneriertes Sich-äußern, dass in Wirklichkeit aber kein Außen mehr hat. Eine absolute Privatsprache gibt es jedoch in Wirklichkeit nicht. Indem ich zu dem Anderen als ihm selbst spreche und er zu mir spricht und uns in solchem Zu-einander-sprechen Welt licht wird, geht mich der Andere als der in seinem Mit-sich-selbst-beginnen unaufhebbar Andere an; und es steht unsere gemeinsame Zukunft als gelingende oder scheiternde auf dem Spiel. Derart ist das Ereignis des Miteinandersprechens selbst schon Gebet. Bis dahin treibt Levinas seine Analysen vor. „L’essence du discours est prière“. 20 Das Ereignis des dialogisch-responsorischen Sprechens zeigt sich im Sinne des re-ligare selbst als Religion, Bindung an den und das mir gegenüber Andere. 21 Es ist offenkundig, dass in einer solchen Hermeneutik von in Sprache tatsächlich sich ereignendem Dasein mit anderem Dasein Kants „Imperativ der Sittlichkeit“ 22 zu der äußersten für die Vernunft erreichbaren und sie angehenden Weisung wird. Dies geschieht in einer philosophischen Hermeneutik aber derart, dass die Vernunft sich dabei selbst als geschichtliche erfährt. Ihre Autonomie versteht sie selbst dahin, dass diese sich erst in einer – passiven Synthesis – gibt. Der Denkende versteht, dass er in dem „Imperativ der Sittlichkeit“ selbst gemeint ist. Nur er als er selbst kann sittlich, verantwortlich gegenüber dem Anderen handeln, so wie er auch letzten Endes nur im Ernste als er selbst sprechen kann. Aber dass er sich so als er selbst von der unbedingten Weisung, dem Anderen als dem Anderen selbst zu antworten, angegangen findet, erleidet er in einer ersten und ursprünglichen Passivität. Er kann dies nicht noch einmal aus einem apriorisch ihm verfügbaren Horizont ableiten. Noch auch kann er im vorhinein darüber verfügen, was solches je 20 Entrn 20. (= SpA 113). 21 Vgl. Entrn 20: „La relation avec autrui n’est donc pas ontologie. Ce lien aves autrui qui ne

se reduit pas à la représentation d’autrui, mais à son invocation, et où l’invocation n’est pas précédée d’une compréhension, nous appelons religion“. (= SpA 113: „Die Beziehung zum Anderen ist also nicht Ontologie. Dieses Band mit dem Anderen, das sich nicht auf seine Vorstellung, sondern auf seine Anrufung zurückführt, wobei der Anrufung kein Verstehen vorausgeht, nennen wir Religion.“ Vgl. Levinas. Gott und die Philosophie. In: Bernhard Casper (Hg.). Gott nennen. Freiburg 1981, 112: „Verborgene Geburt der Religion im Anderen.“ 22 GMS BA 43.

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neu verantwortliche Dasein im Angesicht des Anderen – als des Anderen, der sich selbst zeitigt –, in der konkreten Verwirklichung heißt. Der Andere, der darin besteht, dass er – sterblich – als er selbst etwas mit sich beginnen kann und muß, erweist sich in dem tatsächlich mit ihm gelebten Leben insofern ständig als die unbedingte Grenze, als das immer neue, in meiner Zeitigung erfahrene „Unvermögen meines Vermögens“ – wie der Tod. 23 Die Autonomie des geschichtlich sich selbst aufgegebenen Daseins erweist sich so als eine keineswegs alles in die absolute Synchronie und d.h. Zeitlosigkeit eines rein gedachten transzendentalen Subjekts einholen könnende. Vielmehr besteht sie nur in einem immer neuen Selbst-angegangenwerden von einer allerdings unaufhebbaren Vorladung, einer assignation 24 , die sich in der Paradoxie der Diachronie meines tatsächlich gelebten Daseins mit anderem Dasein immer neu und unabschließbar offenbart. Aber öffnet sich in dieser Grundsituation, in welcher Zeit sich als die Zeit, die sich nicht nur chronologisch, sondern „als sie selbst“, als „Wende der Zeit“ kairologisch zuträgt und in welcher das sich selber auf den Grund kommen wollende Dasein sich als verantwortliches findet, nicht für das Denken in der Tat zugleich der Zugang zu dem religiösen Verhältnis? Das im Denken sich licht werdende Dasein findet sich als derart verstandene „reine praktische Vernunft“ in einem selbst nicht mehr zu begründenden Verhältnis zu einem unendlich Herausfordernden, welches sich zugleich als das zeigt, womit menschliches Tun und Lassen nie fertig wird. Finde ich mich hier nicht in dem Verhältnis zu dem mir sowohl unbedingt Entzogenen wie mich zugleich unbedingt Angehenden? Und macht dieses Verhältnis nicht zuinnerst und letzten Endes mein geschichtlich sich zeitigendes Dasein mit anderem Dasein aus, – als das Verhältnis schlechthin, aus welchem dann alle Gestalten menschlich-mitmenschlicher Selbstverwirklichung hervorgehen? Öffnet sich hier nicht die Möglichkeit, denkend zu verstehen, was das religiöse Verhältnis noch vor allen bestimmten historischen Gestalten von Religion meint? Andererseits: In dem nur diachron, nur in einem Zeitbruch zugänglichen Verhältnis zu dem Anderen, welches Sprache und Geschichte gründet, zeigt sich eben auch die Ohnmacht einer als absolut zeitlos fingierten Autonomie der Vernunft. Die Vernunft findet sich in ihrem Vernünftigsein, in dem Vollzugssinn ihres Vernehmens selbst angewiesen auf … . Sie begreift insofern das, was schon der späteste Schelling zu formulieren versuchte: Daß nämlich die autonome Vernunft in Sachen der wirklichen Religion ohnmächtig ist. Am Ende einer reinen Vernunftwissenschaft, die sich im „unzweifelhaften 23 Vgl. dazu En 31–32 und oben 66–67; ferner TI 210: „Autrui … se situe dans la région d’ou

vient la mort.“

24 Vgl. EDEHH 213; 215 (SpA 253; 257), Sub 488 (= SpA 253, 257, 298).

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Besitze“ der von ihr gewussten Gegenstände weiß, „habe ich nur mögliche Religion, nicht wirkliche …“. Denn diese setzt nicht nur ein mögliches, sondern „ein wirkliches, reales Verhältnis des Menschen zu Gott voraus“. Dieses aber kann sich nur von Gott selbst her geben. Oder, so drückt sich Schelling aus, „ohne einen activen Gott (der nicht nur Objekt der Contemplation ist) kann es keine Religion geben“. 25 Hier wird ganz klar die Grenze einer sich als zeitlos transzendental verstehenden autonomen Vernunftwissenschaft im Hinblick auf den Zugang zu Religion aufgewiesen. Oder, so kann man auch sagen: in dem von Schelling in Klammern eingeschobenen „Gott, der nicht nur Objekt der Contemplation ist“ meldet sich ein neues Vernunftverständnis, das von Denkern des 20. Jahrhunderts dann ausgearbeitet werden sollte, z.B. von Heidegger in seiner ersten Freiburger Vorlesung nach der Rückkehr aus Marburg „Einleitung in die Philosophie“ vom WS 1928/29, die eben auch Levinas hörte und ihrer die Einsichten von Sein und Zeit umsetzenden These, dass der Ort der Wahrheit letztlich nicht die propositio, der wissenschaftliche Aussagesatz, sondern „das Dasein“ sei. 26 „Die Seinsart des Daseins im Unterschied von der des Vorhandenen“ aber, so Heidegger jedenfalls in dieser Vorlesung, „suchen wir in der Orientierung am Miteinanderdasein von Dasein und Dasein zu bestimmen“. 27 Wird die Sache der Religion nicht von außen angeschaut als Vorhandenes, worüber man Aussagen machen kann, Gott als „Objekt der Contemplation“, sondern versteht sich das geschichtliche Dasein selbst in seinem Sich-zeitigen als der Ort der Wahrheit, dann findet sich das Denken, welches gelebtes „Da-sein“ ist, in einer Herausforderung. Es findet sich in einer Vorladung, deren Strukturen allerdings kontempliert, und also angeschaut werden können. In ihrer Wirklichkeit als solcher aber können sie durch Dasein und Denken nur bezeugt werden. Vernunft wird hier von distanziert zuschauender Vernunft zu bezeugender Vernunft. Diese ist aber gerade nicht weniger Vernunft. In diesem Sinne führt Levinas, das Sprachdenken Rosenzweigs aufnehmend, Philosophie als Bestimmung der geschichtlichen Vernunft ein: „sagesse de l’amour au service de l’amour“. 28 Und Heidegger begreift nach der Kehre das wesenhafte Denken als das auf das Ereignis angewiesene: das Sich-zutragen und -zeitigen des „Gegen-einander-über“ von Sterblichen und Unsterblichen und das sich darin zugleich zutragende Aufgehen von Welt. Wird der Zugang zu Religion so in einem derart sich mit seiner eigenen Zeitigung einlassenden Denken gesucht, dann löst sich aber, so scheint mir, das Grundproblem vor dem seit Lessings „garstigem Graben“ zwischen 25 F.W.J. Schelling. Philosophie der Mythologie. Darmstadt (WBG) 1957, I, 568. 26 Ga 27, 209. 27 Ga 27,209 28 AQ 207 (JS 353).

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sog. notwendigen Vernunftwahrheiten und sog. zufälligen Geschichtswahrheiten die vernünftige Besinnung auf Religion stand. Denn dann wird deutlich, in welcher Weise gerade die äußersten Vernunftwahrheiten, welche die Verhältnisse artikulieren, welche sich aus dem Dasein des Menschen als des sich selbst aufgegebenen und in ein immer neues Transzendieren hineingeführtes Geschichtswesen ergeben und geschichtliche Antworten zusammengehören. Philosophieren als die Besinnung des sterblich sich zeitigenden Menschen auf sich selbst, der von dem immer neuen Transzendieren in Anspruch genommen ist, kommt zu der äußersten unhintergehbaren Einsicht, dass eben diese conditio der geschichtlichen Zeitigung zu den Bedingungen des Menschseins als eines solchen gehört: zur Wahrheit des Menschseins; und zwar gerade in der Konkretion des Menschseins in sich ereignender Sprache zwischen Menschen. Insofern Sprache „in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden“ 29 , Sprache in ihrem tatsächlichen Sich-ereignen hier zum Boden für das Denken wird, halte ich dafür, dass gerade auch ein sprachanalytisches Philosophieren hier Zugänge zu dem religiösen Verhältnis offen legen kann. Durch diese Konkretion des Menschseins im Sich-ereignen der Sprache und Geschichte erlangt das Denken des sich auf sich selbst besinnenden Da-seins aber die Fähigkeit, grundsätzlich zu verstehen, worum es in den tatsächlichen geschichtlichen Religionen geht: Es erlangt Zugang zu der Wahrheit von Religion als solcher.

7. Wahrheit und Unwahrheit in der historischen Konkretion von Religion Erhält es damit aber auch schon die Fähigkeit, deren Wahrheit oder Unwahrheit in der je einzelnen historischen Konkretion zu erkennen? Darauf ist eine doppelte Antwort zu geben: a) Ein Denken, das derart erkennt, dass das Eingesetztsein in ein Sich-transzendieren, d.h. in ein im weitesten Sinn religiöses Verhältnis grundsätzlich zum Menschen gehört, kann dieses als rein formale Struktur in sich betrachten. Und es kann die Grundzüge dieses Sich-überschreitens zur Sprache bringen und beschreiben, hinsichtlich geschichtlich vorfindbarer Konkretionen aber skeptisch bleiben. Es kann sie in die Klammer dessen setzen, hinsichtlich dessen Epoché geübt werden muß, will das Denken reines Denken bleiben. In einem solchen Vorgehen werden durchaus Einsichten gewonnen, nicht nur morphologischer Art, sondern vor allem auch kritischer Art. Es wird dank einer solchen Phänomenologie des religiösen Verhältnisses z.B. möglich, im Geschehen des Transzendierens sich haltende religiöse Verhältnisse von 29 GS 2, 194.

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idolatrischen zu unterscheiden, in welchen, was mit dem Wort „das Absolute“ angezeigt wird, nur dazu missbraucht wird, solches, was nicht absolut ist, zum Absoluten zu machen, z.B. Macht, Herrschaft über andere, wirtschaftlichen Gewinn. Und dieses ist solches, was denn auch die Sehnsucht des Menschen nach wahrem Heil und „Einheit, die alles umfängt“ nicht befriedigen kann und den Weg des Menschen deshalb in die Irre führt. Es wäre gerade heute angesichts des überaus vielfältigen Missbrauchs des Religiösen dringend nötig und eine Chance für eine Philosophie der Religion, im Ausgang von einer hermeneutischen „reinen existentialen Phänomenologie des Religiösen“ eine solche kritische Pathologie des Religiösen denkend auszuarbeiten. Eine solche kritische Funktion hätte eine solche existentiale Phänomenologie aber gegenüber allen konkreten geschichtlichen Gestalten von Religion und ihren Theologien, also auch den biblischen. Nun muß man sich freilich fragen, ob, wenn es denn zum Wesen des vollzogenen religiösen Verhältnisses gehört, dass das Dasein, welches in seinem ständigen Sich-transzendieren nach sich selbst sucht, sich unbedingt angegangen findet, – derart, dass sein Wort immer erst das zweite Wort ist, Ant-wort –, ob dann nicht jene Epoché, welche eine Philosophie der Religion im Sinne bloß des genitivus objectivus konstituiert, eben noch nicht zur ganzen Wahrheit des religiösen Verhältnisses in seinem tatsächlich gelebten Vollzug führt. Setzt sich hier nicht das Denken, das auf der Formalität beharrt, reines Denken zu sein, selbst eine Grenze, die zwar gesehen werden muß, von deren Überschrittenwerden von dem Anderen seiner her das Denken als sich ursprünglich verdankendes aber lebt? Mit Recht fragt Otto Pöggeler angesichts der Absolutsetzung einer Grenze, die als Grenze freilich erkannt und anerkannt werden muß, will das Denken sich nicht selbst überheben: „Wie kann eine Wesensstruktur, die als geschichtliche ergriffen wird, noch formal bleiben?“ 30 Oder unter Verwendung der Terminologie des späten Schelling: Wenn wir denn eines activen Gottes bedürfen, um in das Verhältnis gelebter Religion zu kommen, beginnt dann nicht die Liebe zu der Weisheit, welche sich dem religiösen Verhältnis zuwendet, mit einem Hören auf das, was wir etwa in der Auslegung der biblischen Religion Wort Gottes und Offenbarung nennen? Und beginnt es – wenn diese Analogie gestattet ist – angesichts der großen und ursprünglich erfahrenen geschichtlichen Religionen nicht im Hören auf das, was diese in ihren ursprünglichen Zeugnissen sagen und in ihren authentischen Äußerungen leben? Hören kann hier freilich nicht ein die Vernunft außen vor lassendes, das Menschsein in seiner ganzen Problematik einklammerndes Hören meinen, sondern nur ein dieses Menschsein selber insgesamt und in seinen Grundfragen ins Spiel bringendes. Ein solches Hören als denkendes Sich-einlassen auf, 30 O. Pöggeler. Das Wesen der Stimmungen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 1960,

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d.h. als Akt des Denkens, der in sich selbst dialogisch-responsorisch verfasst ist, könnte mit dem der christlichen Überlieferung zugehörigen Terminus als fides quaerens intellectum verstanden werden. Aber es ist die Frage, inwieweit dieser Terminus auf eine erschließende Interpretation von nicht christlichen Religionen und inwiefern er außerhalb des griechisch-europäischen Kulturkreises und des ihm zugehörigen philosophischen Diskurses anwendbar ist. Jedoch: Gewährt ein solches die Vernunft in einem umfassenden Sinn vernehmend und zugleich kritisch ins Spiel bringendes Bedenken der tatsächlichen geschichtlich sich manifestierenden religiösen Verhältnisse nicht gerade auch erst den einzig möglichen Weg für ein gegenseitiges, aber nie abschließbares Sich-verständlichwerden der faktischen Religionen in einer globalen Gesellschaft? Franz Rosenzweig hat im Hinblick auf Judentum und Christentum dieses Geschehen eines denkenden Zugänglichwerdens der religiösen Inhalte gerade in einer Hermeneutik des Ernstnehmens dieser Inhalte selbst durch die Formel anzuzeigen versucht: „Die theologischen Probleme wollen ins Menschliche übersetzt werden und die menschlichen bis ins Theologische vorgetrieben.“ 31 Ich gebe zu, dass die hier benannte Möglichkeit einer Philosophie der Religion, die diesen Terminus ausdrücklich als genitivus subjectivus versteht, in Gefahr steht, die „Reinheit“ des philosophischen Denkens selbst problematisch werden zu lassen. Denn sie geht davon aus, dass das Denken immer schon in die Unreinheit der tatsächlich geschehenden Geschichte verstrickt ist und nur im Ernstnehmen dieser Verstrickung zu sich bewährender Wahrheit gelangt. 32 Der junge Heidegger hatte postuliert: „Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit prinzipiell a-theistisch sein“. 33 Aber lässt sich dieses Postulat 34 angesichts des andersanfänglichen Denkens, welches das Ereignis aus dem „Gegen-einander-über“ 35 der „Sterblichen“ und der „Unsterblichen“, d.h. der „Götter“ zu denken versucht, 36 noch halten? Und wird es schon 1921 nicht nur aufgestellt, um der Versuchung

31 GS 3, 153. 32 Vgl. zu dem hier sich anzeigenden Weg auch Michael Theunissen. Philosophie der Religion

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oder religiöse Philosophie?. In: Markus Enders und Holger Zaborowski (Hrsg.) Phänomenologie der Religion. Zugänge und Grundfragen. Freiburg (Alber) 2004, 89–99; und ebendort Jolana Poláková „Beziehung zu Gott. Versuch einer differentiellen Elementarcharakteristik“ a.a.O. 549–558. Ga 61, 197. Zur Begründung der Neutralität der Daseinsanalytik vgl. Ga 26, 171–176. Isoliert für sich als doxographisch zu Berichtendes. Aber schon Kant hat mit Recht den Philosophen vom Philodox unterschieden. Ga 12, 176 und 184. Vgl. Ga 65, 310 u.ö.

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zu wehren „Gott zu haben und zu bestimmen“? 37 In dem Natorpbericht verdeutlicht Heidegger, daß er Philosophieren nur als „fragendes Erkennen“ verstehen könne. Und: „atheistisch besagt hier: sich freihaltend von verführerischer, Religiosität lediglich beredender, Besorgnis“. 38 Derart verstand denn aber auch Bernhard Welte sein Denken. Deshalb lässt sich das, was für ihn „Christliche Religionsphilosophie“ besagte, sich sehr gut mit der Rosenzweigschen Maxime beschreiben. Die Art und Weise, was er denkend vollzog, derart zu verstehen, erlaubte es ihm, in der Universitätskirche das angesichts des biblische Wort Gottes, das er dort verkündete, ebenso denkend vorzutragen, wie das, was er im Hörsaal lehrte. Und standen für Levinas sein philosophisches Lehren einerseits und seine Interpretationen des Talmud andrerseits nicht in einem ebensolchen Verhältnis? Einem so vorgehenden fragenden und darin erst denkenden Sich-einlassen mit dem tatsächlich gelebten religiösen Verhältnis muß dann aber auch zum Anliegen werden, was Jean Greisch „conversation triangulaire“ 39 nennt, nämlich einem Gespräch zwischen einem fragenden philosophischen Denken einerseits und den faktischen geschichtlichen Theologien und den in ihren Methoden vielfältigen Religions“wissenschaften“ andererseits. Der kritische Beitrag, den das Levinassche „Denken im Angesicht des Anderen“ dazu zu leisten hat, scheint mir ganz entscheidend zu sein. Ein solcher Diskurs, in welchem die Philosophie der Religion streng bei dem ihr als fragendem Denken Aufgegebenen bleibt, ist aber, von großer Dringlichkeit in der äußersten Gefährdung des Menschlichen, in der wir uns heute finden.

37 Ga 61, 197. 38 Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Hg. v. Frithjof Rodi.

Göttingen (Vandenhoeck) Bd. 6 (1989), 246.

39 Vgl. dazu u.a. Jean Griesch. Le buisson ardent et les lumières le ra raison. Tome III. Vers un

paradigme herméneutique. Paris (Cerf) 2004, 937.

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XIII. Anders als Husserl und jenseits von Heidegger Zur Bedeutung von Emmanuel Levinas für eine künftige Geschichte des Denkens

Der Rang eines Denkens bemisst sich an dem, was es durch sich selbst „zu denken“ gibt“; das meint: was es an der Grenze des bislang Gesehenen als das Fragwürdige offenbar macht. Was aber ist dies im Falle von Emmanuel Levinas? Dies soll dadurch in den Blick gerückt werden, dass wir von den beiden Denkern ausgehen, die sicher mehr als andere das Levinassche Denken bestimmten und zu dem herausfordern, was es als es selbst zu sagen hat.

1. Husserl „Husserl war nach Bergson und vor Rosenzweig der entscheidende Moment in meinem philosophischen Leben“, so bekennt Levinas 1981 selbst und fügt dann hinzu, dass seiner Ansicht nach die „phänomenologische Besinnung … für den modernen Menschen die einzige Möglichkeit“ sei, „methodisch zu philosophieren“. 1 Bereits die in der „Revue philosophique de la France et de l’étranger“ veröffentlichte Erstlingsarbeit des 23jährigen Levinas widmet sich den „Ideen“ Husserls. 2 Levinas zeigt in ihr in einer bis heute klassischen Weise in der Auslegung der „Ideen“, aber zugleich im Rückgriff auf die „Logischen Untersuchungen“, was phänomenologisches Denken meint und wie es vorgeht. Zugleich wird aus anderen Texten des jungen Levinas sehr deutlich, warum ihn das phänomenologische Denken so fasziniert. Es geht in diesem Denken um die ganze ursprüngliche Fülle der Wirklichkeit und derart in letzter Instanz um die Rettung jenes Menschlichen, welches durch die Reduktionismen der Moderne gezwungen scheint, sich selbst aufzugeben. Die „phänomenologische Methode“, will diese Selbstverstümmelung des Menschen verhindern. Sie will „eine Welt zerstören, die durch die natura1 Videointerview für den Südwestfunk „Geisel für den Anderen“ (11. Juni 1981). Der Text des

Interviews erschien tschechisch: Rozhovor Emanuela Levinase s Bernhardem Casperem. 11. cervna 1981 v Parízi. In: Být pro druhédo, Praha, Zvon 1997, 15–31 und spanisch: El rostro, la primogenitura y la fecundida. Diálogo con Emmanuel Lévinas el 11 de junio de 1981 en Paris. In: Revista de Filosofia 107. Lomas de Santa Fe, Mexico, mayo-agosto 2003, p. 19–28. 2 UG 37–38 (= „Sur les „Ideen“ de M. E. Husserl“).

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listischen Tendenzen unserer Zeit – die sicherlich ihr Recht, aber eben auch ihre Grenzen haben – verfälscht und ihrer Fülle beraubt wurde, und sie will die verlorene Welt unseres konkreten Lebens wiederherstellen bzw. wieder in sie zurückfinden“ 3 . Wenn Levinas in demselben Text 1931 dann freilich von dem „Traum des Meisters Husserl“ spricht, so meldet sich hier verhalten bereits eine Skepsis zu Wort, die Rosenzweig ein Jahrzehnt zuvor sagen ließ: „Husserl, – zu schön um wahr zu sein“. 4 Damit aber zeigt sich denn auch keimhaft, was Levinas in seinem von der Phänomenologie ausgehenden und ihre Methode benutzenden, zugleich jedoch über sie hinausgehenden Denken als er selbst und auf andere Weise als Husserl zu sagen haben wird. Fragt man sich, woran sich gerade im Mitgehen mit der phänomenologischen Methode die Levinassche Skepsis gegenüber dem „Traum des Meisters Husserl“ festmacht, so ist dies ganz ohne Zweifel die Zeitlosigkeit des transzendentalen Subjektivismus Husserls. Es ist der monadologische Ansatz, welcher Husserls Denken gerade auch noch in den Cartesianischen Meditationen bestimmt, die Levinas ja zusammen mit Gabrielle Pfeiffer ins Französische übersetzte. Gerade der mittlere Husserl versteht die Phänomenologie dezidiert als Transzendentalphilosophie, die alles zu Erkennende in die Immanenz des intentionalen Bewusstseins einholt. Die „transzendentale Subjektivität“ wird zur „Urstätte aller objektiven Sinnbildungen und Seinsgeltungen“. 5 Was im „originär gebenden Bewusstsein“ als der letzten Rechtsquelle aller Erkenntnis 6 zum Phänomen wird, wird dies in letzter Instanz für das transzendentale Subjekt, in welchem sich alle denkenden Subjekte als in der enthüllten transzendentalen Monadengemeinschaft 7 finden. Allerdings ist Husserls Denken ständig von einer Besinnung auf den Zusammenhang von Bewusstwerdung und Zeit begleitet. Husserls Vorlesungen über die „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ waren kurz bevor Levinas sein Studium in Freiburg begann von Martin Heidegger und Edith Stein herausgegeben worden 8 . Levinas wird häufig auf sie zurückgreifen.

3 UG 86. 4 Dieses Urteil Franz Rosenzweigs über das Denken Husserls, den er allerdings 1919 nur kurz

kennenlernte, teilte mir Frau Edith Scheinmann-Rosenzweig in den 70er Jahren mündlich mit.

5 Hua 6 (2 1969), 102 (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale

Phänomenologie).

6 Hua 3, 1,43; außerdem Hua 3, 1,7; 44; 52; 185. 7 Hua 1, 121f. „Enthüllung der transzendentalen Seinssphäre als monadologische Intersubjekti-

vität“.

8 Hua 10 (Erstveröffentlichung: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins.

Hg. von Martin Heidegger und Edith Stein. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung Bd. 9 (1928).

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Jedoch wird Zeit von Husserl in diesen Vorlesungen, die ja bald nach den Logischen Untersuchungen gehalten wurden, als die in Retention und Protention in die Einheit des intentionalen Bewusstseins einzuholende Zeit verstanden. Und genau an diesem Punkt setzt nun das eigene mit den neuen Möglichkeiten der Husserlschen Phänomenologie mitgehende und doch schließlich über dieses hinausführende Denken von Levinas ein. Es macht sich zunächst am Problem der Leibhaftigkeit jedes Erkennens fest, näherhin an dem Problem der Notwendigkeit der sensation (Empfindung) für die Konstitution von Intentionalität. Geht man von dem Ansatz eines reinen transzendental-subjektiven phänomenologischen Idealismus 9 aus, so könnte man erwarten, dass die Empfindung angesichts der Konstitution des Bewusstseins durch die Intentionalität zur quantité négligeable wird. Dennoch hält Husserl, so stellt Levinas fest, am Begriff der Empfindung fest. Denn die „hyletischen Daten sind die Grundlage der Intentionalität“. Die Empfindung, so beobachtet Levinas, nimmt „in den Husserlschen Überlegungen“ sogar „einen immer größeren Raum ein“. 10 Schon im frühen Denken Husserls kann man ja durchaus eine Nähe zu Anliegen Humes und des Positivismus bemerken. 11 Gerade dieser „Sensualismus Husserls“ gestattet es – so Levinas – nun aber, den „Sinn der Intentionalität zu vertiefen“. 12 Dieser erschließt sich wenn wir auf die Zeitigung des der Empfindung bedürftigen intentionalen Aktes in der Urimpression achten. Bereits hier nimmt Levinas Einsichten Heideggers und auch Rosenzweigs auf. Denn Empfinden und Empfindung (le sentir et la sensation) fallen ja nicht einfachhin zusammen, wie ein unreflektierter Sensualismus meinte. Vielmehr kann das Empfinden selbst nur als Intentionalität begriffen werden und daher als „ein geringster Abstand zwischen dem Empfinden und dem Empfundenen, eben zeitlicher Abstand. Ein betonter Augenblick, lebendig, absolut neu – die Urimpression“. 13 Daraus zieht Levinas für die Phänomenalität von Zeit, wie sie sich hier zeigt, jedoch den Schluß: „In der Tat sind die Retention und die Protention Intentionalitäten, aber in ihnen fallen das Intendieren und das Ereignis (visée et événement) zusammen.“ 14 Dieses im Ereignis geschehende Zusammenfallen nennt Levinas „transzendierende Intentionalität“. Sie muss begriffen

9 DEHH 146 (= SpA 156). 10 DEHH 148 (= SpA 160). 11 Vgl. dazu Historisches Wörterbuch der Philosophie 7, 165. In der Interpretation von Levinas

DEHH, 156 (= SpA, 174?; ferner UG, 42: Phänomenologie: Versöhnung zwischen dem Rationalismus und Empirismus. Außerdem TI 170 (= TU 280). 12 DEHH 152 (= SpA 166). 13 DEHH 153 (= SpA 167–168). 14 DEHH 153 (= SpA 168).

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werden als Gegenteil einer nur retentionalen Intentionalität. Sie bezeichnet den „zeitlichen Sinn aller Transzendenz“. 15 Überblickt man die Schriften von Levinas, so fällt auf, wie früh das Wort „Ereignis“ in das Zentrum seines Denkens tritt und welches semantische Gewicht es dort durch alle Phasen seines œuvres hindurch behält. Bereits 1935, also noch vor Heideggers Kehre und der darin geschehenden Hinwendung zu dem „Ereignisdenken“ wird in „De l’évasion“ événement zu einem Leitwort: „événement qui dans l’accomplissement même de l’existence brise cette existence“. 16 Im Zeitigungsgeschehen der Existenz selbst zerbricht das Ereignis die Existenz als eine scheinbar zeitlose und bricht sie derart auf. Derart kommt es aber allererst zu „Bewusstsein, Setzung, Gegenwart, Ich“, so führt „De l’existence à l’existant“ diesen Gedanken fort. 17 „Totalité et Infini“ schließlich versteht dieses das Bewusstsein entsetzende und damit allererst setzende Gegenüber als den „unbegreifbare(n) Charakter der Gegenwart des Anderen“, als „die Exteriorität des Anderen im Verhältnis zum Selben“ 18 , – oder eben als die Erfahrung kat’exochen. Das so verstandene Ereignis der Erfahrung gewährt dann aber auch durch die Vorladung in die Verantwortung meine Einzigartigkeit. Und dies passiert, dies geschieht, dies ereignet sich in der Diachronie der Sprache. 19 Es fällt mir schwer, in dem frühen und nachhaltigen Aufmerksamwerden von Levinas auf die Phänomenalität des Ereignisses nicht einerseits den Einfluss der Lektüre des Rosenzweigschen Sterns der Erlösung zu sehen. Denn in dessen Mittelpunkt steht ja die Offenbarung als das „gemäß dem ganz wirklichen Gesprochenwerden der Sprache“ geschehende „ereignete Ereignis“ 20 . Andererseits geschieht diese Entdeckung des Ereignisses im geschehenden Augenblick ohne Zweifel im Zuge eines Sich-einlassens auf die Intentionalität in ihrem Vollzugssinn, oder Zeitigungssinn, um hier Kategorien des Denkens zu gebrauchen, die wir heute sehr gut aus den Dozentenvorlesun-

15 DEHH 153 (= SpA 168). 16 E (ed.1982), 99. Vgl. dazu auch E 76. 17 EE 141–142.

18 TI 169–170 (= TU 277–278). 19 Vgl. dazu TI 169–170 (= Tu 278–281). Es geschieht auch in der stummen „Sprache vor der

Sprache“. Vgl. dazu HaM 146: die Geschichte von der bei Husserl eingeladenen aber stumm bleibenden Japanerin: „‚Sie war!‘ – Sehen Sie, das Sein ist ein Ereignis“ (Dt. Interview mit v. Wolzogen). 20 GS 2, 194 und 178. Vgl. dazu auch Bernhard Casper. Das dialogische Denken. 2. Aufl. Freiburg (Alber) 2002, 105–166. Ders. Erlebnis und Ereignis. Zum Geschick und zur Bedeutung zweier Worte. In: Stephan Loos und Holger Zaborowski (Hgg). Leben, Tod und Entscheidung. Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik. Berlin 2003 (Duncker und Humblodt), 115–131. Ders. Religion der Erfahrung. Einführungen in das Werk Franz Rosenzweigs. Paderborn (Schöningh) 2004, insbesondere 85–100.

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gen Heideggers kennen. 21 Levinas war auf diese Erschließung von Intentionalität in ihrer Zeitigung durch das Studium Bergsons vorbereitet. Und er verstand Phänomenologie grundsätzlich in diesem Sinne: „la phénomenologie, c’est la recherche de la mise en scène“. 22 Die Zeitigung als Zeitigung, das „Sich-in-Szene-Setzen“ bringt erst das volle Phänomen ans Licht. Mit diesem sich einzulassen heißt für Levinas der Devise folgen: „Zu den Sachen selbst“. „Das Bewusstsein besteht also nicht darin, dem Sein durch die Vorstellung gleichzukommen“, so formuliert programmatisch das Vorwort zu „Totalité et Infini“. Vielmehr „besteht das Bewusstsein darin“, – man wird hier in dem französischen „conscience“ das deutsche Wort „Gewissen“ mithören dürfen – „dieses Spiel der Lichter – diese Phänomenologie – zu überschreiten und Ereignissen (événements) gerecht zu werden, deren letzter Sinn – im Gegensatz zur Heideggerschen Auffassung – nicht darin liegt entbergend zu sein (à dévoiler). Gewiss ent-deckt (dé-couvre) die Philosophie die Bedeutung dieser Ereignisse; aber diese Ereignisse ereignen sich, ohne in der Ent-deckung (oder der Wahrheit) ihre eigentliche Bestimmung zu haben; ja, keinerlei vorherige Erschlossenheit (découverte) klärt das Hervortreten (la production) dieser wesentlich nächtlichen Ereignisse auf; sie ereignen sich ohne dass der Empfang des Antlitzes und das Werk der Gerechtigkeit – welche die Geburt der Wahrheit als dieser Wahrheit selbst bedingen – als Entbergung (dévoilement) gedeutet werden können.“ Unmittelbar anschließend an diese gedrängte Exposition seines eigenen Vorgehens im Denken, seiner „Phänomeno-logie“, beruft sich Levinas dafür auf den „Stern der Erlösung“ Franz Rosenzweigs „trop souvent présent dans ce livre pour être cité“. 23 Die transzendierende Intentionalität, zu der Levinas derart vorstößt, und die sich in Wahrheit als diachrone oder umgestürzte, durchkreuzte Intentionalität (intentionalité bouleversée) erweisen wird, 24 erlaubt es ihm nun aber, dem Problem der Sinnenhaftigkeit alles Existierens, seinem inkarnatorischen Charakter, seiner Leiblichkeit gerechter zu werden als dies von Husserls Ansatz her möglich war. Der „Gegenstand der Intention“ ist „älter als die Intention“. 25 Die „Urimpression“ erweist sich als „die Nicht-Idealität in ausgezeichneter Weise. Die unvorhersehbare Neuheit von Inhalten, die dieser Quelle allen Bewusstseins und allen Seins entspringen, ist Urzeugung (création originelle)“ wie Levinas in deutlicher Anspielung auf Husserl sagt: „Übergang vom Nichts ins Sein (in ein Sein, das sich in Sein-für-das-Bewußtsein modi-

21 Vgl. Ga 60,248. Ga 61, 31; 53; 106. 22 Vgl. HaM 142. (Dt. Interview mit v. Wolzogen). 23 TI XVI; (vgl. TU 30. In dem deutsch wiedergegebenen Textteil lege ich hier eine eigene Über-

setzung vor).

24 Vgl. DEHH 196 und 225 (= SpA 225 und 275). AQ 60–61 (= JS 114–115). 25 DEHH 154 (= SpA 171).

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fiziert, ohne sich aber jemals zu verlieren)“. 26 Dieses „Sich-nicht-verlieren“, dieses Getrenntbleiben wird dadurch deutlich, dass das in der Urimpression intentional Gegenwärtige die Potenz zu seiner eigenen spontanen Geschichte behält. Das intentional Gegenwärtige zeigt sich nämlich „erfüllt 27 über alle Vorhersicht, alle Erwartung, alle Anlage und Kontinuität hinaus“. Die Urimpression geschieht deshalb derart, dass sie „ganz Passivität, Rezeptivität eines „Anderen“ (ist), welches das „Selbe“ durchdringt. Bewusstsein erweist sich so als Festhalten einer Fülle, die sich entzieht. Das Sein des Bewusstseins ist so „Altern und Suche nach einer verlorenen Zeit“ – „recherche d’un temps perdu“. 28 Von diesen Analysen des Zeitigungssinnes der Urimpression her wird jene Grundbestimmung einsichtig, die im Zentrum des späteren Levinasschen Denkens steht. Sie besagt, dass sich die Subjektivität selbst nur als „passivité plus passive que toute passivité antithétique de l’acte“ 29 verstehen könne: Passivität, passiver als alle Passivität welche antithetisch zum Akt gedacht wird. Diese Formulierung kehrt im ganzen Spätwerk in vielen Varianten wieder und trägt letzten Endes auch die Rede von dem „être ôtage pour autrui“. Sie geht aus dem Achten auf das Geschehen der Zeit selbst in der Konstitution der Urimpression hervor und sagt, dass das sterbliche Moi sich in seinem Sein selbst zu der „grossen Frage“ wird, zu dem Selbst, dessen Sein keineswegs „alles“ ist, wie die Seele in der Psychologie des Aristoteles 30 . Deshalb findet das Selbst sich nicht nur in seine faktische Begrenztheit, sondern in eine grundsätzliche Fragwürdigkeit hineingeworfen. 31 Eben deshalb erweist sich die Passivität, durch die sein Sein, d.h. sein Können stigmatisiert ist, als die Unfähigkeit zu jeder die Diachronie überwindenden Protention. 26 DEHH 155 (= SpA 173). Hinter „création originelle“ gibt Levinas ausdrücklich das deutsche

Wort „Urzeugung“ in Klammern an und verweist damit auf Husserl.

27 angefüllt – comblé 28 DEHH 156 (= SpA 173). 29 AQ 91 (= JS 164): „… toute la gravité du corps extirpée de son conatus. La passivité plus

passive que toute passivité anthithétique de l’acte, nudité plus nue que toute „académie“, nudité s’exposant jusqu’à l’épanchement, à l’effusion et à la prière, une passivité qui ne se réduit pas à l’exposition au regard de l’autre, mais vulnérabilité et dolence s’épuisant comme une hémoirragie …“. Vgl. Ferner AQ 117 (= JS 207); AQ 176 (= JS 303); AQ 227 (= JS 385): „L’exposition precede l’initiative – que prendrait un sujet volontaire – de s’exposer … passivité plus passive que la passivité de la matière“. Ferner: DD 184 (= WG 164): „passivité plus passive que toute passivité du subir.“ DEHH 156 (= SpA 173). DEHH 233f. (= SpA 288–289). Schließlich Sub 497 (= SpA 313): „… la passivité absolue – en deçà de l’activité et de la passvité – qu’apporte l’idée de la création.“ Dazu merkt Levinas an:“ Cette liberté enveloppée dans une responsabilité qu’elle n’arrive pas à endosser – est la façon de la créature, de la passivité illimitée de soi, de l’in-condition de soi.“ 30 Psych¯e pos ¯ esti panta. Peri psych¯es 431 b 21. 31 Wiederum liegt es nahe, hier auf die Analogie zu Rosenzweig hinzuweisen, nämlich auf den Beginn des Sterns der Erlösung und die Konstitution des meta-ethischen Selbst in Stern I.

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Eine passivité etwa, die durch einen ausdrücklichen Akt eines protentional konstituierten Auf-sich-nehmens von etwas gesetzt würde, wäre immer noch lediglich „Passivität des „Ertragens“ 32 . In der Konstitution von urimpressionaler Erfahrung geht es von Seiten des Subjektes her aber nicht um ein Er-warten von etwas, sondern um das reine Warten. Es geht um ein „Warten ohne irgendein Erwartetes“ 33 , um ein Warten angesichts des schlechthin nicht Vermochten, ein Warten angesichts des Nichts der „Unmöglichkeit aller Möglichkeiten“, 34 d.h. um die „absolute Passivität, die Passivität jenseits von Aktivität und Passivität, die mit der Idee der Schöpfung gegeben ist“. 35 es geht um: „Die Dia-chronie der Zeit als Furcht Gottes“. 36 Nun findet diese phänomenologische Deskription der passivité plus passive que toute passivité antithétique de l’acte, die in der über Husserl hinausführenden Analyse der Genese der Urimpression angelegt ist, die ganze Tiefe ihrer Bedeutung aber erst dort, wo an die Stelle des mich in der sensation angehenden anderen, der andere Mensch – autrui – die Andere und der Andere tritt.

32 So übersetzt Wiemer DD 184 in WG 164. Man kann die an dieser Stelle erwähnte „Ge-duld

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und Länge der Zeit“ als Zitat der Fabel La Fontaines „Le Lion et le rat“ (Fables II, fable XI) lesen. Dort heißt es allerdings: „longeur de temps“, und nicht wie bei Levinas „du temps“. Zeit wird bei La Fontaine als numerus motus verstanden, in der etwas geschieht, Zeitverlauf; bei Levinas hingegen als Ereignis der Zeit selbst. Vgl. dazu AQ 43 (= JS 87). Dort unterscheidet Levinas in seiner Husserlkritik: „Von der Zeit im Begriff des Fließens sprechen, heißt von der Zeit im Begriff der Zeit und nicht zeitlicher Ereignisse sprechen“. Die Parallele zu Rosenzweigs Unterscheidung zwischen „Zeit, in der etwas geschieht“ und „Zeit, die selber geschieht“ (GS 3, 148) legt sich nahe. DD 184 (= WG 164). Vgl. dazu DMT 123–136. Sub. 497–498 (= SpA 313). Die „passivité plus passive que toute passivité du subir“ (DD 184 = WG 164) kann deshalb auch nicht mit Husserls „passiver Synthesis“ gleichgesetzt werden. Denn qua Synthesis wird diese in die Totalität des Bewusstseins der transzendentalen Subjektivität eingeholt. „… in jedem Fall, und schon in der Passivität ist doch all das bereit, was die Leistung des aktiven Ich ermöglicht …“ Hua 11, 209 (Analysen zur passiven Synthesis). Bei Levinas geht es aber um die Fragwürdigkeit des Seinkönnens der transzendentalen Subjektivität selbst. Diese Fragwürdigkeit bricht in der Verantwortlichkeit auf. In TI 103 (= TU 183) kritisiert Levinas Husserl folgendermaßen: „Der bedürftige und nackte Leib ist diese eigentliche Verwandlung des Sinnes. Eben dies ist die tiefe Einsicht des Descartes, wenn er den sinnlichen Gegebenheiten den Rang klarer und deutlicher Ideen vorenthält, wenn er sie auf den Leib bezieht und sie dem Nützlichen zuordnet. Eben dies macht seine Überlegenheit über die Phänomenologie Husserls aus, die der Noematisierung keine Grenzen setzt. In den Cartesianischen Meditationen sagt Husserl (Hua I, 120): „Passive Genesis in der Bildung von immer neuen Intentionalitäten … ohne jede aktive Beteiligung des Ich.“ In AQ spricht Levinas dann allerdings von der „passiven Synthesis des Lebens“, die das Moi zur Verantwortung, dem Geisel-sein-für-den-Anderen herausfordert. DD 184 (WG 165).

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Das mich in der leibhaftigen sensation angehende mir schlechthin Unverfügbare des Anderen, welches letztlich seine mir unverfügbare Geschöpflichkeit anzeigt, tritt in seine ganze Bedeutung ein in der leibhaften Begegnung mit dem mich in seinem Leibe angehenden und vorladenden Anderen. An dieser Stelle legt sich nun beinahe zwangsläufig die Analogie zu Husserls 5. Cartesianischer Meditation nahe, in der dieser die (sprachlich so nur im Deutschen gegebene) Differenz von Körper und Leib entdeckt. Unter allen Körpern, die intramundan das cogito affizieren, zeichnet sich mein eigener Leib dadurch aus, dass ich in ihm „unmittelbar schalte und walte“, wie Husserl sich ausdrückt. 37 In diesem Modus (und nur so) affiziert mich aber auch der andere Mensch, der „selbst leibhaft vor uns da“ ist. 38 Deshalb sind „ego und alter ego immerzu und notwendig in ursprünglicher Paarung gegeben“. 39 Hier, so möchte man meinen, ist die Levinassche Grundfigur des „être ôtage pour autrui“ bereits bei Husserl angelegt. Jedoch nimmt Husserl diese Grundkonstellation der conditio humana ausdrücklich in die „transzendentale Seinssphäre als monadologische Intersubjektivität“ 40 zurück. Die „transzendentale Intersubjektivität“, das „transzendentale Wir“, konstituiert die „objektive Welt intersubjektiv“. Diese Welt jedoch tranzendiert „nicht mehr im eigentlichen Sinne“, sondern wohnt der Welt selbst „als immanente Transzendenz“ ein. Deshalb „gehört zur Konstitution der objektiven Welt wesensmäßig eine Harmonie der Monaden. 41 Und ähnlich stellt sich denn auch für den Heidegger des Jahres 1928 die Phänomenalität von Intersubjektivität dar. 42 Im Denken von Levinas könnte sich diese „Harmonie“ allenfalls als eine unendliche und in immer neuer Diachronie aufbrechende Aufgabe zeigen, welche nicht in die Einheit einer von einem menschlichen Subjekt vermochten, „gekonnten“ Zeit einholbar ist. Die Erfahrung des Fremden, die in der Tat immer leibhaft geschieht, geschieht doch immer nur in einem Zeitbruch. Transzendieren heißt bei Husserl hingegen: Sich-überschreiten auf den teleologisch prinzipiell in der Potenz des Subjekts liegenden einen Horizont der transzendentalen Subjektivität hin. Der Philosoph wird derart zum „Funktionär“ der Menschheit. 43 Die verdankte transzendierende Intentionalität im Sinne von Levinas aber geschieht ohne dass sie in eine Gegenwart hinein aufgehoben werden kann 37 Hua 1, 128. 38 Hua 1, 139. 39 Hua 1, 142.

40 Hua 1, 121. 41 Hua 1,137–138. Der Schluss der zitierten Passage ist durch Sperrung hervorgehoben und

derart als Leittext ausgezeichnet.

42 Ga 27, 142f. 43 Hua 6 (Die Krisis der europäischen Wissenschaften), 15.

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– herausgefordert durch den mir schlechthin unverfügbaren Anderen, dessen analoge formale Anzeige bereits die Urimpression ist, – in eine offene, unvermochte Zukunft hinein – wie der Weg Abrahams. Ebenso aber geht mich der mich vorladende Andere aus der Tiefe einer mir unzugänglichen Vergangenheit heraus an, einer Vergangenheit die „zu alt ist für das Spiel der Erkenntnis“. 44 Die transzendierende Intentionalität findet sich nicht in einer Korrelation, sondern in einem diachronen Unverhältnis der Infinition, – vorgeladen von der „Gloire de l’Infini“. 45 Das „anders als Husserl“ des Levinasschen Denkens verankert sich hier in einem Ausbruch aus einem Wahrnehmen von Zeit, das letztlich immer noch Maß nimmt an dem klassischen griechischen Verständnis von Zeit als dem „gezählten Abbild der Ewigkeit“, 46 einem „parler du temps en termes de temps“ hin zu einem Verständnis von Zeit als frei sich zutragender Geschichte, einem unmittelbaren „parler … événements temporels“. 47 Die Formulierung von Levinas erinnert deutlich an Rosenzweigs Unterscheidung zwischen „Zeit, in der etwas geschieht“, nämlich transzendental überschauter Zeit, in der etwas loziert werden kann, – und Zeit, die als sie selber geschieht“. 48

2. Heidegger Nun geschieht dieser Schritt in ein Grundverständnis von Wirklichkeit hinein, welches diese als Zeit versteht, nicht nur im Horizont des „Sterns der Erlösung“ Rosenzweigs, sondern er geschieht ebenso dank der Begegnung des jungen Levinas mit Heideggers „Sein und Zeit“. „Heideggers „Sein und Zeit“, … das ist ein Buch, das man nur dem „Phaidros“ von Plato, der „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant und der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel vergleichen kann. Ich gestehe es jedes Mal offen, obgleich ich den Heidegger von 1933/34 nie entschuldigen konnte“, so beschreibt Levinas 1981 selbst die Bedeutung, die „Sein und Zeit“ für ihn hatte. 49 . Heideggers epochemachendes Werk signalisierte für Levinas einen Durchbruch, der ein von Grund auf neues Denken ermöglichte. Dieses erlaubte es zunächst einmal in einem ganz neuen Sinn, das Selbst und dessen Sich-entscheiden in den Mittelpunkt des phänomenologischen Fragens nach der Wirklichkeit zu stel-

44 DEHH 214 (= SpA 255–256). 45 DEHH 212–215 (= SpA 252–258).

46 Vgl. Platon, Timaios 37d 6–7: Aristoteles, Physik 219b 1–2; Augustinus, Confessiones XI, 29,

39.

47 AQ 43 (= JS 87). Vgl. dazu auch AQ 95 (= JS 27) und DD 184 (= WG 164). 48 Vgl. dazu auch oben Anmerkung 32. Hervorhebungen BC. 49 Interview für den Südwestfunk. Vgl. oben Anm. 1

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len. Prinzipiell war damit der Raum nicht nur für eine Fundamentalontologie, sondern ebenso – und im Grunde vorher schon – für eine Fundamentalethik eröffnet. 50 Levinas hörte in Freiburg im Wintersemester 1928/29 Heideggers Vorlesung „Einleitung in die Philosophie“, in welcher dieser die zentrale These vortrug, dass der Ort der Wahrheit „nicht der Satz“ sei, „sondern das Dasein“. 51 Jedoch wird man gerade wenn dies als die Ausgangsposition deutlich geworden ist, sehen müssen und genauer sagen können, in welcher Weise das Levinassche Denken auch über das Heideggers hinausgeht. Dazu gibt es mittlerweile viele verdienstvolle und detaillierte Untersuchungen. Ich möchte mich bei dem von mir Darzulegenden unter dem Hinblick auf den für das Denken des 20. Jahrhunderts entscheidenden Durchbruch zu der Einsicht in die Zeitigung von Wirklichkeit darauf beschränken, das Augenmerk auf drei Momente zu lenken. 1) Wenn Heidegger in der Vorlesung von 1928/29 formuliert: „Die Seinsart des Daseins im Unterschied von der des Vorhandenen suchen wir in der Orientierung am Miteinandersein von Dasein und Dasein zu bestimmen“, 52 so kann man zunächst meinen, es sei in dieser „Orientierung am Miteinandersein von Dasein und Dasein“ – formal zumindest – das Programm des Levinasschen Denkens, das seine Mitte in der assignation, in der Vorladung durch den Anderen hat, vorweggenommen. Bei genauerem Zusehen zeigt sich aber, dass dies keineswegs so ist. Den Grund dafür findet man leicht, wenn man sich Rechenschaft darüber zu geben versucht, was in der Vorlesung Heideggers von 1928 unter dem „Miteinandersein von Dasein und Dasein“ verstanden wird. Heidegger sieht, dass dieses Miteinandersein als das vom Denken Erfragte nicht durch ein „gegenseitiges Sicherfassen“ (also z.B. auch nicht durch „Einfühlung“) konstituiert sein kann. 53 Worin gründet dann aber das Miteinandersein von Dasein und Dasein? Worin liegt „positiv das Wesen des Miteinander“? Heideggers fundamentalontologische Antwort auf diese Frage heißt: im Sein. Heidegger gibt dafür das Beispiel der beiden Wanderer im Gebirge, die beide gleichermaßen von dem grandiosen Anblick der Landschaft fasziniert sind. „Wenn das Für-einander-offenbar-sein eine Hinweisung enthalten soll auf das Wesen des Miteinander, dann werden wir es am Ende dort antreffen, wo wir ein Miteinander feststellten, z.B. im Hinge-

50 Inwiefern Heidegger diesen Raum wahrgenommen und ausgearbeitet hat, bleibt eine andere

Frage.

51 Ga 27, 109. „(oder gar umgekehrt)“. Die Anmerkung d. Hg. erläutert: „dass der Wesensort des

Daseins die Wahrheit als Unverborgenheit“ ist. Im Sinne von Levinas müsste man formulieren: „… als Verantwortung ist.“ 52 Ga 27, 109. 53 Ga 27, 87.

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nommensein der beiden Wanderer von dem Anblick“. 54 Das, was alles – und darin auch das Miteinander von Dasein und Dasein – ermöglicht, ist der transzendentale Horizont des Seins, der sich freilich selbst ereignet und dem sich Dasein verdankt. Dies ist richtig beobachtet. Und es fügt sich zudem, wenn man so will, durchaus in eine gewisse Fortführung des überlieferten Partizipationsdenkens ein. Überdies ist es nicht unerheblich, dass Heidegger dieses Verhältnis ganz parallel zu der Weise in der Husserl dies in denselben Jahren in den „Cartesianischen Meditationen“ tat, mit Hilfe der Leibnizschen Monadologie erläutert. 55 Levinas nimmt jedoch das Unvermögen des Daseins als des faktischen geschichtlichen Moi im Hinblick auf einen letztgültigen „transzendentalen Horizont des Seins“ bis zu seiner Neige ernst. Darin erscheint er im Sinne einer Hermeneutik der Faktizität als der radikalere Phänomenologe. Das faktische Moi erfährt sich nämlich, wenn es denn den Kelch seiner selbst bis zur Neige leert, keineswegs als das Vermögen des eigenen Nichts. Es erfährt keineswegs seinen Tod als die „eigenste, unbezügliche unüberholbare Möglichkeit“ 56 . Vielmehr zeigt sich mir der Tod letztlich als „die Unmöglichkeit der Möglichkeit“, 57 welche mich zwingt, nicht die Zeit von dem Dasein zum Tode her, sondern den Tod von der Zeit her zu denken. 58 Levinas gibt zunächst mit Heidegger das Grundschema auf, welches für Husserl konstitutiv für das innere Zeitbewusstsein war. Zeit bedeutet auf andere Weise als nur in der des retentional – protentionalen Verlaufs. Aber Levinas geht zugleich über Heidegger dadurch hinaus, dass er das Sich-zeitigen der Zeit nicht aus dem Dasein zum Tode versteht, sondern als die unzurückführbare 59 „Beunruhigung des Selben durch das Andere“ (inquiétude du Même par l’Autre). 60 Der Andere und die Andere begegnen mir wie der Tod: als Unmöglichkeit meiner Möglichkeit. 2) Deshalb versteht Levinas das Selbst, le Moi denn auch nicht essentiell als ein Neutrum wie Heidegger: „In seinem Wesen ist das Seiende, das wir je sind, der Mensch, ein Neutrum. Wir nennen dieses Seiende: das Dasein“, 61

54 Ga 27, 88. 55 Ga 27, 142–145 (§ 19). Dazu, dass bei Heidegger nach Levinas der Andere partizipativ von

dem In-der-Welt-sein her gedacht wird, vgl. HaM 135. Bei Husserl vgl Hua 1,121–183.

56 Vgl. dazu SuZ §§ 49–53, hier SuZ 250: „so enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche,

unüberholbare Möglichkeit“.

57 SMB, 16 (= EN 31); ferner DMT 123–136. 58 DMT 123 (= GTZ 117).

59 In Anlehnung an Goethe und Rosenzweig könnte man formulieren: urphänomenale Beun-

ruhigung.

60 DMT 126 (= GTZ 120). 61 Ga 27, 146.

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– so Heidegger. Für Levinas hingegen bin ich (moi) der , der ich (Mann) in dem Weiblichen der Unmöglichkeit meiner Möglichkeit begegne. 62 3) Dieses Hinausgehen über Heidegger, das sich jedem Vorgriff auf ein transzendentales „Sein“ versagt – d.h. das diesem Vorgriff gegenüber epoch¯e übt –, ist seinerseits nun allerdings wiederum in Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu dem allein Einen zu sehen. Und dieses Bekenntnis trägt sich ständig im Denken von Levinas zu. 63 Das Levinassche Denken ist wie von einem Grundton von dem immer wieder zwischen den Zeilen zu vernehmenden Sche ma Israel durchzogen. Man kann das ganze Levinassche Denken so als eine „Heiligung des Namens“ (Kiddusch haSchem) verstehen. Letztlich deshalb kritisiert Levinas die berühmte Climax 64 des Humanismusbriefes, die wie eine Rekapitulation der gesamten abendländischen Onto-Theologie erscheint und der gemäß sich erst aus der „Wahrheit des Seins“ das „Wesen des Heiligen“ denken lässt und erst aus diesem das „Wesen von Gottheit“ und erst „im Lichte des Wesens von Gottheit“ gedacht und gesagt werden kann, „was das Wort Gott nennen soll.“ 65 In dieser Climax spricht die Denkweise einer hermeneutischen 62 Zwar hatte auch Heidegger formuliert: „Aber zum Wesen dieses Neutrums gehört es, dass

es, sofern es je faktisch existiert, notwendig seine Neutralität gebrochen hat, d.h. das Dasein ist als je faktisches je entweder männlich oder weiblich … Allein gerade dieses Geschlechtsverhältnis ist nur möglich, weil das Dasein in seiner metaphysischen Neutralität schon durch das Miteinander bestimmt ist.“ Bei Levinas wird gerade dieses Miteinander aber zu dem ersten Problem, zu dem ersten mich Vorladenden, mit welchem sich transzendierende Intentionalität als ursprüngliches Fragen einlassen muß. Deshalb stellt für ihn das Mann-sein oder Frau-sein auch kein gebrochenes, sondern ein je vollständiges Mensch-sein dar, das allerdings in die Verantwortung gerufen ist. In gnostischen Übersetzungen von Genesis 1,27 ins Griechische findet man oft „epoiesen auton“ (nämlich den einen männlich-weiblichen Urmenschen) statt „epoiesen autous“ (nämlich: „erschuf er sie“ : Mann und Frau). Mit Recht bemerkt Krewani in seiner neuen Levinasinterpretation „Es ist nicht alles unerbittlich. Grundzüge der Philosophie E. Levinas“, Freiburg (Alber) 2006, 285, dass Heideggers Denken in SuZ auf Einheit in einer umfassenden Gegenwart ziele und der Gegensatz, den Levinas dazu aufstelle, „dass Sein als die sich entziehende Zeit“ sei. 63 Diese Grundtendenz, wenn man will, diese Radikalisierung des intentionalen phänomenologischen Ansatzes in eine von dem biblischen Denken bestimmten Ansatz erkennt J. Rolland mit Recht bereits in „De l’évasion“: „… l’appel à passer le monde plus qu’a s’y installer …: à aller au-delà le l’être“ (E 120). 64 Ga 9, 351. – Für Levinas ist der (Eigen-)Name der Fels, an dem jede Hypostasierung von Transzendentalität zerbricht. Dieser Charakter des Namens zeigt formal jedoch die Unausweichlichkeit des Namens schlechthin an, nämlich die des EINEN. Diesen kann und darf man deshalb nicht aussprechen. Dieser Zusammenhang zwischen dem Eigennamen des „individuum ineffabile“ und dem Namen schlechthin des Einen erscheint ebenfalls bei Rosenzweig grundgelegt. Vgl. dazu dessen Faustkritik in GS 2,209. Rosenzweig hat Margret Susman gegenüber diese Passage über den Namen als den „Kern- und Mittelsatz“ des ganzen Stern bezeichnet (GS 1,752 vgl. GS 1, 413). 65 Ga 9,351.

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Phänomenologie der Faktizität, die, wie auch immer, des Horizontes des Seins bedarf, um denkend, d.h. verstehend Bedeutungen zur Sprache bringen zu können. In dem die Sprache gründenden Angesprochenwerden meiner selbst jedoch, der ich mich in meiner Zeitlichkeit, d.h. meinem Altern, durch den aus einer unvor denklichen Vergangenheit auf mich zukommenden und in eine unausdenkliche Zukunft herausfordernden Anderen vorgeladen finde 66 , zeichnet sich „die rein formale Möglichkeit der Nominalform“ ab, die in keine bloße Partizipation am „sein“ aufzulösen ist: der Name. „Die Nominalform, die Form des Begriffs als Begriff, des Einen in diesem Begriff ist irreduzibel auf die Verbalform. Jene Nominalform kommt von anderswo her als die Verbalform des sein“ 67 . Unmittelbar an diese Analyse der Sprachgestalt des Eigennamens, schließt Levinas dann aber eine gewichtige Anmerkung an. Diese klärt, dass das beim Namen gerufene Moi einerseits selbstverständlich als leibhaftig sterblich zeitliches am Sein „teilhat“; wenngleich es andererseits als „Ich bin“ „einzig und ohne Gattung die Individualität (nämlich als logisch in eine Gattung eingeordnete Horizont BC) flieht“. Und daran anschließend heißt es: „Indes: der Name außerhalb des sein oder jenseits des sein, das Individuum vor der Individualität – heißt Gott.“ 68 Aus dieser Einsicht heraus entwickelt Levinas seine Kritik an der Climax des Humanismusbriefes. Derart geht Levinas über Heidegger hinaus, indem er alles in einem andersanfänglichen Denken aus dem Bekenntnis zu dem Einen und dem Fundierungszusammenhang der Geschöpflichkeit heraus zu denken versucht. 69 Alleine so kann aber die Menschlichkeit des Menschen gerettet werden. Alleine so können das Selbst-sein-dürfen meiner selbst und das des Anderen selbst bewahrt werden. Kants kategorischer Imperativ ist nur einsichtig, wenn sowohl der Andere wie ich selbst unbedingt beim Namen gerufen worden sind, wenn wir als Geschöpfe einer unendlichen Güte verstanden werden dürfen, die uns aber zugleich und in einem als uns selbst vorlädt. Erst wenn dies verstanden ist, ist das Denken bei der Wahrheit der tatsächlichen menschlichen Geschichte. Die Bedeutung dieses Durchbruchs für ein jedes künftige Denken liegt auf der Hand.

66 Vgl. AQ 12 (JS 40). 67 AQ 68 (JS 127). Vgl. dazu auch DEHH 216 (SpA 260): „… l’Un – que toute philosophie

voulait dire – de l’au delà de l’être“.

68 JS 127–128 (AQ 68). 69 Ob sich nicht bei dem Heidegger des Ereignisdenkens und seinem Versuch aus dem Ver-

hältnis des Sich-verdankens heraus zu denken gerade auch dazu Ansätze finden, bleibe hier dahingestellt.

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Denn die menschliche Bemühung des Denkens kann in unserer Gegenwart und Zukunft, in der wir am Abgrund eines technisch heute möglichen Gattungsselbstmordes dahintaumeln, weniger als je zuvor ein nur unverbindliches sich selbst befriedigendes Spiel sein. Sie kann sich so verstanden in letzter Instanz nicht nur als Transzendentalphilosophie und als Hermeneutik der Faktizität sehen, so sehr menschliches Denken sich durchaus zunächst so verstehen muss. In der geschichtlichen Situation, in der es um das Überleben des Menschen als Menschen geht, wird das Denken als das Bemühen, dem es um die Wahrheit als das Bleiben des Menschen geht, sich zuerst und zuletzt als durch diese Situation herausgefordert verstehen müssen. Es wird sich nur als ein Denken „en service de …“ verstehen können, nämlich „en service de la justice“, jener „justice“ um „derentwillen im „sein“ alles sagbar wird und sich zeigt“ 70 . Das Bemühen des Denkens wird sich verstehen müssen als ein Fragen nach der Weisheit im Dienste jener uns gründenden Liebe, die uns von dem unaussprechbaren EINEN her als der äußerste An-spruch vorlädt in unsere Ver-antwortung für die Geschichte, welche uns aufgegeben ist und für die Welt, in welcher wir uns als die geschichtlichen Wesen finden: – Denken als eine fragende recherche du temps perdu, welche sich jedoch zugleich und in einem als die recherche du temps sauvé. 71 erweist. Nach einer Bemerkung des frühen Heidegger heißt Philosophieren, sich zu der Hauptsache durchfragen 72 . Emmanuel Levinas hat sich mit seinem Denken zu der „Sache“ durchgefragt, die für eine künftige Menschheitsgeschichte – soll es sie denn noch geben – die unüberholbare Hauptsache ist.

70 AQ 207 (= JS 353–354). 71 TI 261 (= TU 416) „un temps achevé – triomphe messianique“. Vgl. dazu auch oben 104–108. 72 Ga 61,12.

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Abkürzungsverzeichnis Emmanuel Levinas AQ DD EDEHH DMT E EE En Entrn GTZ HaH HaM I JS Np SMB SpA Sub TA TI TU UG WG ZA

Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. La Haye 1974. De Dieu qui vient a l’idée. Paris 1982. En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger. Paris 1974. Dieu, la Mort et le Temps. Paris 1993. De l’évasion. Montpellier 1982. De l’existence à l’existant. Paris 1977. Eigennamen. München 1988. Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre. Paris 1991. Gott, der Tod und die Zeit. Wien 1996. Humanisme de l’autre homme. Montpellier 1972. Humanismus des anderen Menschen. Hamburg 1989. Les imprévus de l’histoire. Montpellier 1994. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg 1992. Noms propres. Montpellier 1976. Sur Maurice Blanchot. Montpellier 1976. Die Spur des Anderen. Freiburg 1983. La Substitution. In: Revue philosophique de Louvain 66(1968). Le temps et l’autre. Montpellier 1979. Totalité et infini. La Haye 1974. Totalität und Unendlichkeit. Freiburg 1987. Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte. Freiburg 2006. Wenn Gott ins Denken einfällt. Freiburg 1985. Die Zeit und der Andere. Hamburg 1984.

Martin Heidegger Ga SuZ

Gesamtausgabe. Frankfurt (Vittorio Klostermann) Martin Heidegger. Sein und Zeit. (1927) Die Paginierung blieb in allen Auflagen dieselbe.

Edmund Husserl Hua

Husserliana. Gesammelte Werke. Den Haag 1950ff.

Franz Rosenzweig GS

Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Den Haag/Dordrecht 1976–1984.

Andere Abkürzungen HWPh

Historisches Wörterbuch der Philosophie hg. von J. Ritter u.a., Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1971–2007.

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Abkürzungsverzeichnis

Bemerkungen: 1. Zitiert wird bei Levinas grundsätzlich zuerst der französische Text. Übersetzungen werden in Klammern hinter der Angabe des frz. Textes angegeben. Wo es notwendig oder hilfreich erscheint, wird jeweils der französische bzw. der deutsche Text ebenfalls in der Fußnote angeführt. 2. Um auf den verbalen Sinne zusammengesetzter substantivierter Bindestrich-Infinitive aufmerksam zu machen, wird in solchen Verbindungen das Verbum in der Regel klein geschrieben. 3. Aus demselben Grunde schreibe ich auch den dann meist in Anführungszeichen gesetzten Infinitiv des Verbums „sein“ klein.

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Hinweise auf Quellen Menschsein – Leibbürgenschaft für den Anderen. Unveröffentlicht. Der Text geht auf einen Vortrag im Freien Jüdischen Lehrhaus in Zürich aus Anlass des 100. Geburtstages von Emmanuel Levinas im Januar 2006 zurück. Erleiden und Transzendenz. Ich greife hier meinen Beitrag zu der Gedenkschrift für den früh verstorbenen Genueser Religionsphilosophen Giovanni Moretto auf: „Passività e Trascendenza nel pensiero di Emmanuel Levinas“ in: Domenico Venturelli u.a. (Hg.) Etica, religione e storia. Studi in memoria di Giovanni Moretto. Genova (Melangolo) 2007, 209–216. Illéité. Erstmals erschienen in: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft. Freiburg/München (Alber) 1984, 273–288. Der Sinn der Rede von Schöpfung . Dem Abschnitt liegt der Text zugrunde, der erstmals in: Margot Schmidt u.a. (Hg.). Von der Suche nach Gott. (FS Riedlinger) Stuttgart-Bad Cannstatt (Fromann-Holzboog) 1998, 509–520 veröffentlicht wurde. Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zu der Verantwortung angesichts des Anderen. Überarbeitung eines Textes, der erstmals erschien in: Matthias Laarmann u.a. (Hg.). In: Erfahrung – Geschichte – Identität (FS Schaeffler) Freiburg (Herder) 1997, 363–373. Verantwortung und die Intentionalität einer Rechtsordnung. Der Abschnitt geht auf einen Vortrag zurück, den ich erstmals unter dem Titel „La responsabilité et l’intentionnalité de la loi“ anlässlich der 100-Jahrfeier der philosophischen und der kirchenrechtlichen Fakultät des Institut Catholique in Paris gehalten habe, erschienen in: Philippe Capelle (Hg.) Le statut contemporain de la philosophie première. Paris (Beauchesne) 1996, 243–255 und der deutsch erschien in: Wolfgang Beinert u.a. (Hg.) Unterwegs zum einen Glauben (FS Ullrich). Leipzig (Benno) 1997, 196–204. Der Andere, der Dritte und die Bürgschaft für die Gerechtigkeit. Beitrag zu dem Convegno Castelli „Il Tiers“ im Januar 2006 in Rom. Veröffentlicht in: Archivio di Filosofia. Archives of Philosophy edited by Marco M. Olivetti. Pisa/Roma (Fabrizio Serra) 2007, 185–194. Zeit und messianische Zeit. Zu einer Grunddimension des religiösen Geschehens. Erstmals in: René Kaufmann u.a. (Hg.) Scientia et Religio (FS Gerl-Falkovitz) Dresden (Thelem) 2005, 97–110. ´ Über die Freundschaft. Erstmals in: Swiadek Chrystusowych cierpien (1. Petr 5,1) (FS Kubis), Kraków 2004, 193–206. „Wider-gebärende Dankbarkeit“. Geben und Schulden in dem Ereignis der Sprache. Erstmals in: Marco M. Olivetti (Hg.) Le Don e la Dette. Padova (Cedam) 2004, 103–114. Die Seinsfrage, der Andere und die Zeitigung des religiösen Verhältnisses. Erstmals in: Marco M. Olivetti (Hg.) Philosophie e la religion entre éthique et ontologie. Mailand 1996, 259–269.

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Hinweise auf Quellen

Die Möglichkeit einer Philosophie der Religion – heute. Erstmals in: Markus Enders, Holger Zaborowski (Hg.) Phänomenologie der Religion. Zugänge und Grundfragen. Freiburg/München (Alber) 2003, 11–25. Anders als Husserl und jenseits von Heidegger. Unter dem Titel „Autrement que“ Husserl et „au-delà“ de Heidegger vorgetragen auf dem Internationalen Kongress zum 100. Geburtstag von Levinas in Rom im Mai 2006. Erschienen in: Emmanuel Levinas. Prophetic Inspiration and Philosophy a cura di Irene Kajon u.a. Firenze (Giuntina) 2008, 399–414.

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Personenverzeichnis

Abraham 37, 169 Adorno, Theodor W. 107 Albert, Hans 149 Apel, Karl-Otto 93 Aristoteles 29, 53, 63, 81, 85–86, 97–98, 109–111, 114–117, 122, 146, 166, 169 Augustinus 97–98,137, 169 Austin, John Langshaw 86 Bauer, Anna 48 Beethoven, Ludwig van 114, 126 Beinert, Wolfgang 177 Benjamin, Walter 106 Bergson, Henri 100, 161, 165 Böckenförde, Ernst Wolfgang 94–95 Boethius 104, 117–118 Bohlen, Stephanie 64, 142 Bollnow, Otto Friedrich 142 Buber, Martin 48–49, 83, 87 Caillois, Roger 75 Capelle, Philippe 177 Casper, Bernhard 45, 64, 76, 99, 127, 136, 140, 149, 152,–153, 161, 164 Cassirer, Ernst 136, 141–142, 151 Castelli, Enrico 5, 96, 177 Celan, Paul 31, 67, 78, 111 Chantepie de la Saussaye 144 Cohen, Hermann 55, 60, 106, 115–116, 126–127 Dales, Richard C. 54 Dante 46 De Vitiis, Pietro 142, 175 Derrida, Jacques 104, 113–114, 117 Dilthey, Wilhelm 99, 159 Donius, Charles 92 Dostojewski, Fédor M. 22, 73, Duvignand, Jean 125 Ebner, Ferdinand 123, 127 Eckhart, Meister 128 Eder, Klaus 145 Ehrenberg, Hans 44 Einstein, Albert 99, 149, 151 Eliade, Mircea 126 Enders, Markus 128, 158, 178 Feige, Ingeborg 151–152 Fichte, Johann Gottlieb 34, 141

Fink, Eugen 55, 151 Fraling, Bernhard 76 Friscay, Ferenc 126 Gerl-Falkovitz, Barbara 175 Gigon, Olof 109, 116 Goethe, Johann Wolfgang von 171 Goldner, Martin 48 Görtz, Heinz Jürgen 44, 47 Greisch, Jean 157 Grimm, Jacob und Wilhelm 75, 120, 130 Grumach, Ernst 109, 116 Habermas, Jürgen 93–95 Habichler, Alfred 141 Hammarskjöld, Dag 69, 80, 141 Harzer, Wolfgang 93 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 44, 46–47, 64, 88, 92, 99–100, 148, 169 Heidegger, Martin 11,13, 15, 18–19, 23, 28–29, 31, 34, 39, 44, 54–56, 60, 64–67, 73, 76–77, 81, 92–93, 100, 102, 110, 113–114, 117, 119–123, 127, 133–139, 141–142, 148–149, 151–152, 155, 158–159, 161–175, 178 Heinemann, Walter 92 Hemmerle, Klaus 5, 149 Henriot, Jacques 175 Hiob 143 Hobbes, Thomas 80, 92 Höffe, Otfried 93 Hofmann, Hasso 92 Hoping, Helmut 76 Hünermann, Peter 76, 100, 149 Husserl, Edmund 6, 13, 16–19, 22, 26–31, 55–56, 64, 66–68, 76–78, 90, 92, 94, 96, 98, 101–102, 111, 120, 123, 150, 161–175, 178 Husserl, Gerhart 90 Ingarden, Roman 76–77 Jarczyk, Gwendoline 130 Jaspers, Karl 136 Jesaja 74, 88, 145 Kaiser, Otto 145 Kajon, Irene 178 Kant, Immanuel 15–16, 19, 21, 29–30, 36, 54, 56–57, 60–61, 65, 67, 70, 72, 74, 76–77, 80, 82, 87 –88, 92, 94, 96, 99–100, 114,

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8 C 7 -8 :5 7 .5

8

180

Personenverzeichnis

117, 121.124, 133–135, 137, 139–141, 148, 150, 153, 158, 169, 173 Kaufmann, René 177 Kierkegaard, Sören 87, 99 Kluge, Friedrich 130 Krewani, Wolfgang Nikolaus 172 Kubis, Adam 177 La Fontaine, Jean de 167 Laarmann, Matthias 177 Labarrière, Pierre-Jean 130 Ladenthin, Volker 146 Leeuw, Gerardus van der 144 Leibniz, Gottfried Wilhelm 123, 171 Lessing, Gotthold Ephraim 155 Luther, Martin 48, 137 Mandel, Hermann 127 Marion, Jean Luc 68, 120 Mauss, Marcel 86, 119 Meister Eckhart 128 Merleau-Ponty, Maurice 107 Mittelstraß, Jürgen 99 Montaigne, Michel 111, 117 Moretto, Giovanni 177 Möricke, Eduard 116 Mosès, Stéphane 107, 126 Nauke, Regina 92 Nietzsche, Friedrich 58, 65, 75, 142, 147 Odysseus 37 Olivetti, Marco Maria 107,126, 128, 142, 177 Pascal, Blaise 60, 148 ˇ Patocka, Jan 5 Petitdemange, Guy 93 Piecuch, Joachim 150 Platon 17, 29, 31, 40, 44, 48, 53, 64, 70, 77, 79–81, 98, 106, 110, 117, 169 Plautus 80 Pöggeler, Otto 6, 157 Prauss, Gerold 92 Rabbi Löw 24 Ratzinger, Josef 95 Regina, Umberto 92, 142 Ricoeur, Paul 5, 116, 151 Riedlinger, Helmut 177 Ritter, Joachim 142, 175 Rodi, Frithjof 157 Rolland, Jacques 172 Rosenzweig, Franz 11, 24, 26, 33, 44–50, 56, 64, 72, 83–84, 86, 91, 100–101, 106–107, 112, 116–117, 122–129, 141, 152, 155, 158–159, 161–167, 169, 171–172, 175

Rosenzweig, Rachel 49–50 Sartre, Jean Paul 25, 77 Savigny, Friedrich Carl von 83 Scannone, Juan Carlos 76 Schaeffler, Richard 177 Scheinmann-Rosenzweig, Edith 162 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef von 34, 99–100, 141, 148, 154–155, 157 Schiller, Friedrich 89, 91, 114–115 Schleiermacher, Friedrich 141 Schmidt, Margot 177 Siewerth, Gustav 63 Silone, Ignazio 126 Stein, Edith 18, 102, 162 Strasser, Stephan 33 Susman, Margret 172 Theunissen, Michael 98, 158 Thomas von Aquin 22, 54, 95, 106, 147–149 Tischner, Józef 5 Ulpian 82, 9o Valery, Paul 41, 70, 104 Villey, Michel 75, 111 Wartenburg, York von 99 Weil, Simon 94 Weischedel, Wilhelm 76–77, 79 Welte, Bernhard 136, 148–152, 159 Wenzler, Ludwig 51, 93, 96 Wiemer, Thomas 68, 138, 167 Wolff, Erik 81, 92 Wolzogen, Christoph von 164–165 Zaborowski, Holger 128, 158, 164, 178

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