»Angenehmes Grauen«: Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert 9783787330508, 9783787307142

Die verbreitete Legende, dass die Ästhetik des Schrecklichen eine Entdeckung der schwarzen Romantik und der Dekadenz am

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»Angenehmes Grauen«: Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert
 9783787330508, 9783787307142

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C A RSTEN ZELLE » A ngenehmes G rauen«

STUDIEN ZUM A CHTZEHNTEN JAHRHUNDER T Heraus gegeben von der Deuts chen G es ells chaft für die Erfors chung des achtzehnten Jahrhunderts Band 10

F ELIX M EINER VER LAG

·

HAM BURG

C A RSTEN ZELLE

»ANGENEHMES GRAUEN« Literaturhis toris che Beiträge zur Ä s thetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert

F ELIX M EINER VERLAG · HAM BURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-0714-2 ISBN E-Book: 978-3-7873-3050-8 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1987. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

Vorbemerkung

XIII

Einleitung . . .

XV

1

I. Das traditionelle Konzept- der abschreckende Schrecken 1. Der Schrecken in der Theorie des barocken Trauerspiels . . . .

1

2. Konkurrierende Schreckenskonzepte in der Affektenlehre und Anthropologie des 18. Jahrhunderts

. . . . . . . . . . .

17

3. Der Schrecken in den Poetiken der Übergangsphase zur Frühaufklärung und im kritischen und dramatischen Werk Johann Christoph Gottscheds .

29

4. Abschreckendes Straftheater . . . . . . . . . . . . . . .

56

Il. Abkehr von der Moral- Neuansätze zur Deutung von >>delightfull . .

75

1. Die Entdeckung des Schrecklich-Erhabenen . . . . . . . .

80

horror>terreur agreable>delightfull Horrour>Enthusiastick Terror>the horrid graces of the wilderness>Angenehmes Grauen«- der Duktus physikotheologischer Wendung in Brockes' Lebenswerk . . . . . . . .

.

. . . . .

213

c) >>erbärmlich schönAngenehme Bestürzung< - der Zweitakt des

231

Erhabenheitserlebnisses in Brockes' astrotheologischen Gedichten e) >mit Lust=vermischtes Grausenheilsame AbscheuSchmertzhaftangenehme Empfindungen< und >schauervolles Ergötzen< in den ästhetischen Schriften Moses Mendelssohns

315

a) Die Nachahmung der >Schrecklichen Natur< und die >>schmertzhaftangenehmen Empfindungen>Gedanken vom SchreckenSchauervolles Ergötzen< und >unaussprechlicher Reiz< des Schreckens- Mendelssohns Zusätze zu den Briefen über die

Empfindungen (erste Fassung) . . . . . . . . . . . . . . .

347

g) Das Selbstgefühl des >schauervollen ErgötzensLeerererhabener< und >heilsamer< Schrecken in der Kunstphilosophie Johann George Sulzers

. . . . . . . . . . . . . .

358

a) >leerer< und >heilsamer< Schrecken als Komplemente unterhaltender und nützlicher Kunst in Sulzers ästhetischem Wörterbuch . . .

360

b) Der relativierte Schrecken des Erhabenen in Sulzers ästhetischen und naturkundlichen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

5. Grenzbestimmungen des nicht mehr schönen Schreckens in der Mitte des 18. Jahrhunderts

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

378

a) Der Streit um ein häßliches Weib- das Ekelhafte, Entsetzliche, Häßliche und Schreckliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381

b) Die Anfänge der idealistischen Ästhetik des Häßlichen bei Lessing 395

Literaturhistorischer Ausblick und Schlußbemerkung

413

Literaturverzeichnis . . . . . . . . .

419

I. Abgekürzt zitierte Literatur

419

II. Quellen .....

419

111. Sekundärliteratur

438

Personenregister

.. . . .

459

Peter Paul Rubens: Das Haupt der Medusa >>Eines seinervielen Bilder glaube ich immervor Augen zu haben

[ ... ], es ist das abgeschla­

gene Haupt der Medusa, von Schlangen umflochten, die aus dem Haarboden wachsen. Darin hat er den willkommenen Anblick des sehr schönen Frauenkopfes mit dem schreck­ lichen Anblick des plötzlichen Todes und den einrahmenden scheußlichen Reptilien mit so

unerhörter Kunst gemischt, daß das Bild den Beschauer, der entsetzt zurückfährt ( denn die Tafel ist meist mit einem Vorhangverhängt ) , doch durch den Reichtum des Dargestell­

ten, der lebend und anmutig ist, wieder anzieht.>angenehmen Grauens« im 1 8 . Jahrhundert durchaus an die Grenzen der literarischen Aufklärung , doch dementieren solche Grenzen nicht die Geltung des durch sie Begrenzten : Vielmehr führt das angenehme Grauen an eine Grenze der Aufklärung, so wie man in Kehl an eine Grenze tritt , ohne daß die französische Nation die deutsche dementierte oder aufhöbe . Die vorliegende Arbeit , zu deren Konzeption im Jahre 1980 Untersuchungen zur Kategorie des Erhabenen den Anstoß gaben , wurde im Sommer 1985 abgeschlossen . Ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglichte die Niederschrift, ein kurzfristiges Stipendium des Landes Hessen den Abschluß der Arbeit . Die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts nahm die Arbeit in die Reihe der von ihr veröffentlichten Studien auf. Ein großzügi­ ger Zuschuß der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung, Hamburg, ermöglichte

schließlich den Druck . Für die Förderung bin ich zu Dank verpflichtet. Herzlich danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Gert Mattenklott für seine liebens­ würdige Bestärkung , insbesondere aber meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Burg­ hard Dedner für seine anleitende Kritik. Dr. Ines Stahlmann und Konrad Dittmann danke ich dafür, daß sie mich dennoch ertragen haben . Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern .

EINLEITUNG

Die verbreitete Legende , daß die Ästhetik des Schrecklichen eine Entdeckung der schwarzen Romantik und der Dekadenz am Fin de Sieeie gewesen sei , widerlegt diese Studie, indem sie den Nachweis führt , daß die Frage nach den Gründen des Vergnü­ gens an schrecklichen Gegenständen bereits seit dem frühen 1 8 . Jahrhundert gestellt und unter den Gelehrten der Aufklärung vielstimmig diskutiert wurde : Terreur agn!able und delightful horror, angenehme Bestürzung, angenehmes Grauen und Entsetzen , angenehmer Schrecken und schaudervolles Ergötzen - unter diesen Leit­ begriffen versuchten sich die Kunst- und Literaturtheoretiker von Dubos bis Men­ delssohn der gegenüber dem reinen Vergnügen weitaus faszinierenderen, Lust und Unlust vermischenden Empfindung zu nähern . Auf diese Debatte konnte Schiller zu­ rückblicken , als er am Ende des Jahrhunderts neben der Trias des Angenehmen , Gu­ ten und Schönen eine »vierte Quelle von Lust angenehme Grauen< jedoch erst 1743 in der anonymen Abhandlung von den Ursachen des Vergnügens, welches uns die Beschreibungen un­ vollkommner Dinge bey den Rednern und Dichtern geben auf. In der Schrift wurde erstmals im deutschen Sprachraum ausschließlich das wirkungsästhetische Problem des Vergnügens an nicht-schönen und schrecklichen Gegenständen thematisiert. Wußte der unbekannte Autor zum angenehmen Grauen daher 1743 noch kaum auf einschlägige Vorarbeiten zurückzugreifen 7 , so kennzeichnete knapp 50 Jahre später - bereits ein Jahr vor Schillers einschlägiger Abhandlung ! - der ebenfalls anonym ge­ bliebene Verfasser der knappen Zusammenfassung Von den Gründen des Vergnü­ gens an traurigen Gegenständen den Stand der Forschung mit dem lakonischen Satz: >>Ueber diese Materie ist schon vieles geschrieben worden . « 8 Tatsächlich hatte das rätselhafte Vergnügen an schrecklichen Gegenständen mit Mendelssohns Theorie der vermischten bzw . schmerzhaftangenehmen Empfindungen und Lessings Anfän­ gen einer Ästhetik des Häßlichen eine gewisse Klärung gefunden . Die mit dem ange­ nehmen Grauen verbundene wirkungsästhetische Problemstellung war historisch ge­ worden. Auch mochten nach dem Zurückdrängen des Mimesispostulats die äußeren hinter den neu zu entdeckenden inneren Schrecken verblassen . Der Philanthrop Pe­ ter Villaurne (1746- 1806) , einer der vielen, die im letzten Drittel des 1 8 . Jahrhunderts die Resultate aufklärerischen Fortschritts in der Ästhetik summierten , blickte 1788 auf die Versuche zurück , das schauerliche bzw. schauervolle Vergnügen an schreckli­ chen Schauspielen zu deuten : >>Man hat sich viel Mühe gegeben , dieses Phänomen zu erklären . « 9 Wie dieser Prospekt andeutet, markiert der Zeitraum zwischen erster Thematisie­ rung und Historischwerden des angenehmen Grauens als eines Problems der Ästhe­ tik den historischen Rahmen der vorliegenden Arbeit. Sie endet mit den Ansätzen zu 7. Anonymos: Abhandlung von den Ursachen des Vergnügens, welches uns die Beschreibun­ gen unvollkommner Dinge bey den Rednern und Dichtern geben. In: Christlob Mylius , Joh . An­ dr. Cramer (Hg . ) : Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, Bd. I . Halle : Hemmerde 1743 , St. 3 , S . 159-178, hier S . 161 , hebt hervor, daß sein dunkles Thema zeither von Kunstrichtern entweder ganz unerörtert geblieben, oder wenigstens sehr leicht ab­ gehandelt worden ist . >

Einleitung

XIX

einer Ästhetik des Häßlichen und Schrecklichen bei Lessing und der Summe der drei Konzepte des abschreckenden , relativierten und angenehmen Schreckens in Sulzers ästhetischem Wörterbuch . Da überdies die Dichtungs- und Kunsttheorie im deutschen Raum zunächst im Schatten der französischen Musterkultur stand und sodann mit dem Wind des engli­ schen Vorbilds Fahrt aufnahm , war es unvermeidlich , den innovativen französischen und englischen Beiträgen zu »terreur agreable« bzw. >>delightful horror« nachzuge­ hen . Um dabei die enge internationale Verflechtung und das Rezeptionsgefälle hin­ sichtlich Fragen der Poetik/Ästhetik im allgemeinen und der Thematik des angeneh­ men Grauens im besonderen zu dokumentieren , wird die ausländische Literatur - so­ weit möglich - nach zeitgenössischen , oftmals mit Anmerkungen kommentierten Übersetzungen zitiert . Entstehung und Fortschritt der Ästhetik sind im Jahrhundert der Aufklärung selbst schon historisch reflektiert worden : Die nach B aumgarten, Mendelssohn und Lessing im letzten Drittel des 1 8 . Jahrhunderts ins Kraut schießenden Veröffentlichungen von Anfangsgründen , Einleitungen , Grundbegriffen und -sätzen , Hand- und Lehrbü­ chern , Theorien und Vorlesungen zur Wissenschaft der schönen Künste hat 1799 Be­ nediktus Joseph von Koller ( 1767-1 817) in einer ersten bibliographie raisonnee zur Ästhetik zusammengetragen. 1 0 Auch mit der Geschichtsschreibung des angenehmen Schreckens wurde begonnen . Wie in so vielem , machte auch hier der Braunschweiger Professor Johann Joachim Eschenburg ( 1743-1820) einen Anfang. In der zweiten Auflage seines Entwurfs einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften ergänzte er 1789 das Kapitel zur Tragödie um einen Paragraphen zur psychologischen Frage : >>woher es komme , daß die durch das Trauerspiel erweckten schmerzhaften Gefühle in der Seele des Zuschau­ ers [ . ] einen gewissen Grad des Vergnügens hervorbringen« , und fügte dem an­ schließenden Referat der Theorie der vermischten Empfindungen eine kurze Litera­ turübersicht an . 1 1 Eschenburgs Vorbild folgend , hat fünf Jahre später Friedrich von Blanckenburg (1744- 1796) in seinem >litterarischen Zusatz< zum Artikel >Tragisch< in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste den entscheidenden Beitrag zur Bi­ bliographie der Geschichte des angenehmen Grauens geliefert . Da ihm eine Litera­ turliste zu diesem Stichwort >>sehr groß>Welche von dem Vergnügen an tragischen oder traurigen Gegenständen handeln . Tragisch< , S. 555-557. Blan­ ckenburgs > Iitterarische Zusätze< erschienen zuerst in der neuen vermehrten Ausgabe von Sul­ zers ästhetischem Wörterbuch , Leipzig 1786-1787 ; hierin fehlt jedoch noch der bibliographische Zusatz zum Stichwort >Tragisch< ! Am vollständigsten ist Blanckenburgs Separatausgabe , Leip­ zig 1796- 1798. 13. Johann Friedrich Pries: Melpomene. Ein Versuch über die Gründe des Wohlgefallens an tragischen Gegenständen. Rostock, Leipzig: Karl Christoph Stiller 1 804. Vgl . Karl Friedrich Stäudlin: Geschichte der Vorstellungen von der Sittlichkeit des Schauspiels. Göttingen: Rosen­ busch 1 823 , S. 260-261 ( >>Grund des Wohlgefallens an der TragödieVon der Ursache desienigen Vergnügens, welches uns Gegenstände geben , die Mitleid oder andre schmerzhaften Gefühle rege machen . < , S. 377447. Martin Mac Dermot : A Philosophical Inquiry into the Source of the Pleasures derived from Tragic Representations. London : Sherwood, Iones , and Co. 1 824. 15. Herbert Dieckmann: Das Abscheuliche und das Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. In: Hans Robert Jauß ( Hg. ) : Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München: Fink 1968 ( = Poetik und Hermeneutik, 3) , S. 271-317; vgl . die >sieb­ te Diskussion< Grenzpänomene des Ästhetischen in derfortgeschrittenen Neuzeit, S. 629-649. Für England sind darüber hinaus Earl R. Wassermann: The Pleasures of Tragedy. In: Journal of English literary History, 14 (1947) , S. 283-307 und Baxter Hathaway: The Lukretian »Return upon ourselves« in Eighteenth-Century Theories ofTragedy. In: PMLA, LXII (1947) , S. 672-689 zu konsultieren. - Ludwig Sigismund Ruhl: Ober den Eindruck des Schrecklichen in Werken an­ tiker und moderner Kunst. Kassel: Joseph Has 1876 sowie Hans-Dieter Bahr: Sätze ins Nichts. Versuch über den Schrecken. Tübingen : Konkursbuchverlag o. J. [1985] tragen zu einer Ge­ schichte des Schreckens nichts bei . 16. Günter Oesterle: Entwurf einer Monographie des ästhetisch Häßlichen. Die Geschichte ei­ ner ästhetischen Kategorie von Friedrich Schlegels >Studium>delight­ ful terror« hat Dieckmann daher resignierend gefragt , ob hinter dieser vermischten Empfindung >>nicht ein ursprüngliches Gefallen an Leiden und Grausamkeit , am Furchtbaren und Schrecklichen , j a am Häßlichen verborgen ist . « 26 Auch Schneiders , Alewyns Domestizierungsargument aufgreifende These , daß sich die erstaunliche Karriere der Kategorie des Erhabenen im 1 8 . Jahrhundert aus der zunehmenden Naturbeherrschung erklären lasse , wird sich wohl nur für die Kan­ tische Definition halten lassen . Schon für Burkes Bestimmung war der >>genießbare Schrecken«27 nicht so sehr von dem Bewußtsein einer wachsenden Sekurität geprägt , sondern eher von dem erleichterten Gefühl, der Naturkatastrophe noch einmal ent­ kommen zu sein . Alewyns kompensationstheoretischer Ansatz ist von Viering mit allerhand Bele­ gen für die vermischte Empfindung des >>Süßen Schreckens« in der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts , namentlich in den Romanen Wielands und Jean Pauls aufgefülle8 , von Conrad in Richtung auf die Schauerromantik bei E . T. A. Hoffmann vertieft und modifiziert worden. 29 Thomas Anz hat Alewyns Kompensationsthese mit Blick auf 25 . Alewyn , Die Lust an der Angst (Anm . 24) , S. 3 1 1-315 u. S. 329 . Vgl . Ingeborg Weber: Der englische Schauerroman. München , Zürich: Artemis 1983 , S. 1 15-134, bes. S. 1 19. 26. Dieckmann (Anm . 15) , S. 290. 27 . Helmut J. Schneider: Utopie und Landschaft im 18. Jahrhundert. In: Wilhelm Vosskamp (Hg. ) : Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde . Stuttgart: Metzler 1982 , Bd. III, S. 172ff. , hier S. 180. 28. Jürgen Viering: Schwärmerische Erwartung bei Wieland, im trivialen Geheimnisroman und bei Jean Paul. Köln, Wien: Böhlau 1 976, S. 234-260 (>Vermischte Empfindungenvermischten Empfindungen< ist ein weiterer Ale­ wyn-Schüler: Lothar Pikulik: >Bürgerliches Trauerspiel< und Empfindsamkeit. Köln : Böhlau 1966 [2. unveränd. Aufl . 1981 ] , S. 64-86 (>Die Lust am Leiden>fixes Angstpotential« 30 - ein >>Bedürfnis nach AngstPsychoanalyse< etwa Les­ sings auf der Grundlage der unter seinem Namen überlieferten Werke lag mir fern . Auch zeigte sich , daß etwa B alints an Freud anknüpfende Untersuchung des mit >>Angstlust« verbundenen >ozeanischen Gefühls< unbewußt die Topologie des Mathe­ matisch-Erhabenen wiederholte , in der sich verstärkt seit Mitte des 18. Jahrhunderts

geschichte. Düsseldorf: Bertelsmann 1974, bes. S. 48. Zweifel gegenüber der Sekuritätsthese bei Jörg Schönert : Behaglicher Schauer und distanzierter Schrecken. Zur Situation von Schauerro­ man und Schauererzählung im literarischen Leben der Biedermeierzeit. In: Literatur in der sozia­ len Bewegung. A ufsätze und Forschungsberichte zum 1 9. Jahrhundert. Hg. v. Alberto Martino. Tübingen: Niemeyer 1977 , S . 27-92. Schönert problematisiert insbesondere die Übertragbarkeit der am englischen Schauerroman gewonnenen Thesen für Deutschland , etwa mit Blick auf die hier >>andersgewendeten politischen und ökonomischen Verhältnisse« (S. 33, Anm. 23) . Die Genese des behaglichen Schauers verfolgt er unter den innerliterarischen Aspekten einer Wir­ kungspoetik des Schaurig-Schönen , der Lizenzierung des Nicht-Schönen sowie- im Anschluß an Maurer (Anm . 17) - der Entgrenzung des Gattungsgefüges (bes. S. 34) . 30. Thomas Anz: Die Historizität der Angst. Zur Literatur des expressionistischen Jahrzehnts. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 19 ( 1975), S. 237-283, hier S. 272, vgl . S. 237-241 . Vgl. Ditfurth (Hg . ) , Aspekte der Angst (Anm . 24) , bes . S . 57. 3 1 . Alewyn , Die Lust an der Angst (Anm . 24) , S . 329 . Vgl . Odo Marquard : Theorie der Hor­ ror- Theorie. In: Tageszeitung, Montag, 9. Mai 1983 , S. 12. Marquard teilt Alewyns Hypothese über das menschliche Bedürfnis, sich zu fürchten . Auch Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, unterstellt einen von Angst und Schrecken geprägten >>Status na­ turaliSNach dem Absolutismus der WirklichkeitFunktionen des Schauers und das Dilemma divergenter AngsttheorienSchauerelemente < , die an der Schauerliteratur seit Bürger verifiziert werden. Wirkungsästhetische Fragen interes­ sieren nicht. Vgl. Lothar Pikulik: [Rez . ] . In: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft, 27 (198 1 ) , S . 1 13-1 16, bes. S . 1 1 5 . 3 3 . Ditfurth (Hg . ) , Aspekte der Angst (Anm . 24) , S . 5 8 : >>Lorenz: Ich bestreite , daß wir uns nicht mehr vor der Nacht fürchten ! 99 Prozent aller Menschen , die ich kenne , fürchten sich in der Nacht. « Vgl. Johann Karl Wezel: Versuch über die Kenntniß des Menschen. 2 Tle . Leipzig: Dyk 1784-1785 , Tl . II (1785) , S. 197-212 (>Die Furcht im FinsternAnwendung< solcher Theorien aufs 1 8 . Jahrhundert wäre mithin nicht nur unhisto­ risch , sondern auch zirkulär gewesen. Nicht Freud, Caillois oder Bataille können über das angenehme Grauen im Aufgeklärten Jahrhundert Auskunft geben - zu be­ fragen sind vielmehr die Angehörigen dieses Jahrhunderts selbst .

34. Michael Balint: Angstlust und Regression. Ein Beitrag zur psychologischen Typenlehre [engl . 1959; dtsch . 1960] . Reinbek bei Harnburg: Rowohlt 1972, bes . S. 17-22 u. S. 62 . Vgl . Ge­ org Seeßlen: Kino der Angst. Geschichte und Mythologie des Film- Thrillers. Reinbek bei Harn­ burg: Rowohlt 1 980, bes. S. 13-29 . Vgl. Ernst Jentsch : Zur Psychologie des Unheimlichen. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift, Jg. VIII (1906) , Nr. 22 , S . 195-198, Nr. 23 , S . 203205 . Sigrnund Freud : Das Unheimliche [ 1 919] . In: ders . : Gesammelte Werke. Chronologisch ge­ ordnet. Dritte Aufl . , 18 Bde. Frankfurt/M . : Fischer 1966-1968, Bd. XII (1966) , S. 227-268. Ge­ deutet wird E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1816).

I. DAS TRA DITIONELLE KONZEPT­ DER ABSCHRECKENDESCHRECKEN

1. Der Schrecken in der Theorie des barocken Trauerspiels

Das barocke Trauerspiel 1 ist ein Theater des Schreckens2 : Eindeutig verweisen schon die Szenenanweisungen zu dessen Beginn auf die Deutung der Welt als eines Schrek­ kensortes . >>Der Schauplatz lieget voll Leichen/ Bilder/ Cronen/ Zepter/ Schwerdter etc . >Plus !es tragedies sont cruelles , plus elles sont excellentes . « 1 0 Wie ein Echo darauf liest sich sechzig Jahre später in der Dicht­ kunst des Jesuiten Jakob Masen (1606- 1 681) , daß die Tragödie um so vortrefflicher ist , je gewaltiger sie die Affekte Furcht und Mitleiden erregt . 1 1 Das angestrebte Höchstmaß der Schreckensdarstellung überschreitet jenen optimalen Grenzwert zwi­ schen stärkster affektiver Bewegung und Abscheu , den Horaz in seiner Ars poetica festgesetzt hatte : >>Ne pueros coram populo Medea trucidet . « 1 2 Das Dezenzgebot war in den barocken Poetiken jedoch umstritten: Gryphius' Verfahren entsprach den An­ weisungen , die sich bei Georg Philipp Harsdoerffer (1607- 1658) finden: >>grausame Marter und Pein so die Henkerbuben verüben/ werden auf den Schauplätzen nit gese5. Andreas Gryphius: Dissertationesfunebres, Oder Leich-Abdankungen/ Bey Unterschiedli­ chen hoch = und ansehnlichen Leich = Begängnüssen gehalten [ . . . ] . Leipzig: Christi an Scholvien 1683 [zuerst 1666] , S. 344-368 (>>Folter Menschlichen Lebens. >Denn um Leidenschaften zu erregen , sind Wunden und Totschlag auf der Bühne geeigneter. [ . . . ] Im Irrtum sind freilich diejenigen , die der Meinung sind , solche Taten müßten den Augen der Zuschauer ferngehalten und stets einem Boten­ bericht anvertraut werden ; denn was von einem Botenbericht, nicht anders als würde es von einem Kanzelredner vorgetragen , angenommen werden würde , hat nur gerin­ ge Kraft , die Leidenschaften der Zuschauer zu erregen . [ . . . ] Manchmal wird sie [die Teichoskopie ; d. Vf. ] freilich verwendet , wie auch Horaz vorschreibt [ . . . ] , doch hat sich jedenfalls Seneca durch diese Regel des Horaz nicht davon abhalten lassen, jenen Mord auf der Bühne darzustellen . >aut prodesse volunt aut delectare poetae« 24 einge­ paßt . Mögen Aristoteles' Ausführungen über die kathartische Wirkung der Tragödie den Poetikern des 17. Jahrhunderts auch >>wesensfremd>lndifferenzTrauerspielbuch< urteilte . Vielmehr legitimieren die Theoretiker mit ihren kruden moralischen Katharsisumdeutungen den zentralen Zweck des Trauerspiels, im Sinne konsolatorischer Gewöhnung an die Schrecken auf Erden >>Vanitas-Deixis und Säu­ berung der Gemüter>ertüchtigen>jenen sprödesten Motiven>Vor allem : welche Art Bewandtnis hat es mit jenen Greu­ el- und Marterszenen , in denen die barocken Dramen schwelgen?Bewandtnis< der Schreckensszenen hergeleitet werden . Die durch sie intendierte >Purgation< der Leidenschaften ist seit den Renaissancepoetiken und den barocken Poetereien und noch bis zu den kritischen , frühaufklärerischen An­ leitungen zur Dichtkunst selbstverständlicher Zweck der tragischen Veranstaltung: >>COSI Ia purgatione degli affetti e quel fine , alquale tutta si dirizza . Läuterung< der Leidenschaften ziehen . 29 Dem an der Aristotelischen Mesotes­ Lehre orientierten Ideal einer gemäßigten Leidenschaftlichkeit entspricht die Inter­ pretation des kathartischen Vorgangs als einer psychischen Abhärtung oder Gewöh­ nung. Diesen affektiven Ansatz vertritt mit großer Resonanz und mit Konsequenzen , die über die Theorie des barocken Trauerspiels im engen Sinne hinausgehen , vor al­ lem Daniel Heinsius ( 1580- 1665) . Demgegenüber zieht das von Platon übernommene Ideal der Leidenschaftslosigkeit eine Konzeption der Purgation durch die Tragödie nach sich , die direkt auf eine praktisch-moralische Besserung abzielt : Diese stoisch­ erbauende Version , die die Leidenschaften ganz tilgen will , ist wegweisend für Hars­ doerffer und andere Nürnberger Poetiker. Sie erlaubt die theoretische Rechtferti­ gung des Tugend- und Lasterspiels sowie der christlichen Märtyrertragödie . In beiden Konzeptionen freilich kommt der Schreckensszene gleichermaßen hervorragende ab­ schreckende Bedeutung zu . Heinsius sieht Ziel und Nutzen der Tragödie darin , daß die Affekte Mitleid (miseri­ cordia) und Schrecken (horror) gedämpft und auf ein rechtes Mittelmaß reduziert werden sollen , was der auf Francesco Robortellos ( 1 5 1 6- 1567) großen Kommentar der Poetik (1548) zurückgehenden Deutung des einschlägigen aristotelischen Geni­ tivs als eines Genitivus objectivus entspricht. Die beiden Leidenschaften sollen nicht ganz weggeschafft , sondern durch die Gewöhnung beim Anblick von Schreckensszegisch widersprochen (S. 61f. u. 258ff. ) und dezidiert die Form der Tragödie allein als Funktion ihres Wirkungszwecks bewertet (vgl . S. 63) . 28. Antonio Minturno: L 'arte poetica (1564) . Ndr. hg. v. Bernhard Fabian . München: Fink 197"1 ( = Poetiken des Cinquecento, 6) , S. 76. Eine knappe Übersicht der wichtigsten Katharsis­ deutungen in den Poetiken des Cinquecento bei Joel Elias Spingarn : A History of Literary Criti­ cism in the Renaissance. With a new Introduction by Bernhard Weinberg. New York , Burlin­ game 1963 (zuerst 1899), S. 47ff. Die heutige Meinung faßt Werner Söffing: Deskriptive und normative Bestimmungen in der >Poetik< des Aristoteles. Amsterdam: Grüner 1 98 1 , S. 57-65 , im Anschluß an Weil, Bernays , Dirlmeier, Schadewaldt und Flashar zusammen . 29. Zum Unterschied der konkurrierenden Konzepte Aristotelischer Metriopathie und Pla­ tonischer Apathie vgl . zusammenfassend Manfred Fuhrmanns Nachwort zu Aristoteles' Poetik (Anm . 16) , S. 160f. Der >>alte Streit über die Tilgung oder Mäßigung der Leidenschaften>Wer oft Jammervolles ansieht , den j ammert es , aber im richtigen Maß ; wer oft Schauderhaftes betrachtet, schaudert schließlich weniger, und so , wie es sich ziemt . [ . . . ] Solches aber wird im Theater auf­ geführt . « 30 Wie Heinsius' Erläuterungen zu dieser >>abstumpfenden Gewöhnung« 31 belegen , wird es irrelevant, ob zu ihrer Mäßigung die Schrecken fiktiv oder real sind : Der Zuschauer, der durch diese >>Schule der Affekte« 32 gegangen ist , verhält sich et­ wa wie ein Veteran verglichen mit dem Rekruten angesichts der Kriegsschrecken und -greuel . Die besondere künstlerische Form der Tragödie ist dieser Therapie äußerlich - entscheidend ist der Schrecken , dessen Häufung zum Wirkungsgrad seines temperierenden Nutzens in einem proportionalen Verhältnis steht . Daß dem Konzept von Heinsius Senecas und später des »teutschen Seneca« Lohensteins Schreckens- und Greueltragödie nahesteht, liegt auf der Hand . Je öfter und heftiger der Zuschauer er­ schreckt wird, desto eher wird er sich an den Schrecken gewöhnen - ein probates Mit­ tel , »Wie Schrecken zu verhüten« 33 , das von nun an aus der Theorie des Trauerspiels sich bis in die Anthropologie der Frühaufklärung ausbreiten wird . Selbstgewiß kann Heinsius daher feststellen , daß der platonische Angriff auf die aufregende Wirkung der Tragödie zurückgeschlagen ist : Die Tragödie fache die Affekte nicht an , wie Pla­ ton befürchtete , vielmehr stimme sie , wie Aristoteles urteilte , die Leidenschaften auf ein mittleres Maß herab . 34 Dem komplexen affektivischen Prozeß der abhärtenden Gewöhnung steht eine Konzeption gegenüber, in der auf direktem Wege der Zuschauer zur Tugend ge­ bracht werden soll . Die einflußreiche Bestimmung dieses Zweckes der Tragödie , die auf die Deutung des in Frage stehenden Genitivs als Genitivus separativus im Poetik­ Kommentar (1550) von Vincenzo Maggi (gest . um 1564) und B artolomeo Lombardi zurückgeht , findet sich bei Giovanni Antonio Viperano (gegen 1540- 1610) : Das Ziel der Tragödie sei es, Mitleid und Schrecken zu erregen, um den Zuschauer von Zorn , Wollust und dergleichen Gemütsbewegungen , die zu den dargestellten grausamen 30. Daniel Heinsius: De tragoediae constitutione liber. Lvgdvni Batavorvm 161 1 (verm . 1643 ) . Ndr. Hildesheim, New York: Olms 1976, S . 23 . Die Übersetzung folgt Kommereii (Anm. 27) , S. 272. Für den affekttemperierenden Nutzen der Tragödie nennt Heinsius - nach Komme­ reil - folgende Synonyme: >>purgatio , expiatio; perficere , temperare, componere ; deprimere quemadmodum oportet, in ordinem cogere . >quod affectuum burnanorum quaedam quasi est palaestra. >Aus der Schule der Affekte wird mithin zuallererst eine Schule der Furchtlosigkeit. >Ille tragoediam , flabeil um esse affectuum , hic vero , nor­ mam qua reduci ad mediocritatem possent, esse judicabat. Reinigung< nicht in Frage kommen : das wäre absurd . Vielmehr sollen den Zuschauern durch die Erregung von Mitleid und Schrecken diejenigen Lei­ denschaften wie Zorn oder Wollust u. ä. ausgetrieben werden , durch die die dramatis personae in der Tragödie in die schreckliche Katastrophe gerissen werden . Diese Auffassung macht sich auch die jesuitische Poetik von Pontanus zu eigen . Mit Vipera­ no übereinstimmend heißt es bei ihm , es sei Zweck der Tragödie , >>durch Mitleid und Schrecken die Seelen von diesen Leidenschaften zu befreien , von denen derartige tra­ gische Handlungen ihren Ausgang nehmen . « 36 Von hier ist es nicht mehr weit zur christlichen Umdeutung des kathartischen Vorgangs als der Ausmerzung der auf der Bühne dargestellten Laster und Sünden bzw . umgekehrt der Nacheiterung der dort ausgestellten Tugenden . 37 In den engen Grenzen eines Tugend- und Lasterspiels ist die Aufgabe der Tragödie auf die rhetorischen Zwecksetzungen von abschrecken ( de­ terre) und aneifern (incitare) vereinfacht. Diese Konsequenz zieht der Nürnberger Harsdoerffer in seinem Poetischen Trichter und rechtfertigt damit die Theaterpraxis der christlichen Märtyrertragödie : >>Das Trauerspiel sol gleichsam ein gerechter Rich­ ter seyn/ welches in dem Inhalt die Tugend belohnet/ und die Laster bestraffet [ . . . ] . Der Held/ welchen der Poet in dem Trauerspiel aufführet/ soll ein Exempel seyn aller voll-komenen Tugenden/ und von der Untreue seiner Freunde/ und Feinde betrübet werden ; jedoch dergestalt/ daß er sich in allen Begebenheiten großmütig erweise und den Schmertzen/ welche mit Seufftzen/ Erhebung der Stimm/ und vielen Klagworten hervorbricht/ mit Tapferkeit überwinde . « 3 8 Damit die leidende Tugend des geprüften Märtyrers , der >>Hermen und Mitleiden« erregt , desto heller leuchtet , muß als Kon­ trapost das Laster als ein abscheuliches Monstrum vorgeführt werden , das >>Erstau35 . Vgl . Giovanni Antonio Viperano: De poetica libri tres ( 1 579) . Ndr. hg. v. Bernhard Fabian. München : Fink 1967 ( = Poetiken des Cinquecento , 10), S. 93f: »Eius vero finis est mise­ ricordiam , vel terrorem exitando ab ira, cupiditate , & Similibus animi permotionibus , quae res atroces & scelestas producunt, spectatorum animos expurgare .>prodesse>delectare>Zur Tragödie gehörige Lust>Erstaunen« ist Erbe der Verwunderung (admiratio , ammirazione) , vgl . KommereHs (Anm. 27) , S. 276ff. , gelehrten Exkurs zur Unterscheidung von Be- und Ver­ wunderung seit der Renaissance . 40. Vgl . Schings , Consolatio, S . 33-42. 41 . Die >klassische< Formulierung des barocken Trauerspielkonzepts , >>Beständigkeit [ . . . ] durch beschawung der Mißligkeit des Menschlichen LebensHerodes der Kindermörder< (1645); zit. nach George (Anm . 1 ) , S. 106f. , hier S. 106. 44. KommereH (Anm . 27) , S . 100.

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dem Vorgang der Katharsis laut Aristoteles verbunden ist und auf die er im 1 3 . und 14. Kapitel seiner Poetik45 nochmals ausdrücklich zurückkommt . Zwar spricht etwa Harsdoerffer den dramatischen Gattungen überhaupt und der tragischen im besonde­ ren zu , daß ihre Endabsicht >>der Nutzen und das Belusten« ist . 46 Er muß jedoch hin­ sichtlich des Trauerspiels einschränkend feststellen : >>Solche Trauerhändel belustigen vor sich selbsten nicht/ sondern verursachen Erstaunen und Hermen . «47 Doch wird diese Einschränkung auf dem Hintergrund der Horazschen Doppelforderung nicht problematisch : Offenbar geht das >>Belusten« gänzlich im >>Nutzen« auf. Das erklärt , warum in den barocken Poetereien die Frage nach dem paradoxen Vergnügen an schrecklichen Ereignissen fast nie gestellt wird . Die einschlägigen Ausführungen, die Jacob Pontanus in fast wörtlichem Rückgriff auf Viperano 1594 niedergeschrieben hatte , sind im 17. Jahrhundert mit Ausnahme von Balthasar Kindermann ( 1 6361706) , der sie in seinem eklektisch zusammenfassenden Monumentalwerk Der Deut­ sche Poet ( 1664) übersetzte und ausschrieb , so gut wie nicht rezipiert worden . Schon in einem 1609 erschienen Auszug von Pontanus' lnstitutio poetica fällt der direkt an die Ausführungen zu Begriff und Definition der Tragödie anschließende , exkursarti­ ge Absatz über das Vergnügen , das sie zu erregen vermag , den Kürzungen des prote­ stantischen Herausgebers Johann Buchlerus (etwa zwischen 1570- 1640) zum Opfer, obwohl die diesbezügliche Kolumnenüberschrift nicht getilgt wurde . 48 Nachdem er Geschichte und Definition der Tragödie dargelegt hat , hält Pontanus , sich an Horaz' Forderung erinnernd, inne und fragt : >>Doch da die Tragödie voll trau­ riger Geschehen ist , scheint es verwunderlich , wie sie Vergnügen zu verschaffen ver­ mag , was sie doch auf jeden Fall erregen muß ; denn das Vergnügen ist der Zweck der Dichtung [ . . . ] . >delectare« jenseits des tragischen Wirkungskernes der Gattung anzusiedeln . Er schlägt vier nur lose mitein­ ander verbundene Begründungen des Vergnügens an schrecklichen Dingen vor , die Viperano 50 , dem Pontanus wiederum folgt , sozusagen im Strandgut als Rest aus dem >>Schiffbruche des Alterthums« (Pyra) gefunden hatte . Viperano freilich hatte die vier Erklärungsansätze für die heikle Frage nach der Lust an der Tragödie als alternative Antwortmöglichkeiten verstanden und sie daher als Vorschläge auch nur fragend an­ geführt . Pontanus dagegen gibt sie >>Punkt für Punkt als erschöpfende und unproble45 . Aristoteles , Poetik (Anm . 16) , S. 41 u. 43 , (1453a35 ; 1453b12ff. ) . 46. G. P. Harsdoerfer, Klaj-Kommentar (Anm . 43) , S. 106. Vgl. Harsdoerffer, Poetische Trichters zweyter Theil (Anm. 13) , S. 72 47 . Harsdoerffer, Klaj-Kommentar (Anm. 43) , S. 106. 48. lnstitutio poetica, ex R. P. lacobi Pontani e Soc. lesv potissimvm libris concinnata. [ . . . ] Opera M. Ioannis Bvchleri a Gladbach . [ . . . ] Colonia : Bernardus Gualtherus 1609 , Cap. XXX (>De tragoedia. Notatio , et definitio tragoedia : item qui fiat ut delectatklassischen< Erklärun­ gen des Vergnügens an schrecklichen Dingen avanciert sind , dient der Rückbezug auf 55 . M. Tullius Cicero : Epistulae ad familiares libri XVI, V. 12. In: ders . : The letters to his friends, 3 Vols. Cambridge , London 1 958 ( = The Loeb Classical Library) , Bd. I, S. 364ff. , hier S. 370ff. Vgl . Cic. Ad Att. II. 7.4 u. Cic. De fin. II. 32. 105 . 56. T. Lucretius Carus: Ober die Natur der Dinge, lateinisch und deutsch v. Josef Martin. Ber­ lin: Akademie Vlg 1972, 11. 1-4, S. 96. Die klassisch gewordene Übersetzung lautet: >>Süß ist's, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde I Auf hochwogendem Meer vom fernen Ufer zu schauen; I Nicht als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen , I Sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist . « T. Lucretius Carus: Von der Natur der Dinge, deutsch von Karl Ludwig v. Knebel, 2. Aufl . Leipzig 1831 [zuerst 182 1 ] . Frankfurt/M . , Hamburg: Fischer Bücherei 1960 ( = Exempla classica, 4) , S. 47 , II, Verse 1-4. Da Ciceros Brief an Lucceius vom April oder Mai 56 v. Chr. datiert, seine Lukrezkenntnisse aber aus einem Brief an den Bruder Quintus , 11. 1 1 ,5 (Anm . 55) , Bd. 111, S. 5 1 6ff. , erst für den Februar 54 v. Chr. sicher nachgewie­ sen werden können, muß eine etwaige Abhängigkeit offen bleiben . Zu Lukrez' Metapher vgl . Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/ M . : Suhrkamp 1979 ( = stw , 289) , bes. S. 28ff. Zur Rezeption der Lukrezschen Verse seit der Renaissance vgl . Baxter Hathaway: The Lucretian »Return upon ourselves« in Eighteenth-Cen­ tury Theory of Tragedy. In: PMLA, LXII (1947) , S. 672-689, bes . S. 673f. ; Hathaway (Anm . 19) , S. 25 1ff. hebt besonders die zu Lebzeiten unbeachtet gebliebene Vorlesung von Lorenzo Giacomini Sopra Ia purgazione della tragedia (1586) hervor, in der der Florentiner zur Erklärung des Vergnügens an der Tragödie neben der kunstvollen Nachahmung das >>Lucretian principle« (S. 257) , den Genuß am Mitleiden und die Freude an der Tugendlehre anführt. Vgl . Weinberg (Anm . 50) , Vol . I, S. 626ff.

Schrecken in der Theorie des barocken Trauerspiels

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Cicero - etwa bei Breitinger - als Hilfsbeleg des >Lukrezschen Prinzips< , gleichzeitig aber auch aufgrund des genuin literarischen Charakters zu dessen Entschärfung . Der dritte Grund knüpft zwar an das wirkungspoetische Zentrum der Tragödien­ definition des Aristoteles an , deutet aber das Mitleid im Sinne christlicher Ethik um: >>Etwas Süßes ist auch das Gefühl des Mitleids, und die Natur hat es uns eingepflanzt [ . . . ] « . Gegen etwaige Einsprüche aus der platonisch-augustinischen Tradition , in der die vermischte Empfindung der Algophilie im allgemeinen und der süße Schmerz des Mitleids im besonderen als pathologisch 57 oder als sündig58 verurteilt wurden , sorgt Pontanus vor, indem er sich beeilt , hinzuzufügen : >>[ . . . ] was aber von der Natur kommt, ist auch angenehm . « Mit dem vierten und letzten Grund kehrt Pontanus nochmals zum vierten Kapitel der Poetik bzw . zum elften Kapitel des ersten Buchs der Rhetorik zurück , wo - wie er­ wähnt - die Lust an der Nachahmung aus der menschlichen Begierde zu lernen herge­ leitet wurde. Da Pontanus mit Viperano den Zweck der Tragödie moralistisch aufge­ faßt hatte , liegt es nahe , das Horazsche >>prodesse« nun mit dem >>delectare« kurzzu­ schließen: >>Weiterhin werden wir in der Tragödie belehrt und ermahnt , was wir als Ursache von Leid und Mißgeschick zu meiden haben . Belehrung aber erzeugt Freu­ de . « Mit dieser lakonischen Wendung erklärt Pontanus freilich seinen Exkurs für überflüssig. Der Kurzschluß belehrt darüber , warum in den Poetiken des 17. Jahrhunderts das Vergnügen am Trauerspiel nicht als problematisch erachtet wurde . Mit der Verteidi­ gung der Dichtkunst und dem Erweis der >>herrlichen Nutzbarkeiten« ( Opitz ) beson­ ders des Trauerspiels gilt die doppelte Horazsche Forderung auch schon als erfüllt . Die Frage nach dem Grund des Vergnügens an schrecklichen oder tragischen Gegen­ ständen erübrigt sich daher. Sie stellt sich erst, als der spezifische Nutzen der Vanitas­ Didaxe , der das barocke Trauerspiel definiert , brüchig wird . Erst zu einem Zeit­ punkt, da die geschichtlichen Erfahrungen , aus denen es entsprang , vergessen und die Generationen traumatisierenden Schrecken der Bürger- und Religionskriege ver­ blaßt sind , kann das ästhetische Phänomen des > angenehmen Schreckens< entstehen , das nun nach Erklärung verlangt . Das ist in der Frühaufklärung der Fall, in der hierzu auf die antiken Ansätze zurückgegriffen wird , die auch Viperano und Pontanus zu­ sammengesucht hatten. Sie sollen daher in der Zusammenfassung, die Der Deutsche 57. Vgl . Platon: Philebos. In: ders . : Spätdialoge, Bd. l i : Philebos, Parmenides, Timaios, Kri­ tias. Eingeleitet v. Olof Gigon , übertragen v. Rudolf Rufen er. Zürich , Stuttgart: Artemis 1 969, S. 68f. [47e-48a] . Der Hinweis auf Platons Ausführungen zu den gemischten Empfindungen im Philebos erscheint im Zusammenhang des Paradoxes der tragischen Lust zuerst im Kommentar von Maggi/Lombardi (Anm . 35) , S. 1 12. Vgl. Robert Petsch : Die Lehre von den gemischten Gefühlen im Altertum. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur undfür Pädagogik, Abt. I, 33 (1914) , S. 377-389. 58. Vgl. Augustinus: Confessiones - Bekenntnisse, lateinisch und deutsch. München : Kösel (2) 1960, III 2,2-2,4 u. X 35 ,54-35 ,56, S. 98ff. u. S. 572f. Vgl . Jacob Bernays: Grundzüge der ver­ lorenen Abhandlung des A ristoteles über die Wirkung der Tragödie (zuerst 1857) . In: ders . : Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Dramas (1880) . Ndr. Darmstadt: Wiss. Buch­ ges. 1968 , S. 1 - 1 1 8 , hier >>Augustinus über Tragödie«, S. 1 15ff.

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Poet von Balthasar Kindermann im knappen Paragraphen über die >>Tragedie« bietet , wiederholt werden : >>Wir gestehen zwar gar gerne/ daß die Verrichtungen eines Poe­ ten alle dahin zielen sollen/ daß sie so wol lehren als ergetzen mögen ; Aber daß auch die Tragedien eben dieses in dem Gemüthern der Zuhörer ausüben können/ wird von manchen gezweifelt angesehen sonderlich/ dieselben nur mit erschrecklichen und traurigen Sachen umgehen/ und also durch Vorstellung solcher/ wenig ergetzlichkeit in uns erwecken dürfften . Doch antworten wir hierauf( gar kürtzlich/ daß Erstlicht uns nicht die traurige geschichte an ihr selbst/ sondern derselben Nachahmung zum höch­ sten köiie belustigen/ gleich wie uns auch die allerschändlichsten Dinge/ dafern sie mit schönen und lebendigen Farben auff das künstlichste vorgesteilet werden/ zur Freude bewegen können/ wegen der grossen Kunst und Gleichheit des Bildes/ wie Plutarchus hiervon schreibet . Darnach weil wir uns auch darum erfreuen/ daß wir ausser Gefahr derjenigen Dinge uns befinden/ welche so vielen Augen vorgesteilet werden. Drittens/ weil es uns von der Natur eingepflanzet ist/ barmhertzig und eines hertzliehen Mitlei­ dens zu seyn/ so kan auch hiervon die Lust und Ergetzlichkeit nicht ausgeschlossen werden . Und endlich weil wir gar scheinbarlieh mercken/ daß wir/ bey dergleichen Vorstellungen/ treflich zu unseren Nutz erbauet und unterrichtet werde . >delecta­ re>prodesseLukrezsche Prinzip< ein besonderes Vergnügen auch an der tragischen Gattung ausgewiesen , das freilich aber doch wieder in den übergeordneten Aspekt der Tu­ gendlehre einmündet . Damit sind diejenigen Anknüpfungspunkte aus der Antike be­ nannt , derer sich auch die Aufklärer im 1 8 . Jahrhundert bedienen werden , um das pa­ radoxe Phänomen des >angenehmen Grauens< zu erklären .

59. Balthasar Kindermann : Der Deutsche Poet [ . . . ] . Wittenberg: Friedrich Wilhelm Fincelius 1664 (Ndr. Hildesheim, New York: Olms 1973 ) , S. 240f. Sein Lehrer August Buchner: Poet [ . . ] hg. v. Otto Prätorius. Wittenberg 1 665 (Ndr. hg. v. Marian Szyrocki. Tübingen: Max Niemeyer 1966 (= Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock, 5)), S. 34f. , hatte in diesem Zusammenhang lediglich im Sinne Plutarchs die »gnugsame Ergetzlichkeit« durch die Nachahmung hervorgeho­ ben . .

Schrecken in der Theorie des barocken Trauerspiels

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Ein anderes Problem ist das Vergnügen der heutigen wissenschaftlichen Interpre­ ten an den nützlichen Schreckensszenen des barocken Trauerspiels und überhaupt an der Darstellung des Schrecklichen in der Kunst des 1 7 . Jahrhunderts . Oftmals wird der Verdacht geäußert , daß neben der abschreckenden Wirkung der Schreckensbil­ der , die die Poetiken als deren Zweck behaupten, eine eigentliche Faszination bzw . Lust am dargestellten Schrecken selbst zum Ausdruck komme : >>In anatomischer Sektion werden , mit unverkennbarer Freude an der Grausamkeit, die einzelnen Kör­ perteile aufgezählt . « 60 So wird die Vorliebe Senecas , im Botenbericht mit minutiöser Genauigkeit die Glieder des Körpers in ihre Elemente zu zerlegen , zerfleischen und zu zerfasern , von Paul Stachel kommentiert , aus dessen >>höchst verdienstliche[m]« 61 Werk Benjamin im Zusammenhang seiner Frage nach der Bewandtnis barocker >>Greueldramatik« zustimmend zitiert . 62 Angesichts der Darstellung grausamster La­ ster in den Trauerspielen Lohensteins wurde festgestellt, daß neben der abschrecken­ den Absicht >>ohne Zweifel eine Faszination an ihnen« bestünde63 - ein Verdacht, der dahingehend ausgeweitet worden ist , daß hinter der Begründung der Darstellung des Häßlichen , Schrecklichen und Abscheulichen etwa mit dem Verweis auf die geschick­ te künstlerische Gestaltung, sich >>ein Gefallen an der Sache selbst verbirgt« . 64 Ganz ähnlich gelagerte Vermutungen , die auch für die schrecklichen Wortspiele marinisti­ scher Concetti (s. u. S. 209) gelten dürften , sprechen Kunsthistoriker bezüglich der bevorzugten Darstellung des Martyriums im Manierismus aus : Spricht die Ansamm­ lung all der gemarterten Jungfrauen , der gehängten und verbrannten Märtyrer nicht dafür, daß unter dem Vorwand besonderer Religiösität einem bewußten Sadismus gefrönt wurde65 und liegt bei der Darstellung des Bösen nicht >>immer der Verdacht nahe« , daß es fasziniert und daher gefeiert werden soll , mag auch der Zweck ab­ schreckender Wirkung vorgegeben sein? 66 Solche Gedanken verharren im Reich der Spekulation , weil sie sich eher psycholo­ gisierender Einfühlung als philologischem Indizienbeweis verdanken. Sie bleiben da­ her hier außer Betracht . Die Barockpoetiken geben keine Auskunft darüber, ob die intendierte Wirkung der Abschreckung durch eine Faszination am Schrecken unter­ laufen wird . Tatsächlich läßt sich dafür erst im 1 8 . Jahrhundert ein erster Anhalts­ punkt bei Ludewig Friedrich Hudemann (1703-1770) nachweisen , der zur Verteidi­ gung der von Johann Christoph Gottsched geschmähten Oper den Verdacht aus60. Paul Stachel : Seneca und das deutsche Renaissancedrama. Studien zur Literatur- und Stilgeschichte des 16. und 1 7. Jahrhunderts. Berlin: Mayer u. Müller 1907, S. 25. 61. Benjamin (Anm . 1 ) , S. 231 . 62. Ebd . , S. 392. 63. Rotermund (Anm . 29) , S. 262, vgl . S. 264. 64. Diskussionsbeitrag von Herbert Dieckmann . In: Jauß (Hg . ) : Die nicht mehr schönen Künste (Anm . 29) , >Sechste Diskussion: Außerästhetische Elemente in der Barockdichtung< , S . 619-627 , hier S. 622. 65. Jacques Bousquet: La Peinlure Manieriste. Neuchätel: Editions ldes et Calendes 1964, S. 212. 66. Anke Wiegand : Die Schönheit und das Böse. München , Salzburg: Pustet 1967 , S . 26. Die Verallgemeinerung stützt sich auf Bousquets (Anm . 65) Vermutung.

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spricht, daß sich >>in dem Vergnügen , welches die Zuschauer tragischer Spiele emp­ finden , die Spuren einer verborgenen Grausamkeitverum ubi ve­ menti [ !] magis est commota metu mens , I [ . . . ]«) dem sog. > Hochzeitslied< der Sappho folgt , in dem das numinose Erschrecken des Mädchens vor der schönen Erscheinung ihres Geliebten gestaltet ist . 2 Im Moment des Schreckens sind Körper und Geist zu­ gleich ergriffen , die Wahrnehmung stockt und der Leib gehorcht dem Willen nicht mehr: Der ganze Mensch ist überwältigt . Im folgenden sollen einige Definitionen des Schreckens vorgestellt und untersucht werden . Methodisch erscheint es mir dabei wenig sinnvoll , herausbekommen zu wol­ len , was der Schrecken >eigentlich< ist . Vielmehr hat es sich als sinnvoll herausgestellt zu fragen , in welchem konzeptionellen Rahmen und mit welchen Zielen jeweils vom Schrecken die Rede war. Der Schrecken soll beherrschbar werden . Dabei wird sich zeigen , daß ein Konzept des >fürchterlichen Schreckens< aufgrund seiner Funktionali­ sierbarkeit für pädagogische , juristische kurz: aufklärerische Zwecke im 18. Jahrhun­ dert gegenüber einem des >plötzlichen Schreckens< die Oberhand gewonnen hat . 1 . T. Lucretius Carus: Von der Natur der Dinge, deutsch von Kar! Ludwig v. Knebel, 2. Auf! . Leipzig 1831 [zuerst 182 1 ] . Frankfurt/M. , Hamburg: Fischer Bücherei 1960 ( = Exempla clas­ sica, 4) , S. 89 , 111 , Verse 152ff. ; vgl . T. Lucretius Carus: Ober die Natur der Dinge, lateinisch und deutsch v. Josef Martin . Berlin : Akademie Vlg. 1972, S. 170f. 2. Vgl . T. Lucretius Carus: De rerum natura libri sex, ed. by Cyril Bailey. 3 Vols. Oxford: Cla­ rendon Press 1947 , Vol. II, S. 1014, Komm . zu Verse 154- 156. Vgl . Sappho. Griechisch u . deutsch h g . v. Max Treu . München: Heimeram (2) 1958, S . 24f. ; Wolfgang Schadewaldt: Sap­ pho. Welt und Dichtung, Dasein in der Liebe . Potsdam: Stichnote 1950, S. 98-1 12, bes . S. 102ff. Zum Fortleben des Topos' >Schrecken der Schönheit< in der Dichtung des ausgehenden italieni­ schen Mittelalters und der Renaissance vgl . Hugo Friedrich : Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt/M . : Klostermann 1964, bes. S. 73-75 (Cavalcanti) , S. 87, 1 14 u. 132ff. (Dante), S. 259 (Petrarca) , S. 299 (Lorenzo de' Medici) u. S. 390 (Michelangelo) .

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Im Zeitalter der Aufklärung hatte sich zwar die Lukrezsche Beschreibung der körper­ lichen und physiognomischen Schreckreaktion zu einem Topos verfestigt , über Wer­ tung und Einordnung dieses psychisch-physischen Gesamterlebnisses herrschte in der Affektenlehre und Anthropologie des 1 8 . Jahrhunderts jedoch Uneinigkeit . Erhöhte Tätigkeit des Kreislaufs , Lähmung der Glieder und Stocken der Wahrnehmung, ein Schwinden der Sinne bis zur Ohnmacht - das sind auch jetzt die äußeren Kennzeichen des Schreckens : >>Es verursachet das Schrecken am menschlichen Leibe grosse Ver­ änderung. Denn der Mensch wird im Gesichte blaß , in den Händen kalt , der Puls fängt an schwach zu schlagen , man erstarret oft , daß man gleichsam ohne Empfin­ dung da stehet . Das Hertz fängt an starck zu klopffen. Einige sperren das Maul auf, fallen auch zur Erden nieder, lassen die Hände sincken . « 3 So faßt Zedlers Grosses Universallexicon 1743 die gängigen Beobachtungen über die Schreckensreaktion zu­ sammen . Doch dokumentieren die weiteren Ausführungen zum Stichwort >>Schrek­ ken« gleichzeitig , daß es zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich der Bewertung der Phäno­ mene keine Communis opinio mehr gibt . Die Definitionen des Schreckens innerhalb des Systems einer Affektenlehre gehen in der Frühaufklärung auseinander. Im Zedler wird das Stichwort gleich mit zwei konkurrierenden Bestimmungen eröffnet , die auf jeweils ganz unterschiedliche Schreckenskonzepte verweisen : >>Schrecken , Lat . >Terror< , ist eine geschwinde Bewegung der Sinnen und des Leibes , über eine unvermuthete Begebenheit . >Schrecken>das Schröcken« , >>das Schrecken« , >>der Schrecken« , >>der Schreck>das Schröcken>Schiefeln­ Seele« . Bearbeitet v. Moriz Heyne u. a. Leipzig: Hirzel 1899 , s. v. >>Schreck, m . , Schrecken , m . n . « , S p . 1659ff. , (hier S p . 1660) , angeführten Belege aus den Sturm-und-Drang-Werken Goe­ thes und Schillers sind in stilistischer Hinsicht schon bewußt anachronistisch. >>Das Schrecken« ist ebenfalls eine ältere Form, von der es 1899 heißt , sie sei >>heute ungebräuchlich« (ebd . ) . Nach Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart mit besonderer Vergleichung der übrigen Mundarten. Bd. IV: >>Sche-V>Der Schrecken>im Oberdeutschen am gangbarsten , kommt in Luthers Teutschen Bibel am häufigsten vor, und wird auch von manchen hochdeutschen Schriftstellern in der höhern Schreibart gebraucht. [ . . . ] Indessen ist in der gewöhnlichen Sprechart das männliche Geschlecht das gang­ barste [ . . . ] . « >>Der Schreck« ist die jüngste Form , noch Adelung gilt sie 1780 als »unrichtigWas das Schrecken ist« 6 • Mit dem Zitat der Wolffschen Definition setzt Zedler , Walch fol­ gend , den Artikel >>Schrecken« nun fort : >>[ . ] eine plötzliche Traurigkeit im hohen Grade über einem unvermutheten Unglück wird das Schrecken genennet« . 1 In den weiteren Ausführungen im Zedler werden die konkurrierenden Schreckens­ konzeptionen von Walch und Wolff gegenübergestellt : Einig sind sich beide Philoso­ phen lediglich in der formalen Bestimmung, daß der Schrecken einen unerwarteten Überfall auf den Menschen beinhaltet. Diese Definition hatte Walch im § 444 von Wolffs >Deutscher Metaphysik< gefunden , in dem der Schrecken als Exempel für die Verknüpfung der Gemütsbewegungen mit den vielfältigen Veränderungen der Kör­ perbeschaffenheit, besonders des Kreislaufs und des Nervensystems herangezogen wird . 8 Aber welches menschliche Vermögen da heimgesucht wird und wovon - darin scheiden sich die Geister . Walch führt gegen Wolff, mit dem der Jenaer Theologieprofessor und Buddeus­ Schüler übrigens auch in Fragen der Offenbarung und des Gottesbeweises uneins war, nun an , daß dessen Bestimmung >>wider die Erfahrung« 9 streite . Im Unterschied nämlich zur Furcht sei der Schrecken nicht in allen Fällen mit einem Unglück und der daraus resultierenden >>Traurigkeit« verbunden . Für die Definition des Schreckens sei vielmehr einzig der Modus der Plötzlichkeit entscheidend: >>Man erschrickt viel­ mahls , ohne eine Traurigkeit zu haben, z. e. wenn ein gählinger Schuß , oder ein Blitz oder ein Donner geschiehet . « 1 0 Von diesem empirischen Beleg schreitet Walch zur grundsätzlichen Unterscheidung des Schreckens von der Furcht fort : >>Die Traurig­ keit ist eine Gemüths-Bewegung, welche von Gedancken entstehet ; das Schrecken aber entstehet nicht von Gedancken , welches abermahls die Erfahrung bezeuget. Wir unterscheiden das Schrecken billig von der Furcht. Denn die Furcht ist ein Affect , der durch eine Vorstellung erreget wird , und also von Gedancken herrühret , daß man über ein bevorstehendes Unglück bekümmert ist ; das Schrecken hingegen betrifft nicht das Gemüth ; sondern den Leib , und obwohl allezeit dabey eine Empfindung ge­ schehen muß ; so braucht es doch keine Gedancke und Vorstellung . « 1 1 War bei Lu­ krez der Schrecken als ein psychisch-physisches Gesamterlebnis aufgefaßt worden , so wird er in Walchs Definition im Sinne des Leib-Seele-Dualismus als Antwort des Kör.

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6. Chr. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik] . 1 1 . Auf! . . Halle: Renger 1751 [zuerst 1720] (Ndr. mit einer Ein!. u. einem krit. Apparat v. Charles A. Corr. Hildesheim, Zürich , New York: Olms 1983) , Marginalglosse zu § 479, S . 291 . 7 . Zedler, Grosses Universai= Lexicon (Anm . 3) , Sp. 1 1 1 1 ; vgl . Walch , Philosophisches Lexicon (Anm . 5), Sp. 2240; Wolf, Deutsche Metaphysik (Anm. 6) , § 479, S. 291 . 8. Wolff, Deutsche Metaphysik (Anm . 6) , § 444 (>>Was die Affecten im Leibe verursa­ chen . unvermuthete Begebenheit« bestimmt . Noch deutlicher faßt Walch seine Gedanken unter dem Stichwort >>Furcht>Es muß die Furcht von Schrecken unterschieden werden . Denn Schrecken ist eine Bewegung der Sinne und des Leibes, dabey die Gedancken nichts zu thun haben , als wenn man über einen jählingen Blitz , oder Donner= Schlag erschrickt . Deutschen Metaphysik< über den Begriff der >>Traurigkeit>eine empfindliche UnlustUnglücks< im Vordergrund der sich steigernden Bestimmungen : >>Die Unlust über dem vorstehen­ den Unglücke oder der vermeinten Gefahr, wird die Furcht genennet . [ . . . ] Da eine empfindliche Unlust Traurigkeit machet ( § 448 . ) ; so kan die Furcht auch zu einer Traurigkeit werden [ . . . ] . Ein hoher Grad der Traurigkeit über dem vorstehenden Un­ glück heisset Verzweifelung. [ . . . ] Eine plötzliche Traurigkeit in hohem Grade über ei­ nem unvermutheten Unglücke wird das Schrecken genennet . >Bestürtzung>nur eine Traurigkeit und endlich eine Unlust oder Mißvergnügen übrig>Wider das Schrecken lassen sich nicht viel Mittel brauchen . >Denn wenn man sich gleich sol­ che Begebenheiten vorher vorstellen will , welche ein Schrecken verursachen, so hilfft doch dieses nichts. Man erschrickt auch über eine solche Begebenheit nicht deswe­ gen , weil sie einem schade ; sondern weil sie sich plötzlich und unvermuthet zu­ trägt . plötzlichen Schreckens< zu ziehen ist . 12. Walch , Philosophisches Lexicon (Anm . 5) , s. v. >>Furcht>Was Furcht ist«) , S . 290, § 477 (>>Was Verzweifelung ist« ) , S. 290, § 479 (>>Was das Schrecken ist, und insonderheit BestürtzungDeutschen Ethik< . Darin heißt es , wieder im Anschluß an analoge Ausführun­ gen zu Furcht und Verzweiflung , vom Schrecken : >>Unvermuthetes Unglück machet Schrecken (§ 479 . Met . ) . Wer demnach Schrecken verhüten will , muß sich allerhand Unglücks = Fälle , die ihm begegnen können , vorstellen , und , wie es nicht in seiner Gewalt sey sie zu vermeiden , öfters überlegen: auch bey Zeiten bedencken , wie er sich darein zu schicken hat . Denn wenn kommet, was er besorget , so fället ihm ein , was er davon für Gedancken geführet ( § . 238 . 249 . Met . ) , und solebergestalt kommet der Unfall nicht wieder sein Vermuthen . « 17 Wolffs Rezeptur >>Wie Schrecken zu ver­ hüten« 18 entspricht in nuce der grundlegenden Abschreckungsmechanik, mit der auch in der Poetik der Frühaufklärung üblicherweise der Nutzen des Trauerspiels in Anlehnung an die einschlägigen Ausführungen zu Affektdämpfung und Vanitas-Di­ daxe im Barock legitimiert wird . Der Wolffianer Gottsched übernimmt die Konzep­ tion des >fürchterlichen Schreckens< , um mit ihr die Kunst der Affektbeherrschung im allgemeinen und - im Rahmen seiner Katharsisdeutung - die Gewöhnung an die klei­ nen Schrecken des bürgerlichen Alltags im besonderen zu lehren (s. u. S . 37 u . 42) . Ein weiteres Beispiel , wie der Affekt des Schreckens für nützliche Zwecke funktiona­ lisiert werden kann , wird im Zedler im Anschluß an den bisher besprochenen Artikel unter einer Sonderbedeutung des Stichworts verzeichnet . Im juridischen Sinne ver­ steht man nämlich in der ersten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts unter >>Schrecken« 19 auch die Androhung der Folter zum Zwecke der Geständniserpressung. Ist die Tortur eine Marter des Leibes , so handelt es sich bei diesem kalkulierten juridischen Schrecken um eine Folter der Einbildungskraft . Dem >>halsstarrigen und verstockten Inquisiten« , der, obwohl >>Zur Gnüge überfüh­ ret« , die >>klare und lautere Wahrheit« nicht bekennen will , wird mit der Tortur ge­ droht. Das kann auf zweierlei Weise durch Worte oder Taten geschehen : Bei der >>wörtliche[n] Schreckung« werden dem Nichtgeständigen die Folterwerkzeuge ge­ zeigt und in ihrer Wirkung beschrieben . Bei der >>thätliche[n] Schreckung« hingegen geht der Scharfrichter einen Schritt weiter und läßt es >>bey denen blossen Minen und Geberden nicht bewenden«, sondern der Angeklagte wird nun tatsächlich entkleidet,

auf die Folter gespannt und >>die Schnüre , Da um= und Bein =Schrauben« werden an­ gelegt , jedoch noch nicht zugeschnürt und zugeschraubt . Im Unterschied zur wörtli­ chen kommt die tätliche Schreckung der eigentlichen Folter schon näher, doch ist auch sie >>mit der Tortur selbst nicht zu vermengen« . Der Sinn des juridischen Schrek17. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beför­ derung ihrer Glückseeligkeit [deutsche Ethik] . 4. verm. Auf! . Franckfurt , Leipzig 1733 [zuerst 1720] (Ndr. mit einer Ein! . v. Hans Werner Arndt. Hildesheim, New York : Olms 1976) , § 423 , S . 286-87, hier S . 286. 18. Ebd . , Marginalglosse zu § 423 , hier S. 286. 19. Zedler, Grosses Universai= Lexicon (Anm . 3 ) , s. v. >>Schrecken , Schreck , Schreckung, oder Schröck , Schröcken , Schröckung, Territion>Wenn nun gleich diese blasse Schreckung, weil sie den Leib nicht peiniget, eigentlich keine Tortur ist ; so hat sie doch zum öfftern mit der Tortur selbst gleiche Würckung , und bringet jezuweilen eben so wohl die Wahrheit heraus [ . . . ] . « 20 Der Schrecken wird berechnet : Er soll das Fürchten lehren . Es wird sich herausstellen , daß das Kalkül des imaginierten Schrek­ kens zu einer entscheidenden Stütze der präventiven Strafbegründung der natur­ rechtlich orientierten Reformjuristen in der zweiten Hälfte des Aufgeklärten Jahr­ hunderts wird . Zurück zu der Konkurrenz der beiden Schreckenskonzeptionen. Sie ist nicht auf die deutsche Philosophie der Frühaufklärung beschränkt. Der Engländer Isaac Watts ( 1 674- 1748) unterscheidet in seiner sehr erfolgreichen Affektenlehre The doctrine of the passions explain' d and improv' d: or, A briefand comprehensive scheme of the na­ tural affections of mankind21 (1729) in ähnlicher Weise zwei Arten des Schreckens, die sich den Bestimmungen von Walch und Wolff jeweils zuordnen lassen. Nicht eigentlich zu den Gemütsbewegungen (>>passions«) zählt Watts >>plötzlich entstehende natürliche Verabscheuungen 22 , die spontan in dem Augenblick entste­ hen , in dem wir etwa einer Kröte , Maus oder Spinne und dergleichen ansichtig wer­ den , weil diesem nur körperlichen Reflex alle kognitive Dimension fehlt . Doch muß dieser >>natürliche und angeborne Widerwille [ . . . ] , welcher in dem Fleische und B lute oder bloß animalischen Theile des Menschen seinen Sitz zu haben und demselben ein­ gepflanzt zu seyn scheinet« 23 deswegen hier erwähnt werden , weil Watts in diesem Kontext gerade jene Beispiele anbringt , die Walch gegen Wolffs Schreckenskonzept ins Felde geführt hatte : >>Wohin man auch die schnellen und heftigen Bestrebungen der Natur rechnen könnte , plötzliche, unvermuthete und fürchterliche Erscheinun­ gen und Veränderungen in der Körperwelt , als Donner, Blitz und dergleichen , bey dem ersten Anblicke oder bey der geringsten Vermerkung derselben , zu vermei­ den . >Passiones>pertubationes animi« , >>affectus«; >>Leidenschaf­ ten« , >>Gemüths=Bewegungen«; auch >>Gemüths = Neigungen« oder >>Begierden>Affect« , Sp. 49ff. Gleiches gilt für »passion« (engl . ) und »passionAffekte< als zeitlich begrenzte und >Lei­ denschaften< als habitualisierte Empfindungszustände führt erst Kant ein. 22. Watts , Lehre von den Gemüthsbewegungen (Anm . 2 1 ) , S. 80. 23 . Ebd . , S. 79. 24. Ebd . , S. 80.

Konkurrierende Schreckenskonzepte im 18. Jahrhundert

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Von dieser bloß körperlichen Reaktion wird die Furcht als eine unangenehme Ge­ mütsbewegung bei der Vorstellung seines bevorstehenden Übels unterschieden . Die heftigste Ausdrucksform der Furcht sind der Schrecken und das Grauen: »Wenn die Furcht mit dem Entsetzen vergesellschaftet ist , oder plötzlich zu einem heftigen Gra­ de anwächst: so gibt man ihr den Namen Schrecken oder Bestürzung. Der höchste Grad der, zugleich mit A bscheu vereinigten , Furcht wird Grauen, Graus, oder Grau­ sen , auch Schauder oder Schauer genannt . « 25 Auch die körperlichen Reaktionen und geistigen Veränderungen , die seit Lukrez unter dem Topos des Schreckens zusam­ mengebracht werden , sind bei Watts mit dem Namen der Furcht verbunden : »Die Furcht verräth sich durch die B leiche der Wangen, durchs Erstarren des Blutes und der Lebensgeister, durchs Zittern der Glieder , durch Verwirrung des Gemüths und der Gedanken , durch eine merkliche Angst und Bangigkeit , durch ein Klopfen des Herzens und durchs Hinsinken in Ohnmacht. Mancher ist gar vor Furcht gestorben . Zuweilen ermuntert und beweget die Furcht alle unsere Kräfte , durch eine schnelle Flucht, oder auf eine andere Art , dem herannahenden Uebel zu entgehen . Ein plötz­ liches Schrecken hat , in dieser Absicht, öfters fast unglaubliche Wirkungen gehabt . Schrecken. Entsetzen. Grausen. >Furcht Scheu. A ngst. >gewöhnlich wird schreck, m. und schrecken , m. n. [ . . . ] bezogen auf plötzliche gemütserschütterung, wie sie eine unerwar­ tete gefahr hervorruft, seltener auch allgemeiner auf Überraschung, plötzliche freude . >ist ein heftiger Stoß auf die B rust , Arme und Knie , der einmal in der Minute fünf und zwanzig Pulsschläge mehr als gewöhnlich verursachte , und in ei­ nem andern Falle den Pulsschlag zwanzig Jahre lang heftiger machte , als er vorher ging . Wir fahren zusammen, wenn uns plötzlich etwas erschreckt , und vielen , beson­ ders schwächlichen Personen , sinken die Knie ein . « 31 Die Furcht ist freilich oft »die gewöhnliche Begleiterin des Schreckens« und die betroffenen Menschen »Stehen ge­ meiniglich wie versteinert , können nichts sagen noch thun , und wissen nicht, ob sie fliehen oder bleiben sollen . Entsetzen drückt eine gänzliche Beraubung aller Sinne aus , und ist eine so heftige Gemüthsbewegung, daß sie alle Bewegungen im Körper hemmt , und alle Vorstellungen der Seele verdunkelt . Es ist aus der Plötzlich­ keit der Gemüthsbewegung und aus der Größe des Übels zusammengesetzt , und eine ganz reine unangenehme Gemüthsbewegung . >Entsetzen ist eine heftige Gemüthsbewe­ gung, die aus dem plötzlichen Anblick eines großen Übels entstehet , und ist der höch­ ste Grad des Erschrekkens . >Grauen und Grausen>Grausen ist der höchste Grad des sinnlichen Abscheues , bei welchem eine Menge verworrener Vorstellungen von Uebeln mitwirken.Policey­ wissenschaft< belegen. Sie datieren alle aus dem Jahre 1798 . In Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht heißt es knapp : >>Der Schreck ist die plötzlich erregte Furcht, welche das Gemüt außer Fassung bringt . >Bangigkeit , Angst , Grauen und Entsetzen sind Grade der Furcht, d. i. des Abscheues vor Gefahr. >das bange Voraussehen eines sich annähernden Übels« , der zweite >>das unerwartete Ge­ wahrwerden gegenwärtigen Leidens« und der dritte >>die Teilnahme am dauernden oder vergangenen [Leiden]>Leidenschaften>durch Anschauen jäher Straff-Fälle von den Lastern abzuschrek­ ken« . Damit dieser Zweck erreicht wird , ist es nur konsequent , wenn auf der Bühne dargestellt wird , >>Wie die Verbrecher von andern/ oder durch ihre eigene Fäuste/ er­ stoßen/ erschoßen/ oder sonst hingerichtet werden . >deren Anmerkungen mir in vielen Stücken kein geringes Licht gegebenVernunft< und >Natur< da­ zu geführt , daß die Critische Dichtkunst (1729) als eine >>Deutsche Encyklopädie der Renaissancepoetik> - über Opitz - die Hein­ siussche barocke Definition der Senecaschen stoischen Schreckenskatharsis als tragi­ sche ApathieKar[ Liebknecht< Potsdam, 18 (1974) , H . 2, S . 227-248 , hier S . 233f. 3. Magnus Daniel Omeis : Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim = und Dicht= Kunst [ . . . ). Andere Aufl. Nürnberg: Joh . Michael Spörlin 1712, S. 246. 4. Vgl . Gustav Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1897 (Ndr. Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1972), S. 1 3 . 5 . Vgl. Joh . Chr. Gottsched: Sterbender Cato [zuerst 1732) . Hg. v. Horst Steinmetz. Stutt­ gart: Reclam 1 964, hier >>Vorrededeutschen Politik< den Nutzen beson­ ders der Tragödien , weil sie durch >>lebhaffte Exempel>Besserung des Men­ schen>wie die freudigen Bege­ benheiten aus der Tugend , hingegen die Trauer = Fälle aus den Lastern kommen>im gemeinen Wesen zu veranlassen . Tragoedien sind Schau = Spiele , welche die Bezähmung der Begierden und die Bewegung des Ge­ müthes , theils zum Mitleyden , theils zum Schrecken , zum Endzweck haben ; damit man möge aus anderer unglückseeligem Beyspiel und Ende lernen klug werden . Des­ wegen sind sie auch viel nützlicher als Comoedien . >Beförderung aller Tugend und Besiegung aller Laster>regelmäßi­ ge[n] Trauerspiele und Lustspiele« 1 7 nicht zuletzt dadurch , daß er die üblichen An­ griffe auf die Kunst und besonders ihre dramatischen Gattungen auf diejenigen Kunstarten und -genres umlenkt , gegen die er seine >>Verbesserung der deutschen Schaubühne« 1 8 durchsetzen mußte : Dabei trifft seine Kritik weitaus schärfer die höfi­ sche Oper als die >bäurischen< Komödien . Jene muß aus dem bürgerlichen Gattungs­ ensemble ausgeschlossen , diese hingegen - dazu zwingt die Notwendigkeit , sich mit den Wanderbühnen (Neubersche , später Schönemannsehe Truppe) zu verbünden ­ durch Säuberung integriert werden . Im übrigen verhält sich die Form der Oper zur re­ gelmäßigen Tragödie , wie die Willkür der Tyrannei zur gesetzlichen Verfaßtheit des aufgeklärten Absolutismus , den Gottscheds an Wolff orientierte Staatstheorie befür­ wortete . Die politische Semantik seiner Opernkritik wird in einer Passage augenfäl­ lig , die Gottsched im Gestus >er gesteht< aus der englischen Schrift The Taste of the Town (2. Auf! . 173 1 ) übersetzt , in der über den Londoner Amüsierbetrieb berichtet wird . Darin heißt es: >>Eine Oper kan der Tyrann der Schaubühne genennet werden . Sie ist keinen poetischen Gesetzen unterworfen. Sie verachtet die Gewalt oder die Einschränkungen eines ganzen Parlaments von Critikverständigen , oder Kunstrich­ tern [ . . . ] . « 1 9 Den alten Vorwurf, das Theater fache die Leidenschaften an und ermuti­ ge zum Laster, richtet Gottsched nun verschärft gegen die Oper: >>Die geile Liebe un­ züchtiger Personen ist das einzige , wovon die Schau = Plätze erschallen . [ . . . ] Lauter verliebte Helden [ . . . ] ! lauter grausame Schönheiten [ . . . ] ! [ . . . ] Corallen = Lippen , Fel­ sen = B rüste [ . . . ] . « 20 Mit diesem Ablenkungsmanöver ist der Raum geschaffen , die

17. Gottsched , Biedermann, Tl . II, 85 . BI . , 20. Dez. 1728, S. 136 (vielm. S. 139) . 18. Gottsched , Sterbender Cato (Anm . 5 ) , hier » VorredeLegislateur< du theiitre allemand: La necessite et les bornes de l'imitation du theiitre fran­ t;ais. In: Revue de Iitterature comparee , 44 (1970) , H. 1 , S. 5-29. Zur sozialgeschichtlich orien­ tierten Wertung der Gottschedschen Literaturreform vgl . Autorenkollektiv: Der Hofals Adres­ sat großbürgerlicher Aufklärung. Die Auseinandersetzung mit der feudalabsolutistischen Reprä­ sentationskunst in loh. Chr. Gottscheds Literaturprogramm. In: Gert Mattenklott , Klaus Rüdi­ ger Scherpe (Hg . ) : Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert (Analysen) . Kronbergffs. : Scriptor 1974 ( = Literatur im historischen Prozeß, Bd. 4 . 1 ) , S . 74- 1 1 9 ; Gert Mattenklott: Drama - Gottsched bis Lessing. In: Horst Albert Glaser (Hg . ) : Deutsche Literatur. Eine Sozial­ geschichte, Bd. 4: Zwischen Absolutismus und A ufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang (1 740-1 786) . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980 (= rororo , 6253) , S. 277298, bes . S. 277-283 . 19. Joh . Chr. Gottsched : Zufällige Gedanken von dem Bathos in den Opern. In: Johann Joachim Schwabe: Anti= Longin, oder die Kunst in der Poesie zu kriechen. Leipzig 1734, S . XXIII-LXII , Gottsched übersetzt hier (S . XXXV) nach der 2. neubetitelten Auflage von James Ralph: The Touch-Stone: Or, {. . . } Essays on the Reigning Diversions ofthe Town {. . .}. By a Per­ son ofsome Taste and some Quality. London 1728 (Ndr. New York : Garland 1970) , hier S. 19. 20. Gottsched, Biedermann , Tl . II, 95 . BI. , 28 . Febr. 1729 , S . 178- 180.

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Abschreckender Schrecken

bürgerliche Schaubühne - die Melpomenes allemal - als eine moralische Anstalt ein­ zurichten : >>Die Absicht eines tragischen Poeten ist also gantz moralisch . >Fabel>Wahrscheinlichkeit>auf eine sehr empfindliche Art einzuprä­ gen>der heftigsten Affekten« - nämlich Schrecken , Bewunderung und Mitleid -, die die Zuschauer >>rühren>gantz mürbe>die Thränen denselben in die Augen steigenZ. E. Sophoclis Antigone [ . . . ] lehret durch viel schreckliche Begebenheiten die Wahrheit dieses Satzes: GOtt läßt die Frevelthaien der Könige und Fürsten nicht ungestraft; und rottet offt gantze Geschlechter gottloser Regenten aus«. Gottscheds Modell der Tragödie als Fürstenspiegel basiert auf dieser Warnung. Zum Begriff der >Fabel< siehe Job . Chr. Gottsched : Versuch einer Critischen Dichtkunst [. . . }. Anstau einer Einleitung ist Horazens Dichtkunst übersetzt, und mit Anmerkungen erläutert. 4. sehr verm Auf! . Leipzig: Breitkopf 1751 (Ndr. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1977) , S. 148ff. (zit . : Gottsched , Critische Dichtkunst (4. Auf! . 175 1 ) ) . Die Lesarten der früheren ( 1 . Auf. 1729 , 2. Auf! . 1737, 3 . Auf! . 1742) Auflagen verzeichnet ders . : A usgewählte Werke, Bd. Vl . 1-VI.4: Versuch einer Critischen Dichtkunst (hg. v. Joachim Birke u. Brigitte Birke) . Berlin , New York : de Gruyter 1973-1978, hier Bd. Vl.3 (>>VariantenverzeichnisWo bleibt da die Wahrschein­ lichkeit?Wahrscheinlichkeit< siehe Gottsched , Critische Dichtkunst (4. Auf! . 175 1 ) , S. 198ff. ; Job . Chr. Gottsched (Hg . ) : Handlexicon oder kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften undfreyen Künste. Zum Gebrauche der Liebhaber der­ selben herausgegeben. Leipzig: Fritsch 1760, Sp. 1633-1634, hier Sp. 1633 : »Wahrscheinlichkeit, (in der Poesie) ist die Ähnlichkeit des Erdichteten , mit dem , was wirklich zu geschehen pflegt ; oder die Übereinstimmung der Fabel mit der Natur. >will die Leute durch die Vorstellung hoher Unglücks= Fälle zu ihren eigenen vorbereiten . Er will ihnen kleine Trübsalen geduldig ertragen lehren , indem er ihnen die Standhafftigkeit der Grossen dieser Welt , in weit entsetzlichem Zufällen vor Augen stellet . «26 Das Modell der Schrek­ kens- und Greueltragödie mit ihrem Ziel, durch Vanitas-Didaxe Gleichmut zu erwir­ ken , wird ergänzt durch den Typus des christlichen Tugend- und Lasterspiels , in wel­ chem die Unschuld unter der hassenswerten >>Gewalt der Gottlosen« Unrecht erlei­ det Y Gottsched knüpft in seinen frühesten Ü berlegungen zur Tragödie , die zeitle­ bens im Kern unverändert bleiben sollten , mithin an drei Konzeptionen an , die er re­ lativ unverbunden nebeneinanderstellt : exemplarische Abschreckung vom Bösen und Aneiferung zum Guten , eine als Dämpfung der Affekte und Gewöhnung an den Schrecken und die kleineren Gravamina des bürgerlichen Lebens verstandene Ka­ tharsis , schließlich die Andeutung einer Mitleidsdramaturgie. Noch eine Generation später wird Gottsched einen seiner zehn Gehilfen bei der Arbeit zum Handlexicon ( 1760 ) anweisen, nochmals die Definition der Critischen Dichtkunsi8 ( zuerst 1729 ) abzuschreiben : >> Tragödie , (Trauerspiel ) ist eine theatralische Vorstellung, die zu ih­ rer Absicht hat , durch die Unglücksfälle der Großen , Traurigkeit, Schrecken , Mitlei­ den und Bewunderung bey den Zuschauern zu erwecken . «29 Unschwer ist zu erken­ nen , daß die Bestimmung eklektisch >Mitleid< und >Schrecken< aus der Aristoteli­ schen Poetik, >>admiration>tristesse majestueuseDeutschen Gesellschaft< in Leipzig ins Zentrum seiner Ausführungen. Hatte Magnus Daniel Omeis in der Gründlichen Anleitung zur Teutschen accuraten 26. Ebd . 27. Ebd . , Tl. II, 85 . BI . , 20. Dez. 1728, S . 136 (vielm . S. 139) . 28. Gottsched , Critische Dichtkunst (4. Aufl . 175 1 ) , S . 606; >>durch die Unglücksfälle der Großen>Es ist sehr angenehm auf stürmisch wilder See Der Schiffenden Gefahr vom Lande zuzusehn ; Nicht weil es lieblich ist , daß jemand leiden muß ; Bloß weil mans gerne sieht , daß man es selbst nicht fühlt . « 59 Es wäre sicher falsch , die Wiederentdeckung dieser Lukrez-Verse für die Diskus­ sion über das Vergnügen an tragischen Gegenständen und die vermischte Empfin­ dung des >angenehmen Grauens< im 1 8 . Jahrhundert gering zu schätzen . Gottsched zitiert nämlich keineswegs , wie die Spezialforschung glauben macht, >>eine damals gangbare Lukrezstelle« und einen >>Gemeinplatz der Poetik, auf dem sich schon seine deutschen Vorgänger tummelten« . 60 Tatsächlich sind aber den Barockpoetikern die­ se Verse im Zusammenhang mit der Tragödie nicht geläufig gewesen : Opitz, Hars­ doerffer, Buchner, Birken, der Aristoteliker Rotth , Omeis und der Verfasser der Breslauer Anleitung kennen sie nicht . Frühere Andeutungen bei Pontanus und sei­ nem italienischen Vorbild Viperano blieben schon mit Ausnahme von Kindermanns 56. Gottsched, Hudemann-Rezension, S. 299 . 57. Ebd. 58. Ebd . , S. 299f. 59. Ebd. , S. 300. Ein zweites Mal zitiert Gottsched diese Lukrez-Stelle in seinem Batteux­ Auszug (Anm. 16) : Mit den Ausführungen des französischen Ästhetikers auf die Frage >>Allein warum gefallen in der Kunst auch Dinge , die in der Natur misfallen?« (Batteux-Auszug, S. 48) offenbar unzufrieden, ergänzt er dessen Erläuterungen zum Vergnügen an tragischen Gegen­ ständen um den Hinweis darauf, daß ein jeder froh ist, »daß dergleichen Zufälle einen nicht selbst treffen: wie Lucrez im II B. saget: [ . . . ] . « (Ebd . S. 49) 60. Waniek (Anm . 4) , S. 299f. Sein Gewährsmann Karl Borinski: Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland. Berlin 1 886 (Ndr. Hildesheim 1967) , S . 260, weist a n der angegebenen (Waniek [Anm . 4] , S . 300, Fußn . 2 ) Belegstelle wegwerfend lediglich die einschlägige Passage aus Balthasar Kindermanns Deutschem Poeten (1664) nach. Während in der französischen Diskussion des »terreur agreable angenehmen Grauens< wieder in die deutschsprachige Poetikdiskussion einführt , da das paradoxe Phänomen einer be­ sonderen Erklärung solange nicht bedurfte , wie das Vergnügen und der Nutzen des Trauerspiels als unproblematische Einheit betrachtet wurden. Der frühaufkläreri­ sche Konsens über den Abschreckungseffekt der Tragödie wird in dem Moment brü­ chig , als über den generellen moraldidaktischen Zweck der Künste ebenfalls kein Einverständnis mehr erzielt werden konnte . Die anthropologisch aufgefaßte Aussage der Zitierautorität Lukrez wird von Gott­ sched mit besonderer Hinsicht auf die klassizistische Ständeklausel modifiziert . Der Anblick der Unglücksfälle besonders des hohen Personals der Tragödie führt - das war Dacier folgend bereits in der Schauspiel-Rede ausgeführt worden - eine Art kon­ solatorischer Schadenfreude mit sich . Gottsched gibt zu bedenken , daß der Zuschau­ er - und er meint den Bürger ! - >>bey sich in der Stille« auf angenehme Weise empfin­ det , daß er mit den Großen dieser Welt >>nicht tauschen möchte ; indem man von allem dem Elende , so sie erdulden müssen , befreyt ist? Dieses ist die wahre Quelle des Ver­ gnügens , so man bey allem Elende andrer Leute empfindet . « 63 Den politisch gefärb­ ten Charakter dieses Vergnügens als einer heimlichen Schadenfreude der bürgerli­ chen Untertanen entdeckte Gottsched später am 8. Mai 175 1 in seiner akademischen Vorlesung über die Frage , Ob man in theatralischen Gedichten allezeit die Tugend als belohnt, und das Laster als bestrafet vorstellen müsse?64 Die tragische Lust , die die an­ tike Schreckenstragödie erregte , wird als Schadenfreude über den Untergang des Ty­ rannen gedeutet : >>Die republikanischen Athenienser sahen ihre Lust an dergleichen schrecklichen Vorstellungen : weil sie das königliche Regiment hasseten, und es mit Vergnügen wahrnahmen , wie die Beherrscher benachbarter Städte zu Grunde gegan­ gen waren . « 65 61 . Vgl . Gottsched , Catalogus Bibliothecae (Anm. 33) , S. 121 , Nr. 2695 . 62. Dacier (Anm . 43) , S . 215: >>Piaton a fort bien prouve dans le Philebus que toutes les pas­ sion donnent aux hommes un certain plaisir , & qu'elles sont toutes melees de douleur & de volupte [ . . . ] . Doctrine classiqueKatharsis< Temperie­ rung der Affekte , Einübung in eine quietistische >>Zufriedenheit mit dem Stande>Großmuth und Standhaftigkeit in allen harten Zufällen>hefftigsten Gemüthsbewegungen>sehr moralisch>Das heißt nach Aristotelis Lehre durch die Tragödie , und durch die Erregung der Leidenschaften selbst , die Leidenschaften reinigen und mäßigen . >Vielmehr gewöhnen sich die Leute so sehr an dieselbe , daß die geringste Sache hernach vermögend ist , sie zu bewegen . >Herr Je Clerc stellt sich gewiß einfältig an , um nur den Poeten schwer zu fallen : Denn es ist unmöglich , daß er dieses nicht besser sollte eingesehen haben . Das Schrecken und Mitleiden in den Trauerspielen , soll nach dem Aristoteles , nicht alles Schrecken ner Vorlesung, die er vor dem sächsischen Kurprinzenpaar hielt, auf solche >bienseance< nicht ein und leitet stattdessen zum Trauerspielzweck des Fürstenspiegels über! 66. Vgl . zusammenfassend Gottsched , >>Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften , bis zum 1745sten Jahre Vorwort< (unpag. ) voran . Da Joh . George Bock die Gedanken bei der Neuauflage von Pietschs Gebunde­ nen Schriften. Königsberg: Hartung 1740 wegläßt , rückt Gottsched sie >>ihrer Vortrefflichkeit halber>Privatstande« gesetzter, wenn es mal >>nicht nach Wunsche geht . >daß man furchtsame Leute, die über alles erschrecken , nicht besser zu­ recht bringen kann, als wenn man sie oft durch allerley Kleinigkeiten erschreckt ; denn dadurch werden sie der Sache so gewohnt , daß sie endlich nicht mehr so leicht erschrecken : wie ich selbst dergleichen Exempel gekannt habe . Kleinigkeit< . Den Vorwurf Hudemanns schließlich , von dem hier ausgegangen wurde , die tragi­ sche Lust basiere auf menschenfeindlicher Grausamkeit , erledigt Gottsched unter Hinweis auf den unverbindlichen Fiktionscharakter der Trauerspielhandlung: >>Es würde diese Beschuldigung wahr seyn , wenn man am Blutvergiessen ein Vergnügen empfände ; oder wenn diejenigen , die auf der Schaubühne umkommen , wirklich ums Leben kämen . Allein es hat Gottlob ! keine Noth . Die Engländer, die ein �lutiges Ha­ nengefechte ansehen , sind grausamer als wir , wenn wir einen Cato sterben, und einen ermordeten Cäsar auf dem Prunkbette liegen sehen . Wir wissen , daß deswegen kei­ ner stirbt , weil er einen Sterbenden vorstellt. Wir wissen auch , daß Cato und Cäsar unsrer Trauerspiele halber nicht gestorben sind . Ja wir freuen uns nicht einmal , daß Cato und Cäsar umgekommen . Die Regeln der Tragödie erforderns, daß wir mit den Sterbenden ein Mitleiden haben müssen . Und so werden auch in guten Stücken die Personen aufgeführt , daß man sie beklagt , nicht aber über ihren Tod grausamer Wei­ se frolocket : Es wäre denn, daß sie Tyrannen gewesen wären . « 73 Zwar leuchtet der Hinweis auf die Fiktion zunächst spontan ,ein - er ist jedoch keineswegs unproblema­ tisch : Die >>gewisse Art des Vergnügens>Wie Schrecken zu verhüten . « ) , S . 286f. Johann Heinrich Zedler (Hg . ) : Grosses vollstän­ diges Universal= Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 1-64, Suppl .-Bd. 1-4. Halle 173254, Bd. 35 (1743) , s. v. >>Schreckenwider>Z. E. Oedipus [ . . ] stellet das klägliche Ende vor , welches dieser thebanische König um seiner abscheulichen Thaten halber genommen [ . . . ] . >lauter außeror­ dentliche[ n] Leute[ n] , die es entweder im Guten oder Bösen aufs höchste gebracht haben . >iobwürdige Muster zur Nachfolge« , die Abschreckungsmechanik hingegen fordert »schändliche Ungeheu­ er>Zum Abscheue>Eine mittelmäßige Tu­ gend , rühret die Gemüther nicht sehr [ . . . ]. Daher sucht sich ein kluger Poet lauter un­ gemeine Helden und Heidinnen , lauter unmenschliche Tyrannen und verdammliehe Bösewichter aus [ . . ] ; ein Oedipus in seinen abscheulichen und unerhörten Lastern [ . . . ] . >unmenschlichenmittelmäßig< verworfenen >mittleren Mann< fordert bekanntlich die Aristotelische Poetik als Tra­ gödienprotagonisten . Der tragische Affekt des Mitleids heischt den Durchschnitts­ charakter, nicht das poetische Ungeheuer . Der dramatische Held darf >>weder recht .

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77 . Siehe Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1973 , S. 296; vgl . ders . : Die Rezeption der.aristotelischen Tragödienpoetik in Deutsch­ land. In: Handbuch des deutschen Dramas (hg. v. Walter Hinck) . Düsseldorf: Bagel 1980, S. 93105 , hier S. 103 . 78 . Gottsched , Critische Dichtkunst (4 . Aufl . 175 1 ) , S . 606. 79. Die Zitate ebd . , S . 188f. 80 . Z. B . : >>Medea in ihrer unmenschlichen Rasereygemeinen Le­ ben>Er ist so , wie die Menschen insgemein zu seyn pflegen , das ist , von mitt­ lerer Gattung ; er hat gewisse Tugenden , aber auch gewisse Laster an sich [ . . . ] . >Man hat [ . . . ] Mitleiden mit ihm . >die göttliche Rache, die gar keine La­ ster ungestraft läßt>[ . . . ] die Freveltaten der Könige und Fürsten nicht ungestraft {lässt]doctrine classique< übernommene Forderung nach >bienseance< 87 ge­ nannt werden . Antiker Ort des Dezenzgebots besonders bezüglich des Schrecklichen sind die Verse Horaz' : >>Medea darf den Mord an ihrer Leibesfrucht Nicht öffentlich begehn . Des Atreus Eifersucht , Giebt dem Thyestes zwar das Fleisch gekochter Knaben ; Doch darf man Topf und Heerd nicht selbst gesehen haben , Wo sie gesotten sind . [ . . . ] Pratique d u theiitre< und der Zusammenhang von >imitatioVraisemblance< und >bienseance>Die Italiäner pflegen die Häubter auf den Ti­ sche etwan in Schüsseln aufgetragen vorzuweisen/ und die vermeinte enthaubte Per­ sonen unter den Tisch zu verstecken/ welches gewißlich den Zuschauern eine grosse Verwunderung/ und nicht geringes Mitleiden verursacht . Sterbenden Cato< hatte Gottlieb Stolle (16731744) bemerkt , daß im Sterbenden Cato dessen Tod nicht den historischen Quellen gemäß dramatisch gestaltet worden sei . Auf diesen Vorwurf entgegnet Gottsched in einer Bescheidenen Antwort unter Hinweis auf das Verbot Horaz' und fragt : >>Wie hätte man das schreckliche Spectakel ertragen können , daß ein Mann seinen Bauch mit eigenen Händen aufreißt und das Eingeweide herauszerret, um desto gewisser und eher zu sterben?>einigen zärtlichen Kunstrichternconvenance< einer­ seits und >bienseance< andererseits; vgl . Knabe (Anm. 87) , S . 100-106 93 . Gottsched , Bescheidene Antwort (Anm . 92) , S. 66.

Schrecken im Werk Gottscheds

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Preface (1671) zur Berenice festgestellt: >>Ce n'est point une necessite qu'il y ait du sang et des morts dans une tragedie>Y« gilt Vers 535 . 122. Gottsched , Vorrede (Anm . 1 1 1 ) , S . XIII * . 123 . Ebd .

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Abschreckender Schrecken

ein Höchstmaß an schrecklichem Bühnengeschehen . Glaubt man allein Gottscheds Worten , so scheint es fast, als wolle er de Laudun d' Aigaliers Maßstab für die Tragö­ die erfüllen : je grausamer , desto besser. 1 24 Die einschlägige Diskussion und die Spe­ zialuntersuchungen von Ludwig und Joh . Elias Schlegel zum Dezenzproblem ignorie­ rend und Horaz' Diktum , das nur umschreibend angedeutet wird , durch Gegenbei­ spiele anerkannter antiker Tragödien relativierend , stellt Gottsched - wie einst nur je eine jesuitische Poetik - als weitere Rechtfertigung fest : >>Wie hoch aber 2) der Grad dieses Schreckens gehen könne , das ist meines Wissens weder bereits bestimmet , noch so leicht zu bestimmen . « 1 25 Die anschließende Aufzählung der in den griechi­ schen Tragödien zuhauf gestalteten Grausamkeiten des Mythos - Opferung Iphige­ nies , Ödipus' Vatermord und Inzest , Atreus' Kannibalismus , Medeas Kindermord . . . - dient aber lediglich der Legitimation einer Episode aus der Vorgeschichte des Trau­ erspiels : »[ . . . ] so wird es verhoffentlich niemanden zu grausam vorkommen , wenn auch die Königion Catharina von Medices ihres künftigen Eidams Mutter, die alte Königinn von Navarra , von einen Meyländischen Krämer , durch ein paar vergiftete Handschuh hinrichten lassen>Clermont: (Man wischt sich hier die Thränen) Man wirft den Leichnam gar durchs Fenster auf die Gassen , Um ihn von jedermann ermordet sehn zu lassen. [. . .] Das Haus des Admirals ward plötzlich ganz umsetzt ; Sein Körper höchst beschimpft , zermetzelt und zerfetzt , Des Hauptes gar beraubt, in einen Stall geschmissen , Und endlich fortgeschleppt und in den Strom gerissen. 124. Vgl . Kurt Wölfel: Moralische Anstalt. Zur Dramaturgie von Gottsched bis Lessing. In: Deutsche Dramentheorien I. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland (hg. v. Reinhold Grimm). 3. verb . Aufl . Wiesbaden: Athenaion 1980 [zuerst 197 1 ] , S. 56- 122. Wölfel kommentiert (S. 97) daher Gottscheds wirkungspoetische Ausführungen der >> Vorrede>Je höher der Schrecken , desto besser das Trauerspiel . Das heißt über die tragischen Affekte auf eine wahrhaft barocke Weise räsonieren . peu digne du bon gofit>Etliche Mörder (mit bloßen Degen und Pistolen ; mit weißen Tüchern am linken Arm , und weißen Kreu­ zen an den Hüten ) >Grad dieses Schreckens>Ich höre so gar, daß noch ein andrer Poet in Frankreich , vor wenigen Jahren von neuem den Versuch gethan , diese blutige Begebenheit auf die tragische Bühne zu bringen [ . . . ) . Tous !es artistes lisent avec fruit ses >Reflexions sur Ia poesie , Ia peinture et Ia musique< . C'est Je Iivre Je plus utile qu'on ait jamais ecrit sur ses matieres chez aucune des nations de l'Europe . >Curiosite>>Etrange empressement de voir des miserables !< a dit l'auteur d'une tragedie . > tragedies de cannibales>Je me souviens qu'etant a Paris lorsqu'on fit souffrir a Damiens une mort des plus recherchees et des plus affreuses qu'on puisse imaginer, toutes !es fenet­ res qui donnaient sur Ia place furent louees cherement par !es dames [ . . . ] . >huronischen Possenspiele>Jedermann , selbst die empfind­ samsten Damen>[ . . . ] entweder bildete sich dieses theatralische Volk ein , daß es vor dem Theater stände , und klatschte in der Selbstvergessenheit dem Schauspieler Beyfall zu , weil er der. Schmerz so natürlich ausdrückte , oder galt der Beyfall dem Scharfrichter, weil er einen Verbrecher so gut quälte [ . . . ] . Theater< der Hinrichtung ist nicht mehr nur metaphorisch die Rede , sondern das Ge­ schehen selbst ist theatralisiert . Besonders in den Beschreibungen von Voltaire und Mercier wiederholt sich an der Ortung der Zuschauer bei öffentlichen Hinrichtungen diejenige soziale Allianz , die sich hinsichtlich des poetischen Geschmacks generell seit der Frühaufklärung heraus­ gebildet hatte . Das von Johann Traugott Schulz geprägte und durch Gottsched über­ lieferte Kraftwort vom >>Logenpöbel: der, ob er gleich in Kutschen fährt , und gold­ stückene Westen trägt , dennoch mit seynen Lackeyen und Kutschern einerley Ge­ schmack hat>Die Thierhetze , oder wie man in Wien sagt, die Hatz . >Von den öffentlichen Schauspielen in Wien . >Anzügli­ chen>barbarischen Schauspiele des Amphitheaters« und den Menschen des beginnenden 1 8 . Jahrhunderts zu dem >>abscheulichen Schauspiele [ . ] der Hinrichtung eines Menschen auf dem Schaffote>En quoi consiste Je Plaisir de Ia Tragedie [ . ] >Le peuple de Ro­ me , qui couroit a des combats de gladiateurs , et Je peuple d' Athenes, qui couroit a des representations tragiques , etoient l'un et l'autre emportes par Je meme attrait . >moralische[n) Endzweck der Tragödie« 50 fragt, bezeichnet er die Hinrichtung als >>die Tragödie des gemeinen Volkes« . Die Menschen liefen hier nicht zusammen , um zu lernen , daß man nicht töten oder stehlen dürfte , vielmehr folgten sie dem gleichen Trieb , dessentwegen die Römer mit Lust >>ihre Tragödie« : das Am­ phitheater besuchten . 51 Freilich ergänzt Batteux den Vergleich zwischen dem antiken Trauerspiel , das in der Arena stattfand, und der modernen Bühnentragödie um die Historisierung des jeweiligen zivilisatorischen Standes der Zuschauer. Von den Gla­ diatorenkämpfen und der römischen Greueltragödie Senecas zugleich , heißt es näm­ lich im Unterschied zur modernen Liebestragödie : >>Das erste Schauspiel schickt sich für ein kriegerisches Volk ; das andere ist eine wahre Kunst des Friedens ; weil er die Bürger durch Mitleiden und Menschlichkeit untereinander verbindet . « 52 Marmonte! hat 1777 die französischen Beiträge zur Parallele zwischen dem Schau­ spiel der Tragödie und der Tragödie der Hinrichtung im Supplement zur Encyclope­ die unter dem Stichwort >>Illusion>Ueber die Illusion>Ich weiß wohl , daß das Schaffot die Tragödie des Pöbels ist , und daß ganze Nationen sich an Kämpfer­ spielen auf Leben und Tod ergötzt haben : allein diese Uebung der sympathetischen Triebe der Seele würde für Personen , deren Sitten sich durch ein sanftes und ruhiges gesellschaftliches Leben gemildert haben , und welche Vergnügungen suchen , die eben so fein als ihre Organe sind, zu gewaltsam und heftig seyn . >grausame Reiz und die grobe Rührung>NotesSur les marges de son exemplaireBerner Ökonomischen Gesellschaft< 1777 unter 46 Einsendungen ausge­ wählten Preisschrift Abhandlung von der Criminal= Gesetzgebung ( 1783 ) beabsichti­ gen Hans Ernst v. Globig und Johann Georg Huster, indem sie schüchtern >>in die Fußstapfen des Beccaria« 95 treten , diejenigen Gesetze im Grundriß darzustellen , >>Wie sie in einer ganz neu entstehenden Republik statt finden könnten« . 96 Systema­ tisch wird in der Schrift , in der die Tendenzen der aufklärerischen Strafrechtsrefor­ mer beispielhaft zusammengefaßt sind, unter fortwährender Güterahwägung die Ab­ schreckung als Hauptzweck der Strafe herausgearbeitet. Dabei wird die >>Abschrök­ kung anderer« gegen die >>Besserung des Verbrechers« 97 ausgespielt: >>D a auch bey der Verhütung künftiger Verbrechen , die Abschröckung anderer unendlich wichti­ ger, als die Besserung des einzigen Verbrechers ist ; so muß ich unter zweyerley Stra­ fen , davon die eine mehr bessert als abschröckt, die andere hingegen letzteres mehr bewirkt , ohnstreitig dieser den Vorzug geben . « 98 Daher interessiert in der von Globig und Huster vorgelegten Semiologie der Abschreckung wieder der Delinquent allen­ falls als Signifikat . Zum Wesen der republikanischen Schreckensrechnung gehört der öffentliche Strafvollzug : >>Diese Vollziehung muß [ . . . ] öffentlich unter den Augen des ganzen Volks geschehen , wenn das Beyspiel , die Hauptabsicht der Strafe erreicht werden soll . Selbst wenn die Knechtschaft , wegen Schwäche des Verbrechers in Ge­ fängsniß zu verwandeln ist , so muß dieses öffentlich , und mit Gittern seyn , daß ein je­ der hineinsehen kann . Die Geldstrafen müssen auch auf öffentlichem Platz entrichtet werden . « 99 94. Vgl . Mario A. Cattaneo: Menschenwürde und Strafrechtsphilosophie der A ufklärung. In: Reinhard Brandt (Hg. ) : Rechtsphilosophie der A ufklärung. Berlin, New Y ork : de Gruyter 1982, s . 321-334. 95 . H . E . v. Globig, J. G . Huster: A bhandlung von der Criminal= Gesetzgebung. Eine von der ökonomischen Gesellschaft in Bern gekrönte Preisschrift . Zürich : Joh . Caspar Füeßly 1783 (zit. Globig/Huster) , S. 50, Fußn . Vgl . Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. völlig durchgearbeitete u . veränderte Auf! . Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht 1965 , § 213, S. 221f. 96. Globig/Huster, S . 8. 97. Ebd . , S . 5 1 . 98 . Ebd . , S . 62. 99. Ebd . , S. 473 , vgl. S . 60: >>Strafen, die im Gefängniß und heimlich ausgeübt werden, ver­ fehlen den Hauptendzweck die Abschröckung anderer [ . . . ] . >politische[n] Zweck der Strafen« die Öf­ fentlichkeit ihrer Vollstreckung akzentuiert : >>Abschreckung andrer Menschen . Sie müssen also öffentlich vollzogen werden . >tyrannische[n] Gewohnheit>Dunkel der GefängnisseLasttier< verwandelte Delinquent soll seinen Mitbürgern >>ein langwieri­ ges Beispiel der Plage>Schallenwerk>Ich würde hier den Missethäter zu einer ewigen Knechtschaft verdammen , ihn wöchentlich mit Ruthen streichen, und mit Ketten an Händen und Füssen , ein Eisen um den Hals, die mühseligste Arbeit verrichten lassen . Nachwort>Konzes­ sion an feudale Traditionen und den Absolutismus>Vom Recht über Leben und TodDurchfurchtung< der Gesellschaft : Das Publikum soll durch diese >bürgerlichen Trauerspiele< , in denen wieder die Delinquenten die Hauptdarsteller sind , das Fürch­ ten lernen . Wie nur ein wirkungsästhetisch argumentierender Dramaturg faßt Becca­ ria die Absicht seiner Schaustellungen zusammen: »Die sehr oft durch solchen An­ blick veranlaßte und eben deswegen sehr kräftig wirkende Rücksicht des Zuschauers in sich selbst , das ist , der immer vor der Seele schwebende Gedanke : Mir selbst wird dieses so lange und jämmerliche Elend widerfahren , wenn ich ähnliche Mißhandlun­ gen begehe , ist weit eindringlicher , als die Vorstellung des Todes, welchen die Men­ schen in einer gar zu dunklen Entfernung sehen . strafbar befunden>aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger>Auch lehrt die Erfahrung nur zu deutlich , daß alle Warnungen durch Todesstrafe nicht helfen . [ . . ] die Klugheit gebietet daher alle Bestrafung mehr heimlich als mit öffentlichem und feyerlichem Gepränge zu vollziehen . Mancher Verbrecher freut sich die erste Rolle in einem Trauerspiele zu spielen , das so viele Zuschauer, die ihn entweder be­ wundern , oder bemitleiden , oder vielleicht gar beneiden , herbeylockt . ewige Knechtschaft< , da sie dem Verbrecher jegli­ ches Lebensziel nimmt und ihm die Motivation , >>Sich zu bessern>Mir scheint keine Strafe schreck­ licher aber auch zugleich bei dem verwildertsten Gemüthe und bei dem eingefleisch­ testen Bösewicht wirksamer zu seyn , als Entfernung von aller menschlichen Gesell­ schaft , Todenruhe und ein ewiges Einerlei , das die Furien des Gewissens aufregt und dem Mörder oder jedem andern Verbrecher stets das Schreckliche seiner That , auch wider willen , vorhält . Einen solchen Gefangenen verfolgen stets die Schatten derer, die er gemordet hat und ewige nagende Reue foltert ihn . Furcht im Finstern< wußte Johann Kar! Wezel nur allzugut darüber Be­ scheid, daß eine >>reizbare Fantasie [ . . . ] den gesundesten Menschenverstand zu Bo­ den werfen [kann] >Stille leblose Einsamkeit« den Verbrecher >>zur Be­ sinnung und zur Reue>SO kann man ihn bei öffentlichen Arbeiten anstel­ len . ver­ borgenen Theologie< (Opitz) in der Frühaufklärung zugunsten des Grundsatzes der >Nachahmung der Natur< (Gottsched) verabschiedet worden war, blieb die Dichtung weiterhin Magd der Moral , womit das alte Abschreckungskonzept zunächst überleb­ te . Die nun zu verfolgenden Neuansätze verdrängten jedoch den poetologischen Wert der moralischen Abschreckung . In der Poetik marginalisiert , rettete sich die Idee der Abschreckung vielmehr aus der Theorie der Tragödie in die Pläne aufklärerischer Strafjustiz . Nur in den Überlegungen der Schweizer Bodmer, Breitinger und Sulzer wird das alte Schreckenskonzept als >heilsamer Schrecken< noch eine gewisse Rolle spielen . Wie in diesem Kapitel gezeigt wird , trat unter psychologisierender Gewichtung an der Wende des 17. zum 1 8 . Jahrhundert in den Schriften der Dichtungstheoretiker zu­ nächst in England und Frankreich der Schrecken als positiver > ästhetischer< Wert her­ vor. Dabei trieb die Untersuchung der paradox anmutenden Empfindung eines >an­ genehmen Schreckens< und die Frage nach dem Vergnügen an schrecklichen Dingen die Etablierung einer eigenen vom Reich der Moral getrennten ästhetischen Sphäre voran. Von der allgemeinen sozioökonomischen und kulturellen Verspätung infolge des 30-jährigen Krieges , der - obgleich ein europäischer Krieg - vor allem auf den deut­ schen Territorien ausgefochten wurde und sie zerstörte , blieb bekanntlich auch die li­ terarisch-poetologische Entwicklung nicht verschont . Die deutschsprachigen Dichter und Denker waren deshalb bis über die Mitte des 1 8 . Jahrhunderts hinaus mehr oder weniger produktive Rezipienten ihrer westeuropäischen Nachbarn . Bezog, wie schon gezeigt wurde , die frühaufklärerische Literaturreform Gottscheds ihr Muster vom französischen Klassizismus , so wandte sich das Interesse der Hochaufklärung den Engländern zu . Vorbereitet wurde der Paradigmenwechsel durch das kritische Werk der Schweizer Bodmer und Breitinger, in deren Schriften freilich das neue poetologi­ sche Kategoriensystem aufgrund der besonderen Züricher Verhältnisse an religiöse

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Gehalte gebunden blieb . Die Auswechslung der französischen durch die englische Musterkultur nahm spätestens seit Lessing die Gestalt einer ästhetischen Opposition gegen die am französischen Vorbild orientierte höfisch-adlige Oberschicht an , die während des Retablissements zur Jahrhundertmitte ihre politische Herrschaft noch­ mals festigen konnte . Das westeuropäisch-deutsche Rezeptionsgefälle macht es notwendig, vor der Be­ handlung der weiteren poetoiogischen Entwicklungen im deutschsprachigen Raum ein Kapitel einzuschalten , in dem dargestellt wird , wie die englischen und französi­ schen Theoretiker das Rätsel des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen bzw . des paradox anmutenden Phänomens des >angenehmen Grauens< im Rahmen ihrer ästhetischen Neuansätze zu lösen versuchten . Eine solche Darstellung ist umso mehr geboten , als eine Geschichte der vermischten Empfindung des >delightfull horror< bzw . der >terreur agreable< sowohl für den englischen als auch für den französischen Raum aussteht . Die ausländischen Schriften werden dabei , nicht zuletzt um die re­ zeptive Rolle Deutschlands innerhalb des europäischen Literaturensembles kennt­ lich zu machen , unter ständigem Vergleich mit den Vorlagen , soweit wie möglich , nach zeitgenössischen , oftmals kommentierten Übersetzungen zitiert . Die wesentlichen Tendenzen der innovatorischen englischen und französischen An­ sätze , die hier zunächst prospektiv zu kennzeichnen sind , können mit den Stichwor­ ten >Emotionalisierung< und >Subjektivierung< umrissen werden : Der Wunsch nach heftiger Gemütserregung und nach dem Genuß der eigenen Emotionen ließ den Schrecken als eigenständigen ästhetischen Wert erscheinen . Die durchgängige Emo­ tionalisierung der Kunsttheorie und die Ausprägung einer reflexiven , inneren Emp­ findungsweise führten darüber hinaus zur Auflösung der ehemals scharf markierten Differenz von Kunst und Wirklichkeit als eines Kriteriums poetologischer Begriffsbil­ dung. Da seit Anfang des 18. Jahrhunderts die affektive Wirkung der Kunst zuneh­ mend mit Blick auf die von ihr dargestellte Wirklichkeit erklärt wurde , entfiel bei der Antwort auf die Frage nach dem Vergnügen an schrecklichen Gegenständen der seit Aristoteles traditionelle Rekurs auf die Tatsache der Nachahmung. Die Kunsttheore­ tiker waren vor die Aufgabe gestellt, statt des regelgeleiteten Wohlgefallens an der Darstellung das emotionale Vergnügen an dem Dargestellten selbst zu erklären . Mit dieser Verschiebung des dichtungstheoretischen Interesses von der werk- auf die wir­ kungspoetische Ebene schwand nicht nur der traditionelle Kanon des Schönen , son­ dern auch das Urteilsmonopol der regelkundigen Experten . Einen Markstein innerhalb des Prozesses der wirkungspoetischen Umorientierung der dichtungstheoretischen Erörterungen setzte sowohl für Frankreich als auch für England die Wiederentdeckung des zwar in der Neuzeit öfters edierten , aber dennoch unbeachtet gebliebenen , damals fälschlich Dionysius Cassius Longinus zugeschriebe­ nen Traktats Peri hypsos durch Nicolas Boileau-Despreaux (1636-171 1 ) . Mit der gleichzeitigen Veröffentlichung seiner L 'Art poetique ( entst . seit 1 669) und der Pseudo-Longinos-Übertragung Traite du Sublime (entst. zwischen 1664 bis

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1667) 1 gelang Boileau im Jahre 1674 der doppeldeutige Coup , den im Sinne der doc­ trine classique ausgedeuteten Poetiken von Aristoteles und Horaz einen ebenfalls durch die Antike legitimierten , > unverbrauchten< Gewährsmann gleichrangig zur Sei­ te zu stellen. Mit der neuen antiken Autorität eröffnete sich Boileau die Möglichkeit , in produktions- und wirkungsästhetischen Fragen über den Klassizismus hinauszuge­ hen , ohne ihn jedoch als Ganzes in Frage zu stellen . Besonders eignete sich der Be­ griff des Sublimen dazu , sowohl gegen die von Boileau verurteilte christlich-heroische und preziös-galante Dichtung im einzelnen als auch gegen den »goüt de Ia cour« 2 im ganzen zu polemisieren. Auch ließ sich mit dem letzten Kapitel des Traktats in der > Querelle des Anciens et des Modernes< gegen die Freunde der Moderne und deren Favorisierung des zeitgenössischen augusteischen Zeitalters Ludwigs XIV . Stellung beziehen . 3 Mochte dies auch nicht in der Absicht des Antikenvertreters gelegen ha­ ben , so lieferte Boileau mit der Wiederentdeckung von Pseudo-Longinos tatsächlich - wie es rückblickend erscheint - die antike Begründung für die Moderne . Zunächst vor allem in Frankreich wegen seiner allgemein mitreißenden und rüh­ renden Wirkung favorisiert4 , entwickelt sich das Erhabene schnell zu derjenigen poe­ tischen Kategorie, die alle jene Phänomene versammelte , die nicht im Prokrustesbett klassizistischer Schönheit Platz fanden , gleichwohl aber >ästhetisches< Interesse bean­ spruchten . Unter dem Mantel des Erhabenen fand das Nicht-Schöne - das Entsetzli­ che , Häßliche und Schreckliche - Einlaß in die Kunsttheorie des 1 8 . Jahrhunderts . 1 . Vgl. Nicolas Boileau-Despreaux : L 'Art poetique und Traite du Sublime, ou du Merveilleux dans le Discours, traduit du Grec de Longin. In: ders . : (Euvres completes. Introduction par An­ toine Adam , Textes etablis et annotes par Fran�oise Escal . Paris : Gallimard 1966 ( = Bibi . de Ia Pleiade , 188 ) , S. 155-185 u. S . 33 1-440. Zur Entstehung vgl . Jules Brody: The Date of Boileaus > Traite du SublimeII sublimeSchön­ heit< und Michelangelos >terribilitii< geschaffen.

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j ungen Kategorie . An der Wende vom 17. zum 1 8 . Jahrhundert konnte somit der Af­ fekt des Schreckens , dessen Konzeption als Abschreckung in der Poetik des barocken Trauerspiels in eine Sackgasse geraten war, als >>Enthusiastick Terror« neu gewertet und aus der durch argumentative Topik verengten tragödientheoretischen Debatte zu einem zentralen Inhalt der sich entwickelnden Ästhetik entfaltet werden. Zugespitzt : Mit der Neudisposition des Schreckens als > angenehmes Grauen< schafften sich die bürgerlichen Schriftsteller im 18. Jahrhundert eine spezifische > Klassenschönheit< . 7 Die Emotionalisierung der Poetik führte langfristig zur Verschiebung des von Ari­ stoteles im IV. Kap . der Poetik aufgestellten Mimesispostulats , das in der Kunsttheo­ rie des 17. Jahrhunderts durch die Überlagerung mit der Horazischen Formel >>ut pic­ tura poesisimitatio naturae< ausgelegt worden war. Da hierbei das Verhältnis von Kunstwerk bzw . Dichtung zur Realiiät im Vorder­ grund der Überlegungen stand , war unter wirkungspoetischer Gewichtung die Frage naheliegend , warum bei möglichst getreuer Nachbildung in der Kunst selbst Dinge gefielen , die wir in der Wirklichkeit höchst ungern erblickten. Die >klassische< , im 1 8 . Jahrhundert zum Topos der >gemahlten Schlange< gerinnende Antwort im Rahmen der mimesistheoretischen Konvention fand sich am Beginn des dritten Gesanges der Art poetique , mit dem Boileau zur rührenden Wirkung der Tragödie überleitete : Selbst widerwärtige und gräßliche Dinge vergnügten , wenn der Künstler es verstün­ de, sie vollkommen und schön darzustellen . Besonders in Hinblick auf die von Boi­ leau im weiteren angesprochenen Affekte >>douce Terreur>Pitie charmantekaltes< Wohlgefallen , das überdies nur der schmalen Schicht der regelkundigen Kunstverständigen zugänglich war. Unter dem Aspekt der pathetischen Kraft des Erhabenen wich die werkpoetische Urbild-Ab­ bild-Relation des Klassizismus einer wirkungspoetisch akzentuierten Urbild-Abbild­ Referenz , bei der die von dem Kunstwerk erregten Affekte unmittelbar auf dessen Sujet in der Wirklichkeit bezogen wurden: Der Schrecken gefiel . Vor dieser Konse­ quenz, die sich besonders in Frankreich anbahnte und die in radikaler Form zuerst in Dubos' früher Summe des Emotionalismus gezogen wurde , schreckte jedoch sowohl aus Gründen psychologischer Glaubwürdigkeit als auch moralischer Skrupel das Gros der Kunsttheoretiker zurück . Stattdessen wurde ein illusionstheoreti::cher Kompromiß zur Deutung der vermischten Empfindung des angenehmen Schreckens kompiliert : Die Erklärung der heftigen , bis an den Schmerz grenzenden Rührung blieb weiter dem emotionalistischen Neuansatz verpflichtet , indem die heftige Ge­ mütsbewegung durch den Begriff der Illusion weiterhin unmittelbar auf die Wirklich7. Ich knüpfe hier an den Begriff des >Klassenkörpers< an , den Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen (frz. 1976) . Frankfurt/M . : Suhrkamp 1977 , bes. S . 148f. , vorgeschlagen hat. Das Wort >Disposition< wird von mir i n seinem militärtaktischen Sinne gebraucht. 8. Vgl . Boileau , L'Art poetique (Anm . 1), S . 169.

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keit bezogen blieb . Die gleichzeitige Betonung einer das Vergnügen garantierenden Distanz griff jedoch die ältere mimesistheoretische Konvention auf. Wegen der bei­ den auf unterschiedliche Traditionsstränge zurückgehenden Komponenten blieb die illusionstheoretische Interpretation des Wohlgefallens an schrecklichen Dingen wi­ dersprüchlich (2 . Abschn . ) . Führte der emotionalistische Neuansatz zur weitgehenden Ausblendung ethischer Gesichtspunkte , die - wie gezeigt - im 1 7 . Jahrhundert die poetologischen und beson­ ders die tragödientheoretischen Erörterungen dominierten , so wurden in England vergleichbare psychologisierende dichtungstheoretische Neuansätze von der Mit­ leidslehre der schottischen Moral-Sense-Philosophie überlagert . Besonders das Ver­ gnügen an tragischen Gegenständen im Leben und davon abgeleitet auch in der Kunst wurde auf ein die Menschheit verbindendes Prinzip anteilnehmender Sympathie zu­ rückgeführt . Der sympathetische Ansatz tendierte jedoch zur Sentimentalisierung des Schreckens und daher zur Favorisierung elegischer Stimmungsgehalte, was be­ sonders in der Konjunktur der englischen >graveyardÄsthetik des Schreckens< soll­ ten Fortschritt , aber auch Grenze der deutschsprachigen Überlegungen zum > ange­ nehmen Grauen< in der Mitte des 18. Jahrhunderts ab lesbar werden .

1. Die Entdeckung des Schrecklich-Erhabenen

a) »delightful Horrour« und >>Enthusiastick Terror« - neue ästhetische Erfahrungen bei lohn Dennis Der Stellenwert der ästhetischen Theorie von >>Sir Tremendous Longinus« , wie seine Zeitgenossen John Dennis ( 1 657- 1734) spöttisch nannten\ wurde erst in allerletzter Zeit gewürdigt . 2 Der Engländer stellte als erster in seinen poetologischen Schriften >>Terror« und >>Horror« als >>Enthusiastick Passions« sui generis ins Zentrum des 1. Irene Sirnon: lohn Dennis and neoclassical Criticism. In: Revue beige de Philologie et d' Hi­ stoire, 56 (1978) , H . 3, S . 662-677 , der Hinweis auf den Spitznamen , S. 677. 2. Doris Haynie Ancher: The literary Criticism of lohn Dennis (1979) , siehe Dissertation Abstracts International, A: The Humanities and Social Sciences, 40 (1979) , H. 4, S. 2068-A 2069-A; Jeffrey Barnouw: The Morality ofthe Sublime: Kant and Schiller. In: Studies in Roman­ ticism , 19 (1980) , H. 4, S. 497-5 14; ders . : The Morality ofthe Sublime: To lohn Dennis. In: Com­ parative Literature , 35 (1984) , H. 1 , S. 21-42. Zu Dennis Überlegungen zum Schrecken vgl . ins­ gesamt Samuel H. Monk: The Sublime. A Study of critical Theories in XVIII. -Century England.

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>>Sublime« , das er im legitimierenden Rückgriff auf Pseudo-Longinos' Traktat und unter Berufung auf den Bildgehalt von Miltons epischem Hauptwerk als die kunst­ theoretische Kategorie eines zukünftigen dichterischen Aufschwungs konturiert und - sein entscheidener Beitrag zur kommenden Ästhetik des 18. Jahrhunderts - vom nur Schönen separiert hatte . Schon 1688 hatte Dennis auf seiner Grand Tour ange­ sicht des gewaltigen Schauspiels der Alpennatur die Dissonanz eines >>delightfull Hor­ rour« und >>terrible Joylocus terribilis< : einen Ort der Verlassenheit, Qual und Sünde . 4 Ähnlich in wirklicher Erfahrung: Die Regionen , die einhundert Jahre später >erhaben< genannt werden , erfüllen im 17. Jahrhundert , glaubt man Tagebüchern und Reisejournalen , noch mit Schrecken und Abscheu . In der englischsprachigen Forschung , die sich eingehender als die deutsche mit dem Ursprung und der weiteren Entwicklung der Kategorie des Erhabenen und 2. Auf! . Michigan : Ann Arbor 1960 [zuerst: New York 1935] , bes . S. 44-54 u . S . 207f. ; Patricia Meyer Spacks: The lnsistence of Horror. Aspects of the Supernatural in XV//1. -Century Poetry. Cambridge (Massachusetts) 1962, bes. S. 43ff. ; David B . Morris: The Religious Sublime. Chri­ stian Poetry and critical Tradition in XV//1. -Century England. Lexington 1972, bes. S. 71ff. ; Alberto Martino: Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert. Bd. I : Die Dramaturgie der Aufklärung (1 730-1 780) . Tübingen: Niemeyer 1972 [zuerst: ital. 1967] , bes. S . 41ff. 3. Das Reservoir der Zitierautoritäten ist vergleichsweise klein: Aristoteles, Poetik VI ( 1449b25ff.] (Katharsis) , XIII und XIV ( 1453a35 , 1453b12ff. ] (tragische Lust) , Rhetorik I 1 1 (lusterzeugende Affekte) ; Platon, Philebos (47e-48a] (aus Lust und Schmerz vermischte Emp­ findungen) , Politeia IV 14 [ 439d] (Faszination des Schreckens [den Hinweis auf diese Stelle ver­ danke ich Herrn Prof. Dr. Reinhard Brandt , Marburg]) wird dagegen m. W. nie zitiert; Augusti­ nus, Confessiones III 2,2-2,4 und X 35 ,54-35 ,56 (Schmerzlust) . Aristoteles, Poetik IV ( 1448b9ff. ] , Rhetorik I 1 1 ( 1371b4ff.] (Vergnügen an der Nachahmung schrecklicher Dinge) . Lukrez, De rerum natura III 1-6 (Vergnügen am Unglück Anderer) ; Cicero , Ad familiares V 12 (Vergnügen am Schrecklichen in Kunst und Historiographie) . Pseudo-Longinus, De sublimitate 1 . 3-4 und 35.4 (übergewaltige pathetische Kraft der Dichtung im allgemeinen und Erhabenheit der Natur im besonderen) . Die Überlegungen der Gelehrten und Schriftsteller des 17. und 18. Jahrhunderts zum >angenehmen Grauen< kristallisieren sich an den Gedanken der >falsch< zitier­ ten Klassiker, um ihre eigenen Erörterungen zu legitimieren und ihnen eine scheinbar überzeit­ liche Autorität beizulegen. 4. Vgl . Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 1 7. Jahrhunderts. Köln , Wien: Böhlau 1974, bes. S . 226ff. u. S . 303 .

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dem damit verbundenen Wandel der ästhetischen Erfahrung beschäftigt hat , ist die Rolle der >new sciences< in diesem Prozeß besonders herausgestellt worden . 5 Um den von Gott wegführenden Impuls der naturwissenschaftlichen Entdeckungen neutrali­ sieren zu können , versöhnten die Physikotheologen die Religion mit den neuen Na­ turwissenschaften dadurch , daß sie die Vielfalt der Naturerscheinungen zu Symbolen des Göttlichen umwerteten . Besonders der kopernikanische Umsturz in der Astrono­ mie und die durch Mikroskop und Teleskop eröffnete Erweiterung der Raumvorstel­ lung führten zur Überlagerung der traditionellen Attribute Gottes mit der neuer­ schlossenen unendlichen Weite und Größe der Natur6 : Die erhabene Natur wird zum Spiegel der Gottheit. So erklärt sich , daß die teils bewundernde , teils erschreckende Betrachtung der neueröffneten Sphären der Natur mit religiös-erhebender Stimmung einhergeht. Die symbolische Verbindung von Kosmologie und Religion führt zu einer Neubewertung großer und ungestalter Naturerscheinungen , was eine neuartige Sen­ sibilität für deren von keinem Formgesetz geprägte Größe nach sich zieht. Mit dem neuen Naturerleben konnte in der Kunsttheorie des ausgehenden 17. Jahrhunderts der ursprünglich eine rhetorische Stilhöhe bezeichnende Begriff des Sublimen bzw . Erhabenen zwanglos zusammengebracht werden , da ja in der mittelal­ terlichen >rota Vergilii< die drei >genera discendi< - >humile< , >medium< und >sublime< - nicht nur bezüglich Form und Wirkung , sondern auch in Hinsicht auf den Stoff un­ terschieden wurden. Überdies konnte man sich bei der Übertragung der Kategorie des Sublimen auf erhabene Gegenstände der Natur auf Pseudo-Longinos berufen , der selbst im 35. Abschnitt seiner Abhandlung , die schon 1652 ins Englische übersetzt worden war, ihren Durchbruch jedoch erst 1674 mit Boileaus Übertragung erlebte , das Großartige der Natur bewundernd hervorgehoben und mit der seelischen Größe eines Menschen ins Verhältnis gebracht hatte : Erstaunen erweckt nicht das Schöne , sondern das Ungewöhnliche und Große , nicht ein kleiner B ach , mag er auch durch­ sichtig und nützlich sein , sondern die Donau , der Nil , der Rhein und der Ozean , nicht das Flämmchen , sondern das Feuer am Himmel und im Krater des Ätnas . 7 5 . Vgl . Ernest Tuveson : Space, Deity, and the >Natural Sublimeästhetischen< Beurtei­ lung der Natur steht der Franzose noch ganz im B anne des klassizistischen Ideals amöner Landschaft : >>De vastes forests nous effrayent , Ia veue se dissipe et se perd a regarder de vastes campagnes. Les rivieres d'une juste grandeur nous font voir des bords agreables et nous inspirent insensiblement Ia douceur de leur cours paisible. Les fleuves trop !arges , !es debordemens , !es inondations , nous deplaisent par leur agitation , et nos yeux ne sc;auroient souffrir leur vaste etendue . Les pals sauvages qui n'ont pas receu encore de culture , !es pals ruinez par Ia desolation de Ia guerre , !es ter­ res desertes et abandonnees , ont quelque chose de vaste qui fait naitre en nous com­ me un secret sentiment d'horreur. [ . . . ) vaste est a peu pres Ia meme chose que gäte , que ruine . « 1 1 Nur wenige Jahrzehnte später wird sich mit der positiven Wertung der unermeßlichen, schrecklich-erhabenen Natur auch die Opposition von Wildheit und Kultur umgekehrt haben . Auf den ersten B lick scheint auch Thomas Burnet (1635-1715) etwa zur gleichen Zeit im ersten Buch seiner Theoria sacra tel/uris (lat . 168 1 , eng! . 1 684, dtsch . 1693) , auf die ihres großen Einflusses auf den Hamburger physikotheologischen Kreis um Brockes wegen noch zurückzukommen sein wird , hinsichtlich des Hochgebirges noch die alte negative Einstellung zu teilen . Im Vergleich zur vorsintflutlichen , glatten , Boileau-Despreaux: Traite du Sublime, ou du Merveilleux dans le Discours, traduit du Grec de Longin. In: ders . : (Euvres completes. Introduction par Antoine Adam, Textes etablis et annotes par Fan�oise Escal. Paris: Gallimard 1966 ( = Bibi . de Ia Pleiade , 188) , S. 331-440, hier S. 390. 8. Den komplexen Entwicklungszusammenhang von Kunsttheorie , ästhetischer Wahrneh­ mung und Stilwandel beleuchtet m. E. bisher am besten Franz K. Stanze): Das Bild der Alpen in der Englischen Literatur des 1 7. und 18. Jahrhunderts. In: Germanisch-Romanische Monats­ schrift, [N.F.] 14 (1964) , H. 2, S. 121-138. Die allgemeinen Rahmenbedingungen erörtert im Anschluß an Schillers Überlegungen zum >Sentimentalischen< Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Asthetischen in der modernen Gesellschaft [zuerst 1963]. In: ders . : Subjektivität. Sechs A ufsätze. Frankfurt/M. : Suhrkamp 1974 ( = Bibliothek Suhrkamp, 379) , S. 141-190. 9 . Charles de Marguetel de Saint-Denis, Seigneur de Saint- Evremo rnE D 1ssermtion sur le mot de Vaste. In: ders. : CEuvres en Prose. Textes publies par Rene Ternois. Paris: Didier 1966, Bd. III, S . 375-417, hier >Notice < , S . 367 ; vgl . Theodore A. Littman : Le Sublime en France (16601 714) . Paris: Nizet 1971 , S. 141-160. 10. Ebd. , S . 380. 1 1 . Ebd. , S . 380-381 .

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gleichförmigen und daher schönen Erdgestalt , die Burnet im Rahmen einer Anfang und Ende umfassenden , den Platonismus der Cambridger Schule , die Auslegung der heiligen Schrift und die Erkenntnisse der Geologie integrierenden Geogoniekonzep­ tion unterstellte , befindet sich die heutige Erde in einem »unschönen und baufälli­ genVorbild der Un­ mäßlichkeit>wie wir aus der Römer alten Tempeln und zerfallenen Schaubühnen/ die Großmüthigkeit dieses Volcks erkennen . >Gemüth nicht wenig gerühret>angenehme VerwunderungDas Dritte Buch/ Von Der bevorste­ henden Verbrennung der Welt< , S. 286. Vgl . Suzanne Kelly: Thomas Burnet. In: Dictionary of scientific Biography. Ed. by Charles Coulston Gillispie. Bd. II. New York 1970, S . 612-614. 13. Ebd. , >1. Buch . Von der Sündfluth und Zerreissung der Erden< , IX. Capitel. >Von den Bergen; ihrer Grösse/ Form/ und unregulirtem Lager und Ursprung< , S. 71-84, hier S. 74 ; vgl . Thomas Burnet: The Sacred Theory ofthe Earth. The Second Edition. London 1691 (Ndr. With an Introduction by Basil Willey. London, Fontwell: Centaur Press 1965 ) , Chap . XI >Concerning the Mountains of the Earth , their greatness and irregular Form , their Situation, Causes , and Ori­ gin< , S. 109- 1 1 8 ; zur zeitgenössischen Rezeption vgl . H. V. S. Ogden: Thomas Burnet's Telluris Theoria Sacra< and Mountain Scenery. In: J. of English Literary History, 14 (1947) , S . 139-150. 14. Burnet , Theoria sacra telluris (Anm . 12) , S 77f. 1 5 . Ebd . , S. 7 1 . 1 6 . Ebd . , S . 72. 17. Ebd. , S. 7 1 ; vgl. Burnet, Sacred Theory of the Earth (Anm . 13): »a pleasing kind of stu­ por and admiration« (S . 1 10) . >

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die unmittelbare sinnliche Anschauung der Ungestalt von einer reflexiven Betrach­ tung überlagert wird , die den ersten abschreckenden Eindruck relativiert . Ohne das zweite Moment bliebe die wilde Natur stumm und abscheulich . Diese Interferenz von Sinnlichkeit und Reflexion markiert eine wichtige gedankliche Voraussetzung für das gemischte Gefühl des angenehmen Grauens. Als >physikotheologische Wendung< wird sie im dichterischen Werk Brockes' wiederkehren . Das schrecklich-schöne Doppelgefühl ist am Ende des 17. Jahrhunderts freilich erst Wenigen vertraut. Obwohl Gilbert Burnet (1643- 1715) , Bischof von Salisbury , sich 1 685 auf seiner Reise durch die Schweiz in Genf beim Anblick des fernen Mont­ Elane-Massivs an die Ausführungen Thomas Burnets genau erinnert , so sieht er in dem Gebirgskoloß , der »Verwirret und vermenget« daliegt , doch nichts weiter als ei­ nen Beweis dafür, daß die Sintflut das Unterste »allda zu Oberst gekehret habe . « 1 8 Den entscheidenden Schritt zur ästhetischen Neubewertung der schrecklichen Natur­ gestalt markiert die Erfahrung , die Dennis am 25 . Oktober 1 688 in einem B rief an ei­ nen Unbekannten niederschreibt , in dem er rückblickend seine noch frischen Erleb­ nisse während der Ü berquerung der Alpen festhält . 1 9 Er hatte , von Lyon kommend , wo man am 19. Oktober aufgebrochen war, die Passage über den Mont Cenis gewählt - dem für Engländer üblichen Paß auf der Grand Tour nach Italien , wenn man nicht die gleichermaßen gefährliche Schiffsreise von Marseille nach Genua vorzog . Auf das am Ende des 17. Jahrhunderts noch ungewöhnliche Interesse an einer ein­ gehenden Beschreibung der >pittoresken< - ein Adj ektiv , das erst seit 1770 zum ein­ schlägigen Modewort arriviert - Gebirgslandschaft weist eine an den Empfänger des Briefes gerichtete Reflexion , in der die Schwierigkeit solchen Unterfangens themati­ siert wird . Es sei vergleichsweise einfach , die schon damals touristisch frequentierten Plätze Rom und Neapel dem Leser vor Augen zu stellen , da sich dessen Vorstellungs­ vermögen an ähnlichen Stadtbeschreibungen wenigstens orientieren könne . Unmög­ lich aber sei es , so Dennis an den Adressaten , der sich den Bericht von der Alpen­ überquerung offenbar ausdrücklich vor Antritt der Reise ausgebeten hatte , das Bild eines Gipfels anschaulich zu machen , der selbst dem eigenen Blick kaum faßbar war. In dem Brief aus Turin wird die Erfahrung des Schreckens greifbar, die im anschlie­ ßenden Jahrhundert der Aufklärung die Empfindung angesichts des schrecklich-er18. Gilbert Burnet: Durch die Schweitzl Italien/ auch einige Oerter Deutschlandes und Franck­ reichs vor wenig Jahren gethane Reise [ zuerst: eng! . 1686] . [ Leipzig: ] Johann Friedrich Gleditsch 1693 , s. 35 . 19. John Dennis: The Critical Works. Ed. by Edward Niles Hooker. 2 Bde . Baltimore : John Hopkins 1939/43 ( Ndr. 1964) , nach dieser Ausgabe werden Dennis' Werke im folgenden im Text zitiert . Hier: >Letter describing his crossing the Alpes , dated from Turin, Oct. 25 , 1688< , Bd. II, S . 380-382. Der Brief wurde zuerst 1692 in der ersten Auf! . von Dennis' Miscellanies in Proslf-Mid Verse veröffentlicht ; eine zweite Auf! . erschien 1 693 , weshalb Monk ( Anm . 2) , S. 207, den Brief irrtümlich auf dieses spätere Datum datiert. Vgl . Clarence DeWitt Thorpe: Two Augustans cross the Alps: Dennis and Addison on Mountain Scenery. In: Studies in Philology, XXXII ( 1935 ) , H. 3, S . 463-482.

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habenen Schauspiels der Alpennatur prägen sollte . Im Unterschied aber zu den späteren Zeugnissen, bieten die tagebuchartigen Aufzeichnungen über die neuarti­ gen Eindrücke , die sich Dennis während der Durchquerung der Täler der Savoyer Al­ pen aufdrängten , den entscheidenden Vorteil , daß sie noch kaum von ästhetischer Topik vorgeprägt sein konnten. Ist auch die Niederschrift seiner Erfahrungen nicht li­ terarisch überformt - Petrarcas Mont-Ventoux-Epistel etwa ist ihm nicht präsent20 -, so ist die scheinbare Unmittelbarkeit von Dennis' Blick auf die Gebirgsnatur freilich doch im allgemeinen vermittelt durch die Schule der >Cambridge Platonists< und im besonderen gelenkt durch die Lektüre von Burnets Theoria sacra telluris , deren erd­ geschichtliche Konzeption sich vor allem in der längeren , Anschauung und Reflek­ tion verbindenden Eintragung vom 24 . Oktober niederschlägt . Das mindert den Stel­ lenwert des Briefes innerhalb der Geschichte der Entdeckung des Schrecklich-Erha­ benen jedoch keineswegs , da es einen >ungetrübten< Blick überhaupt nicht gibt. Überdies sollte ein solcher erst recht in einer Zeit, in der man in den zwei Büchern Gottes2 1 , der heiligen Schrift (Liber Dei) und der Natur (Liber creaturarum) gleicher­ maßen geschickt zu lesen verstand , auch nicht erwartet werden . In diesem Sinne ist es daher angebracht, die einschlägige angelsächsische Forschung , in der der komplexe Entstehungszusammenhang der neuartigen > ästhetischen< Wahrnehmung durch die Trennung des sog . >natural sublime< von der Tradition des >rhetorical sublime< zer­ schnitten wurde22 , kritisch zu revidieren, zumal einige ihrer Ergebnisse , abgesehen von der methodischen Unzulänglichkeit , auch philologischer Prüfung nicht standhal­ ten . Nach seiner Ankunft in Savoyen notiert Dennis unter dem D atum des 2 1 . Oktober 1 688 die spontanen Eindrücke der ungewöhnlichen Ausblicke, die sich ihm auftaten : >>[ . . . ] the unusual heighth [ ! ] in which we found our selves, the impending Rock that hung over us , the dreadful Depth of the Precipice , and the Torrent that roar'd at the 20. Vgl . Barnouw , To John Dennis ( Anm. 2) , S . 22ff. , bes. S . 26-27 ; Enrico Straub : Bericht und Reflexion in Petrarcas Ventoux-Epistel (Familiares IV, l) . In: Italien und die Romania in Humanismus und Renaissance. Fs. f. Erich Loos. Hg. v. Klaus W. Hempfer u. Enrico Straub . Wiesbaden : Steiner 1983 , S. 270-288. 2 1 . Vgl . Wolfgang Philipp: Das Werden der A ufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957 , bes . S. 50f. 22. In seiner Rezension der Monographie Monks (Anm. 2) hatte Ronald S. Crane ( in: Philo­ logical Quarterly , 15 (1936) , H. 2, S. 165-167) kritisiert , Monk unterscheide nicht zwischen >>rhe­ torical« und >>natural Sublimeangewendet< wurde . Frederick Staver: >Sublime< as applied to Nature. In: Modern Language Notes, LXX ( 1 955) , H. 1 , S. 484-487 , nennt Bildebrand Jacobs Essay How the MIND is rais'd to the Sublime ( 1735). Tatsächlich aber nannte schon Shaftesbury - wie wir noch sehen - im Anschluß an die

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bottom, gave us such a view as was altogether new and amazing . « (II 380) Wenig spä­ ter fallen dann angesichts des aus »craggy Clifts« und »misty gloom of the Clouds« ge­ bildeten »horrid Prospect« die epochemachenden Stichworte der paradoxen Lust des Erhabenheitserlebnisses : >>The sense of all this produc'd different motions in me , viz. a delightful Horrour, a terrible Joy , and at the same time , that I was infinitely pleas'd, I trembled . « (II 380) Die Erfahrung dieses Gefühlsaufstandes wiederholt sich einige Tage später am 24. Oktober auf dem mit Gipfeln umrahmten Hochplateau des Mont Cenis . Nun be­ schränkt Dennis sich nicht auf die unmittelbare Beschreibung der Gemütsbewegung des angenehmen Grauens , vielmehr bettet er seinen Bericht in eine Reflexion über den Ursprung der Berge ein . Gleichgültig jedoch , ob sie nun als ursprüngliche Schöp­ fung - und Dennis fügt mit Bezug auf B urnets andersartig gelagerte , > neue< Erklärung hinzu : >>[ . . . ] as has been a long time thought« (II 381) - oder aber als Resultat einer universalen Zerstörung zu Beginn der Sintflut betrachtet werden - >>(which surely is the best opinion)« (II 381) -, so erweckt ihr Anblick doch in beiden Fällen Erstaunen. D a Dennis als Subjekt solchen Handeins hier keinen personalen Schöpfergott, son­ dern die Natur23 benennt , rückt seine Sicht nicht nur aufgrund der gleichlautenden Phänomenologie des Schrecklich-Erhabenen und der damit verbundenen vermisch­ ten Empfindung, sondern auch in Hinsicht auf die naturreligiösen Implikationen in die Nähe der ungleich einflußreicheren Erörterungen Shaftesburys zum Thema . Be­ j aht man die erste erdgeschichtliche Hypothese, dann könne man von der Natur, die die formlosen Alpen geschaffen habe , das gleiche sagen , wie von den >>great Wits« ­ eine Anspielung auf den damaligen Streit um die genialen Verfasser des >>beau de­ sordre« in der Ode 24 -, denn auch >>her [d. i. >>Nature's« ; d. V . ] careless , irregular and boldest Strokes are most admirable . « (II 381) Sind die Gebirge aber im Falle der von Burnet unterstellten Geogonie Zeugen der Sintflut, >>then are these Ruines of the old

physikotheologisch-neuplatonische Diskussion die angenehme Szenerie wilder Natur >>subli­ me>Sublime>Great>To an age which habitually spoke of nature as a >book< , the Iandscape appeared vitally suffused with religious ideas and literary values.>lf these Hills were first made with the World , as has been a long time thought, and Nature design'd them only as a Mound to inclose her Garden ltaly: [ . . . ] . >Si l'on doit preferer Je mediocre qui n'a point de defauts, au Sublime qui en a quelques-uns>Sublime qui a des defauts , contre Je mediocre parfaitzierlich und schön< von >groß und herrlich< und unter möglicher Anspielung auf Pseudo-Longinos (35 .4 ) 25 , vergleicht Dennis den »Garden ltaly>The greater Poetry>Epick , Tragick , and the greater Lyrick Poetry>great Pas­ sion>The less Poetry>Comedy and Satire , and the little Ode , and Elegiack and Pastoral Poems>less Passion>First, Vulgar Passion , or that which we commonly call Passion , is that which is moved by the Objects themselves , or by the Ideas in the ordinary Course of Life ; I mean , that common Society which we find in the World. [ . . . ] But, Secondly , Enthusiastick Passion , or Enthusiasm , is a Passion which is moved by the Ideas in Contemplation , or the Meditation of things that belong not to common Life . [ . . . ]>Vulgar Passion>Enthusiasm>less Passion>great Passion>greater Poetry« erregte >>great Passion>Enthusiasm>Passion>Vulgar Passion>Enthusiasm>Religious Ideas>Since 28. Dieckmann (Anm . 24) , S. 90f. , bezieht im Zusammenhang einer knappen Erwähnung von Dennis' theoretischer Rechtfertigung der Odendichtung die genremäßige Differenzierung in hohe und niedrige Dichtung fälschlich auf die in ihr dargestellten statt auf die durch sie erweckten Leidenschaften. 29 . Vgl . Monk (Anm . 2) , S . 48ff. ; Sirnon (Anm . 1 ) , S . 674ff. ; Barnouw , To John Dennis (Anm . 2) , S. 38ff.

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therefore the Enthusiasm in the greater Poetry , is to hold proportion with the Ideas ; [ . . . ] it follows , That the greatest and strongest Enthusiasm that can be employ'd in Poetry , is only justly and reasonably to be deriv'd from Religious ldeas . « (I 340) Den­ nis illustriert daher die Unterscheidung von >>Passion« und >>Enthusiasm« mit ein­ drucksvollen Beispielen aus dem Katalog erhabener, besonders aber schrecklich-er­ habener Attribute Gottes . Neben der Sonne , der innerhalb der neuen, physikotheolo­ gischen Doxologie als >>the brightest material Image of the Divinity« (I 339) eine über­ ragende Bedeutung beigemessen werden muß 30 , nennt Dennis bezeichnenderweise den Donner: >>So Thunder mention'd in common Conversation, gives an ldea of a black Cloud , and a great Noise , which makes no great Impression upon us . But the Idea of it occurring in Meditation , sets before us the most forcible , most resistless , and consequently the most dreadful Phaenomenon in Nature : So that this Idea must move a great deal of Terror in us , and 'tis this sort of Terror that I call Enthusiasm . « (I 339) Enthusiasmus, Schrecken und Erhabenheit sind im Begriff der Dichtung , den Dennis im weiteren entwirft, aufs Engste miteinander verschmolzen : >>And 'tis this sort of Ter­ ror, or Admiration , or Horror, and so of the rest , which express'd in Poetry make that Spirit , that Passion, and that Fire , which so wonderfully please . « (I 339) Dennis nennt im ganzen sechs >>Enthusiastick Passions>Ad­ miration>Terror>Horror>Joy>Sadness>Desire>Pas­ sion>Enthusiasm>greater Poetry>Enthusiastick Passions>and thousands have no feeling and no notion for them>Vulgar Passions>[ . . . ] and therefore Tragedy must necessarily both please and instruct , more generally than Epick Poetry . >Di30. Zur Sonnensymbolik innerhalb der >neuen Doxologie< der Physikotheologie vgl . Philipp (Anm . 2 1 ) , S. 100ff. , bes. S. 103 . 3 1 . Vgl . Dennis , The Advancement and Reformation of Modern Poetry (170 1 ) , Bd. I , S. 197278, bes. Part I, Chap . VI , That Passion is more to be deriv'dfrom a Sacred Subject, than from a Prophane one, S. 216ff.

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vine Poetry« wird die »Pagan Poetry« untergeordnet . 32 Innerhalb der neu gewonne­ nen >heiligen< Poesie 33 , von der er sich insgesamt ein >>Re-establishment of Poetry« (I 334) erhofft und als deren großes Zeichen Miltons Paradiese Lost schon diese Neue Ära verheißt34 , nehmen von den sechs >>Enthusiastick Passions« die dialektisch auf­ einander bezogenen Affekte Bewunderung und Schrecken - Reaktionen angesichts von Gottes Größe und seiner zornigen Allgewalt - die zentrale Stellung ein : >>[ . . ] Ad­ miration and Terror make the principal Greatness of Poetry , and are the chief of the Enthusiastick Passions« (I 363) . Unter dem Gesichtspunkt der sie erweckenden >>ldeas« präfigurieren die beiden favorisierten enthusiastischen Gemütsbewegungen die zwei Inhalte des Erhabenen , die Kant nach nur knapp einhundertj ähriger Vorge­ schichte auf der klassischen Höhe der kategorialen Entfaltung als das mathematisch und dynamisch Erhabene bezeichnen wird . >>Admiration« entzündet sich an >>great Phaenomena of the Material World [ . . . ] : As the Heavens and Heavently Bodies , the Sun , the Moon , the Stars and the Immensity of the Universe , and the Motions of the Heaven and Earth . « (I 348) . Darüber stellt Dennis aber noch >>Terror« : >>[ . . . ] none is more capable of giving a great Spirit to Poe­ try . « (I 355) Die Spitzenstellung des Schreckens innerhalb des wirkungspoetischen Systems kommt diesem Affekt dadurch zu , daß er nicht nur, wie alle sechs >>Enthusia­ stick Passions«, durch Rückbindung an die Gewalt religiöser Ideen gegenüber den >>Vulgar Passions« abgegrenzt wird , sondern darüber hinaus durch legitimierenden Rückgriff auf Pseudo-Longinos als das eigentliche Zentrum des Sublimen ausgewie­ sen wird . Der Schrecken wird für Dennis zum Inbegriff der Kategorie des Erhabenen und begründet deren spezifische Dignität . Nach der Präsentation des Schreckens stellt Dennis fest , daß >>Enthusiastick Ter­ ror« (I 356) am eindringlichsten durch religöse Vorstellungen , insbesondere durch >>the Idea of an angry God« (I 356) ausgelöst werde . Vom Beispiel der schreckenerre­ genden Schilderung des Götterkampfes im 20 . Gesang von Homers Ilias (11. XX 6165) schlägt er den Bogen zu Pseudo-Longinos (9. 6-7) und schließt , daß in dessen Traktat grundsätzlich das Religiöse und das Erhabene miteinander verschränkt seien . Damit macht Dennis Pseudo-Longinos zum Kronzeugen seiner eigenen Dichtungs­ theorie : >>And now I mention Longinus , this is the properest Place to shew , by his Au­ thority , that Religious Ideas are the most proper to give Greatness and Sublimity to a Discourse . « (I 357) Nachdem er im weiteren zunächst die Belegstellen bei Pseudo.

32. Ebd . , Part II, Chap . II, S. 266: >>[ . . . ] the true Divine Poetry has the Advantage of the Pag­ an Poetry« - damit entscheidet Dennis zugleich den Streit zwischen den >Alten< und den >Mo­ dernen< zugunsten der letzteren . 33. Ich spiele bewußt auf Klopstacks kurze Abhandlung Von der heiligen Poesie ( 1755) an , da in ihr im Anschluß an Bodmer ( siehe unten: Kap. 111 , Abschn . 3b) mit analogen binären Zuord­ nungen der Raum der >heiligen< und >höhern Poesie< abgesteckt und aufgewertet wird . Dennis selbst redet von »Sacred Poetry>sacred poetry>religious poetry>Milton's religious sublimity« war für Dennis Beweis dafür, >>that , both for its truth and for its grandeur, Christianity was the single force which could revive modern poetry. « Morris (Anm . 2) , S. 70.

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Longinos referiert und die in ihnen zum Ausdruck kommende Erhabenheit , die im­ mer mit >>terrible Ideas>But to return to Terror, we may plainly see by the foregoing Precepts and Examples of Longinus , that this Enthusiastick Terror contributes extremely to the Sublime; and secondly, that it is most produced by Religious Ideas . >perhaps the violentest of all the Passions>Surprize>Asthonishment>AdmirationVerwunderung< zu übersetzen hat . Der erha­ bene Schrecken wird von solchen Vorstellungen entzündet , die Dennis in einem >Schreckenskatalog< zusammenstellt , der im 18. Jahrhundert ebenso erfolgreich sein wird , wie es derjenige der >>res atroces>Gods , Daemons , Hell , Spirits and Souls of Men , Miracles , Prodigies , Enchantments , Witch­ crafts, Thunder, Tempests , raging Seas , Inundations , Torrents , Earthquakes, Volca­ nos , Monsters , Serpents , Lions , Tygers , Fire , War , Pestilence , Famine , etc . >Wrath and Vengeance of an angry God>Whether the Danger is real or imaginary>For the warmer the Imagination is, the less able we are to reflect , and consequently the things are the most present to us of which we draw the Images; and therefore when the Imagination is so infam' d , as to render the soul utterly incapable of reflecting, there is no difference between the Ima­ ges and the Things themselves ; as we may see , for example , by Men in raging Fevers . >Enthusiastick Terror>Enthusiastick Terror>[ . ] That those very Passions which plague and torment us in Life , please us, nay , transport us in Poetry . >an accomplish'd Poem>Harmony>Sweetness>Perfection>[ . . . ] for an admirable Poet always paints , and all his Pictures are always Beautiful ; Iet the real Objects be never so Odious , Iet them be never so Dreadful , yet he is sure to paint them Delightful. For, tho' sometimes a vigorous lively Imitation of Creatures . .

sehe Illusion. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts. Bochum : Phil. Diss. 197 1 , bes. S. 5ff. u. S 187ff. , zur Unterscheidung zwischen >ästhetischer Illusion< und >Begeisterung< , die als »säkulare (ästhetische) Entsprechung des religiösen Enthu­ siasmus« begriffen wird , S. 1 4-38, hier S. 14. Abgesehen davon , daß Strube die Möglichkeit einer >doppelten< Ästhetik mit den Inhalten Schönheit und Erhabenheit gar nicht in Rechnung stellt und daß durch seine phänomenologische Methode systematische Beschreibung und histo­ rische Erscheinungsform eines >ästhetischen Zustandes< voneinander getrennt werden , gelingt es ihm durch seine Typologie nicht , »den vieldeutigen Schönheitsbegriff zu >sprengen«< (S. 190) , vielmehr wird das Problem lediglich von der werk- auf die wirkuTJ.gspoetische Seite verschoben . 36. Vgl. Hooker (Anm . 19), der in seinen >Explanatory Notes< zu Dennis' beiden Hauptwer­ ken diesbezüglich feststellt: »[ . . . ] the emphasis lies so heavily upon strong emotions as the essence of great poetry , that one can scarcely avoid the impression that he feit the didactic func­ tion of verse to be secondary, if not negligible.« Bd. I, S. 5 1 5 .

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that are in their Natures noxi9us , may be capable of giving us Terror , yet Nature , by giving us a secret Intelligence that the object is not real , can turn even that tormenting Passion to Pleasure . « (I 264) Visiert Dennis hier ein geheimes Bewußtsein vom Fiktionscharakter der schreckli­ chen Darstellung an, die den Schrecken in Vergnügen verwandelt , so zielt er in der späteren Antwort umgekehrt darauf, daß solches Fiktionsbewußtsein gerade getilgt werden muß , soll der Schrecken allein aufgrund seiner rührenden Kraft gefallen . Ein­ mal ein Vergnügen ohne die Schärfe des Schreckens - das andere Mal ein Schrecken ohne die Leichtigkeit des Vergnügens . D i e beiden bei Dennis konkurrierenden Erklärungsversuche des scheinbar parado­ xen Vergnügens am Schrecklichen sind mitnichten Ausdruck einer gewissen Unaus­ geglichenheit , wie in der Forschung unterstellt wurde . 37 Vielmehr erklären sie sich aus dem Umstand, daß Dennis insgesamt auf eine >doppelte Ästhetik< abhob . Orien­ tierte sich die rationalistische , an Aristoteles via Boileau anknüpfende Interpretation an dem traditionellen klassizistischen Schönheitsbegriff, so zielte die sich auf die Au­ torität Pseudo-Longinos' stützende emotionalistische Deutung auf die neue poetolo­ gische Kategorie der Erhabenheit, mit deren Hilfe der erhoffte Aufschwung der Dichtung inauguriert werden sollte . Zwar ist das Erhabene bei Dennis wie bei seinem Vorbild Pseudo-Longinos mit ethischen , richtiger : mit religiösen Vorstellungen kon­ notiert , doch folgt daraus keineswegs , wie jüngst in der Forschung unter falscher Per­ spektivierung auf Schillers Begriff der >energischen Schönheit< 38 behauptet worden ist , daß »Dennis thinks of the sublime as continuous with the beautiful« . 39 Vielmehr 37 . Vgl . Sirnon (Anm . 1 ) , S. 677. 38. Vgl . Friedrich Schiller: Ober die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) , Nationalausgabe, Bd. XX, S. 309-412, bes. 16. Brief, S. 360-363 , hier S. 361 . Vgl . Ueber das Erhabene ( entst. 1793-96 [?] , gedr. 180 1 ) , Nationalausgabe , Bd. XXI , S. 38-54 ; [Einschluß ] zum Brief >An den Prinzen von Augustenburg< , 1 1 . Nov. 1793 . In: Ober die ästheti­ sche Erziehung des Menschen. Briefe an den Augustenburger, Ankündigung der >Horen< und letzte , verbesserte Fassung. Mit einem Vorwort hg. v. Wolfhart Henckmann. München: Fink 1967 , s. 33-46. 39. Barnouw, To John Dennis (Anm . 2) , S. 22 ; vgl . Sirnon (Anm. 1 ) , die ebenfalls >>Sublime>a higher order of beauty>Dennis points forward to Schiller>dual estheticRomantiker< Schiller ( vgl . S. 498) nicht unter dem Dach des >Erhabenen< , sondern sowohl in der Abhandlung Ueber das Erhabene - um seine These zu halten , versteigt sich Barnouw zur Behauptung, sie sei

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Neuansätze - delightfull horror I terreur agreable

besteht der Rang von Dennis' Überlegungen darin , daß er mit den Unterscheidungen niedriger und hoher Dichtung , gemeiner und enthusiastischer Leidenschaften in das kunsttheoretische Denken eine entscheidende Zweiteilung einführt , der nun in un­ terschiedlichster Weise weitere Oppositionspaare zugeordnet werden können. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt - Addison wird ihn acht Jahre später gehen - die so entstehenden binären Reihen unter den beiden Kategorien >Schönheit< und >Erha­ benheit< zu subsumieren und damit die beiden Inhalte der > doppelten< Ästhetik des 18. Jahrhunderts zu institutionalisieren . Da die von Dennis erfahrene Gefühlsdisso­ nanz des »delightful horrourlntro­ duction< , S. XCVf. u. >Explanatory Notes< , Bd. I, S. 508 u. 516, Bd. II, S. 524 (Dennis) . In der Mitte des 18. Jahrhunderts hat sich Dennis' Unterscheidung von >>pulchrum>dulce>PrachtSweet­ nessuncommonNeue< als »WonderfulHauptNebenvergnügungen< - »Primary« und »Secondary Pleasures« -, die von wirklichen Dingen , insbesondere von den Er­ scheinungen der Natur bzw . von fiktiven Ideen , also besonders von Kunstwerken er­ regt werden . Für diese »unschuldigen Vergnügungen« , denen überdies noch ein psy­ chohygienischer Nutzen zukommt , da sie kathartisch »Kummer und die Schwer­ muth« zerstreuen , ist in besonderem Maße ein Mensch mit »einer geschärften Einbil­ dungskraft« - »Man of a Polite Imagination« - empfänglich . 92 Bildung und Kultur sind mithin nicht erst für Kant am Ende des Jahrhunderts , son­ dern bereits für Addison an dessen Beginn Voraussetzung der vermischten Empfin­ dung des angenehmen Schreckens . 93 Kulturelle Kompetenz macht einem Menschen nicht nur den geselligen Umgang mit Literatur und bildenden Künsten angenehm , vielmehr dienen ihm auch »die allerrauhesten unbebauten Theile der Natur zu seinem Vergnügen«. 94 Selbst der fürchterliche oder widrige Anblick , »die erschreckliche Un­ geheurigkeit eines Dinges« erregt bei allem Widerwillen »noch eine gewisse Vermi­ schung von Vergnügung« - »a Mixture of Delight in the very Disgust. « 95 Nun zählt Addison die Größe habenden Naturerscheinungen auf, die eine solche dissonante Empfindung hervorrufen: »Dergleichen sind der Anblick einer ganzen Landgegend , einer ungebauten großen Wüsteney , großer hoher Berge und Felsen, steiler Höhen , und tiefer Abgründe , oder eines sehr breiten Wassers , allwo wir nicht durch die Neu­ igkeit oder durch die Schönheit des Anblicks , sondern durch die raube Art der Pracht gerühret werden , welche in vielen erstaunungswürdigen Werken der Natur er­ scheint . « 96 Der Betrachter der gewaltigen Naturerscheinungen wird »in ein angeneh­ mes Erstaunen« - »pleasing Asthonishment« - und in »ein ergötzendes Schrecken und Entsetzen« - »delightful Stilness and Amazement« - gestürzt. 97 Die unbegrenzte Weite der Wüste oder des Weltmeeres ist für Addison ein Bild der Freiheit . 98 Die Be­ trachtung der Unendlichkeit des bestirnten Nachthimmels , aber auch des sturmbe­ wegten Ozeans , führt zu kontemplativer »Verwunderung« - »Admiration« - und stei­ gert sich zur höchsten »Staffel des Erstaunens und der Verehrung« - »Astonishment and Devotion« - gegenüber dem Schöpfergott . 99 Innerhalb der traditionellen kunsttheoretischen Opposition von »schön oder häß­ lich« - »Beautiful or Deformed« - »Schönheit oder Garstigkeit« - »Beauty or Defor91 . Zuschauer, Tl . 6, Nr. 41 1 , S. 73 , vgl . Spectator, Vol . III, Nr. 41 1 , S. 277 . 92. Zuschauer, Nr. 41 1 , S . 75 und S . 74, vgl . Spectator, Nr. 41 1 , S . 278. 93. Vgl. Kant , Kritik der Urteilskraft (1790) , Werke , Bd. V, S . 233-620, hier S . 353 (= § 29 , S. B 1 10-B 1 1 1 ) . 94. Zuschauer, Nr. 41 1 , S. 74. 95 . Zuschauer, Nr. 412, S . 76 , vgl. Spectator, Nr. 412, S . 279 . 96. Zuschauer, Nr. 412, S . 76f. 97. Zuschauer, Nr. 412, S. 77 , vgl . Spectator, Nr. 412, S. 279. 98. Vgl . Zuschauer, Nr. 412, S. 77 . 99. Zuschauer, Nr. 413, S . 82, vgl. Spectator, Nr. 413, S . 282f.

Agreeable kind of horror - Addison

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mity>von einem Sturme überfallen wor­ den>ein recht vergnügendes Erstaunen>a very pleasing Astonishment>durch ein Ungewitter erregt worden, so , daß der Horizont an allen Seiten weiter nichts ist , als schäumende Wogen und wallende Berge : so ist es un­ möglich , das angenehme Schrecken zu beschreiben , welches von einer solchen Aus­ sicht entsteht . >agreeable Hor­ rour>den höchsten Arten der Vergnügungen>den Begriff von einem allmächtigen Wesen>Der wahre Gegensatz zur Schönheit ist nicht Disproportion oder Mißgestalt , sondern Häßlichkeit [ ] . >deformity« eine objektive Bestimmung des Schönen durch Begriffe wie Proportion oder Vollkommenheit - Definitionen die Burke ebenfalls verwirft . Bezeichnend für die englisch-deutsche Differenz der Begriffsbestimmung ist die Übersetzung von William Hay (1695-1755): Deformity . An Essay.London : Dodsley 1754 e1754, 3 1755 u. ö . ) mit Versuch von der Häßlichkeit. Aus dem Englischen übersetzt [von Robert von Neufville (1728-1789 oder 1790) ] . Breslau: Meyer 1759. 101 . Zuschauer, Tl . 7 (1742) , Nr. 489, S. 75 ; vgl . Addison , Remarks (Anm . 80) , S. 361 . 102. Zuschauer, Tl . 7, Nr. 489 , S. 74, vgl . Spectator, Vol. IV, Nr. 489 , S. 48. 103. Zuschauer, Nr. 489, S . 74. 104. Spectator, Nr. 489, S. 48 . 105 . Zuschauer, Nr. 489 , S. 74, vgl . Spectator, Nr. 489, S. 48. 106. Zuschauer, Nr. 489, S . 74f. , vgl . Spectator, Nr. 489 , S . 48. . . •

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1712 jeden Samstag im Spectator erschienen waren 1 07 , ebenfalls bedient, um zwei Ar­ ten erhabener Bildgehalte stilistisch zu kennzeichnen , die den beiden Protagonisten des Epos , Satan und Gott , in allegorisierender Absicht zugeordnet waren . Das Bild Satans, das Milton im ersten Buch seines erhabenen 108 Werkes imaginiert , ist fähig , >>des Lesers Einbildungskraft zu erheben und zu erschrecken>mit solchen hohen und erschrecklichen Abschilderungen>das Geschrey der Heere , das Rasseln der ehernen Wagen, das Werfen der Fel­ sen und Berge , das Erdbeben , das Feuer, der Donnerdie unterirdische Welt mit allen ihren Schrecken>gestaltlosen ungeformten Haufen von Materialien , die an noch [ !] im Chaos und in der Verwirrung lagen>mit etwas erstaunlich großem und wildem>der Glückseligkeit und Herrlichkeit>mit andächtigen Gedanken>göttliche Liebe und gottselige Furcht>heimlichen Er­ getzung und Zufriedenheit>das erhabene Gedicht Miltons>Sublimity of his Thoughts>Erhabenheit>Hoheit>Greatness« der gewal­ tigen oder bedrohlichen Natur und einem >>Secondary Pleasures« erweckenden >>Sub­ lime« erhabener Dichtung zu differenzieren 1 15 , so verschwimmt doch diese Unter­ scheidung der stofflichen Seite von der künstlerischen Darstellungsart der Dichtung in der Verschränkung der Anschauungen des ruhigen bzw . aufgewühlten Ozeans mit der Allegorie Gottes bzw . Satans samt der Wirkung von >>pleasing Astonishment« ei­ nerseits und >>agreeable Horrour« andererseits . Überhaupt zielte Addison hinsicht­ lich des generellen Verhältnisses zwischen Natur und Kunst auf eine Durchdringung beider Bereiche, damit , wie er mit Blick auf die Gesamtkunstwerke der Landschafts­ gärtnerei und der B aukunst feststellte, >>sie sich einander beystehen , und vollkomm­ ner machenHauptvergnügungen< des angenehmen Grauens, das der Anblick unge­ bändigter und bedrohlicher Natur sowie die Imagination der schrecklich-erhabenen Szenen großer epischer Dichtung erregen, kennt Addison auch die >Nebenvergnü­ gungen< eines angenehmen Schreckens , der durch die künstlerische Darstellung un­ angenehmer Gegenstände oder des Unglücks anderer Menschen erweckt wird . Auf diese >>andere Vergnügung der Einbildungskraft>Great«) - >>a thousand Savage Prospects of vast Desarts, wide uncultivated Marshes , huge Forests, mishapen Rocks and Precipices>Sublime ldeasGreatness< und >Sublimity< vgl. Monk (Anm. 2) , S . 57 und Hippie (Anm . 90) , S. 16f. , dagegen Müllenbrock (Anm . 90) , S. 270: >>die beiden Begriffe werden weitgehend ineinsgesetztdoppelten< Ästhetik . Die Beto­ nung der kontemplativen Inhalte im Mathematisch-Erhabenen dagegen rückt es er­ neut an das Schöne heran und bezeichnet dann dessen höchste , ideale Erscheinung. In der weiteren , von der glücklichen Liaison zwischen >neuen< Naturwissenschaften , Physikotheologie und Traktat des Pseudo-Longinos geprägten Entwicklungsge­ schichte des Erhabenen in England treten die beiden seit Addison fixierten Inhalte zunehmend auseinander. Zwei Beispiele werden im folgenden herausgegriffen, um an der Sonderentwicklung des Religiös-Erhabenen auf den >heiligen Schrecken< als einen Grenzfall angenehmen Grauens hinzuweisen . Während der Arzt John B aillie (gest . 1743) die kontemplativen Momente eines religiös gefärbten Erhabenheilser­ lebnisses ins Zentrum seiner Erörterungen stellt, zielt der zum katholischen Bekennt­ nis konvertierte Ire James Usher ( 1720- 1772) dagegen auf eine durch Schrecken und Entzücken erschütternde , kontrastharmonische Gotteserfahrung. In seinem posthum veröffentlichten An Essay on the Sublime 1 17 (1747) akzentuiert B aillie besonders die Erweiterung und feierliche Erhebung des Gemüts in Anbe­ tracht riesiger Aussichten , des Gebirges, des Himmelszelts oder des unermeßlichen Ozeans: >>Vast Objects occasion vast Sensations , and vast Sensations give the Mind a higher Idea of her own Powers -->Sublime in Nature>Greatness>Vastness> Uniformity>Admiration>SO­ lemn SedatenessIntroduction< , S. I-VI ; Monk (Anm . 2) , S. 72-77. Baillies Fassung des Erhabenen ist besonders von Alexander Gerard (1728- 1795 ) : An Essay on Taste [ 1 1759] . To which is now added, Part fourth, Of the Standard of Taste. The third Edition. Edinburgh 1780 (Ndr. hg. v. Walter J . Hippie . Gainesville 1963 ) , S. 1 1ff. (>Of the sense or taste of grandeur and sublimity>Of the passion of them that flock to see danger>Fremdes Unglück zu sehen , ist etwas Angenehmes ; denn es gefällt , nicht sofern es ein Unglück ist , sondern sofern es ein fremdes Unglück ist . Daher kommt es , daß Menschen zusammenlaufen, um sich Tod und Gefahren ande­ rer anzusehen . >Hobbesian doctrine>Die nachahmende Kunst ist et­ was Angenehmes ; sie ruft nämlich das frühere Urbild zurück . Die Vergegenwärti­ gung aber von Vergangenern ist angenehm , wenn es gut war, weil es gut war ; wenn es 43 . Ebd . 44. Ebd . , S. 51f. Vgl . DeWitt Thorpe (Anm. 40) , S. 143f. ; Martino (Anm. 15), S. 147-149. 45 . Vgl . Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger [De homine (1658)/De cive (1642)]. EingeL und hg. von Günter Gawlick . Hamburg: Meiner 1954 ( Phil . Bibi . , 158) , Kap. XI 6, S . 24. 46. Ebd . , XI 1 5 , S. 29. 47. Ebd. , XI 1 1 , S . 26. 48. Ebd . , XI 12, S. 26. 49. Earl R. Wassermann : The Pleasures of Tragedy. In: Journal of English literary History , 14 (1947) , S . 283-307 , hier S. 283 , Fußn . Wassermann nennt neben der überholten mimesistheo­ retischen Konvention in systematischer Hinsicht drei gültige Beiträge zur >>esthetic of pain>Enthusiastick Passion>Schutzschrift für die Bühne>Nut­ zen der Schauspiele>Mode>Ehemals hieng man sich stark ; gegenwärtig ist die gewöhnlichste Art des Todes , sich die Kehle abzuschneiden . klassische< Land des Selbstmords im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte, 50 (1968) , H. 2, S. 276-288, bes. S . 277 (Muralt) u. S . 287 (Langeweile) . Anonymos: Von der Langeweile. In: Hannover­ isches Magazin , Bd. II (1764) , St. 72 (7. Sept . ) , Sp. 1 135-1 146, Sp. 1 138: »Aus Langeweile hängt sich der Britte [ . . . )Von der langen Weile und dem Kurzweil< [ = § 58, S . BA 173)) : »>Die Eng­ länder erhenken sich , um sich die Zeit zu passierenDie Engländer erhängen sich , um sich die Zeit zu vertreiben .That the Stage is useful to Government>That the Stage is useful to the Advance­ ment of Religionbarocken< Nützlichkeitsstrategien . Auf den Vorwurf, die Tragödie mache furchtsam , schreckhaft und gegenüber dem Laster nachsichtig , ermutige zur Untugend und stachle die Leidenschaften , beson­ ders die Begierde au f'4 , antwortet Dennis mit dem Argument der Affektdämpfung65 , dem seit der bekannten Katharsisumdeutung durch Heinsius und dessen Wiederauf­ nahme durch Dacier die - >>by Monsieur De St. Evremont's Favourbarocken< Nützlichkeitsüberlegungen , sondern viel­ mehr in einer neuartigen Rechtfertigung der affektiven Wirkung der Tragödie , die er sogleich im ersten und wichtigsten , freilich im ganzen vergleichsweise kurzen Kapi­ te f 1 entwirft . Zwar hatte Dennis den auf Lukrez zurückgehenden und durch Hobbes vermittel­ ten Topos eines lustvollen Vergleichs zwischen unbedrängtem Zuschauer und dem vom Unglück Betroffenen im Zusammenhang der Vanitas-Didaxe als >>secret Pleasu­ re« 72 einer Schadenfreude gedeutet , die den Untertan angesichts der Schicksalsschlä­ ge und Leiden der > Großen dieser Welt< befällt . Dennis eigentlicher Erklärungsan­ satz der tragischen Lust besteht jedoch in seiner aus der Rhetorik übernommenen , durch die Wiederentdeckung Pseudo-Longinos' pointierten und durch Hobbes' Psy­ chologie sanktionierten Aufwertung der Leidenschaften in der Kunst und besonders in den dramatischen Gattungen der Dichtung durch die Gleichsetzung von >>Passion« , >>Pleasure« und >>Happiness« . Im einzelnen : Wie Hobbes sieht auch Dennis im Streben nach Glückseligkeit ( >>Happiness«) das Ziel allen menschlichen Handelns: >>For the chief End and Design of Man is to make hirnself happy . « 73 Ohne die negativen Implikationen zu überneh­ men , beruft sich Dennis bei seinem emotionalistischen Neuansatz auf die anthropolo­ gischen Beobachtungen Pascals über den von >>ennui« geprägten Zustand des Men­ schen . Als unmittelbar sinnlichem Antrieb liegt dem menschlichen Streben nach >>Happiness« nämlich , >>as Monsieur Pascal observes« 74 , der Versuch zugrunde , sich von der schmerzenden Schwermut der alltäglichen Routine zu befreien . Auf dem Hintergrund dieser an Pascals Beschreibung des >>ennui« gemahnenden Beurteilung , setzt Dennis Glückseligkeit und Vergnügen gleich : >>By Happiness then , I never could understand any thing eise but Pleasure ; for I never could have any Notion of Happi­ ness , that did not agree with Pleasure , or any Notion of Pleasure , that did not agree with Happiness . « 75 Auf dieser Gleichsetzung, für die Dennis die Evidenz der Erfah­ rung beansprucht , beruht die folgende Rechtfertigung der tragischen Affekterre­ gung . Das Problem besteht nun darin , einen Zustand zu finden , der der menschlichen , besonderes aber englischen Verfallenheit an die Melancholie bzw . den Spleen entge69. 70. 71. 72. 73. 74. 75 .

Vgl . ebd . , S. 165f. Vgl . ebd . , S. 183ff. Hier ebd . , S. 148- 15 1 . Dennis, Usefulness (Anm . 6 1 ) , S . 165 . Ebd . , S . 148. Ebd . , S . 149. Ebd . , S . 148.

Neuansätze - delightfull horror I terreur agreable

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gen , Vergnügen garantiert . Reflektion und Philosophie erscheinen eher als Hindernis - >> Reason [ . . ] is an Impediment to our Pleasure>For Reason may often afflict us, and make us miserable , by setting our Impotence , or our Guilt, before us ; but that which it generally does , is the maintainig us in a languishing State of Indifference , which , perhaps , is more remov'd from Pleasure , than it is from Affliction , and which may be said to be the ordinary State of Men . > Noth­ ing but Passion , in effect , can please us , which every one may know by Experience [ . . ] . >Since nothing but Pleasure can make us happy , it follows , that to be very happy , we must be much pleas'd; and since nothing but Passion can please us , it follows, that to be very much pleas'd, we must be very much mov'd; This needs no Proof, or, if it did , Experience would be a very convincing one ; since any one may find , when he has a great deal of Pleasure , that he is extremely mov'd . >And no Passion can be allow'd of by the Understanding, that is not rais'd by its true Springs , and augmented by its just Degrees . Now in the World it is so very rare to have our Passions thus rais'd, and so improv'd, that , that is the Reason why we are so seldom throughly and sincerely pleas'd. But in the Drama , the Passions are false and abominable , unless they are mov'd by their true Springs , and rais'd by their just Degrees . Thus are they mov'd , thus are they rais'd in every well-writ Tragedy , till they come to as great a Height as Reason can very weil bear . >So that the Passions are .

.

76. 77. 78. 79. 80.

Ebd . , S. 149. Ebd. Ebd . Ebd . , S . 150. Ebd .

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seldom any where so pleasing, and no where so safe , as they are in Tragedy . Thus have I shewn , that to be happy , is to be pleas'd, and to be pleas'd , is to be mov'd in such a manner, as is allow'd of by Reason ; I have shewn too , that Tragedy moves us thus , and consequently pleases us , and consequently makes us happy . Which was the Thing to be prov'd . « 81 Nun spielt Dennis noch einen Trumpf aus: Er verbindet nämlich seine anthropolo­ gischen Aussagen über die menschliche Misere - »the Misery of Human Life« 82 - und deren Abhilfe mit einer historisch relativierenden , den englischen Nationalcharakter akzentuierenden Betrachtungsweise , indem er die lebenswichtige , prophylaktisch­ therapeutische Bedeutung des Theaters hinsichtlich des Spleens und dessen gefährli­ che Folgen herausstellt . Unter Anspielung auf Sir William Temples nationalcharakte­ ristische Diagnose83 stellt Dennis fest, daß die Schaubühne für die Engländer zur Zer­ streuung ihres Spleens gänzlich unentbehrlich ist. Daraus folgt : »That the English , to be happy , have more need , than other People , of something that will raise their Pas­ sions in such a manner, as shall be agreeable to their Reasons , and that , by consequen­ ce , they have more need of the Drama . « 84 Die pathologischen Formen der Langeweile führen bei Dennis also zu einer neuen und positiven Bewertung der von der Tragödie bewirkten Gemütsbewegungen . Doch wird die Rechtfertigung der aufregenden Wirkung des Trauerspiels nicht in Hinsicht auf die spezifisch tragischen Affekte Mitleid und Schrecken fortgetrieben . Das Pro­ blem , warum ausgerechnet dc;r tragische Schrecken das Vergnügen der Rührung her­ vorbringt , bleibt bei Dennis noch ausgeblendet . Vielmehr verebbt der wegen des Le­ gitimationsdrucks noch vernünftig-moderierte emotionalistische Neuansatz , mit dem Dennis mit seiner >Schutzschrift< aus dem Schatten einer mächtigen Tradition tritt , im weiteren in den skizzierten Bahnen der Didaktisierung des Trauerspiels. Aufs Ganze der Usefu/lness Schrift gesehen, bleibt das Vergnügen der Gemütsbewegung der mo­ ralischen Nützlichkeit der Tragödie noch untergeordnet . Doch weisen insbesondere Dennis' Gleichsetzung der alltäglichen Routine mit Langeweile und Spleen und seine daraus abgeleitete Folgerung nach dem Vergnügen der Gemütsbewegung auf die bahnbrechenden Gedanken des Abbes Dubos voraus . 85 -

8 1 . Ebd . , S. 151 . 82. Ebd . 83. >>Now , there is no Nation in Europe, as has been observ'd above a thousand times, that is so generally addicted to the Spleen, as the English. >Enthusiastick Terror« als spezifischem Affekt des Erhabenen , stand eine das künstlerische Geschick pointierende , mimesistheoretische Erklärung des Vergnügens an der Darstellung schrecklicher und häßlicher Dinge . Das unverbundene Nebeneinander alter und neuer Positionen charakterisiert auch die poetologische Theorie in der Übergangszeit vom Klassizismus zur Aufklärung in Frankreich . Im Traite du Beau 86 (1715) formuliert Jean-Pierre de Crousaz ( 1 663- 1748) einer­ seits eine intellektualistische Ästhetik, die objektivistisch um die Begriffe >>variete« , >>uniformite« , >>regularite« , >>ordre« und >>proportion« zentriert ist . 87 Andererseits je­ doch tendiert er unter Bezugnahme auf die selbstreferentielle Struktur des Selbstge­ fühls , die ausdrücklich mit der Psychologie des >Ennui< begründet wird , zu einer sub­ jektiven Fassung des Schönen . Dabei handelt es sich keineswegs um den >>Salto mor­ tale des Cartesianers« (Baeumler) 88 , vielmehr führt Crousaz nur den bei Descartes selbst angelegten ästhetischen Grundsatz der inneren Empfindung weiter aus : >>Com­ me Ia nature de !'Esprit humain consiste a penser , & que Ia pensee est du moins Ia sui­ te Ia plus essentielle de sa nature , Ia premiere propriete de son essence , il faut tomber d'accord que nous sommes faits pour penser; & puisque Ia pensee est un acte qui se 86. Jean-Pierre de Crousaz: Traite du Beau. Oil l'on montre en quoi consiste ce que l'on nomme ainsi , par des Exemples tirez de Ia ph1part des Arts & des Sciences. Amsterdam : Fran­ �rois l'Honore 1715. 87. Ebd . , Chap . III, >Caracteres reels & naturels du Beau< , S . 12-16 (Randglossen) . 88 . Baeumler (Anm . 13), S. 47 .

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sent , il est encore manifeste que nous sommes nes pour vivre penetrez de sentimens. Ce sont en effet !es sentiments qui decident de notre bonheur, & de notre malheur. Nes pour sentir, plus nos sentimens sont vifs , pourvü qu'ils ne soient pas douleureux , plus notre etat est parfait & propre a remplir notre destination . « 89 Aufgrund der aus der Selbstempfindung des Denkens abgeleiteten , an Dennis erinnernden emotionali­ stischen Gleichsetzung von menschlichem Wesen , Glück und lebhafter Gemütserre­ gung werden für Crousaz daher unter dieser Perspektive die Gefühle zum Bestim­ mungsgrund des Schönen : »il faut qu'un objet qui merite Je nom de Beau , fasse naitre des sentimens agreables . « 90 Doch zeichnet sich unter dem Eindruck der Psychologie der Langeweile eine Relativierung der Voraussetzung ab , daß die vom >schönen< Ge­ genstand erweckten Empfindungen lebhaft und angenehm , nicht aber schmerzlich sein dürfen : »Nous aimons donc tous a etre occupez de sentimens vifs . L'ennui est de tous !es etats celui qui nous paroit Je plus insupportable , & malgre Ia repugnance de notre nature pour Ia peine , !es travaux !es plus laborieux cessent de nous rebuter des qu'ils deviennent necessaires pour nous tirer de l'ennui . « 91 Die Psychologisierung des Schönen führt Crousaz zur Ergänzung des oben ange­ führten Katalogs objektiver Kriterien um einige ausschließlich durch ihre emotive Wirkung begründete Prinzipien . Genannt werden »grandeur« , »nouveaute« , »diversi­ te« 92 und der Glanz des die Schönheit erhebenden »desordre« . 93 Während bei Dennis der emotionalistische Neuansatz zu ersten Auflösungserschei­ nungen der moraldidaktischen Kunstfunktion und bei Crousaz zur Relativierung des klassizistischen Kunstideals führte , zeichnete sich in den wohl wenig nach 1717 ent­ standenen , aber erst 1759 posthum erschienenen und daher unbeachtet gebliebenen Remarques sur le Discours qui a pour Titre: >De I'Imitation par rapport a Ia Tragedie< 94 89 . Crousaz (Anm . 86) , Chap. VII , >De !'Empire de Ia Beaute sur nos sentimens< , S. 63-82, hier S . 73 . 90. Ebd . , S. 7 1 . 91 . Ebd . , S . 73f. 92. Ebd . , S. 74. 93 . Ebd. , S. 77 . 94. Henri-Fran«ois d'Aguesseau: Remarques sur le Discours qui a pour Titre: >De /'Imitation par rapport il la Tragedie>Ces Remar­ ques ont ete faites par M. le Chancetier d'Aguesseau pendant son sejour a Fresnes , sur un Dis­ cours compopse par M . de Valincour. « (S. 350, Fußn . , vgl . >Avertissement< , S. XXXIX) Zwei­ mal als Kanzler Frankreichs in Ungnade gefallen, zog sich d' Aguesseau zunächst zwischen 1718 und 1720 und ein weiteres Mal 1722- 1727 nach Fresnes zurück . Eine genauere Datierung ist pro­ blematisch , da der von d' Aguesseau kritisierte Diskurs De I' Imitation par rappoprt a Ia Tragedie von Valincour nicht ermittelt werden konnte . Ob er gedruckt vorlag, ist unklar. Aus der Einlei­ tung der Herausgeber geht lediglich hervor, daß Valincour den Diskurs d' Aguesseau mitgeteilt (>>lui avoit communiqueplaisir de l'Imitationde ces deux differentes especes de plaisirs>causes du plaisir qu'une Tragedie parfaite excite dans l'ame des Spectateurs

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Neuansätze - delightfull horror I terreur agreable

Zu Beginn seiner Analyse der >>Veritables sources de ces plaisirs« (35 1) betont d' Aguesseau , der sich , wie Saint-Sirnon berichtet , während der zweieinhalb Jahre sei­ nes Exils in Fresnes gelangweilt haben so11 97 , in methodischer Hinsicht sein empirisch­ introspektives Vorgehen . 98 Ausgehend von der >Ennui>langueur & d'abattement>[ . . . ] l'action est tellement de l'essence de notre ame , qu'elle cesse­ roit absolument d'etre , si elle cessoit d' agir . >Sans effort leur inquie­ tude naturelle . >plaisir d'apprendre>Saint Augustin se reproche !es !armes trop agreables qu'il avoit versees au Theatre [ . . . ] & il n'y a per­ sonne qui n'ait fait l'experience de Ia douceur que l'on goute a s'attendrir sur des mal­ heurs qu'on pleure sans y etre veritablement interesse . Dolor ipse est volup­ tas ejus< . « In der englischen Diskussion bezieht sich niemand auf die Augustinische Mitleids­ theorie , vgl . Wassermann (Anm . 49) , S. 299 , Fußn . 56. In die deutsche Tragödiendiskussion bringt erst Bernays (Anm. 29) , >Augustinus über Tragödie< , S. 1 15-117, die Augustinischen Geständnisse über die »hedonistische Natur des tragischen Mitleids>dieser augustinische Topos im 18. Jahrhundert in der Diskussion um die Natur der tragischen Lust bekannt und zitiert« war. Als Beleg wird jedoch lediglich Louis Racine angeführt.

Melancholieprophylaxe und rührende Kunstwirkung

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feintes que nous y [dans Ia Tragedie ; d . V.] voyons, nous plaisent par !es memes rai­ sons que !es passions reelles ; parce qu'en effet elles en excitent de reelles dans notre ame ; ou parce qu'elles nous rappellent Je souvenir de celles que nous avons eprou­ vees. [ . . . ] ce sont ces miseres memes , qu'on aime a y voir & a y sentir . >un miroir ardent« (374) - so zu bündeln , >>que l'esprit tout occu­ pe de l'objet imite n'ait pas Je loisir de penser a l'art de l'imitation . « (375) Ziel der Kunst muß es sein , daß der Zuschauer die tragische Handlung für einen Moment >>comme une action veritable« betrachtet und die Kopie fürs Original nimmt , so daß >>des malheurs feints excitent une compassion presque reelle« (376) . Wie ist aber nach der wirkungspoetisch motivierten Einebnung der Kunstdiffe­ renz 100 noch dem Einwurf der Schaubühnenfeinde zu begegnen , daß das Vergnügen an tragischen Gegenständen sündhaft bzw . moralisch verwerflich sei , weil es zum Komplizen des Lasters mache? 101 Gar nicht! Die Umwertung der j ansenistischen Theaterverdikte und die amorali­ sche Bej ahung der > Korruption des Herzens< muß vielmehr als eindrucksvollster Bei­ trag der Remarques d' Aguesseaus gewertet werden . Die an Augustinus anknüpfende Beobachtung des angenehm schmerzenden Mit­ leidens führt d' Aguesseau zur Feststellung, daß wir in der Tragödie nicht nur Vergnü­ gen an den entzündeten Leidenschaften , sondern darüber hinaus auch Genuß und Befriedigung an den geadelten und gerechtfertigten Untugenden finden , denen der Künstler die natürliche Häßlichkeit raubt und sie so verführerisch und schön zu ge­ stalten weiß , so daß wir geneigt sind , auch mit dem Laster mitzuleiden , statt es zu ver­ dammen : >>Le charme du spectacle, !es actions qui y sont representees , l'artifice de Ia Poesi e , & l ' enchantement des paroles par lesquelles elle flatte Ia corruption du coeur,

etouffent peu-a-peu !es remords de Ia conscience , en appaisent !es scrupules , & effa­ cent insensiblement cette pudeur importune qui fait d'abord qu'on regarde Je crime comme impossible ; on en voit non-seulement Ia possibilite , mais Ia facilite : on en ap­ prend Je chemin , on en etudie Je Iangage , & sur-tout on en retient !es excuses . « (355)

100. Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart: Metzler 1968, stellt generell für die Affekt-Ästhetik des 18. Jahrhunderts im Unterschied zur darauf fol­ genden romantisch-idealistischen Kunstphilosophie fest, daß jene von einer >>Nivellierung der Differenz von Kunst und Leben« (S. 17) geprägt sei. 101 . Vgl . Nicole, De Ja Comedie (Anm . 36) , Chap . VI, >Que Je plaisir de Ia Comedie est mau­ vais, parcequ'il nait d'une secrette approbation du vice . < , S. 249ff.

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Die von den Schaubühnenapologeten unterstellte moraldidaktische Wirkung der Tragödie entpuppt sich für d' Aguesseau als Chimäre : vielmehr verläßt man das Thea­ ter als geheimer Komplize des Lasters : >>On sort du Theatre , rassure contre l'horreur naturelle du crime>der doppelte Druck des Despotismus und der Bigotterie« 1 03 nach dem Tode Ludwigs XIV . (1715) vom Lande genommen wurde , tritt in Frankreich im Tau­ wetter der Regence die aus der Psychologie der Langeweile entspringende Emotio­ nalisierung und Entmoralisierung der Kunst auch in theoretischer Reflexion offen zutage . Der wirkungspoetischen Tatsache, daß das moralisch Schlechte oftmals das poe­ tisch Gute ist , werden sich die deutschsprachigen Aufklärer - ihnen voran , wie wir se­ hen werden , Mendelssohn - in widersprüchlicher Weise erst zur Jahrhundertmitte be­ wußt , da ihnen im Unterschied zu den Engländern und Franzosen , an deren poetolo­ gischen Texten sie sich abarbeiten , die soziologische B asis der Psychologie der Lange­ weile fehlt . Die Aporien , die die Aneignung der sensualistischen westeuropäischen Kunsttheorie in der deutschsprachigen Aufklärung kennzeichnen , sind Resultate des kultursoziologischen Gefälles zwischen einer Ästhetik der Zerstreuung , die sich auf der gesellschaftlichen Grundlage der > Ieisure dass< Englands und Frankreichs heraus­ bildete , und dem Wunsch nach operativer Kunstfunktion 10\ der das nach ideologi102. >>Mais ce n'est pas ici le lieu de faire Ia censure de Ia Tragedie ; il s'agit de decouvrir l'ori­ gine du plaisir que nous y goutons, & non pas de refuter ce que l'on dit pour justifier ce plaisir [ . . . ] . Die Regence>die erste radikal subjektivi­ stische Ästhetik.>Begründer der Gefühls­ ästhetik>Die beyden Künste der Poesie und Mahlerey erhalten niemals mehr Beyfall , als wenn es ihnen gelingt , schmerzhafte Empfindungen in uns zu erre­ gen . [ . . . ] Ueberhaupt finden die Menschen mehr Vergnügen daran , auf dem Schau­ platze zu weinen als zu lachen . [ . . . ] Ich will es wagen , dieses Rätzel aufzulösen (>>d'e­ claircir ce paradoxe«) [ . ]«. (Einl . , lf. ) Die psychologischen Grundlagen des vergnü­ genden Kunsterlebnisses überhaupt extrapoliert Dubos also aus den besonderen äs­ thetischen Erfahrungen tragischer Lust . Deutlich bildet der Tragödienbesucher das Modell seiner Ästhetik der Zerstreuung , da die Frage nach dem Vergnügen am Un­ glück Anderer zum Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen gemacht wird . Dabei akzentuiert Dubos im folgenden den Mimesischarakter der Künste wir­ kungspoetisch als ein affektivisches Urbild-Abbild-Verhältnis: die pathetische Kraft der künstlerischen Darstellung bestimmt sich nach Maßgabe des geschickt gewählten Sujets : >>Ja , jemehr die Handlungen , wovon uns die Dichtkunst und die Mahlerey Ab­ bildungen machen , die Menschlichkeit in uns erschüttert haben würden, wenn wir wirkliche Zuschauer derselben gewesen wären ; desto mehr Gewalt haben die Nach­ ahmungen, welche uns die Künste davon darstellen , uns an sich zu ziehen . « (Einl . , 2) Aus dem innerkünstlerischen Problem des Vergnügens an schrecklichen Darstellun­ gen ist durch die wirkungspoetische Ausweitung des Aristotelischen Mimesisbegriffs , d . h . durch die affektivisch pointierte Urbild-Abbild-Referenz ein lebenspraktisches Problem des Vergnügens an schrecklichen Dingen selbst geworden . Dubos' Konzen­ tration auf die wirkungsästhetischen Aspekte führt zur Nivellierung der Kunstdiffe­ renz. Deshalb handeln die ersten beiden grundlegenden Abschnitte der Kritischen Betrachtungen von dem psychologischen Gesetz des Vergnügens an schrecklichen und schmerzhaften Dingen schlechthin , bevor erst mit dem dritten Abschnitt die Un­ tersuchung der mit der Kunst im besonderen verbundenen Fragestellungen einsetzt . Thesenartig profiliert der erste Abschnitt >Von der Nothwendigkeit, beschäfftigt zu seyn , wenn man der verdrüßlichen langen Weile ausweichen will , und von dem An­ züglichen , welches die Erregung der Leidenschaften für die Menschen hat . < das psy­ chologische Argument samt seines soziologischen Hintergrunds . Dabei stützt sich Dubos auf die von Descartes angeregte und von seinen Nachfolgern ausformulierte Psychophysiologie der Langeweile , die besagt , daß die Seele von der bloßen Empfin­ dung leidenschaftlicher Bewegung, welche Qualität sie auch haben mag , auf ange­ nehme Weise berührt wird . Gesellschaftlicher Ort der emotionalistischen Konzep­ tion ist die Welt des französischen Hofes, der Salons und der Pariser Großbourgeoi­ sie , wie aus späteren Andeutungen Dubos' unschwer abgeleitet werden kann (s. u. S . 1 50ff. ) . Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen bildet die als menschliche Grundbe­ findlichkeit schlechthin gedeutete Beobachtung: >>Die lange Weile (>>ennuiSich die Seele den Eindrückungen überläßt« , sind >>für die meisten Menschen das einzige Mittel wider die lange Weile« (I 9f. ) . Aus diesem Umstand erklärt sich für Dubos die Tatsache , warum sich die Menschen nicht nur >>mit so vielen nichtswürdi­ gen Beschäfftigungen vermengen, und sich in so viele unnütze Handlungen einlas­ sen« , sondern sich darüber hinaus sogar solchen Leidenschaften hingeben , >>deren verdrüßliche Folgen sie noch dazu öfters aus ihrer eignen Erfahrung vorher wissen . « ( I 10) Vom Empirismus John Lockes ( 1632- 1704) hatte Dubos gelernt , daß nicht das ent­ fernte positive Gut , sondern allein das quälende gegenwärtige Unbehagen eines Mangels den Willen des Menschen determiniere . 114 Auf diesem hedonistisch-mate­ rialistischen Grundsatz , der bereits in der Antike als Topos zitiert wurde - >>Das Bes­ sere seh ich und will es, I Aber dem Schlechteren folg ich ! « 115 - beruht Dubos' spezi­ fisch gewendete , die Psychologie der Langeweile voraussetzende Erklärung des para­ dox erscheinenden Vergnügens selbst am Schmerz: Mögen manche Vergnügungen auch mit unangenehmen Folgen erkauft werden , so fürchten sich die Menschen >>vor der verdrüßlichen und langen Weile, welche die Unthätigkeit nach sich zieht, weit mehr, als vor diesen Schmerzen . « (I lOf. ) Als anschauliche Belege , daß auch die »schlimmen Folgen« vor leidenschaftlichen Zerstreuungen nicht abhalten , wählt Du­ bos neben dem von Locke übernommenen Beispiel des Trinkers 1 16 vor allem das >>blinde Glück der Karten und Würfel« und das >>Anzügliche des Spielens« (II 22f. ) . Wie schon Pascal festgestellt hatte 1 1 7 , gehe es dem passionierten Spieler weder um Geschicklichkeit noch um Gewinn, sondern alleine um die unterhaltende Spannung , mit der der Zufall der Würfel und Karten über das Glück entscheidet . Die >>Unruhe stürmischer Leidenschaften« ist allemal angenehmer als die >>Martern [ . . . ] , welche [ . . ] die lange Weile fühlen läßt« (I 1 1 ) . .

1 13 . Pascal, Gedanken (Anm . 38) , Nr. 178, S. 73 ; vgl . Pascal , Pensees (Anm . 38) , Nr. 168, 93 . 1 14. Vgl . John Locke : Versuch über den menschlichen Verstand (engl . 1690) . Vierte , durch­ gesehene Aufl . in 2 Bden , erw. um eine Bibliographie v. Reinhard Brandt. Hamburg: Meiner 1981 ( = Phil . Bibi . , 75176) , hier Bd. I, II. Buch, Kap. 21 , § 35, S. 303f. Zum Einfluß Lockes auf Dubos vgl . Munteano (Anm . 85) , bes. S. 321 ; Warren Gates: The Abbe Du Bos: A Harbinger of Locke in France? In: French Review, XXXIII (1959) , H . 1 , S . 172-174. 1 1 5 . Publius Ovidus Naso : Metamorphosen. Epos in 15 Büchern . Übers. u . hg. v. Hermann Breitenbach . Stuttgart: Reclam 1980 , 7. Buch , Verse 20f. , S. 210. 1 16. Vgl . Locke (Anm . 1 14) , S . 303f. , mit Dubos , Kritische Betrachtungen, Bd. I , I 10 und II 24. 1 17. Pascal, Gedanken (Anm . 38) , Nr. 181 , S . 75ff. s.

Jean Baptiste Dubos' Ästhetik der Zerstreuung

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Dubos' Ästhetik der Zerstreuung , die philosophisch durch die Lust-Unlust-Rela­ tion des englischen Empirismus legitimiert wird , basiert auf der Feststellung, daß dem unerträglichen Überdruß des >Ennui< schlimmstenfalls auch eine schmerzhafte Lei­ denschaft vorzuziehen ist . 1 18 Da sie ihn vertreibt , wird selbst sie als lustvoll empfun­ den : >>Ein innerlicher Trieb reizt uns also , nach Gegenständen zu laufen , welche Lei­ denschaften in uns empören können ; ob diese Gegenstände gleich solche Eindrükun­ gen in uns machen, daß dieselben in uns öfters unruhige Nächte , und traurige und schmerzliche Tage verursachen . Doch den Menschen überhaupt sind die Martern , die sie fühlen , wenn sie ganz und gar ohne Leidenschaften leben sollen , weit unerträgli­ cher , als die Martern , welche die Leidenschaften nur jemals zu erwecken vermögend sind . « (I 12) Der anschließende zweite Abschnitt handelt daher folgerichtig >Von dem Anzügli­ chen derjenigen Schauspiele , welche fähig sind, eine heftige Gemüthsbewegung in uns zu erregen . Von den Gladiatoren . < Da jedwede Affekterregung >>SO viel Reizen­ des für uns [hat] , daß wir sie , ungeachtet der traurigen und ungestümen Ideen , welche mit ihr verknüpft sind , und ihr unausbleiblich nachfolgen , selbst aufsuchen« (II 13) , sucht Dubos folgerichtig jene Situationen , in denen eine >>heftige Gemüthsbewegung [ . . . ] ganz maschinenmäßig in uns entsteht« (II 1 3 ) : Das ist in besonderem Maße der Fall , >>wenn wir andre Menschen in Gefahr und im Unglücke sehen« (II 13) . Zum Be­ leg werden die unterschiedlichsten Beispiele angeführt : Als besonders eindrucksvolles Beispiel seiner Theorie gilt ihm der haufenweise Zulauf zum >>abscheulichsten Schauspiele , [ . . . ] der Hinrichtung eines Menschen auf dem Schaffote« (II 1 3 ) . Zwar quält den Zuschauer eines solchen Schreckenstheaters noch lange die Erinnerung an den Delinquenten , der >>durch die entsetzlichsten Mar­ tern zum Tode gebracht wird« , allein das >>Anzügliche« der heftigen Gemütsbewe­ gung (>>l'attrait de l'emotion«) ist stärker: >>Man läuft in allen Ländern haufenweise , diese gräulichen Schauspiele anzusehen . « (II 1 3f. ) Um seinen Ausführungen zum >>Rätzel« des Vergnügens am Schrecklichen Autori­ tät zu verleihen , erinnert Dubos in diesem Zusammenhang zur Beglaubigung der Be­ obachtung , >>daß wir die unruhigen und tumultuarischen Bewegungen lieben , welche in uns entstehen , wenn wir andre in Gefahr sehen , vor denen wir in Sicherheit sind« (II 14) , an den einschlägig bemühten Beginn des zweiten Buchs von Lukrez' De rerum natura : >>Angenehm ist es« , so heißt es in der Paraphrase der Verse 1 , 2, 5 und 6, >>vom Ufer ein Schiff mit den Wellen kämpfen zu sehen, die es verschlingen wollen, oder an einem sichern Orte ein Zuschauer einer wichtigen Schlacht zu seyn. « (II 14) Bemer­ kenswert ist die Tatsache, daß Dubos ausgerechnet die Verse 3 und 4 der Vorlage so­ wohl in seiner Paraphrase als auch im anschließenden lateinischen Zitat ausläßt, in denen der römische Epikureer seine Erklärung des Phänomes angedeutet hatte . 1 18 . Auf die frappierende Übereinstimmung der dichtungstheoretischen Folgerungen zwi­ schen Dennis' >Spleen< und Dubos' >Ennui< hat, wie bereits angedeutet, Munteano (Anm . 85) , bes. S . 339 u . S . 348-350 hingewiesen , ohne freilich für eine tatsächliche Abhängigkeit Belege anbringen zu können. Die Parallelen ergeben sich vielmehr aus der vergleichbaren psychologi­ schen Lage der englischen und französischen Mußeklassen.

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Während es Lukrez um die Reflexion existentieller menschlicher Sicherheit ging 1 19 , spekuliert Dubos auf die Gefahr, in der Andere sich befinden , als den entscheidenden Kitzel für die Leidenschaften des voyeuristischen Zuschauers . Unmittelbar an das Lukrez-Zitat fügt Dubos zur Veranschaulichung des Gemeinten die artistischen Vor­ führungen >>verwägender Luftspringer auf dem Seile>Aufmerksamkeit des Zuschauers>auf dem Amphitheater Gemüthsbewegungen, so sie in dem Circus und bey den theatralischen Schauspielen nicht empfanden . >Menschen bloß zu ihrem Vergnügen tödten zu sehen . >sehr gesitteten NationenEin Grenadier ist bey dem Angriffe eines bedeckten Weges nicht mehrerer Gefahr ausgesetzt, als die , welche mit diesen wütenden Bestien kämpfen . >Stier= Gefecht>eine von den größten Ergötzlichkeiten , welche die Spanier habenLogenpöbel>öfters unruhige Nächte , und traurige und schmerzliche Tage« (I 12) . Dubos fragt sich nun , ob es nicht Mittel gäbe , das Angenehme von den >>schlim­ men Folgen, welche die meisten Leidenschaften mit sich führen [ . . . ] , abzusondern?« (III 25) Die Nachahmungen der Kunst bieten sich an : >>Könnte sie nicht Gegenstände her­ vorbringen , welche künstliche Leidenschaften (>>des passions artificielles>Die Abbildung des Gegenstandes muß , so zu reden , eine Abbildung der Leiden­ schaft hervorbringen , die der nachgeahmte Gegenstand in uns empört (>>exite«) ha­ ben würde . « (111 27) Diese >>Schattenbilder von Leidenschaften (>>Ces phantömes de passions«)« sind >>nicht so stark« und gehen >>nicht so tief« wie wirkliche Leidenschaf­ ten , sie sind aber >>hinreichend , der Nothwendigkeit , beschäfftigt zu seyn , worinnen wir uns befinden , abzuhelfen . « (III 26f. ) Die künstlichen Leidenschaften bleiben auf der >>Oberfläche der Seele (>>superficielle«)« (111 27) und führen nur >>ein erborgtes Leben (>>Une vie empruntee«)« (111 28) , solange die ästhetische Illusion andauert . Der künstlerische Eindruck rührt >>nur den sinnlichen Theil der Seele« (111 27) und verlischt daher bald wieder. Über die nur quantitative Unterscheidung zwischen äs­ thetischem und praktischem Betroffensein wacht die Vernunft , die wie ein innerer Kern von einer sinnlichen Außenhaut umgeben scheint. Die Vernunft weiß , daß es ebenso wie mit der künstlerischen Nachahmung auch mit der affektiven Mimesis >>nicht ernstlich ist« (111 27) . Die ästhetische Illusion ist also keine vollkommene Täu­ schung - kein Betrug durch künstlerische Zauberkräfte. Eine solche Täuschung wäre weder möglich , noch ist sie überhaupt wünschenswert , da der Rezipient zwar eine heftige Bewegung, nicht aber eine schmerzliche Verletzung seiner Empfindungen sucht. Ausdrücklich distanziert sich Dubos im späteren XLIII. Abschnitt - > D as Ver­ gnügen, so wir auf dem Schauplatze geniessen , wird nicht von einem Betruge der Sin­ ne hervorgebracht (>>n'est point produit par l'illusion«)< - von Vorstellungen , die rüh­ rende Wirkung der Künste basiere auf einer Täuschung und sei Ergebnis eine ange­ nehmen Betruges . Die illudierende Kraft des Künstlers ist vielmehr mit der Kunst ei-

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nes »Schwarzkünstler[s]« nicht vergleichbar: >>Diese Meynung ist [ . . . ) völlig uner­ weislich . >Copie>bey der stärksten Gemüthsbewegung seinen gesunden Verstand« behält (40 1 ) . D i e Unterscheidung des ästhetischen Zustandes , in dem sich der Rezipient im Mo­ ment der Empfindung künstlicher Leidenschaften befindet , vom Zustand der Täu­ schung 1 24 ist vor allem im Hinblick auf das Paradox des angenehmen Grauens wichtig. Wirkungsästhetisch ist im Moment der Täuschung gerade die Differenz von Wirklich­ keit und Kunst, praktischer und ästhetischer Empfindung ausgelöscht: der Schrecken mithin schrecklich und nicht ergötzlich . Die Vernunft dagegen hält im ästhetischen Zustand künstlicher Leidenschaft das Bewußtsein von der Fiktionalität der D arstel­ lung wach . Nur Menschen mit empfindlichen Herzen und schwacher Vernunft wie Kinder oder jugendliche Romanleser halten die Fiktion für Wirklichkeit. Solche Fälle sind aber nur die Ausnahme , welche die >>Hauptregel>Daß unsere Seele allezeit Herr über die nur obenhin gemachten Empfindungen bleibt (>>que notre ame demeure toujours Ia maitresse de ces emotions superficielles«) , welche Verse und Ge­ mählde in ihr erregen . instabile Konstruktion< voller >innerer Widersprüche< sei (S. 156f. ). 125 . >>Denn wie Aristoteles in seiner Dichtkunst sagt: Ungeheuer, und todte oder sterbende Menschen, die wir nicht anzusehen wagen, oder doch mit Entsetzen ansehen würden, betrachten wir in den Werken der Mahler nachgeahmt mit Vergnügen. Je vollkommner sie nachgeah/n t sind, desto begieriger betrachten wir sie. reine Vergnügen< der Affekterregung kostet . In beiden Fällen ist ausschließlich die angenehme Gemütsbewegung als Maß für die Akzeptanz schrecklicher Ereignisse in Wirklichkeit oder Fiktion ausschlaggebend . Dem entspricht die Reihenfolge , mit der Dubos die Psychologie der Langeweile zu­ erst an den schrecklichen Schauspielen , die das Leben bietet, erprobt und das so ge­ wonnene Modell dann erst auf die Künste und Gattungen überträgt . Ethische Ge­ sichtspunkte spielen in den Einführungsabschnitten, in denen ausgehend vom >>Rät­ zel Wahrheitsbezug des Kunstwerks< in wirkungsästhetischen Untersuchun­ gen zumindestens äußerst problematisch . Da bei Dubos die Wirklichkeit und deren künstlerische Nachahmung am Kitzel gemessen werden, den sie hervorrufen , ist es gerechtfertigt , seine Weltanschauung, wie sie in den Kritischen Betrachtungen entge­ gentritt , ästhetizistisch zu nennen . 129 Es ist daher nur konsequent , wenn zu Beginn unseres Jahrhunderts wie in einem späten Reflex auf die von Dubos begründete Tra­ dition als Gegenpol des Schönen nicht etwa das Häßliche , sondern >>das Langweilige>ÄsthetizismusDas Publicum urtheilt überhaupt gut von Gedich­ ten und Gemählden . < - auf das Geschmacksurteil des Publikums zu sprechen kommt , das er im Unterschied zur klassizistischen Regelästhetik für maßgebend und verbind­ lich hält : >>Das Publicum urtheilt von einem Werke nicht nur unpartheyisch ; sondern es urtheilt auch auf solche Art , wie man überhaupt davon urtheilen muß , nämlich nach der Empfindung , und nach dem Eindrucke , den es auf einen jedweden mach t . >Kunstrichter« 135 samt der ganzen kritischen Zunft auszuschließen , da er nicht nach dem Geschmack , sondern nach Regeln urteilt. Für Dubos schränkt sich vielmehr das Publikum , >>Von dem hier die Rede ist« , auf diejeni­ gen Menschen ein , >>Welche lesen, welche die Schauspiele kennen , welche Gemählde sehen , und davon sprechen können , oder auf irgend eine andere Art denjenigen Un­ terschied zwischen verschiedneo Werken machen lernen, den man den Geschmack der Vergleichung nennt« . 136 Dubos' Ausführungen beziehen sich also auf die >feinen Leute< am Anfang des 1 8 . Jahrhunderts in Frankreich . Erich Auerbach hat in einer soziologisch orientierten Studie zum französischen Pu­ blikum in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts abschließend herausgearbeitet , daß der Sammelbegriff für die beiden , die klassizistische Kulturblüte tragenden Gruppen der literarischen Öffentlichkeit - >>Ia cour et Ia ville« - eine kulturelle Ein­ heit umgreife , die sowohl aufgrund ihres gemeinsamen Bildungsideals als auch ihrer zunehmenden >>parasitären Funktionslosigkeit« zu einer >>geschlossenen Schicht« verschmolzen sei . 137 Der an den Hof von Versailles gebundene Adel war >>ein Stand ohne Funktion« . 138 Die kulturell kompetenten Gruppen in der Stadt Paris rekrutier­ ten sich aus der zum Ende des Jahrhunderts ebenfalls immer mehr zur Rentnerschicht tendierenden Amtsaristokratie der >rohe< und aus dem nur noch zum Teil gewerbe­ treibenden Großbürgertum . Jedenfalls sieht Auerbach für das bürgerliche Publikum der Stadt die >>massenhafte[ n] Flucht aus dem produktiven Erwerbsleben« als Kenn­ zeichen an . 139 Da also selbst das alte Großbürgertum, soweit es zum Publikum gehör­ te , >>parasitär und funktionslos« 140 geworden war, bestand die von Dubos anvisierte literarisch gebildete Öffentlichkeit insgesamt aus einer ständeübergreifenden Ge­ meinschaft von Müßiggängern mit gemeinsamen , das tätige Berufsleben verachten­ den Idealen - >>bienseance« und >>honnetete« 141 - und einem gemeinsamen Problem : >Ennui< . Das Problem der Langeweile ist auch Gegenstand einer zeitgenössischen Schrift , die wenige Jahre vor Dubos' Kritischen Betrachtungen veröffentlicht wurde und in der Auerbachs publikumssoziologische Untersuchungen zu >>Ia cour et Ia ville« in Hin134. Dubos, Kritische Betrachtungen , Bd. II, XXII 312. 135. Ebd . , S. 302. 136. Ebd . , S. 312. 137. Erich Auerbach: La cour et la ville [zuerst 1933 unter dem Titel: >Das französische Publi­ kum des 17. Jahrhunderts>Als Bürgertum, als ville, zählen nur die Chargen; der produk­ tiv Erwerbstätige ist deklassiert. « 141 . Ebd . , S. 368ff. u. S. 374ff. Vgl . Werner Krauss : Ober die Träger der klassischen Gesin­ nung im 1 7. Jahrhundert [zuerst 1934] . In: ders . : Gesammelte A ufsätze zur Literatur und Sprach­ wissenschaft. Frankfurt/M . : Klostermann 1949 , S. 321-338, bes . S. 330.

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sieht auf die Soziologie des >Ennui< Bestätigung finden . In einem knappen Duodez­ bändchen über L 'A rt de ne point s'ennuyer 142 nimmt 1715 Andre-Fran�ois Soureau­ Deslandes ( 1 690- 1757) , 1713-1714 Mitglied der französischen Gesandtschaft in Eng­ land und seit 1715 Marinekommissar in Rochefort , einige der zentralen Thesen der Ästhetik der Zerstreuung Dubos' vorweg. Ausgehend von der Beobachtung , »On s'ennuye par tout: a la Cour comme a la Champagne , dans les grandes postes comme dans l'obscurite« , entdeckt Boureau-Deslandes im Kampf gegen die Langeweile eine die feine Gesellschaft durchziehende »nouvelle sorte de guerre cachee« . 143 Diese Feststellung führt zu ähnlichen Aussagen sowohl über den gesellschaftlichen Stellen­ wert der Vergnügungen als auch über die ihnen zugrundeliegende , von Crousaz auf­ genommene und von Dubos auf den Müßiggänger zugespitzte cartesianische Psycho­ physiologie. Die Vergnügungen entspringen der Furcht vor der Langeweile : D as Augusteische Zeitalter in Rom war eine Epoche der Spiele und Zerstreuungen. Die Menschen lie­ fen haufenweise in den Zirkus und ins Theater. 144 D araus leitet Soureau-Deslandes die psychologische Regel ab : »Plus on sent , moins on s'ennuye . « Da die Seele erregt sein will - »l'esprit [ . . . ] veut etre agite« -, findet sie ihr wahres Glück nur in der Ge­ mütsbewegung . Zusammenfassend heißt es daher schließlich , »que l' Art de sentir & l'art de ne point s'ennuyer ont des liaisons tres etroites ensemble« . 145 Auch in Dubos' Ästhetik war , wie wir sahen , die höfisch-großbürgerliche Kunst , sich nicht zu lang­ weilen, mit der Erregung der Empfindungen verschwistert gewesen . Dem sozialen Ort des >EnnuiPreface< , S. Vlllf. 144. Ebd . , vgl . Chap. IX: >La crainte de s'ennuyer a fait naitre les plaisirs< , S. 74ff. 145 . Ebd . , Chap . XVII: >Conclusion de I'Ouvrage : Plus on sent , moins on s'ennuye< , S. 132138, hier S. 138. 146. Wolf Lepenies : Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/M . : Suhrkamp 1972 ( = st , 63) . 147. Norbert Elias : Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen [ zuerst 1939] . Bd. II . Frankfurt/M. : Suhrkamp 3 1977 (= stw, 159) , bes. S. 222278 ( >Die Gewichtsverteilung im Innern der Herrschaftseinheit. Ihre Bedeutung für die Zentral­ gewalt. Die Bildung des »Königsmechanismus«< ) , hier S. 236. Vgl . ders . : Die höfische Gesell­ schaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königsturns und der höfischen Aristokratie. Darm­ stadt , Neuwied: Luchterhand 4 1979 . Es handelt sich hier um Elias' Habilitationsschrift aus dem Anfang der dreißiger Jahre .

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Die Langeweile am Hof, in den Salons , aber auch bei der Bourgeoisie 148 wird als Ergebnis der mit der letzten Fronde ( 1 648- 1653) erstarkten >>Königsapparatur>Balance­ apparatur« 1 50 gedeutet. Mit beiden Begriffen wurde von Elias die folgende Kräfte­ konstellation innerhalb der führenden sozialen Kräfte des >Ancien Regime< bezeich­ net: In der engmaschigen > Verflechtungsapparatur< des französischen Absolutismus hielten sich Adel und ständisches Bürgertum gesellschaftlich gegenseitig in Schach , so daß keine der beiden Gruppen mehr zu politisch maßgebendem Handel befähigt war . Das alte Bürgertum und seine Spitzengruppe , die >Noblesse de Robe< , mochte zwar jeweils im einzelnen mit dem Schwertadel hinsichtlich Prestige und Privilegien in Konflikt geraten sein, an der Beseitigung des Adels als einer gesellschaftlichen Insti­ tution war ihm aber im Ganzen nicht gelegen. Im Gegenteil: Es war das höchste Ziel des Großbürgers , sich selbst in den Adelsstand und dessen Vorrechte einzukaufen . 1 5 1 Der Schwertadel war dagegen am Hof zentralisiert , d . h . er war politisch unterworfen , gezähmt und an den König gebunden , gleichzeitig aber ökonomisch versorgt . 1 52 Der König selbst hielt das Spannungsgleichgewicht zwischen beiden Schichten >>mit Sorg­ falt aufrecht« 1 53 , weil er gerade der interessenausgleichenden Schiedsrichterfunktion seine absolute Macht verdankte . Dieses skizzierte gesellschaftliche Gleichgewicht wurde erst im Verlaufe des 1 8 . Jahrhunderts durch aufstrebende nichtständische >>neubürgerliche Gruppen« 1 54 zunehmend gestört und brach dann in der Französi­ schen Revolution zusammen . Es ist die >>gesicherte B alance des Königsmechanismus>mit Anstand die Zeit totzuschla­ gen« 1 56 Besonders der Hof wurde zum >>Reservoir« 1 5 7 allen erdenklichen Zeitver­ treibs. D as allgegenwärtige Phänomen des >Ennui< , das sowohl die Gedanken Pascals zur menschlichen Misere als auch Dubos' Kritische Betrachtungen über die kurzweiligen Vergnügen der Kunst prägt , wird innerhalb des von Lepenies skizzierten kultursozio­ logischen Rahmens gesellschaftlich interpretierbar. Die >verdrüßliche Langeweile< , auf der Dubos' Ästhetik der Zerstreuung samt der ihr zugrundeliegenden Psycholo­ gie der Leidenschaften aufbauen, ist also nicht als eine anthropologische Grundbe­ findlichkeit menschlicher Existenz 1 58 , sondern vielmehr als psychischer Reflex auf 148. 149. 150. 151 . 152. 153. 154. 155. 156. 157. 158.

Vgl . Lepenies (Anm . 146) , S. 269 , Anm. 45 . Elias, Prozeß der Zivilisation (Anm. 147) , Bd. II, S . 240. Ebd . , S 236. Vgl . ebd. , S . 244. Vgl . Auerbach (Anm . 137) , S . 386f. Vgl . Elias, Prozeß der Zivilisation (Anm. 147) , Bd. II, S. 268. Ebd . , S . 310. Ebd . , S. 247. Lepenies (Anm . 146) , S . 61 . Ebd . , S. 56. Ebd . , S. 64. Vgl . H .-U. Lessing: Langeweile. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (hg. v.

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spezifisch gesellschaftliche Verhältnisse in Frankreich am Ende der klassizistischen Kulturblüte zu deuten . Abgesehen von ihrer gewaltigen , freilich widersprüchlichen Resonanz, die die Kriti­ schen Betrachtungen sowohl in England als auch in Deutschland fanden, kommt der von Dubos in ihnen formulierten Ästhetik der Zerstreuung eine über ihren histori­ schen Ursprungsort hinausgehende Gültigkeit zu : Angestoßen von dem wirkungs­ poetischen Paradox des angenehmen Grauens gelangen Dubos grundlegende Ein­ sichten über den Umgang konservativer Oberschichten mit der Kunst in gesellschaft­ lichen Spätzeiten. Folgende Aspekte einer bisher vernachläßigten Ästhetik der Ober­ schichten wurden von Dubos in einer historisch modellhaften Konstellation zusam­ mengetragen : - Ausgangspunkt: das gesellschaftliche Phänomen der Langeweile . - Rein wirkungspoetische Bestimmung der Kunst aufgrund ihrer affekterregenden , pathetischen Kraft . - Favorisierung der in besonderem Maße gemütsbewegenden vermischten Empfindungen und infolgedessen - Präferenz des angenehmen Schreckens. - Ethische Indifferenz des Kunsturteils . - Gesellschaftlich unverbindliche Kunstfunktion . Es ist daher nicht verwunderlich , daß die Aufnahme von Dubos' sensualistischer Äs­ thetik gerade wegen der aus ihrem gesellschaftlichen Ursprungsort herleitbaren In­ halte auf Hindernisse stieß. Gleichwohl wurden vor allem Dubos' Ausführungen zum >>Rätzel>vierte Quelle der Lust« sei . 1 59 Besonders aber Dubos' Ausgangspunkt , die Langeweile, und seine damit verbun­ dene Skepsis und ethische Indifferenz in Kunstdingen sollte für die deutschen Aufklä­ rer, die als Sprecher der aufstrebenden bürgerlichen Mittelschichten notwendiger­ weise eine gesellschaftlich verantwortliche , operative Kunstfunktion ins Auge gefaßt hatten, der provokante Stachel bleiben , mit dem sie sich auseinandersetzen mußten . Joachim Ritter u. Karlfried Gründer) , Bd. V. Darmstadt: Wiss. Buchges . 1980, Sp. 28-32. 159. Friedrich Schiller: Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände (1792-93 , gedr. 1794) , Nationalausgabe , Bd. XX, S. 222-240, hier S. 228. In der Forschung ein­ schlägig ist der Hinweis , daß der Auftakt des Aufsatzes Ober die tragische Kunst (1790-91 , gedr. 1792) von Dubos beeinflußt ist: Vgl . pars pro toto : Friedrich Schiller: Sämtliche Werke (Säkular­ Ausgabe) . 16 Bde. Stuttgart , Berlin: Cotta 1904/05 , hier Bd. XI : Philosophische Schriften mit einer Ein! . u. Anmerkungen v. Oskar Walze!), S. 321f (>Anmerkungen< ) ; Nationalausgabe, Bd. XXI (hg. v. Benno v. Wiese u . Helmut Koopmann) , S. 176ff. (>Erläuterungen< } ; vgl . Wierlacher (Anm . 23) , S. 135.

Jean Baptiste Dubos' Ästhetik der Zerstreuung

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Auf die aufschlußreiche Aneignung und Umformung der mit der Ästhetik der Zer­ streuung verbundenen Skandale - Lust an den Schrecken der Wirklichkeit , ethisch gleichgültige Kunst- und Weltanschauung, Kunst als unverbindlicher Zeitvertreib für Müßiggänger - soll im Zusammenhang von Mendelssohns Theorie der >vermischten Empfindungen< , die ihren Ausgangspunkt am Problem des angenehmen Grauens , d . h . philologisch nachweisbar am II. Abschnitt der Kritischen Betrachtungen Dubos' nahm, näher eingegangen werden . Doch soll hier zumindestens an einem Beispiel ein Ausblick auf die Werteopposi­ tion gegeben werden , die die müßiggängerische Ästhetik der Zerstreuung von der , auf gesellschaftliche Wirksamkeit zielenden Ästhetik der Aufklärung trennt . Mit ih­ rer historischen Genese im 18. Jahrhundert ist diese Opposition keineswegs obsolet geworden , vielmehr prägt sie als Kontroverse zwischen einer ästhetischen und einer ethischen Legitimation von Literatur weiterhin die wissenschaftliche Debatte , ohne daß sich die Diskussionspartner freilich der Historiziät ihrer Argumente bewußt wä­ ren . 1 60 An das von Dubos zur Erklärung des Vergnügens an schrecklichen Dingen vorge­ schlagene Konzept der Zerstreuung der Langeweile und des Zeitvertreibs knüpfte , durch die Lektüre von Voltaires bereits erwähnten Ausführungen zum Stichwort >>Curiosite« in dessen Philosophischem Wörterbuch angeregt , der von Nietzsche be­ zeichnenderweise als wesensverwandt so geschätzte 1 6 1 neapolitanische Nationalöko­ nom Ferdinando Galiani ( 1728-1787) an. Seine Überlegungen zur Schaulust, in denen der von Dubos und Voltaire gleichermaßen vorgegebene Zusammenhang mit den Spektakeln der öffentlichen Hinricht , ��gen jedoch ausgespart bleibt, teilte er in ei­ nem Brief vom 3 1 . August 177 1 Mme d'Epinay mit . 1 62 Galiani verbindet hierin den von Voltaire betont ins Spiel gebrachten Hinweis auf die instinkthafte menschliche Neugierde mit dem reflexiven Sicherheitstopos Lukrez' , auf den auch Dubos rekur160. Vgl . das Programm des VII. Kongress der Internationalen Vereinigung für germanisti­ sche Sprach- und Literaturwissenschaft. Göttingen, 25 . -3 1 . Aug. 1985 : »Kontroversen , alte und neueEthische contra ästhetische Legitimation von Literatur< . Die Teilnehmer der Sektion werden sich daran erinnern , wie bedauernswert unergiebig die Diskussionen des Forums aufs Ganze gesehen verlaufen sind - in der Regel, weil den Diskussionsteilnehmern übergreifende historische Kenntnisse und historisch-systematische Interessen fehlten . Die Vor­ träge liegen jetzt gedruckt vor: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985 . Hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 8: Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur I Traditionalismus und Modernismus: Kontroversen um den A vantgardismus. Hg. v. Walter Haug u. Wilfried Barner. Tübingen: Niemeyer 1986, S. 11 19. 161 . Vgl . Friedrich Nietzsche an Malwida von Meysenbug, Nizza, 13. März 1885 ; an Peter Gast , Nizza , 10. Nov. 1887 . In: ders . : Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. München: Hanser 6 1969 , Bd. III: >Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre , Briefe (1861-1889) < , hier S . 1230 u. s. 1267 . 162. Ferdinando Galiani an Louise Florence Petronille de Tardieu d'Esclavelles d'Epinay, Neapel, 3 1 . Aug. 177 1 . Zit. nach Voltaire : The Complete Works. Correspondance. Hg. v. Theo­ dore Bestermann. Geneve : Institut et Musee Voltaire Les Delices , Bd. 85 (1968) - Bd. 135 (1977) , hier Bd. 122 (1975), Nr. D 17346, S . 63-65 .

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rierte, zu einer Theorie voyeuristischer Zerstreuung , in der besönders die Folgenlo­ sigkeit des genossenen Vergnügens herausgestellt wird . Für den >>plaisir de Ia curiosi­ te>Le moindre peril nous öte toute curiosite , et nous ne nous occupons plus que de nous memes et de notre individu . Voila l'origine de tous les spectacles . Commencez par assurer des places sures aux spectateurs , ensuite exposez a leurs yeux un grand ris­ que a voir. Tout le monde court et s'occupe . Cela conduit a une autre idee vraie, c'est que plus le spectateur est sur, plus le risque qu'il voit est grand , plus il s'interesse au spectacle, et ceci est Ia clef de tout le secret de l'art tragique , comique , epique , etc. II faut presenter des gens dans Ia position Ia plus ernbarrassaute a des spectateurs qui ne le sont pas . II est vrai qu'il faut commencer par mettre bien a leur aise les spectateurs , que s'il pleuvait dans les Ioges, si le soleil donnait sur l'amphitheätre , le spectacle est abandonne . « 1 63 Der Genuß des Publikums ist Resultat zweier zueinander umgekehrt proportiona­ ler Parameter: der behaglichen Zuschauerposition und der Gefährlichkeit des Schau­ spiels . Einer solchen Wirkungsästhetik ist die Kunstdifferenz gleichgültig. Die durch die Nachahmung der Kunst gewährte Distanz ist lediglich Sonderfall der allgemeinen Kondition des Zuschauers: seiner >>parfaite securite de tout risque«. 1 64 Die Schrecken der Wirklichkeit oder der Kunst gefallen allemal , vorausgesetzt man sitzt bequem . Ganz offen plaudert Galiani die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Überlegun­ gen aus . Der schaulustigste Zuschauer ist der neugierige Müßiggänger, den das 1 9 . Jahrundert als >Dandy< oder als >Flaneur< bezeichnen wird : >>Ainsi Ia curiosite est une suite constante de l'oisivete , du repos, de Ia surete ; plus une action est heureuse, plus eile est curieuse . (Voila pourquoi Paris est Ia capitale de Ia curiosite ; Lisbonne , Nap­ les , Constantinople en ont moins , ou presque point . ) Un peuple curieux est un grand eloge de son gouvernement . « 1 65 Sicherlich treffen diese publikumssoziologischen Beobachtungen auch für die Resi­ denzstadt Wien und ihre vergnügungssüchtigen Bewohner zu . Die folgende Beschrei­ bung des Wiener Theaterlebens von 1781 durch Friedrich Nicolai 1 66 bestätigt nur all­ zusehr den Realitätsgehalt von Galianis Überlegungen. Der Berliner Aufklärer kon­ statiert bei den Wienern ein unersättliches Zerstreuungsbedürfnis und eine heftige Lust an allen nur möglichen Schauspielen : >>Lustbarkeiten und Zerstreuungen aller Art hat Wien zu allen Zeiten des Tages und Jahres. [ . . ] Sicherlich giebt es nirgends in Deutschland so viel Müßiggänger als in Wien . [ . . ] Für eine so große Anzahl Müßig.

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163. Ebd . , S. 64 . 164. Ebd. 165 . Ebd . 166. Friedrich Nicolai : Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1 781 . 12 Bde. Berlin, Stettin: Nico1ai 1783-1796. V gl . Wolfgang Martens: Zum Bilde Osterreichs in Friedrich Nicolais >Beschreibung einer Reise durch Deutschland und in die Schweiz, im Jahre 1 781 < . In: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Phii .-Hist.-Klasse , 1 1 6 (1979) , Nr. 2, S. 45ff. , bes. S. 63 .

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gänger müssen viel Zeitvertreibe und Lustbarkeiten seynVon den öffentlichen Schauspielen in Wien< 1 68 , in dem vom Burgtheater über das französische Schauspiel , den Wanderbühnen und Hanswursttheatern der Vorstädte , den Possenspielen fürs Volk und dem Feuerwerk bis zur Tierhatz alle Wiener Vergnügungsgeschäfte penibel aufgeführt werden , leitet er mit der folgenden , abschätzigen Vorbemerkung ein : >>Der Schauspiele giebt es in Wien viele , und sie sind für den größten Theil des dorti­ gen Publikums ein sehr wichtiger Gegenstand. Das Volk in Gestreich liebt den Ge­ nuß . Ich habe schon einmal gesagt , daß es hauptsächlich Panern & Circenses ruft . In Wien ruft es nur Circenses [ . . . ] . >das k . k. privilegirte Hetzamphitheater>auch Herren wohl frisirt und gepudert , in gestickten Kleidern>abscheuliche Schauspiel>mit Wohlgefallen diese Grausam­ keit ansehen können>delight in beeing terrifiedDie Thierhetze , oder wie man in Wien sagt, die Hatz< , ebd . S. 630-641 , hier S. 632. 171 . Ebd . , S. 634. 172. Ebd . , S. 630f. 173 . Vgl . Gustav R. Hocke : Lukrez in Frankreich von der Renaissance bis zur Revolution. Köln : Phil. Diss. 1935 , bes. S. 102 ; Wolfgang Schmid: Lukrez und der Wandel seines Bildes. Betrachtungen zur 2000. Wiederkehr von Lukrezens Todestag. In: Antike und Abendland, II (1946) , S . 193ff. , bes. S . 196f. ; George Depue Hadzsits: Lucretius and his Influence. New York 1963 ( = Our Debt to Greece and Rome, 4 1 ) , bes. S. 317ff.

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Interpretationen , die auf den illusionsstiftenden 1 74 Charakter der Kunst rekurrie­ ren , versuchen die > Vorteile< beider Ansätze miteinander zu verbinden, indem sie ei­ nerseits hinsichtlich der besonderen Rührung durchs >angenehme Grauen< auf den sinnentäuschenden Aspekt der Illusion verweisen , hingegen , um dem Vorwurf der Misanthropie zu entgehen , andererseits an der nur künstlerisch gestalteten Darstel­ lung und dem damit verbundenen distanzschaffenden reflexiv-bewußten Aspekt fest­ halten. Als aufschlußreich erweisen sich hierfür die oben bei der Untersuchung des Erhabe­ nen der Natur ausgesparten Ausführungen Addisons zu den von den >>Primary Plea­ sures« unterschiedenen >>Secondary Pleasures« , die durch Literatur und bildende Kunst hervorgebracht werden : Diese >>andere Vergnügung der Einbildungskraft« ­ wie es in der Spectatar-Übersetzung der Gottschedin heißt 1 75 - entsteht für Addison mimesistheoretisch durch einen Vergleich der künstlerischen Darstellung mit dem Original . Den gleichen Gedanken hatte , wie schon ausgeführt , auch Dennis einmal vertreten . Mit der Neugierde des Menschen und seinem Drang nach Wahrheit und Wissen be­ antwortete Addison , an Aristoteles orientiert , im 4 1 8 . Stück des Spectator auch die folgerichtig anschließende Frage , warum auch dasjenige , was in der Wirklichkeit wi­ drig berühre , in einer gehörigen Schilderung gefalle . Auch das Bild eines Misthaufens vergnügt aufgrund eines Vergleichs mit dem Original . Tatsächlich ist der Wert dieses Vergnügens aber, verglichen mit der Lust , die der Anblick des Erhabenen gewährt , sehr gering . Genaugenommen , so schränkt Addison ein , handele es sich hierbei eher um eine >>Belustigung des Verstandes« (>>Pleasure of the Understanding«) , als um ei­ ne der Einbildungskraft . 176

174. Der Begriff der >Illusion< wird in der deutschsprachigen Kunsttheorie erst spät eingebür­ gert . Auch hier hat Mendelssohn Von der Illusion ( 1757, gedr. 1820) vorgearbeitet. V gl . Supp­ lement a l'Encyclopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers , par une societe de gens de lettres. Mis en ordre et publie par M. • • • . 4 Bde. Amsterdam 1776- 1777 , hier Bd. III (1777) , s. v. >>Illusion>nicht sowohl von der Beschreibung einer schreckensvollen Sache, als viel­ mehr von der Betrachtung (>>ReflectionSo entstehet auch , wenn wir von Foltern , Wunden , Tod , und dergleichen unglücklichen Begebenheiten lesen , unser Vergnügen dabey , nicht so wohl aus dem Schmerze den eine so schwer­ müthige Beschreibung uns verursachet ; als vielmehr von der innerlichen Verglei­ chung (>>secret Comparisonsymptomatisch , für seine die komplexeren Aspekte des Kunstgenusses aussparende oder vereinfachende Betrachtungs­ weise. such hideous Objects«) , wie Addison ganz richtig folgert , aus dem skiz­ zierten Leitprinzip und aus der affektivisch akzentuierten Urbild-Abbild-Referenz überhaupt, >>daß, je schrecklicher ihr Anblick ist , desto größer auch das Vergnügen seyn muß , welches wir über unsrer eigenen Sicherheit empfinden . « 1 8 1 Doch statt nun etwa in diese Richtung fortzuschreiten , schreckt Addison vor der hier anvisierten Konsequenz einer etwa von Galiani ohne Scheu formulierten proportionalen Schrek­ ken-Lust-Relation zurück : Das Vergnügen erstirbt, >>Wenn wir wirklich eine Person unter dem Jammer einer solchen Marter liegen sehen , die uns beschrieben wird . « 1 82 Das wirkliche Leiden verhindert beim Zuschauer, obwohl er doch nicht betroffen ist , den entscheidenden distanzschaffenden Perspektivwechsel vom belastenden Schrek­ kenseindruck zum angenehmen Bewußtsein eigener Sicherheit : >>Weil in diesem Falle der Gegenstand unsre Sinne gar zu stark rühret, und uns so sehr zusetzet, daß wir nicht Zeit oder Muße haben , an uns selbst zu gedenken . « 183 Im Falle künstlerischer Fiktion dagegen ist es umgekehrt : >>Da, wir hingegen dasje­ nige Unglück , welches wir in Geschichten oder in Versen lesen , entweder als vergan­ gen oder erdichtet betrachten , so daß die Betrachtung unserer selbst unvermerkt ent­ steht, und den Schmerz überwältigt , den wir wegen des Leidens des Bedrängten emp­ finden . « 1 84 Daher erwecken die Romane, alten Ritterbücher und Ammenmärchen , in denen >>Hexen , Zauberer, Schwarzkünstler, Teufel , und abgeschiedene Seelen« 1 85 geschildert werden , solch >>eine belustigende Art des Schreckens« (>>a pleasing kind of Horrour«) 1 86 - Addison wählt hier den gleichen Ausdruck , mit dem er ein Jahrzehnt früher seinen Eindruck beschrieb , den die Aussichten rings um das Karthäuserkloster von Ripaille am Genfer See in ihm hinterlassen hatten . Es ist deutlich geworden , daß Addison - offenbar schon unter dem Einfluß der >Moral-Sense-Philosophie< - den von der Psychologie der Selbstliebe ausgehenden Lukrez-Hobbesschen Erklärungsversuch des Vergnügens an schrecklichen Dingen , als einer dessen Hauptvertreter er gilt 1 87 , entscheidend abschwächt . Die distanzschaf­ fende Reflexion des Zuschauers , d . h . sein lustverschaffender Vergleich zwischen der schrecklichen Lage der Gefährdeten und seiner eigenen Sicherheit, fällt bei Addison doch wieder mit der für die Mimesiskonvention grundlegenden Differenz von Leben und Kunst - Urbild und Abbild - zusammen , d . h . philologisch , daß die Anstößigkeit des Lukrezschen Topos mit der Aristotelischen Nachahmungslehre >entschärft< 181 . Ebd . , S. 106; bzw. vgl. S. 298. 182. Ebd . , S. 107; bzw. vgl. S . 298. 183 . Ebd . , S . 107; bzw. vgl . S. 298. 184. Ebd . , S. 107; bzw. vgl . S . 298. 1 85 . Ebd . , Nr. 419, S. 109 ; bzw. vgl . Nr. 419, S . 299. 186. Ebd . , S . 1 10 ; bzw . vgl . S. 300. 187. Vgl . Earl R. Wassermann , The Pleasures of Tragedy (Anm . 49) , S. 283-307 , bes. S. 293f. ; Baxter Hathaway , The Lucretian >>Return upon ourselves« in Eighteenth-Century Theo­ ries of Tragedy (Anm . 49) , S. 672-689, bes. S. 677f. ; Alberto Martino , Geschichte der dramati­ schen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert (Anm . 15) , S. 149ff.

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wird . Mit der entscheidenden Pointierung der Kunstdifferenz fällt freilich Addison auf sein Ausgangsproblem zurück , hatte er doch für die Sphäre der Kunst gerade das besondere , durch die Affekte Mitleid und Schrecken erweckte Vergnügen , ausdrück­ lich von der >>Belustigung des Verstandes« , derentwegen auch das Bild eines Misthau­ fens gefällt , trennen wollen . Für Frankreich findet sich ein früher illusionstheoretischer Versuch , das Vergnügen an Schreckensbildern zu erklären , in den schon gegen 1692 von Bernard Je Bauvier de Fontenelle (1657-1757) niedergeschriebenen , aber erst 1742 in der neuen, vermehr­ ten Ausgabe seiner Werke veröffentlichten Reflexions sur La Poetique. 1 88 Die Schauspiele sollen nicht nur den Verstand vergnügen , sondern auch das Herz rühren. Das Bedürfnis des Zuschauers , lebhaft bewegt zu werden und Tränen zu ver­ gießen , läßt Fantenelle fragen , woher die so sonderbare - >>Si bizarre>[ . . . ] Je mouvement du plaisir pousse un peu trop loin devient douleur, & [ . . . ] Je mouvement de Ia douleur un peu moderee de­ vient plaisir. >tristesse douce & agreable>Le coeur aime naturellement a etre remue [ . . ] . >il reste toujours au fond de l'esprit je ne sais quelle idee de la faussete de ce qu'on voit . je ne sais quoi< 1 93 unterstreicht Fantenelle die Rätsel­ haftigkeit , mit der sich dieses Fiktionsbewußtsein dem begrifflichen Zugriff entzieht . .

188. Bernard Je Bouvier de Fontenelle : Reflexions sur Ia Poetique. Zit. nach ders. : (Euvres. Nouvelle Edition . T. III. Paris 1766, S. 125-206, bes. §§ 35 u. 36, S. 160ff. Zum Entstehungsda­ tum der Reflexions vgl. Preface zu T. I, S. IX. David Hume , von Fontenelles illusionstheoreti­ schem Ansatz stark beeindruckt, zitiert den gesamten § 36 in seinem noch zu betrachtenden Essay On Tragedy (1757) . 189. Fontenelle (Anm . 188) , T. III, § 35 , S. 160. 190. Ebd. , § 36, S. 161 . 191 . Ebd . 192. Ebd . , S . 162. 193 . Vgl . Peter Eckard Knabe : Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frank­ reich von der Spätklassik bis zum Ende der A ufklärung. Düsseldorf: Schwann 1972, s. v. >>je ne sais quoi« , S . 347-352.

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Mag es noch so schwach ausgeprägt sein , so reicht es doch aus , die schmerzhafte Rüh­ rung soweit abzuschwächen , daß sie in Vergnügen umschlägt . Man beweint das Un­ glück der dramatis personae und ist gleichzeitig getröstet, >>parce qu'on sait que c'est une fiction [ . . . ] « . 194 Die durch eine >>reflexion interieure>Ce melange de sentimens>douleur agreable , & des !armes qui font plaisirangenehmen Schmerzes< ist mithin einer doppelten Perspektive geschuldet : Das schreckliche Geschehen erscheint gleichzeitig als Wirk­ lichkeit und als Kunst. Die sonderbare Unverträglichkeit beider Ebenen , die auch Dubos mit dem Begriff der >künstlichen Leidenschaften< nicht wirklich klären konn­ te , führte in den weiteren Erörterungen des >illusionstheoretischen Kompromisses< zur Konkretisierung des Verhältnisses in einer Zwei-Phasen-Theorie, bei der das an­ genehme Grauen in zwei aufeinander folgende Zustände zerfällt: einer unangeneh­ men sinnlichen Illusion und einer angenehmen reflexiven Desillusionierung. War bei Dubos der vitale Affekt gegenüber den schrecklichen Geschehnissen der Wirklichkeit auch öfters mit Schmerz oder Unlust verbunden und angenehm immer nur relativ im Vergleich mit dem noch größeren Übel der Langeweile , so war doch die Empfindung , die durch die schrecklichen Gegenstände der Kunst hervorgerufen wur­ den , als >künstliche Leidenschaft< , die die Vernunft durch ein permanentes Fiktions­ bewußtsein garantierte, immer ein >reines Vergnügen< . Mit der Deutung der ästheti­ schen Illusion als eines Zustandes , in dem Täuschung und Enttäuschung einander dauernd abwechseln, verschiebt sich die qualitative Bestimmung der durch die Schreckensbilder erregten Empfindung: Die aufeinanderfolgenden Schübe von Un­ lust und Lust überlagern sich in einer besonderen Rührung und verschmelzen wie in B aillies Vergleich vom Feuerrad zu einer >Vermischten Empfindung< . Eine für die weitere deutschsprachige Diskussion entscheidende Station dieser De­ batte markierte Charles Batteux' (1713-1780) Werk Les beaux arts reduits a un meme principe 1 96 , das schon bald nach seinem Erscheinen 1746 bei den deutschen Aufklä­ rern auf breites Echo stieß. Allein die Zahl der Übersetzungen und deren wiederholte Neuauflagen 197 belegen , daß Batteux' Kunstlehre zwischen 1750 und 1770 in der 194. Fontenelle (Anm . 188) , § 36, S. 162. 195 . Ebd . 196. Charles Batteux : Les beaux arts reduits a un meme principe [ 1746] . Zit . nach der 3 . Aufl . (quasi >Ausgabe letzter Hand< ) , Paris 1773 (Ndr. Genf: Slatkine 1969) . 197. Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übers . , und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen [von Johann Adolf Schlegel] . Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage . Leipzig: Weidmann 1759 e 1751 , 3 1762, 4177 1 ) . Nach dieser Übersetzung (zit . Batteux/Schlegel) wird im folgenden zitiert. Weitere Übersetzungen: Die Schöne [ ! ] Künste aus einem Grunde hergeleitet. Aus dem Franz. des Herrn Abt Batteux übers. von P[hilipp] E[rnst] B [ertram] . Gotha: Joh. Paul Mevius

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deutschsprachigen poetischen Diskussion eine führende Rolle als Orientierungshilfe einnahm . 1 98 Bekanntlich wird von Batteux der Grundsatz der Nachahmung der >Schönen Natur< vertreten 1 99 , wobei das idealisierende mimetische Verfahren im einzelnen abhängig ist von der nachgeahmten Materie , dem Modus der Nachahmung und schließlich den jeweiligen Eigengesetzlichkeiten der Kunstarten und -gattungen. Unter dem Aspekt der Sujetwahl postuliert B atteux als >> Erstes Grundgesetz des Geschmacks« , daß die >>schöne Natur« , d . h . die >>gewählte Natur« , nach Maßgabe ih­ rer Vollkommenheit , Mannigfaltigkeit , Vortrefflichkeit, Regelmäßigkeit , Symmet­ rie und Proportion nachzuahmen sei . 200 Hinsichtlich der Art und Weise der > lmitatio< fordert B atteux , daß die Natur >>wohl« (>>bien«) darzustellen sei . 20 1 Die Forschung hat daraus wohl schlicht aufgrund mangelnder Textkenntnis den Schluß gezogen, daß »solche Auffassung von Kunst [ . . . ] von vornherein alles Häßliche, Gemeine und Tri­ viale aus[ schließt)« . 202 Tatsächlich jedoch verfällt B atteux gegen Ende seiner allge­ meinen Gesetzgebung ohne rechten Übergang und ohne Zusammenhang zum Vor­ hergehenden auf die für unser Thema entscheidende Frage , >>woher es komme , daß die Gegenstände, die in der Natur misfal/en, in den Künsten so angenehm sind« . 203 Da die kategorische Unterscheidung der >schönen< von den >rhetorischen< Künsten gleich eingangs der Kunstlehre mit der wirkungspoetischen Trennung der traditionel1751 (zit . Batteux!Bertram) . Auszug aus des Herrn Batteux [ . . . ] Schönen Künsten, aus dem ein­ zigen Grundsatze der Nachahmung hergeleitet. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen mit ver­ schiedenen Zusätzen und Anmerkungen erläutert von Joh . Chr. Gottsched . Leipzig: Breitkopf 1754 (zit. Gottsched, Batteux-Auszug) . Da Batteux Les beaux arts n?duits a un meme principe den jeweiligen Neuauflagen seines Kompendiums Cours de bel/es Ieures ( 1747-48 u. ö . ) als ersten Teil voranstellte , ist auch dessen überaus erfolgreiche Übers . durch Kar! Wilh. Ramler: Einleitung in die schönen Wissenschaften , 4 Bde . Leipzig: Weidmann 1 1756-58 (zit . Battemd Ramler) , 2 1762, 3verm . 1769 , 4verb. 1774, 5 1785 , 6 1802 hier zu nennen. 198. Vgl . Manfred Schenker: Charles Batteux und seine Nachahmungstheorie in Deutschland. Leipzig: Haessel 1909 (Ndr. Hildesheim : Gerstenberg 1977) ; Christoph Siegrist: Batteux-Rezep­ tion und Nachahmungslehre in Deutschland. In: Geistesgeschichtliche Perspektiven. Rückblick ­ Augenblick - Ausblick. Festgabe für Rudolf Fahrner (hg. v. Götz Großklaus). Bonn : Bouvier 1969 , s. 171-190. 199. V gl . Herbert Dieckmann : Die Wandlung des Nachahmungsbegriffs in derfranzösischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Nachahmung und Illusion (hg. v. Hans Robert Jauß) . Mün­ chen: Eidos Vlg 1964 ( = Poetik und Hermeneutik , 1 ) , S. 28-59; Wolfgang Preisendanz: Mimesis und Poiesis in der deutschen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts. In: Rezeption und Produk­ tion zwischen 1570 und 1 730. Festschrift für Günther Weydt (hg. v. Wolfdietrich Rasch u. a . ) . Bern , München: Francke 1972, S. 537-552 ; Irmela v. d . Lühe: Natur und Nachahmung. Untersu­ chungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland. Bonn : Bouvier 1979. 200. Batteux/Schlegel, S . 56ff. , bes. S. 58 u. 65 . 201 . Ebd. , S. 67f. 202. Siegrist (Anm. 198) , S. 171 . Auch Hans Peter Herrmann: Nachahmung und Einbil­ dungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1 740. Bad Hornburg v. d. H . , Berlin, Zürich: Gehlen 1970, S. 227, folgert aus Batteux' Grundprinzip voreilig, daß das Böse , Häßliche und Schreckliche , kurz: >>das Widrige [ . . . ] aus dem Bereich der nachahmenswerten Natur von vornherein>SO verräth sie doch alle­ zeit die Kunst, und benachrichtigt dadurch das Herz , daß dasjenige , was man ihm vor­ stellt, nichts als ein Blendwerk , nichts als ein Anschein ist , und ihm also nichts wirkli­ ches gewähren kann . Dieß giebt in den Künsten denen Gegenständen Anmuth , die in der Natur unangenehm waren . « 206 Stärker noch als Dubos mit dem Begriff der > künst­ lichen Leidenschaften< , löst B atteux scheinbar die affektive Urbild-Abbild-Reverenz auf. Er trennt in Hinsicht auf die affektiven Wirkungen die Nachahmung von ihrem Sujet in der Wirklichkeit : >>[ . . . ] und da die Gemüthsbewegung an und für sich uns ge204. Ebd . , S. 4. Dieser Grundsatz der schönen Künste leidet hinsichtlich der Dichtkunst im besonderen freilich eine Einschränkung: Ihre erste und wichtigste Regel, die Batteux an späte­ rer Stelle formuliert , lautet: »Mit dem Angenehmen werde das Nützliche verknüpft. « (ebd . , S . 120) Winfried Schröder: Zum Begriff >Nachahmung< in Batteux' Theorie der schönen Künste. In: Beiträge zur französischen Aufklärung und zur spanischen Literatur. Festgabe für Werner Krauss zum 70. Geburtstag (hg. v. Werner Bahner) . Berlin : Akademie Vlg. 197 1 , S. 363-373 , stellt die Priorität der vergnügenden Kunstfunktion in Batteux' Kunstlehre heraus , um vom marxistischen Standpunkt aus deren »gesellschaftlich konservative und antiaufklärerische Grundtendenz« (S. 369) zu kritisieren. Abgesehen davon , daß Sehröder die angedeuteten Ein­ schränkungen (vgl . Batteux/Schlegel, bes. S. 120ff.) übergeht, engt er seinerseits die Kunstfunk­ tion rigoros auf das >prodesse< ein , indem er den Beitrag der schönen Künste im 18. Jahrhundert zum >>Kampf um die Veränderung der feudalabsolutistischen Ordnung« (S. 368) zum Maß sei­ nes Urteils macht. 205 . Vgl . Batteux/Schlegel, S . 70f. 206. Batteux/Schlegel , S. 71 . >>Keine Anmerkung könnte richtiger und vortrefflicher seyn, als diese . Sie erklärt, was sich aus dem bloßen Vergnügen über die Wahrnehmung der Aehnlichkeit zwischen dem Vorbilde und Nachbilde nicht herleiten ließe . « So kommentiert zustimmend der Übersetzer Johann Adolf Schlegel zu Beginn einer hier eingerückten längeren Anmerkung (S. 71-74) , mit der er nicht nur die frühaufklärerische mimesistheoretische Erklärung des Vergnü­ gens an Schreckensbildern u. a. seines Bruders Johann Elias Schlegel (1719-1749) kritisiert, son­ dern zugleich in den damaligen Streit um ein häßliches Weib eingreift und eine Position bezieht, die , über Mendelssohn vermittelt, in Lessings Laokoon eingeht. Siehe dazu unten : Kap . IV, Abschn. 5a und Sb.

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fällt , die Wirklichkeit der Gefahr aber uns misfällt : So kam das Hauptwerk darauf an , wie diese beiden Theile eines und eben desselben Eindrucks voneinander zu trennen seyn möchten. DieB ist der Kunst dadurch gelungen , daß sie uns den Gegenstand vor­ stellt, der uns schreckt , und sich selbst zu gleicher Zeit verräth, um uns alle Furcht zu benehmen , und durch dieses Mittel das Vergnügen der Gemüthsbewegung zu ver­ schaffen , ohne daß es durch den geringsten unangenehmen Zusatz verbittert wird . gemalten Schlange< , an das auch - von der For­ schung bisher unbemerkt208 - Lessing und Mendelssohn anknüpfen werden, um ihre unterschiedlichen Vorstellungen über die ästhetische Illusion zu diskutieren. B atteux selbst unterscheidet dabei zwei aufeinander folgende Phasen der Rezeption : Die tref­ fende Abbildung der Schlange hält der Betrachter >>auf einen Augenblick für die Na­ tur selbst« , wodurch er von einer >>Unruhe« befallen wird . Auf die Täuschung folgt die Ent-Täuschung: >>So kömmt doch die Seele bald von ihrem Schrecken zu einer an­ muthigen Stille zurück , worinnen sie sich über ihre Befreyung von der Gefahr , als über ein wirkliches Glück , freut . « 209 Wie Fontenelle2 1 0 deutet Batteux demnach das Erlangen des Bewußtseins, daß es sich bei dem Schrecklichen um eine bloße Darstellung handelt , als ein von Erleichte­ rung geprägtes Vergnügen und damit als Minderung einer ursprünglich unangeneh­ men Empfindung : >>Solchergestalt ist die Nachahmung allezeit die Quelle der Erget­ zung. Sie mäßigt die Aufwallung des Herzens, deren Uebermaaße unangenehm fal­ len würde . Sie hält dasselbe schadlos, wenn es diese Uebermaaße hat ausstehen müs­ sen . « 2 1 1 Zu ähnlichen Schlußfolgerungen war 1736 schon Bodmer i n Hinsicht auf die > ange­ nehmen Thränen< , die die Tragödie erregt , gekommen. Wie noch ausführlich darge­ legt wird , hatte er in Auseinandersetzung mit Calepio, der einen unmittelbar sensua207. Ebd . , S. 72f. Wie Breitinger interpretiert Batteux , Les beaux arts (Anm . 196) , S. 1 1 9 , Anm. a) , i n einer später hinzugefügten Anmerkung zum hier zitierten Satz die illusionstheoreti­ sche Erklärung des >angenehmen Schreckens< im Sinne Aristotelischer Katharsis um : >>Ün verra [ . . . ] que c'est en cela que consiste cette fameuse purgation des passions, qu'Aristote , dans sa poetique , attribue a Ia Tragedie.« Diese Anmerkung, in der Batteux Katharsis als Verwandlung von Schrecken in Vergnügen qua Illusion verstanden wissen will , wird durch die späteren Aka­ demiedenkschriften bestätigt. 208. Jetzt: Jost Schillemeit: Lessings und Mendelssohns Differenz. Zum Briefwechsel über das Trauerspiel (1 756157) . In: Digressionen. Wege zur A ufklärung. Festgabe f. Peter Michelsen. Hg. v. Gotthardt Frühsorge, Klaus Manger, Friedrich Strack. Heidelberg: Carl Winter 1 984, S . 79-92, bes. S . 90. 209 . Batteux/Schlegel, S. 73 . 210. Auf die Übereinstimmung zwischen Fontenelle und Batteux macht Henri Weil: Ueber die Wirkung der Tragödie nach Aristoteles ( 1 846) , in: Verhandlungen der 10. Versammlung deut­ scher Philologen und Schulmänner in Basel l846. Basel 1 848 , S. 131-141 , hier S. 134, aufmerk­ sam. 21 1 . Batteux/Schlegel , S. 73 . Wie eine Zusammenfassung liest sich im Inhaltsverzeichnis von Batteux/Ramler, Bd. I e 1756) der Kolumnentitel des hier behandelten Abschnitts (dort S. 8690) : >>Die Kunst verringert das natürliche Unangenehme gewisser Gegenstände , und warum . «

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Iistischen Ansatz verfolgte , ebenfalls eine Zwei-Phasen-Theorie von Täuschung und Enttäuschung formuliert . Aufgrund der immanenten Widersprüche tendiert die Er­ klärung des Vergnügens an schrecklichen Dingen im Rahmen des illussionstheoreti­ schen Ansatzes überhaupt zu einer >Üszillationstheorie< . Eine solche wird in enger Anlehnung an B atteux schließlich für den deutschen Sprachraum von Mendelssohn in den wenigen Paragraphen Von der Illusion ( 1757) entworfen . Die Erklärung der besonders rührenden Wirkung der künstlerischen Nachahmung von »unangenehmen Gegenständendurch die Entdeckung des Betrugs>das Herz mit den ange­ nehmen Gegenständen in den Künsten weit weniger zufrieden seyn [muß] , als mit den unangenehmen . « 2 14 Auf den Gedanken, daß die aus wirkungspoetischen Gründen vorzuziehende Darstellung des Schrecklichen die Forderung nach der Nachahmung der > schönen Natur< , d. h. des Ideals einer vernünftigen Natur, aushebelt, ist B atteux freilich nicht gekommen . Denkt man die wirkungspoetische Favorisierung des Schrecklichen als Sujet der Kunst - Mendelssohn wird als Ideal der Nachahmung die >schreckliche Natur< andeuten ! - konsequent weiter, so steht Batteux am Rande des ästhetischen Amoralismus . Als Resultat ihrer durch Johann Adolf Schlegels Überset­ zung vermittelten Batteux-Lektüre droht am Ende der fünfziger Jahre die für Lessing und Mendelssohn bis dahin selbstverständliche platonisch-plotinische und durch Shaftesbury und Hutehesan am Anfang des Jahrhunderts der Aufklärung erneuerte Einheit des Schönen , Wahren und Guten zunächst auseinanderfallen : Wirkungspoe­ tisch betrachtet erscheint für Lessing das >moralisch Gute< in polemischer Überspit­ zung als das >poetisch Böse< . Auch Mendelssohn faßt die Trennung des >metaphysisch oder moralisch Guten< vom >poetisch Guten< ins Auge . 2 1 5 212. Batteux!Schlegel, S . 74. 213. Ebd . Vgl . Lessings Polemik gegen Mendelssohns Gedanken Von der Illusion , Lessing an Mendelssohn, 2. Febr. 1757. Zit. in: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Fried­ rich Nicolai : Briefwechsel über das Trauerspiel. Hg. u. komm. v . Jochen Schulte-Sasse. Mün­ chen : Fink 1972, S. 100-104, bes. S. 10lf. 214. Batteux!Schlegel , S . 75 . Zutreffend stellt Herbert Dieckmann: Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (hg. v. Hans Robert Jauß) . München : Fink 1968 ( = Poetik und Hermeneutik, 3), S. 271-3 17, hierzu fest: >>Batteux kommt nahe an die im Zusammenhang seiner Lehre paradoxe Idee , daß Grauen und Schrecken, sofern sie in der künstlerischen Nach­ ahmung dargestellt werden , das innere Wesen des Menschen mehr interessieren und in stärke­ rem Maße fördern als die Darstellung des Angenehmen . « (S. 281 ) 215. Vgl . Johann Adolf Schlegel : Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poe­ sie. In: Batteux/Schlegel, S. 348-388, hier S. 359f. u. S. 367 ; Lessings 63 . Litteraturbrief, Men­ delssohns 66. , 87 . und 146. Litteraturbrief; Sulzers 78. Litteraturbrief. Siehe dazu unten : Kap. IV, Abschn. 3a.

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Zusammenfassend lautet Batteux' Ergebnis der kurzen Untersuchung , warum Ge­ genstände , die in der Natur mißfallen , in der Kunst angenehm sind : »Es ist unterdes­ sen wahr , daß es in den Künsten auch anmuthige Bilder giebt , welche uns entzücken . Aber ein ungleich größres Vergnügen würden sie uns machen , wenn sie Wirklichkeit erlangten ; da hingegen ein Gemählde, das uns mit einem angenehmen Schrecken er­ füllt , wofern es die Wirklichkeit erhielte , uns Entsetzen verursachen würde . « 2 1 6 Die Begründung des > angenehmen Schreckens< mithilfe des Illusionsbegriffs im all­ gemeinen steht freilich im Widerspruch zu gegenteiligen Aussagen hinsichtlich der Wirkungsweise der tragischen Gattungen - der >Wunderbaren< Oper und der >heroi­ schen< Tragödie - im besonderen : Im Kapitel >>Von den Trauerspielen« wird von B at­ teux alles , was zur Täuschung beiträgt , als gut angesehen , aber »alles , was mir meinen Irrthum benehmen hilft , wird schlecht seyn. « 2 17 Während B atteux auf das naheliegende Problem des Vergnügens an tragischen Ge­ genständen 1746 noch nicht eingeht, nähert er sich der komplizierten Materie der Ka­ tharsis im weiteren Laufe der Arbeit an den Neuauflagen seines mehrbändigen Cours de bel/es lettres (seit 1747/48) 2 18 und des kommentierten Sammelbandes Les quatres poetiques d'Aristote, Horace, Vida et Despreaux (177 1 ) . Seinen endgültigen Stand­ punkt verteidigt Batteux in einer daran anschließenden Diskussion vor der Französi­ schen Akademie in den Jahren 177 1 und 1772 über den von Aristoteles ins Auge ge­ faßten Endzweck der Tragödie . Dabei stellt sich heraus , daß die von Batteux 1746 vorgeschlagene illusionstheoretische Erklärung des »terreur agn!able« in der Kunst überhaupt von ihm nun als die spezifisch kathartische Leistung verstanden wird , von der Aristoteles in der Definition der Tragödie gesprochen hatte : Der Umschlag von Illusion zur Desillusion - so B atteux - >reinigt< den Schrecken von seinen schreckli­ chen Seiten . Aufgrund der komplizierten und bisher noch nicht erforschten Quellenlage hin­ sichtlich der Auflagen der Ramlerschen Übersetzung und ihres Verhältnisses zu den jeweils vermehrten Neuauflagen des Cours de belles lettres , sollen hier nur grob die drei wesentlichen Stationen der Entwicklung von B atteux' Katharsisdeutung knapp betrachtet werden : Seine Ausgangsvorstellung über die Wirkungsweise der Tragödie Anfang der fünfziger Jahre , seine erste ausführliche Erörterung des Katharsisbegriffs

216. Ebd . Vgl. Batteux' (Les beaux arts [Anm. 196] , S. 121) französischen Ausdruck >>terreur agreable>Sie mögen gelehrt oder ungelehrt , groß oder klein , Pöbel oder nicht Pö­ bel sein«220 , gemeinsam . Es kann aber je nach dem Stand der Zivilisation mehr oder weniger sublimiert durch >>einen weit stärkern und Iebhaftern Eindruck« der Schau­ spiele des Körpers oder >>einen sanftem Eindruck« der Schauspiele des Geistes und der Seele befriedigt werden22 1 : >>Das erste Schauspiel schickt sich für ein kriegerisches Volk ; das andere ist eine wahre Kunst des Friedens ; weil er die Bürger durch Mitlei­ den und Menschlichkeit untereinander verbindet . « 222 Die tragische Lust wird im wei­ teren Verlauf der Ausführungen im übrigen nicht illusionstheoretisch erklärt , son­ dern im Rückgriff auf Lukrez : Die Affekte von Schrecken , Furcht und Entsetzen wer­ den >>durch die Vergleichung versüßt , die wir zwischen unserem Zustande und dem Zustande des Leidenden anstellen« . 223 In einer späteren Auflage bleiben diese Ausführungen über die Vergnügen der Schaulust in der Sache unverändert , werden aber durch ein weiteres Kapitel ergänzt , in welchem gefragt wird : >>Welches der moralische Endzweck der Tragödie seyn kann . «224 Richtig erkennt B atteux den Grund der vorangehenden moralisierenden Auslegung des Tragödienzweckes im Sinne einer Sitten- und Schullehre darin , die kirchlichen Angriffe auf die Schaubühne zu unterlaufen und >>die Poesie mit gewissen Leuten wieder auszusöhnen« . 225 Tatsächlich besteht das Wesen der Tragödie dage­ gen in der >>Beschäfftigung der Seele vermittelst trauriger Bewegungen« . 226 Diese ausschließlich affektive Deutung belegt Batteux - wie bereits angedeutet - mit zwei erstaunlichen Exempeln : der öffentlichen Hinrichtung und den antiken Gladiatoren­ spielen . >>Man hat schon lange gesagt , die Hinrichtung der Missethäter sey die Tragö­ die des gemeinen Volkes . Ich frage , läuft das Volk darum hin , um dort zu lernen , daß man weder tödten noch stehlen müsse? Hat es wohl ein Gesetz nöthig, um dieses zu wissen? Es läuft darum hin, eine lebhafte Erschütterung, einen gewissen körperlichen Schauer zu empfangen [ . . . ] . Die Römer ließen zur Lust in ihren Amphitheatern Kriegsgefangene , die von Fechtern unterrichtet waren, auftreten und sich einander .

219. Batteux/Ramler, 1 . Auf! . , Bd. II ( 175 6) , S. 2 1 1 ff. , hier S . 21 1 . 220. Ebd. , S . 212. 221 . Ebd . , S . 2 1 5 . 222. Ebd. 223 . Ebd . , S . 273 . 224. Batteux/Ramler, 3. verm . Auf! . , Bd. II (1769) , S. 286-299. Vgl . Martino (Anm . 15), S . 295-297, der jedoch die Parallele zwischen Gladiatorenkampf, Hinrichtung und Tragödie unter­ schlägt. 225 . Ebd . , S . 290. 226. Ebd . , S . 290f.

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ermorden. DieB war ihre Tragödie . « 227 In diesem Kontext wird auf den engen Zusam­ menhang der Gladiatorenkämpfe und der römischen Schauertragödie mit einer für die Kriegsführung notwendigen Mentalität eines unempfindsamen und harten Her­ zens hingewiesen . Um den Anblick der Greuel in Senecas Thyestes ertragen zu kön­ nen , mußte der Römer >>im Amphitheater abgehärtet worden seyn«. 228 Die Griechen hingegen - >>ein sanfteres und leutseligeres Volk>rührend>ein vollkommenes Orakel>gehörigen Schranken>einer fruchtlosen Empfindsamkeit des Herzens>Wenn also Furcht und Mitleiden heilsame Tugenden werden sol­ len , so müssen sie lauter und nicht übermäßig seyn . Ist die Furcht mit Entsetzen ver­ mischt, so macht sie die Seele eher verwildert , als standhaft ; ist das Mitleiden mit Schwachheit vermischt, so artet es in Kleinmüthigkeit aus . B leiben beide unter einem gewissen Grade stehn, so streifen sie die Seele nur , ohne sie zu bewegen ; gehen sie über diesen Grad hinaus , so reißen sie solche mit sich fort , oder betäuben oder ver­ steinern sie . Man mußte sie also auf den gehörigen Grad bringen , sie reinigen , sie von allem abscheiden, was ihre Natur ändern konnte , um sie dem menschlichen Ge­ schlecht wahrhaft nützlich zu machen . >an­ genehmen Schrecken« zurückgehen , folgt nun , daß die tragischen Affekte , die zu nichts anderem sind , >>que pour Je plaisir des spectateurs« , deswegen vergnügen , weil sie nichts anderes sind, >>pour me servir des termes du Philosophe , que des passions purgees , c'est-a-dire adoucies , ou dechargees de ce qu'elles ont de trop fort ou de fä­ cheux , quand !es malheurs sont reels . « 239 Für B atteux sind das durch die ästhetische

criptions et Beiles Lettres. T. XXXIX (1777) . Die Stationen der Kontroverse: Batteux: Premier Memoire sur Ia Poetique d'Aristote. De Ia nature & des fins de Ia Tragedie (gelesen am 14. Juni 1771 ) , S. 54-70 ; Rochefort: Premier Memoire sur l'Objet de Ia Tragedie chez les Grecs (gelesen am 10. Januar 1772) , S. 125-158; Batteux: Second Memoire sur Ia Tragedie, pour servir de Reponse a quelques Objections de M. de Rachefort (gelesen am 2 1 . Januar 1772) , S. 71-90 ; Rochefort : Second Memoire sur l'Objet de Ia Tragedie chez les Grecs, pour servir de reponse a M. l'A bbe Batteui: (gelesen am 1 5 . Mai 1772) , S . 159-171 . Die Debattenbeiträge sind auch versam­ melt in: Charles Batteux: Quatre Memoires sur Ia Poetique d'Aristote avec deux Memoires de Mr. de Rachefort sur l'Objet de Ia Tragedie chez /es Grecs. Genf, Paris 1781 . 235 . Batteux , Premier Memoire sur Ia Poetique d'Aristote . De Ia nature & des fins de Ia Tragedie (Anm . 234) , S. 57. 236 . Vgl . ebd . , S . 59-62. 237 . Ebd . , S. 60. 238 . Ebd . , S . 6 1 . 239. Ebd . , S . 62. Gerade i n methodischer Hinsicht zutreffend , hält Henri Weil (Anm . 210) , S . 134, über Batteux' Katharsisdeutung fest : »In diesem Falle sieht man recht deutlich , wie die dunkle Stelle des alten Philosophen jedesmal das bedeuten musste , was die zur Zeit herrschen­ den Ansichten über Kunst seinen Erklärern gerade nahe legten . reinigende< Wirkung der Tragödie identisch . In der Antwort auf die Kritik von Rochefort , der gegen die ausschließliche Beto­ nung des Vergnügens den nützlichen Zweck der griechischen Tragödie in Hinsicht auf das öffentlich-politische Leben Athens heraushebt240 , unterstreicht Batteux noch­ mals das vergnügliche Wesen der schönen Künste , indem er sie dezidiert von dem mo­ ralischen Nutzen der Redekunst abgrenzt. In nicht zu übertreffender Abgrenzung von der Rhetorik als einer »art de service« , in der im Sinne >poetischer Gerechtigkeit< die Unschuld als gerettet und das Laster als bestraft dargestellt werden müssen , heißt es: »La Tragedie au contraire , n'est qu'un art de Juxe & d'amusement« . 241

3. Remoralisierung : die Sentimentalisierung des Schreckens in der Sympathie-Lehre der englischen Moral-Sense-Philosophie

Wie wir sahen , führte der bei d'Aguesseau und Dubos ausformulierte Versuch , auf der Grundlage der Psychologie der Langeweile das Vergnügen an schrecklichen Ge­ genständen mit der von ihnen erregten , besonderen Rührung zu erklären , zur ethi­ schen Indifferenz in Kunstdingen . Auch die illusionstheoretische Modifikation des emotionalistischen Neuansatzes endete , wie bei Batteux deutlich wurde , mit einem gesellschaftlich unverbindlichen Kunstbegriff - einer Ästhetik des Luxus und Ver­ gnügens . Einen anderen Verlauf nahm dagegen die englische Debatte um den angenehmen Schmerz, den die Tragödie erregt . Die als Reaktion auf das egoistische Menschenbild Hobbes' zu Beginn des 1 8 . Jahrhunderts von Shaftesbury und Hutehesan begründete Moral-Sense-Philosophie 1 führte mit ihrem zentralen Prinzip der Sympathie zur Re­ moralisierung der Ästhetik - einem Prozeß , der auch zur Umorientierung der Kunst­ theorie auf dem Kontinent beitrug: Gegen die unverbindliche Ästhetik der Zerstreu­ ung setzte in Frankreich Diderot2 das operative Genre des auf Einfühlung beruhen­ den bürgerlichen Dramas . Es gehört freilich zu den sympathischen Widersprüchen Diderots , daß er neben dem Programm einer auf moralische Wirksamkeit bedachten Schaubühne und neben der Formulierung eines neoklassizistischen Schönheitsbe240. Vgl. Rochefort, Premier Memoire sur I ' Objet de Ia Tragedie chez les Grecs (Anm . 234) , bes. S . 126; ders . : Second Memoire sur l'Objet de Ia Tragedie chez !es Grecs , pour servir de reponse ii M . I' Abbe Batteux (Anm . 234) , bes. S . 159. 241 . Batteux , Second Memoire sur Ia Tragedie, pour servir de Reponse ii quelques Objec­ tions de M . de Rachefort (Anm. 234) , S. 73 . 1 . Vgl. Jürgen Sprute: Der Begriff des Moral Sense bei Shaftesbury und Hutcheson. In: Kant­ Studien , 71 ( 1981 ) , S. 221-237. 2. Diderots Erstlingswerk ist eine Übersetzung von Shaftesburys lnquiry concerning Virtue and Merit (171 1 ) : Denis Diderot: Principes de Ia Philosophie morale, ou Essai sur le Merite et Ia Vertu. Amsterdam 1745 . In: ders. : CEuvres Completes. Ed. par Jean Assezat. T. l . Paris: Garnier 1 875 , s . 3-121 .

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griffs in der Encyclopedie , auch auf die Schönheit der Barbarei und Wildheit und die Erhabenheit des Schreckens (s. u. S. 191f.) hingewiesen hat . In Deutschland führt die Rezeption der Moral-Sense-Philosophie zur Ablösung der einseitig rationalistischen Moraldidaxe - der einzigen Legitimation der tragischen Gattung - zugunsten einer sensualistischen, sozialpragmatisch konturierten Mitleids­ theorie. 3 Aufgrund der soziokulturell begründeten Verspätung der deutschsprachi­ gen Aufklärung kommt es im Verlauf dieses wirkungsästhetischen Paradigmenwech­ sels ironischerweise aber auch - wie wir später sehen werden - zu Auflösungserschei­ nungen der traditionellen Einheit von Ethik und Ästhetik . Für England werden in der folgenden Skizze B andbreite und Widersprüche des um den Sympathie-Begriff kreisenden Erklärungsversuchs der paradoxen tragischen Lust stellvertretend bei Henry Horne Lord of Kames (1696- 1782) und David Hume ( 1 7 1 1 - 1776) dargestellt , wobei sich die gewählte Reihenfolge der Behandlung aus den Entstehungsdaten der im Mittelpunkt stehenden Tragödienschriften ergibt. In England stieß seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Hobbessche Psychologie der Selbstliebe im allgemeinen und die daran anknüpfende , auf die eindrucksvollen Ver­ se von Lukrez zurückgreifende Deutung des Vergnügens am Unglück Anderer zu­ nehmend auf moralische Entrüstung. Die rätselhafte Freude an unglücklichen Kata­ strophen erscheint nunmehr als böswillige Schadenfreude . Auch die abschwächende Umdeutung der Distanz zwischen Zuschauer und Opfer zur eigentümlich mimeti­ schen Differenz von Kunst und Leben bleibt von diesem ethischen Umwertungspro­ zeß nicht unberührt . »Secret Pleasurekind of malicious Satisfaction>Principle of Ill­ Nature that is in US>wichtige Aspekte mit Hutchesons Lehre vom moral-sense teilt« (S . 12) . Ders. : Adam Smith's Influence on Lessing's View ofMan and Society. In: Lessing Yearbook, 15 ( 1983) , S . 125-143. Dagegen hat Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München: Beck 1980, bes. S. 26ff. , den Einfluß der Rousseauschen Mitleidslehre auf Lessing geltend gemacht. Vgl. Dieter Borchmeyer: (Rez . ) . In: Poetica, 14 ( 1982) , 171-177 , bes. S . 171f. 4. Abel Boyer (1667-1729): The English Theophrastus: Or, the Manners of the Age. London 1702, S. 214 u. S. 306; zit. nach Baxter Hathaway: The Lukretian >Return upon ourselves< in Eighteenth-Century Theories of Tragedy. In: PMLA , LXII (1947) , S. 672-689 , hier S. 676 u. S . 677, Fußn. Auch Burke verwirft die Lukrez-Hobbessche Doktrin. D i e z u Beginn des 18. Jahr­ hunderts mit der Sympathie-Lehre der Moral-Sense-Philosophie einsetzende Verurteilung des

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lieh . Das Vergnügen an schrecklichen Dingen wird als der prägnanteste Ausdruck der Psychologie des Egoismus nun als >>at least selfish and narrow , if not barbarous and ill-natured« 5 gewertet . Am Beispiel der Tragödientheorie von Henry Horne ( 1 696-1782) , einem Anhänger der Moral-Sense-Philosophie , zeigt sich , daß mit dem Auswechseln der ethischen Ba­ sistheorie der Selbstliebe zugunsten der Sympathie sich nicht nur die Erklärung der menschlichen Neigung verschiebt , an Schreckensdarstellungen Gefallen zu finden . Vielmehr entfällt mit der als Mitleidstheorie formulierten Deutung des angenehmen Schreckens das Paradigma der ästhetischen Illusion und einer daraus folgenden Di­ . stanz zwischen Zuschauer und Bühnengeschehen überhaupt : Der dichtungstheoreti­ sche Begriff der Fiktion wird belanglos. In der 1751 erschienenen Abhandlung Of our Attachment to Objects of Distress ­ dem ersten seiner Essays on the Principles of Morality and Natural Religion - setzt sich Horne vor allem mit dem Erklärungsansatz Dubos' auseinander. Dabei mag es gegen die von Addison vertretene Lukrezsche Doktrin gerichtet sein, wenn Horne den fran­ zösischen Kunstrichter ausdrücklich gegenüber den namenlosen Untersuchungen , >>die« , wie es in der 1768 von Christian Günther Rautenberg (1728- 1776) besorgten Übersetzung6 heißt , >>Von andern schon mit unglücklichem Erfolge angestellet wor-

>egoistischen< Menschenbilds von Hobbes prägt auch das Urteil der modernen Politikwissen­ schaft: C. B. Macpherson : Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke (eng! . 1962) . Frankfurt/M. : Suhrkamp 1973 ( stw, 4 1 ) , stellt über Hobbes fest: >>Seine Postulate über die Natur des Menschen sind nicht sehr schmeichelhaft [ . . . ] . >so unannehmbar>Hobbes' Theorie der menschlichen Natur voll­ kommen zu akzeptieren.>Hätte unser Autor auf den sympathetischen Trieb Acht gegeben , von welchem wir, als von einem geheimen Reiz , getrieben werden , an dem Elende anderer Theil zu nehmen , so hätte er nicht nöthig gehabt, unsern Abscheu gegen die Unthätigkeit , diesen so unvollständigen Grund zu Hülfe zu rufen, wie die anscheinende Seltsamkeit, daß der Mensch freywil­ lig den Schmerz sucht, zu erklären . >das Mitleiden , dieses Kind der Sympathie , eine schmerzhafte Regung>der durch unsere gesellige Neigung veranlaßt worden , nicht den geringsten Widerwillen bei uns hervor [ . . ] >Schöpfer der Natur>Weit entfernt , gegen den Schmerz, der von diesem geselligen Triebe verur­ sachet wird ; einigen Abscheu zu haben , so erinnern wir uns vielmehr mit Vergnügen .

2 1 . Ebd . , S. 1 1f. 22. Ebd. , S. 12. 23 . Ebd . , S . 13. 24. Ebd . , S . 18. 25 . Ebd . , S . 13. 26 . Ebd. 27. Ebd. 28. Auch hier gilt die ideologiekritische Maxime: >>Dies Schein und nur der ästhetische Schein der kleinen und großen Robinsonaden [ . . . ] . Einleitung< ( 1 857) , S. 5 . 29. Home/Rautenberg, S . 12. 30. Vgl . Macpherson (Anm . 4) . 3 1 . Ebd . , S. 19. 32. Ebd . , S . 18. 33. Ebd.

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daran , und sind bereit, uns bei aller Gelegenheit einem solchen Schmerz freudig und willig zu unterwerfen , nicht anders , als ob er ein wirkliches Vergnügen wäre . « 34 Neben diesem rein sympathetisch begründeten , selbstquälerischen Genuß des Mit­ leidens findet sich bei Horne - wie in der Sympathie-Lehre überhaupt - jedoch noch eine Erklärungsvariante : >>Wenn wir über unsere eigene Charakter [ ! ] und Handlun­ gen Ueberlegungen anstellen, so können wir uns nicht enthalten , diese zärtliche Sym­ pathie in unserer Natur zu billigen. Wir gefallen uns selbst wegen dieser Empfindun­ gen . Wir sind uns eines innerlichen Verdienstes bewußt; und dieß ist eine beständige Quelle des Vergnügens . « 35 Mit dieser Modifikation ist Horne freilich , ohne sich des­ sen bewußt zu sein , wieder zur Psychologie der Selbstliebe zurückgekehrt . Als Selbst­ gefühl unserer Tugend erscheint das Vergnügen nun als Gratifikation , mit der die >li­ stige Natur< Anteilnahme und Mitleiden belohnt . Mit der wenn auch ambivalenten Herleitung der aus dem Mitleiden sprießenden Schmerzenslust sind die anthropologischen Voraussetzungen geschaffen , das Para­ dox des Vergnügens am Trauerspiel aufzulösen und den gesellschaftlichen Nutzen dieser Gattung ins rechte Licht zu setzen: Die Tragödie ist ein >>herrliches Hülfsmit­ tel« 36 alle »geselligen Neigungen« 37 , alle >>gesellschaftlichen Leidenschaften« 38 , vor allem aber die >>Neigung zum Mitleiden« 39 zu trainieren : »Sie [die Tragödie ; d . V . ] dient ungemein, das Gemüth menschlich z u machen , indem sie erdichtete Gegenstän­ de des Mitleidens darbietet , die beynahe mit den wirklichen Gegenständen gleiche Kraft haben , den Affekt zu üben . « 40 Horne entwirft in auffälliger Übereinstimmung mit der späteren Position Lessings im Briefwechser"1 eine Mitleidsdramaturgie , in deren Folge der ästhetische Unter­ schied , die Differenz von Kunst und Wirklichkeit eingeebnet wird . Wie im Leben werden die dramatis personae »unsere besten Freunde , und wir stehen ihrentwegen in Hoffnung und Furcht, gleich als ob das Ganze nicht sowohl eine Fabel , als eine wahre Geschichte wäre . «42 In Hinsicht auf eine innere kunsttheoretische Systematik formuliert Horne mit der wirkungspoetischen Zwecksetzung des Trauerspiels den Abschied von der Kunstdifferenz gleich mit . Die Tragödie solle unsere >>Fähigkeit, von erdichteten sowohl , als von wirklichen Gegenständen gerühret zu werden« , üben 34. Ebd. 35 . Ebd . , S . 13. 36. Ebd. , S. 20. 37 . Ebd. , S. 18. 38. Ebd . , S . 16. 39. Ebd. , S. 20 . 40. Ebd. 4 1 . Hinweise auf eine Kenntnis der >Tragödienschrift< Hornes bei Lessing oder Mendelssohn gibt es nicht. Die Horne-Rezeption setzt in Deutschland erst mit Johann Nicolaus Meinhards (1728-1767) Übersetzung der Elements of Criticism (3 Bde , 1762-65) von 1763-66 ein. V gl . Leroy R. Shaw: Henry Horne of Kames: Precursor of Herder. In: The Germanie Review, XXXV (1960) , S. 16-27 ; R. Masson: De Henry Horne (Lord Kames) a Schiller. In: Etudes Germaniques, 35 (1980) , Nr. 3 , S . 267-289. 42. Home/Rautenberg, S. 14.

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und damit zur »Verbesserung der Seele« und zur »Bestärkung in der Tugend« beitra­ gen . 43 Für die Ausbildung eines empfindsamen Habitus des Mitleidens ist die Frage nach dem fiktiven oder realen Charakter der unglücklichen Ereignisse - so Martino ­ »Vollkommen belanglos« . 44 Werner Strube hat für Horne nachgewiesen , daß die Moral-Sense-Philosophie die Bestimmung des ästhetischen Rezeptionszustandes als eines vermeintlichen Augen­ zeugeseins >>geradezu notwendig« 45 macht . Tatsächlich hat Horne einige Jahre nach seiner >Tragödienschrift< in den Elements of Criticism (eng! . 1762-65) den Bezug zwischen Dichtung und Rezipienten im allge­ meinen im Begriff der >>ideal presence>mächtigste>Eindrücke von idealer Gegenwart her­ vorzubringen>als wenn er ein Augenzeuge derselben wäre>ideal presenceSchmelzenden< Affekte , d . h . auf das traurige Vergnügen des Mit­ leids ein . Verglichen mit dem auf der Psychologie der Langeweile beruhenden emo­ tionalistischen Neuansatzes ist die Reichweite der sympathetischen Erklärungsva­ riante eingeschränkt: Die Mitleidstheorie erstreckt sich nur auf die >>sehr rührenden Trauerspiele>rührendsten Tragedien>ideal presence>Oberfläche« des Herzens . >>Hier schaltet unser Bewußt­ sein unseren Verstand teilweise aus und läßt sich, um einem müßigen Spiele frönen zu können , zu einer Täuschung verleiten , wie sie nötig ist zur Erzeugung eines Gefühls, dessen sanfte Regungen uns in einem Zustand untätiger Zufriedenheit nicht unerfreulich sind . Mitleid< nennen? Eine solche Mut­ ter, so schließt Hawkesworth , sei viel zu stark vom Schmerz erfüllt , als daß es ihr mög­ lich sei , >>the luxury of Pity>lt is always thought a difficult Problem to account for the Pleasure , received from the Tears & Grief & Sympathy of Tragedy ; which woud not be the Case, if all Sympathy was agreeable . An Hospital woud be a more entertaining Place than a B ali . >[ . . . ] so we , too , seem to be pleased when we are able to sympathize with him , and to be hurt when we are unable to do so . We run [ . . . ] to con­ dole with the afflicted; and the pleasure which we find in the conversation of one whom in all the passions of the heart we can entirely sympathize with , seems to do mo­ re than compensate the painfulness of that sorrow with which the view of his situation affects us . On the contrary , it is always disagreeable to feel that we cannot sympathize with him , and instead of being pleased with this exemption from sympathetic pain , it hurts us to find that we cannot share his uneasiness . agreeable or disagreeable>agreeable and delightfuk 6 1 Diese Trennung hatte sich in der ambivalenten Bestimmung der Schmerzenslust , die das Mitleiden bereitet , bei Horne bereits angedeutet , ohne daß sie aber für das Problem des Vergnügens an unglücklichen Gegenständen oder am Trauerspiel schon fruchtbar gemacht worden wäre . In der deutschsprachigen Aufklärung dagegen ver­ suchte Mendelssohn etwa gleichzeitig, angestoßen durch Lessing und in Anknüpfung an die Unterscheidung von Affekt und innerer Erregung der Seele bei Descartes und von Perzeption und Apperzeption bei Leibniz , die Differenzierung in eine objektive und eine subjektive Komponente des sympathetischen Mitempfindens für eine Erklä­ rung des > angenehmen Schreckens< zu nutzen . Schließlich liegt die gleiche Struktur eines reflexiven Selbstgefühls auch dem Zweitakt des Kant-Schillerschen Erhaben­ heits-Paradox zugrunde , da das bürgerliche Subjekt erst in einem indirekten , der un­ mittelbaren Unlust folgenden Akt der Begeisterung seine überragende Vernunft er­ fährt. Wie wir sahen , lehnte David Hume die von Horne und Smith vertretene Lehre , daß alles Mitleiden für sich schon angenehm sei , entschieden ab . Vielmehr vertrat er be­ reits in A Treatise ofHuman Nature (1739-40) , das in drei Büchern nacheinander vom Verstand, von den Leidenschaften und von der Moral handelte , die Ansicht , daß die natürliche Anteilnahme am Unglück Anderer eine Empfindung hervorbringe , die der originären Gemütsbewegung ähnlich , d . h . traurig sei : Mitleid ist Betrübnis . Be­ zeichnender Weise führt Hume die Tragödie als Beispiel des sympathetischen Gleich­ klanges zwischen Bemitleidetem und Mitleidendem an . In der zeitgenössischen Übersetzung62 heißt es: >>Ein Zuschauer eines Trauerspiels geht durch eine lange Rei­ he von Besorgnissen , Schreck , Unwillen und andere Leidenschaften hindurch , wel-

60. Hume an Smith , 28. Juli 1759 (Anm. 58) , S. 3 1 3 . 61 . Smith (Anm . 59) , [I . iii . l . 9] , S . 46, Fußn . * . 62. David Hume: Ober die menschliche Natur. Aus d e m Eng! . nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks v. Ludwig Heinrich Jakob [1759- 1827] . 3 Bde . Halle: Hemmerde u . Schwetschke 1790-92 (zit. : Hume/Jacob) . Vgl. ders . : A Treatise of Human Nature: Being a n at­ tempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects. Ed. by T. H. Green and T. H . Grose . II Vols. London , New York , Bombay 6 1898 [ 1 1874] .

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ehe der Dichter in den Personen , die er einführt , vorstellt. >an sich betrachtet , ist uns unangenehm>Vergnügen>daß alles nur ein Blendwerk ist . « 90 Humes >>komplizierte Alchimie der Empfindungen« (Martino ) 9 1 , von der bereits der Übersetzer Resewitz anmerkte , ihr fehlten noch einige >>Grade der Deutlich­ keit« 92 , basiert auf dem entschiedenen Hervorkehren der schönen künstlerischen Form des schrecklichen Sujets . Damit unterbricht Hume den Gleichklang der Emp­ findungen zwischen Bemitleidetem und Mitleidendem , der in der mitleidstheoreti­ schen Erklärung der tragischen Lust zur Aporie führte . Die Akzentuierung der Kunstform widerspricht gleichwohl den Ausführungen zur dramatischen Dichtung im allgemeinen , die Hume in seinen 1748 entstandenen Philosophical Essays concerning Human Understanding, der Neufassung des ersten Buchs des Treatise , eingefügt hat­ te . Hier hatte Hume die aristotelische Forderung nach Einheit der dramatischen Handlung aus assoziationspsychologischer Sicht neu interpretiert und hinsichtlich der Unmittelbarkeit des Bühnengeschehens festgestellt, daß >>der Verfasser in dramati­ schen Werken völlig zurücktritt und der Zuschauer sich bei der dargestellten Hand­ lung wirklich zugegen wähnt>ideal presencever­ mischten Empfindungen< , S. 387-393 , hier S. 387. 91 . Martino (Anm . 6) , S. 165 . 92. Hume/Resewitz, S . 225 , Fußn . v. Resewitz. Eine deutlichere Erklärung erwartet sich Resewitz von den >>Herrn Verfasser[n] der Bibliothek der schönen Wissenschaften« (ebd . ) , d . h . von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn. 93. David Hume : Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hg. v. Raoul Richter. Leipzig: Meiner 9 1928 (= Phil . Bibi . , 3 5 ) , S. 3 1 . Vgl . David Hume: An Enquiry concerning Human Understanding. In: ders . : Essays. Moral, Political, and Literary. Ed. by T. H. Green and T. H. Grose . 2 Vols. New Impression . London , New York, Bombay 1898, Vol. II, S. 1-135, hier S . 21f. , Anm. 1: >>[ . . . ] the author is entirely lost in dramatic composition , and the spectator sup­ poses hirnself to be really present at the actions represented [ . . . ]. «

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- ethisch weniger problematisch - in einer Art Oszillationstheorie der ästhetischen Il­ lusion , wenigstens die Momente von Unlust und Lust zu entzerren . Lessing modifi­ ziert den Mitleidsbegriff dergestalt , daß er im Unterschied zu den Engländern das Mitleiden im sog . >Saitengleichnis< des Briefwechsels94 als eigenständige und darüber hinaus sozial-pragmatische Empfindung sui generis von mitleidiger Furcht , mitleidi­ gem Schrecken etc . unterscheidet.

4 . Edmund Burkes Ästhetik des Schreckens

Edmund Burkes (1729- 1797) überaus erfolgreiche und für den Verlauf der deutsch­ sprachigen Ästhetikdebatte entscheidende Frühschrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our ldeas of the Sublime and Beautiful (1757 , 2 1759) 1 ist zurecht als »Äs­ thetik des Schreckens und Schmerzes« (Monk) 2 in die Literaturgeschichte eingegan­ gen . Kürzlich ist sie - avant Ia lettre - als »Gattungspoetik des englischen Schauerro­ mans« 3 in Anspruch genommen worden . 94. Lessing an Mendelssohn, Leipzig, 2. Febr. 1957. In: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn , Friedrich Nicolai : Briefwechsel über das Trauerspiel. Hg. u. komm. v. Jochen Schulte-Sasse. München: Winkler, S. 100- 104, bes. S. 102f. Vgl . Jochen Schulte-Sasse: Der Stel­ lenwert des Briefwechsels in der Geschichte der deutschen Ästhetik, ebd . S. 168-237 , bes. S. 2091 3 . Dagegen Schings (Anm . 3), S. 37 u. S. 94, Anm . 19. 1. Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. Ed. with an Introduction and Notes by J. T. Boulton . London: Routledge and Kegan Paul 1958 (zit. : Burke/Boulton) . Deutsche Übersetzungen: Ders . : Philosophische Untersuchun­ gen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen. Nach der fünften engli­ schen Ausgabe [1767] [übers. v. Christian Garve] . Riga: Hartknoch 1773 (zit. : Burke/Garve) . Ders . : Vom Erhabenen und Schönen. Aus dem Engl. übers. und mit einer Einleitung v. Fried­ rich Bassenge. Berlin : Aufbau Vlg. 1956 (zit. : Burke/Bassenge) . Ders . : Philosophische Untersu­ chung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übers. v. Friedrich Bas­ senge . Neu eingel. und hg. v. Werner Strube. Hamburg: Meiner ( = Phil . Bibi . , 324) (zit. : Burke/Strube ) . Burkes Enquiry erschien anonym am 2 1 . April 1757. Erst die französische Über­ setzung von 1765 nennt den Namen des Verfassers. Eine zweite , um die als Antwort auf David Humes Abhandlung Of the Standard of Taste ( 1757) konzipierte Einleitung >On Taste< , den Abschnitt >Power< (II 5) und andere Passagen, die die Rolle des Schreckens als regierendes Prin­ zip des Erhabenen herausstellen, vermehrte Auflage erschien am 10. Jan . 1759. Die zweite Aufl . liegt allen weiteren Ausgaben , die zu Burkes Lebzeiten durchschnittlich alle drei Jahre neu aufgelegt wurden , und allen Übersetzungen zugrunde . Die deutsche Übersetzung von Chr. Garve erschien erst 1773 , da vorher - nie zustande gekommene - Übersetzungen sowohl von Lessing als auch von Herder angekündigt waren. Ich zit. im folgenden unter Berücksichtigung der nur bei Burke/Boulton nachgewiesenen Varianten zwischen erster und zweiter Auflage nach Burke/Strube im Text (Teil Abschnitt , Seite) . 2. Samuel H. Monk: The Sublime. A Study of critical Theories in XVIII. -Century Eng land. 2 . Aufl. Michigan : A n n Arbor 1960 [zuerst: New York 1935] , S. 235 : >>aesthetic o f terror and pain«. 3. Ingeborg Weber: Der englische Schauerroman. München, Zürich: Artemis 1983 , S . 20 u . ö . ; vgl . Vf. : (Rez . ) . In: A urora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft , 4 4 ( 1 984) , S . 244-245 .

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In radikaler Zuspitzung der Tendenz zur ästhetischen Aufwertung der nicht-schö­ nen Phänomene und der widrigen Affekte im Verlauf der zuvor skizzierten Entdek­ kung des Erhabenen bestimmt Burke den Schrecken als das alles beherrschende Prin­ zip der neuen Kategorie . Dabei faßt er in seiner wohl schon zwischen 1747 und 1753/ 54 verfaßten4 Untersuchung die Sympathie-Lehre der Moral-Sense-Philosophie 5 und die Psychologie der Selbstliebe in einem von konsequent dichotomischer Architekto­ nik geprägten Rahmen zusammen . Innerhalb dieses Oppositionssystems wird das Er­ habene , wie der Titel der Schrift schon andeutet , in Fortsetzung der von Dennis be­ gründeten >doppelten Ästhetik< dem Schönen akzentuiert entgegengesetzt . Grundlegend für Burkes Schönheit und Erhabenheit festlegendes Koordinatensy­ stem der Empfindungen ist die Unterscheidung von >>pleasure>pain>grief>pleasing woe>delight>Art Ruhe , beschattet von Schrecken>wir einer drohenden Ge­ fahr entgangen oder die Qual eines heftigen Schmerzes losgeworden>delight>Beruhigung>Frohseyn>admiration«) , Hochachtung (>>reverence«) , Ehrfurcht (>>respect«) und Erstaunen (>>astonishment«) erfüllt . 14 In der zweiten Auflage der Untersuchung wird 1759 die radikale Fassung noch poin­ tiert , da die drei englischen Rezensenten 1 5 der Erstausgabe an der Zentrierung des Er­ habenen um den Schrecken Anstoß genommen hatten . Grauen sei ein Anstrich , viel­ leicht ein Zusatz zum Erhabenen , so relativierte Artbur Murphy (1727-1805) in Dr. Johnsons Literary Magazine. 16 Auch Oliver Goldsmith (1728- 1774) bemängelte im 12. Vgl . Burke/Boulton, I 7 , S . 39f. 13. Vgl . Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen. Griechisch und deutsch von Reinhard Brandt. Darmstadt: Wiss . Buchges. 1966, 9. 1 , S. 43 : >>[ . . . ] das Erhabene ist der Widerhall einer großen Seele . « 1 4 . Burke/Strube , I I 1 , S . 91 ; vgl . Burke/Boulton, II 1 , S. 57. 15. Vgl . Herbert A . Wichelns: Burke's Essay on the Sublime and its Reviewers. In: The Jour­ nal of English and Germanie Philology , 21 (1922) , H. 4, S. 645-661 ; vgl . Burke/Boulton , Intro­ duction , S. XXIVf. 16. Vgl . Burke/Boulton, II 2, S. 58, Anm. 1. Wenn auch heute festgestellt wird , Burke/ Strube , Einleitung, S. 19, Burke habe lediglich den Typus des »Furchtbar-Erhabenendoppelter< und >einheitssuchender< Ästhetik: Die erste Form wird von Dennis, Burke , Kant oder Nietzsche , die zweite von Schiller, Herder und der idealistischen Philosophie der schönen Kunst repräsentiert.

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Monthly Review, daß Burke ausschließlich den Schrecken als Quelle des Erhabenen gelten ließe , Liebe und Bewunderung dagegen ausschlösse . 17 Auch der anonyme Re­ zensent des Critica/ Review hielt Burkes Definitionsvorschlag für zu eng: >>We agree that the sublime is often an idea belanging to selfpreservation , but not always. Schrek­ ken< (II 2) unterstreichend hinzu : >>In der Tat ist der Schrecken in allen Fällen ohne Ausnahme [ . . . ] das beherrschende Prinzip des Erhabenen . Macht< (>>po­ wer>die erhabensten Begriffe von Gott haben [können] , ohne ihn als einen Gott des Schreckens vorzustel­ lenMacht< heißt es dazu : Mag der Herrgott , >>ledig­ lich als ein Objekt des Verstandes>eine komplexe Idee von Macht, Weisheit , Gerechtigkeit und Güte>in diesem ver­ feinerten , abstrakten Lichte>Allenthalben , wo Gott in der Heiligen Schrift als er­ scheinend oder redend dargestellt wird , da wird jedes schreckenerregende Ding der Natur aufgeboten , um das Ehrfurchtsvolle und Feierliche der göttlichen Gegenwart zu erhöhen . « (li 5, 105) Die Erhabenheit der Gottheit muß daher in der Dichtung im­ mer >>überschattet von geheimem Grauen und Schrecken« (li 5, 105) gestaltet wer­ den . Das Gottesbild des Alten Testamentes ist poetisch , das des Neuen nur verständ­ lich . Damit konturiert Burke in seinem neu eingefügten Abschnitt nicht nur die Skizze einer Ästhetik der Gewalt23 , sondern darüber hinaus weisen seine Ausführungen auch auf die ästhetische Grenze der Aufklärung hin: Hinsichtlich des Verhältnisses von Klarheit und Dunkelheit in der Dichtkunst heißt es schon 1757 mit antiaufkläreri­ scher Metaphorik, daß eine "dunkle Idee [ . . . ] wirkungsvoller sein muß als die klare« (II 4, 96) . Und in einem neuen Absatz fügt Burke 1759 hinzu : >>Eine klare Idee ist also nur ein andrer Name für eine kleine Idee . « (li 4, 98) 24 Es ist nicht der Ort , die gegenaufklärerische Gravitationsrichtung der von Burke angeschnittenen Problematik hier auszudiskutieren . Doch soll knapp auf die Burke­ Rezeption durch Diderot hingewiesen werden , bei dem die ästhetische Provokation der Aufklärung durch das Paradox des angenehmen Grauens nicht nur zum Gegen­ satz von ethischer und ästhetischer Wertung führt , sondern auch zur Maxime der schwarzen Aufklärung. Namentlich die Schiffbruchsmalereien von Claude-Joseph Vernet (17 14- 1789) ­ >>Ce terrible Vernet>( . . . ] wir unterwerfen uns dem , was wir bewundern, aber wir lieben das, was sich uns unterwirft [ . . . ]Glorious Revolution< aus betrachtet , freilich ästhetisch verklärt erscheinen mochte . Inwieweit die soziale Semantik von Burkes früher Ästhetik seine spätere Verurteilung der Französischen Revolution präjudiziert , kann hier nicht geklärt werden. Schönheit dagegen ist an gleichberechtigte Gesel­ ligkeit , besonders im Umgang der Geschlechter miteinander, gebunden : »[ . . . ] Liebe ist der Geringschätzung viel näher, als man gewöhnlich glaubt ( . . . ]Salon de 1765< ausgestellt hatte: >Grande tempete< und >Naufrage au clair de lune< ; vgl . ebd . Vol . II: > 1 765< , S. 122 u. Abb. Nr. 36 u. 37 .

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Kunstbegriff, den er etwa im Artikel >beau< der Encyclopedie vertreten hatte26 , abzu­ wenden 27 , und seine in Auseinandersetzung mit Burkes Untersuchung gewonnenen neuen Einsichten über die poetische Attraktivität von Schrecken und Erhabenheit dem Pariser Publikum mitzuteilen . Offenbar die 1765 erschienene französische Über­ setzung des Enquiry selbst oder Exzerpte daraus28 vor Augen , übernimmt Diderot so­ wohl Burkes Beispiele im Einzelnen 29 als auch dessen Lehrsatz im Ganzen: >>tout ce qui imprime un sentiment de terreur conduit au sublime . « 30 Hinsichtlich der Erhaben­ heit der Gewalt und des Dunklen stimmt Diderot nicht nur mit Burke darin überein , daß der Stier erhabener sei als der Ochse und die schrecklichen Götter erhabener als die gütigen - der Verfügbarkeit der Ästhetik als Herrschaftstechnik ist sich Diderot übrigens völlig bewußt, wenn er hinzufügt : »et !es legislateurs sacres Je savaient bien . « 31 Vielmehr folgert Diderot darüber hinaus grundsätzlich , daß das Verbrechen poetischer sei als die Tugend und rät schließlich allen Dichtern : >>soyez tenebreux . « 32 Mit der Zentrierung des Erhabenen um den Schrecken geht Burke über die zur Mitte des 1 8 . Jahrhunderts in der englischen Diskussion gängig gewordene Phänomenolo­ gie dieser Kategorie weit hinaus . Dazu tritt , worauf Burke am Schluß seiner Definition (I 7) bereits vorausgewiesen hatte , eine physiologisch geprägte Antwort auf die Frage nach der >>effektiven Ursa­ che« (IV 1 , 168) des Frohseins, d . h . des angenehmen Grauens , das das Schrecklich­ Erhabene hervorruft . Ausgehend von dem psychosomatischen Zusammenhang kör­ perlicher und seelischer Befindlichkeit , stellt Burke fest , daß die die Selbsterhaltung bedrohenden Empfindungen des Schreckens und Schmerzes Muskelspannung und kontraktion und eine entsprechende , heftige Erregung der Nerven verursachen . Bur­ ke schließt umgekehrt daraus, >>daß alles , was eine solche Spannung zu erzeugen taug­ lich ist , auch eine dem Schrecken ähnliche Leidenschaft hervorbringen muß ; infolge­ dessen muß es auch eine Quelle des Erhabenen sein , selbst wenn keine Idee von Ge­ fahr mit ihm verknüpft sein sollte . « (IV 5, 173f. ) 26. Vgl . Denis Diderot: Asthetische Schriften. Aus dem Franz. übers . von Friedrich Bassenge u. Theodor Lücke . Mit einer Einl. v. Fr. Bassenge. 2 Bde. Frankfurt/M . : Europäische Verlags­ anstalt 1968 , Bd. I, S. 98-1 36 ( >Das Schöne< , 175 1 ) . 27. Vgl. Gita May: Diderot and Burke: A Study i n aesthetic Affinity. I n : PMLA , LXXV (1960) , H. 5, S. 527-539, hier S. 528. 28. Vgl. Herbert Dieckmann: Das Abscheuliche und das Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. In: Hans Robert Jauß ( Hg. ) : Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphäno­ mene des Asthetischen. München: Fink 1968 ( = Poetik und Hermeneutik , 3) , S. 271-3 17, hier S . 290f. , Anm . 37. 29. Diderot, Salon de 1767 ( Anm. 25) , S . 142 ( >>Le spectacle de Paris en feu [ . . . ] . «) , S . 145 ( >> [ . . ] on quittera Caton expirant sur Ia scene , pour courir au supplice de Lally. [ . . . ] Je theätre est Je mont Tarpeien , Je parterre est Je quai Pelletier des honnetes gens. >incumbrance>Verstopfung>j a bloß eine Art vornehmer Purganz>Es wäre demnach billig, daß man sich in den Apotheken, unter so vielen andern Arti­ keln , auch das Erhabne anschaffte , damit ein Arzt nöthigenfalls ein poetisches De­ coct davon verschreiben könnte . unter der Gestalt des Erhabenen froh machen [kann]« (S. 229) , scharfsinnig fest: »Hier nimmt der Verf. seine Zuflucht zu dem bekannten System , daß eine jede Beschäftigung der Nerven, die sie wirksam erhält, ohne sie zu ermüden, angenehm sei [ . . . ] . >[ . . . ] the acute Stagirite appears to have been led into an error [. . .].« 44 . Burke/Garve, I V 7 , S . 223 . 45 . Aug. Wilh. Schlegel : Vorlesungen über die schöne Litteratur und Kunst. TI . 1 : Die Kunst­ lehre ( 1 . Dez. 1801 bis Ende März 1 802) . Hg. v. Jacob Minor. Heilbronn 1884 (= Deutsche Lit­ teraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, 17) , S. 62. 46. Aug. Wilh . Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Tl. I (Frühjahr 1 808) . In: ders . : Kritische Schriften und Briefe. Hg. v . Edgar Lohner. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1966, Bd. 5 , S . 63 .

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weiß er nichts anzufangen - ein epochales Unverständnis , daß der Romantiker mit seinem Zeitgenossen Goethe teilte . In der Tat ist Burkes physiologische Bestimmung des Frohseins als eines modifizier­ ten und verwandelten Schreckens nicht kunstspezifisch . Die notwendige Vorausset­ zung für das Vergnügen des angenehmen Grauens trifft nicht nur auf die Nachahmun­ gen der Kunst, sondern auch auf das Leben zu : Der Zuschauer genießt, so hatte Ga­ liani festgestellt , solange er nicht unmittelbar gefährdet ist. Die B asistheorie der Selbstliebe kann aufgrund ihrer als handlungsmotivierend un­ terstellten Lust-Unlust-Relation keinen moralischen Wert vorschreiben , der den Zu­ schauer zum Verlassen des ästhetischen Gesichtspunkts zwingen könnte . Die Gren­ ze , wo Schrecken und Schmerz »Zu nahe auf uns eindringen« (I 7, 73) , entscheidet der Zuschauer selbst . Für das Umschlagen vom ästhetischen zum lebenspraktischen Ge­ sichtspunkt kann kein vorgeordnetes , objektives Kriterium angegeben werden . Der Grenzwert ist ins Gutdünken des Betrachters gelegt . Eine objektive Voraussetzung , etwa die Kunstdifferenz , existiert für die ästhetische Einstellung des Betrachters nicht . 47 Vielleicht können generell hinsichtlich der ästhetischen Distanzierungsfähigkeit als Voraussetzung, nicht aber schon als hinreichende Erklärung des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen , drei Stufen unterschieden werden: - Die ästhetische Distanz fällt mit der Differenz von Fiktion und Wirklichkeit zusam­ men . Diese Stufe ist nach dem Modell des Aristotelischen Mimesisbegriffs gebil­ det . - Die ästhetische Distanz stimmt mit der Differenz von frohmachendem fremden und schmerzvollem eigenen Untergang überein . Unterlegt ist die Hobbessche Deutung des Lukrezschen Schiffbruchstopos . - Die ästhetische Distanz kann schließlich mit dem Versuch zur Selbstdistanzierung zusammenfallen. Schiller etwa sieht in seinem Aufsatz Über die tragische Kunst (1792) hierin den hohen Wert der stoischen Lebensphilosophie , die >>in den Stand setzt , mit uns selbst , wie mit Fremdlingen umzugehen« und befähigt , >>sich von sich selbst zu trennen>stereoskopische Genuß>ästhetischen Reaktion« verweist Roman Ingar­ den : Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musik-Bild-Architektur-Film . Tübingen : Max Niemeyer 1962 , S. 321f. , hier S. 322. 48. Schiller, Über die tragische Kunst (1792) , Nationalausgabe, Bd. XX , S . 148-170, hier S . 151. 4 9 . Ernst Jünger: Das abenteuerliche Herz. Figuren und Capriccios ( = 2. Fassg. 1938) . In: ders. : Sämtliche Werke. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, Bd. 9 , S . 177ff. , hier >Der stereoskopische Ge nuß, Berlin< , S. 196-199; vgl . Das abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht ( = 1 . Fassg. 1929) , ebd. , S . 31ff. , hier S . 83ff. Vgl . Kar! Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München: Hanser 1978, S. 1 83f.

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Zurück zu Burkes Schrift : Nach der Untersuchung des Koordinatensystems der Emp­ findungen und der Opposition des Schönen und Erhaben muß es nun überraschen , daß Burke das Problem des angenehmen Grauens nicht nur im kategorialen Rahmen des Schrecklich-Erhabenen diskutiert . Vielmehr führt ihn das Phänomen des Ver­ gnügens an tragischen Gegenständen dazu , die dichotomische Architektur seines Werkes zu durchbrechen. Das Problem der tragischen Lust bringt ihn , offenbar durch die Tradition der Moral-Sense-Philosophie angeleitet50 , zur Vermischung der in der Systematik des Werks getrennten Bereiche von Sympathie-Lehre und Psychologie der Selbstliebe. Bei der Anteilnahme am Unglück Anderer überschneiden sich beide sonst getrennten Bereiche, und das Mitleid wird >>Weil es dabei um Schmerz geht - ei­ ne Quelle des Erhabenen>Wirklicher Not affiziertList der Natur< mit Frohsein verbunden : >>Dieses Frohsein ist freilich nicht rein , sondern mit beträchtlicher Unlust vermischt . Es hindert uns aber daran , den Szenen des Elendes auszuweichen , und der Schmerz, den wir dabei fühlen, treibt uns an , uns selbst aufzurichten , indem wir diejenigen aufrichten , die leiden [ . . . ] . >nicht zu sehr bedrängt>aus Liebe und gesellschaftlicher Zu­ neigung entspringt . >wirklichen Unglücksfällen und Schmerzen andrer Menschen ein gewisser Grad von Frohsein vorhanden ist - und zwar kein geringer. >Wie das Schauspiel ir­ gendeines ungewöhnlichen und sehr bedauerlichen Unglücks>daß uns ein Unglücksfall immer froh macht , mag er sich nun vor unseren Au­ gen abspielen oder mag unser Blick nur durch eine Erzählung auf ihn gelenkt wer­ den . >to illustrate how the doc­ trine of sympathy was applied to tragedy. « Vgl . Anm . 5 . 5 1 . Vgl . Burke/Strube , I 13, S . 79 ; I 1 5 , S . 82f. ; I 1 6 , S. 83f.

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In den Ausführungen zu Horne und Hume wurde bereits nachgewiesen , daß die mitleidstheoretisch begründete Erklärung des Wohlgefallens an schrecklichen Ge­ . genständen zur Nivellierung des Unterschieds von Kunst und Wirklichkeit führte . Bei Burke wird darüber hinaus der Sympathiebegriff in sein Gegenteil , in eine raffinierte Form der Selbstliebe verkehrt: Wir üben Mitleid nur , insofern eine listige Natur unse­ re Menschlichkeit mit Frohsein belohnt . Mit Burke ist die englische Aufklärung zu Hobbes zurückgekehrt . Erst nachdem der Unterschied zwischen wirklichem und in der Kunst nachgeahm­ tem Unglücksfall - wie in allen anderen emotionalistischen Neuansätzen auch - ein­ geebnet und belanglos geworden ist, spricht Burke >Von den Wirkungen der Tragö­ die< (I 1 5 ) . Bei der tragischen Lust komme zwar zu dem bisher erwiesenen Frohsein am wirklichen , aber nicht bedrängenden Schrecken und dem unmittelbaren Vergnü­ gen am Mitleid noch »ein gewisses Vergnügen« (I 15 , 8 1 ) an der künstlerischen Nach­ ahmung hinzu , doch irre man sehr, dieses periphere Wohlgefallen fürs Ganze zu neh­ men . Im Gegenteil : »Je näher sie [die Tragödie ; d. V . ] der Wirklichkeit kommt und je mehr sie uns von jeder Idee des Fiktiven fernhält , desto vollkommner ist ihre Wir­ kung. « (I 1 5 , 8 1 ) A m vollkommensten i s t die tragische Wirkung der Wirklichkeit selbst52 - eine radi­ kale Konsequenz des mitleidstheoretischen Prinzips der >ideal presence< . Burke illu­ striert seine wirkungspoetische Feststellung mit dem damals einschlägigen Vergleich zwischen dem Interesse an der Vorführung eines Trauerspiels und der Attraktion ei­ ner öffentlichen Hinrichtung, zumal die Exekution von Lord Lovat (9 . April 1747) selbst in den akademischen Kreisen des Dubliner Trinity College , wo Burke studiert hatte , großes Aufsehen erregte. 5 3 Die Resonanz, die Burkes beeindruckende Paralle­ le etwa bei Mendelssohn , Diderot und Schiller gefunden hat , rechtfertigt das ausführ­ liche Zitat: »Man lasse an irgendeinem Tage die erhabenste und eindrucksvollste unserer Tra­ gödien aufführen ; man wähle dazu die beliebtesten Schauspieler; man spare keine Kosten an Ausstattung und Dekoration ; und man vereinige die höchsten Anstren­ gungen von Dichtkunst , Malerei und Musik; und dann , wenn alle Zuschauer versam­ melt sind , gerade in dem Augenblicke , in dem die Gemüter vor Erwartung aufs höch­ ste gespannt sind , lasse man bekannt werden, daß auf dem benachbarten Platz ein Staatsverbrecher von hohem Stande sogleich enthauptet werde : augenblicklich wird

52. >>Burke does not confine the pleasure derived from Tragic sources to the stage. Real distress , he thinks, is a source of still greater pleasure than the mere imitation of it; and hence he infers, that the nearer the imitation approaches the reality, the more powerful is its effect. « Mar­ tin Mac Dermot: A Philosophical lnquiry into the Source of the Pleasures derived from Tragic Representations. London: Sherwood, Jones and Co . 1824, S . 1 13 . Vgl. Dieckmann (Anm. 28) , S. 290: >>Gewiß ist, daß Burke [ . . . ] das bisherige Verhältnis zwischen Nachahmung und Realität umkehrt: wenn das Leiden uns in der künstlerischen Darstellung gefällt, so liegt dies nicht an der Nachahmung, sondern an unserem Verhalten zu wirklichen Situationen . >verrucht genug zu wünschen« , daß das prächtige London von einer Feuersbrunst oder von einem Erdbeben - Burke denkt wohl weniger an Lissabon als an einige Erd­ stöße , die London am 8. Febr. und 8. März 1750 erschütterten - zerstört werden mö­ ge : >>Aber gesetzt, das unglückliche Ereignis wäre geschehen : was für eine Menge von Menschen würde sich von allen Seiten herzudrängen , die Ruinen zu sehen ; und dar­ unter wie viele , die sich leicht damit abgefunden haben würden , London in seiner Herrlichkeit niemals zu sehen ! « ( I 15 , 82) Unter der Bedingung des >fait accompli< sollte auch der tugendsame Mendelssohn am Schrecken Frohsein finden . Zurecht hat die neuere Forschung festgestellt, daß Burkes Kategorie des Schreck­ lich-Erhabenen von einer >>ethischen Indifferenz« gekennzeichnet sei . 56 An der Paral­ lele zwischen Tragödie und Hinrichtung zeige sich zudem , >>daß für Burke letztlich kein Unterschied besteht zwischen ästhetischem und realem Erleben von Schreckens­ situationen . « 57 D amit aber offenbare sich die >>ethische Fragwürdigkeit des B urkeschen Sympa­ thiebegiffes« 58 und die >>sadistische Komponente« 59 in Burkes Ausführungen zum an54. Dieckmann (Anm . 28) , S. 290, fragt daher zurecht, >>Ob unter der sympathy nicht ein ursprüngliches Gefallen an Leiden und Grausamkeit , am Furchtbaren und Schrecklichen, ja am Häßlichen verborgen ist . Ursache meines Frohseins« sei . Im gleichen Sinne rezensiert Lothar Pikulik: Vermischte Empfindungen. In: E. T. A. Hoffmann. Mitteilun­ gen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft , 27 (198 1 ) , S. 1 13- 1 1 6 , das Buch von Wolfgang Traut­ wein : Erlesene Angst. Schauerliteratur im 18. und 1 9. Jahrhundert. Untersuchungen zu Bürger, Maturin, Hoffmann , Poe und Maupassant . München, Wien: Hanser 1980 ( = Literatur als Kunst). Was Trautwein als >>generelles Lustmoment>das Gefühl des Lesers, selber in Sicherheit zu sein , ist nicht die Lust selbst , sondern deren Voraussetzung. >Art präsadistisches Modell>sadistische Färbung« 60 hervor, und unter der >>Maske« 6 1 der Sympathie komme eine >>Beimen­ gung von Sadismus« 62 zum Vorschein: D as Erhabene des konservativen Burke sei da­ her >>eine ideologisch wie ethisch fragwürdige Kategorie . « 63 Abgesehen davon , daß Burke nichts versteckt, verfehlen die moralisierenden Wer­ tungen, die lediglich die Verurteilungen Hobbes' oder Mandevilles durch die Moral­ Sense-Philosophen wiederholen , die Problematik , die Burke in seiner Frühschrift entfaltet . Der heutige Kritiker fällt eher auf die Position der Sympathie-Lehre zu­ rück , die Burke konsequenterweise verlassen hatte . Die moralisch oder ideologisch begründete Kritik ist bestenfalls ehrenhaft , methodisch ist sie jedoch unfruchtbar, da sie den aus der aufgezeigten Aporie der Sympathie-Lehre gegenüber dem Phänomen des angenehmen Grauens hervorgegangenen Lösungsversuch Burkes nur wieder mit den alten Normen der Moral-Sense-Philosophie konfrontiert . Der ldeologiekritiker, befangen in einem hermeneutischen Zirkel , teilt nur das Gefühl des Skandals, das schon die zeitgenössischen Rezensenten Burkes verspürten. Die historischen Aufklä­ rer, die wie Mendelssohn die Herausforderung annahmen und sich an dem Skandal abarbeiteten , statt ihn ideologisch zu zensieren , sind daher höher als ihre kritischen Nachfolger von heute zu schätzen. Schon der erste , anonym gebliebene Rezensent wollte der Erklärung des Wohlge­ fallens an schrecklichen Gegenständen nicht zustimmen , die Burke in der weit über dem damaligen Niveau der englischen Literaturkritik stehenden Untersuchung vor­ geschlagen hatte : >>We cannot agree with the ingenious author, in believing that sym­ pathy in the distresses of others , is attended with a degree of delight . >The very meaning of sympathy is fellow-feeling ; how therefore can we suffer the miseries of others , and yet be happy ourselves?« 65 Über dieses Paradox, das bei Horne zu einer widersprüchlichen Mit­ leidstheorie und bei Hume aufgrund der Hervorhebung der künstlerischen Form der Tragödie zu einer inkonsistenten Gefühlsalchimie führte , schüttelt der Rezensent den Kopf: >>We cannot think that nature excites in any person , a sense of pleasure , at seeing the sufferings of a fellow-creature . « 66 Überraschenderweise pflichtet der Re­ zensent dann aber mit Blick auf die Kunst Burkes Ausführungen über die Wirkung

60. 61. 62. 63. 64. 65 . 66.

Weber (Anm . 3), S. 32. Ebd . Ebd . , S . 30. Ebd . , S. 33 . The Critical Review (Anm . 18), S . 362. Ebd . Ebd .

200

Neuansätze - delightfull horror I terreur agreable

der Tragödie bei : >>Üur author's reflections on the effects of Tragedy are just and per­ tinent ; though we think he lays too little stress on the [ . . . ] imitation [ . ]Sublimity or Grandeur Why the sorrow exited b y tragedy communicates pleasure>Ästhetik des GrauenSphysikotheologische Wendung< wird der Schrecken auf die Allmacht Gottes zurückbezogen . Der Schrecken schlägt in > angenehme Bestürzung< um . Im folgenden Abschnitt will ich das komplexe Phänomen des > angenehmen Grau­ ens< , das sich im CEuvre Brockes' auch sprachgeschichtlich für den deutschen Raum erstmalig ausprägt , in sechs Unterabschnitten entfalten : An B rockes' schon 1709 begonnenem poetischen Gesellenstück , der Ü bersetzung von Marinos Strage degli Innocenti, soll zunächst die rationalistische Konzeption des >schönen Schreckens< rekapituliert werden [ a ) ] . 1 . Gottlieb Stolle: Anleitung zur Historie der Gelahrheit. Jena: Johann Meyers Erben 4 1736 P 1718] , S . 229. Vgl . Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. Tübingen: Max Niemeyer 198 1 , Bd. II, S. 357f.

Brockes' marinistisches Erbe

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Vom konzettistischen Dichtungsideal der Frühzeit hatte sich Brockes aber schon vor dem sich hinauszögernden Erscheinen der Marino-Übersetzung abgewandt : Ent­ schieden von englischen Einflüssen , namentlich der Physikotheologie beeindruckt, widmete Brockes sich nun der Naturpoesie und wurde dabei >>der erste wirkliche Rea­ list und Kirchenvater deutscher Naturbeschreibung« (Arno Schmidt) . 2 Nachdem ex­ kursorisch auf die Physikotheologie rekurriert wurde , die in Harnburg ihren deut­ schen Hauptort gefunden hatte , wird an ausgewählten Gedichten von Brockes' Hauptwerk der Ausprägung des > angenehmen Grauens< im Rahmen der noch kaum begrifflich fixierten Kategorie des Erhabenen nachgegangen [b) ] . In diesem Zusammenhang muß auf einen Streit i n der kritischen Welt eingegangen werden , der sich schon früh an einer für Brockes' typischen Wortprägung - clern Oxy­ moron >>erbärmlich schön« - in dessen poetischem Meisterstück , dem Passionsorato­ rium von 1712, entzündet hatte . Die Auseinandersetzung gewann ihre geradezu para­ digmatische Bedeutung aber erst im Hinblick auf die ambivalente Gestaltung des Er­ habenheitserlebnisses in den zwanziger Jahren . Im Bewußtsein der Zeitgenossen markierte die Geschmacksdebatte um die sonderbare Wortzusammenstellung des > angenehmen Grauens< das Vorspiel zum Leipzig-Züricher-Literaturkrieg [c)] . Der spezifische Duktus der die Dichtung Brockes' prägenden physikotheologi­ schen Wendung soll schließlich an drei Fällen, die die weitere deutschsprachige Ge­ schichte des Erhabenen und Schrecklichen entscheidend mitbestimmen sollten , ex­ emplifiziert werden : an Brockes' astrotheologischen Gedichten [d)] , in denen die Dialektik des Erhabenheitserlebnisses als ein Zweitakt von Niederschlag und Erhe­ bung gestaltet wurde , an Brockes' Gedicht Die Berge [e)] , dem frühesten deutsch­ sprachigen Zeugnis der Entdeckung der schrecklich-erhabenen Alpennatur, und an dem langen >Neujahrsgedicht auf das Jahr 1722< [f)] , an dessen kurzer Passage der eingehenden Beschreibung eines häßlichen alten Weibes sich eine literaturtheoreti­ sche Debatte bis in die zweite Jahrhunderthälfte über die Legitimität des Häßlichen in der Kunst entzünden sollte .

a) » Und oftmals kommt der Schrecken mit Ergötzen« (Marinol - Brockes' marinistisches Erbe Die bisher an den Daten der Erstdrucke orientierte Chronologie von Brockes' frü­ hem dichterischen Schaffen muß modifiziert werden . Offenbar liegt der Beginn der erst 1715 gedruckten Prachtausgabe seiner Marino-Übersetzung vor der Arbeit an seinem schon 1712 aufgeführten Passionsoratorium . Mit der Abwendung von der 2. Arno Schmidt: Barthold Heinrich Brackes, oder Nichts ist mir zu klein [zuerst 1965) . In: ders. : Nachrichten von Büchern und Menschen. Bd. 1 : Zur Literatur des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M . : Fischer Taschenbuch Vlg. 197 1 , S. 7-27 , hier S. 8 . 3 . >>E ehe spesso l'horror v a col diletto. La strage de' fanciulli innocenti di Guido Reni< ab . In: ders. : La Galeria [1615, 2erw . 1620) . Hrsg. v. Marzio Pieri . 2 B d e . Padua 1979 , Bd. I , S . 56.

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Relativierter Schrecken

Übersetzungsarbeit aus dem Italienischen und Französischen geht aber bei Brackes, wie wir noch sehen , nicht nur eine Umorientierung in Hinsicht auf die gesellschaftli­ che Funktion der Kunst , sondern darüber hinaus auch ein Wandel seines Lebenside­ als einher. Der Beginn von Brackes' Übersetzungsarbeit am Verdeutschten Bethlehemitischen Kinder= Mord des Ritters Marino (im folgenden : B KM) 4 fällt in die Zeit seiner ersten dichterischen Versuche um 1708 . Schon vorher hatte Brackes angefangen , seine Sprachkenntnisse , die er sich auf seiner > Grand Tour< ( 1702- 1703) in Italien aneigne­ te , dadurch zu vervollkommnen , daß er >>einige Passagen« aus der >>Welschen Poesie« übersetzte . 5 Er hatte sich mit dem Italienischen schon >>Ziemlich bekannt gemacht« , als er durch die freundliche Aufnahme seiner Gelegenheitsdichtung um die Jahres­ wende 1708/1709 ermuntert und >>angetrieben ward>dem studio poetico mit größerer Application« zu widmen . 6 >>Und wie eben damals« , also Anfang 1709 , wie Brockes in seiner Selbstbiographie rückblickend fortfährt , >>Ia strage degl'innocenti des Ritters Marini zufälliger Weise durch den jetzigen Herrn Assessorern Surland, dem dieses Buch in einer Auction als eine Zugabe zugekommen , mir in die Hände ge­ rieth , als [ ! ) machte ich mit dessen Uebersetzung einen Anfang, arbeitete daran bei müßigen Stunden [ . . . ] und brachte solches glücklich zu Stande . « 7 Diese frühe Datierung des BKM, die die Selbstbiographie nahelegt , wird bestätigt durch den dem Erstdruck von 1715 vorangestellten >Vorbericht an den Leser< (vom 8. Okt. 1715) , den Brockes' damaliger Weggefährte J ohann Ulrich König ( 1 688-1744) gibt : Nachdem er 1710 nach Harnburg gekommen und mit Brackes bekannt gewor­ den war, so schreibt König, >>kam mir der Anfang davon [d . i . die Übersetzung des BKM; d . V . ) kaum zu Gesichte/ als ich sogleich Gelegenheit nahm/ ihn zur Fortset­ zung derselben täglich aufzumuntern . « 8 Brockes und König sind dann die Überset­ zung tagelang miteinander durchgegangen. 9 Sie muß spätestens im Frühjahr 1713 4. B . H. Brockes: Verteutschter Bethlehernitischer Kinder= Mord des Ritters Marino. Nebst etlichen von des Herrn Obersetzers eigenen Gedichten [ . . . ] . Cöln, Hamburg: Schillers Witwe 1715 [ zit . : BKM] . Vgl . Verzeichnis der Schriften von und über Barthold Heinrich Brackes. Bear­ beitet v. Harold P. Fry mit Beiträgen von Georg Guntermann [zit. : Brockes , Schriftenverzeich­ nis] . In: Barthold Heinrich Brackes (1680-1 747) . Dichter und Ratsherr in Harnburg. Neue For­ schungen zu Persönlichkeit und Wirkung. Hg. v. Hans-Dieter Loose. Hamburg: Christians 1980 [zit . : Brockes!Loose , Neue Forschungen] , S. 191-217. 5 . Selbstbiographie des Senator Barthold Heinrich Brackes. Mitgeteilt von J . M. Lappenberg. in: Zeitschrift des Vereins für Harnburgische Geschichte, 2 (1847) , [zit. : Brockes , Selbstbiogra­ phie] , S. 167-229 , hier S. 200. Vgl . Jürgen Klein: Barthold Heinrich Brackes als Politiker. In: Brockes/Loose , Neue Forschungen , S . 1 1 -43. Auch : Franklin Kopitzsch : Grundzüge der Auf­ klärung in Harnburg und Altona. 2 Tle . Hamburg: Christians 1982 , Bd. I , S . 265ff. Vgl . die frei­ lich schon vor 1980 abgeschlossene Würdigung von Uwe-K. Ketelsen: Barthold Hinrich Bra­ ckes. In: Deutsche Dichter des 1 7. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk . Hg. v. Harald Steinhagen und Benno v. Wiese . Berlin: Erich Schmidt 1984, S. 839-85 1 . 6 . Brockes , Selbstbiographie , S . 200f. 7. Ebd . , S. 201 . 8. Brockes , BKM, Joh . Ulrich König: >Vorbericht an den Leser< [unpag . ] . 9 . Vgl . Alois Brand!: Barthold Heinrich Brackes. Nebst darauf bezüglichen Briefen von J . U .

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vollständig vorgelegen haben , da wiederum König in der >Zueignung< seiner Theatra­ lischen Gedichte ( 1713) an Brockes, diesen ersucht hatte , die Übersetzung endlich zu veröffentlichen. 1 0 Die Herstellung >>des schönen Kupferstücks/ so zu Anfang dieses Buchs den Kin­ der= Mord so lebhafft abbildet« 1 1 durch Bernard Pieart (1673-1733) hatte dann das Erscheinen der Erstausgabe noch zusätzlich bis zum Herbst 1715 hinausgezögert . 1 2 Da Brockes offenbar selbst die Marino-Übersetzung als Ergebnis seines »Studio poetico>Passions = Oratorium« 13 Der für die Sünde der Welt ge­ marterte und sterbende Jesus. A us den W. Evangelisten ab. Die > Brockespassion< ver­ weist dabei nicht nur auf eine Umorientierung von gesellig-galanter Gelegenheits­ dichtung und manieristischem Konzettismus zu bürgerlich-nützlicher und erbaulicher Kunstfunktion , sondern vielmehr auch auf ein damit verwobenes , allmähliches Ab­ rücken vom Wunsch nach Nobilitierung und representativ-höfischem Lebensent­ wurf, den der müßiggängerische 14 Brockes im ersten Jahrzehnt noch hegte . 15 Der Wandel des Brockesschen Kunst- und Lebensideals schlägt sich in der seit 1715 nachweisbaren 1 6 Arbeit am Irdischen Vergnügen in Gott (im folgenden : IVG) nieder. In seinem bis 1624 entstandenen , aber erst 1632 posthum gedruckten Epos Strage deg­ li Innocenti - >>Von unserm Brockes köstlich verdeutscht« (Werner Krauss) 17 - reihte Giambattista Marino ( 1569- 1625) vier Bücher lang, sein Sujet kraß im Stile manieri­ stischer 18 Märtyrerdarstellungen ausmalend , Schreckensbild an Schreckensbild . Um König an J. J. Bodmer. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert. Innsbruck: Wagner 1878, S. 32. 10. Joh. Ulrich König: Theatralische, geistliche, vermischte und galante Gedichte. Hamburg, Leipzig: Wiering 1713, >Zueignung< [unpag. ] an Brockes. Die anschließende >Vorrede< [unpag. ] ist >>Hamburg, den 1 . May 1 7 1 3 « datiert. 1 1 . Brockes, BKM, S. 157, Anm. 12. Vgl . Brockes, BKM, J . U . König: >Vorbericht an den Leser< [unpag . ] , datiert: >>8 . Wein­ monath 1715«. 13. Brockes , Selbstbiographie , S . 201 . Vgl . Brockes , Schriftenverzeichnis , S . 192-198. Anre­ gung und Anlaß zur Brockespassion sind unbekannt , vgl. Harold P. Fry: Barthold Heinrich Brackes und die Musik. in: Brockes/Loose, Neue Forschungen, S . 71-104, bes. S. 78. 14. Vgl. Brockes, Selbstbiographie , S . 200. 1 5 . Vgl. Klein (Anm . 5), bes. S . 23-28. Zum Wandel vom >galant-höfisch-repräsentativen< zum >bürgerlichen< Lebensstil u. a. am Beispiel Brockes' vgl . Wolfgang Martens: Bürgerlichkeit in der frühen Aufklärung. In: Jahrbuch für Geschichte der oberdeutschen Reichsstädte, 16 (1970) , S. 106-120, bes. S. 107 u . S. 1 14. 16. Vgl . Brand! (Anm . 9) , S . 36, Fußn . 1 . 17. Werner Krauss: Marino. Dichter und Gestalt. In: GRM, 22 (1934) , S . 239-248 , hier S . 239. 18. Den Vergleich seiner Dichtung mit der Malerei des Manierismus, hier mit derjenigen Giuseppe Cesaris ( 1568- 1640) , gen . Cavaliere d' Arpino, bevorzugte Marino selbst, wovon ein von Brockes , BKM, S. 157, Anm. , übersetztes Madrigal aus La Galeria zeugt: >>Wie? oder warum lernt mein schwacher Kiel , der mir I Für Angst aus Händen fällt, bey diesen Schrecken­ = Bildern , I Von deinem Griffel nicht, [Arpino] , und von dir, I Der Juden Herzeleyd und Mar-

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den Leser mit immer neuen Tropen zu verblüffen , erschloß Marino eine neue ästheti­ sche Dimension : »das Gräßliche und Schaurige« . 19 In stilistischer Hinsicht ist für Brockes' Ü bersetzung auf die Tendenz aufmerksam gemacht worden , daß er versuche, die italienische Vorlage durch Effekte sogar planmäßig zu überbieten . 20 Gleichsam wie eine Miniatur liest sich daher die Inhalts­ zusammenfassung des grausigen Geschehens, die dem dritten Buch des BKM voran­ gestellt wurde : >>Herodes siebet selbst von dem erhabnen Sahl Das grause Schau = Spiel an/ so seine Mord = Lust heischet. Die Hencker= Schaar/ voll Grimm/ schwingt den geschärften Stahl! Zerhaut/ zerreißt/ zertritt/ zerschmettert/ würgt/ zerfleischet . witzige< 22 Zusammenstellungen zu verblüffen . Damit die Aufmerksamkeit des Le­ sers nicht erlahmt , müssen immer gewagtere Bilder , die mit der Grenze des ästhetisch >Tragbaren< spielen , geboten werden . Der Mechanismus des marinistischen Concetto liefe leer, wenn sich die Bilder nicht potenzierend überböten . Daher wechselt Marino mehrmals die Perspektive , aus der das Gemetzel den Le­ sern erscheint. Das überschaubare Historiengemälde , das sich zunächst aus der Sicht des Herodes von >>Seinem hohen Thron« 23 aus darbietet und das als Kupferstich von Pieart den Ausgaben des BKM als Vorsatzblatt beigefügt war , vertauscht der Dichter sodann mit dem Standpunkt mitten im Mordgetümmel: >>Den Ort/ von wannen er dem Morden zugesehnt Verließ Herodes nun/ um näher hinzugehn/ Mit einem schärffern Blick das metzeln/ stechen/ hauen/ Und mehr Aufmercksamkeit solch würgen an zu schauen/ [ . . . ] O Picard>die Überbietung der düsteren Farben des Originals als besonderes Ver­ dienst hervorgehobenW-Z< . Leipzig: Breitkopf 1786, s. v. >Der Witz< , Sp. 266: >>[ . . . ] 3 . In der engsten , jetzt noch allein üblichen Bedeutung ist der Witz , das Vermögen der Seele, Ähnlichkeiten , und besonders verborgene Ähnlichkeiten , zu entdecken , so wie Scharfsinn das Vermögen ist, ver­ borgene Unterschiede aufzufinden . >Zum Unglück hatte gar dieß unglückselge Weib Noch ein unzeitig Kind in ihrem schwangern Leib'/ Und durch den Stoß/ der erst durchdrang des Säuglings Glieder/ Ward drauf die [ ! ] Schooß der Frucht ein lebendiges Grab : Der eine starb im Schooß/ der sanck in Armen nieder/ Biß sie zuletzt auch selbst die Seele von sich gab . Wer hat doch jemahls wohl so seltnen Fall vernommen/ Daß bloß durch einen Stich drey um das Leben kommen?« 27 Es soll dahingestellt bleiben , ob hier unter dem Mantel der Religion Gelegenheit zum bewußt sadistischen Genuß des Leidens gegeben wird . 28 Auf ein solch goutierendes Interesse an den Schreckensbildern des durch Brockes Verdeutschten Bethlehemiti­ schen Kinder= Mords gibt es in den Zeugnissen seiner Rezeption - zu Lebzeiten des Übersetzers wurde das Werk fünfmal neu aufgelegt , zuletzt 1742 - keine Hinweise . Vielmehr steht die Rezeption im Zeichen einer aufbrechenden Ambivalenz : Christliche Erbauung und ästhetisches Wohlgefallen stehen unberührt nebeneinan­ der. Als Problem wird die poetische Darstellung des Schreckens nicht begriffen: Viel­ mehr ist sie durch die Trennung der schönen Form vom schrecklichen Inhalt infolge der mimesispoetischen Konvention traditionell sanktioniert. So hatte etwa der Heili­ ge Bonaventura (um 1221-1274) in Anspielung auf das vierte Kapitel der Aristoteli­ schen Dichtkunst in religiös-erbaulicher Hinsicht gesagt : >>quaemadmodem dicitur imago diaboli pulchra quando bene representat foetitatem diaboli . « 29 Die Unter­ scheidung der schönen Kunst von ihrem abscheulichen Sujet war zumal seit Boileaus Art Poetique (1674) Kanon klassizistischer Kunsttheorie. 25 . Ebd . , S . 217. 26. Ebd . , S . 221 . 27 . Ebd. , S. 227. 28. Vgl. Jacques Bousquet: La Peinlure Manieriste. Neuchätel: Editions Ides et Calendes 1964, S. 212; Anke Wiegand: Die Schönheit und das Böse. München, Salzburg: Pustet 1967, S . 26f. Hugo Friedrich : Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt/M. : Klostermann 1964, spricht vom >>barocke[n] Hang zum Häßlichen und Defekten>talen­ tierteste[n] Charlatan der italienischen Literatur« (S. 673). 29. >>[ . . . ] auf diese Art und Weise nennt man das Bild des Teufels schön, wenn es die Häßlich­ keit des Teufels gut darstellt« , Bonaventura: Opera , I, 544b ; zit. , nach Wiegand (Anm . 28) , S . 86.

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Allein die Tatsache , daß ein biblisches Thema (Matth . 2, 1 6-18) dichterisch gestal­ tet wurde , machte das schreckliche Sujet nicht nur sakrosankt , sondern darüber hin­ aus auch erbaulich : In seinem >Vorbericht< rechtfertigte J ohann Ulrich König die zur Übersetzung ausgewählte Vorlage unter Anspielung darauf, daß schon Marino selbst sein ernsthaftes geistliches Epos der lasziven Sinnenfreude von L 'Adone ( 1 623) vor­ gezogen habe . So sei der BKM übersetzt worden , >>weil dieses eine Biblische Ge­ schichte/ und daher mit desto grössern Nutzen von jedermann kan gelesen werden« . 30 Daß die Lektüre des BKM von Schrecken und Ergötzen gleichermaßen geprägt ge­ wesen ist , davon legen die dem Abdruck der Übersetzung vorangestellten Lobgedich­ te einiger Freunde Brackes' beredtes Zeugnis ab : So reimte etwa der Gymnasialrektor und spätere Hamburger Professor für Historie Michael Richey (1678-1761 ) : >>Es fand die Poesie i m Blut' ermordter Söhne Ein Meer/ worauf sich hier Marino singend übt . Doch macht sein Dolmetsch ihn gedoppelt zur Sirene/ Wann er der Weltsehen Pracht die Teutsche Zunge giebt. Ergetzlichs Schrecken = Bild ! beliebte Mord = Gedancken ! Die ihr ein Scheusahl selbst durch Kunst zur Anmuth bringt/ Ihr übersteigt euch selbst und eures Ruhmes Schrancken/ [ . . . ] « 31 Deutlich ist das Oxymoron des ergötzlichen Schreckensbildes auf die klassizistische Unterscheidung von schöner Form und greulichem Inhalt bezogen: Die besondere Kunstfertigkeit des Dichters verwandelt, wie es unter wörtlicher Anspielung auf die genannten Verse Boileaus (Art Poetique, III 1 -4) heißt, >ein Scheusal selbst zur An­ mut< . Weitere Beispiele der konventionell-rationalistischen Erklärung des angenehmen Grauens finden sich in der dritten , abermals vermehrten Auflage des BKM von 1727 . Diese Belege sind von besonderer Bedeutung, da der positive Bezug auf solche son­ derbar widersprüchliche Wortzusammenstellungen nun zugleich auch Parteinahme und Zugehörigkeit zu einander sich befehdenden Literaturparteien signalisierte . Im Jahre 1725 nämlich war es zwischen Harnburg und Leipzig zu einer Kontroverse über den guten Geschmack gekommen , die , wie wir noch sehen , sich ins Grundsätzliche ausweiten sollte : Anlaß dazu hatte das Oxymoron >>erbärmlich schön« gegeben , mit dem Brackes in seinem Passionsoratorium seinerzeit das Martyrium des Herrn be­ schrieben hatte . Nachdem die poetische Verwendung einer contradictio in adjecto von Gottsched einmal als Zeichen üblen Geschmacks gewertet worden war, mußte die Zusammen­ stellung >gräßlich = schön< , mit der Daniel Wilhelm Triller (1695- 1782) in dem Wid30. Brockes, BKM , J. U. König: >Vorbericht an den Leser< [unpag . ] . 3 1 . Brockes, B K M , >>Folgende Lob = Gedichte sind dem Herrn Brockes z u Ehren von einigen guten Freunden gesetzt>Wo will es , grosser Brocks , mit Dir noch endlich hin? [. . .] Vornehmlich da die Welt nunmehr zum andern mal Dein gräßlich = schönes Werk , den Kinder= Mord , empfänget , [ . . . ] « 32 Auch ein neu aufgenommenes Lobgedicht von Christian Friedrich Weichmann (1698-1769) zielt in die gleiche Richtung und verdeutlicht noch einmal die ambivalen­ te Lektüre der Brackessehen Marino-Übersetzung: >>Man kann, nicht ohne Lust , doch auch nicht sonder Grauen , Viel tausend Kinder hier erwürgt und blutig schauen . > Wiltu [ !]/ geehrtster Freund/ nur in der Grausamkeit/ Die Grösse deines Geists und des Verstandes zeigen? Kan denn die teutsche Sprach nicht zur Vollkommenheit/ Als in dem stummen Mund' ermordter Kinder steigen? So ists : Die Poesie ist nur ein Wörter = Spiel/ Wofern die Reitzungs = Krafft die Syllben nicht belebet ; Und unsre Leidenschafft empfindet nie so viel/ Als wann ein Schreckens = Bild in unsern Sinnen schwebet . Dann schärfft man jedes Wort/ als wie den leichten Stahl/ Soll jenes in die Seel/ und dieß ins Hertze dringen . Und so zeigt sich die Kunst/ wann auch erdichte Quaal Ein Felsen = hartes Hertz zum Mitleid weiß zu zwingen . Dieß ist/ was dein Gedicht uns mit Entsetzen weist/ Durchdringender Verstand . >abermalige vermehrte und verbesserte Herausgebung>Lob = Gedichte>Folgende Lob= Gedichteangenehme Grauen< - eine Wortzusammenstellung, die in damals noch nicht gekanntem Maße das Brackessehe Hauptwerk prägt - seine Be­ deutung gewinnt . Allein in der zweiten , vermehrten Auflage des /VG von 1724 e 1121 ) lassen sich die folgenden charakteristischen Verbindungen finden: - >>ergetzen und schrecken« ( 188)42 - >>Diese mit Schaudern vergnügende Kraft« ( 1 88) - >>eine süße Furcht« ( 192) - >>ein holdes heiligs Schrecken« ( 1 93) - >>Ein schaudrigtes Vergnügen« ( 193) - >>Schaudrigter Zufriedenheiten« ( 1 94) - >>Voll süßer Furcht« (218) - >>mit Lust = vermischtem Grausen« (252) - >>In wilder Anmuth gräßlich schön« (301 )43 - >>Schön = und schrecklich's Element« (313) - >>ein angenemes Grauen« (490) - >>Mit einer frohen Angst , mit einer bangen Lust . « (490) 38. Zur Datierung vgl. Brand) (Anm. 9) , S. 36. 39 . Zur Datierung vgl . Harold P . Fry: Die >Betrachtungen über die drey Reiche der Natur< als Schlüssel zu einer neuen Brackes-Deutung [zit. : Fry, Schlüssel zur Brockes-Deutung] . In: Les­ sing Yearbook, XI (1979) , S. 1 42-1 64, hier S. 161 , Anm . 12. Vgl . Ders . : Gleich einem versificier­ ten Buffon. Zu Chronologie und Quelle von Brockes' >Betrachtungen über die drey Reiche der Natur< [ zit . : Fry, Versificierter Buffon ]. In: Natura loquax. Naturkunde und allegorische Natur­ deutung vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Hg. v. Wolfgang Harms u. Heimo Reinitzer. Frankfurt/M . , Bern , Cirencester/U. K . : Lang 1981 , S . 257-276, hier S . 275 , Anm . 23 . 40. Vgl . Fry, Schlüssel zur Broc�es-Deutung; Fry , Versificierter Buffon. 41 . Vgl. Klein (Anm . 5), bes. S. 27f. ; vgl . Kernper (Anm . 1), Bd. II, S . 354-358, bes. S . 356. 42. B . H . Brockes: Irdisches Vergnügen in GO TT, bestehend in Physicalisch = und Morali­ schen Gedichten, [ . . . ] . Zweyte, durchgehends verbesserte, und über die Hälfte vermehrte Auf­ lage , mit einer gedoppelten Vorrede von Weichmann . Hamburg: Kißner 1724; zit. : IVG I , 2 1724, alle weiteren Teile und Auflagen des IVG werden i n analoger Kürzung zitiert. Vgl. Bra­ ckes , Schriftenverzeichnis , S. 199-202. 43 . Im im 1 1 9 . Stück des Patrioten 1725 abgedruckten Gedicht >Das Treyb = Eis< nimmt Bra­ ckes das Oxymoron >>gräßlich schönangenehmen Grauens