Andere Wirklichkeiten - andere Zugänge: Studien zur transkulturellen Psychiatrie und Psychologie in Lateinamerika 9783964566652

Die transkulturelle Perspektive dieser Untersuchung ermöglicht ein übergreifendes Verstehen psychosozialer Phänomene in

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Andere Wirklichkeiten - andere Zugänge: Studien zur transkulturellen Psychiatrie und Psychologie in Lateinamerika
 9783964566652

Table of contents :
INHALT
Einleitung
Danksagung
Erster Teil: Medizin-Anthropologie und psychosoziale Gesundheit
Alkoholkonsum und Alltagskultur in Chile
Vodou und psychosoziale Gesundheit in Haiti
Die psychosoziale Bedeutung des städtischen »Curanderismo«
Traditionelle Heilrituale als psychosoziale Krisenintervention
Kulturelle Identität und seelische Erkrankung der Mapuches in Chile
Zweiter Teil: Psychologie in Lateinamerika:
Arbeit und psychosoziale Gesundheit in Brasilien
Psychologie der Befreiung
Sozialpsychologie in Kuba: Grundzüge ihrer Entwicklung
Politische Gewalt und Persönlichkeitsstruktur in Peru
Organisierte Gewaltanwendung und ihre psychologischen Auswirkungen auf Kinder in Lateinamerika
Krieg und Medien: Grenzüberschreitungen zwischen Informationspolitik und psychologischer Folter
Psychosoziale Aspekte der Amnes(t)ie in Argentinien: Drei Schritte hin zur Freisprechung von Schuld und Verantwortung
LEITMOTIV DES SYMPOSIUMS
Abstracts
Autoren

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Riquelme (Hrsg.) Andere Wirklichkeiten-andere Zugänge

Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika, HI Herausgegeben von Horacio Riquelme

Horacio Riquelme (Hrsg.)

Andere Wirklichkeiten andere Zugänge Studien zur transkulturellen Psychiatrie und Psychologie in Lateinamerika

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1992

Umschlaggestaltung unter der Verwendung des Bildes »Falsas noticias lucha (Kampf gegen falsche Nachrichten)«, Öl/Leinwand (80 x 60 cm) von Andrés Salgó. CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerlka / Horacio Riquelme (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert. NebenL: Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika NE: Riquelme, Horacio [Hrsg.]; NT

Bd. 3. Andere Wirklichkeiten-andere Zugänge . - 1992 Andere Wirklichkeiten-andere Zugänge : Studien zur transkulturellen Psychiatrie und Psychologie in Lateinamerika / Horacio Riquelme (Hrsg.). Frankfurt am Main: Vervuert, 1992 (Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika ; Bd. 3) ISBN 3-89354-046-6

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1992 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

INHALT

Horacio Riquelme, Einleitung 7 Danksagung 12 I. Teil: Medizin-Anthropologie und psychosoziale Gesundheit Horacio Riquelme, Alkoholkonsum und Alltagskultur in Chile 17 ]öhannes Sommerfeld, Vodou und psychosoziale Gesundheit in Haiti 44 Roberto Campos Navarro, Die psychosoziale Bedeutung des städtischen vCuranderismo«. Eine Fallstudie aus Mexiko-Stadt 54 Walter Andritzky, Traditionelle Heilrituale als psychosoziale Krisenintervention. Fallvignetten aus Peru 71 Niels Biedermann-Dommasch, Kulturelle Identität und seelische Erkrankung der Mapuches in Chile 106

II. Teil:

Psychologie in Lateinamerika: Theorie und soziale Praxis einer Disziplin

Edith Seligmann-Silva, Arbeit und psychosoziale Gesundheit in Brasilien 119 Maritza Montero, Psychologie der Befreiung. Elemente einer psychosozialen Theorie in Lateinamerika 143 Mànica Sorín, Sozialpsychologie in Kuba: Grundzüge ihrer Entwicklung 164 César Rodríguez Rabanal, Politische Gewalt und Persönlichkeitsstruktur in Peru 187 Amalia Carli, Organisierte Gewaltanwendung und ihre psychologischen Auswirkungen auf Kinder in Lateinamerika. Einephänomenologisch-vergleichende Annäherung 197

Wilhelm Kempf, Krieg und Medien: Grenzüberschreitungen zwischen Informationspolitik und psychologischer Folter 219 Juan Jorge Fariña, Psychosoziale Aspekte der Amnes(t)ie in Argentinien: Drei Schritte hin zur Freisprechung von Schuld und Verantwortung 226 Leitmotiv des Symposiums: Dritter Band 234 Abstracts 237 Autoren 243

Einleitung

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Horacio Riquelme U.

Einleitung Da nunmehr der dritte Band des Symposiums über »Kultur und pychosoziale Situation in Lateinamerika« gleichzeitig in deutscher und in spanischer Sprache gedruckt wird, erscheint es mir angebracht, über die Ursprünge und die besondere Entwicklung dieser akademischen und interkulturellen Veranstaltung nachzudenken. Das Symposium ist in Hamburg angesiedelt und stellte bereits zum fünften mal ein Forum für Lateinamerikaner und Europäer dar, um psychosoziale Fragestellungen des Subkontinents in einem offenen und fruchtbaren Dialog zu behandeln. Es ist nicht nur die Freude über den guten Verlauf dieser jährlichen Begegnung, die mich zu dieser Reflexion anregt. Die bereits vorliegenden Veröffentlichungen verdeutlichen die spezielle Motivation der Autoren, sich sowohl für die kulturell sehr unterschiedliche Leserschaft, als auch für die scientific Community, mit einem möglichst einfachen Stil und dennoch begrifflicher Klarheit auszudrücken. Die Grundidee des Symposiums, entwickelte sich aus Beobachtungen in Lateinamerika, die Anfang der achtziger Jahre in Feldforschungen über Medizinanthropologie und im Bereich der transkulturellen Psychiatrie wiederholt zutage traten: Die Vermittlung von Erfahrungen und Erkenntnissen zwischen Lateinamerikanern und Europäern zeigte sich in einer asymmetrischen Struktur verhaftet, als deren Folge es häufig bei relevanten psychosozialen Projekten zu einer Art kommunikativem Kollaps gekommen ist. Dazu trugen wohl ein starker Eurozentrismus - der von beiden Gruppen gepflegt wurde - sowie eine gewisse anfängliche Schüchternheit der Lateinamerikaner bei, wenn es um die Vermittlung der eigenen Erkenntnisse und Überlegungen ging. Den beobachteten Forschungsvorhaben fehlte es nicht an innovativen Ideen; bei allen Teilnehmern war ein großes persönliches Engagement und eine deutliche Experimentierfreudigkeit festzustellen. Dennoch schienen sie auf »den Entdecker« aus einer europäischen oder nordamerikanischen Universität zu warten, der die Ergebnisse ihrer Arbeit systematisierten sollte, um so eine Grundlage für die Anerkennung und häufig auch für eine externe Finanzierung zu schaffen. In dem Maße, in dem psychosoziale Projekte und Forschungsansätze aus Lateinamerika auf Kongressen und in wissenschaftlichen Zeitschriften in Europa

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Horacio Riquelme U.

und den USA, wenn nicht verzerrt, so doch zumindest sehr reduktionistisch dargestellt wurden, wuchs auch die Überzeugung, daß ein direkter Dialog zwischen beiden Kontinenten notwendig wäre. Die Personen, die in Lateinamerika im psychosozialen Bereich tätig waren, sollten nun selbst über ihre Tätigkeiten Auskunft geben und dabei ihren Anspruch auf eine eigene Sichtweise und Begrifflichkeit verwirklichen können. Die transkulturelle Perspektive ermöglicht es, eine besonders geeignete Position einzunehmen, von der aus die psychosozialen Phänomene in Lateinamerika übergreifend beobachtet und begriffen werden können. Denn das Alltagsleben der Bevölkerung in den verschiedenen Regionen des Kontinents weist, trotz seiner unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Ursprünge, im Allgemeinen eine weitreichende Kohärenz auf, die ebenfalls bei den Ausdrucksformen im psychosozialen Prozess von Gesundheit/Krankheit vorzufinden ist. Nicht ohne Grund sprach Simón Bolívar von der Bevölkerung Lateinamerikas als »kleiner eigenen menschlichen Gattung« an sich. Die Hinterfragung der lateinamerikanischen Wirklichkeit im Kontext spezifischer Fragestellungen, eines kreativen Forschungsansatzes und methodologischer Klarheit bildet eine ständige Herausforderung für die Humanwissenschaften. Eben vor diesem theoretischen Hintergrund und angesichts der üppigen Alltagswelt im lateinamerikanischen Erfahrungskaleidoskop müssen wir die thematischen und begrifflichen Syntheseleistungen würdigen, wie sie in diesem Band von europäischen und lateinamerikanischen Wissenschaftlern erbracht werden. Ausgestattet mit einem eigenen methodologischen Instrumentarium haben sich diese Wissenschaftler vorgenommen, folgende zentrale Fragestellungen der transkulturellen Psychiatrie und Psychologie in Lateinamerika thematisch zu bearbeiten: a) Wie wirken sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Alltagskultur und auf die Erfahrungsgrundlage der Bevölkerungsmehrheit aus? Hier wird versucht, sich dem psychosozialen Prozeß von Gesundheit/Krankheit aus der Perspektive der Betroffenen heraus zu nähern. b) Welche Bedeutung hatte - und hat immer noch - die psychosoziale Dimension der traditionellen Medizin? Damit soll eine bessere Einsicht in die spezifischen Modelle der Weltanschauung und des Selbstverständnisses der Teilnehmer an traditionellen Behandlungsformen gewonnen werden. c) Wann und auf welche Weise können die Auswirkungen der strukturellen und organisierten Gewalt auf den Einzelnen (ganz besonders auf Kinder) und auf soziale Gruppen systematisiert werden? So soll das kritische Erkennen und Infragestellen der psychosozialen Methoden zur Beherrschung und Manipulation des Bewußtseins, die in Lateinamerika auf eine lange Tradition zurückblicken können, zunehmend gefestigt werden.

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Einleitung

d) Wie kann unter sehr unterschiedlichen Bedingungen eine theoretisch und praktisch solide psychologische und psychiatrische Arbeit gewährleistet werden? Das heißt, daß nicht nur das Ausmaß der psychosozialen Leiden präzise festgestellt werden soll, sondern auch, daß gemeinsam mit den Betroffenen selbst die Suche und Entwicklung von angemessenen Lösungsperspektiven gefördert werden. Die Absicht dabei ist, die so gewonnenen psychologischen und psychiatrischen Kenntnisse zu entmythifizieren, und sie denjenigen zugänglich zu machen, mit deren Hilfe sie erworben werden konnten: den Teilnehmern. So wird eine wissenschaftliche und humanistische Tradition fortgesetzt, die sich um die schwierige Kunst der tabufreien Beobachtung bemüht und dabei kulturelle Vorurteile und persönliche Verständigungsbarrieren thematisiert. Dazu gehört auch, daß die Realität, die uns umgibt, ohne Vorbehalte hinterfragt werden muß, daß neue spezifische Erkenntniswege gesucht und daß die Forschungsergebnisse in das soziale und kulturelle Umfeld zurückgebracht werden, so daß die Akteure Zugang zum Produktionsprozeß von Wissen erhalten. »De los males que sufrimos« Hablan mucho los puebleros: Pero hacen como los teros Para esconder sus niditos En un lao pegan los gritos Y en otro tienen los güevos

Über unsere erlittenen Leiden sprechen die Städter recht viel: aber sie sind wie die Teros* die, um von ihrem Gelege abzulenken an einer Stelle schreien, aber an einer anderen ihre Eier verstecken

Y se hacen los que no acier A dar con la coyuntura, Mientras al gaucho lo apura Con rigor la autoridá Ellos a la enfermedá Le están errando la cura (/. Hernández: Martín Fierro)

Und die Städter tun so, als ob sietan die Lage nicht entwirren könnten, während die Autoritäten den Gaucho mit aller Macht antreiben, irren sich die Städter immer wieder in der Behandlung der Krankheit.

Jede Studie im psychosozialen Bereich Lateinamerikas muß die Tatsache berücksichtigen, daß eine starke Konzentration von Ressourcen der Gesundheitsversorgung in den Städten für eine exklusive Gruppe stattfindet, die diese Dienstleistung in Anspruch nehmen kann, während die marginalisierten Bevölkerungsgruppen völlig unterversorgt sind. Statistisch gesehen kommt in vielen Regionen Lateinamerikas ein Psychiater auf über 50.000 Einwohner. Die Mehrheit der Bevölkerung muß also aus eigener Kraft eine kommunikative Grund*

Teros: Vögel der Pampa

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Horacio Riquelme U.

läge schaffen, um einander zu verstehen und Lösungsmöglichkeiten für psychosoziale Konflikte im individuellen und gemeinschaftlichen Kontext zu finden. Das gewöhnlich krasse Desinteresse der Gesundheitsagenten an dem kulturellen Hintergrund dieser psychosozialen Realität ist auffällig. Sie übersehen sie dermaßen, als ob sie der cartesianischen Furcht vor scheinbarem Chaos in der Alltagskultur des Volkes ausgesetzt seien; bedingt sein könnte das Desinteresse auch durch die starke Tendenz, analytische Denkmuster aus den Metropolen a priori zu akzeptieren und Ansätze aus dem autochtonen Umfeld als »rückschrittlich« zurückzuweisen. Diese Haltung einer gepflegten Ignoranz gegenüber dem Alltagsleben der großen Bevölkerungsmehrheit bildet eine der Säulen der Kultur der Unterjochung (Salazar 1969) und setzt eine wahrhaftige Kastenordnung in den lateinamerikanischen Gesellschaften weiter fort. In diesem Sinne drückte sich Pablo Neruda anläßlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur aus: »(Wir widmen uns) der Schaffung des Fetischs des Unbegreiflichen oder dessen, was nur für wenige begreiflich ist. Der Fetisch des Auserwählten und Geheimen entsteht dann, wenn wir die Wirklichkeit und ihren realistischen Gehalt unterdrücken. Wir werden plötzlich von einem unmöglichen Feld umgeben sein, aus Lehm und Wolken, wo unsere Füße versinken und uns eine erdrückende Isolation erstickt.« Die transkulturell wissenschaftliche Arbeit hat in Lateinamerika bis heute seltsamerweise ein nur geringfügiges Interesse geweckt und dies, trotz ihres unmittelbaren Kontaktes mit einer kulturellen Wirklichkeit, die sowohl für die Lösung psychosozialer Konflikte als auch für den symbolischen Ausdruck der menschlichen Erfahrung außerordentliche Kreativität beweist. Für die transkulturelle Psychologie und Psychiatrie ist in der Regel eine Haltung festzustellen, die entweder von einer exotischen Aura oder einer diagnostisch-nominalistischen Absicht geprägt ist. So wurde der Bevölkerung nur selten mehr Verständnis entgegengebracht. Demgegenüber möchten wir darauf hinweisen, daß die Verantwortung von Wissenschaftlern und Therapeuten im psychosozialen Bereich im Wesentlichen darin besteht, die unmittelbare und tiefgehende Erkenntnis der eigenen Gesellschaft voranzutreiben, und nicht in die Verteidigung eines abstrakten - und häufig sterilen - Szientismus angesichts verschiedener Wissensformen, die in diesem Schmelztiegel der Kulturen und Glaubensvorstellungen entstanden sind, zu verfallen. Der Vergleich mit der Geschichte jenes Mannes liegt nahe, der eines Nachts seinen Schlüssel verlor und ihn dann eifrig unter einer Laterne suchte, weil es ja sonst kein Licht gab... Das Motto der Weltgesundheitsorganisation WHO »Gesundheit für alle im

Einleitung

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Jahr 2000« hat auf den psychosozialen Sektor in Lateinamerika so gut wie keine Auswirkungen gehabt. Die Themen, die in diesem Band behandelt werden, unterstreichen die Bedeutung der psychokulturellen Aspekte für die Durchführung präventiver Aktivitäten auf allen Ebenen; Aktivitäten, die sowohl qualitativ leistungsfähig sein sollen - indem sie ihre Adressaten erreichen - als auch ethisch stimmig - indem sie Wissen voneinander und gegenseitige Achtung fördern. Diese Grundvoraussetzungen gelten insbesondere dann, wenn im psychosozialen Bereich versucht wird, die Kommunikation zwischen den Gesundheitsplanern, den Gesundheitsagenten und den Benutzern zu verbessern. Gerade letzteren wird bisher nur die Rolle der passiven Empfänger von Dienstleistungen des Gesundheitswesens zugedacht (Riquelme 1982). Wie schon die vorangegangenen Publikationen, so dokumentiert das Buch »Andere Wirklichkeiten, andere Zugänge« den Weg, den das Seminar für transkulturelle Psychiatrie an der Universität Hamburg (vgl. Leitmotive des Symposiums) zurückgelegt hat. Dabei geht es darum, das Wissen zwischen Europäern und Lateinamerikanern durch ein transkulturelles Gespräch zu fördern, sowie die theoretischen und praktischen Grundlagen für eine neue und erschöpfende Infragestellung der eigenen Realität zu entwickeln. Dabei würden wir uns wünschen, daß die Leser bei dieser Annäherung an die psychosoziale Realität Lateinamerikas eine kreative Neugierde entwickeln. Hamburg, im April 1992 LITERATUR Blanco, F.R. (1958): El pensamento vivo de Bolívar. Buenos Aires Hernández, J. (1872): Martín Fierro. Buenos Aires Neruda, P. (1971): Rede in Stockholm Riquelme, H. (1982): Basisgesundheitsversorgung in Mexiko. Ein Diskussionsbeitrag zur neueren WHO-Politik. Argument Studienhefte SH 41, Berlin Salazar Bondy, A. (1969): »La cultura de la dominación«. In: J. Matos Mar u.a.: Perú problema, Lima.

Horado Riquelme U.

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Danksagung Es ist eine angenehme Aufgabe für mich, an dieser Stelle einen herzlichen Dank für die vielfältige Unterstützung und mühevolle Arbeit vieler Personen und Institutionen zum Ausdruck zu bringen, die die Veröffentlichung dieses Buches ermöglichten. Das gute Gelingen dieses langfristigen, akademischen Unterfangens scheint schon einen Wert an sich darzustellen. Die ersten zwei Publikationen erfuhren in beiden Sprachgebieten eine interessierte Aufnahme durch die natürlichen Adressaten: die kritischen Leser. So trägt diese Veröffentlichungsreihe dazu bei, eine theoretische Grundlage für eine themenbezogene, transkulturelle Diskussion zu bilden, deren Ziel die schrittweise Überwindung der - oftmals unbewußt wirkenden - sprachlichen und kulturellen Barrieren ist. Folgende Personen und Institutionen haben die Herausgabe dieses Buches ermöglicht: - Familie Andrés Salgó und ganz besonders die Tochter des Malers, Frau Dr. Maria Teresa Salgó, gaben ihre Zustimmung für die Verwendung des Bildes »Fälschungen-Nachrichten-Kampf« auf dem Titelblatt. - Der Fachbereich Medizin und die psychiatrische Klinik der Universität Hamburg haben die Infrastruktur und einen Teil der Finanzierung für die Durchführung des interdisziplinären Symposiums »Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika« zur Verfügung gestellt. So ist seit 1987 ein wissenschaftlicher und kultureller Austausch ermöglicht worden, der beide Kontinente miteinbezieht. - Die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur gewährte Unterstützung für das V. Simposium und finanzierte die notwendige Übersetzungsarbeit der Beiträge in die jeweils andere Sprache. - Andrés Krug, Enzo La Mura und Imme Scholz nahmen die mühselige Arbeit der Textübersetzung aus der Orginalsprache auf. Jutta liiert überarbeitete die deutsche Version der Texte und überprüfte sie auf ihre sprachliche und thematische Verständlichkeit. Enzo La Mura übertrug die Texte auf das Textverarbeitungssystem und nahm aktiv an der schwierigen Aufgabe der stilistischen und redaktionellen Textüberarbeitung der lateinamerikanischen Autoren teil, die sprachlich in anderen Ausdrucksweisen beheimatet sind. Für diejenigen, die uns immer wieder aus der Ferne ermutigt haben, hoffe ich, daß dieses Buch unsere beidseitig fruchtbare Freundschaft, aller physischen Distanz zum Trotz, noch verstärkt.

Horacio Riquelme U.

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Selbstverständlich übernehme ich für alle eventuellen Fehler dieser Ausgabe die Verantwortung und möchte Sie hierfür vorsorglich um Verständnis bitten. Horacio Riquelme U.

Erster Teil: Medizin-Anthropologie und psychosoziale Gesundheit

Alkoholkonsum und Alltagskultur in Chile

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Horacio Riquelme U.

Alkoholkonsum und Alltagskultur in Chile1 »Der Wein bohrt seine schwarzen Dornen und führt seine Stacheln spazieren zwischen Dolchen, zwischen Mitternächten, zwischen rauhen Kehlen, zwischen Zigarren und wirrem Haar, und wie eine Meereswelle wächst seine Stimme an Tränen heulend und Leichenhände.« (Aus: Estatutos del Vino, von Pablo Nerudä)

In vino veritas, aber dennoch... (Über Zweideutigkeiten und Paradoxien rund um den Wein) Die kulturelle Wahrnehmung des Weins und der Umgang mit dem Alkoholkonsum in der chilenischen Bevölkerung gehört zu den Bereichen des Alltagslebens, die von Mißverständnissen geprägt sind. Im Laufe der Jahrhunderte entstand eine solide kulturelle Basis, die eine Annäherung an die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Alkohol - insbesondere dem Wein - ermöglicht. Diese kulturell verankerte Beziehung fand bisher fast ausschließlich in der Dichtkunst Beachtung. Die Wahrnehmung des Alkoholproblems und das Wissen über die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Alkohol seitens des Personals im Ge1

Dieser Aufsatz ist eine aktualisierte Version verschiedener Veröffentlichungen zum Thema in deutscher, spanischer, italienischer und portugiesischer Sprache (vgl. Bibliographie). Viele der Programme zur Bekämpfung des Alkoholismus - deren Konzepte in den letzten vierzig Jahren von einheimischen und internationalen Experten entwickelt wurden - sind oft nicht mehr wert gewesen als das Papier, auf dem sie geschrieben wurden (siehe historischen Exkurs). Da sie die Bedeutung der soziokulturellen Besonderheiten für den Alkoholkonsum nicht berücksichtigten, blieb ihnen der spezifische Zugang zu den Gewohnheiten und der Wahrnehmung der Gesundheits/Krankheitssituation der Bevölkerung verwehrt.

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sundheitswesen zeugt von einer strukturellen Spaltung: In erster Linie ist es von einer naturwissenschaftlichen Sichtweise bestimmt, die eine hohe Autorität beansprucht; hierzu gesellt sich das Wissen um ein Alltagsverständnis der Bevölkerungsmehrheit über den Alkoholkonsum nachrangig, da scheinbar weniger systematisch. Aufgrund dieser kognitiven Unterscheidung ist die Praxis im psychosozialen Gesundheitswesen seit mehr als einem Jahrhundert von Zweideutigkeiten und Paradoxien geprägt (Costa 1991). Dieser Essay leitet eine diachronische Studie über die soziokulturelle Dimension des Alkoholkonsums in Chile ein. Dabei wird versucht, durch eine kommentierende Beobachtung der Alltagskultur zum Alkoholkonsum und in der Gegenüberstellung mit den medizinisch-sozialen und anthropologischen Aspekten ein ganzheitliches Bild dieser psychokulturellen Interaktion zu erhalten. Dafür wird nicht auf pittoreske Einzelheiten einer »Subkultur« abgehoben, sondern es werden aufgrund von Chroniken von 1551 bis in die Gegenwart hinein jene den Alkoholkonsum betreffenden Kulturinhalte berücksichtigt, die ihren Niederschlag im Alltag der Mehrheit der chilenischen Bevölkerung finden. Der Wert dieses methodologischen Ansatzes liegt unter anderem darin, daß er ermöglicht, die kulturellen Merkmale des Alkoholkonsums in der chilenischen Bevölkerung zu verstehen und sich auf dieser Grundlage dem häufig auftretenden Alkoholismussyndrom anzunähern, und zwar aus der Sicht derjenigen, die in diesem soziokulturellen Kontext leben. Auf diese Weise wird versucht, die tiefe psychokulturelle Verwurzelung übermäßigen Alkoholkonsums zu verdeutlichen und eine Grundlage für das Verständnis zwischen dem Gesundheitspersonal und den Betroffenen zu schaffen: die Zweideutigkeiten und Paradoxe explizit und verständlich zu machen, kann Achtung vor den ihnen zugrundeliegenden Formen der Alltagskultur hervorrufen und bei Präventionsmaßnahmen behilflich sein, und zwar insofern, als die Gesundheitsagenten ihre begrenzte Sichtweise der Lage überwinden und auf die notwendige multidisziplinäre Praxis hinarbeiten, die eine unmittelbare kulturelle Wechselwirkung mit der Bevölkerung einschließt. Auf der Basis dieser vermittelnden Methodik wird in dieser Arbeit ein qualitativer Zugang bevorzugt, der aus der Sicht der Betroffenen selbst zu einer Lösung »von innen heraus« des Alkoholproblems in Chile führen soll. Außerdem wird in einem geschichtlichen Rückblick von einem Selbsthilfeprojekt berichtet, das bis 1973 durchgeführt wurde.

Alkoholkonsum und Alltagskultur in Chile

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1. Allgemeiner sozialer Kontext und medizinisch-soziale Aspekte Wie in den meisten Ländern Lateinamerikas kam es auch in Chile in diesem Jahrhundert zu einem stürmischen Prozeß der Urbanisierung. Um die Jahrhundertwende lebten mehr als zwei Drittel der Chilenen auf dem Lande, heute beträgt die städtische Bevölkerung vier Fünftel (79,2 %) der gesamten Einwohnerzahl. Der rapide Bevölkerungszuwachs betraf vor allem die Großstädte (über 100.000 Einwohner) und hier in erster Linie die Hauptstadt Santiago und ihr Einzugsgebiet. 1978 lebten dort bereits 40 % der chilenischen Bevölkerung (Statistisches Bundesamt 1979). Die psychosozialen Auswirkungen auf die Bevölkerung, die von dieser beschleunigten Verstädterung betroffen war, sind bis heute nicht ausreichend berücksichtigt worden. Allgemein können diese Auswirkungen als das vielgestalte Ergebnis eines psychokulturellen Entwurzelungs- und sozio-ökonomischen Verarmungsprozesses gefaßt werden (Riquelme 1980). 2 Chile wird sehr häufig als ein weinproduzierendes Land dargestellt. Es gibt 27.000 Weingüter, die eine Fläche von 100.800 Hektar ausmachen, das entspricht 1,8 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche und 6,8 % der tatsächlich genutzten Fläche. Dem Gesetz nach dürfen »nur« 600 Millionen Liter Wein jährlich produziert werden, 3 der größte Teil davon wird im Lande selbst konsumiert. Bis heute haben sich der Gesetzgeber und die Justiz darauf beschränkt, Bestimmungen über den Standort und die Öffnungszeiten der Ausgabestellen für alkoholische Getränke festzulegen, die Weinanbaufläche zu begrenzen und insbesondere Personen zu verhaften und zu bestrafen, die im betrunkenen Zustand die öffentliche Ordnung stören.4 Eine Reihe von Feldstudien über die Alkoholismusprävalenz hat folgendes ergeben: 20 - 25 % der Bevölkerung sind übermäßige Trinker, davon 5-7 % Alkoholkranke (Horwitz et al. 1958; Medina 2

Es kann behauptet werden, daß ein Gutteil der Bevölkerung ökonomisch dazu gezwungen worden ist, sich durch den Dienstboteneingang zum Fest der abhängigen kapitalistischen Entwicklung Zugang zu verschaffen, in dem lohnabhängige Arbeitskräfte als Reserve benötigt werden, ohne jedoch an den sozialen und ökonomischen Entscheidungsprozessen teilnehmen zu können. Bei ihrer Ankunft in den Großstädten sind die Lebensbedingungen der Migranten miserabel und es ist schwierig, Arbeit zu finden (Frank 1965). Es ist also nicht verwunderlich, daß sie sich selbst als »Fremder im eigenen Land« bezeichnen, indem sie sich dem »afuerino« (umgangssprachliche Bezeichnung für Tagelöhner ohne festen Wohnsitz) verbunden fühlen und eine soziale Teilnahme aufgrund konkreter Grundbedürfnisse anstreben, z.B. seit 1948 zur Linderung von Wohnungsnot in Form von Landbesetzungen (Neruda 1955; Riquelme 1980).

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Eine einfache Rechnung ergibt, daß für jeden Einwohner über 15 Jahre 100 Liter Wein jährlich zur Verfügung stehen. Im Gegensatz dazu besteht bei der Milchproduktion ein reales Defizit von 150 Litern pro Einwohner und Jahr (Statistisches Bundesamt 1979).

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Über die tatsächliche Wirksamkeit dieser Maßnahmen und den »liberalen« Geist, der sie hervorbrachte, erübrigen sich weitere Kommentare.

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und Marconi 1970; Servicio Social 1972). Besonders betroffen davon sind die marginalisierten sozialen Gruppen, so daß einige sozial sensibilisierte Wissenschaftler in Chile vom »Alkoholismus der Armut« sprechen (Horwitz et al. 1958). Weder Frauen noch Kinder sind von den negativen Auswirkungen des Alkoholabusus ausgenommen (Kattan, L. et al. 1973; Stegen, G. 1959). Leberzirrhose ist eine der Krankheiten, die der übermäßige Alkoholgenuß mit sich bringt. Sie bildet eines der größten Probleme der institutionellen kurativen Medizin. Es ist nötig, in diesem Zusammenhang klarzustellen, daß die Leberzirrhose nicht alle übermäßigen Trinker gleichermaßen befällt und daß das Wissen über dieses komplexe Krankheitsbild bisher kaum mehr als seine pathophysiologische Wahrnehmung erfaßt.5 Die Leberzirrhose ist meistens äthilischen Ursprungs und wirkt sich signifikant auf die Gesundheitsstatistiken aus. Eine Studie zeigt, daß vor diesem Hintergrund der übermäßige Alkoholgenuß in Chile zu den häufigsten Todesursachen zählt (Kirschbaum et al. 1990). So scheint sich die vorgeblich schicksalhafte Triade »Elend-Alkoholismus-Gewalt« fortzusetzen, die in den Ländern südlich des Rio Grande zur Normalität gehört (Rojas 1990).

2. Alkoholkonsum und sozioökonomische Bedingungen: Geschichtliche Darstellung am Beispiel der Mapuche-Indianer Der Konsum alkoholischer Getränke und dessen psychokulturelle und sozioökonomische Auswirkungen traten bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der chilenischen Geschichte auf. Beispielhaft dafür ist die diesbezügliche Entwicklung bei den Mapuche-Indianem. Diese Gruppe macht gegenwärtig 5% der Gesamtbevölkerung aus, 60 % der Bevölkerung sind Mestizen (Nohlen 1975; Statistisches Bundesamt 1979). Der Entwicklungsprozeß der Mapuche weist eine große Übereinstimmung zwischen den auftretenden Veränderungen und den Formen des Alkoholkonsums auf. Dies läßt sich an den vier historischen Phasen des politisch-sozialen Wandels aufzeigen. Mit Ausnahme der ersten Phase 5

Da Chile den traurigen Anspruch auf die höchste Sterbeziffer an Leberzirrhose alkoholischen Ursprungs der Welt erheben kann (35,7 Todesfälle auf 100.000 Einwohner über 15 Jahre, siehe Medina, Kaempfer 1974; außerdem Tafel I im historischen Exkurs), glaube ich, daß dieser allgemeine Sterblichkeitsfaktor einer multidisziplinären und longitudinalen Untersuchung harrt. Diese Untersuchung müßte die Familien der Betroffenen einbeziehen. Die Annahme, daß die Leberzirrhose und die Unterernährung gültige allgemeine Indikatoren für die Lebens- und Gesundheitsbedingungen in einem Land wie Chile sind, erscheint nicht gewagt. Ebensowenig die Auffassung, daß die Leberzirrhose allein deshalb einen wichtigen Platz in den Statistiken einnimmt (wie andere vorbeugbare, bzw. behandelbare Krankheiten beispielsweise Lungenentzündung, Enteritis und TB), weil sie de facto wirkt als die letzte pathogene Instanz, keineswegs jedoch als einziger Grund eines jeden individuellen Todesfalls (Horwitz et al. 1958; Riquelme 1980).

Alkoholkonsum

und Alltagskultur in Chile

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wurde der soziale Sinngehalt des Alkoholkonsums jeweils von äußeren Einfluß* oder Machtfaktoren bestimmt (Lomnitz 1976). A. - Die sogenannte Entdeckerphase und die ersten, meist fehlgeschlagenen Versuche der Unterwerfung der indianischen Bevölkerung durch die spanischen Kolonisatoren: In dieser Phase diente der kollektive Konsum von Getränken mit einem niedrigen Alkoholgehalt dem fast xenophobischen Angstabbau gegenüber den Fremden und der Stabilisierung der Beziehungen mit den benachbarten Stämmen (Marino de Lobera, 1594; de Valdivia 1551). Hier scheint es keine Gewohnheitstrinker gegeben zu haben, da Trinken außerhalb des kollektiven Zusammenhangs sozial nicht akzeptiert wurde, und weil die Möglichkeiten des Trinkens während der traditionellen Feste begrenzt waren. 6 B. - Die Zeit der sogenannten friedlichen Koexistenz zwischen Indianern und Kolonisatoren im 18. Jahrhundert: Die Koexistenz ist gekennzeichnet durch die Durchsetzung der Marktwirtschaft und die Verbreitung von hochprozentigem Alkohol, der in den größeren Ansiedlungen konsumiert und durch Getreide- und Viehverkäufe finanziert wird (Guevara 1902). Der Alkoholkonsum dient in dieser Phase primär der individuellen Bewältigung der Spannungen in einer Phase der sozioökonomischen und kulturellen Desintegration. C. - Die gewaltsame Vertreibung der Indianer aus ihren Stammesgebieten durch die chilenische Armee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die drei wichtigsten Instrumente, um den Widerstand der Indianer zu brechen, sind die modernen Feuerwaffen, die für die Mapuche unverständlichen Gesetze und ... der Alkohol. Oberst Saavedra wurde in seinem Abschlußbericht an den Präsidenten der Republik sehr deutlich: »Herr Präsident: Angol ist besetzt worden, ohne auf Widerstand zu treffen. Ich kann Ihnen versichern, daß uns die Besetzung von Arauco neben einigen unbedeutenden Zusammenstößen 6

Ein zeitgenössischer Zeuge, der Spanier Pifieda y Bascuftän (1673), der viele Jahre unter den Indianern gelebt und später eine sehr einfühlsame und detallierte Beschreibung ihres Lebens und ihrer Sitten verfaßt hat, macht keine Aussagen über Alkoholkranke unter den Indianern, obwohl ihm die Weinkrankheit unter den Spaniern sicher bekannt war.

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nichts weiter als viel Most und viel Musik kosten wird« (Navarro 1909). In dieser Phase ist der Alkoholkonsum für die Indianern von Bedeutung gewesen, um das Gefühl von Machtlosigkeit gegenüber dem hochentwickelten militärischen Apparat zu verwinden, der der Einführung des Großgrundbesitzes im Süden Chiles gewaltsam den Weg bereitete und der die primitive Verteidigung der Mapuche sehr schnell hinwegfegte. D. - In der Gegenwart ist der rituelle Alkoholkonsum noch in drei Zusammenhängen des ländlichen Lebens bedeutsam: a) bei traditionellen Feierlichkeiten, die zum Teil durch den Katholizismus geprägt sind, b) bei den Besuchen des städtischen Marktes, c) bei den Ruhepausen in der Landwirtschaft (Lomnitz 1976). In der Stadt neigen die eingewanderten Indianer dazu, eine fast endogame kulturelle Einheit zu bilden. Sie bevorzugen die von Mapuches frequentierten Plätze, haben ein lebhaftes Interesse am gesellschaftlichen Leben ihrer Ursprungsgemeinde und halten die Bindung an sie durch regelmäßige Besuche und Geldsendungen längere Zeit aufrecht. In Bezug auf den Alkoholkonsum wird die Ablehnung des individuellen Trinkens bewahrt, insbesondere weil man der Auffassung ist, daß jemand, der nicht in der Gruppe trinken will, dazu besondere Gründe haben muß und z.B. böse Absichten verfolgt. Der einsame Trinker wird als anormal oder süchtig aufgefaßt und stößt auf starke Ablehnung (Lomnitz 1969). Auf dem Lande gestaltet sich die Situation anders: Unter den Bedingungen permissiver Trinkgewohnheiten und unter dem Einfluß eines radikalen Verelendungsprozesses - durch Landverlust aufgrund einseitiger Gerichtsurteile oder die ökologische Verschlechterung der Bodenqualität - verlängern sich die Phasen der Inaktivität, und als Beschäftigungsersatz die Besuche der städtischen Märkte. Damit nimmt die Wahrscheinlichkeit, durch übermäßigen Alkoholkonsum zu erkranken, für die Mapuches, die in Reservaten leben, fast schicksalhafte Züge an. Eine Studie über Trinkgewohnheiten und Alkoholismusprävalenz in Mapuche-Reservaten von 1970 bestätigt diese These in glaubwürdiger Weise (Medina und Marconi 1970). Unter Berücksichtigung der Faktoren »Alter« und »Trinkgewohnheiten« der männlichen Bevölkerung ergibt sich folgendes Bild: Die Mehrheit (59 %) der mäßigen Trinker sind unter 29 Jahre alt; fast die Hälfte (49 %) aller einfachen übermäßigen Trinker fällt in die Altersgruppe der 20 39jährigen und die große Mehrheit der Alkoholkranken ist zwischen 30 und 49 Jahre alt.7 7

Zugespitzt könnte man sagen, daß hier die Gültigkeit der These von Jellinek unmittelbar bewiesen wird, die besagt, daß in der Regel der kontinuierliche und übermäßige Konsum von Alkohol zur

Alkoholkonsum und Alltagskultur in Chile

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3. Aktuelle Situation Für eine knappe Charakterisierung der soziokulturellen Einstellung der Mehrheit der Bevölkerung zum Alkoholkonsum reicht es nicht aus, sie als permissiv zu bezeichnen. Es muß vielmehr von einem »alkoholisierenden Kulturdruck« gesprochen werden, der in den letzten zwei Jahrhunderten entstanden ist und die Grundlagen für eine besondere Sichtweise geschaffen hat. Es kann von einer umfassenden Metapher der Beziehung zwischen dem Menschen und dem Wein gesprochen werden, der symbolisch sowohl als »Quelle des Lebens und der Freude« als auch als »Ursache von Tod und Leiden« gesehen wird (Alcalde

1972).

Der übermäßige Alkoholkonsum nimmt einen beherrschenden Platz innerhalb der kulturellen Ausdrucksformen des Alltagslebens in Chile ein. Die existentielle Unsicherheit, die das Leben der Mehrheit der Bevölkerung prägt, bildet einen wichtigen Bestimmungsfaktor für die Aufrechterhaltung dieses psychokulturellen Zustandes.8 Auf diese Weise leben viele Auffassungen und Meinungen in der chilenischen Bevölkerung bezüglich der geschlechtsspezifischen Rollen sowie der Erwartungen, die in den Alkoholkonsum gesetzt werden, weiterfort.9

Alkoholkrankheit führt (Jellinek 1946 und 1960). Das desolate Ergebnis seiner prospektiven Studie bei Anstaltspatienten half ihm, den Alkoholismus in seinem pathophysiologischen Krankheitsverlauf zu systematisieren, d.h. anhand von Patientengeschichten, die ihre »Karriere« als Alkoholkranke bereits durchlebten. Die Mapuche-Indianer sind jedoch keine Anstaltspatienten, sondern dem Gesetz nach gleichberechtigte chilenische Staatsbürger. Solange die Mapuche als soziale Gruppe jedoch weiterhin das Opfer ökonomischer Stigmatisierung sind, wird der Alkoholkonsum das Mittel sein, mit dem sie ihr Bewußtsein betäuben und negativ an einer Gesellschaft partizipieren können, die sie in ihrer ideologischen Heuchelei als heroische Vorfahren in der Vergangenheit lobt und zugleich als überflüssigen Ballast in der Gegenwart marginalisiert. 8

Der übermäßige Alkoholkonsum kann einerseits als regressive Einstellung gegenüber der Wirklichkeit aufgefaßt werden und andererseits, aufgrund seiner positiven sozialen Bewertung durch die Betroffenen, als ein wichtiges Element für die Schaffung einer psychokulturellen Identität bei vielen Chilenen. Im Alltagsleben drückt sich dies in einer sehr permissiven Haltung gegenüber dem Alkoholkonsum aus, die manchmal sogar bis zur kollektiven Aufforderung zum übermäßigen Alkoholkonsum reicht.

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Die Mehrheit der Chilenen schreibt dem Alkohol eine Reihe von Eigenschaften zu, wie z.B.: - der Wein ist gut gegen Kälte, ruft Freude hervor und fördert die Freundschaft; - das Bier stimuliert die Sekretion der Milchdrüsen und sollte deshalb während der Stillphase getrunken werden; - kleine Jungen sollten Wein trinken, da dieser die Männlichkeit fördert und eine stärkende Wirkung hat; - sich zu betrinken ist ein Zeichen der Männlichkeit; - der Alkohol steigert die Leistung bei körperlicher Arbeit. Diese positive soziale Bewertung des Alkoholkonsums kann als Fortsetzung gemäß einer Jahrhunderte alten Tradition in der städtischen Folklore betrachtet werden.

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Hernán San Martín hat 1970 in seiner Arbeit »Nosotros los chilenos« (»Wir, die Chilenen«) die Lebensäußerungen der städtischen Bevölkerung der letzten drei Jahrhunderte in ihrer eigenen Sprache gesammelt. Die Volksauffassung bezüglich des Alkohols stellt sich folgendermaßen dar: »Der Wein und die Chicha* sind für die Heilung von Krankheiten nützlich. Das weiß man schon von altersher, seitdem Noah sie erfunden hat. Es gibt Leute, die keine Chicha trinken, weil sie der Meinung sind, daß sie Gastritis verursacht. Das Volk weiß jedoch, daß die Chicha 'das Blut reinigt und den Magen putzt'.« (* Chicha: gegorenes Getränk aus Mais oder Weintrauben) »Zu Zeiten der Chicha verarmen die Ärzte und die Apotheker.« »Wußten Sie, daß Kopfschmerzen vorübergehen, wenn man heißes Brot ißt, das in Wein eingetaucht wurde? Und daß Erkältungen schneller vorübergehen, wenn man ein großes Glas heißen Rotwein mit Zitrone, gebranntem Zucker und etwas Zimt trinkt? Und daß es nichts besseres gegen Blutarmut gibt, als jeden Tag einen halben Liter Wein zu trinken, am besten abgelagerter, schwerer Wein, mit drei Würfeln Zucker und einem halben Liter warmes Kalbsblut? Wenn aber Ihr tatsächliches Leiden der Wein selbst ist, das heißt, wenn Sie chronisch alkoholkrank sind und gesund werden wollen, dann müssen Sie folgendes tun: Trinken Sie Wein mit Schweinekot gemischt oder veranlassen Sie, daß Ihnen jemand heimlich Pferdewarzenpulver ins Getränk mischt oder Wasser, in dem eine kahle und gehäutete Maus, aber mit Krallen, gekocht worden ist. Wenn keines dieser Mittel Sie wieder gesund macht, dann muß ein radikales Mittel angewendet werden. Der Alkoholiker muß einen Liter Wein trinken, in dem ohne sein Wissen während 24 Stunden die Hand eines gerade verstorbenen Kindes gelegen hat. Nach diesem Trunk werden Sie bestimmt nie wieder Alkohol anrühren.« Die kollektive Aufforderung zum übermäßigen Alkoholkonsum äußert sich häufig in einem mehr oder minder ausdrücklichen sozialen Druck der Gruppe gegenüber den Individuen, die an einem sozialen Ereignis teilnehmen. Bei bestimmten Gelegenheiten, aus festlichem oder traurigem Anlaß, wird kein anderes Verhalten gefördert als das Trinken aus Freude oder das Ertränken des Leides im Alkohol.10 Das Wochenende verwandelt sich oft mit Hilfe des ausgezahlten Lohnes in einen ausgedehnten Alkoholrausch; in manchen Berufszweigen trifft dies auf 50 % der Beschäftigten zu (Servicio Social 1972). 10 Bei zeremoniellen Festen wie Weihnachten, Neujahr, Taufen, Hochzeiten und Totenwachen; bei sozialen Ereignissen wie einer neuen Arbeitsstelle oder der Geburt eines Kindes; nach einem Fußballspiel - denn beim Sport kommt es nicht nur auf den Sieg an - wird Wein unterschiedlicher Qualität in erheblichen Mengen getrunken.

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Der Betrunkene stellt im allgemeinen keine negativ besetzte Figur dar, sondern ist im Gegenteil das Objekt einer Art psychokulturellen Solidarität unter den Entrechteten. Mit der Übertragung des altgriechischen Spruches »die Götter beschützen die Kinder, die Verrückten und die Betrunkenen« wird eine gewisse Sympathie mit dem Berauschten gepflegt; seine Verantwortungslosigkeit und sein hilfloser Zustand werden als eine weitere Selbstverständlichkeit begriffen. In diesem Sinne stellt der alkoholische Rauschzustand auch eine Form der individuellen Flucht aus dem »Teufelskreis« der sozialen und ökonomischen Konflikte des Alltagslebens dar. Diese Flucht wird für Männer allgemein akzeptiert; mit ihr bestätigt sich gleichzeitig das gebrochene, jedoch nicht ernsthaft hinterfragte Männlichkeitsideal, das ihnen in ihrem patriarchalischen und abhängigen Sozialisierungsprozeß eingepflanzt wurde (Riquelme 1978; Gissi 1989). Paulo Freire (1969) vermittelt einige Aspekte dieses Prozesses bei den Betroffenen in anschaulicher Weise: »In einer der Untersuchungen, die in Santiago durchgeführt, aber leider nicht beendet wurde, diskutierte eine Gruppe von Hochhausbewohnern eine Szene, die einen Betrunkenen zeigte, der auf der Straße lief, sowie drei junge Männer, die sich an der Ecke unterhielten. Die Gruppenteilnehmer bemerkten: Der einzige, der da produktiv ist und nützlich für sein Land, ist der Betrunkene, der nach der Arbeit nach Hause kommt, bei der er wenig verdient, und der sich um seine Familie Sorgen macht, weil er ihre Bedürfnisse nicht befriedigen kann. Er ist der einzige Arbeiter ... Er ist ein anständiger Arbeiter und ein Säufer wie wir«.11 In Bezug auf Trunkenheit bei Frauen fällt auf, daß außer in einigen wenigen phänomenologischen Studien (Jerez, Silva 1978), Aussagen über sie und ihre soziokulturelle Einstellungen fast unbekannt sind. Möglicherweise wird sie als Begleitumstand der gewohnheitsmäßigen Trunkenheit des Mannes betrachtet. Oder aber der weibliche Alkoholismus bildet ein psychosoziales Tabu an sich, über das bisher keine größeren Studien erstellt worden ist. Sicher ist jedenfalls, daß es den weiblichen Alkoholismus gibt. In den Arbeitervierteln besteht durch die Weinschänken und die illegalen Ausgabestellen (»Clandestinos«) eine verwurzelte »alkoholisierende Infrastruktur«, die sowohl Ausdruck als auch gleichzeitig Motor übermäßigen Alkoholkonsums ist. Dieses Überangebot steht in krassem Gegensatz zu der allgemei11 Derselbe Autor analysiert weiter: »Diese Äußerungen enthalten zwei wichtige Aspekte. Auf der einen Seite sprechen sie die Verbindung zwischen dem geringen Verdienst, dem Gefühl der Ausbeutung und der Betrunkenheit an - der Betrunkenheit als Flucht vor der Wirklichkeit und als Versuch, die Frustration der Ohnmacht zu überwinden, als eine letztlich selbstzerstörerische Lösung. Auf der anderen Seite weisen sie auf die Notwendigkeit hin, den Trunkenbold hoch einzustufen. Er ist 'der einzige, der seinem Land nützt, weil er arbeitet, während die anderen nur schwätzen*. Nachdem sie den Trunkenbold gelobt hatten, identifizieren sich die Teilnehmer mit ihm als Arbeiter, die auch trinken - 'echte Arbeiter'«.

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nen Unterversorgung an gemeinnützigen Einrichtungen von Lebensmittelläden bis hin zu Schulen und Polikliniken. Feldstudien, die in Städten durchgeführt worden sind, haben gezeigt, daß dem Bewohner von Arbeitervierteln der illegale Weinladen eher bekannt ist als irgendwelche Instutionen oder kommunale Einrichtungen. Dies ist nicht überraschend, wenn man weiß, daß z.B. in Lota, einer Bergarbeiterstadt, in der Nähe des Marktes an einer 100 Meter langen Straße allein neun Weinschänken in Betrieb sind (Alcalde 1972). Für die städtischen Arbeiterviertel wird geschätzt, daß im allgemeinen eine von acht Behausungen auch die Funktion des Weinverkaufs, mit oder ohne Lizenz, erfüllt. In diesem Zusammenhang wird verständlich, daß die örtlichen Weinhändler ein großes Interesse daran haben, ihre - soziale und wirtschaftliche - Machtstellung vor Ort zu konsolidieren. Dafür greifen sie auf verschiedene Interaktionsformen zurück, die Abhängigkeitsverhältnisse mit ihren Kunden herstellen, u.a.: a) die Unterstützung ihrer Kunden durch Kredite, b) das »Monopol für Freizeitaktivitäten« und c) am wichtigsten von allen, die Anknüpfung von zwischenmenschlichen Beziehungen, z.B. als Taufpaten der Kinder des Viertels (Hamel & Asun 1978). Die staatlichen Aktivitäten zur Kontrolle oder Verhinderung der Ausbreitung dieser Lokale sind im allgemeinen repressiver Art gewesen, d.h. daß die offensichtliche »natürliche« Integration des Ausschanks in seine Umgebung nicht berücksichtigt wurde. Der Ausschank nimmt aufgrund des fast völligen Fehlens von Alternativen zu diesem sozialen Kommunikationsort die Funktion eines »kollektiven Wohnzimmers der Armen (wahr), in dem sie sich treffen, um über die Arbeit zu reden, über den Sport, die Politik und die Frauen und auch über ihre Gefühle, ihre Freunde und den Tod« (Alcalde 1972). Die sogenannte »öffentliche Meinung« ihrerseits bearbeitet das Thema des Alkoholkonsums mit einer gewissen Einhelligkeit. Die Massenmedien konzentrieren sich seit Jahrzehnten auf die idealisierte Figur des »gemäßigten Mannes«, der Alkohol mehr oder weniger selektiv konsumiert. Sie behandeln die Figur des »borrachito«, des Betrunkenen aus dem Volke, und seine Narrheiten mit einer gewissen väterlichen Ironie, insofern diese die Resignation gegenüber den »Schicksalsschlägen« kanalisieren.'2

12 Informationen über die gegenwärtigen Werbungskosten für Alkohol sind nicht zu erhalten. Es kann jedoch angenommen werden, daß sie wesentlich höher liegen, als die öffentlichen Ausgaben für die Erwachsenenbildung.

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Fazit: Auf das Entstehen eines »alkoholisierenden Kulturdrucks« in einem großen Teil der chilenischen Bevölkerung wirkt sich folgende Faktorenkonstellation begünstigend aus: - die materielle Grundlage wird von der massiven Weinproduktion gebildet, zuungunsten des Anbaus von Grundnahrungsmitteln. Mit Unterstützung einer gut artikulierten Werbung wird diese Produktion zum größten Teil im Land selbst konsumiert; - die psychosoziale Bereitschaft entsteht durch die sozioökonomische Instabilität, in der die Mehrheit der Bevölkerung lebt. Für viele aus dieser Mehrheit übernimmt der Alkoholkonsum die Funktion eines Betäubungsmittels, das, insofern es die »Traurigkeit vertreibt«, andererseits explizit die fatalistische Anpassung an eine von Widersprüchen erfüllte Gesellschaft fördert; - die kulturelle Verwurzelung des übermäßigen Alkoholkonsums integriert diesen in das Alltagsleben, indem sie ihm die Züge des Gewohnten verleiht. Die permissive Einstellung gegenüber dem Alkoholkonsum, die bereits in den ältesten Traditionen verankert ist, umgibt ihn ebenfalls mit positiven sozialen Eigenschaften. Die individuellen und sozialen Folgen des übermäßigen Alkoholkonsums werden von der Mehrheit der chilenischen Bevölkerung als im Bereich des Normalen liegend aufgefaßt und nicht hinterfragt.

4. Die Widerspiegelung der Trinkgewohnheiten in der chilenischen Umgangssprache »Wenn es bei dem Begräbnis einer wichtigen Person nicht genug zu trinken gibt, wird das sehr kritisiert. Man will nämlich durch das Trinken das Bewußtsein verlieren und sich dem Toten nähern, ihn auf seinem Weg jenseits des Grabes begleiten. Die Person ist kein denkendes Wesen mehr, sondern befindet sich in einer anderen Welt.« (Ein alter Mapuche zu Lomnitz (1976)) Diese nachdenkliche Bezugsnahme auf den Alkohol in ernsten Lebenslagen drückt sich auch in Entstehung und Weiterentwicklung eines spezifischen Sprachgebrauchs aus, der über eine große Anzahl von Wortneubildungen und empirischen Begriffen verfügt, die den psychokulturellen Erfahrungshintergrund mit dem Wein eines großen Teils der Bevölkerung ausdrücken. Der übermäßige Alkoholkonsum erscheint in der literarischen Produktion als ein soziales Element von allgemein anerkanntem Wert. Ohne auf Schriftsteller oder Dichter zurückgreifen zu müssen, reicht ein längeres Gespräch mit

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bestimmten Gewohnheitstrinkern aus, um festzustellen, daß sie die alltäglichen Auswirkungen ihres langen und intensiven Umgangs mit dem Wein deutlich wahrnehmen. Außerdem verfügen sie für die Kommunikation untereinander über einen eigenen Dialekt mit einer eigenständigen strukturellen Zusammensetzung und erfahrungsbedingten Konnotationen. Die chilenische Volkssprache besitzt eine sehr differenzierte Begrifflichkeit für den Alkoholkonsum. Mariani (1966) hat einen Wortschatz von etwa 300 Wortneubildungen über den Wein und seine Auswirkungen auf den Menschen herausgearbeitet. Diese Neologismen haben manchmal einen verhüllenden Charakter, um z.B. Weinmengen anzugeben: Eine »halbe Ente« steht für einen halben Liter, ein »Fohlen« für zwei Liter usw. Andere Begriffe drücken die emotionale bzw. kulturelle Besetzung des Alkohols aus: »Leidenslöscher« für den Wein im allgemeinen, »Stierblut« für einen kräftigen Rotwein. Sie können auch eine ironisierende Einstellung gegenüber dem Betrunkenen ausdrücken: »mit der Äffin gehen« weist auf die fehlende motorische Koordination hin, die die Gangart von Betrunkenen kennzeichnet; eine »Karaffe mit Pfoten« ist jemand, der immerfort bis zum Rande mit Wein gefüllt ist. Auf die trostspendenden und heilenden Eigenschaften, die dem Wein im allgemeinen zugeschrieben werden, ist möglicherweise die Bezeichnung »Curado« bzw. »Curadito« (der Geheilte bzw. die Verkleinerungsform) für einen Betrunkenen zurückzuführen. Die auch im Volk als Folgeerscheinung des übermäßigen Alkoholkonsums erkannte Leberzirrhose wird von diesem eher als unabwendbarer Schicksalsschlag wahrgenommen, was sich in ihrer Bezeichnung »la Rosita« (Kosename von Rosa) ausdrückt: verniedlichtes Übel ist bereits kleineres Übel. Es läßt sich eine psycholinguistische Parallele ziehen zwischen dem pathophysiologischen Verlauf der Alkoholabhängigkeit (s. dazu Jellinek 1946) und den in der Volkssprache angewandten Ausdrucksformen, um bestimmte Stadien des Krankheitsprozesses eindeutig zu kennzeichnen: a) Dem Wein werden im Alltagsleben positive Merkmale zugeschrieben: »Warm angezogen sein« bedeutet, diskret Alkohol zu sich genommen zu haben, um sich mit einer »inneren Jacke« vor der symbolischen und realen Kälte zu schützen. Dies stimmt mit der prä-alkoholischen Phase überein, die Jellinek festgestellt hat und in der dem Alkohol medikamentöse Eigenschaften zugeschrieben werden. b) Die Gedächtnislücken am nächsten Tag, von Jellinek in der Prodromalphase der Alkoholabhängigkeit als symptomatisch bezeichnet, werden als ein »Filmriß«, ein Verlust in der Kontinuität der Erinnerungen aufgefaßt. Sein Auftreten wird mit den Folgen eines schweren Schlages verglichen. c) Der brennende Durst, pathophysiologische Ausdrucksform des einsetzenden Kontrollverlustes in der Jellinekschen kritischen Phase, wird abwertend

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durch die Formulierungen »heißes Maul« oder »mit erhitzten Hörnern herumlaufen« gekennzeichnet. d) Die für die chronische Phase charakteristisch quälenden Abstinenzsymptome werden in der Volksauffassung dem Einfluß von Geistern oder fremden Wesen zugeschrieben (andar espirituado). Die daraus entstandene Notwendigkeit, schon frühmorgens trinken zu müssen, bezeichnet man als »den Körper wieder einrenken« oder »den Morgen gestalten«. Die ständige Suche nach Gründen oder Vorwänden, mit denen einige übermäßige Trinker versuchen, ihre Alkoholabhängigkeit zu verstecken, wird sarkastisch als »mit dem blöden Morales zu gehen« bezeichnet, da ihre zwiespältige Moral sie dazu zwingt, ihr soziales Umfeld erfolglos zu belügen. e) Der veränderte Geisteszustand mit akustischen oder visuellen Halluzinationen der Alkoholpsychosen wird so aufgefaßt, daß der Betroffenen mit einem eigenen Rundfunkgerät bzw. Fernseher im Kopf ausgestattet ist. Dies geschieht in Anspielung auf die vermeintlichen Fremdstimmen und die nur für den Betroffenen sichtbaren Gegenstände und Personen, oder aber verallgemeinernd und ernsthafter als in Begleitung von Herrn Luzifer zu gehen, um auf die starke Angstbesetzung des Delirium Tremens hinzuweisen.

Zusammenfassend: Allgemein kann behauptet werden, daß die phänomenologische Wahrnehmung der Beziehung zwischen Mensch und Alkohol seitens der chilenischen Bevölkerung auf der Ebene der alltäglichen Beobachtung ein hohes Entwicklungsniveau erreicht hat und daß dieses sich in der Ausdifferenzierung der Alltagssprache ausdrückt.13 Die zentrale Frage ist also nicht die nach den Gründen, warum ein Viertel der männlichen Bevölkerung über 15 Jahren übermäßig trinkt. Das Denken im Sinne einer linearen Beziehung zwischen Ur13 Unter Berücksichtigung solcher Situationen zeigt die WHO große Vorsicht bei der Definition »problematischer Trinkgewohnheiten« und stellt keine lineare und progressive Beziehung zwischen Intensität und Dauer des Alkoholkonsums eines Individuums und der sozialen, psychischen und physischen Abhängigkeit vom Alkohol her, sondern geht von einer engen gegenseitigen Abhängigkeit mit dem sozialen Umfeld in dem Maße aus, in dem der übermäßige Alkoholkonsum das Individuum, seine Familie oder die Gesellschaft im allgemeinen schädigt (WHO 1978). Dies geht darauf zurück, daß nach vielen fruchtlosen Anstrengungen die WHO Erfahrungen rekapituliert hat, die aufzeigen, daß die Hinführung von Normen zur Regulierung des Alkoholkonsums mittels einer technokratische Sicht den Kern des Problems nicht trifft und daß die guten Absichten einiger Individuen ebenfalls nicht ausreichend sind. Die Wahrnehmung der »Normalität« auf Seiten des Gesundheitspersonals, das normalerweise zufriedenstellende Lebensbedingungen hat, unterscheidet sich von der Wahrnehmung der Alkoholkranken fundamental. Sie sind es, die mehrheitlich unter Bedingungen sozialer Unstetigkeit und ökonomischer Unsicherheit gelebt und dementsprechend für sich andere Werte und Normen entwickelt haben (Marconi 1969; Riquelme 1978). Hier gilt der Spruch »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert«.

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sache und Wirkung, das sich ausschließlich am individuellen pathologischen Prozeß orientiert, muß vielmehr überwunden werden, um folgenden Fragestellungen Raum zu geben: - In welchem Zusammenhang psychokultureller Motivationen findet der Alkoholkonsum gegenwärtig statt? - Wie beeinflussen der sozioökonomische Hintergrund und dessen Perspektiven die individuellen und gruppalen Trinkgewohnheiten? - Besteht zwischen dem individuellen Verlust des »psychosozialen Orientierungssinnes« und dem halb freiwilligen Verlust der Kontrolle über die Trinkgewohnheiten eine Korrelation (eventuell in dem Sinne, daß die Alkoholkrankheit Ausdruck eines gerechten Verlangens des Kranken ist, das sich jedoch nur als globale Verneinung äußert)? - Ist es möglich, einige Kommunikations- und Freizeitformen wiederzubeleben, die aus der Volkskultur stammen, wie z.B. die Musik und das Theater, und die die Entwicklung kultureller Alternativen zum übermäßigen Alkoholkonsum »von innen heraus« ermöglichen? Die thematische Entwicklung dieses Fragenkataloges kann nicht nur auf theoretischer Ebene erfolgen; wir wollen also sehen, welche Erkenntnisse die Sozialanthropologie in diesem Zusammenhang anbietet.

5. Sozialanthropologische Studien über den Alkoholkonsum Forschungsarbeiten über den Begriff von Gesundheit und Krankheit sowie über die Einstellungen zum Alkoholkonsum in verschiedenen Gruppen der chilenischen Gesellschaft sind bisher ausschließlich von Kulturanthropologen durchgeführt worden, insbesondere von der Arbeitsgruppe um Marconi (1970). Ihre Ergebnisse legen dar, daß in Chile mehrere Kulturmuster des Alkoholkonsums existieren, die verschiedenen sozialen Klassen zugeordnet werden können und die auch verschiedenen Auffassungen über Medizin entsprechen. Diese Muster wären: - »Das mitteleuropäische Konsummodell: Dieses Modell entspricht den Mittelschichten und zeichnet sich durch gemäßigten Alkoholkonsum aus: Man trinkt zuhause mit der Familie jeden Tag zum Essen und empfindet Betrunkensein als etwas Unerwünschtes. In dieser Gruppe herrschen zweifellos die europäischen bzw. wissenschaftlichen Normen der Medizin vor, wie sie vom Nationalen Gesundheitsdienst und den medizinischen Fakultäten vertreten werden. Infolgedessen werden die wissenschaftlichen Begriffe der Krankheiten sowie der Arzt und das Personal des Gesundheitswesens als einzige Gesundheitsagenten akzeptiert.«

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»Das mestizisch-chilenische Modell und das Modell der Eingeborenen: In diesen Gruppen betrinken sich die Männer außerhalb ihres Zuhauses mit ihren Freunden bis zum Vollrausch, der als Zeichen der Männlichkeit und Freundschaft positiv bewertet wird. Frauen und Kinder halten sich an ein mäßiges Alkoholkonsummuster, akzeptieren und dulden jedoch die männliche Norm des übermäßigen Konsums. Diese sozialen Gruppen orientieren sich im Unterschied zu den Mittelschichten primär an der Medizin ihrer eigenen Kultur. Hier ist die Krankheit ein magisch verursachter Schaden, der von Neid oder der Verletzung eines Tabus herrührt. Die Diagnose beruht auf Intuitionen, die Behandlung und die Vorsorge gründen sich auf Amulette oder rituelle Zeremonien. Die Curanderas, Meicas und Machis (traditionelle Heilkundige) fungieren als Gesundheitsagenten; die Gesundheitsdienste sind also eine Leistungen der Gemeinde.«

Diskussion: Nach einem jahrzehntelangen Vakuum in der Forschung auf den Gebieten der Medizinanthropologie und transkulturellen Psychiatrie verfügen wir gegenwärtig allein über diese globale Stellungnahmen. Es erscheint heute ziemlich problematisch, eine solch rigide Klassifizierung der cultural patterns des Alkoholkonsums für die chilenische Gesellschaft zu akzeptieren, da diese von verschiedenen kulturellen Einflüssen geprägt wurde und wird, und weil ihr Entwicklungsprozeß keineswegs abgeschlossen ist. Abgesehen von der Fragwürdigkeit einer scheinbar definitiven Klassifizierung, muß auch berücksichtigt werden, daß die Ebenen der Analyse und die Begriffe, die bei dieser Klassifizierung verwendet werden, eine funktionalisierte Abbildung der Schule sind. Sie wurden deshalb hervorgebracht - mit all ihren Stärken und Schwächen - , um die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Sichtweise dieser Schule nicht als dynamischen Prozeß aufzufassen, sondern um die Begrifflichkeit »eingefroren« wirken zu lassen. Aus diesem Grunde stellt diese Klassifizierung ein Bild kastenmäßig bedingter Eigenschaften und verschiedener Einstellungen der Bevölkerung zum Prozeß von Gesundheit/Krankheit und dem Alkoholkonsum dar. Jeder kann darin den Platz aufsuchen, der ihm in dieser Ordnung der Dinge scheinbar zukommt. Die hier verwendeten Kategorien entstammen allerdings einer durchaus getreuen Übertragung aus den Naturwissenschaften, und es ist bekannt, daß die Anpassung naturwissenschaftlicher Kategorien an andere wissenschaftliche Bereiche, wie z.B. den Sozialwissenschaften, im allgemeinen zu reduktionistischen Ergebnissen führt. Diese Klassifizierung ermöglicht also nicht den Zugang zur Dialektik des »Alkoholisierungsprozesses« (Menendez 1984), der in Chile eine lange Tradi-

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tion hat und über eine diversifizierte kulturelle Grundlage in der Mehrheit der Bevölkerung verfügt. Auch kann die Entwicklungsform des kulturellen Synkretismus in der Volkswahrnehmung von Gesundheit und Krankheit im Rahmen der eigenständigen kulturellen Entwicklung und der äußeren wirtschaftlichen und kulturellen Einflüsse so nicht erfaßt werden (Arbeitsgruppe Basisgesundheitsdienste 1980; Riquelme 1982; Didier 1981). Trotz ihrer Begrenzung haben diese Arbeiten der Kulturanthropologie eine erste theoretische Annäherung der Gesundheitsexperten an die Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen gegenüber der Gesundheit und dem Alkoholkonsum ermöglicht. Indem kulturelle Aspekte berücksichtigt worden sind, zum Beispiel in Bezug auf den übermäßigen Alkoholkonsum und seine Folgen, haben sie dazu beigetragen, den Ethnozentrismus im naturwissenschaftlichen Denken ansatzweise zu überwinden, da die Ausbildung und die Berufspraxis der akademisch gebildeten Gesundheitsagenten bis dahin auf nur sehr engen Pfaden wandelte, wenn es um die Berücksichtigung sozialer Phänomene ging. Gegenwärtig ist es so, daß die fast zwei Jahrzehnte währende Aussparung sozialer und kultureller Themen in der medizinischen Wissenschaft, die auf die Unterordnung der Universität unter das chilenische Militär zurückgeht, einen uneingeschränkten und kreativen Suchprozeß notwendig machen: Wenn sich Wertmaßstäbe aus anderen Kulturen nicht auf die chilenische Realität übertragen lassen, so müssen eigene Wertmaßstäbe entwickelt werden, anstatt die Realität weiterhin in neue epistemologische Zwangsjacken zu pressen. Schließlich muß deutlich gemacht werden, daß eine derartige Klassifizierung sozialer Gruppen, verbunden mit der Wahrscheinlichkeit, alkoholkrank zu werden, zu einer nihilistischen Sichtweise der sozialen und therapeutischen Situation des Alkoholproblems in Chile führen kann, indem bei dem Gesundheitspersonal der Eindruck erweckt wird, daß der Alkoholismus ein Problem endemischen Charakters darstellt (Riquelme 1980 und 1981) und als ein »natürliches Übel« akzeptiert werden muß, dem diese Bevölkerung ausgeliefert ist.14

14 Seltsamerweise haben sich neuere Studien über die Epidemiologie der Leberzirrhose in Chile gegen eine strikte kastenmäßige Klassifizierung von Trinkgewohnheiten und Gesundheits- und Krankheitsbegriffen gewendet (Medina, Kaempfer 1974). Diese Studien stellen vielmehr fest, daß bei dieser Todesursache keine großen sozialen Statusunterschiede zu verzeichnen sind, sondern daß sie in viel stärkerem Maße mit dem Urbanisierungsgrad zusammenhängt. In den Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern tritt die Krankheit doppelt so häufig auf. Im Gegensatz dazu scheint das Niveau des Analphabetismus - obwohl nichts darüber ausgesagt wird, ob hier der funktionale Analphabetismus mitberücksichtigt wird - keinen unmittelbaren Einfluß auf das Auftreten der Leberzirrhose zu haben.

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6. Forschungsperspektiven für die Untersuchung des Verhältnisses von Alkohol und Gesellschaft in Chile Auch wenn hervorgehoben werden muß, daß Chile eines der Länder ist, in denen die Statistiken über den Alkoholismus sorgfältig zusammengestellt werden, so daß wir über »harte Daten« verfügen, kann dasselbe jedoch nicht für die spezifischen Auswirkungen auf das Alltagswissen behauptet werden. Da der übermäßige Alkoholgenuß einen integralen Bestandteil der sozialen und kulturellen Aktivitäten bildet, sind die am Schreibtisch entworfenen Programme, mit denen kurzfristig das Alkoholismusproblem in der Bevölkerung gebändigt werden soll, schon im voraus zum Scheitern verurteilt. Aus einer historischen Perspektive müssen einige Projekte erwähnt werden, in denen sich die psychosoziale Gemeindearbeit dezidiert mit dem Alkoholkonsum und den Kommunikationsproblemen der Gemeinde auseinandergesetzt hat. Dazu gehören die Arbeiten, die im Süden Santiagos unter der Leitung von Dr. Marconi durchgeführt worden sind: in Concepción die »Brigade für die Arbeiterbefreiung« (Barudy; Vásquez 1972), in einer etwas allgemeineren Form die »Gruppen für thematische Forschungsarbeiten« in der »Pädagogik der Befreiung« von P. Freire und seiner Arbeitsgruppe, sowie insbesondere die Arbeit des Zentrums für soziale Medizinanthropologie in Santiago (Elgueta; Chelén 1977) während der Regierungszeit von Allende. Die Mitarbeiter dieses Zentrum hatten sich vorgenommen, die Gesundheit und die Gesundheitsprobleme in einem globalen Zusammenhang zu untersuchen, d.h. unter Berücksichtigung der sozialen, psychologischen, kulturellen und ökonomischen Aspekte. Auch die Berufsausübung im Gesundheitswesen selbst war, aus der Perspektive der soziokülturellen Dynamik, Gegenstand ihrer Untersuchung. Die Mitglieder des Zentrums haben zwar nicht den Grad an theoretischer Reife erlangt, der es ihnen ermöglicht hätte, ihre methodologischen Postúlate und ihren begrifflichen Bezugsrahmen deutlicher zu machen. Die Militärdiktatur beendete ihre Aktivitäten radikal. Jedoch ist es ihnen gelungen, die Grundthemen ihrer Arbeit zu spezifizieren, unter anderem folgende: - die neue Volkskultur, - der Alkoholismus und die ihn bedingende politischen, ökonomischen und soziokulturellen Faktoren, - Sexualität und Familie, die Befreiung der Frau, Probleme des »Machismo«, der proletarischen Familie, - Probleme der Jugend in einer Gesellschaft, die sich im Übergang zum Sozialismus befindet. Andererseits wurde die Forschungsarbeit als langfristiges Unternehmen angesehen, da die Mitarbeiter des Zentrums sich darum bemühten, mit der Bevölke-

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rung symmetrische, d.h. horizontale Beziehungen aufzubauen, um so einen gegenseitigen Lernprozeß zwischen der Bevölkerung und den Akademikern zu fördern. Diese Sichtweise ist für die sozialwissenschaftliche und psychokulturelle Forschung in der Gemeinde weiterhin gültig. Sei es für Arbeiten über den Alkoholkonsum im besonderen oder die Förderung der seelischen Gesundheit im allgemeinen. Die Forschungsarbeit in der Gemeinde hat eine ethische Dimension und kann nur dann sinnvoll durchgeführt werden, wenn sie als unmittelbarer Kommunikations- und ständiger Lernprozeß aller Beteiligten aufgefaßt wird und wenn sie versucht, die soziale und kulturelle Wirklichkeit, z.B. die Formen des Alkoholkonsums, aus einer qualitativen Betrachtungsweise zu sehen und zu begreifen.15 Eine Forschungsarbeit dieser Art würde sinnigerweise folgende Interessenschwerpunkte setzen: 1) Die Feststellung spezifischer (mikrosozialer) Situationen, in denen der Alkoholkonsum in einer Gemeinde stattfindet; 2) die Untersuchung der Motivationen, Bedürfnisse und Verhaltensformen der Personen oder Gruppen, die sich als übermäßige Trinker oder als Abstinenzler bezeichnen; 3) die systematische Beobachtung der kulturellen Ausdrucksformen, ob sie nun in direktem Bezug zum Alkoholkonsum stehen oder nicht, um die Erarbeitung von Alternativen gemeinsam mit der Bevölkerung voranzutreiben; 4) die Analyse des bestehenden Verkaufs von Alkohol, innerhalb und außerhalb des gesetzlichen Rahmens, als Erkenntnisquelle über die sozioökonomischen Interessen, die in der chilenischen Gesellschaft mit dem Alkohol zusammenhängen; 5) die Untersuchung der staatlichen Gesundheitspolitik in Bezug auf die ärztliche und soziale Dimension des Alkoholismusproblems; 6) die Erprobung und die Entwicklung von Methoden vergleichender psychokultureller Gesundheitsforschung, wie z.B. das offene Interview, das narrative Interview, die teilnehmende Beobachtung und das biographische Interview. Auf dieser Grundlage wäre es möglich, spezifische mikrosoziale, symbolische und kulturelle Interaktionsprozesse situativ zu rekonstruieren, in denen die soziale Aktivität des Alkoholgenusses stattfindet. Das methodische Ziel wäre der Zugang zu einem »Deutungsparadigma«, das die Kommunikation zwischen den Teilnehmenden an der Gruppenarbeit er15 Bei der Behandlung des Themas der Interaktion zwischen Mensch und Alkohol muß von Anfang an auf alle moralisierenden Aspekte des ärztlichen Diskurses verzichtet werden, da diese die Kommunikation hierarchisieren und die Interaktion in Aktivismus verwandeln und instrumentalisieren und so einem tiefergehenden Verständnis des SAnderen« entgegenwirken (Menöndez 1991).

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leichtert sowie die Entwicklung von didaktischem Material »aus dem Inneren der Volkskultur heraus«. So könnte die psychokulturelle Verwurzelung der alltäglichen Zweideutigkeiten durchleuchtet werden, die den »alkoholisierenden Kulturdruck« in Chile umgeben. Es könnte so eine größere Klarheit über das Problem gewonnen werden, vor allem aus der Sicht der Personen, die an diesem psychokulturellen Prozeß teilnehmen.

Historischer Exkurs Seit über 50 Jahren wird festgestellt, daß der übermäßige Alkoholkonsum das größte Problem der Gesundheitsversorgung in Chile bildet. Aus diesem Grunde sind eine Reihe von gesundheitspolitischen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung entwickelt worden. Eine dieser Maßnahmen war das sogenannte »Nationale Programm zur Kontrolle des Alkoholismus und der Alkoholprobleme« aus dem Jahre 1957, das für den damaligen Umgang des Gesundheitsdienstes mit der Problematik als exemplarisch gelten kann. Dieses Programm wurde von Experten des Nationalen Gesundheitsdienstes von Chile (SNS) und der WHO koordiniert und man hatte sich vorgenommen, strikt auf der Grundlage biomedizinischer und administrativer Kriterien zu arbeiten und das Problem auf der Ebene der Gemeinde anzugehen. Auf diese Weise sollte ein Zentrum pro 100.000 Einwohnern aufgebaut werden, das, sobald es seine Arbeit aufnahm, ipso facto in den »Verein geheilter Alkoholiker« aufgenommen werden sollte (SNS 1965). Für die Öffentlichkeitsarbeit des Programms, das die Bevölkerung zur Teilnahme motivieren sollte, wurden Fotografien und Druckschriften verwendet, in dem die pathophysiologischen Auswirkungen des übermäßigen Alkoholkonsums auf den menschlichen Organismus dargestellt wurden. So wurden beispielsweise Großaufnahmen und Mikroskopfotos einer von Zirrhose befallenen Leber gezeigt, eine medizinische Beschreibung der Alkoholpsychose gegeben etc. Damit wurde beabsichtigt, das Bewußtsein über die Gefahren übermäßigen Alkoholkonsums anhand der Begleitpathologien zu schärfen, die beim Individuum hervorgerufen werden. Der konzeptionelle Vergleich dieser Strategie mit den Maßnahmen, die normalerweise getroffen werden, um eine Infektionsepidemie zu bekämpfen, ist sicher zutreffend. Die unterschiedliche Wahrnehmung, die die Bevölkerung vom Alkoholkonsum und seinen Folgen hat, erklärt die Tatsache, daß dieses Programm nur auf ein geringes Echo gestoßen ist, da in zehn Jahren nur 25 solcher Zentren gegründet wurden. Obwohl die behandelten Alkoholiker eine Vereinigung bildeten, gelang es nicht, die offensichtlichen Gleichgültigkeit der Mehrheit der Bevölkerung zu durchbrechen und die biologische Sichtweise des Problems

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durchzusetzen. Der Ansatz selbst führte dazu, daß die Teilnehmer an diesem Programm von der allgemeinen Bevölkerung isoliert wurden, da die medizinische Behandlung zumeist auf individueller Basis stattfand. Andererseits war auch das Interesse der beteiligten alkoholkranken Patienten starken Fluktuationen unterworfen. Das Programm sah weder eine sozio-kulturelle Integration noch einen inneren Partizipationsmechanismus für die Teilnehmenden vor. Insgesamt gelang es nicht, relevante Perspektiven für eine integrale Lösung des Problems anzubieten. Erst gegen Ende der sechziger Jahre entstand bei einem Teil des Gesundheitspersonals und den Studenten der medizinischen Berufe eine neue Wahrnehmung des Alkoholproblems. Die Überzeugung, daß die prekäre Situation, in der die Mehrheit der Chilenen lebt, nur mit Hilfe einer Sozial- und Gesundheitspolitik überwunden werden kann, die sich an der Befriedigung der Grundbedürfnisse orientiert, führte zur Formulierung verschiedener Gesundheitspolitiken im politischen Programm der Volksfront (Parteizusammenschluß, der 1970 zur Wahl Allendes führte). Dieses Programm sah vor, die politischen, sozialen und ökonomischen Grundvoraussetzungen für eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft herzustellen. Von den vierzig ersten Maßnahmen des Regierungsprogramms der Unidad Popular unter dem Präsidenten Salvador Allende betrafen sieben das öffentliche Gesundheitswesen. In Bezug auf das Alkoholproblem sah das Programm der Volksfront vor, daß zu seiner Bekämpfung Maßnahmen gefördert werden sollten, die auf die lokale Realität und auf Eigeninitiativen der Bevölkerung Bezug nehmen, anstatt sich auf einen breitgefächerten und oberflächlichen Apparat zu stützen. In diesem konzeptionellen Rahmen und mit der Unterstützung von Mitgliedern der Universität von Concepción und dem nationalen Gesundheitsdienst (NGD) wurde in den Elendsvierteln dieser Provinz eine Kampagne gegen den Alkoholismus in Gang gesetzt. Sie begann 1968 und wurde 1973 durch den Militärputsch beendet. Nach fast 20 Jahren bewahrt diese Kampagne weiterhin einen exemplarischen Charakter, da sie versuchte, eine Zusammenarbeit zwischen Elendsviertelbewohnern, dem Gesundheitspersonal und Studenten herzustellen, die auf gegenseitigem Verständnis und Solidarität beruhte. Die Studenten definierten sich als Mitträger des Projektes, ihre konzeptionelle und aktionsorientierte Prämisse war die, daß die Armut, die gesellschaftliche Entfremdung und der Fatalismus des Volkes, die Erfahrungsgrundlage für den übermäßigen Alkoholkonsum und die Alkoholkrankheit bilden. Diese Problematik konnte also nur im Rahmen eines globalen Veränderungsprozesses bekämpft werden. Die Schulbildung sollte ausgehend von Paulo Freire (1969) kein Instrument der Domestizierung bilden, sondern im Gegensatz dazu zu einem Instrument der Befreiung der Teilnehmer werden. Dafür mußten mitwirken:

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-

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die Universität, als Träger von Kultur und Erziehung, die Gesundheitsdienste, insofern sie sich vom Bürokratentum und abstrakter Verwaltung lösen konnten, die Gemeinde als Mitträgerin der Kultur und aktiv Teilnehmende am gesellschaftlichen Werdegang.

Auf diese Weise sollte der soziale Dialog gefördert und der »institutionelle Autismus« durchbrochen werden. Das Mißtrauen zwischen der Bevölkerung und den Gesundheitsinstitutionen sollte abgebaut werden. Dies machte erforderlich, daß die drei bereits genannten Einheiten schrittweise die bestehenden Asymmetrie in der Kommunikation abbauten, um die Grundlagen für eine neue Partizipation zu schaffen. Die Aktivitäten der Elendsviertelbewohner und der Studenten in dieser Kampagne, die bis 1973 in den Polikliniken der Peripherie von Concepción stattfand, können als eine konkrete Umsetzung dieser neuen Auffassung der medizinischen Prävention betrachtet werden. Neben der Kampagne gegen den Alkohol wurden in den Polikliniken auch Aktivitäten zur primären und sekundären Vorbeugung durchgeführt. In der Kampagne verwandelte sich der Alkoholkranke in die zentrale Figur der gemeindlichen Interaktion mit dem Gesundheitswesen. Er diskutierte in der Gruppe seiner Freunde mit den akademischen und technischen Mitgliedern des Programms über die Bedingungen des kulturellen und sozialen Ursprungs des übermäßigen Alkoholkonsums, sowie über ambulante Behandlungsformen und insbesondere über die Kriterien, nach denen entschieden wurde, ob jemand zur ärztlichen Untersuchung geschickt werden mußte, oder ob er sich auf die Unterstützung seitens der Gemeinde verlassen konnte. Er verfügte als Alkoholexperte über Grundinformation für die solidarischen Gesundheitserziehungsmaßnahmen in der Gemeinde. Er hatte so eine Funktion inne, in der die Gemeinde ihn akzeptierte, da seine Erfahrungen, seine kulturellen Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen und seine Lebensbedingungen in Armut, denen der Nachbarn und der zu behandelnden Alkoholiker ähnelten. Da er eine gemeinsame Sprache mit ihnen teilte, war der neue Lehrer für Fragen des Alkoholkonsums in derselben Lebenswirklichkeit verwurzelt wie die Alkoholkranken. So konnte die Behandlung auf eine Weise begleitet und motiviert werden, wie es für einen Arzt von außerhalb unmöglich gewesen wäre, auch wenn er mit den besten Absichten gekommen wäre. So gelang es dem Programm nicht nur, gleichberechtigtere Strukturen der Gesundheitsversorgung zu entwickeln, sondern auch die Rolle der Gemeinde an der Gesundheitsversorgung als teilnehmenden Akteur neu zu definieren. Auch die Rolle des Gesundheitspersonals wurde neu bestimmt, indem ihnen Funktionen in der Gemeinde als Erzieher und Koordinatoren der Gesundheitsversorgung zugeteilt wurden. Dieser Ansatz erwies sich für alle Beteiligten als

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eine Möglichkeit der konkreten Beeinflussung jener Bedingungen, die den Alkoholismus förderten. Für den alkoholkranken Elendsviertelbewohner hatte eine selbstbestimmte Aktivität stattgefunden, in der er für sich eine kritische Reflektion des Alkoholproblems in einem adäquaten sozialen Kontext leisten konnte, also in seiner eigenen Sprache und Denkweise, und wobei er Unterstützung der Gemeinde und die Solidarität der Studenten erfuhr. Diese Kampagne beruhte auf folgender Grundauffassung: a) Der Alkoholismus als solcher kann weder im Sinne eines moralisierenden Idealismus, noch im Rahmen biologistischer Abstraktionen, geschweige denn unter den Zeichen von Anonymisierung der unmittelbar Betroffenen angegangen werden; b) der bevorzugte Behandlungsort darf nicht im Krankenhaus, sondern muß innerhalb der Gemeinde angesiedelt werden und c) die Kampagne stützt sich vorrangig auf den Dialog zwischen der Gemeinde, dem NGD und der Universität - damit die Betroffenen nicht als Behandlungsobjekte gelten und die akademischen Mitarbeiter und die Angestellten des Gesundheitsdienstes die spezifische Realität vor Ort als ihr wichtigstes Aktionsgebiet unmittelbar kennenlernen. Diese Erfahrungen wurden, wie allgemein bekannt ist, durch den Militärputsch brutal unterbrochen. Wir halten es für wichtig, die Erinnerung an diese Erfahrungen in unserem sozialen Gedächtnis zu reaktivieren, damit Grundlagen für gemeinsame Anstrengungen mit der Bevölkerung neu geschaffen werden.

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Alkoholkonsum und Alltagskultur in Chile

Tafel 1

Mortalität aufgrund von Leberzirrhose in ausgewählten Städten*

Alkoholismus und Städte

Leberzirrhose Männer

Santiago de Chile Mexico City San Francisco (USA) Guatemala City Caracas La Plata (Arg.) Sao Paulo Lima Bogotá Riberai Presto (Brasil.) Cali (Kolumbien) Bristol (Großbritannien)

152 110 76 38 24 22 21 20 15 15 14 2

Frauen

45 37 47 13 6 4 4 9 9 5 7 2

Alkoholikerpsychose Männer

22 14 8 53 3 7 12 6 2 8 4 0

Frauen

2 2 5 3 1 1 2 1 1 4 1 0

* Die Zahlen beziehen sich auf den Anteil je 100.000 Einwohner zwischen 15 und 74 Jahren. Quelle: Puffer, R. et.al.: The Inter-American Investigation of Mortality/ (mimeographed), P.A.H.0.1965

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Vodou und psychosoziale Gesundheit in Haiti

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Vodou und psychosoziale Gesundheit in Haiti Fast zweihundert Jahre nach der ersten erfolgreichen Sklavenrevolution der Weltgeschichte und Proklamation der haitianischen Unabhängigkeit (1804) nimmt »Vodou« einen weiterhin wichtigen Stellenwert im Alltagsleben breiter Bevölkerungskreise der Karibikrepublik ein. Neben dem durch Verfassung und Regierungspolitik protegierten Katholizismus und den landesweit operierenden protestantischen Sekten bietet Vodou, ein Amalgan von Glaubensvorstellungen und rituellen Praktiken aus Religionen Westafrikas und französischem Katholizismus, vor allem für Angehörige der marginalisierten, entrechteten und armen Bevölkerungsmehrheit, einen Zufluchtsort. Auch spielt Vodou eine wichtige Rolle für Exilhaitianer in Brooklyn, Miami, Montreal und Paris. Während allein das Wort Vodou, übrigens nicht allein in seinem »Stammland«, sondern auch im Westen, eine reiche Imagination zutage fördert und mit notorischen Vorurteilen, Ängsten und einem ausgesprochenem Exotismus belegt wird, sind die Erlangung von Schutz, Kraft und Heilung sowie der Dienst an den Ahnengeistern die eigentlichen Motive aus der Sicht der Gläubigen selbst. Die große Zahl von Veröffentlichungen über den haitianischen Vodou haben dessen psychosoziale Bedingung und Funktion der religiösen Praxis oft ausgespart, obwohl der haitianische Vodou seit mehr als einem Jahrhundert im Zentrum des Interesses von Literaten unterschiedlicher Reputation und Motivation steht. Neben dem häufig rassistischen, romantischen oder sensationalistischen Charakter zahlreicher Beschreibungen »fremdartiger« Rituale und Zeremonien in der Populärliteratur existieren nur wenige, zumeist neuere Arbeiten über den haitianischen Vodou aus ethnologischer und religionsethnologischer Sicht (cf. Price-Mars 1937, Herskovits 1937, Metraux 1958, Horbon 1987c, Maximilien 1945). Erst in jüngster Zeit richtete sich das Interesse vermehrt auf die psychosozialen und medizinischen Funktionen der Vodou-Praxis. Verschiedene Arbeiten belegen inzwischen die wichtige Funktion des Vodou als komplementärmedizinisches System (Murray und Alvarez 1973, Sommerfeld 1990, Pressel 1987, Harvey 1988). Diese Rolle trifft im besonderen Maße auf die Behandlung psychischer Krankheiten zu, die von modernen Institutionen oft nicht hinreichend erfaßt werden. Ätiologievorstellungen und Krankheitsbe-

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griff der vodougläubigen Bevölkerung und der westlichen Psychatrie divergieren häufig und es werden zunächst Vodouheiler und -heilerinnen (oungan, manbo) aufgesucht, die oft schnellere oder bessere Heilerfolge erzielen (Philippe 1985). Über die kurative Funktion hinaus hat die Vodoupraxis möglicherweise, aus Sicht und Erfahrung der Vodougläubigen, präventive Funktionen. Es scheint, als sei seine weiterhin große Bedeutung in Haiti insbesondere aus seiner Funktion als stabilisierendes psychosoziales Medium heraus zu verstehen. In diesem Beitrag soll der bisher eher vernachlässigten Frage, ob die Vodoupraxis in Haiti die »psychische Gesundheit« fördert, nachgegangen werden. Unerläßlich für ein Verständnis der Vodoupraxis im heutigen Haiti ist eine historische Einordnung des Phänomens. Der Vodou entstand im Kontext der ersten erfolgreichen Sklavenrevolution vor 1804 in Afrika, also lange bevor dieser Kontinent kolonisiert wurde. Abkömmlinge der verschiedensten ethnischen Gruppen Afrikas verbanden einige religiöse Praktiken mit Elementen des Katholizismus, des europäischen Volksglaubens und magisch-religiösen Systemen Europas, wie der Freimaurerei, zu einem synkretistischen Glaubens- und Praxissystem. In der gesellschaftlichen Situation der Kolonie Saint-Domingue besaß der Vodou die Funktion eines Gegenmodells zu der herrschenden Magie der Weißen und trug als revolutionäre Ideologie dazu bei, das Macht- und Unterdrückungssystem der Weißen zu untergraben, um es letztendlich stürzen zu können (cf. Laguerre 1989). Der Vodou der frühen Stunden wurde dabei maßgeblich von sogenannten Marron-Sklaven getragen, die aus den Kolonialplantagen in die Berge geflohen waren, um von dort aus ihren Untergrundkampf gegen die Franzosen führen zu können. Es ist wichtig, die unterschiedlichen kulturellen Tendenzen im heutigen Haiti aus dieser geschichtlich angelegten Gesellschaftsstruktur abzuleiten. Tatsächlich imitieren die dominanten Schichten der Gesellschaft (Politiker, Militärs und die Bourgeosie) die französische Lebenswelt, den Katholizismus, das Französische und die europäische Lebensart, während die breite Bevölkerungsmehrheit (Bauern, Arbeiter und Teile der Mittelklasse) eine afrikanisch geprägte Kreolkultur und den Vodou als ihr Leitbild ansehen. Politische und ökonomische Macht wird aus der Sicht der haitianischen Bevölkerungsmehrheit vor allem durch die Magie des Vodou getragen und erhalten (Hurbon 1979,1987a, b, Laguerre 1989). Nicht erst seit den Tagen von Francois Duvalier weiß man, daß führende Vodoupriester und -priesterinnen Teilhabe an der politischen Macht hatten und haben. Führende Militärs und Politiker sind bekanntermaßen nicht nur »kaschierte« Vodoupraktiker sondern auch Freimaurer. Es wird daher deutlich, daß der haitianische Vodou nicht allein aus einer phänomenologischen, mikro-orientierten Sichtweise heraus analysiert werden kann. Er muß auch im Kontext der haitianischen Geschichte, Gesellschaftsstruktur und der politischen Ökonomie des Landes betrachtet werden. Heuri-

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stisch für das Verständnis der im heutigen Haiti zu beobachtenden kulturellen Tendenzen der Bevölkerungsmehrheit ist das Konzept der kulturellen marrottage, das der haitianische Religionssoziologe Laennec Hurbon (1987a, b) propagiert. Hurbons vergleicht den Rückzug in kulturelle »Nischen«, inklusive Vodou mit dem historischen Phänomen der marronage, der Flucht der Sklaven von der Plantage. Er zeigt die Bedeutung der Erklärungsmodelle, die Vodou seinen Adepten angesichts einer dualen Gesellschaftstruktur vermittelt, die der Kolonialgesellschaft von Saint-Domingue sehr ähnlich ist. Paradoxerweise ist »Vodou« kein gängiger Brgriff im Wortschatz der Vodougläubigen und des Vodou-»Klerus« (outigan, manbo) selbst. Während das Wort mit Tanzformationen eines spezifischen Ritus asoziiert wird, spricht man im Hinblick auf die in der Literatur als Vodou bezeichneten magisch-religiösen Praktiken von einem »Dienst an den Iwa« (sevis Iwa). Der Vodougläubige begreift und erfährt Iwa als spirituelle Kraft einer unsichtbaren Welt, die die Lebenden umgibt. Iwa sind für ihn Mächte, die aus guten wie bösen Totengeistern hervorgegangen sind. Sie gelten als intrafamiliär und manifestieren sich im Traum, in der Krankheit und in der Trance, um mit den Lebenden zu kommunizieren. Vodou und Katholizismus sind hier komplementär: »Um den Iwa dienen zu können«, wird in Haiti gesagt, »muß man Katholik sein« (Metraux, zit. in Philippe 1985: 49). Für den Gläubigen bedeutet die Praxis des Vodou einen lebenslangen Dienst an den Iwa. Der haitianische Vodoupraktiker begründet diese Unterwerfung mit dem Schutz (proteksyon) und der Verheißung von Glück (chans), die die Iwa ihm angesichts einer Gesellschaft vermittelt, in der das Alltagsleben und Überleben ein Höchstmaß an Improvisation und Strategietalent nötig machen. Iwa jedoch sind, so erklären die Vodougläubigen in Haiti, launisch. Sie können den Adepten einerseits schützen und ihm im Traum und in der Trance entscheidende Hinweise für sein Alltagsleben vermitteln. Sie können ihn jedoch bei Ungehorsam auch krank machen (vgl. Sommerfeld 1990: Kapitel VI). Die Gleichsetzung des Vodou mit einem Geheimkult beruht darauf, daß außenstehende Beobachter ihre Darstellungen in den meisten Fällen auf spektakuläre Zeremonien des öffentlichen Vodou beziehen, obwohl sich der in den Vodoutempeln zelebrierte Kult vollkommen von dem familiären Vodou unterscheidet. Familiärer Vodou - das ist der Dienst an Iwa fanmi, intrafamiliär vererbten spirituellen Kräften und ihre Umsorgung, u.a. durch Opferrituale (manj*Iwa). Diese werden im traditionserhaltenden Familienverband, der sogenannten Guines-Familie (fanmi ginen), ausgeführt und sind u.a. ein Mittel, die Gruppenkohäsion von der Familie zu stärken, deren Mitglieder zum Teil über die ganze Welt verstreut leben.

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Öffentliche Vodouzeremonien hingegen sind für den Vodoupraktiker vor allem ein lustvolles, ästhetisches Ereignis. Die Lebenskunst und -lust, die in ihnen zum Ausdruck kommt, läßt, wie der haitianische Ethnopsychiater Louis Mars (1953) bemerkt, den Vergleich mit einem »dionysischen Fest« zu. Die Trance oder besser Ergriffenheit durch einen Iwa ist eines der, aus westlicher Sicht, spektakulärsten Phänomene des Vodou (vgl. Bourguignon 1970, Walker 1972). Sie läßt sich aus dem Persona-Konzept des Vodou erklären. Die menschliche Person wird diesem zufolge aus dem Körper (ko kadav, wörtl.: Leichenkörper) und zwei spirituellen Prinzipien konstituiert. Eines, das ti bort atij (wörtl.: kleiner guter Engel) wird als schützende Instanz angesehen, die sich im Traum und in der Trance vom Körper ablösen kann und der Moral unterworfen ist. Das andere, das gwo bon anj (wörtl.: großer guter Engel) entspricht der Lebenskraft, die dem Menschen von der Zeugung an eingegeben ist. Bei der Trance kommt es zu einer Dissoziation der Persönlichkeitsanteile, die zwar eine Kontinuität des Körpers und des gwo bon anj sicherstellt, nicht aber den Fortbestand der persönlichen Alltagsidentität, des Gedächtnisses und der Eigenverantwortlichkeit für Handlungen, die der Iwa ausführt. »Wenn der Iwa Dich besteigt«, sagte mir eine Vodouanhängerin, »weißt Du nichts. Du bist wie verwandelt. Du fühlst große Stärke in Dir. Wenn er Deinen Kopf aber verlassen hat, fühlst Du dich wie ein Toter. Du fühlst Dich sehr sehr traurig.« Der Vodougläubige erfährt sich in der zeremoniellen Trance als Teil des Kontinuums zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Der Vodougläubige wird gewissermaßen »leibhaftig« zum sog. »Pferd« (chwal) der jeweiligen spirituellen Kraft, die ihn »besteigt« und »in seinem Kopf tanzt«. Der Iwa nimmt den Platz des ti bon anj ein, das das Individuum im Alltagsbewußtsein begleitet und schützt, das aber als vom Körper ablösbar betrachtet wird. Trommelrythmen und Lieder, mit denen auf Zeremonien bestimmte Iwa angerufen werden, wirken als Auslöser der Trance. Das zugrundeliegende Motive für diese Vodoupraxis liegt für den Teilnehmer jedoch nicht in bewußter »Psychohygiene«. Er begreift die Manifestation der Iwa als »starke«, positive sanktionierte Magie, die sowohl das Individuum als auch das Kollektiv vor Krankheit, Unglück und Verarmung schützen soll. Es ist jedoch anzumerken, daß Trance kein unabdingbares Phänomen der Vodoupraxis ist. In Vodou-Zeremonien, die nur ein Teil des Vodou sind, ist die Ergriffenheit durch die vom Vodoupriester angerufenen Iwa zwar gewünscht. So gibt es Vodoupraktiker, die regelmäßig von Iwa ergriffen werden, andere hingegen nehmen an Vodouzeremonien teil, ohne je von einem Iwa besessen zu werden. Die Frage, ob Bessenheit pathologisch oder normal sei, war von Seiten der Wissenschaft lange heftig umstritten gewesen. Selten wurde allerdings gefragt, ob die Ergriffenheit auch gesundheitsförderlich sein kann. Eine Reihe von Autoren deuteten die Trance, den kurzfristigen Ersatz der Ich-Identität durch den

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Iwa, als Ausdruck psychopathologischen Verhaltens (Douyon 1967). Der haitianische Psychiater Dorsainvil (1931) sah beispielsweise die Vodou-Trance als Ergebnis einer rassisch bedingten »Psychoneurose«. Im Zuge des Indigenismus, einer Kulturbewegung, die angesichts der amerikanischen Präsenz die afrikanischen Wurzeln der haitianischen Volkskultur wiederaufwertete, wurde dieses rassische Argument durch haitianische und nicht-haitianische Ethnologen widerrufen (Price-Mars 1928, Mars 1953, Bourguignon 1970). Eine Reihe von freudianisch orientierten Psychiater haben Dorsainvil's These jedoch in den 60er und 70er Jahren - in den Anfängen der Ethnopsychiatrie - wiederaufgegriffen. Die haitianischen Psychiater Emerson Douyon und Lamarque Douyon (E. Douyon 1968, L. Douyon 1967) sowie Bijou (1966, 1976) verstanden die Trance als eine infantile Fluchtreaktion, die eine angstbestimmte, gestörte und depressive Persönlichkeit voraussetzt. Ethnopsychiater der frühen Stunden wie Wittkower (1964), Kiev (1961 a, b) und Sargant (1967) haben diese Einschätzung weitergeführt. Wittkower verglich die Trance mit westlichen psychiatrischen Termini; mit hypnotischen Zuständen, Epilepsie und Hysterie. Die Trance diene, so argumentierte er und Kiev, nicht nur unterdrückten libidinösen und agressiven Bedürfnissen des Es sondern auch als Sicherheitsventil für das in materieller und psychischer Drangsal befindliche Über-Ich. Heute versucht man diesen Diskurs zu überwinden, indem auch in der Wissenschaft davon ausgegangen wird, daß Trance, Trommelrythmen und Vodoupraxis durchaus sog. »psychohygienische« Funktionen haben können (vgl. Rouget 1985, Csordas 1987, Walker 1972, Lex 1976). Tatsächlich läßt sich über die Erklärung der transpersonalen Erfahrungen des Vodougläubigen vermuten, daß die Zeremonialpraxis des Vodou, die eher eine Form der Lebenskunst darstellt als eine kollektive Psychoneurose, stabilisierend auf das körperliche Abwehrsystem des Gläubigen wirkt. Diese präventive Funktion der Vodoupraxis könnte durch psychoneuroimmunologische Forschungen bestätigt werden. Der Vodou fungiert neben seinen offensichtlichen präventiven Funktionen auch als ein kuratives Heilsystem. Es ist sogar anzunehmen, daß die Funktion des heutigen Vodou in erster Linie im medizinischen Bereich liegt (Murray und Alvarez 1973). Begründet wird die Bedeutung der Vodouheilung aus der Erfahrungstatsache, daß es bestimmte Krankheiten gibt, die mit schulmedizinischen Mitteln nicht behandelt werden können. Zwar gehen die meisten Krankheiten im Sprachgebrauch der Gläubigen »auf göttlichen Willen« zurück, d.h. auf eine im westlichen Verständnis »natürliche Ätiologie«. Übernatürliche Krankheiten werden jedoch auf den Einfluß von sog. Übeltätern (malßkti) zurückgeführt. Die Krankheiten, die heute in Haiti an Vodouheiler deligiert werden, sind vielfach Folge der gesellschaftlichen Widersprüche: Eines der am häufigsten beklagten kulturspezifischen Krankheitskonzepte bezieht sich auf die Entsendung eines Totengeistes auf ein Opfer. Der schadensmagische Akt, der dieser

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Krankheit zugrundeliegt, führt aus der Sicht des Persona-Konzeptes zur Destabilisierung des spirituellen Gleichgewichts. Der Kranke ist, da sein ti bon anj abgelöst und sein gwo bon anj geschwächt ist, auf den »Leichenkörper« reduziert, der, einem zonbi gleich, jedwede Vitalität verloren hat. Die Therapie des oungan bezweckt hier die Wiederherstellung des spirituellen Gleichgewichts. Im Falle der Austreibung eines schädlichen Totengeistes wird der Kranke, der in einem zugrundeliegenden sozialen Konflikt im Unrecht war, sozial für tot erachtet. Isolation, Schuldeingeständnis, Austreibung, Versöhnung und Katharsis sind Elemente derartiger Heilzeremonien (vgl. Sommerfeld 1990). Im Extremfall wird der Kranke rituell beerdigt, um dann in einer symbolischen Handlung zu neuem sozialen Leben wiedererweckt zu werden. Eine entscheidende Funktion in diesem Drama zwischen Leben und Tot spielt der Iwa Baron Samedi, der Herr des Friedhofs und Chef über die Totengeister, von dem im Volksglauben die Krankheit seinen Ursprung genommen hat und an den die Krankheit zurückgeschickt wird. Krankheiten wie diese fallen ausschließlich in das Ressort von Vodoupriestern und -priesterinnen (oungan und maribo). Die populäre Klassifikation dieser Hauptvertreter des Vodou spiegelt die Ambivalenz des Guten und des Bösen und mithin die Moral der Magie in der haitianischen Gesellschaft wider. Man unterscheidet zwischen dem ausschließlich zum Traditionserhalt und dem Guten dienenden oungan ginen fran, dem oungan, der sich »beider Hände« bedient (oungan a de men), der in seiner Magiepraxis dem Guten wie dem Bösen aufgeschlossen ist, und dem oungan bokbr, einem Vodoupraktiker, der ausschließlich dem Bösen anheimgestellt ist. Nun wird von den Betroffenen Schadensmagie vor allem mit der Notwendigkeit begründet, angesichts einer Gesellschaft der Krise und Not genügend Macht aufzubringen, um als Gegenmagie fungieren zu können. Tatsächlich erklärt der Diskurs über das Gute und das Böse, über das Leben und den Tod und die Moral der Magie, der im Vodou geführt wird, dem Vodougläubigen auch den Zustand der Gesellschaft. Die haitianische Gesellschaft ist aus der Sicht vieler eine, die ähnlich eines Zombies, »den Kopf nach unten hält« (peyi tet anba), eine Gesellschaft »in der sich die Hunde gegenseitig zerfleischen«, (peyi chen manje chen) insgesamt also eine Gesellschaft, die den Kampf des Einen gegen den Anderen auf ihre Fahne geschrieben hat. Der Oungan bokdr ist daher ein Konstrukt, mit dem die Existenz des Bösen in einer Gesellschaft der Krise erklärt werden kann. In Haiti ist bekannt, daß sich ein Übeltäter nie als solcher zu erkennen gibt. Im Gegensatz zum Kriminellen und Vagabunden gründet sich die Anklage ihm gegenüber auf dem Verdacht. Schadensmagischer Praxis verdächtigt werden implizit alle diejenigen, die mit Macht im weiteren Sinne in Haiti zu tun haben. Die konkrte Anklage verbleibt paradoxerweise jedoch auf dem Niveau der armen Bevölkerungsmehrheit. Große Händler, Spekula teure, städtische Notabein

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und politische Chefs werden aus der Anklage ausgeklammert, obwohl ihre Macht und ihr ökonomischer Reichtum auf magische Macht zurückgeführt wird (Hurbon 1987 a). Dies ist u.a. ein Grund, warum der Vodou von haitianischen Intellektuellen als Stützpfeiler des duvalieristischen Staates und als Sicherheitsventil der unterdrückten Bevölkerungsmehrheit angesehen wird (Saint-Gerard 1986). Nur in Ausnahmesituationen wie der dechoukaj-Bewegung, die seit dem Sturz Duvaliers im Februar 1986 in Wellen das Land überzieht, versucht das Volk, auch Verdächtige aus der Mittelklasse zu beschuldigen. Es ist allgemein bekannt, daß politische Macht - Zumindestens unter Duvalier vom Vodou mitgetragen wird. Eine allgemein akzeptierte Ansicht, die auf Seiten des Volkes zu einer Gleichsetzung des Vodou mit »etwas Diabolischem« und der allgemeinen Stagnation der Gesellschaft geführt hat. Sie ist eine teilweise Interisolierung der durch den Duvalierismus geschaffenen Ausbeutung des Vodou für politische Zwecke. Der Vergleich eines Vodouheilers mit einem westlichen Psychotherapeuten, den die frühe Ethnopsychiatrie beständig zog, ist indes ebenso haltbar wie die Übersetzung der behandelten Krankseinszustände mit den Konzepten der westlichen Psychiatrie. Tatsächlich hat die sozialepidemiologische Studie von Jeanne Philippe (1985) gezeigt, daß die durch den oungan behandelten Krankseinzustände schichtspezifisch sind und von den Institutionen der modernen Psychiatrie in Haiti häufig nicht behandelt werden können. Es ist wichtig, Heilung aus dem zugrundliegenden Persona-Konzept zu erklären. Die Therapie des oungan richtet sich weniger auf die Psyche im westlichen psychoanalytischen Sinne, als vielmehr auf den Zustand eines spirituellen Anteils der Persönlichkeit, des ti bon anj. Die Therapie entspricht auch nicht der Aufdeckung unbewußter individueller Prozesse in einer analytischen Situation. Medikation für den kranken Körper (den Leichenkörper, wie man im Kreolischen sagt) sind Teil der meisten Behandlungen. Nicht nur sind die meist pflanzlichen Medikationen der traditonellen haitianischen Pharmakopoe von erwiesener Effektivität; es ist anzunehmen, daß die essentiell spirituelle Therapie der Vodouheiler endogene Heilungstendenzen durch die Stabilisierung des Psychoimmunsystems hervorruft. Symbolischer Tod und Widergeburt sind zentrale Motive in den Initiations- und Heilritualen des Vodou und der Trance. Es ist Teil des universellen Phänomens transpersonaler Erfahrungen und relativiert die westliche Körper-Seele Dichotomie (vgl. Grof 1985). Es bleibt zu fragen, ob die erhoffte Demokratisierung Haitis und Vodou kompatibel sind, d.h. ob der Vodou tatsächlich eine Rolle in einer neugestalteten Gesellschaft einnehmen kann. Haitianische Intellektuelle wie orthodoxe Katholiken behaupten, der Vodou müße überwunden werden. Die Vodougläubigen hingegen behaupten, daß man zwar einzelne Vodoupriester umbringen, den Vodou insgesamt damit jedoch nicht beseitigen könne. Tatsächlich wurde

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nach dem Sturz Jean-Claude Duvaliers hunderte von Vodoupraktikern und vermeintliche Übeltäter verfolgt, verletzt und getötet, weil man sie als Garanten des Duvalierismus ansah. Vielfach waren Vodoupriester tatsächlich Angehörige der berüchtigten duvalieristischen Geheimmiliz, der tonton makout. Verantwortlich für die Racheakte waren aller Wahrscheinlichkeit nach vor allem Angehörige der katholischen Kirchenlaienschaft (ti legliz), die den Vodou in der Folge einer nun fast zweihundert Jahre andauernden kirchlichen Diskreditierungskampagne als Teufelswerk ansieht. Demgegenüber haben zwei führende Vodoupriester Intererssensvertretungen für die religiösen Belange des Vodou gegründet und sich dafür eingesetzt, den Vodou als offiziell anerkannte Religion in die Verfassung aufnehmen zu lassen. Die Zukunft des Vodou ist jedoch ungewiß. Möglicherweise wird auch er seine Funktion als Erklärungssystem für die Auswirkungen einer überkommenen Gesellschaftsstruktur verlieren und als Instrument der Traditionserhaltung und des Dialogs mit den Verstorbenen weiterbestehen. Hurbon (1987 b) ist recht zu geben, wenn er es als ehemaliger katholischer Priester ablehnt, dem Vodou die Schuld für den Zustand der haitianischen Gesellschaft zuzuweisen, wie es Angehörige der haitianischen Ober- und Mittelklasse mit Vorliebe tun. Aus ihrer Sicht ist der Vodou ein wichtiger Grund für die Zurückgebliebenheit der haitianischen Massen und trägt eine Mitschuld an ihrer Misere. Der Vodou erscheint jedoch nicht als Abbild der Gesellschaft der Krise, sondern als ihre beständige Reflektion. Bei genauerer Betrachtung muß jedoch festgestellt werden, daß diese Religionspraxis weit mehr ist. Sie nimmt die Funktion eines präventiven und kurativen Mediziensystems ein, das komplementär zu den schulmedizinischen psychiatrischen Einrichtungen wirkt. Literatur Bijoun, L. (1966): Aspects psychiatriques du Vodou haitien; in: Sondeos 2: 62-68. Bijoun, L. (1976): The Ego of Haitian and its Psychopathology; in: Newsletter of Caribbean Psychiatry Association 5:1-12. Bourguignon, E. (1970): Ritual Dissociation and Possession Belief in Caribbean Negro Religion; in: Whitten, N.E. & J.F. Szwed, Afro-American Anthropology: Contemporary Perspectives (pp. 87-101), New York: The Free Press. Csordas, T.J. (1987): Health and the Holy in African and Afro-American Spirit Possession; in: Social Science and Medicine 24 (1): 1-11. Dorsainvil, J.C. (1931): Vodou et Nevrose, Port-au-Prince: Imprimerie La Presse. Douyon, E. (1968): Psychopathologie du Diable; in: Journal of Inter-American Studies 10 (3): 384-392.

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Die psychosoziale Bedeutung des städtischen »Curanderismo« Eine Fallstudie aus Mexiko-Stadt Einleitung Das Ziel dieses Artikels ist die Darstellung einiger Methoden, die im städtischen curanderismo1 eingesetzt werden, insbesondere diejenigen, die eine psychologische Dimension haben und die die Angstzustände des Kranken verringern helfen. Dabei muß hervorgehoben werden, daß die entsprechenden therapeutischen Handlungen nicht auf das Individuum beschränkt bleiben, sondern daß sie gleichzeitig als Ventil für die Spannungen dienen, die innerhalb sozialer Gruppen entstehen. Der mexikanische und lateinamerikanische curanderismo gehört zweifellos zu unserem kulturellen Erbe. Seine psychosoziale Bedeutung drückt sich darin aus, daß er in den letzten 25 Jahren regelmäßig in den Studien von Anthropologen, Psychologen, Ärzten und insbesondere von Psychiatern erwähnt wird. Ari Kiev hat 1968 bei der Untersuchung des curanderismo, der von US-amerikanischen Mexikanern in San Antonio/Texas praktiziert wird, die psychotherapeutische Dimension der angewandten Methoden unterstrichen.2 Sie ist in vielen zeremoniellen Aspekten enthalten: in dem Charisma des curanderos, das sich auf den Kranken positiv auswirken kann; in der Verwendung von Kräutern; in rituellen Verfahren, die eng an die religiöse Sphäre angeschlossen sind, wie die Beichte, Bittgebete, Salbungen, Reinigungen, usw. Der Autor berichtet davon, daß die curanderos in der Lage sind, Gemütsstörungen zufriedenstellend 1

Curanderismo ist der spanische Begriff für die Tätigkeit, die die curanderos, die Volksheiler, ausüben.

2

Ausgehend von Dr. Ramón de la Fuente (1975: 376) verstehen wir unter Psychotherapie »den Versuch, die Gesundheit durch psychologische Mittel wiederherzustellen. Er besteht im wesentlichen darin, auf den Kranken einen unmittelbaren und mittelbaren Einfluß auszuüben, der bei ihm Reaktionen hervorrufen soll, die ihn heilen.« Der Autor unterscheidet dabei zwischen einer oberflächlichen und einer tiefen Psychotherapie; die erstere beinhaltet Handlungen, die jede Person ausführen kann, wie z.B. Unterstützung, Ratgeben, Suggestion, Überredung, etc.

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zu behandeln, die mit Aggressivität, Sexualität, beruflicher Hyperaktivität und selbstverständlich auch mit emotionalen Ungleichgewichten einher gehen. Kiev meint, daß die curanderos eher dazu in der Lage sind, sogenannte »traditionelle« Krankheiten zu behandeln: den susto (magischer Schrecken), brujería (Hexerei), mal de ojo (böser Blick) und andere, und schließt damit, daß das Hauptziel der Therapie die Verringerung der Angstzustände und Beklemmungen ist. Der curandero als solcher wird von ihm aufgefaßt als ein »kulturell begründeter Heilungsagent, der kulturell bedeutsame Heilverfahren und mächtige Symbole einsetzt, um den Glauben zu wecken und um suggestiv zu wirken« (Kiev 1972: 166). Außerdem stellt er fest, daß »viele Ähnlichkeiten zwischen dem curanderismo und der zeitgenössischen Psychotherapie bestehen und daß ein großer Teil der existierenden Unterschiede nicht auf wissenschaftliche, sondern auf kulturelle Faktoren zurückzuführen sind««. Dieser Aussage fügt er später noch etwas sehr bedeutsames hinzu, nämlich, daß »es keine Beweise dafür gibt, daß die dynamische Psychotherapie (die von Ärzten verwendet wird) erfolgreicher ist als andere Behandlungsformen wie z.B. der curanderismo« (ebenda: 195). Für Irwin Press (1968) besitzt der lateinamerikanische städtische curandero neben Ähnlichkeiten auch Merkmale, die ihn vom ländlichen curandero unterscheiden. Unter den Ähnlichkeiten erwähnt er die verwendeten diagnostischen und therapeutischen Methoden, den Einsatz der Religiosität, die enge Beziehung des curandero zum Patienten, die Verwendung von selbst hergestellten Medikamenten, die gleichwertige Bedeutung, die allen Symptomen zugeschrieben wird, die der Kranke aufweist und die Tatsache, daß die Hinzuziehung eines curanderos für den Kunden eine geringere Geldausgabe bedeutet. (Press 1968:10) Zu den Unterschieden zählt er den sehr heterogenen persönlichen Stil bei der Berufsausübung der curanderos, die Kürze der Behandlungsdauer, eine eher unpersönliche und merkantilistische Beziehung, die Verwendung schneller und vereinfachter diagnostischer Methoden und schließlich das Fehlen von Gruppen- oder Gemeindebezügen in der Arbeit des städtischen curanderos, da der Patient aus Stadtteilen oder Vierteln stammen kann, die der Heiler nicht kennt. (Press 1969: 217; 1971: 753) Jahre später hat derselbe Autor hinzugefügt, daß die psychosoziale Funktion der »traditionellen« oder »folkloristischen« Krankheiten und des städtischen curanderos darin besteht, das sogenannte »Trauma der Akkulturation« einzugrenzen und zu minimieren, unter dem die Bauern leiden, die in den städtischen Raum zugewandert sind. (Press 1978:75) Robert B. Edgerton, Marvin Karno und Irma Fernández haben in einer Untersuchung Daten aus Los Angeles/Kalifornien mit den Erkenntnissen von Kiev aus Texas kontrastiert und festgestellt, daß der curanderismo der Bevölkerung mexikanischen Ursprungs eine weniger aktive Rolle bei der Behandlung psychischer Krankheiten spielt. (Edgerton et al. 1970: 132-133) Robert Trotter

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und Juan Antonio Chavira haben eine urbane Ethnographie des städtischen curanderismo im Süden von Texas und im Nordosten Mexikos erstellt und dabei unterstrichen, daß diese Heilform »eine wichtige und kulturell angepaßte psychotherapeutische Rolle in einigen mexikanisch-amerikanischen Gemeinden spielt« (Trotter/Chavira: 1981: 16). Sie schließen mit der Aussage, daß der curanderismo aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit auch weiterhin eine besondere Funktion im Bereich der seelischen Gesundheit erfüllen wird. (Ebenda: 17) Zum Abschluß dieser kurzen Einleitung möchten wir darauf hinweisen, daß einige kürzlich durchgeführte Untersuchungen in Lateinamerika bestätigt haben, daß die »Heilkulte« in städtischen Gebieten eine bemerkenswerte Ausbreitung verzeichnen können, so z.B. das Pfingstlertum, der Spiritismus und die »umbanda« in Brasilien (Laplantine 1989: 668), der Kult um María Lianza und um Dr. José Gregorio Hernández in Venezuela (erwähnt von Pedersen 1989: 649) und die Verwendung von halluzinogenen Kräutern für Heilzwecke in Peru (ebenda: 651). Sie zeigen, daß sich diese Praktiken offensichtlich auf ideologisch und methodisch sehr heterogene Strömungen stützen, die jedoch mit dem curanderismo verwandt sind. Doña Marina Zwischen 1985 und 1986 haben wir eine umfangreiche medizinanthropologische Untersuchung über das Leben und Werk einer curandera in Mexiko Stadt durchgeführt. In früheren Arbeiten ist bereits der familiäre Lernzyklus dargestellt worden, den sie durchlaufen hat,3 ihr Verständnis von Gesundheit und Krankheit4 und in welchen Fällen sie zu Rate gezogen wird. (Campos Navarro 1989: 703-726) In dieser Arbeit versuchen wir, ihre psychotherapeutischen Methoden darzustellen und deren Wirksamkeit im Rahmen der von Doña Marina eingesetzten Mittel zu analysieren. Doña Marina Martínez (wir benutzen eine fiktiven Namen zum Schutz der Informantin) ist eine 55 Jahre alte curandera, die aus dem Norden des Landes stammt und seit über 35 Jahren in Mexiko Stadt lebt und den curanderismo ausübt. Ihre wichtigsten Lehrer waren ihre Großmutter väterlicherseits, ihre Onkel und ihre Eltern. Sie selbst hat ihre Kenntnisse an ihre Kinder und Enkeltöchter weitergegeben. Sie verfügt über breite Kenntnisse, die sowohl traditionelle Erkrankungen wie den empacho, der caída de mollera, mal de ojo (böser Blick), brujería (Hexerei) und insbesondere den susto oder espanto (Schrecken) einschließen, 3

Eine Arbeit im Rahmen des Interdisziplinären Programms für Frauenstudien des Colegio de México; veröffentlicht in der Presse (Campos Navarro 1988a).

4

Eine Arbeit, die während der ersten »Tagung zur westlichen Medizinanthropologie« vorgestellt wurde, organisiert von der Universidad de Guadalajara und dem Centro de Investigaciones y Estudios Superiores de Antropología Social; veröffentlicht in der Presse (Campos Navarro 1988b).

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als auch Krankheiten, die von der offiziellen Medizin anerkannt sind, wie u.a. Bronchitis, Asthma, Diabetes und Unterernährung. Die mexikanische Gesetzgebung verwehrt ihr die juristische Anerkennung; dennoch ist sie gerichtlich bis heute weder angeklagt oder angezeigt, noch wegen ihrer öffentlich ausgeübten Heiltätigkeit verfolgt worden. Sie hat an mehreren Radio- und Fernsehsendungen teilgenommen, ist von vielen nationalen und internationalen Zeitungen und Zeitschriften interviewt worden und hat an der Universität Vorträge gehalten. Allgemeine Heilmittel Bevor wir mit einer detaillierten Darstellung der gebräuchlichsten Heilmittel unserer Informantin beginnen, muß kurz der Ort beschrieben werden, an dem sie ihre Patienten untersucht. Außerdem müssen einige Anmerkungen über die Merkmale gemacht werden, die ihre Beziehung zu den Kranken aufweist. Ihre Praxis befindet sich in einem Wohngebiet der ärmeren Bevölkerungsgruppen im Osten von Mexiko Stadt; es ist ein sehr einfaches und ziemlich heruntergekommenes Haus. An der Fassade befindet sich kein Schild, das auf sie hinweisen würde. Die Wände des Wohnzimmers sind mit religiösen Kalendern tapeziert, mit großen Fotografien einiger ihrer Kinder und mit einem bunten Poster von »Che« Guevara, über dem sich ein kleiner Altar befindet. Darauf stehen eine Skulptur des Jesuskindes sowie die Skulptur einer Frau mit asiatischen Gesichtszügen, Bilder der Heiligen und der Jungfrau, ein Kreuz und mehrere Kerzen. Es gibt weder ein Wartezimmer noch einen besonderen Ort, an dem die Heilungen vorgenommen werden. Das Wohnzimmer dient als allgemeine Praxis; sollte es notwendig werden, sich zurückzuziehen, wird das anschließende Zimmer benutzt. In den Regalen der Küche und des Eßzimmers stehen sowohl Medikamente als auch Nahrungsmittel. Der Tisch wird manchmal dafür benutzt, frisch gekaufte Heilkräuter zu trocknen. Die überdachte Garage dient als Lager für verschieden große Säcke mit getrockneten Heilkräutern; in ihr befindet sich auch ein großer Altar, auf dem Bilder katholischer Heiliger und asiatische Figuren stehen, außerdem ein Dutzend großer Altarkerzen, ein Tablett voll kleiner Münzen, einige Fotografien, Gegenstände und Bitten aus dem Besitz von Patienten sowie Hufeisen, Kreuze, Plastikpyramiden, verrostete Scheren usw. Aufgrund unserer eigenen Beobachtungen und Zeugenaussagen können wir über die Beziehung zwischen Doña Marina und ihren Kranken sagen, daß es sich um einfache und herzliche Beziehungen handelt, um eine freundliche und klare Haltung und um Entscheidungen, die Vertrauen und Sicherheit beweisen. Die Beziehung ist von Geduld, Mäßigung und der Suche nach Harmonie mit dem Patienten geprägt.

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Die Anwendung allgemeiner, einfacher psychotherapeutischer Techniken ist offensichtlich. Auf diese Weise versucht Doña Marina einen Dialog herzustellen, da sie mit der Bedeutung der Sprache vertraut ist. Sie versucht, den Kranken dazu zu bringen, seine Gefühle auszudrücken, da ihr die kathartische Wirkung bekannt ist.5 Auch bezieht sie den Glauben und die Religiosität des Kranken mit ein. Sie weiß, daß diese Bereiche eine positive Auswirkung auf den Prozeß der Heilung haben. Doña Marina benutzt ihre alltägliche Kleidung. Sie trägt zahlreiche Armreifen und manchmal ein Medaillon um den Hals, das ihrer Meinung nach über heilende Kräfte verfügt. Die Behandlungen von Doña Marina haben den folgenden Ablauf: Empfang, Diagnose, Therapie, Ratschläge und Erklärungen, Bezahlung und Abschied. Der Empfang wirkt herzlich, dabei werden der Kranke und seine Begleitung aufgefordert, ins Innere des Hauses einzutreten. Ihre Art der Krankheitsfeststellung beinhaltet kein magisches oder aufdeckendes Vorgehen noch mediale Praktiken. In der Tat ähnelt sie eher der ärztlichen Diagnose, d.h. es werden wenig systematische, kurze und punktuelle Fragen nach Beschwerden und »Symptomen« gestellt. Dabei gibt sie den Punkten große Bedeutung, die als Ursachen der gegenwärtigen Krankheit gelten können sowie früheren Diagnosen von Ärzten. Dabei respektiert sie z.B. die Krankheitsbilder des Diabetes oder Bluthochdrucks. Ihre Sprache ist einfach und verständlich. Sie benutzt Bezeichnungen aus der Umgangssprache wie »Entzündungen«, bolitas de tipo incordio (»lästige Kugeln«, d.h. Geschwulste), »Nerven«, calentura statt fiebre (Fieber), »Erkältung« und »grüne Leber«. Die körperliche Untersuchung beschränkt sich auf die betroffenen Körperteile, sie betrachtet und befühlt sie, beklopft sie jedoch nicht, noch horcht sie sie ab. Sie verwendet weder Laboruntersuchungen noch Röntgenaufnahmen oder andere diagnostische Verfahren. Insgesamt haben wir beobachtet, daß der Befragung einen höheren Stellenwert als der Untersuchung eingeräumt wurde. Dabei gab es eine sehr deutliche Tendenz für die diagnostische Konstruktion des susto, und zwar auch wenn der Patient verneinte, darunter zu leiden. Diese Tendenz stimmt mit der theoretischen Annahme von Doña Marina überein, daß jeder Patient erschreckt ist, unabhängig von anderen Einzelheiten seines pathologischen Zustandes. Gleichermaßen konnten wir beobachten, daß die vorherrschende Heilbehandlung die Anwendung des desalojo (Austreibung) gemeinsam mit der limpia (Reinigung) und der Therapie gegen den susto war. Bei Beschwerden des Rückens und des Unterleibs wurde geschröpft, bei unspezifischen Beschwerden des Verdauungsapparates und der Nieren wurden nur medizinische Kräuter verwendet. 5

Vgl. das Phänomen der Katharsis als psychotherapeutischer Akt in Scheff (1986), Lagarriga (1978) und Diaz (1986).

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Doña Marina gibt sehr viele Ratschläge, insbesondere verbietet sie den Konsum von Salz, Erfrischungsgetränken, Zigaretten und alkoholischen Getränken sowie den übermäßigen Verzehr von Fleisch. Hingegen empfiehlt sie, den Verzehr von Obst und Gemüse zu steigern. In keinem Fall haben wir beobachten können, daß die Bezahlung aufgrund eines vorher festgelegten Tarifes erfolgte; die Patienten oder ihre Angehörigen zahlten im allgemeinen in Form einer Spende. 6 Bei der Verabschiedung begleitet die curandera den Kranken und seine Angehörigen bis zur Tür. Da Doña Marina am Vormittag einer Lohnarbeit nachgeht, finden ihre Sitzungen nachmittags statt. An Samstagen und Sonntagen nimmt der Zufluß von Patienten zu, da sie an diesen Tagen nicht zu festen Uhrzeiten behandelt. Jede Behandlung dauert zwischen dreißig Minuten und einer Stunde. Wir haben weder Eile noch Zeitdruck feststellen können, auch keine Schlangen von Patienten, die auf die Behandlung warten. Doña Marina führt die Behandlungen in ihrem Haus durch, sie macht jedoch widerspruchslos auch Hausbesuche unter der Bedingung, daß sie im Auto befördert wird, da sie ihre Utensilien mitnehmen muß, z.B. Sträuße, Eier, Räucherwerk, Kerzen, Balsame usw. Ihre Kinder assistieren ihr normalerweise bei den Heilungen, insbesondere wenn sie selber krank ist. Während unserer Felduntersuchung konnten wir beobachten, daß unter den Kranken Frauen mittleren Alters aus den Unterschichten mit unterschiedlichem Bildungsniveau dominierten. Es kommen sowohl Hausangestellte als auch Selbständige, Hausfrauen und Studentinnen. Die kurze Darstellung über Person und Ort soll nun abgeschlossen werden. Im folgenden Schritt werden wir dazu übergehen die von Doña Marina verwendeten Mittel darzustellen. In der Übersicht 1 sind neunzehn Krankheiten aufgeführt, die unsere Informantin kennt und behandelt. Die ersten zehn sind sogenannte traditionelle Erkrankungen, die restlichen neun werden von der akademischen Medizin anerkannt. Die Behandlungsformen jeder dieser Krankheiten erlauben die Einteilung in acht Therapiegruppen. Die Kräuterheilkunde - sei es als primäres oder sekundäres Heilmittel - wird hauptsächlich bei den von der akademischen Medizin anerkannten Krankheiten angewendet. Die unmittelbar psychotherapeutischen Methoden - wie die limpias, Gebete, usw. - haben ein größeres Gewicht bei der Behandlung der »traditionellen« Krankheiten. Übersicht 1 zeigt deutlich den Vormarsch der pharmazeutischen Produkte in der Heilpraxis der curanderos, mit der entsprechenden Tendenz, sie bei den »wissenschaftlichen« Krankheiten zu verschreiben. Die anderen Therapiefor6

Zwischen 1986 und 1987 schwankte der durchschnittliche Betrag, den sie für jede Sitzung erhielt, zwischen tausend und zweitausend Pesos (0,50 US-Dollar); für 1990 gibt es Hinweise, daß sie einen festen Tarif pro Sitzung hat.

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men sind für einige Fälle wie den empacho und die cintura abierta (offene Taille) von zentraler Bedeutung, haben für andere Krankheitsfälle jedoch nur nachgeordneten Stellenwert. Psychotherapeutische Mittel Psychotherapeutische Techniken spielen zweifellos eine bedeutsame Rolle im curanderismo. Sie haben einen großen Stellenwert innerhalb der Beziehung zwischen dem Patienten und dem curandero. Ganz besonders aber dann, wenn auf Methoden zurückgegriffen wird, deren Ziel darin besteht eine psychische Veränderung beim Patienten hervorzurufen. Unter dem Oberbegriff »limpias« (Reinigungen) werden eine Reihe manueller Verfahren mit symbolischem Gehalt zusammengefaßt, die auf der Körperoberfläche mit verschiedenen Hilfsmitteln angewendet werden. Es existieren vier verschiedene Anwendungsformen (vgl. Übersicht 2).

1. Die »limpia« (Reinigung von Personen) Die Methoden der limpia (Reinigung) und des desalojo (Austreibung) werden im allgemeinen zusammen angewendet, da die curandera der Auffassung ist, daß jede Person, die zu ihr kommt mit »Unglück« behaftet ist, die ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt. Deswegen benötigen sie eine ganzheitliche Behandlung, die über die sichtbare Krankheit hinausgehen muß. Die limpias bestehen aus einer Reihe sukzessiver und einander überlagernder Handlungen, die im folgenden dargestellt werden: - Gesundbeten: Dafür werden offizielle katholische Gebete benutzt sowie Gebete, die von der katholischen Kirche nicht gerne gesehen werden. - Bekreuzigen: Handbewegungen um den Körper des Kranken herum, ohne ihn dabei zu berühren, wenn es um die Reinigung der Aura geht. Es sind Handlungen, die dem Abstauben einer Oberfläche ähneln. Außerdem werden Bewegungen in der Form des Andreaskreuzes gemacht. -' Besprengen: In einem Gefäß werden Wasser und sehr kleine Mengen von sieben Düften vermischt. Durch ein Ritual wird die Mischung in »Balsam« verwandelt, mit dem der Kranke besprengt wird, um die Aura zu reinigen. Im Unterschied zur Behandlung des »susto« wird diese Besprengung nicht plötzlich durchgeführt. - Beweihräuchern: In ein Kohlebecken wird Kohle gelegt und angezündet. Es hängt von der Schwere der Erkrankung ab, welche Komponenten verbrannt werden: Im Falle von Patienten ohne Komplikationen werden getrocknete Kräuter, Copal (Baumharz) und Myrrhe verbrannt; im Falle »verhexter« Kranker werden u.a. Alaun, Senfkörner und Pfefferschoten verwendet.

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Einreiben: Dabei werden Kräuter, Eier, Kerzen, lebende Tiere oder andere Objekte am Körper des Patienten gerieben, womit versucht wird, entweder dessen negative Elemente auf die reinigenden Objekte zu übertragen oder sie schlicht auszutreiben. Nachtwache: Es handelt sich dabei um eine ergänzende und nicht allgemein gebräuchliche Handlung, die aus einer Zeremonie besteht, die die curandera freitags um Mitternacht durchführt. Dabei spricht sie besondere Gebete und benutzt Kerzen und Olivenöl.

2. Der »desalojo« (Austreibung) Sie besteht wie die limpia aus mehreren Behandlungsstufen, die allerdings in sitzender Haltung angewandt werden. Sie setzt sich aus folgenden Handlungen zusammen: - Nackenmassage: Ihr Ziel ist die anatomische und geistige Wiederherstellung. Auf anatomischer Ebene wird versucht, die Harmonie zwischen den physischen Bestandteilen - Knochen, Nerven, Muskeln - herbeizuführen, die sich unterhalb des Halses befinden. Auf geistiger Ebene soll ein Gleichgewicht zwischen der Seele und dem Geist wiederhergestellt werden, dessen Zentrum im Kopf bzw. im Nacken liegt. - Passive Kopfbewegungen: Dabei wird der Kopf von der curandera geführt, bis es auf der rechten und auf der linken Seite einmal »knackt«. Ein Signal dafür, daß die Harmonie wiederhergestellt wurde. - Ziehen an der Kopfhaut: Die Kopfhaut wird am obersten Kopfteil gezogen, bis ein Knacken oder Schnalzen zu hören ist.

3. Die »barrida« (Auskehren) Dies ist eine Variante der limpia, die insbesondere für die Behandlung des susto alternativ eingesetzt wird. Der Kranke entkleidet sich bis auf die Unterwäsche und legt sich auf ein Bett oder eine Liege. Er muß die Augen schließen. Danach wird er gesundgebetet, eingerieben und plötzlich mit »Balsam« besprengt, während gleichzeitig sein Name genannt wird. Schließlich wird er mit einem Handtuch abgetrocknet, er kleidet sich wieder an und ruht sich einige Minuten aus.

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4. Die »limpia« (Reinigung) von Häusern und Geschäften Dies ist eine Ausweitung der Methode, die auch bei Personen eingesetzt wird. Sie hat dieselbe Zielsetzung und es werden dieselben Mittel verwendet. Das Ritual beginnt am Haupteingang. Entgegen dem Uhrzeigersinn werden an den Wänden mit einem beräucherten Zweig Kreuzzeichen gemacht. Die Zeremonie wird von Gebeten begleitet. Schließlich reinigt die curandera alle Hausbewohner sowie, im Falle der Reinigung eines Geschäftes, den Besitzer und die Angestellten. Das Wesen der Reinigungen ist ein magisch-religiöses Ritual, in dem verschiedene Elemente miteinander vermischt werden, die wir im folgenden beschreiben: -

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Gebete, die mehrheitlich nicht aus dem Katholizismus stammen und von den Autoritäten der Kirche auch nicht anerkannt werden; nur drei der verwendeten Gebete bilden eine Ausnahme: das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und das Magnifikat. Die von der katholischen Kirche nicht anerkannten Gebete sind nicht von unserer Informantin geschaffen worden, sondern allgemein bekannt und öffentlich zugänglich. Die Gebete werden benutzt, um Objekte zu »heilen« oder zu segnen, die später direkt oder indirekt in Reinigungsprozessen eingesetzt werden sollen. Ihr Ziel ist es vor dem »andern«« (dem Feind) zu schützen und zu verteidigen, oder Glück, Liebe und Macht an den Kunden heranzuziehen. Die Präsenz des Kreuzes bei den limpias ist von größter Bedeutung. Über dem Patient oder den Objekten wird das lateinische Kreuz oder das Andreaskreuz geschlagen. Es ist immer wieder präsent: Bei der Segnung des Wassers und den Bewegungen, die der Kranke während des Rituals ausführen muß, sowie bei dem Wegwerfen des zur limpia gebrauchten Straußes an einer Wegkreuzung. Die symbolische Verwendung der Zahl 7 taucht überall auf: sieben Lotionen für den Balsam, sieben schützende Armreifen, sieben Tage Nachtwache, sieben Kerzen, sieben Kräuter usw. 7 Die Kräuterheilkunde mittels speziell zusammengestellter oder vorbereiteter Sträuße: Diese Sträuße können im Haus selbst hergestellt sein. Sie werden jedoch im allgemeinen in den Heilkräutergeschäften gekauft. Die Sträuße werden u.a. aus pirul, roten oder weißen Geranien, santamarta, Petersilie und Dorngebüsch hergestellt. Damit wird sowohl die körperliche als auch die symbolische Reinigung durchgeführt. Die Möglichkeit der Absorption von Substanzen durch die Haut kann nicht ausgeschlossen werden. Sonstige Produkte - Lotionen und Düfte - werden zum Besprengen oder Bestreichen eingesetzt. Ihr symbolischer Gebrauch kann mit der Konkretion eines reinigenden Aktes verbunden sein, ähnlich der Verwendung des Vgl. Eliade (1986:222-226) für den symbolischen Gebrauch der Zahlen, insbesondere der Sieben.

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Weihwassers in der katholischen Kirche. Die Einreibung mit einem Ei oder einem Tier hat die symbolische Funktion der Übertragung der Beschwerden des Kranken auf diese Objekte, denen anziehende und haftende Fähigkeiten zugeschrieben werden. 8 Schließlich beruhen die manuellen Praktiken, Massagen und Handauflegen auf dem Glauben an eine magnetische Heilkraft.9 Unabhängig von dieser Aufzählung möchten wir nochmals die psychotherapeutischen Zielsetzungen dieser Vorgehensweisen unterstreichen. Der Glauben oder das Vertrauen der Kranken wird durch die psychologischen, kognitiven und manuellen Fertigkeiten des Heilers angesprochen. Das Vertrauen wird durch die Verwendung von gemeinsamen religiösen Symbolen gestärkt. So z.B. durch die Vorstellung, daß das Schmutzige - wie das Böse, die Sünde, die Krankheit - durch äußere Ereignisse entfernt werden muß, wie z.B. durch Bäder, Besprengungen, Einreibungen und Beweihräucherungen. Gesundbeten, Bekreuzigungen und Nachtwachen verkörpern ebenfalls objektive Akte mit subjektiven Zielen. Sie bilden den Ritus, der die Reinheit des Körpers und der seelischen Zentren erzielt und bestätigt. Er ist die Suche nach einem inneren Gleichgewicht und nach Harmonie mit der sozialen und ökologischen Umwelt, als deren Vermittler der curandero fungiert. Dies erinnert an die außerordentlich wichtige Rolle des katholischen Priesters als Heiler, insbesondere vor der Professionalisierung und Institutionalisierung der Figur des Arztes, als die Überwachung der physischen und spirituellen Gesundheit der Gläubigen noch eine priesterliche Funktion war. Der Exorzismus war gleichzeitig ein Verfahren zur Austreibung angenommener Dämonen und ein Reinigungsakt. Für die Bevölkerungsmehrheit setzt die curandera diese Handlungen fort: die limpia tritt an die Stelle des Exorzismus. Sie könnte die verbotene und subversive Version der ärztlichen oder priesterlichen Handlung darstellen: Sie führt Heilhandlungen durch, ohne dazu befugt zu sein; sie praktiziert reinigende Akte, ohne kirchlich geweiht zu sein. In gewisser Hinsicht hat sie ärztliche und auch priesterliche Funktionen. Ihre Anerkennung und Wirksamkeit beruhen auf der Legitimität, die ihr der soziale Zusammenhang verleiht. Es ist bekannt, daß sich diese kollektiv legitimierte Qualifikation nicht unbedingt mit den Vorstellungen offizieller staatlicher Institutionen deckt. 8

Die südamerikanische Variante in den Anden ist die Einreibung mit dem Cuy, einem Nagetier, das später für diagnostische und therapeutische Zwecke geopfert wird; vgl. Valdizän und Maldonado (1985 [1922J: 65) und Acero und Dalle (1987:16-21).

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Diese Vorstellung ist nicht neu; sie hat ihre Vorläufer in den medizinischen Strömungen des 18. Jahrhunderts, die an das Vorhandensein von Magnetismus bei Tieren glaubte. Dieser Magnetismus stellte das wichtigste Arbeitsinstrument des bekannten deutschen Arztes Franz Anton Mesmer dar (1733-1815).

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Schlußfolgerungen 1. Die Verwendung psychotherapeutischer Mittel hat im städtischen curanderismo eine einzigartige Bedeutung und spielt zweifellos eine dominierende Rolle. 2. Die Interaktion zwischen dem curandero und dem Kranken, sowie seinen Angehörigen, ist grundlegend für den Erfolg der Therapie. 3. Psychotherapeutische Methoden werden bei jeder Krankheit eingesetzt, insbesondere jedoch bei »traditionellen« psychischen Störungen, wie dem susto«, oder bei akademisch anerkannten Gemütsstörungen wie Nervosität und Angstneurosen. 4. Hinter der scheinbaren Einfachheit einiger vom curanderismo verwendeter Methoden steht eine rituelle Komplexität, deren Bedeutung noch nicht hinreichend erforscht worden ist. 5. Jeder rituelle Akt im curanderismo betrifft nicht nur den Kranken, sondern schließt eine aktive Teilnahme der Familienmitglieder ein. 6. Der curandero spielt eine außerordentlich wichtige Rolle als Vermittler bei psychosozialen Konflikten, die aus dem sozialen Umfeld entstehen, insbesondere wenn Neid als Krankheitsursache angenommen wird. Vor dem Hintergrund der hier entwickelten Darstellung kann festgestellt werden, daß die Bevölkerungsmehrheit in Lateinamerika in der Person des curandero über ein wichtiges Element zur Förderung der psychosozialen Gesundheit, sowohl auf individueller, als auch auf kollektiver Ebene verfügt: er ist für viele zugänglich und notwendig, da er die kulturellen Werte sowie die sozioökonomische Lage des Patienten teilt. Er hat die Sphäre ausgefüllt, den die akademische Psychiatrie in der psychosozialen Gesundheitsversorgung der ländlichen und städtischen Bevölkerungsmehrheit nicht hat schließen können. Trotz der Empfehlungen der internationalen Gesundheitsorganisationen WHO, die sich für die Teilnahme der curanderos an der staatlichen psychosozialen Gesundheitsversorgung ausgesprochen hat, wird diesem traditionellen Hilfselement nach wie vor keinen nennbaren Stellenwert neben der offiziellen Gesundheitsversorgung eingeräumt. In Mexiko werden curanderos nicht gesetzlich anerkannt und führen ihre Tätigkeit isoliert und dezentral durch. Im Südosten des Landes tragen einige organisatorische Versuche jedoch inzwischen Früchte. 10 Wir glauben, daß diese Tendenz im nächsten Jahrzehnt deutlich zunehmen wird, da die curanderos beginnen, die Vorteile zu erkennen, die die Verbandsarbeit bietet. Außerdem besteht bei einigen Teilen der Regierung inzwischen der politische Wille, den culo Die Organización de Médicos Indígenas del Estado de Chiapas (OMIECH - Organisation der einheimischen Ärzte des Staates Chiapas) besteht bereits, ähnliche Organisationen werden in Yucatán, Oaxaca und Puebla gegründet.

Die psychosoziale Bedeutung des städtischen »Curanderismo«

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randeros die notwendige Unterstützung zu geben. 11 Wir denken, daß es an der Zeit ist, die psychotherapeutischen Leistungen der traditionellen Heiler neu zu bewerten, daß es an der Zeit ist, ihre Forderungen anzuhören und ihre wertvolle Rolle in der Förderung der seelischen Gesundheit zu stärken.

Glossar Für einige der hier verwendeten Begriffe gibt es keine angemessene medizinische Übersetzung bzw. Deutung. Alle Begriffe gehören zur Sprache der Bevölkerungsmehrheit. - »Caída de mollera« (Einziehen der Schädeldecke): Diese Krankheit wird daran erkannt, daß die vordere Fontanelle bei Säuglingen eingesunken ist. Es gibt spezifische Heilmethoden. Die akademischen Ärzte interpretieren dieses Symptom als klinisches Zeichen der Dehydratation, für die curanderos bedeutet es jedoch nicht notwendigerweise einen Wassermangel des Kindes. - Desalojo (Austreibung): Variante der limpia, die bei »nervösen« Kranken angewendet wird. Dabei muß der Kranke sitzen. Empacho (Magenverstimmung): Erkrankung des Magendarmapparates, die mit einer ungenügenden Verdauung zu tun hat. Dabei »kleben« die Nahrungsmittel an der Darmwand fest. Die besonderen Behandlungsformen sind dem akademischen Arzt entweder unbekannt oder werden von ihm nicht verwendet. - Incordio: Entzündung der Ganglien, insbesondere unter den Achseln und in der Leistengegend. - Limpia (Reinigung): Rituelles Verfahren, das an einer Person, einem Ort oder an einem Objekt mit dem Ziel seiner Reinigung (auf symbolischer oder realer Ebene) vollzogen wird. Bei den »limpias« werden Sträuße verwendet, die aus Kräutern, Kerzen, Eiern, Räucherwerk oder einem Kleidungsstück des Kunden hergestellt werden. - Mal de ojo (böser Blick): Kinderkrankheit, die unfreiwillig durch den »starken« oder »schweren« Blick eines Erwachsenen hervorgerufen wird. - Nervios (Nerven): Chronisch auftretende Krankheit, die durch emotionales Unwohlsein, Angstgefühle und Beklemmungen charakterisiert ist. Sie ist nicht notwendigerweise mit der Neurose gleichzusetzen. - Sahumerio (Beweihräucherung): Rauch, der durch die Verbrennung aromatischen Materials, insbesondere von Copal, gewonnen wird. 11 Insbesondere das Instituto Nacional Indigenista, das Instituto Mexicano del Seguro Social und die Dirección General de Culturas Populares, alle staatlichen Organisationen, die an der Entwicklung und Förderung der traditionellen Medizin interessiert sind. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die bereits entwickelten und von der akademischen Medizin angewandten medizinischen Programme aufgegeben würden.

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Susto (magischer Schreck): Krankheit, die in ganz Lateinamerika auftaucht und eine Variante des Phänomens ist, das als Seelenverlust in verschiedenen Teilen der Welt bekannt ist.

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ÜBERSICHT 2 Methoden und Indikationen bei den limpias (rituelle Reinigung)

Methode

Position des Kranken

Indikationen der curandera

1

Limpia der Seele und Limpia des Körpers

Stehend

»salzige« Personen, mit Unglück, »mal puesto« (Hexerei), Unruhe, »schlechte Einflüsse«

2

Desalojo (Entfernung)

Sitzend

verzweifelte, nervöse, Personen, mit Kopfschemerzen (Spannungen), usw.

3

Barrida (Wegfegen)

Liegend

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4

Limpia von Objekten (Häusern, Autos Geschäften)

-

Austreibung von »Neid«, »Bosheiten« wie »böse Luft«, »böse Einflüsse«, »Unglück« (Annäherung und Trennung von Personen)

Quelle: Información antropológica, Ciudad de México, 1986-87

Die psychosoziale Bedeutung des städtischen

»Curanderismo«

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Traditionelle Heilrituale als psychosoziale Krisenintervention Fallvignetten aus Peru Einleitung Bislang wurden traditionelle Heilrituale zumeist ethnomedizinisch in ihrer Eigenschaft als kulturelle Phänomene betrachtet, man erstellte ethnische Krankheitsklassifikationen oder beschrieb heilerisches Handeln nach den Kategorien eines unvoreingenommenen Beobachters. Demgegenüber interessieren in den folgende Ausführungen eher die Zusammenhänge von psychosozialen Konflikten, den in den Heilmethoden immanenten Wirkfaktoren und dem daraus prognostizierbaren Erfolg. Es geht also um die Funktion ethnischer Heilpraktiken für die lokale Gesundheitsversorgung und ihre Effizienz, Fragen, denen in medizinanthropologischen Studien in Südamerika noch nicht empirisch nachgegangen wurde (vgl. Pedersen/Baruffati 1985). Aus dieser Perspektive geht es um eine ethnopsychotherapeutische Evaluation und Bewertung traditioneller Heilmethoden (vgl. Andritzky 1989b). Für diesen Zweck bieten neben Theorien der Psychotherapieforschung vor allem die Verhaltensmedizin und die Gesundheitspsychologie interkulturell verallgemeinerbare Erklärungsmuster an. Das diesen Konzepten zugrundeliegende biopsychosoziale Modell der Medizin, d.h. das In-Rechnung-Stellen von sozialen, psychologischen und biologischen Faktoren für die Genese und Therapie von Krankheit allgemein, hat sich für ein breites Spektrum an psychischen und somatischen Störungen als empirisch gültig erwiesen. Es koinzidiert auf überraschende Weise mit Denkmodellen und der Praxis vieler traditioneller Medizinsysteme. Die dargestellten Fallbeispiele aus der Praxis des peruanischen Heilers Melchior Salomon wurden 1985/86 während einer explorativen Feldforschung in Lima aufgezeichnet. Da die meisten Klienten nur ein- oder zweimal gesehen wurden, war es weder möglich längerfristige Verlaufsbeobachtungen zu machen noch an herkömmlichen westlichen Kriterien der Medizin bzw. Psychopathologie orientierte Diagnosen zu erstellen und die tatsächliche Effektivität zu

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überprüfen. Der phänomenologische Ansatz sollte vielmehr dazu dienen, anhand von Fallbeispielen mögliche Wirkfaktoren der mit akademischen Psychotherapiemethoden nicht direkt vergleichbaren Vorgehensweisen dieses Heilers zu gewinnen. Im Andenraum besteht eine historisch begründete Vielfalt an pragmatischen und symbolischen Elementen in der Volksmedizin, die jeweils nur angedeutet werden kann. Grob läßt sich zwischen vorkolumbischen Traditionen des Amazonastieflandes , des Hochlandes und der Küstenregion (Vgl. Andritzky 1988, Bd. 2: 436ff.) unterscheiden.1 Nach der »Entdeckung« durch die Spanier kommen Einflüsse der antiken Humoralpathologie, der Renaissance-Magie und europäischer Volksmedizin (Andritzky 1987), afrikanische Elemente (Vgl. Andritzky 1989) und im weiteren mesmerische, spiritistische und schulmedizinische Einflüsse hinzu. Über den traditionellen Sektor des peruanischen Gesundheitswesens liegen noch kaum quantitative Daten (Zahl, Art, räumliche Verteilung der Heiler, soziale Charakteristika ihrer Klienten, deren Krankheiten und Motive etc.) vor. Ich versuche daher auf indirektem Wege aus Daten über die Infrastruktur des modernen Gesundheitssystems Aufschlüsse über die Rolle des traditionellen Sektors zu gewinnen. Dies soll es über die Einzelfallberichte hinaus ermöglichen, den Stellenwert der Volksmedizin in Peru allgemein einschätzen zu können. Im Anschluß werden Werdegang und Berufungsgeschichte von Melchior Salomon beschrieben sowie drei Fallvignetten. Abschließend werden zusammenfassend die funktionalen Faktoren seines Methodenspektrums gewürdigt.

1. Peruanisches Gesundheitswesen und traditioneller Sektor Die Rolle des traditionellen Sektors kann nur indirekt aus Daten zum »offiziellen« Gesundheitswesen Perus erschlossen werden. Erst 1987 wurden in Bolivien und Peru Gesellschaften und Institute gegründet, die sich der Erforschung und Förderung der traditionellen Medizin sowie ihrer Einbindung in die Primary Health Care Programme der Weltgesundheitsorganisation WHO widmen sollen (vgl. Annuario Indigenista (Mexiko) Vol. XLVII, S. 133ff.). Die folgenden 1

Die Sammelbezeichnung ist »curandero« (Heiler), sein Gegenpart der »brujo«, »malero« (Hexer). Im Küsten-, Hochland- und Urwaldgebiet gibt es verschiedene Heilertypen, deren Bezeichnungen sich von den verwendeten Substanzen und Ritualen herleiten. In Nordperu sind es »maestros«, die nächtliche Heilrituale (mesa) zelebrieren (vgl. Giese 1989), im Hochland eine Vielzahl von Wahrsagern und/oder Heilern, die z.B. mit Kokablättern (vgl. Andritzky 1988a) Diagnosen stellen, im Urwaldgebiet die »ayahuasqueros« und »vegetalistas« (vgl. Andritzky 1989). Im Küstengebiet integrieren die Heiler je nach individueller Herkunft mittelalterlich-europäische, afrikanische und moderne Elemente (vgl. Andritzky 1989a).

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Angaben sind überwiegend der Health Sector Analysis of Peru (Zschock 1987) entnommen. 2 Sie macht deutlich, daß die medizinische Infrastruktur nur für einen kleinen Bevölkerungsteil zugänglich bzw. bezahlbar ist. a) Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Die Wirtschaftskrise brachte von 1981-1984 einen Rückgang der Gesundheitsausgaben um 20 % (1987:1) mit sich. Die stark zurückgegangene Zufuhr externen Kapitals läßt zuerst den Lebensstandard sinken und schlägt sich nicht direkt in erhöhter Morbidität nieder. Die Reduktion von Qualität und Quantität der Gesundheitseinrichtungen führt zusammen mit Unterernährung zuerst zu erhöhter Kindersterblichkeit und dann über geminderte Abwehrkräfte sekundär zur Erhöhung von Infektions- und Erkrankungsrisiken. Gleichzeitig müssen bei verringertem Einkommen die privaten Gesundheitsausgaben überproportional eingeschränkt werden, was wiederum die Nachfrage nach öffentlicher Gesundheitsinfrastruktur erhöht. Für die extrem arme Bevölkerungsmehrheit Perus resultieren daraus weit schlimmere Konsequenzen als es die finanziellen Indikatoren erwarten lassen (Musgrove 1986). Durch die Rezession wird damit hypothetisch ein Zustrom in den traditionellen Sektor ausgelöst, der nun Patienten mitversorgt, die zuvor noch am (kostspieligeren) modernen System partizipieren konnten. Von Bedeutung für die Entwicklung des traditionellen Medizinsektors ist auch die Bevölkerungsdynamik. Die Bevölkerung im Küstengebiet nahm in den letzten 40 Jahren von 35 auf 50 % zu, und die des Hochlandes von 65 auf 40 % ab, während der Anteil des Urwaldgebietes bei 10% mit steigender Tendenz (Kolonisation) liegt (1987: 20). Die städtische Bevölkerung wird bis zum Jahre 2000 auf 75 % der Gesamtbevölkerung wachsen, womit sich auch der Curanderismus weiter vom traditionellen ländlichen Setting entfernen und neue Aufgaben übernehmen muß, z.B. die Verarbeitung des Akkulturationstraumas von Migranten (vgl. Press 1978). b) Infrastruktur des Gesundheitswesens In Peru werden 3/4 der Gesundheitsausgaben für die städtischen Hospitäler verwendet und nur 1/4 für die Gesundheitszentren auf dem Lande. Ca. 6 Mio. der 18 Mio. Peruaner haben überhaupt keinen Zugang zum öffentlichen und privaten Sektor des modernen Gesundheitswesen (1987:5) und sind daher vollständig auf den traditionellen Sektor bzw. andere Medizinsysteme angewiesen. 2

Entgegen der WHO-Forderung nach Einbeziehung der traditionellen Medizin in die Gesundheitsplanung in Ländern der Dritten Welt (vgl. WHO 1978) findet sich in der mit 70 peruanischen Wissenschaftlern erstellten Studie keine Erwähnung des traditionellen Sektors.

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1986 existieren 338 Hospitäler mit 30.000 Betten, wobei zuviele Großhospitäler gebaut wurden, so daß in Lima/Callao, Ica, Arequipa und Tacna sogar eine Überkapazität besteht, während das Hochland (Cusco, Puno, Cajamarca) stark unterversorgt ist. Ferner gibt es 785 health Centers (centro de salud) und 1925 health posts (puesto de salud), wobei allerdings keine Angaben über die tatsächliche Ausstattung bestehen (1987: 109), insg. 13500 Ärzte, 11000 Krankenschwestern, 2800 Pharmazeuten und 28000 Hilfskräfte (1987: 4). Das Versicherungsinstitut IPSS, das für 18 % der Bevölkerung zuständig ist, verfügt über 78 % der Hospitalbetten, 93 % der Primary Health Care Angebote und 50 % der Ärzte. Die Gesundheitsdienste von Polizei und Militär (3 % der Bevölkerung) über 6 %. Die extrem ungleichen Zugangschancen der sozialen Gruppen zum Gesundheitswesen und auch die regionalen Disparitäten zwischen Stadt und Land werden über die Indikatoren der Betten- und Ärztedichte pro Einwohner am deutlichsten. In Lima bzw. Arequipa und Ica kommen auf ein Krankenhausbett 380 bzw. 433/452 Einwohner, in der Region Cajamarca sind es dagegen 7.189, in der Region Amazonas 2.967 und um Puno 2.131 (1987: 117). Diese Entwicklung wird fortgeschrieben: Von dem 1 % der Infrastrukturausgaben, das 1980 bis 1984 auf das Gesundheitswesen entfiel, wurden 92 % (!) für den Bau von 7 Großhospitälern der IPSS und des Ministeriums in großen Städten ausgegeben (Ministerio de la salud 1985: 12). Was die Ärztedichte betrifft, so kommen in der Region Amazonas auf einen Arzt 31.698 Personen. In der Region Apurimac sind es 18.124, in Huancavelica 31.417, in Ayacucho 18.124, in Cajamarca 19.515, in Puno 13.015, in Ucayali 8.056 (Ministerio de la salud 1985: 38). Zum Vergleich: In einem strukturschwachen Gebiet der Bundesrepublik wie dem Hunsrück beträgt das Verhältnis ca. 1:900 (Pies 1988:72). Geht man davon aus, daß die Ärzte in diesen Regionen an den größeren Orten bzw. Krankenhäusern konzentriert sind, dann wird deutlich, daß der traditionelle Sektor weithin das einzige Versorgungsangebot darstellt. Interessant ist hier eine Studie von Pedersen/Coloma (1983) in Ecuador. Sie stellten fest, daß sich das Gesundheitsniveau in Orten mit guter bzw. schlechter westlich-medizinischer Versorgungsstruktur nicht unterschied, da die Nutzung eher von ökonomischen Faktoren als von der Ärztedichte abhänge. Ärzte und Heiler wurden nach dieser Studie bei ernsthaften Erkrankungen etwa gleich häufig aufgesucht. Eine Befragung von Hahold/Kröger (1986) im südlichen Hochland von Peru ergab, daß dort etwa 2/3 der genannten Beschwerden ausschließlich zu Hause behandelt werden, 15 - 23 % beim traditionellen Heiler und nur 10 -16 % beim Arzt, Sanitäter oder im Krankenhaus. Die Disparitäten zeigen sich auch bei den pharmazeutischen Verkäufen, die zu 2/3 im privaten Sektor induziert werden. Heute zahlen von 4 Mio. Peruanern, die überwiegend den privaten Sektor konsultieren, 0,5 Mio. diesen Ser-

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vice direkt, 3,5. Mio. sind versichert. Die erwähnten 6 Mio. der Ärmsten haben pro Jahr ein Budget von 4 Dollar/Person für Gesundheitsausgaben zur Verfügung (1987: 7). c) Morbiditätsstatistik Inwieweit die Morbiditätsstruktur der Klienten von Volksheilern dem Querschnitt der Klientel eines Allgemeinarztes entspricht, kann aus den vorliegenden Daten nicht erschlossen werden. Offen bleibt vor allem die Frage, ob es sich bei der traditionellen Medizin lediglich um »psychiatria folklórica« (Seguin 1979) handelt oder nicht vielmehr um eine mit bio-psychsozialen und phytotherapeutischen Wirkfaktoren arbeitende Medizinform, die ein breites Spektrum psychischer und somatischer Leiden erfolgreich behandelt. Die folgenden Daten zur Morbiditätsstruktur geben in jedem Fall Rahmenbedingungen für das zu erwartende Aufgabenfeld der traditionellen Heiler an. Die Lebenserwartung in Peru ist mit 58,6 Jahren nach Bolivien (50,7 J.) die zweit niedrigste in Südamerika; 50 % der Kinder unter 6 Jahren sind unterernährt (1987: 34), jeder zweite Todesfall bezieht sich auf ein Kind unter 5 Jahren (Ministerio de la salud 1985: 9). Die Daten über die Morbiditätsstruktur in Peru entstammen folgenden Quellen: -

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den Angaben über Todesursachen aus medizinischen Totenscheinen. Dabei ist zu

berücksichtigen, daß z.B. 1981 nur 50 % aller Todesfälle registriert wurden und davon nur 62 % medizinisch (1987: 25). Die fünf Haupttodesursachen sind Atemwegserkrankungen (21 %), Magen-Darm-Infektionen (9 %), perinatale Probleme (9 %), »schlecht definierte Symptome« (8 %) und IO-ebs (8 %) (1987: 26). Daten im Hospitalisierungsfall. Dabei sind 90 % der Hospitäler des Gesundheitsministeriums erfaßt, die für 60 % der Landbevölkerung nutzbar sind. Die Hospitalisierungsanlässe stehen zu 16 % im Zusammenhang mit Geburten, 10 % sind Erkrankungen des Verdauuungstrakts, 10 % Unfälle und Gewalt, 8 % Abtreibungen, 5 % Darmbeschwerden. Diagnosen ambulanter Patienten (1987: 16ff.). Bei einem Zufallssample von 100.000 Personen aus 20.000 Haushalten gaben 35 % an, in den letzten 14 Tagen eine Krankheit gehabt zu haben. Bei 17 % davon waren es Atemwegserkrankungen, bei 7 % Verdauungsbeschwerden, bei 3,3 % Zahnschmerzen, bei 1,7 % Unfälle. 50 % aller erfaßten ambulanten Krankheitsfälle betrafen Atemwegserkrankungen.

Im Gegensatz zu den in Industrieländern vorherrschenden »Zivilisationskrankheiten« sind es in Peru Infektionskrankheiten wie Atemwegs- und MagenDarmerkrankungen, die einen Großteil des Behandlungsbedarfis ausmachen

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(Vgl. Ugarte 1984: 72). Bemerkenswert ist auch die Häufigkeit von Wurmerkrankungen, die nach den Durchfallerkrankungen an zweiter Stelle der registrierten Erkrankungen liegen (Länderberichte 1987: 22). Auch in der erwähnten Interviewstudie von Hahold/Kröger (1986:100) wurden Erkrankungen der Atmungsorgane (27 %) und des Verdauungsapparates (26 %) vor allgemeinem Krankheitsgefühl (16 %), Zahnschmerzen (9 %) und Gelenk- und Wirbelsäulenbeschwerden am häufigsten genannt. Für künftige Studien über das Versorgungspotential der traditionellen Medizin in Peru ist auch die Arbeit von Longmore/Loomis (1949) von Interesse. Hier werden deutliche Unterschiede in den berichteten Symptomen zwischen den drei Ortschaften Tingo Maria, Panao und Juajui berichtet, die vermutlich auf ökologische Bedingungen zurückzuführen sind. Hier wäre zu prüfen, ob Volksheiler für regional relevante Störungen eine besondere Methodenvielfalt entwickeln und inwieweit diese sich als effektiv erweist. Zusammenfassung Wenn man von ca. 30 % der peruanischen Bevölkerung ausgeht, die keinerlei Zugang zum modernen Gesundheitswesen haben und femer die extrem disparitäre Angebotsstruktur und die korrespondierenden Nutzungsbarrieren (Kosten, Entfernungen, soziale Schwellenangst) berücksichtigt, dann wird die Rolle der Volksmedizin für die Gesundheitsversorgung nicht nur auf dem Lande unmittelbar evident. Nach einer mündlichen Mitteilung von Dr. F. Cabieses sind es auch in Lima ca. 80 % der Bevölkerung, die Volksheiler aufsuchen. Beitran (1978) sieht das Hauptproblem darin, daß das Gesundheitssystem Objekt der Marktwirtschaft sei und die Zentralisierungstendenzen letztlich nicht auf die Gesunderhaltung, sondern auf kurative Maßnahmen zielten. Angesichts der enormen faktischen Versorgungsfunktion der traditionellen Medizin in Peru erscheint eine Evaluation ihrer Effizienz umso dringlicher. Sie läßt sich in die beiden Hauptgebiete Phytotherapie (inkl. Mineral- und Tierstoffe) und psychosoziale Wirkfaktoren (Rituale, Orakel, symbolische Handlungen, »Magie« etc. gliedern. Der Evaluation der Fallbeispiele ist ein systematisches Modell zugrundegelegt, das für psychosoziale »Wirkungen« traditioneller Heilrituale die Interaktion der drei Faktoren Heiler (Persönlichkeit, Verhalten, Ausbildung), Klient (Persönlichkeit, Krankheit) und Situation (z.B. rituelle Handlungen, physische Umwelt) berücksichtigt. Für die deskriptive Falldarstellung wird ein ethnomethodologischer Ansatz verwendet, der an der kulturimmanenten Sichtweise, der alltagsprachlichen Vermittlung und dem unmittelbaren Erleben anknüpft (vgl. Rogers 1983: 67f., Sharrock/Anderson 1986: 67). Es geht daher weniger

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um das Auffinden »latenter kognitiver Strukturen« heilerischen Handelns, sondern um die Art und Weise, wie diese Strukturen von den Akteuren (hier besonders dem Heiler) auf je individuelle Weise stets neu inszeniert werden (vgl. Garfinkel 1967: 33). Um diese individuelle Komponente nicht gegenüber dem kulturell Typischen zu vernachlässigen, wird zuerst der beruflich relevante Sozialisationsprozess des Heilers Melchior Salomon geschildert. Im Anschluß werden drei Fallvignetten vorgestellt und diese unter sozialpsychologischen Aspekten bewertet.

2. Melchior Salomon: Initiation und Werdegang eines traditionellen Heilers in Lima Melchior Salomon, der sich selbst als »spiritueller Heiler« (curandero espiritual) und Heilpflanzenkundiger (herbolario) bezeichnet, stammt aus dem 1800 Meter hoch gelegenen Andendorf Canchapillca ca. 100 Kilometer nördlich von Lima. Quelle für die Darstellung seines Werdegangs sind narrative Interviews. Die Erzählung wird hier weniger unter dem empirischen »Wirklichkeitsaspekt«, sondern als eine Abfolge von Erzählmotiven gefaßt, die er auch in Behandlungssituationen einsetzt. Sie bilden zwei vielfach verkoppelte Stränge, die einmal lebensgeschichtliche Daten und zum anderen initiatische Traummotive betreffen. a) Zur Lebensgeschichte Melchiors Vater war 5 Jahre als Priester am Konvent San Francisco in Lima und kehrte nach dem Tod seiner Eltern nach Canchapillca zurück. Diese Nähe zur katholischen Kirche schlägt sich im differenzierten Gebrauch der verschiedensten Heiligennamen bei Melchiors Heiltätigkeit nieder. Zur Heirat seines Vaters bemerkt er: »Aus dieser heiligen Verbindung zweier spiritueller Wesen kommt ein Sohn mit vielen göttlichen Gaben, die mir heute helfen, meine Brüder zu heilen.« Der Vater wird als »sehr gut« geschildert, als »Freund« seiner Kinder, der sie nie schlug. In der Schule fühlte sich M. zu Religion und Kultur hingezogen. Als sein Vater starb war M. 14 Jahre alt und verbrachte die weitere Jugend in engem Kontakt mit der an Parkinson erkrankten Mutter, die ebenso wie die Großmutter als Pflanzenheilerin tätig war. »Ich ging von Haus zu Haus und fragte die Leute nach ihren Leiden. Wenn sie sagten, sie hätten Rückenschmerzen, sagte ich, ich käme am

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nächsten Tag wieder. Ich fing eine Eidechse, zog ihr die Haut ab, briet sie und füllte das Fett in eine Flasche. Das nahm ich für Massagen.« M. bringt seine spirituelle »Heilkraft« und die von ihm verwendeten Pflanzen auch mit seinem Geburtsort Canchapillca in Zusammenhang: »Es ist ein Ort mit starkem Magnetismus, der meine spirituelle Entwicklung gefördert hat. Die Berge sind wichtig, weil in dieser Höhe keine negative Energie ist. Die ersten Einwohner waren Abkömmlinge von Viracocha. Sie wohnten in den Ruinen von Jaros 3 . Sie hatten Respekt vor Tieren und Pflanzen. 4 Magnetismus 5 bedeutet eine Kraft des Ortes und der Berge, die Visionen fördert. Du fühlst dich ruhig, verliebt in den Ort, sehr frei, man hat Lust, zu Gott zu beten. Wir sind reine Nachfahren der Rasse (d.h. der Inka, W.A). Ich bin selbst eine Reinkarnation eines präkolumbischen Arztes.« Den eigentlichen Beginn der Heilertätigkeit sieht M. mit dem 18. Lebensjahr gegeben, als er die erste »Reinigung mit dem Meerschweinchen« machte: 6 »Das war bei jemand, dem der ganze Körper schmerzte und der geschwollene Beine hatte. Ich wollte wissen, ob er Rheuma hatte, etwas mit den Nieren, einen susto7 oder eine Hexerei. Das Ergebnis nach der pasada (Meerschweinchenreinigung, W.A.) war eine Hexerei. Er bekam agua de chachacoma, agua de achangoi und Bäder mit Sam Pedro. 8 Das wurde gemacht, um die Hexerei, die seine Extremitäten befallen hatte, zu beseitigen. Der Mann wurde wieder ganz gesund. Danach kamen immer mehr Leute, um geheilt zu werden.«

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Ruinen der Inkas ca. 3 Wegstunden oberhalb von Canchapillca.

4

Bei einem Besuch in Canchapillca zeigte mir Melchior einige Ruinen, die er als »Haus des Arztes« bezeichnet, da er in der Umgebung über 200, zum Teil seltene Medizinpflanzen gefunden hätte. Geschichtliche und mythische Motive werden auf diese Weise im Alltag, und nicht nur während der heilerischen Tätigkeit, aktualisiert und fortgesponnen.

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Dieser Magnetismus-Begriff ist vermutlich ein Relikt mesmerischer Praktiken, die auch Dauermagneten verwendeten, wie man sie noch heute auf den Heiler-Märkten findet

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Dabei handelt es sich um das Abreiben des Körpers mit einem lebenden Meerschweinchen auf dessen Organe sich das Leiden übertragen soll. Das Tier wird im Anschluß getötet, aufgeschnitten und aus »Zeichen« an den Organen »Diagnosen« gestellt, z.B. Hexerei, susto oder eine »natürliche Krankheit« (vgl. Andritzky 1987).

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Susto ist ein indigenes Erklärungsmodell für ein breites Spektrum psychischer und physischer Störungen. Er wird durch einen »Schreck« oder Geistererscheinungen verursacht, die bewirken, daß die Seele den Körper verläßt, der dann dahinsiecht (vgl. Andritzky 1990a).

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San Pedro (Trichocereus pachanoi) ist ein meskalinhaltiger Säulenkaktus, der in Nordperu im Rahmen nächtlicher Heilrituale verwendet wird. Nach Aussage von M. schützt der Kaktus sein Haus vor den Angriffen von imaginären Hexern und hält die bei Behandlungen seiner Patienten frei werdende negative Energie von ihm selbst ab (vgl. Sharon 1982).

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Später kam M. in Lima ins Krankenhaus Dos de Mayo, da er Mumps hatte, »die Infektion reichte bis zum Hoden ... Ich hatte hohes Fieber und war eine Zeit bewußtlos. Die Ärzte heilten mich sehr langsam und mit vielen Antibiotika.« M. arbeitete dann an diesem Krankenhaus 9 Jahre als Krankenpfleger. Der Arzt und Direktor des im Hospital befindlichen Museo de las Ciencias de la Salud wurde auf ihn aufmerksam und beschäftigte ihn im später bezogenen Museumsgebäude halbtags zur Betreuung der Heilpflanzensammlung. Dort lernte ich M. 1984 kennen und wurde von ihm eingeladen, seine Praxis zu beobachten. M. empfängt seine Klienten zumeist gegen Mittag vor dem Museum, geht dann zuerst zu einen Marktstand für traditionelle Heilmittel, um die benötigten Stoffe einzukaufen und fährt anschließend mit den Klienten in sein Haus in einer der Vorstädte Limas. Andere Klienten suchen ihn direkt dort auf. Im Durchschnitt kamen während der viermonatigen Zeit meiner Beobachtung durchschnittlich drei bis sechs Klienten im Laufe eines Nachmittags. b) Die initiatisch-visionäre Legitimation Als Basis seiner spirituellen Heilkraft sieht M. seinen dort espiritual an, »das ist eine Energie, die Gott jemandem gibt, damit er seinen Brüdern helfen kann«. Diese Gabe, die sich über Generationen vererbt, offenbarte sich ihm im Alter von acht Jahren in einem Traum: »In meinem Traum sah ich eine Person mit weißer Haut, blauen Augen, blonden Haaren, weißer Tunika und barfuß. Wir waren auf einem weiten Feld, wo es eine Vielfalt an Pflanzen gab und er9 sagte zu mir: 'Alle diese Pflanzen sind für Dich und Du wirst sie zum Guten Deiner Brüder gebrauchen, Du wirst ihre Krankheiten heilen, ihren Hunger stillen und ihr Führer sein. Die erste Pflanze, die Du morgen findest, wird die Pflanze sein, mit der Du zum erstenmal heilst.' Dieser Traum ist mir ständig gegenwärtig. Ich habe ihn meiner Großmutter erzählt und sie sagte zu mir 'Mein Sohn, Du hast einen dott espiritual, das ist Gott, der Dich ruft, damit, wenn Du älter bist, Du anderen mit den Kräutern helfen kannst'.« Einige Jahre später hatte M. einen weiteren Traum: »Ich träumte, ich flog. Ich öffnete meine Arme, flog und kam zu einem Feld umgeben von hohen Bergen. Ich kam herunter und sah kleine Häuser 9

Die Traumberufung durch einen hellhäutigen, blonden Mann mit blauen Augen und weißer Tunika nimmt auf den andinen Hochgott Viracocha Bezug und ist ein vielfach berichtetes Motiv, das seit dem Einbruch der Spanier auch durch den Hl. Santiago ersetzt wird (vgl. Andritzky 1988, Bd. 2: 292ff.).

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mit Personen wie in meinem vorherigen Traum, mit grünen Pflanzen, alle mit weißen Blüten. Alle Leute waren gut zu mir und heilig, sehr mystisch ... Es waren Schwingungen, wir sprachen und wieder begann ich zu fliegen. Wie ein Vogel. Auch diesen Traum erzählte ich meiner Großmutter und sie sagte mir: 'In ein paar Jahren wirst Du eine Begegnung haben mit einem Feind. Aber wenn Du ihn besiegst, wirst Du jemand sein, den niemand besiegen kann'.« In der Folgezeit kommt es wiederholt zu ähnlichen Träumen, z.B.: »Ich erinnere mich, daß ich auf einem Feld eine Pflanze in Form eines Kreuzes pflückte. Die vorige Nacht sah ich den gekreuzigten Christus, aus seinem ganzen Körper trat Blut aus. Als ich ihn berührte, sagte er zu mir: 'Du hast den don espiritual von deinen Großeltern geerbt'.10« M. spricht von dieser Zeit als »großer Unruhe«: »Ich war sehr unruhig. Am Himmel sah ich das Kreuz des Südens 11 , wir sahen Hirsche, die ein spirituelles Symbol sind. Der Hirsch opfert sein Leben für uns, sein Körper enthält alle Schwingungen, alle seine Körperteile sind Heilmittel ... Dann hatte ich eine starke Erkältung, eine Lungenentzündung, als ob mir der Brustkorb platzte. Ich entdeckte fünfzehn Pflanzen, um die Bronchien zu heilen.« M. berichtet weiter, sich in Canchapillca dem Ackerbau und der Viezucht gewidmet zu haben. Mit 20 habe er dann nach vielen Versuchungen, »Untaten« zu begehen und sich den »Leidenschaften« hinzugeben, folgendes Erlebnis gehabt: »Später kam ein Moment, als ich an einem Nachmittag eine Hand sah, die nahe meinem Kopf war und die sagte: 'Du wirst eine Niederlage erleiden'. Als ich mich umblickte, sah ich eine Person mit roten Augen und einem entsetzlichen Gesicht, die mir ihre Hand entgegenstreckte, um sie zu küssen. Ich sagte: 'Ich kann nicht tun, was der Satan möchte. Ich weise alle zurück, die kommen, um meine Meditationen zu stören'.« Die Erlebnisfolge entspricht dem von Eliade (1957) gefundenen Muster »schamanischer« Initiation zu der u.a. die Berufung durch einen Traumbefehl, eine Selbstheilung, der »Seelenflug« und die Überwindung von Todesangst gehört. Bei M. verlief der empirische Lernprozess des Heilpflanzengebrauchs und 10 Die doppelte Initiation durch Viracocha und Christus zeigt die synkretistische Orientierung, die altandine und christliche Elemente verbindet. 11 M. ist stark beeinflußt von der Theorie des ihm persönlich bekannten Architekten Milla Villena (1983, Genesis de la cultura Andina, Lima), daß die Relationen der Steme im Kreuz des Südens ein Maßsystem für präkolumbische Sakralbauten abgaben (vgl. auch Andritzky 1988, Bd. 1: 86f., Bd. 2: 343ff.).

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der volksmedizinischen Rituale parallel mit dem visionären. Die Visionsmuster spiegeln sowohl den familiären Kontext (differenzierte Kenntnis des christlichen Dogmas, der Heiligen und der Liturgie; die Heilertätigkeit der Mutter und Großmutter) wie auch typische kulturelle Initiationsmotive (Viracocha als Initiator) wider. Insgesamt werden vier Quellen übernatürlicher Heilkraft erwähnt: 1. Der von den Eltern ererbte don espiritual, 2. die Reinkarnation eines präkolumbischen Arztes, 3. der Magnetismus des Geburtsortes, 4. die Berufung durch Viracocha. Diese Motive werden in Anpassung an die jeweils aktuelle Interaktionssituation und die Problematik seiner Klienten mit der Funktion variiert, seine Interpretationen und Handlungen mit einem charismatischen Fluidum und absoluter Autorität zu versehen.

3. Drei Fallvignetten a) Eine »schwarze Messe« Der Klient P., ein 25jähriger Biologiestudent, erscheint ganz in schwarz gekleidet. Im Erstgespräch gibt P. an, Mitglied in einem esoterischen Zirkel zu sein. Später wolle er sich ganz auf das Studium der Heilpflanzen konzentrieren. Als Anlaß des Besuchs gibt er an: »Ich hatte im letzten Jahr eine Freundin, wußte aber nicht, daß ihre Mutter eine Hexerin war. Das Mädchen wollte mich heiraten, wozu ich aber keine Lust hatte. Wir trennten uns. Auf dem Markt hörte meine (neue, W.A.) Freundin jetzt zufällig ein Gespräch, daß meine frühere Freundin eine schwarze Messe gegen mich plant, am nächsten Samstag.« Bei einer schwarzen Messe bittet jemand einen Pfarrer, für eine Person, die in einem entfernten Ort verstorben ist, eine Totenmesse abzuhalten. Tatsächlich handelt es sich bei dem Namen des Toten aber um das Opfer, das auf diese Weise als Toter behandelt wird und damit analogiemagisch tatsächlich getötet werden soll.

Exkurs Hexerei und schwarze Magie stellen auch im Urbanen Milieu Limas, und dort nicht nur in der Unterschicht, eine gültige oder zumindest für mögliche gehaltene Ursache von Krankheit und jeder Art sonstigen »Unglücks« dar. Das äußert sich u.a. in den Diagnosen der Volksheiler. Silva et al. (1979:1300 fanden bei der Untersuchung von 42 curanderos in Lima die Hexerei (dano) mit 31 % als häufigste Diagnose. In den Presseberichten der Tageszeitungen werden Hexerei und die Gegenaktionen der curanderos stets als real geschildert. Chiappe

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(1979: 77f., 88ff.) charakterisiert den über einen »Hexer« (brujo, malero) mittels Ritualen ausgeführten Schadenzauber als allgegenwärtige Handlungsmöglichkeit eines »Feindes, den jeder hat«. Hauptgrund sind Neid (envidia), Rivalität und Eifersucht.12 Der dano soll beim Opfer zu Unglück, Entzweiung von Partnern, Verlust des Arbeitsplatzes, oder Krankheiten jeder Art führen. Unabhängig von der Frage, ob tatsächlich ein Schadenzauber ausgeführt wird oder das Opfer nur daran glaubt, hat Cannon (1942) in bezug auf Vodoo gezeigt, daß die durch Todesdrohungen von Magiern beim Opfer ausgelöste Angst über psychophysiologische Reaktionen zu Herzstillstand und Tod führen kann. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß sich Herr P. ganz unabhängig von möglichen pathogenen Dispositionen in seiner Persönlichkeit zum Zeitpunkt der Konsultation in einer gesundheitlichen Risikosituation befindet. Der Fall von P. bildet daher ein Beispiel für eine präventive Krisenintervention im Rahmen eines kulturellen Glaubenssystems. Wie im folgenden gezeigt wird, geht M. die Angstreaktion von P. durch die Transponierung der auslösenden Situation auf eine symbolische Meta-Ebene an. Indem er sich dabei eines weiten Reservoirs individueller und kultureller Erzählmotive und kurzer Symbolhandlungen bedient, erzeugt er unter ständigem Bezug auf die Situation von P. das Bild eines Super-Magiers, der die Gefahr der schwarzen Messe abzuwehren versteht, und ihm damit seine Angst nimmt. Im folgenden wird der Fortgang der Sitzung in ihrer interaktiven Struktur wiedergegeben: Nach Ende des einleitenden Gesprächs holt M. eine Plastiktüte mit kleinen weißen Kieseln aus einer Schublade. Zuerst wird eine Symbolfunktion kreiert: »Das sind Steine von der Pyramide in Ägypten, die hat mir ein Freund mitgebracht, dem ich einmal geholfen habe. Sie haben mich schon oft beschützt. Mit denen werfen wir den dano zurück ... Heute darfst Du übrigens nicht schlafen, du machst Meditationen im Namen Gottes.« Es folgt eine etwa einstündige Erzählphase während P. passiv zuhört und M. das Thema »Ich bin mächtiger als alle Hexer« symboldramatisch in immer neuen Varianten entfaltet, z.B.: »Also, einmal hatten wir eine Sitzung mit sechs Medien, die aus mehreren Ländern gekommen waren. Während dieser Seance erschienen über 20 Geister, aber nur schlechte. Das Haus dieses brujos, wo wir tagten, war voll von roter, schwarzer, grüner und brauner Magie. 13 Ich habe die Sitzung 12 Chiappe (1979: 79f., 88ff.) weist darauf hin, daß die Rolle der Hexerei in den Städten des Küstengebietes aufgrund von interpersonellen Spannungen aus dem Wettbewerb um Arbeitsplätze und aus sozialem Neid zunimmt. Demgegenüber tritt die Diagnose susto, die an Probleme der MenschNatur-Bczichung im Hochland anknüpft, zurück. Silva et al. (1979) fand in Lima nur bei 11 % der untersuchten Klienten eine susto-Diagnose. 13 Nach Auskunft von M. betrifft die weiße Magie göttliche, gute Kräfte, die schwarze Magie Hexer, die

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dann unterbrochen und habe ihnen gesagt: 'Wenn ihr schwarze, grüne, braune oder rote Magie macht, bleibt ihr selbst auf der Strecke.' Ich bin aufgestanden und hinausgegangen. Gleichdarauf explodierte in der Küche eine Gasflasche. Sie hatten dort irgend ein Gesöff gekocht, um einen Schadenzauber (dano) zu machen.« M. erzählt diese Geschichte mit belustigter Miene, während P., der anfangs noch sichtlich nervös war und starr auf der Couch saß, entspannt der Erzählung folgt und allmählich auftaut. M. fährt fort: »Einmal war ein Parapsychologe hier, aus Italien, auf seinem Gebiet sehr bekannt, ein fähiger Mann von der Universität, der war am halben Körper gelähmt, ein Epileptiker und der wurde ganz rot und schwitzte am ganzen Körper. Seine Kleidung war völlig naß. Ich war nach einer halben Stunde erschöpft, soviel negative Energie von schwarzer, brauner, grüner und roter Magie hatte der in sich. Ich habe gesagt: "Geh" direkt den Weg Gottes', kurz darauf war er gesund. Die Ärzte konnten das nicht heilen. Die sagten, er sei verrückt, es gäbe keine Heilung. Man muß diese Sachen kennen.«14 In einem weiteren Beispiel von magischen Kämpfen erweist sich M. als den Hexen ebenbürtig und kommt damit auf die Mutter der ehemaligen Freundin von P. zurück: »Als ich an einem anderen Ort wohnte, kam eine Frau zu mir, von der ich nicht wußte, daß es eine Hexe war. Als ich dann zum Mittagessen gehen wollte, konnte sie nicht aufstehen. Ich sagte: 'Steh auf!', doch sie blieb bis fünf Uhr nachmittags sitzen. Sie fragte mich dann: "Warum kann ich nicht aufstehen?'. Ich antwortete ihr dann: 'Weil sie soviel negative Energie haben. Willst du meiner Familie und meinem Haus Schadenzauber (dano) machen? Stirb wie eine Viper, die sich selbst vergiftet!.'« Zu P. gewandt erklärt M.: »Eine Viper, die ihr Opfer nicht trifft, beißt sich zuletzt selbst, um ihr Gift loszuwerden. Fünf Tage später starb sie.« Nach der Kreation seiner selbst als mächtigem Magier nimmt M. direkt auf P. Bezug: mit Dämonen und den Energien der »schwarzen Lagunen« in Nordperu arbeiten. Bei der grünen Magie, die er dem Urwaldgebiet zuordnet, wird z.B. ein Kleidungsstück in die Rinde eines Baumes eingeschlossen, um jemanden krank werden zu lassen. Die rote Magie hat mit den Vulkanen zu tun. Der Hexer legt z.B. eine Puppe des Opfers in eine vulkanische Zone und bittet den Schutzgeist dieser Zone, das Opfer möge an Blutungen sterben oder seine Organe mögen sich zersetzen. Bei der braunen Magie vergräbt ein Hexer Kleidungsstücke des Opfers in Kupferminen. Der Körper soll daraufhin auszehren oder kupferfarben werden und vertrocknen. 14 Das Thema, »das können die Ärzte nicht heilen«, gehört zum Standardrepertoire des Anamneseprozesses von M. Gleichzeitig grenzt er die im Kontext von Hexerei und Magie entstandenen psychischen Störungen stets von den Klassifikationen der westlichen Psychiatrie ab.

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»Kennst du die Libelle, ein hübsches Tierchen, sagst du, wenn es durchs Fenster hereingeflogen kommt, aber es kommt mit einer Mission. Es reißt dir ein Haar aus und bringt es dem Hexer. Es gibt grüne, braune, rote und schwarze, je nachdem welche Magie der Hexer macht, also paß auf! Und was das Essen angeht: Früchte und Grünes, kein rotes Fleisch, kein Alkohol, keine Sexualität. Du verbindest dich mit der positiven Energie Gottes. Das sind sehr wichtige Sachen. Im Traum gibt er dir Symbole, die du zur Heilung brauchst. Im übrigen: Nicht zu einem Friedhof gehen und nicht trinken. Und paß morgen auf, schlaf nicht ein vor ein Uhr, denn zwischen elf und eins sind sie (die Hexer, W.A.) zu Gange. Und vor allem, trage helle Kleider!« P. rekapituliert innerlich die Ratschläge und vergewissert sich: »Also mit den Tierchen aufpassen, das Essen - sonst noch was?« M. hat noch etwas nachzutragen: »Ja, wenn man dir kleine Geschenke anbietet, paß auf, nimm nichts an!« P., der davon ausgeht, daß M. ein Gegenritual veranstaltet fragt: »Brauchst du eine Fotografie?« Darauf M: »Nein, du bist zur rechten Stunde gekommen, ich werde dir helfen. Komm' übermorgen wieder und bring' ein Meerschweinchen mit, ein männliches, möglichst weiß ...«15 Damit war diese Konsultation beendet. M. bemerkte zu mir, er werde am nächsten Samstag lediglich eine Meditation machen. Die negative Energie, die P. durch die Hexerei in sich trage, werde nächste Woche die Reinigung mit dem Meerschweinchen beseitigen und das sei in diesem Fall alles. Insgesamt sind an P's. Konfliktkonstellation fünf Personen beteiligt: Der Pfarrer und die Teilnehmer der schwarzen Messe, die Mutter der alten Freundin, die alte Freundin, die neue Freundin und P. selbst. Mit magischen Kräften ausgestattet sind dabei nur der Priester mit seiner Messe und die »Hexe«, in gewisser Weise auch P. selbst, der einem esoterischen Zirkel angehört in dem mit übernatürlichen Kräften experimentiert wird. Vor dem Hintergrund dieser Beziehungsstruktur zeigt sich, wie in den zitierten Geschichten die Konfliktsituation von P. auf symbolischer Ebene »bearbeitet« wurde.

15 Vgl. Anm. 6.

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Schema der symbolischen Transformationen Fall von P.

Metapher

Priester (schwarze Messe) Hexe (Mutter der a.Freundin) Alte Freundin Neue Freundin Klient P.

Sitzung der schwarzen Magier Hexe, die M. besuchte Bild der Libelle der universitäre Parapsychologe

In den Geschichten ist es jeweils M., der die Sitzung der Schwarzmagier sprengt (= schwarze Messe gegen P.)/ die ihn besuchende Hexe besiegt, sodaß sie stirbt (= Mutter der alten Freundin) und den schwitzenden Parapsychologen (= der mit Esoterik befaßte Biologiestudent P.) von den Einflüssen negativer Energie befreit. M.'s Technik, die unten noch weiter erörtert wird, entspricht der Wahrsager, die Freud (1969: 482) als Umkehrung der Psychoanalysesituation beschrieb: Die Prophezeiungen bzw. hier die Geschichten sind so zu analysieren als wären es subjektive Phantasien und (Angst-)Träume der Betroffenen, die der Heiler dem Unbewußten der Klienten auf hellsichtige Weise »abgezapft« hat. Nicht P. assoziiert und begreift biographisch Verdrängtes im affektiven Wiedererleben, sondern M. assoziiert für ihn. Er symbolisiert dabei nicht nur die durch die konkrete Situation aktualisierten Ängste von P., sondern bekämpft ihre Ursachen in der Symboldynamik der emotional ansprechenden Analogiegeschichten. b) Die »Hausreinigung«. Eine familienbezogene Krisenintervention Ausgangssituation: Im Gefolge eines Umzugs der Familie E. in ein ruhig gelegenes Einfamilienhaus im Distrikt Pueblo Libre in Lima kam es zu einer Reihe von Problemen: Der Familienvater bekam nacheinander einen Herzinfarkt und ein Magengeschwür, seine Frau litt an Arthritis, angina pectoris und Rückenschmerzen. Die Tochter, die zuvor stets früh morgens aufstand und mit Eifer ihrem Studium nachging, fühlte sich nun krank und müde. Sobald sie das Haus verließ ging es ihr besser. Besucher der Familie sollen ebenfalls erkrankt sein. Von M. hatte die Familie über einen Zeitungsartikel erfahren. M. hatte als Grund für die Probleme die Existenz von präkolumbischen Grabstätten (huacas) in dem Gebiet des Hauses vermutet und eine »Hausreinigung« vorgeschla-

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gen. Grund aller Übel sollten Ahnengeister sein, die in der Nähe ihrer Gräber umherschweifen und den Lebenden Schaden zufügen.16 Auch in diesem Fall wählt M. aus seinem Reservoir an Ritualhandlungen und kulturellen Erzählmotiven solche Komponenten aus, die der vorgeschlagenen Ursache der Probleme (Geister) entsprechen und erweitert diese Ursache noch im Verlauf der dramatisch inszenierten »Reinigungen« des Hauses. Der Verlauf des Besuchs, der sich über fünf Stunden hinzog, läßt sich in drei zeitliche Abschnitte gliedern: Das Ritual der »Taufe der präkolumbischen Brüder«, das Erzählen von Symbolgeschichten und die Räucherung des Hauses. 1. »Die Taufe der präkolumbischen Brüder«.17 Nachdem M. auf dem Markt verschiedene Parfüme, Nahrungsmittel und Räucherstoffe eingekauft hat, beginnt der Besuch gegen 12 Uhr mittags. M. begibt sich sogleich nach der Begrüßung in eine Ecke des kleinen Gartens neben dem Haus und fängt an, ein Loch zu graben. Schon einer der ersten Spatenstiche fördert kleine Knöchelchen zutage, was M. mit einem Seufzen kommentiert »Aha, da haben wir's«. Die Mutter und eine ihrer Töchter, eine Bekannte der Familie und ich besichtigen neugierig diesen ersten Beweis für die Richtigkeit von Melchiors Theorie. In der Situation ist es dabei unbedeutend, daß die winzigen Knochenstücke vermutlich von Speiseresten stammen, entscheidend ist ihr Legitimationswert für die von M. vorher geäußerte Ursache. Seine weiteren Handlungen erhalten dadurch erhöhte Glaubwürdigkeit. Als das Erdloch eine Tiefe von ca. 50 cm erreicht hat, bereitet M. unter ständigen Gebeten dann als Opfer für die Totengeister eine mesa aus Früchten, Brötchen, Kräuterbüscheln (Rosmarin), Ruda (ruda graveolans), Olivenblätter, Gurken, tamales (Mais), mazamorra u.a. In die Mitte dieses bunten Gabentisches wird ein Strauß gelber Blumen gesteckt und das Loch sogleich wieder mit Erde zugeschaufelt. Um die Totengeister nicht nur zu versöhnen, sondern sie zu »befreien«, sollen sie anschließend getauft werden und christliche Namen erhalten.18 M. bezieht dabei die Tochter des Hauses aktiv in das Geschehen mit ein, indem sie die Namen bestimmen solle. Sie gibt M. kurz darauf einen Zettel: Juan, Ambrosia, Moisés, Esther, Melchior und Lanz sollen sie heißen. Die Taufe besteht in 16 Vorfahrengeister oder ein schlechter Wind (aya-waira), der aus Gräbern kommt, ist in zahlreichen Varianten ein Krankheitsanlaß, sei es, daß Opfer durch die Vorfahren vergessen wurden oder es sich um die Seelen »Verdammter« handelt, die um die Gräber schweifen und keine »Erlösung« finden (vgl. Andritzky 1988, Bd. 2:379ff.). 17 Der Brauch, die heidnischen Toten der Indianer zu taufen, stammt aus dem 17. Jahrhundert und wurde im Rahmen der Missionskampagnen gegen den Aberglauben praktiziert, da die Verehrung toter Häuptlinge und Medizinmänner zum Kult gehörte (vgl. Andritzky 1987a). 18 Hier wird Melchiors christliche Orientierung deutlich.

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Gebeten und darin, den Inhalt mehrerer Parfümfläschen mit Namen wie »Wasser des Entzückens« (agua del encanto), »Wasser aus Kräutern von Huancabamba für Glück im Geschäft« (agua de la fortuna para el negocio a base de hierbas de Huancabamba), Agua de Florida, und »geweihtes Wasser von sieben Kirchen« (agua bendita de siete Iglesias) über der Erde zu versprengen. Die weiteren Ereignisse ziehen sich ca. fünf Stunden über den Nachmittag hin und zielen wie in Fall (a) zuerst auf die Selbstdarstellung als mächtiger Magier. 2. Phase der Symbolgeschichten. Während eines gemeinsamen Mittagessens werden die vorangegangenen Handlungen weiter ausgesponnen, um zu erklären, wie die erwähnten Leiden der Bewohner verursacht wurden: »Habt ihr die kleinen Knöchelchen zuvor bemerkt? Ich habe sie zuvor astral gesehen, im Traum, sie sind von den präkolumbischen Brüdern, ein Mann, eine Frau und ihre zwei Kinder. Man hat sie beraubt. Sie haben dort ihren Schatz bewacht. Ihr Leben lang haben sie schwer gearbeitet und Gold und Silber aus den Minen geholt. Die Spanier haben ihnen alles genommen, sie haben ihnen Zunge, Ohren, Augen und Herz herausgeschnitten. Jetzt hassen sie diese Rasse. Sie haben mir gesagt: 'Du bist Viracocha, unser Vater, warum hast du uns so lange verlassen? 19 Endlich sehen wir uns wieder.'« Die Geschichte schafft eine mythische Parallele zur Situation der Familie: Sie hat viel gearbeitet, um dieses neue Heim zu beziehen, sieht sich nun um die Früchte ihres Hoffens betrogen und leidet an den verschiedensten Beeinträchtigungen. Wünsche, Hoffnungen und Ängste werden in den präkolumbischen Brüdern personifiziert und auf dieser Symbolebene erfolgt die Heilung durch M. als Viracocha. Da das Wort »astral« Verwunderung hervorruft, erläutert dies M. und hebt dabei seine Vertrautheit mit »übernatürlichen« Phänomenen hervor: »Als ich das erstemal astral reiste fühlte ich mich glücklich wie noch nie, es war einfach toll. Ich war oben in meinem Dorf auf einem Hügel, um zu meditieren. Um neun Uhr morgens bin ich losgegangen und als ich wieder aufwachte, war es sechs Uhr abends,- aber am nächsten Tag! Also, ich fühlte mich entspannt als ich Hände auf meinen Schultern spürte: 'Mein Bruder, jetzt ist es Zeit, daß du das Himmelreich siehst', sagten sie. 20 Es 19 M. identifiziert sich mit Viracocha als Symbol indianischer Identität sowohl gegenüber den Inka wie später den Spaniern. Der Mythos seiner Wiederkehr hat bis heute eine identitätsstiftende Funktion (vgl. Andritzky 1988, Bd. 2:484ff.). 20 Das Traummotiv des Besuchs bei Gott mit einer Reise durch verschiedene Landschaften und Städte ist ein kulturelles Muster, das einer schamanischen Seelenreise über mehrere astrale Ebenen entspricht (vgl. Zuidema/Quispe 1973).

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waren die Extraterrestrischen21, die mich holten und sagten: 'Also, komm und folge uns nach'. Ich hatte die Augen geschlossen und merkte im Traum nur so ein Sausen durch die Luft, so ein sssss, ich flog über enorme Berge, ein Meer ohne Ende, eine himmlische Natur, eine Wiese voll mit Heilpflanzen und dann kamen wir in eine Stadt mit weißen Häusern, hübschen Gärten mit Lilien und es gab wunderbare Straßen. Da kam ein großer Mann auf mich zu mit langem blonden Haar und blauen Augen und mit einer weißen Tunika und sagte mir: 'Sieh', alle diese Pflanzen sind für dich da. Er zeigte mir die Pflanzen. Du wirst dies alles lernen mit meiner Unterstützung. Ich zeige dir diese Visionen, damit du auf den Weg kommst, den du kennen mußt.' Seit dieser Zeit hatte ich viele Visionen. Ich schloß die Augen und konnte mich mit jeder Sache astral verbinden. Ich ging an viele Orte und bevor ich mit dem Heilen begann, ging ich immer zu dem Haus, in dem der Patient wohnte.« Die Erzählung liefert über einzelne Komponenten der initiativen Träume zuerst eine Legitimation der Tätigkeit von M. und erklärt, wie er von den Totengeistern und den konkreten Umständen wissen konnte. In der folgenden Stunde, die noch bei Wein und Kaffee am Mittagstisch verbracht wird, entfaltet M. ein Kaleidoskop der verschiedensten »Wundergeschichten«, die stets Erstaunen, Schreck und Erleichterung auslösen und in sich stets streng logisch aufgebaut sind.

Exkurs Funktion der Symbolgeschichten. Durch gleichsam »nebenbei« eingestreute Ritualhandlungen entsteht im weiteren Verlauf des Nachmittags eine Art mythischen Systems der Familie und des Hauses, in das sich die Ritualakte jeweils folgerichtig einfügen und vorangegangene Behauptungen z.B. durch ein Orakel erhärten. Es wird also spontan ein situationspezifischer Mythos erschaffen und »aufgeführt«. Während sich M. dabei narrativ als Magier qualifiziert, bewirkt die dichte Atmosphäre einen Gruppenbildungsprozeß unter den Anwesenden. Die gruppenbildende Funktion von M. realisiert sich auch im dem ständigen Neuentwurf und der Wiederauflösung von Interpretationsrahmen, deren Symboldynamik die intuitiv erfaßten Konflikte der Familie widerspiegeln. Wie im Fall (a) spielt hier eine aktive und sensitive Imagination von M. die Hauptrolle. M. bietet durch seine, an der aktuellen Situation anknüpfende Imaginationstätigkeit, eine Bilderwelt an, die die Klienten durch ihre symbolische Verschlüs21 Der Glaube an die Existenz von Extraterrestrischen, die in Raumschiffen die Erde besuchen, ist im Andenraum verbreiteter als in Europa. M. berichtete mir von mehreren persönlichen »Sichtungen«, von denen allerdings auch in der Tagespresse zu lesen war.

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seiung berührt, ohne daß dabei ihre Person bewußt tangiert würde. Die Kunst von M. besteht daher darin, Struktur und Inhalt seiner mythischen Imagination dergestalt an der unbewußten Konfliktdynamik seiner Klienten und der aktuellen Situation zu orientieren, daß das entstehende Spannungsfeld emotionale und kognitive Umstrukturierungen anregt. Dieser Prozess war für mich als teilnehmendem Beobachter (auch bei anderen Interventionen von M.) als ein ständiges Fluktuieren der emotionalen Atmosphäre wahrnehmbar, wobei am Ende der Eindruck eines vielschichtigen »Erlebnisses« und einer starken Zeitdehnung stand. Kehren wir an dieser Stelle zum Fortgang der Geschichten zurück. Zur Standardmethode von M. gehört das Einflechten einer zur Problematik des jeweiligen Klienten analogen, selbst erlebten Geschichte. Diesmal wird die Familienstruktur auf der Ebene von Totengeistern abgebildet und als Ursache der Probleme die Tatsache in den Vordergrund gestellt, daß zwei der drei Töchter noch unverheiratet sind: »Einmal war ich in einem Haus, da gab es drei ledige Frauen (d.h. Geister präkolumbischer Toter, W.A.), alle sehr hübsch, aber auch sehr ängstlich, die bewachten einen großen Schatz. Ich habe das astral gesehen. Sie erreichten Erlösung, indem sie sich verheirateten. Die anderen Leute dort sagten, ich sei verrückt, doch dann, als wir da zusammen saßen, erschienen die drei mit Zöpfen und langen Kleidern. Da fiel einer ohnmächtig um, dann der nächste. Dann sagten sie, ich hätte gut gearbeitet und waren sehr zufrieden.« M. fährt unmittelbar fort: »Als ich astral in Ägypten war, habe ich das hier mitgebracht.« Er holt ein Stückchen Kalkstein aus der Tasche, von dem er im Fall (a) berichtet hatte, ein Freund habe es ihm von den Pryamiden mitgebracht. Das im übrigen völlig unscheinbare Steinchen wandert von Hand zu Hand und wird allein aufgrund seines soeben kreierten Symbolwertes interessiert betrachtet. M. fährt fort: »Das ist von den Pyramiden. Ein Freund von mir, der damals auch dort war, hat mich dort gesehen. Astral habe ich auch diesen blauen Stein bekommen, 22 (zu mir gewandt) - du kennst ihn ja. Der kommt aus meiner Gegend aus Huancanin. Ich habe ihn in einer Mumie gefunden, um die 22 Als Zeichen der Berufung von Quetchua- und Aymara-Heilem im Hochland gelten drei Blitzschläge: Der erste tötet den Initianten, der zweite zerstückelt ihn und der dritte setzt ihn wieder zusammen, wobei er mit einer universalen Lebens- und Heilenergie (enqa) erfüllt wird (vgl. Andritzky 1988, Bd. 1: 61 ff., Bd. 2:292f.). Nach dem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit findet der Initiant neben sich die vom Himmel gefallenen Steine, die ihm künftig zur Reinigung (limpia) seiner Klienten dienen (Bd. 1: 64, Bd. 2: 358«., vgl. auch Ziolkowski 1984). Melchiors Erzählmotiv spiegelt den kulturellen Wandel wieder. Typisch andine Motive (Kraftsteine) werden mit esoterischen Motiven (Extraterrestrische, Pyramidenkräfte) verbunden.

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viele Kräuter lagen. Es war ein Medizinmann, der gab ihn mir, damit ich seinem Weg folge. Er ist von unseren extraterrestrischen Brüdern.« 23 Nach der Kreation dieser Kraftobjekte (sie müssen bei jedem Gebrauch als solche neu konstituiert werden, da im städtischen Milieu keine entsprechenden kollektiven Glaubensvorstellungen mehr bestehen), zündet M. sich eine Zigarette an, um an der schwerhörigen, altersverwirrten Mutter der drei Töchter eine »EiReinigung« vorzunehmen. 24 Melchior sieht im Rauch wichtige Zeichen, die das Motiv der das Haus belästigenden Totengeister fortführen: »Hier gab es einen großen Unfall und ihr passierte es, daß der Geist des Opfers in einem Umkreis von 50 Metern seine Erlösung sucht. Dieser Geist hat mich schon behindert, als ich zuvor auf dem Markt keine Pflaumen finden konnte, wo es doch jetzt Saison ist. Er hat von ihr Besitz ergriffen. Deshalb will sie selbst seine Befreiung.« Unter dem üblichen Gebet, 25 in dem diesmal auch die »Brüder Pharaonen« und die »extraterrestrischen Brüder« angerufen werden, vollzieht M. das Abreiben der Frau mit dem Ei. Die Interpretation scheitert jedoch daran, daß die Frau verwirrt den Raum verläßt. An dieser Stelle berichtet nun eine Tochter 26 , daß es im Hause gegenüber eine Hexerin gebe, die schon einmal eine Sitzung mit sieben Teilnehmern veranstaltet habe. »Kennt sie den Namen deiner Mutter?«, fragt M. »Ja, sie hat sogar ein Foto.« - »Gib mir alle Namen, wir machen etwas zum Schutz«, schlägt M. vor, ohne auszuführen, was er vor hat. Diese Episode zeigt, wie die spontan eingebrachte Problemdefinition der Klientin von M. sofort akzeptiert und in das Behandlungsprogramm für das Haus bzw. die Familie eingebaut wird. 3. Die Räucherung. Gegen Spätnachmittag bereitet M. in einer Pfanne die Zutaten für eine Räucherung des Hauses vor. Es wird eine Mischung aus palo Santo und drei weiteren Substanzen (incienso, mirra, saumerio) entzündet, die einen schweren süßlichen Geruch verbreitet. Unter dauernden Gebeten hält M. die 23 Mclchiors Technik der narrativen Verschränkung von magischer (Astralreisen, Extraterrestrische) und empirischer Realität (Stein, Mumien, Gräber) ist typisch für den Topos der Wundererzählung, wie sie sich z.B. in den Heilungsberichtcn aus den antiken Asklepiosheiligtümem findet (vgl. Herzog 1931, Weinreich 1969). 24 Siehe Andritzky 1987: 23f. Melchior erklärt den Zweck des Rauchens folgendermaßen: »Im Rauch sieht man, woher die Krankheit kommt, in der Asche welche Art von Magie sie gemacht haben. Über das Ei zu rauchen bedeutet, daß die Energie kompakter wird und nicht entweicht, sondern drinnen bleibt, um sie später beschreiben zu können. Das Ei ist eine Energie, der Patient ist eine Energie. Es ist, wie wenn man zwei Körper an zwei Pole anschließt und die Energie vom einen zum anderen fließt.« 25 Vgl. Andritzky 1987:23. 26 Der Glaube an Magie und Hexerei ist auch unter akademisch Gebildeten in Peru weit verbreitet.

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Räucherpfanne zuerst der alten Frau zwischen die Beine und räuchert dann in Begleitung der Tochter alle Räume, wobei besonders die Plätze unter Tischen und Betten, Ecken und Winkel berücksichtigt werden. Alle Räume sind zuletzt in beißenden Qualm gehüllt. Zurück im Wohnzimmer erläutert M., der Geist sei jetzt verschwunden: »Ich habe ihn gesehen, vorhin als ich das Fenster aufmachte, sprang eine schwarze Katze hinaus.« Am Ende dieser Hausreinigung stand die Vereinbarung, daß sich Mutter und Tochter weiterer Behandlung durch die Meerschweinchenreinigung und Dampfbäder unterziehen.

Schema der symbolischen Transformationen

Personen

Metapher

Therapie

Familie, die sich ein Einfamilienhaus erarbeitet hat. Nach dem Umzug wird sie von Krankheit und Unglück heimgesucht.

Die »präkolumbischen Brüder«, die für ihren »Schatz« gearbeitet haben, der ihnen von den Spaniern geraubt wird, Folter

Taufe, Opfer, Versöhnung

Ledige Töchter des Hauses

Drei ledige Geister-Frauen hübsch, ängstlich, die Schatz (Jungfräulichkeit) bewachen Besessenheit durch erlösten Geist

Altersverwirrte Frau

Räucherung Suggestion: Katze, die durchs Fenster springt

c) Symbolisches Heilen bei Impotenz Ausgangssituation: Der erfolgreiche, ledige Geschäftsmann Z. klagt bei seinem ersten Besuch über Impotenz und darüber, daß ihm ständig unerklärliche Dinge zustoßen. Er berichtet auch ausführlich von mystischen - angeblich real stattgefundenen - Erlebnissen, daß er z.B. mit Hilfe von spirituellen Führern im Amazonastiefland das legendenumrankte Gebiet »Paititi« besucht habe. Bei der Anamnese gibt er an, eine Freundin, aber auch weitere Liebschaften zu haben.

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Bei diesen Seitensprüngen sei er neuerdings immer impotent. Während des Gesprächs hat M. eine Zigarette entzündet und bläst den Rauch über das Hühnerei.27 »Wie heißt das Mädchen?«, fragt M. - »Elsa.« - »Sie will Geld von dir.« Diese Interpretation kommt unvermittelt, bietet sich aufgrund des Besitzstandes von Z. aber an. Z. klagt darüber, er fühle sich durch dieses Mädchen gelähmt, bei seiner Arbeit behindert und es kämen ihm ständig Sachen abhanden. Erst kürzlich sei ein größerer Geldbetrag aus seiner Wohnung verschwunden. M. hält eine Reinigung des ganzen Hauses für notwendig. Als Z. sich weiter über seine Impotenz beklagt entwickelt M. ein erstes Interpretationsmuster: Ja, diese Mädchen sind, die sind teuflisch. Die nehmen einen schwarzen Kater, binden den Penis fest und lassen eine Kröte darüber urinieren, dann ist der Mann, dem dieses Ritual gilt gebunden. Wahrscheinlich hat das die Mutter des Mädchens gemacht, die nicht will, daß er mit anderen Frauen als ihrer Tochter Beziehungen hat.« M. hat das Impotenz- und Verfolgungsgefühl damit widergespiegelt und bestätigt. Das symbolische Szenario, das als ätiologische und die weiteren Ritualakte anleitende Metapher dienen soll, wird jedoch noch weiter gesteckt: »... aber ich glaube unter ihrem Haus ist auch eine Hexe vergraben, es befindet sich sicher ein huaca (Grabstätte) darunter. Die Geister belästigen dann die Bewohner, aber es gibt dort auch einen Schatz. Bei einer Patientin war kürzlich das ganze Haus verhext, da war auch ein huaca darunter und ein großer Schatz, den die präkolumbischen Brüder vergraben haben. Ich habe das alles astral gesehen.« Inzwischen hat M. das Ei in eine Wasserglas geschlagen und kommentiert: »Hier, sieh die roten Punkte, das war rote Magie und hier (ein Schleifchen vor dem Eigelb), der Penis, - angebunden!« Z. starrt in das Glas und versucht, die Erläuterung nachzuvollziehen. Da die »Zeichen« meist minimal sind, ist es gleichsam ein Berufsgeheimnis, sie zu entdecken. Während meiner Beobachtungen zweifelte kein Klient an den Interpretationen von M. Die gegebene Diagnose findet sich hier »objektiv« bestätigt. Die latente Botschaft lautet: »Hier, sieh, unabhängig von dem, was ich dir eben gesagt habe, zeigt es das Ei-Orakel. Ich habe durch meine Gebete eine Verbindung zur numinosen Sphäre hergestellt und das ist die Antwort.« Aus psychoanalytischer Perspektive gesehen, wirkt dieses Verfahren der »übernatürlichen Antwort« negativen Übertragungsreaktionen auf den Heiler entgegen, da er sich als Person neutralisiert. Abwehr und Widerstand, soweit sie aus Übertragungen auf den Heiler entstehen könnten, werden durch die Neutralisierung 27 Vgl. A n m . 8 .

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seiner Person auf ein Minimum beschränkt, was eine direkte und offene Kommunikation ermöglicht. Nachdem Hexerei und die Einwirkung von Totengeistern als Ursache von Z.'s Problem festgestellt wurde, folgen mehrere Rituale: - Z. muß zwei Stücke eines San Pedro-Kaktus28 in den Händen halten, während M. mit dem blauen Stein29 am Körper entlangstreicht. - Es folgt eine Reinigung mit dem Meerschweinchen. Nach der Sektion deutet M. auf den Penis des Tieres: »Siehst du - angebunden!« M. nimmt das Messer und trennt ihn (in Wirklichkeit) durch: »So, jetzt ist er los!« Danach werden die übrigen Organe inspiziert, wobei M. Gewebefäden hervorzieht, sie als »Schnüre« bezeichnet und bemerkt, alles sei »verknotet«. Damit ist auf den ursprünglichen Akt der Hexerei, das Anbinden des Penis angespielt, was sich nun am Meerschweinchen widerspiegeln soll. Nachdem alle Innereien wieder im Fell verstaut sind, zieht M. die Kopfhaut des Tieres etwas zurück, wobei sich feine Linien in Art eines stilisierten Totenkopfes zeigen: »Da, das ist das Gesicht der Hexe!.« Die Diagnose wird so ein weiteres Mal bestätigt. - Da sich im Körper des Tieres soviele Zeichen »negativer Energie« fanden, legt M. mehrere Scheiben San Pedro um das Tier, um sie zu absorbieren. Darauf legt er die Scheiben unter Gebeten an die analogen Stellen am Körper von Z., eine an die Stirn, zwei an Hände und Füße. Nachdem die Scheiben wieder abgenommen sind, atmet Z. tief durch, lächelt und zeigt sich entspannt. - Im weiteren Verlauf berichtet Z. noch von Dingen, die ihm abhanden gekommen seien und davon, wie ihm jemand einen Totenkopf auf seinen Schreibtisch gelegt habe: »Wenn Sie mir nur sagen könnten, wer das war!« M. beschränkt sich jedoch auf das Zuhören, bestätigt die Empfindungen von Z. und bietet zumeist sofort Erklärungen an. In keinem Fall äußert M. persönliche Meinungen, sondern interpretiert jedes Problem auf spirituellmagischer Ebene. Behandlutigsverlauf:

Während sich die meisten modernen Psychotherapiemethoden der Beziehung von Z. zu seiner Freundin und um Übertragungsbeziehungen aus seiner Familiengeschichte widmen würden, werden diese Beziehungen in der Technik symbolisch-metaphorischer Interpretation von M. ausgespart, ja sorgsam umgangen. Wenngleich sich Z. von seiner Freundin beeinträchtigt fühlt und M. dies indirekt mit der Formulierung der teuflischen Mädchen bestätigt, nimmt 28 Vgl.Anm.22. 29 Silva et al. (1979:126) fand bei 24 % der Erstgespräche eine Dauer von 30-40 Minuten, bei 43 % von 40-60 Minuten und bei 33 % über eine Stunde.

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er diese Interpretation sofort zurück und schreibt sie der Mutter zu. Da dies jedoch die Beziehung von Z. ebenfalls tangieren würde, werden zwei weitere symbolische Äquivalente eingeführt: Es ist nicht Z., der davon betroffen wird, sondern sein Haus und es ist vielleicht nicht die Mutter der Freundin, sondern ein Grab und eine Hexe, die sich unter dem Haus befinden. Der Fall demonstriert damit ein weiteres Mal Melchiors Technik der symbolischen Transformation des Konflikts bzw. die direkte Heilung von den Folgen durch symbolische Ritualhandlungen.

Schema der symbolischen Transformationen Personen

Metapher

Therapie

Klient Z.

Haus huaca

Hausreinigung

Freundin von Z. teuflisches Mädchen magische Operation Mutter der Freundin Hexe verschiedene mit negativer Energie Reinigungsrituale

4. Psychosoziale Wirkfaktoren der indigenen Krisenintervention Jenseits der bereits angeschnittenen, psychoanalytisch orientierten Anmerkungen, erlaubt es das vielschichtige Geschehen in der Phänomenologie der Fallbeispiele nicht, ihre latenten Heilfunktionen mit Theorie und Praxis z.B. nur einer Psychotherapieschule zu erklären. Es bietet sich dagegen an, eine Hierarchie von Erklärungsmodellen zu entwickeln, die von unspezifischen Wirkfaktoren (common factors) bis hin zu Therapiemethoden reichen, die in Analogie zu individuellen Besonderheiten von Melchiors Techniken, wie dem Gebrauch von »Geschichten« und Metaphern, stehen. a) Unspezifische Wirkfaktoren (Common factors) Die Evaluationsprobleme von ethnischen Heilmethoden ähneln stark jenen bei der Effektivitätsbestimmung der akademischen und außerakademischen (Psycho-)Therapiemethoden bei uns. Dazu existieren nicht annähernd genügend bewährte Diagnoseverfahren wie man sie für eine Wirkungsanalyse aller hypothetischen Interventionsbausteine benötigen würde (vgl. Müller 1987). Es ist

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daher kaum möglich, die »Netto-Effekte« eines Verfahrens zu isolieren. Autorei wie Williams/Spitzer (1984: 300), Frank (1984) Luborsky et al (1975) und Golcfried (1983) gehen nun davon aus, daß der Effektivität der verschiedensten Thenpieverfahren unabhängig von ihren jeweiligen »Theorien« und der Tatsach«, daß sie auf jeweils andere Verhaltensbereiche den Schwerpunkt legen (z.B. Körpertherapien, Psychoanalyse, Verhaltens oder Gesprächstherapie), »allgemeine Faktoren« (common factors) zugrunde liegen. Frank (1981), der auch ethnische Beispiele anführt, führt vier Faktoren an: -

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-

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ene Heiler-Patiertt-Beziehung, die eine Vertrauensbildung in die Kompetenz des F.eilers erlaubt, was vor allem durch eine Haltung der Akzeptanz und eine öffentlich sanktionierte Ausbildung des Heilers gefördert wird. Melchiors Ischnik der Selbstdarstellung als »mit göttlichen Kräften versehener Heiltr« und die nicht-wertende Akzeptanz seiner Klienten entspricht diesem faktor. Die familiäre »Vererbung«, die empirischen Kenntnisse über Heilpflanzen und sein von persönlichen Krisen und Visionen geprägter Werdegmg entspricht dem kulturellen Muster der Ausbildung der andinen curtnderos; en Mythos oder eine Theorie, die das Leiden und den Gesundungsprozess erklärt utd optimistische Veränderungsmöglichkeiten suggeriert. Die ethnischen Modelle der Hexerei, der Totengeister oder des Schrecks haben für die Klienten ene erklärende und für den Heiler eine das therapeutische Handeln struktirierende Funktion; en Verfahren, das vom Klienten ein Opfer verlangt. Abgesehen von der, wenn aich meist geringen, Bezahlung verlangt M. z.B. Abstinenz, sexuelle Enthaltsamkeit sowie die Einhaltung verschiedener Verhaltensvorschriften; ene gesellschaftliche Auszeichnung des Behandlungsortes als »Stätte der Heiling« und eine »heilende Aura der Institution«. Soweit M. im Wohnbereich der Klienten arbeitet, entfällt dieser Faktor, er ist aber in seinem Behandlungsnum durch Heiligenbilder präsent.

Torrty (1986: 197ff.) kommt beim Vergleich der Methoden von Medizinmäniern und Therapeuten zu ähnlichen basic components: ene gemeinsame Weltsicht (shared worldview), gleiche Sprache und Symbolveit von Heiler und Patient sowie das Benennen der Krankheit (naming p ocess), was Angst und Unsicherheit reduziert; ene von Echtheit und Empathie getragene Heiler-Patient-Beziehung; dis »Prinzip Hoffnung«, die Stimulierung der Patientenerwartungen, den Tierapeuten als heilkräftiges Symbol zu erleben (z.B. durch Machtsymbole, damatische Inszenierung des Kontaktes zu einem Hilfsgeist, übematürlicle Fähigkeiten etc.). Die Fälle a, b und c enthalten zahlreiche derartige Beisjiele, z.B. die direkte Kommunikation mit Totengeister, Göttern etc.;

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über die Identifikation mit dem Heiler erworbenes kognitives Wissen zur Lebensbewältigung.

Auch diese Faktoren, vor allem die Kongruenz der kognitiven Modelle von Heiler und Klient, die allerdings immer wieder neu ausgehandelt und kreiert werden, lassen sich in den Fallbeispielen leicht identifizieren. Andere, aus der experimentellen Psychotherapieforschung und aus Befragungen der Klienten von Glaubensheilem ableitbare allgemeine Wirkfaktoren sind die Induktion eines Selbstexplorationsprozesses (vgl. Patzelt 1987: 169ff.) bzw. einer Haltung »gläubiger Heilserwartung« beim Klienten (Strauch 1960/1: 33ff.). Bender's (1964) Analyse von Wunderheilungen betont ein weiteres Moment, das sich in Melchiors zugewandter und den direkten Kontakt suchenden Interaktion während der oft stundenlangen Rituale bzw. Interaktionen mit den Klienten wiederfindet: Es sei ein »besonderes affektives Feld, eine spezifische doppelseitige Resonanz erforderlich, damit eine Heilsuggestion ungewöhnliche Wirkung hat«. Erst die besondere Affektintensität, das »Interesse am Fall« könne zu ungewöhnlichen Heilungen psychischer und medizinischer Art führen. Bei M. war häufig echte persönliche Betroffenheit über das Leiden seiner Klienten zu bemerken, nach Behandlungen, die er als besonders anstrengend bezeichnete, auch physiologische Reaktionen (z.B. Blutdruckabfall, kalte Hände) waren vorzufinden. Es gibt zahlreiche weitere common factors wie Katharsis (vgl. Scheff 1977), situative Settings und die Anregung von Selbstheilungsprozessen ohne die Anwesenheit einer charismatischen Heilerpersönlichkeit sowie veränderte Bewußtseinszustände (vgl. Andritzky 1990b, Prince 1980). Sie spielen in Melchiors Praxis jedoch eine untergeordnete Rolle. Allerdings zielen die lang andauernde, monotonen, sich in den Formulierungen wiederholenden Gebete und Heilsuggestionen bei der Ei- und Meerschweinchenreinigung auch auf einen veränderten Bewußtseinszustand in dem die Inhalte eher subliminal als bewußt aufgenommen werden. b) Gesundheitspsychologische Konzepte Gleich der unspezifischen Wirksamkeit der common factors in der Psychotherapieforschung hat die Gesundheitspsychologie gemeinsame Risikofaktoren für ein breites Spektrum psychischer und physischer Erkrankungen (vgl. unten) gefunden sowie »puffernde« Faktoren, die z.B. das Erkrankungsrisiko bei Stress mindern. Beide Faktorengruppen sind aufgrund ihres breiten Wirkungsspektrums auch für die Evaluation ethnischer Heilmethoden von Bedeutung. Als die fünf Hauptrisikofaktoren fand Wickramasekera (1988: 4) sehr hohe bzw. sehr niedrige Hypnotisierbarkeit als Persönlichkeitsmerkmal, Labilität

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(Neurotizismus), eine kognitive Tendenz zum »Katastrophen-Erleben« (catastrophizing), Lebenskrisen und andauernder Alltagsstress (minor hassels), Defizite im sozialen Unterstützungssystem (social support system) und in den Bewältigungsmechanismen von Stress. Betrachten wir kurz die Fallbeispiele. Indem alle Klienten eine Affinität zu magisch-phantastischem Denken, eine hohe introspektive Sensibilität und einen Zusammenhang ihrer Störungen mit Gedanken und Phantasien aufweisen, ähneln sie den stark Hypnotisierbaren (high hypnotizable), die bis zu 50 % der Wachzeit in Tagträumen verbringen können und die oft außersinnliche Wahrnehmungen haben. Wickramasekera (1988: 8) betont, daß es klinisch wichtig sei, diese »Para-Erlebnisse«, wie sie auch von Patienten von M. berichtet wurden und die mit Stress-Krankheiten oft verbunden sind, zum Thema zu machen. Auch kritische Lebensereignisse wie Wohnungswechsel und Trennung bzw. Tod von Partnern (vgl. Filipp 1981) sowie andauernde Gefühle von Bedrohung, spielen in den drei Fallbeispielen eine Rolle. Wenngleich in der Gesundheitspsychologie unter sozialer Unterstützung vor allem das natürliche soziale Netzwerk aus Bekannten, Freunden und dem Ehepartner verstanden wird, muß der traditionelle Heilkundige auch in seiner unspezifischen support-Funktion für den Klienten gesehen werden, zumal er sich für ihn viel Zeit nimmt und ihn öfter in seiner Privatsphäre aufsucht. Wie Thoits (1986) bemerkt, bieten solche Personen die effektivste Unterstützung, die empathisches Einfühlen bieten, ähnlichen Stress selbst erlebt haben und einen vergleichbaren sozialen Hintergrund, wie die akut Betroffenen haben. Obwohl die Fallbeispiele Angehörige der Mittelschicht umfassen, ist M. aufgrund seines familiären Hintergrundes (Vater Pfarrer), seiner Tätigkeit im Museum und im Krankenhaus, im Milieu der Mittelschicht, das in krassem Gegensatz zu seiner ärmlichen Lebensweise steht, stets gut orientiert. Da bei der großen Mehrzahl der traditionellen Heiler in Peru aber ohnehin Angehörige der armen und ärmsten Unterschicht überwiegen, können alle drei Faktoren als erfüllt gelten, da die Heiler mit denselben Lebensumständen wie ihre Klienten konfrontiert sind. Interpersonelle Beziehungen bilden die Hauptquelle von psychischem Stress. Die traditionellen Behandlungsweisen können daher auch unter dem Aspekt betrachtet werden, inwieweit sie den Klienten Stress-Bewältigungsmechanismen (coping devices) vermitteln, die eine Pufferfunktion zwischen Stress und Erkrankung haben. Wickaramsekera (1988: 21) unterscheidet drei Coping-Arten: - problembezogene, gegen den Grund des Stress gerichtete Aktionen - auf die Kontrolle der eigenen Gefühle bezogene Strategien - auf die Wahrnehmung des Stress-Ereignisses bezogene Strategien, die z.B. die Bedeutung des Ereignisses mindern.

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Melchiors Behandlungsweisen scheinen auch die genannten Coping-Arten zu vermitteln: Indem er die kulturell definierten Ursachen des jeweiligen Leidens wie Hexerei, Totengeister etc. stellvertretend für die Klienten selbst bekämpft (Reinigungsrituale, Meditation, Gebete), wird deren Bewertung der Ereignisse verändert. Dies beeinflußt wiederum ihre Wahrnehmung, und aus diffuser Bedrohlichkeit entsteht für den Klient das Gefühl der Kontrollierbarkeit der Ursachen. Ein für die Klienten unkontrollierbares Geschehen, wie die Durchführung der schwarzen Messe, die Wirkung der Totengeister oder einer Hexerei wird durch konkrete Verhaltensratschläge und die Demonstration der Überlegenheit des Heilers gegenüber der Leidensursache in ihrer Bedeutung gemindert. Bemerkenswert ist, daß M. den jeweils realen Anlaß für die Konsultationen (schwarze Messe, Impotenz, Umzug) nicht thematisiert. Zusammenfassend läßt sich also die These vertreten, daß die traditionellen Heiler vor allem mit Risikopersonen im oben genannten Sinn zu tun haben. Deren Erkrankungsrisiko bzw. Gesundungschancen werden durch soziale Unterstützung und die Vermittlung von Coping-Strategien gemindert bzw. gesteigert (vgl. Sarason et al. 1988:251f.). Im Zuge des raschen Fortschritts im empirischen Nachweis der Wirksamkeit der genannten psychosozialen Faktoren bei immer mehr körperlichen und psychischen Leiden30 kann man die traditionellen Heilweisen kaum noch als »Aberglaube« oder medizinisch irrelevante Folklore betrachten. Miltner et al. (1986:43) merken an, daß z.B. in der life-event-Forschung kaum praxisrelevante Schlüsse aus den Erkenntnissen gezogen werden und sie keine Ansätze enthalten, wie diese Risikofaktoren zu entschärfen sind. Hier erscheinen die rituellen und symbolischen Heilmethoden und andere Gemeinschaftsrituale beinahe als Modelle für eine angewandte transkulturelle Gesundheitspsychologie in den Industriegesellschaften. Unberücksichtigt bleibt bei alledem das weite Spektrum an Pflanzenheilmitteln, das den Heilern neben den psychsozialen Wirkfaktoren zur Behandlung spezifischer somatischer Symptome zur Verfügung steht. Abschließend muß betont werden, daß es sich bei diesen Überlegungen noch um Hypothesen und Analogieschlüsse handelt, die auf empirischem Wege anhand konkreter Verlaufs- und Wirkungsanalysen anhand psychodiagnostischer und biomedizinischer Analysemethoden weiter überprüft werden müssen. 30 Beispiele sind Krebs, koronare Herzerkrankungen, essentielle Hypertonie, Magen-Darmerkrankungen, Asthma, Diabetes, Rheuma, Skoliose und Skyphose, HNO-Erkrankungen wie Hörsturz, Ertaubung, Tinnitus, Hauterkrankungen wie Heurodermitis, Urtikariaa, Psoriasis, Akne vulgaris, alopecia areata (runder Haarausfall), neurologische, geriatrische, urologische, Sexual- und Schlafstörungen, sowie chronischer Schmerz (vgl. die entsprechenden Kapitel in: Miltner et al. 1986; Feist et al. 1988; Taylor 1986; Ferguson et al. 1981, Bd. 2; Doleys et al. 1985; Gatchel et al. 1985; Bradley et al. 1981).

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c) Symbolisches Heilen und »Märchentherapie« Als Besonderheit von Melchiors Methodik wurde bereits die Kreation von Symbolen und »Geschichten« hervorgehoben, die Konfliktsituationen auf eine metaphorische Ebene transponieren und dort direkt verändern. Diese Form »symbolischen Heilens« ist als traditionelle Medizinform weit verbreitet (vgl. Dow 1986). Moermann (1979) führt eine Vielfalt impliziter Wirkfaktoren derartigen symbolischen Handelns an, z.B. das Symbol als wirkkräftiges Placebo. Placebos können nicht nur per se wirken, sondern aktive Substanzen in einem Medikament potenzieren, unterdrücken oder sogar in der Wirkung umkehren (Shapiro 1971). Placebos, hier die Symbolgegenstände oder Erzählmotive, erwiesen sich in Experimenten bei einem breiten Störungsspektrum als wirksam, z.B. Schmerz, Angst, Tachykardie, Fieber, Phobien, Depressionen. Spezifischer läßt sich die therapeutische Funktion von Melchiors Geschichten aus einem Vergleich mit Konzepten der meist psychoanalytisch orientierten Märchentherapie fassen. Märchen werden in der westlichen Psychotherapie in verschiedener Weise eingesetzt. So z.B. durch Vorlesen, den Klienten selbst ein Märchen lesen lassen, Märchenansätze fortentwickeln, Märchen erfinden, Märchenszenen imaginieren, malen, plastisch gestalten oder spielen lassen (vgl. Franzke 1985: 22ff.). Kast (1986:11,130) hält bereits das Anhören von Märchen für therapeutisch wirksam, da die Motive bei jedem andere unbewußte Inhalte berühren, die ihm sonst nicht faßbar sind. Alle Märchenfiguren können dabei sowohl als Teilaspekte der Psyche des Hörers gesehen werden (z.B. den Wolf oder die Hexe in sich kennenlernen), wie auch als Muster für Objektbeziehungen in der äußeren Realität. Über die Entwicklungs- und Wandlungsprozesse im Märchen soll die persönliche Entwicklung angeregt oder Widerstände deutlicher erlebbar gemacht werden. Die Technik Melchiors unterscheidet sich von den Ansätzen der Märchentherapie dadurch, daß er keine literarisch fixierten Geschichten verwendet. Vielmehr variiert er ein Set an mythischen und seiner eigenen Biographie zugehörigen Motiven, die durch neue Kombinationen und Varianten abgestimmt sind auf die spezielle Klientenproblematik. Die Klienten haben dabei meist eine völlig passive Rolle, sofern sie nicht bei Ritualhandlungen (z.B. Räucherung, Meerschweinchenreinigung) wie in einem Märchenspiel eine Rolle zugewiesen bekommen. Melchiors Geschichten gleichen Privatmärchen, die Eltern für ihre Kinder erfinden. Angesichts der mannigfaltigen therapeutischen Umgangsformen mit Märchenstolfen, Legenden, Mythen und Volksglauben, besteht über ihre therapeutische Funktionalität weitgehende Übereinstimmung. Peseschkian (1989: 18ff.) nennt ua.:

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1. die Spiegelfunktion (indem der Hörer in der Erzählsituation zu assoziieren beginnt, reflektiert er seine Probleme im Spiegel der Geschichten); 2. die Modellfunktion (die Geschichten legen Lösungsmöglichkeiten und neue Sichtweisen eines Problems nahe). 3. Mediatorfunktion (Abwehr und Widerstand werden gemildert, die Geschichten treten als Mittler zwischen Therapeut und Klient). 4. Depotwirkung (durch ihre Bildhaftigkeit sind die Geschichten leicht zu behalten, sie wirken im Alltag fort). 5. Regressionshilfe ( Märchen öffnen die Tür zu Phantasie, zu lustbetontem Verhalten, sie unterlaufen charakterneurotische Abwehrstrategien der Klienten). Franzke (1985) sieht die Vorteile der Märchentherapie darin, daß sie die Preisgabe persönlicher und familiärer Daten und nazistische Kränkungen der Klienten vermeiden, indem sie die Problematik als allgemein-menschlich erscheinen lassen, bieten Märchen eine positive Herangehensweise an Konflikte und sie ermöglichen die Begegnung mit archetypischen Inhalten. Franzke's Kriterien der für Psychotherapie einsetzbaren Märchen und Mythen finden sich auch in Melchiors Erzählbeispielen: 1. die Inhalte überschreiten die Grenzen der Alltagsrealität, z.B. durch magisches, göttliches, wunderbares, wenigsten durch eine surplus-reality; 2. sie enthalten Wandlungsphänomene; 3. sie verwenden Bilder und Allegorien, um Parallelprozesse beim Klienten deutlich zu machen (siehe die Schemata); 4. der Klient wird emotional angesprochen, je nachdem welche Aspekte seines Selbst mit den Märchenmotiven korrespondieren. Vor diesem Hintergrund erscheint Melchiors Technik, der auf die jeweils akute Krisensituation abgestimmten Motivkomplexe benutzt, fast vorteilhafter, als die Verwendung vorgegebener Geschichten, wie sie in den Märchentherapien vorzuherrschen scheint. Fassen wir Märchen in ihrer Struktur und Inhalt wie Träume auf (vgl. Freud 1913), dann ist Melchiors Geschichtentherapie die Verkehrung des Verhältnisses von Analytiker und Analysand: Hier ist es der Heiler, der wie ein Wahrsager hellsichtig die Situation und das Unbewußte des Klienten erfaßt (vgl. Andritzky 1988a) und mit der Kreation der Geschichten gleichsam für den Klienten träumt. Bei letzterem wird dadurch ein Prozess der Selbstexploration und Versuche einer Deutung der Geschichten ähnlich einer Traumanalyse in Gang gesetzt, der lange über die Behandlungssituation hinausreicht. Lévi-Strauss (1971: 34) geht von einer noch direkteren Wirkung des Vortrags von Mythen aus:

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»Wenn ein Mythos erzählt wird, empfangen die Hörer eine Botschaft, die eigentlich von nirgendwo her kommt (er bezieht sich auf die Tatsache, daß Mythen keine zu bennenenden Urheber haben, W.A.); dies ist der Grund, weshalb man ihnen einen übernatürlichen Ursprung zuschreibt. Es ist also verständlich, daß die Einheit des Mythos auf ein virtuelles Zentrum projiziert wird: Jenseits der bewußten Wahrnehmung des Hörers, die er vorerst nur durchquert, bis zu einem Punkt, wo die Energie, die er ausstrahlt, durch die Arbeit der unbewußten Neuorganisation aufgezehrt ist, die er zuvor ausgelöst hatte.« Die Komponente der Geschichtentherapie in Melchiors komplexen Kriseninterventionen, kann vor dem Hintergrund der Kriterien für eine therapeutische Anwendung von Märchen als eine psychosozial sinnvolle Intervention bewertet werden. Gerade bei nur einer oder wenigen Konsultationen bietet die Methode die Möglichkeit, auf »tiefer Ebene« die gruppendynamische Situation und die Kernkonflikte der Beteiligten zu thematisieren ohne durch Übertragungsvorgänge Widerstand und Abwehr zu stimulieren. Die Motive verschiedener kultureller Provenienz (Pyramidensteine, huacas, Extraterrestrische) spiegeln die großstädtische Mischkultur Limas wider. So wie in Europa orientalische Märchen akzeptiert und verstanden werden, so tut Melchiors Synkretismus der therapeutischen Funktionalität keinen Abbruch, da die Geschichten »auf bestimmte korrespondierende Inhalte im Individuum selbst treffen, auf Inhalte, die kollektive, zeitlose Gültigkeit haben« (Dieckmann 1974: 12).

Literatur Andritzky, W. (1987): Die Reinigung mit dem Meerschweinchen. Zur ethnohistorischen Kontinuität einer rituellen Heilmethode in Peru; in: Salix 3 (2): 735. Andritzky, W. (1987a): Peruanische Volksheiler während der spanisch-kolonialen Inquisition; in: Anthropos 82:543-566. Andritzky, W. (1988): Schamanismus und rituelles Heilen im Alten Peru, Bd. 1: Die Menschen des Jaguar, Bd. 2: Viracocha, Heiland der Anden, Berlin: Zerling. Andritzky, W. (1988a): Wahrsagerei und Lebensberatung: Ethnopychologische Aspekte des Koka-Orakels in Peru; in: Curare 11 (2): 97-118.

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Kulturelle Identität und seelische Erkrankung der Mapuches in Chile In diesem Artikel möchte ich eine Arbeit vorstellen, die im Laufe mehrerer Jahre zusammen mit Angehörigen des Volkes der Mapuche in Chile durchgeführt wurde. Dabei möchte ich vor allem auf die zweite Phase dieser Untersuchung eingehen. In der ersten Phase wurde mit den Mapuches in ihren Siedlungen im Süden Chiles selbst gearbeitet. Die zweite Phase der Untersuchung wurde aufgrund noch unbeantworteter Fragen begonnen, die während der Erforschung der psychopathologischen Phänomene in der ersten Phase entstanden waren. Sie bestand darin, die Mapuches, die wegen einer psychotischen Episode in das psychiatrische Krankenhaus von Santiago eingewiesen worden waren, bei ihrer Genesung zu begleiten. Vor dem Hintergrund der in der ersten Phase gesammelten spezifischen psychopathologischen Phänomene ging es uns vor allem darum zu verstehen, worin die eigentlichen Ursachen der Schwierigkeiten lagen und welche Ansätze zu ihrer Überwindung sich im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung benennen ließen. Grundsätzlich sind zwei Formen der Wahrnehmung der Probleme, die durch Kulturbarrieren in der Psychiatrie aufgeworfen werden, vorherrschend. Wir haben uns auch während der Untersuchung für die Zweite entschieden und möchten beide zunächst darstellen: 1. Die Annahme, daß spezifische Eigenarten einer fremden Kultur lediglich Hindernisse darstellen, die der richtigen Diagnose von Krankheitsbildern im Wege stehen und allgemein gültig sind, sich aber hinter kulturbedingten Erscheinungformen verbergen, oder 2. Die Wahrnehmung, daß psychische Erkrankungen einen möglichen Zugang in die Kultur des Patienten ermöglichen, wobei in einem ersten Schritt auf die Einordnung in bekannte Krankheitsbilder verzichtet oder dies nur als vorläufiges Faktum begriffen wird. Die Mapuche stellen die zahlenmäßig größte ethnische Gruppe Chiles dar. Heute werden sie auf 500.000 Mitglieder geschätzt, was etwa 5 % der gesamten Einwohner des Landes darstellt. Die meisten von ihnen leben in kleinen - sich

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selbst versorgenden - Agrargemeinschaften im Süden Chiles. Unter den Ureinwohnern Südamerikas leisteten sie den längsten kriegerischen Widerstand gegen die spanische Conquista. Der Krieg gegen die Mapuches wurde noch über die Zeit der Unabhängigkeitserklärung (1810) des Landes hinaus weiter fortgesetzt. Erst um die Jahrhundertwende wurde dieser über hundert Jahre lang dauernde Krieg durch einen »Friedensvertrag« beendet. Die Mapuche haben ihre Sprache und Brauchtümer bewahrt; auch ihre Religion, trotz scheinbarer Bekehrung zum katholischen Glauben der Eroberer. Hinter dem Synkretismus mit dem Christentum besteht die Lehre der Geister bei den Mapuches weiter fort und ergibt ein Weltbild, aus dem sich die Vorstellungen über die Krankheitsursachen und deren Heilung ergeben. Die Rolle des Arztes wird von dem Schamanen, unter den Mapuche Machi (sprich: Matschi) genannt, ausgeübt. Die Chilenen kennen im allgemeinen nichts von der Kulturwelt der Mapuche und zeigen auch kein Interesse dafür. Diese Haltung war auch unter den Ärzten des wichtigsten psychiatrischen Krankenhauses von Santiago in der Begegnung mit Mapuche-Patienten üblich. Schon im Jahre 1965 stellte der Anthropologe Munizaga bei der Untersuchung der Diagnosen der stationär aufgenommenen Mapuche fest, daß 50 % der Aufnahmen als »Psychose bei Debilität« registriert worden waren. Dieser unverhältmäßig hohe Prozentsatz von vermeindlich Geistesschwachen unter den eingewiesenen Mapuche, ließ ihn auf Fehldiagnosen aufgrund der vorhandenen Kulturbarrieren schließen. Die Tatsache, daß Patienten der Mapuche im Gegensatz zu den chilenischen Patienten deutlich andere Charakteristika psychischer Störungen zugewiesen bekamen, wurde von Muñoz et al. bei einer Untersuchung von 276 Krankenakten festgestellt. 60.6 % der Mapuche waren als traumhafte (oneiroide) Verwirrtheitszustände eingestuft worden, demgegenüber fanden sich nur 16.3 % der Chilenen mit gleicher Diagnose. Unsere Forschungsarbeit begann mit einer ausgiebigen Untersuchung der 10 Mapuche Patienten, die im Laufe eines Jahres in unserer Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses von Santiago aufgenommen wurden. Der internationalen Standarddiagnose (ICD) wurde eine beschreibende Diagnose hinzugefügt. Neben den üblichen Syndromen, wie maniformes oder paranoides Zustandsbild, mußten wir den bis dahin noch unüblichen Begriff der akuten oneiroiden Psychose zusammenstellen. Der oneiroide Zustand wurde von Mayer-Gross (1932), Meduna (1950) und Henry Ey (1969) als eine Bewußtseinsstörung beschrieben, in der eine vielfältige Abfolge von phantastischen Szenen erlebt wird, wie Katastrophen, Sinfluten, Kriege, Weltuntergang, usw. Diese Begebnisse setzen sich zum Teil aus Halluzinationen, zum Teil aus illusorische Verformungen der Umweltgeschehnisse zusammen und werden mit großer affektiver Anteilnahme des Subjektes miterlebt. Der oneiroide Zustand ist an kein spezifisches psychiatrisches Krank-

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heitsbild gebunden und kann sowohl bei hirnorganischen, endogenen oder psychogenen Erkrankungen auftreten. Die Hälfte der 10 Patienten wiesen das Syndrom der akuten oneiroiden Psychose auf und wurden äthiologisch als reaktive Psychosen diagnostiziert. Es handelte sich um sehr junge Menschen, alle unverheiratet. Bei vier von ihnen brach die Psychose Tage bis Monate nach der Übersiedlung von ihrem Reservat in die Hauptstadt aus. Bei der fünften Patientin brach die Psychose erst nach zwei Jahren aus. Sie hatte als Hausangestellte bei einer alleinstehenden Witwe gearbeitet. Dort lebte sie vollkommen von der Umwelt isoliert (Hausangestellte wohnen in Chile meistens in einem Zimmer bei ihrem Arbeitgeber, der über ihre Ausgangszeiten und Privatleben verfügt). Von den restlichen fünf Patienten entwickelten zwei einen oneiroiden Zustand im Rahmen einer endogenen Psychose. Nur bei zwei Patienten war eine Debilität festzustellen. Die Untersuchung dieser fünf oneiroiden Psychosen ergab eine einheitliche Struktur, die sich bei allen wiederholte. Es konnte eine typische Psychose beschrieben werden, mit einer besonderen Verlaufsdynamik, in der eine Reihenfolge von Erlebnissen mit tiefer symbolischen Bedeutung stattfanden und die jeweils eine Geschichte ergaben, deren Struktur mit derjenigen eines Mythos verglichen werden konnte. Joseph Campbell beschreibt den Mythos als einen unpersönlichen Traum. Sowohl Mythos als auch der Traum haben eine symbolische Grundlage, wie die allgemeine Dynamik der Psyche sie hat. Aber während der Traum die persönlichen Schwierigkeit des Träumers zeigt, sind im Mythos die Probleme und deren Lösungen für die Menschheit allgemein verbindlich. Der Ethnopsychiater Georges Devereux untersucht die Mythen aus der Perspektive der Erkrankungen und sieht in ihnen ein Modell, durch das die Verteidigungsmechanismen in gewisse, von der jeweiligen Kultur vorgeschriebene Bahnen gelenkt werden. Wenn die Verdrängung der Triebe versagt, würden diese in eine Art »unpersönlichen Eisschrank« gesteckt, der es erlaubt, sie auf abstrakte und kulturangepaßte Art auszudrücken. Der Mythos umfaßt sowohl das Universelle der Kultur, als auch das Individuelle der unbewußten Vorstellungsrepräsentanzen. Bei den akut oneiroiden Psychosen war folgende Struktur festzustellen: 1. Die Auswanderung der Mapuche aus ihren Siedlungen in die Stadt führte nicht nur zur Einordnung in die unterste Gesellschaftsschicht, sondern auch zur Begegnung mit vollkommen unbekannten Interaktionskoden und einem Geflecht von fremden Bedeutungszusammenhängen. Die Erkrankung beginnt mit Bedrohungserlebnissen, gefolgt von ausgeprägten paranoiden Phänomenen, um später in eine fluktuierende Bewußtseinstrübung überzugehen, die die Form eines desorientierten Dämmerzustandes mit szenischen Halluzinationen annimmt. Juan Carlos z.B. begann kurz nachdem er arbeitslos geworden war mit sei-

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ner Psychose. Er war nach Santiago gezogen, weil die Familie aus ihren kleinen Ländereien nicht mehr ausreichenden Unterhalt bestreiten konnte. Als Juan Carlos nach Hause kam, halluzinierte er die Begegnung mit einem ihn bedrohenden Mann in seinem Zimmer. In seiner Flucht wandert er ziellos durch die Straßen und erlebt, wie die Leute sich zusammenrotten, um ihn anzugreifen. Flugzeuge verfolgen ihn mit Scheinwerfern und Stimmen überfluten ihn mit Todesdrohungen. Ein anderer Patient, José, der ebenfalls im Vorfeld der Psychose seine Arbeit verloren hatte, erlebte nach einer kurzen depressiven Phase das Erscheinen von blutigen Gestalten, die ihn mit dem Tode bedrohten. Stimmen befohlen ihm, Steine und Exkremente zu schlucken. Vor seiner Wohnungstür wartete ein Ungeheuer auf ihn und drohte, ihn zu verschlingen. 2. Die Ekstase: José verläßt nun den realen Zustand der Grenzsituation in der er sich befindet und wird in seinem psychotisches Erleben zum Mittelpunkt der Welt. Er erzählt folgendes: »Eines Nachts stand ich auf, erhob die Arme gen Himmel und eine Flamme erschien am Firmament. Ich sagte mir: Mein Gott hat mich auserwählt. Als ich nach Hause kam, merkte ich, daß der Weltuntergang gekommen war. Ich stellte mir vor, wir alle würden nun verbrennen. Das erste, was dann geschah war, daß ich mich mächtig fühlte. Mir würde nichts passieren.« Später erlebte er, daß der Präsident ihm einen hohen militärischen Rang gab, um als Anführer in den Krieg zu ziehen und zu gewinnen. Isabel, eine andere Patientin, wird zur ersten Dame der Nation, zur Königin. Der Präsident schenkt ihr in einer großen Zeremonie ein mächtiges Gebäude, das Volk auf der Straße schwenkt ihr zu Ehren Fahnen. Danach wird ihr Freund, ebenfalls ein Mapuche, zum Präsidenten und sie zur Präsidentin. Bezeichend für diese Wahnerlebnisse unserer Patienten war, daß sie sich alle um Machtsymbole der herrschenden chilenischen Kultur drehten und nicht um die der Mapuche. Elemente der eigenen Kultur wurden sogar zurückgewiesen. 3. Die große Schlacht: Von dieser Mittelpunktsstellung aus begeben sich die Patienten in den Kampf und nehmen an einer Schlacht teil, die zur Dimension eines kosmischen Krieges anwächst. Juan Carlos sieht wie das Regierungsgebäude in Flammen aufgeht und danach die ganze Stadt. Die Erde bricht auf, LKWs kommen hervor. Die Gräber öffnen sich und die Leichen schweben durch die Luft. Isabel sieht, wie die Gebäude der Stadt inmitten eines Krieges zusammenbrechen. José sieht, wie mit einer Flamme am Himmel der Weltkrieg ausbricht. Alle diese Erlebnisse führen über verschiedene Wege zur Rettung: José wird zu einem mächtigen siegreichen Krieger, Juan Carlos wird von

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großen Kämpfern geschützt, Isabel wird durch die Menschen ihrer Mapuche-Siedlung beschützt. 4. Der ethnische Konflikt: Dieser erscheint bei allen unseren Mapuche-Patienten, nicht nur bei den akuten oneiroiden Psychosen. Alle Patienten zeigten anfänglich eine abweisende Haltung gegenüber der Identifizierung als Mapuche. Es wurde aber schnell deutlich, daß die Akzeptanz dieser Identitätsverleugnung jeden authentischen therapeutischen Kontakt mit dem Arzt unmöglich machte. Das Zentrum des Konfliktes bestand nämlich aus einer auswegslosen Situation: Eine Identifizierung mit der eigenen Kultur bedeutete für die Patienten eine Identifikation mit der Zerstörung, der Unterdrükkung und der Zurückweisung, die sie in der Stadt selbst erlebten. Andererseits bedeutete eine Identifizierung mit den Werten der herrschenden Kultur den Verlust der eigenen Wurzeln und der eigenen Identität. In einem Moment seiner Psychose, bereits nach seiner Einweisung, sieht sich Juan Carlos von Comic-Strip Helden der nordamerikanischen Pop-Kultur umringt. Auf dem Bett neben ihm liegt Galvarino, einer der wichtigsten Krieger des früheren Widerstandes gegen die spanische Conquista, der unter den Mapuches als Volksheld gilt. Galvarino wurden nach seiner Gefangennahme durch die Spanier beide Hände abgschnitten. Juan Carlos sieht Galvarino mit abgeschnittenen Händen und verbrannten Stümpfen. »Er lag krank und wehrlos da und seine Wunden wurden gereinigt.« Hier zeigt sich deutlich, daß eine Abwertung der Mapuche Figur vorgenommen wird, demgegenüber aber der Comic-Strip Helden als mächtig und beschützend erscheint. »Unter diesen Leuten fühlte ich mich wohl.« 5. Restitutionsphase: Bei fortschreitender Genesung der psychotischen Episode, fand bei allen Patienten eine Wiederbegegnung und Versöhnung mit der eigenen Kultur statt. Isabel z.B. beginnt jede Nacht mit Alltagsszenen aus ihrer Mapuche-Gemeinde zu träumen. Sie wird von der Mutter im Traum beraten: der Küme Mapu Chau und die Küme Mapu Nuque (guter Vater und gute Mutter der Erde) haben ihr geraten, dem Arzt der Huincas (Weißen) zu vertrauen. Sie selbst interpretiert ihre Krankheit nach den Vorstellungen der MapucheKultur. »Es kann ein Ruf der Geister gewesen sein, um mich in eine Machi zu verwandeln.« Das macht ihr Sorgen, denn die Zurückweisung eines solchen Rufes wird mit Krankheit und Tod bestraft, Isabel möchte aber keine Machi werden. Als sie in ihre Gemeinschaft zurückkehrt, besucht sie eine Machi um Klarheit darüber zu gewinnen. Zu ihrer Erleichterung stellt sie fest, daß es sich nicht um ein Perrimontün, ein Zeichen der Machiberufung gehandelt hat. Alle Patienten mit akuter oneiroiden Psychose sind nach der Heilung in ihre Siedlungen zurückgekehrt.

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Kommentar und Problemstellung Die Tatsache, daß wir vor einem psychotischen Syndrom standen, das in einer spezifischen Weise bei der Mapuche-Bevölkerung vorzufinden war, ließ uns vermuten, daß sich die besondere Ausformung dieses Syndroms nicht aus der destruktiven Überforderung des psychischen Apparates ergab, sondern aus den restitutiven Phänomenen, aus den Selbstheilungstendenzen. Wie schon Devereux bemerkte, wirkt sich der Abbau der psychischen Funktionen in den endogenen Psychosen entkulturisierend. Jedenfalls ist dieser Abbau selbst nicht kulturell geprägt. Die restitutiven Phänomene sind dagegen in der jeweiligen Kultur verankert. Sie veruchen die schon bestehenden regulären Verhaltensabfolgen des Nervensystems wieder herzustellen. Im Zentrum des Aufbaues der Kultur steht dabei die Fähigkeit der Symbolisierung. Um einen psychotherapeutischen Zugang zu den Patienten zu finden, mußten wir die Bedeutung dieser restitutiven Phänomene zunächst verstehen, da anzunehmen war, daß es sich um das erfolgreichste Verteidigungssystem handelte, über das sie verfügten. Eine jede Psychotherapie muß wiederum davon ausgehen, die eigene Identität des Patienten zu bejahen, zu akzeptieren und zu fördern. Jede von außen herankommende Verleugnung der eigenen Identität wird als Agression wahrgenommen und das ist sie auch. Bei der Begegnung des unkritischen, von seinen eigenen kulturellen Begriffen ausgehenden Psychiaters mit einem Mapuche Patienten, kann sich die paradoxe Situation ergeben, daß der Mapuche, der die Behandlung aufgenommen hat, weil er eine brutale Disqualifizierung seiner eigenen Identität erlebt hat, nun auf einen Psychiater trifft, der die kulturgeprägten restitutiven symbolischen Erscheinungen der Psychose meint als Symptome deuten zu können, die einfach wegbehandelt werden müssen. Was folgt ist die erneute Disqualifizierung der eigenen Identität, die mit der Diagnose »Debilität« und einer Elektroschockbehandlung enden kann. Folgende Fragen kamen auf und leiteten die nächsten Schritte der Untersuchung: 1. Welchen kulturellen Begriffsrahmen verwendet der Mapuche? Wie versteht er sich selbst und seine Krankheit? Durch einen näheren Einblick in diese Fakten, hofften wir auch jene Elemente der Symbolik kennen zu lernen, mit der wir eine gemeinsame Bedeutungswelt aufbauen könnten. 2. Gibt es eine Grundform der Erfahrungsweise, die bei den Mapuche anders ist, als bei uns und ihnen erlaubt mit größerer Leichtigkeit eine Bewußtseinsveränderung zu erreichen, um einen direkteren Zugang zu den Symbolen zu bekommen? Bei der Suche nach der Antwort auf diese Fragen unternahmen wir zahlreiche Besuche in den Siedlungsgebieten der Mapuche, nahmen Kontakt mit den Ma-

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chis selber auf und haben an zeremoniellen Heilverfahren teilgenommen. Stark zusammenfassend können wir über folgende Zusammenhänge zwischen dem Spezifischen der Erkrankung und der Kultur berichten: Die Krankheit ist für die Mapuche der Sieg des Bösen über das Gute. Die Behandlung der Machi besteht aus der Zerstörung der Kräfte des Bösen, die durch den Zauber der Dämonen oder Hexen entfesselt werden und die Krankheit hervorrufen. Dadurch wird ihnen nicht nur die Gesundheit zurückgegeben, sondern auch der Schutz der guten Geister. Der Krankheitsbegriff der Mapuche ist also unlösbar mit Weltbild und Religion verbunden. Diese unterscheidet eine natürliche Welt (Mapu) die von Menschen, Machis und Kalkus (böse Zauberer) geteilt wird, von einem übernatürlichen Bereich, der aus zwei Ebenen besteht: a)

Wenu-Mapu oder höherer Bereich, in dem die Götter, die guten Geister und die helfenden Geister der Machis (pellü) wohnen. b) Angka-wenu oder mittlerer Bereich, zwischen der Erde und den Wolken gelegen, der von den bösen Geistern (wekufe) bewohnt wird. Die wekufe sind die Vermittler des Bösen, der Krankheit und des Todes. Sie ziehen meist als Einzelerscheinungen durch die Lande und nehmen die Form von Tieren, Naturphänomenen oder menschenähnlichen Gebilden an. Der meulin ist zum Beispiel ein häufig erscheinender kleiner Wirbelwind und wird als die Verkörperung eines Wekufe, der hauptsächlich Epilepsie und Geisteskrankheiten hervorruft verstanden. Irma, die Tochter einer Machi, berichtet uns, daß der Tod ihres Vaters von einem Schwärm kleiner Vögel (pequenes) angekündigt wurde, die einige Monate vor seinem Ableben das Haus umflatterten und ständig schrien. Diese Vögel seien wekufe gewesen, denn nach dem Tode des Vaters seien sie schlagartig verschwunden. »Sie haben ihn schon mitgenommen, meinen Vater. Sein Blut haben sie ausgesaugt. Deshalb flogen sie weg und kehrten nicht mehr zurück.« Die Pequenes hatten den Vater heimgesucht, weil er sich in seiner Jugend an der Mißachtung eines Perrimontün, der Berufung zum Schamanentum, verschuldet hatte. Aufgrund dieser Zurüchweisung hatte er am Ende diese Strafe hinnehmen müssen. Die Wekufe können auch als Werkenes, oder Botschafter eines kalku fungieren. Die Identität und die Absicht eines Kalku ist niemals mit Bestimmtheit zu erfassen. Die Machis verraten nicht die Identität der Kalkus. Höchstens wird sie angedeutet. Früher wurden identifizierte kalkus mit dem Tode bestraft, heute werden sie gefürchtet, aber auch geachtet. Sie handeln aus Neid oder aus Rache. Es heißt, sie verfügen über besondere Gifte (illel) die den Tod nach 6 Monaten verursachen. Oder sie können mittels eines infitün Herr über ihre Opfer werden. Durch die Aneignung von Objekten, mit denen das Opfer in körperli-

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chem Kontakt stand, wie Haare, Fingernägel oder Mensesblut, und einem Zauberspruch wird die Krankheit verursacht. Mächtige Zauberer können die Seele des Kranken rauben, die dann durch die komplizierteste und längste Heilungszeremonie der Machi wieder erlangt werden kann: der doppelte Machitun. Die Machis heilen, indem sie das Böse bekämpfen. Mittelpunkt jedes Schamanentums ist der Ruf der Geister und der Kontakt mit der übernatürlichen Welt. Die Art, dieses zu erfüllen ist die Ekstase, während die Machi den profanen Raum verläßt, um sich in den sakralen Raum zu begeben, in dem die Heilung vollzogen wird. Mircea behauptet, daß die Ekstase des Schamanen ihm erlaubt, in die Hölle hinabzusteigen und in direkten Kontakt mit dem Himmel zu kommen, wie es in den mythischen vergangenen Zeiten geschah. In diesem sakralen Raum nimmt die Machi durch ihre helfenden Geister an dem kosmischen Krieg, zwischen den Kräften des Guten und des Bösen, teil. Durch den Ausgang dieses Kampfes wird die Heilung entschieden. Der zeremonielle Raum, in dem der Machitun stattfindet, wird durch die räumliche Ausbreitung der heiligen Symbole hergestellt, so wie es in den Tempeln der Fall ist. Ein Machitun muß mit der aktiven Teilnahme von 9 bis 15 Personen stattfinden. Es sind die Helfer in der kosmischen Schlacht. Der Kranke wird auf eine Matte zwischen zwei Ästen des heiligen Baumes gelegt und die Machi beginnt mit einem einleitenden Gebet um dann, unter monotonen Schlägen auf der heiligen Trommel (kultrun), ihren eigenen Trancezustand zu induzieren. Plötzlich wird sie von der Ekstase ergriffen und von den Geistern besessen, die von nun an die Aufgaben übernehmen. Ihre Adjudanten, die llankane, streifen das Kopftuch über ihre Augen und während der nächsten Stunden wird sie komplizierte Tänze und Zeremonien blind ausführen, denn die Geister brauchen keine Augen. Die afafanfe stellen bewaffnete Krieger dar und helfen ihr in dem Kampf. Wir konnten 15 bis 20 Phasen dieser Zeremonie erkennen, die bei Sonnenuntergang beginnt und mit den ersten morgentlichen Sonnenstrahlen endet. Im kosmischen Sinn bedeutet jeder Krieg einen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen. Nach M. Eliade liegt der einzige Grund, der einen Krieg rechtfertigt in der Reduktion der Vielfalt zur Einheit, des Chaos zur Ordnung. Der Krieg ist also das Mittel zur Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung. Die letztendliche Wirkung der Zeremonie des Schamanen und der Handlung des Helden in der Mythenanalyse von Campbell, besteht in der Befreiung des gehemmten Flusses des Lebens im Körper der Welt. Im Zusammenhang mit dem kosmischen Krieg erscheint - sowohl in den Untersuchungen von Eliade wie von Campbell - das Bild der Achse der Welt, die axis mundi. Die Schamanentrommel repräsentiert den heiligen Baum, der aus dem symbolischen Zentrum des Universums herauswächst, wobei der Held in seinem kosmischen Abenteuer zum Zentrum wird, aus dem die Energien der Ewigkeit in das Universum strömen.

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Das Machitun ist ein szenisches und dramatisches Ereignis, wie es auch die Psychosen unserer Patienten sind. Es zeigt in seinen Symbolen sowohl die Achse der Welt, in die sich der Patient verwandelt, wie auch den kosmischen Krieg, durch den der Patient inmitten seiner Psychose, die zerstörte ursprüngliche Einheit wiederzuerlangen versucht. Schamane und Patient verwenden dabei ein komplexes symbolische System, das ihrer Kultur entspringt. Bei näherem Hinsehen können wir als westliche Psychiater aber auch die tiefere Ebene unserer eigenen Symbole wiedererkennen. Die Frage nach der Eigenart der Erlebnisweise der Mapuche führte uns zur Beobachtung folgender Merkmale, die einen leichten Übergang in den Trancezustand und auf die Symbolebene erlauben: 1. Die cartesianische Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa besteht nicht. Die Welt ist auf primäre Weise beseelt, sie ist eine personifizierte Welt. Das bedeutet, daß die Mapuches auch die menschlichen Leidenschaften als Teil der Natur begreifen. Daraus folgt für sie, daß es keine wissenschaftliche Logik gibt, die den Anspruch auf eine deterministisch fundierte Vorhersage der Geschehnisse erheben kann. In unserer Begriffsbildung besteht die Krankheit aus einer Beeinträchtigung der res extensa, der Sphäre des Körpers. Wir erwarten, daß unsere Erkrankung objektivierbar, meßbar, in ihrer Entwicklung vorhersagbar und durch Eingriffe in festgefügte Kausalketten veränderbar sei. Aber dort, wo beseeltes Geschehen beginnt, hört die Kausalität auf. Für den Mapuche gelten bei der Krankheit die Regeln des Krieges. Das Gleichgewicht der Kräfte im Widerstreit bestimmt, ob der Kampf mit einem Sieg oder einer Niederlage enden wird. 2. Es besteht eine Vorherrschaft der analogen Kommunikation gegenüber der digitalen (i.S. der Theorie der menschlichen Kommunikation von Watzlawick). Die Erlebnisweise der Mapuche ist sensorisch, bildhaft, mit einem Überwiegen des Visuellen gegenüber dem Auditiven, der Evokation und Suggestion gegenüber der Information. Dadurch erhalten die sensoriell wahrnehmbaren Symbole eine besondere Wertigkeit. Alles muß man tasten und fühlen können. Was nicht zur Welt des Körperlichen gehört, wird ganz einfach verkörpert und in der schamanischen Zeremonie dramatisiert. 3. Was für uns eine intrapsychische oder religiöse Kategorie ist, ist für den Mapuche ein Teil der unmittelbar wahrnehmbaren Welt. Dieses gibt ihm die Möglichkeit der unmittelbaren Beziehung zum Symbolischen und die Fähigkeit des Zugangs zur Traumwelt, nicht als Teil der privaten Sphäre, sondern als Teil des öffentlichen Raumes. Wenn man diese Art des Erlebens versteht und den konkreten Inhalt der Symbole begriffen hat, kann auch ein psychotherapeutischer Zugang gefunden werden, der wie die Traumanalyse vorgeht, aber eine Sprache benutzt, die der

Kulturelle Identität und seelische Erkrankung der Mapuches in Chile

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sensorischen Erfahrung gerecht wird. Wenn man die symbolische Kohärenz des Geschehens erfaßt hat, können auch, trotz Unterschiedlichkeit der Kulturen von Therapeut und Patient, die gemeinsamen Bedeutungsinhalte aufgegriffen werden und eine kulturübergreifende therapeutische Beziehung aufgenommen werden.

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Zweiter Teil: Psychologie in Lateinamerika: Theorie und soziale Praxis einer Disziplin

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Seligmann-Silva

Arbeit und psychosoziale Gesundheit in Brasilien Der Einfluß der Arbeitsbedingungen auf die psychosoziale Gesundheit und mögliche Störungsprozesse, die damit verbunden sind, werden von Wissenschaftlern und Interessenverbänden der Arbeitnehmer zunehmend mit Aufmerksamkeit beobachtet. Um zu verstehen, welche Auswirkungen die Arbeitsbedingungen auf die psychosoziale Gesundheit haben, ist es notwendig, mehrere Phänomene zu untersuchen, die in der herkömmlichen Forschung meist nach Fachdisziplinen getrennt analysiert werden. Unter psychosozialer Gesundheit verstehen wir das Zusammenspiel psychischer, psychosozialer und psychosomatischer Aspekte. Das Feld der beruflichen psychosozialen Gesundheit ist also in sich ein interdisziplinäres Feld, in dem verschiedene Wissenschaften miteinander verbunden werden müssen. In erster Linie handelt es sich dabei um die Sozialwissenschaften, deren Arbeitsbereiche auch mit der Welt der menschlichen Psyche konfrontiert sind. Die große Herausforderung dieses Feldes besteht darin, Erkenntnisse über die psychosoziale Gesundheit zu gewinnen, die sich aus Studien über Arbeitsbedingungen ergeben. Gleichzeitig müssen methodisch relevante Grenzlinien gezogen werden. Wir werden in diesem Aufsatz die begrifflichen und methodologischen Fragestellungen nicht in extensi behandeln, die zur allgemeinen Diskussion über psychosoziale Gesundheit und Arbeitsbedingungen gehören, sondern unsere bisherigen Erkenntnisse am Beispiel Brasiliens darlegen. Arbeit kann eine Quelle des Vergnügens sein, das Selbstbewußtsein und die Identität stärken und positiv auf die Förderung und Erhaltung der seelischen Gesundheit einwirken kann. In diesem Essay werden wir jedoch das Thema aus einer anderen Perspektive behandeln, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit häufiger auftritt und in der wir unsere Forschungsarbeit entwickelt haben, d.h. aus der Perspektive der psychischen Störungen, die mit dem Berufsleben zusammenhängen.

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1. Theoretischer Kontext Angesichts der Komplexität des Feldes, in dem die berufliche und psychische Gesundheit verortet werden muß, überrascht es nicht, daß noch kein konsensfähiges theoretisches Modell vorhanden ist. Es ist jedoch möglich, drei theoretische Richtungen zu benennen, in denen die Wurzeln der zu gründenden Disziplin vorzufinden sind. Jede dieser Strömungen definiert das zentrale Phänomen der Wechselwirkung zwischen Arbeit und Psyche mit verschiedener Begrifflichkeit. a) Eine Reihe von Studien untersucht den Berufsstress (work stress); die ersten Untersuchungen dieser Richtung stützen sich hauptsächlich auf die Physiologie und die kognitiven Ansätze der Psychologie. b) Studien, die sich auf sozialwissenschaftliche Theorien und Ansätze stützen und die psychische Auswirkungen gesellschaftspolitischer Prozesse innerhalb der ökonomischen Logik des Kapitalismus mit dem Begriff der psychischen Erschöpfung bestimmen. Dieser Ansatz besagt, daß der Lohnarbeiter auf einen Produktionsfaktor reduziert und daß seine Existenz nur unter ökonomischen Gesichtspunkten berücksichtigt wird. D.h., daß wesentliche Aspekte seines Menschseins verleugnet werden. c) Untersuchungen, die sich auf die Psychoanalyse stützen, um die psychodynamischen Prozesse zu analysieren, in denen sich das psychische Leiden durch die Arbeitswelt entwickelt. Diese Strömung besteht hauptsächlich in Frankreich und in Deutschland. Trotz der Unterschiede, die diese Forschungsansätze zunächst als unvereinbar erscheinen lassen, gibt die Entwicklung der Theoriebildung in den letzten Jahren, einen Anlaß zur Hoffnung auf die Überwindung von Reduktionismen. Vielmehr deutet sich eine Integration der anthropologischen Sichtweise und ein analytisches Interesse an der Erforschung möglicher Interaktionen zwischen physiologischen, kognitiven, psychodynamischen Aspekten an. Im Rahmen dieser Arbeit wird es nicht möglich sein, über alle Details dieser Entwicklung zu berichten, so daß wir uns auf die Erwähnung einiger ausgewählter Daten beschränken werden. Die Verfeinerung der Erklärungsmodelle des Streß schließt inzwischen psychosoziale Aspekte mit ein. Die analytische Perspektive des ganzheitlichen Streßbegriffs schließt nach Maschewsky »die zeitliche, physische und soziale Dimension komplexer Arbeitssituationen ein, alle relevanten Einflüsse der Gesellschaft, den vielfältigen Stress, der sowohl längs- als auch querschnittsmäßig untersucht wird, sowie die reversiblen und die irreversiblen kurz- und langfristigen Folgeerscheinungen der beruflichen Anforderungen, so, wie sie in den psychisch eigenen Darstellungen auftreten, und zwar zumindest in den Begriffen ihrer allgemeinen Beziehungen und innerhalb eines empirischen Bezugrahmens.«

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Andererseits weisen die Entwicklungen innerhalb der psychodynamischen Ansätze auch neue Tendenzen auf. Die theoretische Systematisierungsarbeit dieser Strömung, die hauptsächlich in Frankreich und Deutschland geleistet wird, hat eine Überbewertung der Arbeitsorganisation anstelle der Arbeitsbeziehungen zum Vorschein gebracht, was durch die Logik der wirtschaftlichen Macht bedingt gewesen ist. Sowohl die französische als auch die deutsche Forschungsgruppe arbeiten ausschließlich mit einem qualitativen Forschungsansatz, den sie um interessante wissenschaftliche Validierungsformen der gesammelten Daten ergänzt haben. Wir glauben, daß eine genauere Untersuchung des Begriffs der psychischen Erschöpfung lohnenswert ist, da er in sozialpsychologisch bzw. sozialwissenschaftlich orientierten Forschungsarbeiten am häufigsten verwendet wird.

Der Begriff der psychischen Erschöpfung Die arbeitsbedingten organischen Abnutzungsprozesse sind bereits ausführlich untersucht worden, geht es jedoch um die Untersuchung des psychischen Lebens, werden Fragen aufgeworfen wie: Ist es möglich, die Phänomene der Interaktion zwischen der Arbeit und der psychischen Sphäre mit dem Begriff der Ermüdung zu erfassen? Ist es möglich, eine Ermüdung der psychisch-kognitiven und psychoaffektiven Fähigkeiten zu erkennen, die beruflich bedingt sind und wie können sie von der Zermürbung oder Zerstörung des zentralen Nervensystems unterschieden werden? Zunächst müssen wir uns daran erinnern, daß arbeitsbedingte Schäden in der Tat das organische Substrat der Psyche betreffen können. Dies kann sowohl durch Arbeitsunfälle geschehen, als auch durch die Auswirkungen toxischer Stoffe, die die biochemischen Prozesse des Nervensystems schädigen oder zerstören und intellektuelle Schäden oder psychoaffektive Störungen hervorrufen können. Als Beispiele können Arbeitsbedingungen herangezogen werden, in denen die Arbeitnehmer Blei, Quecksilber oder anderen Schwermetallen ausgesetzt sind. So sind z.B. die neurotoxischen Wirkungen von Toluol und anderen Lösungsmitteln, Methanol oder anderen Produkten seit langem bekannt. Wir denken, daß es sich lohnt, darauf hinzuweisen, daß psychische Störungen, die auf die Auswirkungen chemischer Produkte zurückzuführen sind, erst seit kurzem untersucht werden. Dabei hat sich herausgestellt, daß psychologische Tests für die frühe Feststellung von Vergiftungen von großem Wert sind, insbesondere, wenn sie eine neurologische Untersuchung des Verhaltens mit Hilfe von Serientests einschließt. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß viele dieser Vergiftungen zu sehr schweren und irreversiblen neuropsychischen Schäden geführt haben.

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Nachdem wir diese erste Möglichkeit der psychischen Erschöpfung dargestellt haben, und bevor wir zu anderen Formen der psychischen Schädigung übergehen, müssen weitere theoretische Punkte berücksichtigt werden. Bei der Untersuchung von Menschen, die in die kapitalistische Produktionsweise integriert sind, zeigt Jervis auf, daß die Merkmale ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Beziehungen selbst, die durch die kapitalistischen Produktionsweise entstehen, innerhalb der Entfremdungs- und Fetischisierungsprozesse verdinglicht werden. Dieser analytische Ansatz untersucht die vorherrschenden Umstände, in der sich die unfreie und ausbeuterische Arbeitssituation auf den Arbeitnehmer als Person auswirkt. Er betrachtet den »Arbeiter als Ganzes«, dem wichtige Bestandteile seiner Subjektivität genommen werden, und zwar in Situationen, in denen die Unterdrückung sehr intensiv ist. Dies ist zu konjunkturellen Zeitpunkten die Regel, in denen das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zu ungunsten letzterer ausfällt. Die Phänomenologie der »Expropriation der Subjektivität« ist von Doray am Beispiel der Fließbandarbeit sehr gut analysiert worden. Dieser analytische Ansatz könnte vielleicht den Weg dafür öffnen, daß der Begriff der Erschöpfung für die Situationen verwendet werden kann, in denen die Idee des Verlustes in das Zentrum der Analyse gestellt wird. Dies ist insofern notwendig, als daß die Idee des Konsums (Verbrauchs) dem Phänomen der »Expropriation« nur schwerlich übergestülpt werden kann, da dieses eher Entzug oder Raub bedeuten würde. Wenn wir die Begriffsbildung von Laurell und Noriega berücksichtigen, könnten wir eine Perspektive gefunden haben, die dieser theoretischen Möglichkeit sehr nahe kommt. Die Autoren stellen fest, daß der Begriff der Erschöpfung den »Verlust einer potentiellen und oder tatsächlichen körperlichen und psychischen Fähigkeit« voraussetzt (S. 110f., Herv. E. S.-S.). Auch wenn wir mit den Autoren übereinstimmen, die sich wie Doray am historischen Materialismus orientieren, so denken wir doch, daß die entfremdete Arbeit eine deformierte Benutzung des Körpers, sowie eine Deformation des psychischen und physischen Potentials der Betroffenen einschließt. Die Vorstellung der Deformation beinhaltet die Vorstellung des Verlusts eines vorherigen Zustandes, der befriedigender war und besser bewertet wurde, da sich »die Arbeit in eine Aktivität verwandelt, deren abnutzende Dimension viel größer ist als die der Erholung und der Entfaltung der Fähigkeiten« (ebd., 116). Zweitens muß an dieser Stelle überprüft werden, ob eines der Phänomene, das von Arbeitspsychologen, Ergonomen und Psychophysiologen am intensivsten untersucht worden ist - die Ermüdung - mit dem Begriff der Erschöpfung erfaßt werden kann, und falls ja, welche Art von Ermüdung hier zuträfe. Die psychische Ermüdung ist mit der körperlichen Ermüdung untrennbar verbunden. Aus diesem Grunde wird heute allgemein der Ausdruck der »allgemeinen Müdigkeit« verwendet, auch wenn aus der Arbeitssituation ge-

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schlössen werden kann, daß körperliche bzw. psychische Ermüdung vorherrscht. In den Fällen, in denen sich die Ermüdung über einen längeren Zeitraum hinweg ansammelt, entstehen die Krankheitsbilder der »chronischen« oder »pathologischen Ermüdung«, deren Symptome neben einer ständigen Müdigkeit auch Schlafstörungen, Irritierbarkeit, Mutlosigkeit und manchmal auch verschiedenartige Schmerzen und Appetitlosigkeit umfaßt. Diese Müdigkeit erfaßt auch die körperliche Dimension und führt neben dem seelischen Leiden an unzähligen Verlusten zu organischen Schäden. Felduntersuchungen mit ungelernten Industriearbeitern haben ergeben, daß bei wachsender Ermüdung die Möglichkeiten der sozialen Partizipation und der aktiven Freizeitgestaltung abnehmen. Das bedeutet, daß die Erschöpfung die Brücke für eine intensivierte Unterdrückung bildet, die in vielen Fällen die Vorstufe der Entfremdung ist. Außerdem darf nicht vergessen werden, daß verschiedene Forschungsarbeiten und Untersuchungen die Existenz von globalen Abnutzungsformen aufgezeigt haben, die sich in vorzeitigen Alterungsprozessen mit bestimmten Erschöpfungssituationen äußern. Dies ist z.B. bei wechselnder Schichtarbeit der Fall. Die Studie, die Pépin darüber durchgeführt hat, zeigt auf, daß ein Leben unter derartigen Arbeitsbedingungen den Alterungsprozeß um sieben Jahre beschleunigt. Eine dritte Sichtweise führt das Verständnis des Begriffe der Erschöpfung auf jene Erlebnisse zurück, die diachronisch aufgrund individueller Lebenserfahrungen innerhalb und außerhalb der Arbeitssituation nachvollziehbar werden. In vielen Fällen wird eine andere Form der Ausnutzung in ihnen sichtbar. Dabei handelt es sich um den Prozeß, der Werte und Glaubensvorstellungen des Individuums angreifen und im Extremfall seine Würde und Hoffnung verletzen kann. Kann dieser Ausnutzungsprozeß nur metaphorisch verstanden werden? Sollte dies so sein: Könnte der Begriff der Erschöpfung verwendet werden, um diesen Prozeß zu charakterisieren, der - auch wenn er nur in der Vorstellung der betroffenen Individuen besteht - für das Verständnis der hier behandelten Phänomene ausgesprochen ergiebig ist? Es muß berücksichtigt werden, daß es aufgrund des gegenwärtigen wissenschaftlichen Standes unmöglich ist, diese Fragen zufriedenstellend zu beantworten. Die Erkenntnisse der psychosomatischen Medizin ermöglichen die Aussage, daß sich diese Korrosion nicht nur auf die Vorstellung der Individuen beschränkt. Sowohl für Marty, der psychosomatische Phänomene aus einer psychoanalytischen Perspektive analysiert, als auch in der »biogenetischen Struktur des Stress« von Christian weist das Gefühlsleben stets eine somatische Entsprechung auf.* In diesem Zusammenhang verdienen die Untersuchungen •

Beide Autoren halten den Begriff der Psychogenese für überholt. Im Unterschied zu Christian behauptet Marty jedoch, daß die psychische Ausdrucksform der psychosomatischen Desorganisation

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über arbeitsbedingte Herzerkrankungen besondere Aufmerksamkeit und eröffnen wichtige Ansätze für die Erhellung dieses theoretischen Problems. In dem Maße, wie sich Arbeitssituationen mit sukzessiven Frustrationen verbinden und jahrelang die Erfahrungen zunehmen, die das Selbstbild beeinträchtigen, verengen sich auch die Zukunftsperspektiven der Betroffenen. Verschiedene Untersuchungen haben ergeben, daß derartige Erfahrungen neben der metaphorischen Einengung von Identität und Lebensplanung auch zu Herzerkrankungen und zu häufiger auftretenden Herzinfarkten führen. Diese dritte Abnutzungsform tritt hauptsächlich in Verbindung mit Erfahrungen auf, die mit der Arbeitsorganisation und -kontrolle zusammenhängen. Insbesondere die fehlende soziale Anerkennung für die durchgeführte Arbeit sowie persönliche Enttäuschungen in Verbindung mit Aufstiegsmöglichkeiten gehören zu den Determinanten dieses Prozesses. Sowohl in den bereits erwähnten Überlegungen von Jervis, als auch in den Thesen von Laureil und Noriega können wir Begründungen für die Angemessenheit und Berechtigung des Begriffs der Erschöpfung finden. Dabei muß jedoch betont werden, daß sich Erschöpfung und Leiden nicht gegenseitig ausschließen, sondern im Gegenteil in der abhängigen Arbeitssituation untrennbar miteinander verbunden sind.

2. Herrschaftsprozesse und Entstehung der mentalen Ermüdung Zwischen 1981 und 1983 haben wir eine Untersuchung über die Auswirkungen der Arbeits- und Lebensbedingungen auf die psychosoziale Gesundheit am Beispiel von Industrie- und Metallarbeitern der Städte Cubatao und Sao Paulo durchgeführt. Diese Untersuchung enthält vierzig Einzelfalluntersuchungen mittels Tonbandinterviews, die bei Hausbesuchen aufgenommen wurden. In der Mehrzahl der Fälle hat auch die Ehefrau des Interviewten an der Sitzung teilgenommen. In Cubatao handelte es sich bei den Befragten um Männer, bei denen »nervöse Beschwerden« festgestellt worden und die deswegen für eine Zeit von der Arbeit freigestellt waren. In Sao Paulo wurden die Interviews durchgeführt, ohne daß vorher eine Auswahl zwischen »Nervösen« und »nicht Nervösen« getroffen wurde. Die Studie ermöglicht es, einige Aspekte der psychischen Erschöpfung zu identifizieren, die mit der Interaktion verschiedener Determinanten des beruflichen und des außerberuflichen Lebens zusammenhängen. Zum Zeitpunkt der mit Hilfe der somatischen Ausdrucksform erkannt werden kann, ohne daß dies ein Kausalitätsverhältnis zwischen der ersten und der zweiten Ebene beinhaltet (S. 89). Christian hingegen behauptet, daß Affekte und Gefühle erlebt, körperlich erfahren werden (S. 31).

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Durchführung der Untersuchung befand sich Brasilien in einer tiefen Rezessionsphase. Dadurch nahmen die Überstunden und der psychische Druck auf die Arbeiter zu; die sozio-ökonomische Krise führte zu einer Verschärfung der Ermüdung und Anspannung und vergrößerte die Unsicherheit über den Erhalt des Arbeitsplatzes und das ökonomische Überleben der Familie. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Brasilien noch keine Arbeitslosenversicherung. Später haben wir andere Forschungsarbeiten durchgeführt, die unsere Beobachtungen über die arbeitsbedingte psychische Erschöpfung erweiterten und vertieften. Auf Anfrage der Gewerkschaften haben wir Studien über die Arbeitsbedingungen von Bankangestellten und Zugführern der Untergrundbahn erstellt. Dabei handelte es sich um interdisziplinäre Studien, in denen sowohl medizinische, psychiatrische als auch soziologische und psychodynamische Aspekte des Problems untersucht worden sind. Die aktive Teilnahme der Arbeiter während der gesamten Froschung war von großer Bedeutung, da sie die Erhellung zahlreicher Aspekte, wie auch das Nachvollziehen bestimmter Widerstandsformen gegenüber der Herrschaft und dem psychischen Leiden ermöglichte. Brasilianische Sozialwissenschaftler haben bereits vielfältige Untersuchungen über die Bedingungen von Herrschaft und Widerstand in Arbeitssituationen durchgeführt. In einigen dieser Studien wird das Alltagsleben der Arbeitnehmer berücksichtigt sowie die konkreten Formen der Kontrolle, der ihr berufliches und ihr außerberufliches Leben unterworfen ist. Darunter müssen jene Untersuchungen hervorgehoben werden, die die psychologischen Aspekte des Themas behandeln und die zu wertvollen Erkenntnissen über die psychosoziale Gesundheit der Arbeitnehmer gelangt sind. Dabei handelt es sich um diejenigen Analysen, die aufzeigen, wie die Vorgesetzten die Erwartungen, Gefühle und Werte ihrer Untergebenen manipulieren, um die Arbeitsproduktivität zu steigern. Andere Autoren haben untersucht, wie das Phänomen der Erschöpfung aus der Ermüdung und aus dem alltäglichen Arbeitsdruck entsteht. Das Thema einer Herrschaftsstrategie, die auf der Verletzung der Würde der Arbeitnehmer beruht, ist u.a. von Grossi in einer Studie über Bergarbeiter bearbeitet worden. Abramo hat die Frage der Würde in den Mittelpunkt seiner Studie über einen Metallarbeiterstreik gestellt. In unserer Forschungsarbeit haben wir eine wichtige Konvergenz zwischen den Ergebnissen der sozialwissenschaftlichen Forschung und der Untersuchung der Herrschaftsinstrumente und -Strategien festgestellt, die in der gesellschaftlichen Struktur der Arbeitsbeziehungen enthalten sind. Wir haben deutlich erkennen können, daß die Prozesse von Herrschaft und Erkrankung einen gleichzeitigen und parallelen Verlauf aufweisen. Das Herrschaftsverhältnis verletzt die Würde und die Grundbedürfnisse des Menschen und zerstört die Autonomie des Individuums. Das Herrschaftsverhältnis ruft auch Brüche in

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der psychischen Welt, im psychosozialen Alltag und in der psychosomatischen Stabilität hervor. Außerdem haben wir bestätigen können, daß jene Beziehungen, die das Herrschaftsverhältnis bilden, gleichzeitig auch das Leiden hervorrufen, und zwar in dem Maße, in dem das Herrschaftsverhältnis der Identität Gewalt antut und die Psyche in Angst gefangen hält. Die Ausbeutung erschöpft den Lohnabhängigen, die Erschöpfung verdunkelt das Bewußtsein und öffnet der Entfremdung den Weg. Um diese dynamische Beziehung zu enthüllen, ist sowohl ein interdisziplinärer Ansatz seitens der Wissenschaftler, als auch die aktive Teilnahme der Arbeitnehmer an der Untersuchung, notwendig. Eine weitergehende Vertiefung der methodologischen Aspekte der Untersuchung der psychosozialen Gesundheit würde den Rahmen dieses Essays sprengen. Dennoch muß auf die Bedeutung des partizipatorischen Forschungansatzes hingewiesen werden, in dessen Verlauf sich die untersuchten Personen in Subjekte verwandeln, die der Studie einen erforschenden und gleichzeitig aktiven Charakter verleihen. Das heißt, daß Forschung und Aktion zusammengehören und sich an der Veränderung von Unterdrückung und pathologisierenden Verhältnissen ausrichten. Die Wechselwirkung zwischen Wissenschaftlern und Lohnabhängigen gewinnt im Verlauf der Untersuchung große Bedeutung und führt zu neuen gemeinsamen Erkenntnissen. Dies ist für die Ausarbeitung von breitverfaßten Veränderungsvorschlägen grundlegend. Sie sollten die Umweltbedingungen und Arbeitsorganisation umfassen und die in der Praxis enstandenen Arbeitsbeziehungen sowie die Unternehmenspolitik und staatliche Politik mitberücksichtigen.

3. Unqualifizierte Arbeit, psychisches Leiden und Entfremdung Das Thema der Qualifikation ist in der Industriesoziologie breit diskutiert worden. Wir schließen uns der Definition an, die denjenigen Arbeitnehmer als qualifiziert bezeichnet, der über ein besonderes Können verfügt, das er durch eine Berufsausbildung oder durch Arbeitserfahrung mit den spezifischen Methoden einer bestimmten Tätigkeit erworben hat. Die Kriterien zur Bestimmung des Qualifikationsniveaus sind nach einem Muster festgelegt. In der Praxis hat dies zu einer regelrechten Dequalifizierung jener Arbeitnehmer geführt, deren Qualifikationen durch die Automatisierung wertlos geworden sind, und die deshalb wie unqualifizierte Arbeitnehmer behandelt werden. Dieser Prozeß schließt auch eine Reihe von Tätigkeiten ein, denen die Anerkennung als Qualifikation verweigert wird, weil damit die Produktionskosten gesenkt bzw. auf einem niedrigen Niveau gehalten werden können.

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Der Begriff der unqualifizierten Arbeit scheint uns auf jene Arbeitnehmer zuzutreffen, die keine Gelegenheit hatten, eine berufliche Ausbildung oder Berufserfahrung zu erwerben. In Brasilien ist dies bei vielen sogenannten »Hilfsarbeitern« der Fall, die in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zu Leiharbeitern degradiert werden. Die Frage der Qualifizierung der Lohnabhängigen hat für die Analyse ihrer Auswirkungen innerhalb des Herrschaftsprozesses große Bedeutung, insbesondere wenn sie pathologische Züge im Sinne einer psychischen Erkrankung oder einer entfremdeten Maske annimmt. Heutzutage bedroht die Möglichkeit, als unqualifizierte Arbeitskraft zu gelten bzw. vom Dequalifizierungsprozeß betroffen zu sein, eine wachsende Zahl von Berufsgruppen. Bis vor kurzem waren die Tätigkeiten der Arbeitnehmer mit Befriedigung, Selbstverwirklichung und infolgedessen auch mit der Sublimierung verbunden. Dies gilt heute z.B. für diejenigen Berufstätigen nicht mehr, deren theoretische Kenntnisse und praktischen Erfahrungen in komplexe Computerisierungs- und/oder Automatisierungsprozesse integriert worden sind. Diese Art der Dequalifizierung stellt ein Problem dar und gibt Anlaß zur Sorge, und zwar sowohl in den hochentwickelten Ländern der sogenannten Ersten Welt, als auch in den Entwicklungsländern. Die von der technologischen Entwicklung hervorgerufene Arbeitslosigkeit bildet ein ernstes Problem, das psychosoziale und psychopathologische Auswirkungen auf die Betroffenen hat. In einer Studie über Bankangestellte konnten wir z.B. feststellen, daß die früheren Buchhalter durch die Einführung von Computersystemen einen enormen Statusverlust hinnehmen mußten, da die neuen Programme die Daten, die früher nur ihrem spezialisierten Fachwissen zugänglich waren, nun auf einfachere Weise zur Verfügung stellen. Ähnlich gelagert war der Fall zahlreicher Angestellter, die früher mittlere Leitungsgaufgaben erfüllt hatten. Die Dequalifizierung der Arbeitnehmer hat nicht nur wegen der Einführung komplexer Technologien zugenommen. Dieser Prozeß ist seit der Verbreitung der tayloristischen Produktionsmethoden wirksam und hat Millionen von Arbeitnehmern betroffen. Im Zentrum dieser Methoden steht die Fragmentierung des Produktionsprozesses, die Festlegung rigider Vorschriften und Kontrollen, die dem Arbeitnehmer die Ausübung seiner kreativen Denkfähigkeit und der Möglichkeit der freien körperlichen Bewegung berauben. Um die Leistungsfähigkeit der unqualifizierten Arbeitnehmer zu maximieren, nutzen die Vorgesetzten oft die latenten Unsicherheitsgefühle ihrer Untergebenen, die aus der Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes entstehen. Bei den Betroffenen führt dies zu einer zunehmenden emotionalen Anspannung und zu einer Reihe von Symptomen und psychosozialen Störungen, die mit der chronischen Ermüdung zusammenhängen. Während einer Untersuchung über Industriearbeiter haben wird feststellen können, daß die Erschöpfung manch-

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mal derartige Ausmaße annehmen kann, daß viele von ihnen nicht mehr dazu in der Lage sind, an Versammlungen und Aktionen teilzunehmen, die Gewerkschaften oder die Gemeinde organisiert hatten, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu erkämpfen. Die Verkettung und die Interaktion von psycho-physiologischen Phänomenen (z.B. die Ermüdung), ökonomischen Phänomenen (niedrige Löhne und die Situation auf dem Arbeitsmarkt) und psychosozialen Phänomenen (die Einschränkung des Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Partizipation) rufen die Erschöpfung hervor und können eine passive Haltung fördern. Wir haben diese Situation oft bei Industriearbeitern mit niedrigem Qualifikationsniveau beobachten können. Eine der befragten Ehefrauen hat sie sehr treffend beschrieben: »Früher hat sich mein Mann viel unterhalten, er ist auch gerne mit der Familie ausgegangen und hat an Veranstaltungen im Ort teilgenommen. Heute will er sich außerhalb der Arbeitszeit nur noch ausruhen, schlafen oder fernsehen. Er unterhält sich nicht mal mehr gerne mit der Familie!« In Brasilien gibt es ebenso wie in anderen Ländern Tätigkeiten, die aufgrund ihrer Eigenschaften und Inhalte diskriminiert und disqualifziert werden. Dies gilt normalerweise für Arbeiten, die mit Abfall zu tun haben, mit Kadavern oder für andere Tätigkeiten, die von der Gesellschaft abgelehnt werden. Diese Art der Entwertung wird oft von den Arbeitnehmern selbst verinnerlicht. Sie neigen dazu, sich selbst zu entwerten und sich sogar mit den »schmutzigen«, »abstoßenden« oder »toten« Inhalten ihrer Arbeit zu identifizieren. In psychosozialen Begriffen kann dies negative Auswirkungen wie z.B. Alkoholismus haben, der an vielen Arbeitsplätzen zur kollektiven Krankheit geworden ist. Die psychiatrische und psychologische Praxis hat erwiesen, daß die Erfahrung der Selbstentwertung und der gesellschaftlichen Ablehnung das Auftreten von Depressionen begünstigt. Obwohl die Phänomenologie der Entfremdung sehr komplex ist, haben uns die Fallstudien erlaubt, Bezüge zur unqualifizierten Arbeit herzustellen. Bei einigen unserer Untersuchungspersonen waren Verteidigungsmechanismen gegen Depressionen zu verzeichnen, die zu einem anderen Zeitpunkt aufgetreten waren; bei anderen hatte der Ausbruch der Psychose zum Bruch mit einer Situation geführt, die von einem entfremdeten Konformismus geprägt war. Dies war bei einem Schweißer aus der chemischen Industrie der Fall, einem Mann, der sich nie über seine Arbeitsbedingungen beschwert hatte und der nach achtzehn Arbeitsjahren das Gehör und die Sehkraft partiell verloren hatte. Lange Zeit hindurch litt er an einer besonderen Form der Schlaflosigkeit: Wenn er versuchte, einzuschlafen, »fühlte« er, wie sein Körper fortfuhr, weiter zu arbeiten:

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»... und wenn ich gerade dabei war, einzuschlafen, bemerkte ich, daß ich schon wieder angefangen hatte, zu arbeiten! Ich wollte das loswerden, nicht mehr daran denken, einfach nicht mehr arbeiten, aber ich habe es nicht geschafft!« Nach Wochen, in denen sich die Schlaflosigkeit verschlimmert hatte, kam es zu einer plötzlichen psychotischen Krise am Arbeitsplatz, in der er sich zutiefst bedroht fühlte und seinem Vorgesetzten gegenüber gewalttätig wurde. Insgesamt konnten wir eine bedeutende emotionale Anspannung unter den Industriearbeitern feststellen, und zwar aufgrund der Angst vor Arbeitslosigkeit oder vor Gefahren wie Arbeitsunfällen, Vergiftungen und Krankheiten, die sie z.T. bei ihren Arbeitskollegen miterlebt hatten. Mehrere der Arbeiter sagten, sie seien »verbittert und böse««, weil sie sich wie »Tiere« behandelt fühlten und nicht mit der Achtung, die einem Menschen gebührt. Die fehlende Berücksichtigung ihrer Grundbedürfnisse wie essen, sich ausruhen und sogar das Stillen des starken Durstes, der durch die hohen Temperaturen an ihrem Arbeitsplatz entstand, führte dazu, daß sie sich in ihrer Würde tief verletzt fühlten. Dennoch wurde der Geist der Rebellion fast vollständig durch die Angst vor Sanktionen oder der Arbeitslosigkeit gelähmt. Wir konnten bei unserer Forschungsarbeit beobachten, daß die sozialen und psychologischen Probleme, die eine unqualifizierte Arbeitssituation mit sich bringt, sowohl bei »Hilfsarbeitern« in der Industrie ohne offiziell anerkannte Berufsausbildung auftreten als auch bei Frauen, die in der elektronischen Dateneingabe arbeiten, übrigens die einzige ausschließlich aus Frauen bestehende Gruppe, die wir untersuchen konnten. So waren diese Arbeitnehmerinnen einer sehr strengen Disziplin unterworfen, die ihre Bewegungsfreiheit und die Kontaktaufnahme untereinander während der Arbeitszeit stark einschränkte. Dies wurde durch erschöpfend lange Arbeitstage ohne angemessene Pausen verstärkt. Andererseits wurden ihnen sehr hohe Arbeitsleistungen abverlangt; in einigen Betrieben wurde die Zahl der Tastenanschläge pro Stunde konstant erhöht. Muskelschmerzen und die Ermüdung der Sehkraft traten sehr häufig auf. Das Gefühl, verfolgt zu werden, das einige von ihnen erwähnten, hatte seinen Grund darin, daß in die Apparate Kontrollmechanismen eingebaut waren, die sich für die Betroffenen in eine Art »unsichtbares Auge« verwandelt hatten, das ständig auf der Lauer lag. Eine Arbeiterin beschrieb diese Situation sehr zutreffend mit den Worten: »Die Leute wissen, daß sie die ganze Zeit bei allem beobachtet werden, obwohl die Vorgesetzten nicht da sind! Das heißt, daß ich, auch wenn ich sehr müde bin, nicht aufhören kann zu arbeiten, um mich ein bißchen auszuruhen, weil mich die Maschine verraten würde.«

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Die Dimension und das Ausmaß der psychischen Probleme, die aus der nicht anerkannten Arbeit entstehen, können besser mit dem Begriff der Identität im Prozeß erklärt werden. Dieser Begriff geht davon aus, daß die Identität als dynamischer Prozeß aufgefaßt werden muß, auf den die Arbeitsbedingungen einwirken. Verschiedene Befragte berichteten davon, daß sie Veränderungen an sich selbst wahrgenommen hätten: »Seitdem ich hier arbeite, fühle ich, daß ich nicht mehr dieselbe Person bin«; »ich bin nicht mehr so wie früher, ich mag mich nicht mehr unterhalten oder das tun, was ich früher gerne tat, ich fühle, daß ich mich verändert habe, daß ich ein anderer Mensch bin«. Die Ehefrauen einiger Befragter drückten sich so aus: »Er ist nicht mehr so wie früher«; »das ist nicht mehr der lebensfrohe Mann, den ich geheiratet habe, das ist ein anderer Mann!«; »er ist so kalt geworden«. In diesem Veränderungsprozeß, der die Identität und die soziale Kompetenz beeinträchtigen kann, verbindet sich das Fehlen einer Qualifikation - bzw. ihre Nichtanerkennung - mit anderen Faktoren, die die Erschöpfung hervorrufen. Einer dieser Faktoren ist die Wechselschichtarbeit, die sowohl den Rhythmus des Körpers beeinträchtigt, als auch das soziale Leben der Arbeitnehmer. Dies haben wir beispielsweise an Metall- und Chemiearbeitern beobachten können. Die Grenzen dieses Essay zwingen dazu, uns nur auf einige der vielfältigen Variablen aus der Umwelt und der Arbeitsorganisation zu konzentrieren, die bei der Produktion der psychischen Abnutzung interagieren und konvergieren. Im folgenden werden wir einen anderen Aspekt des Problems vorstellen und versuchen, die Ausdrucksformen dieser Einflußfaktoren unter einem folgendem Gesichtspunkt zu erfassen: dem der »psychischen Inszenierungen«, den wir in den Untersuchungen identifizieren konnten.

4. Psychische Inszenierung der Arbeit und des Leidens Bei der Untersuchung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern sind brasilianische Sozialwissenschaftler auf psychische Inszenierungen gestoßen, die ihre Alltagssituation sehr gut wiederspiegeln. Cändido Pereira hat in seiner Untersuchung über Textilarbeiter folgenden Kommentar über einen Arbeiter aufgeschrieben: »... die Fabrik ist ein wartendes Maul. Der Typ geht da rein, mit dem bißchen Energie, das er während des Schlafs in der Nacht wieder aufgebaut hat.... Dann saugt ihm die Fabrik das Blut aus und er geht ganz zerschlagen wieder raus.«

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Diese Worte lassen an ein Ungeheuer denken, so etwas wie ein Vampir oder ein böses und grausamen Wesen, das wie ein schrecklicher Blutegel dazu fähig ist, Blut und Energie des Arbeiters auszusaugen. In den Interviews, das Minayo mit Bergarbeitern aus Eisenerzminen durchgeführt hat, taucht das Bild des Betriebs als Ungeheuer ebenfalls auf. Diese Vorstellung scheint in verschiedenen soziokulturellen Umgebungen zu entstehen. Dejours hat in Frankreich folgende Äußerungen eines Arbeiters aufgenommen: »Die Fabrik ist wie ein großes Tier, das man mehr recht als schlecht zum Laufen bringt, ohne zu wissen, was im Innern seines Bauches geschieht, und das in jedem Moment wütend werden und alles zerstören kann.« (S. 68).

Nicht selten nimmt dieses Ungeheuer die Gestalt des Bösen selbst an. Einer der Befragten von Leite Lopes erwähnte es, als er seinen ersten Eindruck von der Zuckerfabrik schilderte, in der er später gearbeitet hat: »... es sah aus, als ob der Teufel an diesem Ort arbeiten würde. Es gab einfach zuviel Dampf.« In der Fabrik gab es etwas Ungeheuerliches und Geheimnisvolles: »... man konnte nicht sehen, wer da drin war, wer den Zucker in die Turbine lud.« Der Ort, an dem der Teufel wohnt, ist die Hölle. Die Vorstellung der Hölle taucht unter den Beschreibungen, die die Metallarbeiter von ihrem Arbeitsplatz geben, am häufigsten auf. Einer dieser Arbeiter war krankgeschrieben worden, weil er einen manischen Ausbruch erlitten hatte, in dem er glaubte, sich in einer Hölle voller Teufel zu befinden, aus der er nicht entrinnen konnte. Er berichtete, daß er bei der Rückkehr an die Arbeitsstelle in einen anderen Bereich des Unternehmens versetzt worden war, und daß er bei einem Besuch an seinem alten Arbeitsplatz folgendes Erlebnis gehabt hatte: »Als ich reinkam, Monate nachdem ich dort gearbeitet hatte, und diese Hitze spürte und sah, wie den Männern der Schweiß runterlief und dieses Feuer, da konnte ich nur denken: Das hier ist doch die Hölle!« In diesem Fall hat uns der Arbeiter neben dem Vergleich zwischen der Hölle und seinem alten Arbeitsplatz Elemente zur Verfügung gestellt, die die Bedeutung der psychologischen Verdrängungsmechanismen für Situationen bestätigt, in denen sie - sei es auf individueller oder kollektiver Ebene - auftreten, um außerordentlich aggressive Arbeitsbedingungen ertragen zu helfen, wie sie Dejours untersucht hat.

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Die verletzte Würde In vielen Gesprächen mit Arbeitnehmern wurde von ihnen die Erfahrung eines schmerzhaften Angriffs auf ihre Würde erwähnt. Dies äußerte sich in verschiedenen Inszenierungen, unter denen wir jene hervorheben wollen, in denen sich die Arbeitnehmer als Sklaven fühlten oder wie Tiere behandelt wurden. Das Bild des Sklaven hängt sowohl mit der Vorstellung des Freiheitsverlustes zusammen, als auch mit der der Überarbeitung. Mit den Worten eines Hilfsarbeiters aus der Industrie: »Dort ist man wirklich ein Sklave - man hat nichts zu sagen und muß alles schweigend ertragen, obwohl man todmüde ist!« Wie ein Tier behandelt zu werden ist einer der Ausdrücke, die die sogenannten »Hilfsarbeiter« am häufigsten gebrauchen; dies hängt mit dem empfundenen Mangel an beruflicher Qualifikation zusammen. Dieser Ausdruck trat jedoch auch unter qualifizierten Arbeitnehmern auf, im allgemeinen in Berichten über Konflikte mit autoritären Vorgesetzten und die am intensivsten als Verletzung der eigenen Würde aufgefaßt wurden. In zwei Fällen hat das Gefühl, als Tier behandelt zu werden bei zwei alkoholkranken Arbeitnehmern eine wichtige Rolle für die Dynamik ihrer psychosozialen Erkrankung gehabt. Dabei erfüllte das Trinken mehrere Funktionen: Einerseits die Introjektion der erniedrigenden Behandlung, da die Figur des Trinkers als solche bereits eine kulturell disqualifizierte Gestalt darstellt. Andererseits bildet das Trinken eine Form des Angriffs auf sich selbst und auf die Welt, d.h. eine unspezifische Aggression, die aus der Erfahrung der Hilflosigkeit angesichts der eigenen Unterdrückung entsteht. Das Qualifikationsdefizit, das einige Bankangestellten erfahren hatten, rief bei ihnen das Bild eines »dressierten Affen« hervor. Dies Bild ist oft in den Befragungen aufgetaucht, so z.B. bei N., Angestellter in der Kompensationsabteilung einer staatlichen Bank: »... es ist eine dermaßen langweilige Arbeit, daß sie nichts von einem fordert... Die Arbeit interessiert mich überhaupt nicht. Es wäre besser, wenn sie einem Affen beigebracht würde; der würde sie viel besser machen.« Von den Industriearbeitern wurde am häufigsten das Bild eines Lastesels erwähnt. Der Esel erschien aufgrund seiner Unterwürfigkeit und Widerstandskraft in einigen Interviews als zwar ausgebeutete Gestalt, die aber auch positive Eigenschaften besitzt. Segnini berichtet, daß interessanterweise das große Unternehmen BRADESCO den Typus des Esels als Vorbild für seine Angestellten verwendet.

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Gefängnis und Gefangenschaft Das Bild des Gefängnisses erscheint häufig in verschiedenen Aussagen über den Arbeitsplatz. Zahlreiche Befragte, aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen, verwenden dieselbe Darstellungsforrn. So verstärkte z.B. das Vorhandensein von Gittern am Arbeitsplatz von weiblichen Bankangestellten den Eindruck, »sich in einem Gefängnis zu befinden«. Eine junge Kassiererin äußerte, daß die Enge ihres Arbeitsplatzes ihre Körperbewegungen einschränke und ihr das Gefühl vermittele, »in einem Käfig zu leben«. Einige Industriearbeiter wurden von den baulichen Merkmalen der Fabrikgebäude - hohe dicke Mauern ohne Fenster - an Gefängnisse erinnert. Das Gefühl der Gefangenschaft bezog sich jedoch nicht nur auf die äußeren Merkmale des Arbeitsplatzes, sondern viel häufiger auf die oft kontinuierliche Kontrolle, als deren Objekt sich die Arbeitnehmer empfanden. Sowohl Industriearbeiter als auch Angestellte von Banken und der Untergrundbahn äußerten uns gegenüber, sich als Gefangene der streng und detailliert vorgeschriebenen Arbeitsverfahren zu fühlen, von strengen Regeln und Einschränkungen eingezwängt, die ihnen die Hierarchie auferlegte. Häufig beschrieben viele Befragte jene Regeln und Kontrollen an ihrem Arbeitsplatz, die die freie interpersonelle Kommunikation behinderten. Sie verabscheuten diese Behinderungen und betrachteten sie als Beeinträchtigung ihrer freien Entfaltung. Viele Zugführer der Untergrundbahn hatten das Gefühl, gleichzeitig in mehreren Gefängnissen zu leben: im Zugführerabteil, in der monotonen Routine entstanden aus dem Mangel an Entwicklungsperspektiven bei jenen, die schon lange dieselben Aufgaben verrichteten - und in der Unmöglichkeit, Kritik äußern zu können, um die Aufstiegschancen nicht zu gefährden. Gleichzeitig hatten sie das Gefühl einer weiteren Einschränkung: die Tatsache, sich Tag für Tag auf dieselbe festgelegte Strecke beschränken zu müssen, entweder auf der Nord-Süd- oder auf der Ost-West-Achse. Der Eindruck, der Gefangene derselben Räume zu sein (Abteil, Streckenlinie, Untergrundbahn) verband sich mit dem Eindruck ein Gefangener bestimmter Zeitabläufe zu sein, unter denen der Rhythmus der Wechselschicht als der Schlimmste empfunden wurde. Die Selbstkontrolle, die im Rahmen der Verinnerlichung der Herrschaft aufgerichtet wurde, um die Regeln und die Disziplin einzuhalten, ergänzt diese Erfahrung der Beherrschung. Selbstverständlich trug die Gegenwart von firmeneigenen Wachdiensten zur Verstärkung des Eindrucks eines Gefängnisses bei, insbesondere bei Firmen, in denen sich die Betriebspolizei gewalttätig und einschüchternd verhielt. Bei einigen Befragungen war es möglich, eine Gruppe von Inszenierungen zu erkennen, in denen die Vorstellung der »Nervosität« mit körperlichen oder seelischen Einschränkungen am Arbeitsplatz verbunden waren. Hier verbindet

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sich die Erfahrung des Freiheitsverlustes mit der der »Nervosität«. In diesen Interviews wurde die Vorstellung geäußert, daß die Einschränkung des Körpers und seiner Bewegungsfreiheit zu Irritationen der Nerven und/oder des Kopfes führen können. Viele Befragte verbanden die Zunahme der Arbeitsquantität, die Anhäufung von Funktionen und die Intensivierung des Arbeitsrhythmus mit der Erfahrung des Erstickens, der Beklommenheit und des Zermalmtwerdens. Bei der Befragung von Angestellten der Untergrundbahn, aus Berufen der Verfahrenskontrolle und der Datenverarbeitung in computerisierten Büros tauchte die Vorstellung des Eingesperrtseins gemeinsam mit der Beschwerde darüber auf, daß der Kontakt mit der Natur vermißt werde. Einige der Befragten setzen diese Entfernung von der Natur mit der Vorstellung von der Entfernung vom eigenen Leben in Verbindung, und zwar vor allem in Situationen, in denen das Selbstbild des Arbeitnehmers seine humanen Bestandteile bereits verloren hat, wie wir später zeigen werden. Wie die Arbeitnehmer die Entstehung der psychischen Erschöpfung empfinden Die Industriearbeiter haben zum Ausdruck gebracht, wie die Auswirkungen der arbeitsbedingten Erschöpfung spürbar werden. Die Zeichen einer allgemeinen Ermüdung des Komplexes von Körper und Psyche wurde häufig mit Ausdrücken wie »allgemeine Erschöpfung« oder »das Gefühl, das die Gesundheit langsam auf ihr Ende zugeht« erwähnt. Wenn die Befragten über die Müdigkeit sprachen, erwähnten sie körperliche und seelische Empfindungen und setzten sie allgemein mit den Umweltbedingungen in Verbindung, mit dem Zeitdruck und den Vorgesetzten und außerdem mit ihrem »inneren Arbeitsbedürfnis«. Die Vorstellung einer graduellen Korrosion des Organismus oder des Arbeitnehmers als Person ist in verschiedenen Interviews aufgetaucht. In anderen Gesprächen wurde geäußert, vom Unternehmer und den ihn vertretenden Vorgesetzten »enteignet« zu werden; so z.B. im Fall eines ehemaligen Metallarbeiters, der zweiundzwanzig Jahre in einem Betrieb gearbeitet hatte: »... sie nehmen einem die Gesundheit, die Jugend, was weiß ich, zuerst die Jugend, dann die Gesundheit, jedenfalls die Geduld und sogar die Ideen, alles nehmen sie einem weg.« Dieselbe Inszenierung wurde von einem pensionierten Arbeiter benutzt, einem ehemaligen Maurer aus der Metallindustrie, als er sich daran erinnerte, wie die Schichtarbeit sein Leben beeinflußt hatte: »Das hat einem das Leben verkürzt...«

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Die Wahrnehmung der Abnutzung wird im allgemeinen von Leiden begleitet. Es existieren jedoch verschiedene Wahrnehmungsformen, die sich aus der persönlichen Geschichte ergeben sowie aus der Persönlichkeit und der gegenwärtigen Situation des Individuums. Bei einigen herrscht das Gefühl des Verlustes und die Traurigkeit vor; bei anderen das Gefühl der Widerspenstigkeit. Dieses kann eventuell auf verändernde politische Aktionen gerichtet werden; wir haben jedoch häufig ein Gefühl der Machtlosigkeit festgestellt, das sowohl mit dem Gefühl der Widerspenstigkeit als auch mit dem des Verlustes auftritt. Das Gefühl der Machtlosigkeit trat oft auf, weil der Arbeiter den Eindruck hatte, nichts gegen die fortschreitende Ermüdung unternehmen zu können. Bei vielen Industriearbeitern war das Gefühl der Machtlosigkeit häufig mit der Angst verbunden, die notwendige körperliche und seelische Energie nicht erhalten zu können, um den Arbeitsplatz so lange zu halten, bis der volle Rentensatz erreicht war. Diese Angst bildet eine wichtige Form des psychischen Leidens, da sie in einer Umgebung auftritt, in der die legitimen sozialen Rechte der kranken Arbeitnehmer und der Arbeitslosen in der Praxis nur ungenügend vom bestehenden Sozialversicherungssystem anerkannt werden. Die dargestellten psychischen Leiden sind unter den ungelernten Arbeitern noch intensiver, da sie nicht erwarten können, mit Leichtigkeit andere Arbeitsplätze zu finden. Unter den Bedingungen der Rezession und zu einem Zeitpunkt, in dem die Einführung von computerisierten und/oder automatisierten Systemen Fortschritte macht, ist es logisch, daß die Hoffnungslosigkeit und Angst der dieser Arbeiter zunehmen, die oft nicht einmal die Grundschule beendet haben. Die Angst, daß die Erschöpfung sie daran hindern könnte, weiterhin zu arbeiten, aktiviert im allgemeinen psychische Verdrängungsmechanismen. Diese Mechanismen werden zu einem Bestandteil der die Entfremdung fördernden Dynamik. Um zu verhindern, daß die Wahrnehmung der Ermüdung unerträglich wird, greifen die Arbeitnehmer außer auf psychologische Verteidigungsmechanismen auf andere Hilfsmittel zurück, z.B. religiöser Art. In einer anderen Studie haben wir Gelegenheit gehabt, die Rolle der religiösen Sekten zu untersuchen, die in der Stadt Cubatao verbreitet sind, und zwar hinsichtlich ihrer Funktionen der Stabilisierung des Gefühlslebens und des gesellschaftlichen Konformismus. Ermüdung und Veränderung Die eigene Erfahrung der Automatisierung oder der Mechanisierung tauchte in vielen Berichten unserer Befragten auf, und wurde als wichtiges und sehr intensives Phänomen geschildert.

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Einige Dateneingeberinnen berichteten über diese Erfahrung in einem verzweifelten Ton, wie z.B. zwei Frauen, die in einer Privatbank arbeiten: »Man wird zur Maschine! Eine Maschine, die an einer anderen Maschine arbeitet!« und »Man hört sogar auf zu denken, man wird zu einem DING, zu einer Maschine!« Zugführer der Untergrundbahn äußerten sich ähnlich und gaben an, daß sie sich oft mit den technischen Apparaten identifiziert fühlten, da sie vom Betrieb wie anpassungsfähige und kontrollierbare Apparaturen behandelt wurden, die dazu ausersehen waren, auf effiziente Weise ihr Bestes zu geben. Wir konnten beobachten, daß diese Zugführer zwar ihren Abscheu und ihre Widerspenstigkeit äußerten, gleichzeitig aber von der Beklemmung geprägt waren, die die Automation bei ihnen selbst hervorgerufen hatte, als ob sie ihre eigene Angst bestätigen würden, sich in Instrumente des Betriebes zu verwandeln. Das Gefühl der Machtlosigkeit, das hervorrufen kann, wurde in mehreren Interviews deutlich. Es wurde die Fantasie einer sehr starken und geheimnisvollen Macht geäußert, der die Menschen nicht widerstehen können. Diese Macht wurde innerhalb des automatisierten Systems der Untergrundbahn verortet. Dieses System kann mit Hilfe elektronischer Instrumente die Bewegung und die Haltepunkte einer Reihe von Zügen festlegen, also wird ihr die Fähigkeit unterstellt, mit der Zeit die Männer in Maschinen zu verwandeln. Anstelle des Ungeheuers oder des Teufels, der in der Metall- oder Zuckerindustrie empfunden wird, existiert hier ein komplexerer »Feind«, der anstatt die Menschen einfach anzugreifen oder sich ihrer zu bemächtigen, über eine viel größere Macht und perverse Verfeinerungen verfügt, nämlich, die Menschen in Roboter zu verwandeln. Inszenierung der Konfrontation Die Arbeitnehmer verspüren das Bedürfnis, der psychischen Erschöpfung entgegenzutreten. Mit wem oder was sollen sie sich aber hier konfrontieren? Einige verstehen, daß es notwendig ist, sich mit all demjenigen zu konfrontieren, was die Erschöpfung hervorruft; andere identifizieren die Erschöpfung oder die Symptome, die sie selbst aufweisen, als »Angriffspunkte«, die bekämpft oder beherrscht werden müssen. Folgende Beispiele illustrieren Situationen, in denen der Kampf als Inszenierung auftaucht. Ein Zugführer sagte bei der Beschreibung der »robotisierenden« Aspekte seiner Arbeit: »Wir werden kämpfen, damit das aufhört, weil ich nicht weiter Apparate ersetzen will und weil ich nicht als junger Mensch mit dem Aussehen eines Alten sterben will.«

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Er spricht von einem kollektiven Kampf: »Wir werden kämpfen ...« Ein Industriearbeiter äußerte uns gegenüber: »In diesem Kampf wirft mich die Müdigkeit manchmal um. Ich weiß, daß ich diesen Krieg führen muß, um die Müdigkeit zu besiegen.« In diesem Fall nimmt sich der Arbeiter einen individuellen Krieg gegen seine eigene Ermüdung vor.

5. Pathogenese der psychosozialen Schäden nach Sektor und Arbeitstätigkeit Vor dem Hintergrund all dieser durchgeführten Untersuchungen können wir feststellen, daß die Arbeitsorganisation eine wichtigere Rolle für die Bestimmung der Schäden der psychosozialen Gesundheit spielt, als der Typus der verwendeten Technologie. Es bestehen jedoch wichtige Unterschiede darin, wie es dazu kommt. Die gesellschaftlichen Arbeitsbeziehungen sind mit Organisation verbunden (Kontrolle und Arbeitsteilung) und rufen störende Dynamiken hervor. Die Arbeitnehmer, die unregelmäßigen und instabilen Arbeitsbeziehungen, d.h. dem ständigen Ersetzungsprozeß der Arbeitskräfte ausgesetzt sind, sind anfälliger für die Ausbeutung. Es kann also gesagt werden, daß je prekärer die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist, desto höher ist auch das Niveau der Verunsicherung. Dies verschärft sich noch in Zeiten, in denen die Arbeitsmarktsituation schlecht ist und/oder wenn die Rechte der Arbeitnehmer weder sozialpolitisch noch juristisch abgesichert sind. Das Leiden intensiviert sich in Situationen, in denen der Arbeitnehmer empfindet, daß seine Würde kontinuierlich mißachtet wird. Dies geschah jenen Befragten, die von ihren unmittelbaren Vorgesetzten beleidigt worden waren. In einigen Fällen konnten wir feststellen, daß Beleidigungen und das Herbeiführen von Wutausbrüchen regelrechte »Techniken« bildeten, eine rationale Methode der Vorgesetzten, um die Geschwindigkeit und die Energie der Untergebenen in der Produktion zu erhöhen, da diese ihre Wut in die Produktion kanalisierten. In der computerisierten Arbeit in Banken und der automatisierten Arbeit in der Untergrundbahn treten Aspekte auf, die verbunden sind mit Überdruß, fehlender Motivation und der Erfahrung des Eingesperrtseins in Systeme, in denen die Mittel der Ausbeutung, Kontrolle und der Auslöschung der Individualität scheinbar die Züge einer raffinierten und subtilen Perversität annehmen. Bei den durchgeführten Untersuchungen haben wir auch spezifische Unterschiede bei der Herausbildung von Phänomenen wie die der Abstumpfung des Gefühlslebens und der Heranbildung von Entfremdung festgestellt. Diese Phäno-

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mene setzen die individuelle und die kollektive Dimension der untersuchten psychosozialen Prozesse miteinander in Verbindung. Im Fall der unqualifizierten Arbeitnehmer wird die Entfremdung durch die physische und psychische Erschöpfung hervorgerufen, die zu einer manchmal verzweifelten Suche nach Ruhe und Schlaf in der Abgeschiedenheit führt. Abgesehen von wenigen Ausnahmen haben die untersuchten ausgebildeten Industriearbeiter nicht in automatisierten Bereichen gearbeitet; aus diesem Grund ist die Monotonie bei ihnen noch nicht als Problem aufgetaucht. Bei ihnen wurde die Erschöpfung im Gegensatz dazu durch die Zunahme an Anforderungen hervorgerufen, die in den vielfältigen Aufgabenbereichen an sie gerichtet wurden. Bei ausgebildeten Arbeitnehmern in anderen Bereichen bestand jedoch eine folgende Situation: Diejenigen, die am Computer arbeiteten (z.B. Dateneingeberinnen) wurden von dem Gefühl einer psychischen Erschöpfung beherrscht, weil die Tatsache, daß sie sich ständig stark konzentrieren mußten, ihnen nicht erlaubte, eigenen Gedanken, Wünschen und Phantasien nachzugehen. Außerhalb der Arbeit wiederum erschwerte ihnen die Erschöpfung, sich mit der familiären und sozialen Umgebung wieder in Verbindung zu setzen. Die Schwierigkeiten der Dateneingeberinnen, Texte zu lesen und zu verstehen, bildete eine der Ursachen für die Mutlosigkeit, die einige junge Frauen spürten, die versuchten, ihre Schulausbildung fortzusetzen. Bei den Angestellten im Bankenbereich wurde bewiesen, daß die strengen Verfahren und Normen, die die Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit verhindern und die Kreativität beschneiden, eine wichtige Rolle bei der Entstehung obsessiver Symptome spielen. Diese Situationen weisen große Ähnlichkeit mit der Situation der Zugführer der Untergrundbahn auf. Die Analyse all dieser Untersuchungen erlaubt uns die Schlußfolgerung, daß die Entfremdung der Arbeitnehmer durch das Zusammentreffen von Arbeitsmonotonie und Machtlosigkeit gegenüber der Arbeitsorganisation (u.a. Arbeitsteilung, Rhythmen, Zeitpläne, Dauer und Qualität der Pausen) hervorgerufen wird. Dies tritt in stärkerer Form bei Tätigkeiten auf, bei denen technologische Modernisierung durchgeführt worden ist, ohne die Arbeit entsprechend den Merkmalen und psychokulturellen Bedürfnissen der Arbeitnehmer zu organisieren. Im Falle der sogenannten unqualifizierten Arbeit liegen die Ursachen der Entfremdung in der Intensität der psychophysischen Erschöpfung, die sowohl auf die Überlastung als auch auf die Anstrengung zurückgeht, die Mischung verschiedener Ängste zu unterdrücken (u.a. Angst vor Arbeitslosigkeit, vor körperlichem Unvermögen). Die Untersuchungen haben ermöglicht, eng an das Arbeitsleben gekoppelte psychopathogene Phänomene zu verstehen. So konnten Störungen wie das Syndrom der chronischen Ermüdung untersucht werden, der Alkoholismus,

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reaktive depressive Krankheitsbilder und verschiedene andere psychosomatischer Art. Außerdem konnte die Bedeutung der Arbeitssituation für die Entstehung dieser Erkrankungen untersucht werden. So sind wir auf Fälle gestoßen, bei denen die Arbeitsbedingungen zu einem akuten psychotischen Ausbruch geführt hatten. Bei drei Industriearbeitern, die in Wechselschichten arbeiteten und oft lange Überstunden machen mußten, war es zu konvulsiven Krisen gekommen. Einer dieser Arbeiter berichtete: »Es war am frühen Morgen, am Ende einer Doppelschicht, daß ich die erste Attacke (einer konvulsiven Krise, E. S.-S.) hatte. Seit zwei Wochen hatte ich mich nicht ausruhen können und hatte immer mehr als zwölf Stunden pro Tag gearbeitet, und zwar in dem Monat, in dem die Firma enorme Bestellungen erfüllen mußte...« Eine Doppelschicht hat eine Dauer von sechzehn Stunden. Die entfremdende Arbeit betrifft nicht nur die intrapsychische Welt und den Körper des Arbeitnehmers, sondern ruft auch Ermüdung, Irritierbarkeit und eine Anspannung im Alltag beim Lohnabhängigen hervor. Diese lassen auch das Familienleben nicht unberührt und können negative Auswirkungen auf die Beziehungen und die Lebensqualität der gesamten Familie haben.

6. Widerstand gegen die Herrschaft und die mentale Ermüdung Ebenfalls haben uns die durchgeführten Forschungsarbeiten Gelegenheit dazu gegeben, einige individuelle und kollektive Abwehrformen gegen die Ausbeutung und das Leiden zu untersuchen. Dabei hatte die spontane Solidarität der Arbeitnehmer verschiedene Ausdrucksformen, wie z.B. die der alltäglichen Konfrontation mit dem Produktionsdruck und den gefährlichen Situationen, ohne daß eine vorherige politische Bewußtseinsbildung über diese Aspekte ihrer Arbeitssituation notwendig gewesen wäre. Die Schaffung von Gesundheitsabteilungen bei einigen Gewerkschaften und die Abnahme der politischen Repression haben Diskussionsveranstaltungen und die Bildung von sozialen Bewegungen ermöglicht. Aufgrund dieser neuen Erfahrungen haben Arbeitnehmer verschiedener Bereiche begonnen, die Beziehungen zwischen psychosozialer Gesundheit, den Einflußfaktoren der Umwelt und schädlichen Organisationsformen der Arbeit zu verstehen. Der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer durch spezifische Organisationen und durch ihre eigene Partizipation hat sich in den verschiedenen Regionen und Sektoren der Arbeitswelt nicht gleichmäßig entwickelt. Diese Unterschiede hängen mit der heterogenen sozialen und politischen Entwicklung des Landes

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zusammen. Das niedrige Schulbildungsniveau der Lohnabhängigen im allgemeinen und die geringfügige Verbreitung von Informationen über seelische und psychosoziale Risiken der Arbeit tragen zur Verdunkelung des Themas bei und erschweren eine schnelle und breitangelegte Durchführung effizienter Verbesserungen. Anfang der achtziger Jahre wurde in Sao Paulo die Gemeinsame Abteilung der Gewerkschaften für die Untersuchung und Erforschung der Gesundheit und der Umweltbedingungen der Arbeit gegründet (Departamento Intersindical de Estudios e Investigación de Salud y de los Ambientes de Trabajo - DIESAT). Ausgehend von der gemeinsamen Arbeit von Gewerkschaftsvertretern und Fachleuten aus dem Gesundheitsbereich und dem Arbeitsschutz, hat DIESAT die öffentliche Diskussion von arbeitsbedingten Gesundheitsschäden gefördert, Informationen über Gesundheit verbreitet und Forschungsvorhaben über diese Themen unterstützt. In der letzten Zeit haben die Gewerkschaften damit begonnen, gezielte Aktionen für die Abschaffung gesundheitsschädigender Arbeitsbedingungen durchzuführen. Die Argumente für die gesetzliche Einführung des Sechs-Stunden-Tages für Wechselschichtarbeiter im Interesse ihrer psychischen Gesundheit haben an Einfluß gewonnen. Der Gesetzesartikel wurde in die neue Verfassung (1988) aufgenommen; gegenwärtig werden verschiedene Aktionen durchgeführt, damit der Artikel auch erfüllt wird. Es muß jedoch betont werden, daß sich die gesellschaftliche Wahrnehmung der Beziehung zwischen Arbeit und psychosozialer Gesundheit in Brasilien noch in einer Anfangsphase befindet. Sie werden jedoch in einem steigendem Maße in die gewerkschaftlichen und gesetzgebenden Aktivitäten eingebunden, wodurch die in diesem Aufsatz beschriebenen Probleme einen kulturell und gesellschaftlich authentischen Charakter erhalten. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, daß wir vor einer großen Herausforderung stehen: Vor der Notwendigkeit, in Lateinamerika weiterhin Forschungsvorhaben durchzuführen, die die Vielfalt der gesellschaftlichen Produktionsprozesse psychischer Erschöpfung im Rahmen entfremdungsfördernder Arbeitsbeziehungen besser verstehen und verändern helfen. Untersuchungen, die im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung geleistet werden, können einen wichtigen Schritt auf dem Weg bilden, der zu wirksamen politischen und vorbeugenden Handlungen führt, um die sinnbildenden Funktionen der Arbeit, in Bezug auf die Identität und im Sinne eines ethischen Engagements, zu stärken.

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Edith Seligmann-SUva

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Psychologie der Befreiung Elemente einer psychosozialen Theorie in Lateinamerika

Einleitung In weiten Teilen Amerikas, Afrikas und Asiens ist das Studium der Psychologie, insbesondere der Sozialpsychologie, durch die Abhängigkeit und die allgemeine Akzeptanz der Theorien Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika geprägt. In vielen Studien wird das Verhalten des venezolanischen »llanero« oder des argentinischen »gaucho«, der Bewohner des Andenhochlandes, der nordafrikanischen Nomaden, der Philippinen oder der Menschen des Fernen Ostens aus der Perspektive des Eroberers oder Kolonisators beschrieben, als ob dies die einzig natürliche Sichtweise wäre. Dennoch haben sich hier und dort vereinzelte Stimmen erhoben, die die Einseitigkeit dieser Beschreibungen aufzeigten und die Aspekte unterstrichen, die als ideologische Rechtfertigung und zur Aufrechterhaltung der Herrschaft benutzt wurden. Die Werke des Venezolaners Mijares (1938), des Kariben Fanon (1965), des Chilenen Zúñiga (1975), des Argentiniers Moffat (1973), des Philippinen Alatras (1977) oder des Salvadoreños Martín-Baró (1986) haben einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Untersuchung des menschlichen Verhaltens unter den Bedingungen der Herrschaft geleistet. Sie haben sowohl die Psychologie der Unterwerfung in der Peripherie aufgezeigt, als auch neue Gesichtspunkte und Erklärungsansätze entworfen, die der untersuchten Wirklichkeit entsprechen und den ideologischen Charakter der herrschenden Lehrmeinungen verdeutlichen. Mit Montijos Worten (1988, S. 56) dient dieses ideologisierte Vorgehen »der Rechtfertigung der Unterdrückung von Menschengruppen, indem diese als Naturerscheinungen dargestellt werden, deren 'Natürlichkeit' in ihrer zivilisatorischen Minderwertigkeit begründet liegt«. Das Studium des Verhaltens unter den Bedingungen der Machtlosigkeit, Armut und unter dem Druck einer entfremdeten und disqualifizierten Kultur hat in den Sozialwissenschaften zur Untersuchung der Auswirkungen der Kolonisation, der Armut und der Abhängigkeit geführt. In der Psychologie wurde die Psychologie der Abhängigkeit (Montero 1982, 1984), die Psychologie der

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Gefügigkeit (Montijo 1988) und der Unterdrückung (Bulhan 1985) entwickelt. Im Zentrum dieser Konzepte steht die Darstellung der kognitiven und affektiven Verhaltensprozesse der Individuen und Gruppen. Es wird analysiert, wie sie durch diese Bedingungen zur Annahme defensiv-adaptativer Verhaltensweisen kommen, die zur Aufrechterhaltung ihrer Ursprungssituationen beitragen und sie in unfreiwilligen Agenten des Unterdrückungsprozesses verwandeln. Diese Überlegungen können zum Verständnis bestimmter Widersprüche führen, mit denen wir leben, die wir jedoch nicht bemerken und die das Wirken der Ideologie im Alltagsleben aufdecken. Aus der Spannung zwischen den Kräften von Entfremdung, Lebensbedingungen, sich verändernder soziokultureller Umgebung und individuellen Erfahrungen können Prozesse entstehen, die zum Verstehen der Lebensumstände und zur Veränderung derselben führen. Das Studium solcher sozialpsychologischer Prozesse und das Entstehen spezifischer Verhaltensweisen nennen wir die Psychologie der Befreiung. Damit ist die psychologische Untersuchung derjenigen Prozesse und Verhaltensweisen gemeint, die von der Unterdrückung zur Befreiung führen. Dabei geht es um die Übernahme von Kontrolle und Macht über die eigenen Lebensumstände und deren Veränderung durch die Gruppenmitglieder, was wiederum zur Entwicklung einer positiven sozialen Identität führen kann. Solche Untersuchungen haben sich bereits in einigen Arbeiten angekündigt, die Mitte der siebziger Jahre veröffentlicht worden sind. So können die Werke Moffats (1984, 1. Auflage 1973), die Studien von Martin-Barö (1987) über den lateinamerikanischen »Fatalismus« und von Montero (1984, 1987) über die nationale und die soziale Identität als Vorläufer gelten. 1988 hat Martin-Barö folgende Bestandteile einer Psychologie der Befreiung genannt: 1) Die Psychologie muß ihre Aufmerksamkeit von sich selbst, von ihrem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Status abwenden, um sich den dringenden Problemen der lateinamerikanischen Völker zu widmen. 2) Sie muß »eine neue Form der Wahrheitssuche hervorbringen, die von der Situation der Bevölkerungsmehrheit ausgeht« (S. 22). 3) Sie muß mit einer neuen psychologischen Praxis beginnen, die zur Veränderung der Menschen und der lateinamerikanischen Gesellschaft beiträgt und die deren bisher geleugnetes Potential anerkennt (S. 22-23). Der erste Aspekt hat seinen Vorläufer in der These von der »Entprofessionalisierung« der Psychologie: Talento und Ribes Inesta schlugen 1979 vor, daß die Psychologie ihr Wissen zur Veränderung der Lebensbedingungen der Armen einsetzen sollte. Sie sollte den Armen das notwendige Wissen vermitteln, um ihnen eine aktive Teilnahme an dem gesellschaftlichen Veränderungsprozeß zu ermöglichen. Dies führt uns zu dem zweiten Aspekt, den die lateinamerikanische Gruppenpsychologie seit Mitte der siebziger Jahre vertritt: die Partizipa-

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tion breiter Bevölkerungsschichten, die Selbstbestimmung und insbesondere, aus dem Blickwinkel der Aktionsforschung, die Verwandlung des untersuchten Subjekts in einen aktiven Forscher der eigenen Realität. Der dritte Aspekt bezieht sich auf das Ziel der Befreiung selbst: die gesellschaftliche Veränderung und die Entstehung einer sozialen Identität, die den lateinamerikanischen Völkern das Bewußtsein ihrer Geschichte wiedergibt, indem ihr Potential anerkannt und aktiviert wird und die Ketten der Disqualifizierung, des Ausschlusses zerbrochen werden. Eine Psychologie der Befreiung zu betreiben heißt demzufolge, sich dem historischen Charakter der Psychologie, der Prozesse und Phänomene, die sie untersucht, bewußt zu sein. Dabei muß die psychologische Tradition aufgegeben werden, die das Subjekt und sein Handeln außerhalb von Raum und Zeit begreift. Es bedeutet auch, Konflikte, Ideologien und ihre Wirkungsweisen auf die Akteure mit dem Ziel der Entideologisierung zu untersuchen. Das bedeutet, daß die verschleiernden und verzerrenden Auswirkungen grundlegend verstanden werden müssen, um ein veränderndes Wissen über die Wirklichkeit produzieren und erwerben zu können. Es geht darum die Entfremdung aufzuheben. Erst die aktive Eingliederung des Subjektes in den Konstruktionsprozeß des Wissens kann die Schranken durchbrechen, die ihn von seinem Handeln entfremden, die den Menschen von der konstruierten Welt trennt, den Arbeiter von seinem Produkt. Andererseits verfügt die Gruppenpsychologie, die sich in Lateinamerika entwickelt hat, über eine methodologische und empirische Grundlage, die von der engagierten Soziologie, Dependenztheorie, Erwachsenenbildung sowie durch die kritische Revision und Dekonstruktion der traditionellen Psychologie theoretisch gestützt werden. Die Kontrolle und ihr Ort Die Entwicklung der Gruppenpsychologie und der Untersuchungen über soziale Identität haben gezeigt, daß die Kontrollbestimmung eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung der Gemeinde und die Veränderung der Individuen und der Umwelt ist. In der Tat ist seit den vierziger Jahren und dem Beginn der fünfziger Jahre bewiesen, daß eine Gruppe mit einer zentralisierten Führungsstruktur, in der der Führer die Kommunikationsprozesse kontrolliert, zunächst effektiver als eine demokratisch strukturierte Gruppe zu sein scheint. Die Abhängigkeit der Gruppenmitglieder vom Führer, die mangelnde Partizipation an der Entscheidungsfindung und das fehlende Verständnis für die Entscheidungen führen jedoch zu Unzufriedenheit bei den Gruppenmitgliedern und langfristig zu einer geringeren Leistungsfähigkeit. Dies kann die Auflö-

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sung der Gruppe zur Folge haben. Es zeigt, daß demokratische Strukturen für die Bildung leistungsfähiger und dauerhafter Gruppen besser geeignet sind, da diese sich auf ihre eigenen Mitglieder stützen können. Die Gruppenpsychologie übernimmt allein das technische know-how der Gruppendynamik und basiert auf den bereits erwähnten theoretischen Grundlagen. Dabei wird davon ausgegangen, daß die Kontrolle jeglicher Handlung bei allen Gruppenmitgliedern liegen muß. Alle müssen die Möglichkeit haben, zu gleichen Bedingungen teilzunehmen, alle können zur Lösung der Probleme beitragen und alle können bei der Richtungsbestimmung mitwirken. Sicherlich ist es leichter dieses Prinzipin theoretisch als Grundlage eines Veränderungsprozesses zu formulieren, als es tatsächlich in die Praxis umzusetzen. In der Tat steht die Tradition der Herrschaft eher auf Seiten des Wissenschaftlers, der als Schöpfer und absoluter Herr, gegen die Demokratisierung der Kontrolle, gesehen wird. Im Alltagsleben, insbesondere unter den Bedingungen der Abhängigkeit, ist man daran gewöhnt die Rechte nicht wahrnehmen zu können, Entscheidungen nicht mitzutragen und auf das Wohlwollen der Mächtigen angewiesen zu sein. Die Erfahrung, daß alle positiven Veränderungen von der Güte der Mächtigen abhängen verhindert, daß die benachteiligten Bevölkerungsgruppen die Kontrollbestimmung selbst anstreben. Die Kontrolle zu demokratisieren, d.h. dafür zu sorgen, daß jedes Mitglied einer Gruppe oder Gemeinde die Möglichkeit hat, Kontrolle auszuüben, ist keine Sache mündlicher Vereinbarungen oder einfacher Behauptungen. Das kann nur in der Praxis hergestellt werden, indem die betroffenen Personen selbst die Erfahrung machen, Macht über die Umstände ausüben zu können, zu entscheiden, zu befehlen, zu organisieren, zu handeln und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Dies setzt Einsichten und Erfahrungen voraus, die die Auswirkungen des eigenen Handelns - seien diese negativ, neutral oder positiv - als die Folge eigener Planung und eigenen Verhaltens versteht. Verschiedene Hindernisse für diese Erfahrungen bestehen beispielsweise in sich verändernden und nicht vorhersagbaren Umweltbedingungen und im Extremfall selbst in Katastrophen (Kriege, Umweltkatastrophen, Naturereignisse). Im Alltag sind es die Bedingungen der extremen Armut, eines autoritären Regimes und die Herrschaft der Ungleichheit und der Willkür. Ein entbehrungsreiches und abhängiges Leben kann außerdem lehren, daß sich die Folgen des eigenen Handelns sehr von den daran geknüpften Erwartungen unterscheiden können. Auch kann es bedeuten, daß es überhaupt keine Folgen hat, oder daß alles von nicht kontrollierbaren Faktoren abhängig ist, die sich dem eigenen Willen entziehen. Externe und interne Faktoren erschweren also die eigenen Kontrollerfahrungen. Die externen Faktoren stammen aus den Umweltbedingungen, d.h. aus

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Tabelle 1

Faktoren, die die Kontrolle erschweren Umweltkatastrophen (Kataklysmen, Dürren, Überschwemmungen, etc.) Traumatische Situationen (Krieg, Verfolgung, etc.) Autoritäre und repressive politische Systeme Externe Faktoren Kultursysteme:

Geschlecht Klasse Religion Ethnie

Schwierige wirtschaftliche Verhältnisse Bildungssystem, das negative Bedingungen schafft

die eigene Leistungskraft Negative Uberzeugungen über

den Nutzen eigener Anstrengungen Erfolg und Scheuem

Soziales Erlernen der Passivität Niedrige Erfolgserwartungen Interne Faktoren

Hohe Mißerfolgserwartungen Angst vor dem Unbekannten Furcht Unwissen über die Möglichkeiten Nicht wissen, wie man sich verhalten soll/kann Glauben an die Kontrolle durch andere Mächtige, Erwartungen daran Geschichte negativer Bestärkungen Negative Gruppenstereotype

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Ökologie, Politik, Wirtschaft und Kultur (so z.B. daß Personen aus Gründen der Religion, ihres Geschlechtes, ihrer Klasse, ihrer ethnischen Zugehörigkeit nur niedere Positionen bekleiden können). Die internen Faktoren leiten sich aus der individuellen Lebensgeschichte ab, aus den sozialen Lernerfahrungen, dem Glauben an die eigene Unfähigkeit, niedrige Erfolgserwartungen und hohe Mißerfolgserwartungen, Furcht, und Unwissenheit, wie man sich verhalten muß (siehe Tabelle 1). Es handelt sich hierbei um ein instabiles Gleichgewicht, daß gekennzeichnet ist durch Spannungen, die zunächst die negative und ungerechte Situation aufrecht erhalten. Die Erfahrung hat gezeigt, daß der Versuch, die totale Kontrolle über alle Umstände zu erlangen, weder erfolgreich sein kann, noch daß er besonders praktisch ist. Er führt nicht zur Kontrolle, sondern zu Mißerfolgen, die die bereits erwähnten negativen inneren und äußeren Bedingungen verstärken. Dadurch werden die Individuen mit einer Situation konfrontiert, in der ihnen noch mehr als vorher ihre Unfähigkeit demonstriert wird. In diesem Sinne stellt die Gruppenpsychologie einen Ausweg dar, da ihre Methode die Gruppe dazu führen kann, ihre Lebensverhältnisse zu untersuchen, ihre Probleme zu analysieren und zu entscheiden, welche sie davon verändern wollen. Die Veränderung geschieht in Übereinstimmung mit ihren individuellen Möglichkeiten und den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Dies bedeutet weder die Mediatisierung noch das Vergessen größerer Probleme. Es geht darum, die Verhältnisse zu ändern, die ihnen das Bewußtsein der Schutzlosigkeit vermitteln, der eigenen Nichtzuständigkeit und Unfähigkeit. Hier müssen Erfolgserlebnisse in denjenigen Bereichen geschaffen werden, in denen bisher nur ein Scheitern erwartet wurde und gleichgültige Passivität vorherrschte. Deswegen sprechen wir von Spannung und einem instabilem Gleichgewicht, weil Befreiung heißt, dasjenige Gleichgewicht zu zerstören, das die negativen und ungerechten Verhältnisse stabilisiert. Durch die Gemeinde- bzw. Gruppenarbeit ist es möglich, solche Kontrollbestimmung zu schaffen. Durch sie ist es möglich, mit der befreienden Veränderungsarbeit zu beginnen. Dabei entsteht eine doppelte Wirkung: auf persönlicher und auf gruppaler Ebene, da die Erfahrung sich sowohl auf die Personen, als auch auf die Gruppen, in denen sie handeln, auswirkt. Trotz der Industrialisierung, die in Lateinamerika mit dem Modell der Importsubstituierung begann, koexistiert diese Art der Moderne mit anderen Formen der sozialen Beziehungen, die aus den autochthonen Kulturen stammen. Diese Kulturen kennen die individualistische Ausrichtung der Moderne nicht, so daß es zu Zusammenstößen mit dem Geist der Moderne kommt, der die westliche Welt seit drei Jahrhunderten beherrscht. In den bolivianischen und peruanischen Anden existieren z.B. Institutionen wie der ayni, in dem alle Mitglieder eines Dorfes bereit sind, ihre Arbeitskraft einem bedürftigen Mit-

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glied der Dorfgemeinschaft unbezahlt zur Verfügung zu stellen. Diese Institution beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit bei Notlage (Herencia 1990). In vielen Regionen des Kontinents, sogar in städtischen Gebieten, sind aufgrund sehr intensiver, enger und solidarischer Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, spezielle Familiendynamiken vorzufinden. Es gibt auch langfristige Beziehungen, die auf dem Austausch von Hilfe und Diensten beruhen, sogar von Verantwortung für Minderjährige, abgeleitet von Institutionen wie dem compadrazgo.1 In der gegenwärtigen sozio-ökonomischen Lage des Kontinents können diese kulturellen Merkmale von zwei Perspektiven aus betrachtet werden: Einerseits ermöglichen sie menschliche Beziehungen, die sich positiv an dem anderen orientieren, d.h. an dem Wunsch, Zugehörigkeiten herzustellen, Freundschaften zu schließen, Sympathie zu erwecken. Dies erleichtert die Herstellung von sozialen Bindungen mit Dritten, die Anerkennung einer gewissen Supranationalität, d.h. einer kontinentalen sozialen Identität (dem Lateinamerikanismus), aus der Kongenialität und Zusammenleben entstehen. Gleichzeitig aber erscheinen die Merkmale der Empathie, des Freundschaftsbedürfnisses (Zugehörigkeit) aus der Perspektive des Ideals der modernen Industriegesellschaft nach europäischem oder US-amerikanischem Muster nicht unbedingt positiv. Übernimmt man z.B. die Perspektive von McClelland (1967), so scheint bei den Lateinamerikanern die Motivation der Zugehörigkeit zu dominieren. Ausgehend von McClellands Theorieansatz, der sich dem herrschenden Muster der Moderne perfekt angepaßt hat, ist die Entwicklung eines Volkes zunächst abhängig vom Bestehen einer hohen Erfolgsmotivation, danach von der Machtmotivation und erst zuletzt vom Zugehörigkeitsgefühl. Demzufolge wäre der Versuch das lateinamerikanische Individuum »entwickeln zu wollen« unangemessen, da sein Bedürfnis nach Freundschaft, nach Empathie und die Zugehörigkeitsinteressen einen wesentlich höheren Stellenwert haben, als Erfolg und Macht. Das »freie Unternehmertum« ist ein Spiel der Einsamen und die menschlichen Beziehungen sind Teil dieses Spieles. Es muß auf sie verzichtet werden, wenn sie nicht ins Karrieremuster passen. Sie sind vergänglich, da sie an die Position gebunden sind, die man nur kurze Zeit während des Aufstiegs auf der sozialen Leiter einnimmt. Die Stufen sind die Schultern von ehemaligen Freunden und Kollegen, die man nun hinter sich gelassen hat. Die Arbeit von Romero-Garría kann hier beispielhaft herangezogen werden. Romero-García hat festgestellt, daß in Venezuela Subjekte mit einer niedrigen Erfolgsmotivation auch nur geringe akademische Erfolge erzielen. Eine hohe 1

Compadrazgo ist ein Begriff, der aus der Institution des »compadre« abgeleitet ist, einer Person, der dem Vater nahesteht und für ihn alles notwendige tut (so z.B. im Falle seines Todes die Versorgung der hinterlassenen Frau und Kinder übernimmt). (Die Übersetzerin)

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Machtmotivation, gefolgt von der Zugehörigkeitsmotivation bildet für diesen Autor die psychologische Struktur, die für das sozio-ökonomische Scheitern des Landes verantwortlich ist. Diese psychologische Struktur führt zu unrealistischen Zielsetzungen und dazu, daß äußere Ursachen für das eigene Scheitern verantwortlich gemacht werden. Der Autor fügt an, daß die »venezolanische Gesellschaft den Erfolg nicht stimuliert und oft sogar bestraft; gleichzeitig zeigt sie jedoch eine ausgesprochene Toleranz gegenüber dem Mißerfolg« (1986, S. 9). Wir sehen an diesem Beispiel, daß sowohl die individuelle Ursache für die negative Situation, sozialpsychologisch beschrieben - gemäß dem hier diskutierten Modell - als auch die Präsenz negativer sozialer Verhältnisse, anerkannt wird. Dies stimmt mit der These überein, die besagt, daß Lateinamerika nicht nur seine Produktionsweisen, sondern auch die Mentalität seiner Bevölkerung modernisieren muß, um die Unterentwicklung und den lähmenden Fatalismus zu überwinden. In der Tat hat die Politik in vielen Ländern des Kontinents dies versucht. Unterentwicklung und Fatalismus gehören jedoch nicht nur zu Mentalität und Lebensweise, sondern werden wesentlich durch die Produktionsverhältnisse und die gesellschaftspolitischen Bedingungen geprägt. So ist es dazu gekommen, daß sich die Elite während ihres Modemisierungsprozesses in den vergangenen siebzig Jahren von ihren Wurzeln entfernt hat und ihre Beziehung zur Mehrheit der Bevölkerung, zu ihrer Geschichte und Kultur vergessen hat. Sie hat sich in einen Agenten externer Interessen entwickelt und damit das Ziel der unabhängigen Entwicklung in eine Utopie verwandelt. Diese Elite bedient sich nun der fatalistischen Passivität der Massen, um ihren eigenen Status aufrechtzuerhalten. Warum aber, wenn wir aus kulturellen und historischen Gründen auf Zugehörigkeit bedacht sind, versuchen wir nicht, dieses Merkmal positiv zu integrieren? Die Gruppenpsychologie hat bewiesen, daß etwas, was für die individuelle Anstrengung unerreichbar bleibt, durch die Gruppe bzw. Gemeinde für alle erreicht werden kann. Der Erfolg ist wünschenswert, jedoch nicht nur auf individueller, sondern auch auf Gruppenebene. Der Wohlstand vieler schließt das Wohlsein des einzelnen mit ein. Aus diesem Grund ist es im Entwicklungsprozeß einer Gemeinde, die sich für ihre Befreiung organisiert notwendig, daß jedes Mitglied die Gruppenziele als eigene Ziele verinnerlicht. Erst so kann der Moment des Erfolges und der Zugehörigkeit Solidarität entstehen lassen. Gleichermaßen muß die Gruppe auf individueller und gruppaler Ebene Zugehörigkeitsgefühle und Erfolgserlebnisse vermitteln, indem sie Bewußtsein von sich selbst als organisierte Einheit erlangt.

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Partizipation Partizipation als sozialer Begriff ist seit langem der Untersuchungsgegenstand von Soziologen und Sozialarbeitern, Anthropologen und Philosophen gewesen. Sogar Akademiker, die mit dem Begriff scheinbar nichts zu tun hatten, beschäftigten sich mit ihm, als sie begannen, die Umwelt im Zusammenhang mit dem negativen oder positiven Handeln des Menschen zu betrachten. Planer, Architekten und Ingenieure haben auf diese Weise den Begriff der Partizipation in ihren Begriffskatalog und in ihre Modelle für gesellschaftliche Interventionen eingefügt. Partizipation kann als Lern- und Lehrprozeß definiert werden, in dem die Mitglieder einer Gruppe oder Gemeinde beginnen, aufgrund einer selbst geschaffenen Organisationsstruktur, Aktivitäten zu entwickeln, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Dabei schaffen sie horizontale Kommunikationswege, gewinnen Bewußtsein und haben Kontrollerlebnisse, weil sie Zugang zur Planung, zur Entscheidungsfindung, zur Problemlösung und zur Verantwortlichkeit für ihre Aktivitäten gewonnen haben. Dieser Prozeß ist an ihre Lebensbedingungen gebunden, an eine Situation in der Welt und an gesellschaftliche Strukturen. Mit den Worten von Fals Borda (1987, S. 87) geht es um »den Bruch mit der traditionellen Beziehung der Abhängigkeit, der Ausbeutung, der Unterdrückung oder der Unterwerfung auf allen Ebenen, der individuellen oder der kollektiven: vom Subjekt/Objekt zu einer symmetrischen oder gleichwertigen Beziehung«. Ohne eine spontane Basisbewegung, die aus der Übereinstimmung von einem oder mehreren Bedürfnissen und Interessen heraus entsteht, gibt es keine Partizipation. Das heißt, daß eine Art Anfangsorganisation nötig ist, die die Menschen zusammenbringt und innerhalb derer der Partizipationsprozeß stattfindet, sich verbessert und definiert. Diese Organisation muß demokratisch strukturiert sein, der Mehrheit entsprechen und auf die wirklichen Probleme einer Gruppe reagieren. In ihr muß ein Klima der Freiheit herrschen, in dem spontane Führungspersönlichkeiten wachsen können, das weitere Mitglieder anzieht, die Kommunikation fördert, die Identifikation mit den Zielen und ihre Verinnerlichung hervorruft. Es muß ein bereichernder Austausch von Ideen und Meinungen stattfinden können, und ein kontinuierlicher Lernprozeß ablaufen, der durch gegenseitige Hilfe und Unterstützung gefördert wird und allen Mitgliedern zugute kommt. Der Begriff der Partizipation ist mit dem Begriff der »partizipatorischen Entwicklung« (Fals Borda, ebd.) verbunden, der nicht nur die politische, sondern auch die Dimension der Erfahrungsphilosophie einschließt (S. 86). Er bil-

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det das Gegenstück zu dem Begriff des Desarrollismo,2 der trotz seines Scheiterns - die Ineffektivität des verkleideten Autoritarismus hat dies verdeutlicht hier und dort noch versucht, seinen Kopf erneut zu erheben. Die Grundlage des partizipatorischen Entwicklungsmodells sind die Basisbewegungen, denen er sich verschrieben hat. Eine seiner Ausdrucksformen ist die Methode der Aktionsforschung. Planung Planung - d.h. die Analyse von und Entscheidung über bestimmte Bedingungen durch die Individuen - ist der Schlüssel für die Entstehung psychosozialer Befreiungsprozesse, da sie Zugang zu Kontrollsituationen schafft. Planen hat zwei Aktionsfelder: das soziale, externe Feld, das die Aktion vorbereitet und die Realität gemäß eines Plans ordnet, den die Gruppe aufgrund ihrer Bedürfnisse geschaffen hat und der ihrer Situation und ihren Problemen entspricht. Das andere ist das psychologische Feld, das den ersten Eintritt in die Welt der Kontrollbestimmung über die Lebensbedingungen in die Sphäre der Akteure bedeutet, die ihr Schicksal in die Hand nehmen und ihre Zukunft selbst bestimmen. Wenn die Gruppe oder Gemeinde sich dazu entschließt, dann muß die Planung die Identifizierung, Beschreibung, Hierarchisierung, Analyse und Diskussion von Problemen und Bedürfnissen einschließen, und zwar aus der Perspektive derjenigen, die unter ihnen leiden. Das bedeutet eine Bereicherung der Situation in dem Sinne, daß sie nicht nur gespürt und erlebt wird, sondern daß man dazu übergeht, die notwendige Distanz einzunehmen, um sie zu analysieren. Es geht darum das Ausmaß und die Ursachen der Verhältnisse zu verstehen, ihre Widersprüche aufzuspüren und die Aspekte zu benennen, die eine unmittelbare Aktion erlauben oder die einen langfristigen Einsatz erforderlich machen. Es ist ein erster Schritt, der dazu führt, nicht mehr passiver Bestandteil des Problems zu sein, sondern es zu durchdringen und möglicherweise zu lösen. Außerdem setzt Planung voraus, daß die positiven und negativen Aspekte im Verhältnis zu den Akteuren betrachtet werden, d.h. in bezug auf ihre Stärken als auch auf ihre Schwächen. Das setzt notwendigerweise die Bewertung ihres Potentials als Personen und als Gruppe voraus, und zwar im Lichte einer kollektiven Arbeit, in dem die individuelle Aktivität aus einem neuen Blickwinkel gesehen wird. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine solidarische 2

Der »desarrollismo« ist die Ideologie der fünfziger und sechziger Jahre, derer sich u.a. technokratische Militärdiktaturen bedienten, um ihre autoritäre Herrschaft mit der Notwendigkeit einer interventionistischen Industrie- und Währungspolitik zu rechtfertigen, mit der die Unterentwicklung überwunden werden sollte. (Die Übersetzerin)

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Aktion, ohne Auswirkungen für die anderen, sondern darum, daß sich das individuelle Handeln nun in eine Kette von Ereignissen eingliedert, die die Akteure selber neu bewerten können. Diese Neubewertung verdeutlicht das Netz an Einflüssen, das zwischen allen individuellen Beiträgen entsteht und verleiht ihnen in Hinblick auf das durch die Gemeinschaft gesetzte Ziel einen Sinn. Die Entwicklung eines Aktionsplans ist bereits ein erster Erfolg, so klein der Plan auch sein mag, so bescheiden die Zielsetzung und so unmittelbar und einfach es sein mag, sie zu erreichen. Es ist ein Erfolg, weil die Erstellung eines Planes voraussetzt, daß es der Gruppe gelungen ist, ihre Bedürfnisse und Probleme auszudrücken, daß jedes Gruppenmitglied das ausgedrückt hat, was es als problematisch wahrnimmt und fühlt (dies ist insbesondere der Fall, wenn Techniken wie die der Gemeindeforen verwendet werden (Irizarry und Serrano-García 1979). So werden die Erfahrungen geteilt und rufen eine kognitivaffektive Bewegung hervor, in der sich gemeinsame Interessen wiedererkennen lassen, so auch der geteilte Mangel und die gemeinsamen Bewertungen im Alltagslebens sowie die idiosynkratischen Eigenheiten der Gruppe. Es wird die Entdeckung gemacht, daß man nicht allein ist, daß man nicht allein lebt und unter der Einsamkeit leidet. Die Hierarchisierung von Problemen und Bedürfnissen verstärkt diesen Prozeß, da die Übereinstimmungen, die zusammen mit den Dissensen diskutiert und analysiert werden, zunehmen. Schließlich ermöglicht die Entscheidungsfindung darüber, welches Problem in Angriff genommen werden soll (welches Bedürfnis befriedigt werden soll, sowie die Festlegung des Prozesses, der Aktionen für die Lösung und die Veränderung der Situation) einen weiteren, sehr wichtigen Erfolg, nämlich die Berücksichtigung nicht nur der problematischen Gegenwart an sich, sondern auch ihrer Ursachen und die in der Zukunft angestrebten Lösung. Die Methode der Gruppenpsychologie (Montero 1980) und der engagierten Soziologie (Fals Borda 1957) lehrt, daß man - ohne die langfristigen Erfolge aus der Sicht zu verlieren - anhand kleiner Schritte vorgehen muß. Sie müssen zu unmittelbaren Erfolgen führen, um so neue Aktionen stimulieren. So wird die partizipative Aktion verstärkt, indem in den handelnden Individuen das Gefühl des gemeinsamen Erfolges hervorgerufen wird. Es geht um die Erfahrung des Erfolges, die manchmal erst vor dem Hintergrund eines sozialen und veränderten Sinns gemacht werden kann. Kognitive Prozesse Die Untersuchungen von Mischel (1958) haben ergeben, daß Personen, die unter negativen oder schlechteren Bedingungen als die des Bevölkerungsdurchschnitts leben müssen (niedriger Lebensstandard, Zugehörigkeit zu Minderheiten), nicht in der Lage sind, eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu-

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gunsten eines langfristig größeren Nutzens aufzuschieben. Unsere Erfahrungen zeigen, daß diese Unfähigkeit an die Situation gebunden ist und nicht an Persönlichkeitsstrukturen oder kulturelle Faktoren. Wenn man Kontrolle über die Verhältnisse besitzt, dann ist es im Rahmen der Reichweite dieser Kontrolle möglich, zu planen und potentielle unmittelbare Gratifikationen zugunsten etwas Wertvollerem, das jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt erreicht werden kann, zu verschieben. Dies geschieht, weil die Individuen wissen, daß es von ihnen selbst und ihrem Handeln abhängt, ob sie diese Gratifikation bekommen oder nicht, und nicht von dem positiven oder wohlwollendem Charakter eines externen Agenten, dessen Erscheinen unabhängig von dem Willen und dem Bedürfnis der Subjekte ist, an die sich sein Handeln richtet. Ein Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, ein unerhebliches, jedoch faßbares, zugängliches, in diesem Moment erreichbares Gut sofort in Besitz zu nehmen, und dabei ein höheres Gut ablehnt, weil seine Inanspruchnahme als unwahrscheinlich gilt, da es von Dritten abhängt, wird nun durch die Sicherheit der eigenen Planung ersetzt. Das Erlernen, daß bestimmte zukünftige Ereignisse zufälligen Charakter besitzen, wird ersetzt durch die Erfahrung der Zielorientierung und einem Bewußtsein darüber, daß es möglich ist einen Grad an Gewißheit über den Ausgang bestimmter Aktionen zu erreichen. Dies geschieht dadurch, daß die Aktionen unter der Kontrolle und der Leitung der Subjekte selbst durchgeführt werden. So kann das Wissen entstehen, daß Scheitern oder das Nichteintreten des gewünschten Ergebnisses die Folge von Fehlern der eigenen Planung oder ihrer Durchführung ist. Der Erfolg oder Mißerfolg dieser Ereigniskette ist abhängig von ihnen als Akteure selbst und nicht von äußeren Ereignissen oder unbekannten übermächtigen und unverständlichen Kräften. Zu lernen, daß der Sieg möglich ist, ist einer der Faktoren, die bei der Bevölkerung eine Veränderung des Selbstbildnisses und der Selbsteinschätzung, hervorrufen kann. Dies gilt insbesondere für die Bereiche, in denen traditionellerweise das gesellschaftliche System, die Kultur, die ethnischen Beziehungen oder die religiöse, politische oder sexuelle Segregation bestimmte Personengruppen diskriminiert haben. So z.B. wenn sich diese Personengruppen in einer benachteiligten Lage befinden oder historisch unterdrückte Mehrheiten bzw. Minderheiten bilden, die von dem Genuß der gesellschaftlichen Güter ausgeschlossen sind. Die Erwartung von Erfolg oder Mißerfolg verändert sich je nach dem Befriedigungsgrad des Erfolges. Der Sieg motiviert die Aktion, die Suche nach neuen Erfolgen. Das Scheitern lehrt, zu verlieren und lehrt auch, daß die Bemühungen umsonst sein können, daß die eingesetzte Energie verlorengegangen ist. In einigen Fällen bringt das Scheitern definitive, schmerzhafte und erdrückende Strafen mit sich. Die Geschichte der amerikanischen Völker ist voll von diesen Erfahrungen des Zerschellens gegen die Kräfte der Unterdrückung,

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die ihre Herrschaft über die Jahrhunderte hinweg ausgeübt haben. Es wird viel berichtet von den Kämpfen der campesinos, der Revolten der comuneros3, den Erhebungen der Sklaven, den gescheiterten Revolutionen, den Völkermorden und der Verfolgung der Unterdrückten. Diese Tatsachen haben große Teile der Bevölkerung in Passivität fallen lassen, in defensive Gleichgültigkeit, in Ignoranz und Fatalismus, die dann zu ihrer generellen Abwertung geführt hat. So werden diese Eigenschaften als Ursache des Zustandes der Rückständigkeit und Abhängigkeit bewertet, und nicht als deren Folge. Darum ist es notwendig zu lernen, sich selbst zu bejahen, damit die Individuen und Gruppen eigene Bestätigung und Behauptung erfahren können. Dies geschieht zugunsten ihrer gemeinsamen Ziele, nämlich denen der Verwirklichung der eigenen Vorstellungen, der Selbstbestimmung ihres Alltagslebens, das mit der Reproduktion der von außen aufgezwungenen Verhältnisse bricht. Gleichermaßen muß Hoffnung entwickelt werden, und zwar als kognitiver Prozeß mit zwei Aspekten: dem aktiven, der die Aktion motiviert, und dem passiven, der die Absicht, die Erwartung einer erfolgreichen sozialen Veränderung und Befreiung aufrechterhält. Dazu gehören folgende psychologische Prozesse, die drei Sphären umfassen: in der kognitiven Sphäre muß das Interesse an neuem Wissen produziert werden; in der affektiven Sphäre muß die Verpflichtung zum Handeln induziert und die Partizipation positiv beurteilt werden, und in der motivationalen Sphäre muß die verändernde Aktion gefördert werden. Die kognitive Blockade - hervorgerufen durch die Abhängigkeit, die neue Ideen und Veränderungen aus Mißtrauen und Unsicherheit ablehnt - wird dann durch das Interesse und die Aktion der kognitiven Suche ersetzt. Dabei findet die Bewegung hin zum Wissen und zur Kreativität originelle Wege und Lösungen und drückt sich in der unorthodoxen Akzeptanz traditioneller Erklärungen aus. Dies ist darauf zurückzuführen, daß sich die befreiende Möglichkeit des Experimentierens und Ausprobierens in dem Moment eröffnet hat, in dem die Kontrolle der Situation übernommen wurde. Gleichzeitig werden andere Formen des Interesses entwickelt, die zur Sensibilisierung gegenüber den erlebten Ereignissen führen. Sie werden nun nicht mehr passiv als »das Leben« hingenommen, sondern affektiv bewertet und besetzt. Damit entwickelt sich die Motivation zum Handeln, angetrieben durch die Wahrnehmung von Aufgaben, deren Lösung als notwendig, wünschenswert, wertvoll und möglich betrachtet wird.

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Comuneros: Sind Bauern, die gemeindeeigenes, unveräußerliches Land in kooperativer Art und Weise anbauen. (Die Übersetzerin)

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Energie und Aktion Das Konzept der Energetik ist von Brehm in die Psychologie eingeführt und von ihm und seinen Mitarbeitern weiterentwickelt worden (Brehm, Wright et.al. 1983; Brehm und Esqueda 1985). Dieser Begriff beschreibt und erklärt die psychologischen Prozesse, die zum Handeln führen oder dessen Erfüllung eine Verzögerung oder Beschleunigung vermitteln. Brehm und Esqueda (1985: 12) stellen ein theoretisches Modell vor, nach dem die Motivation nicht als Ganzes übernommen wird, da sie zwei Funktionen hat: die Förderung eines bestimmten Verhaltens und die spezifische Richtungsgebung. Gleichzeitig ist es die Funktion von drei Faktoren: das Bedürfnis nach oder der Mangel an etwas, der antreibende Wert des gesetzten Zieles und die Erfolgserwartung in Bezug auf dieses Ziel. Damit die motivierende Energie entsteht - dies ist der wesentliche Beitrag des Modells - müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: a) das Ergebnis, das mit einem instrumenteilen Verhalten assoziiert wird, muß von dem Individuum als erreichbar angesehen werden; b) dieses Ergebnis muß als wertvoll betrachtet werden. Die Überlegungen dieser Autoren beschreiben einige der Prozesse, die in Gemeinden und Gruppen in selbstbestimmten Aktionen entstehen, und die das Bedürfnis ihrer Mitglieder, Prioritäten und Hierarchien unter den zu lösenden Problemen festzulegen, bestätigen. Diese Entscheidungen werden aufgrund zweier Prinzipien getroffen: dem Realitätsprinzip und dem Möglichkeitsprinzip. Diese Bezeichnungen gehen auf die Begriffe des realen Bewußtseins und des möglichen Bewußtseins zurück, die Gold mann (1972) eingeführt hat. Diese Begriffe setzen voraus, daß dem Wissen um die gegenwärtige Realität, das demotivierend und entfremdend sein kann, das Wissen um die mögliche Realität hinzugefügt werden muß, auf die sich die verändernde Aktion richtet. Unter dem Realitätsprinzip verstehen wir die absolute Notwendigkeit, den Mangel und die Ziele in Hinblick auf die Wirklichkeit, in der man lebt, zu analysieren. Es geht darum, von der Realität, dem Faßbaren, von dem was ist, auszugehen. Insbesondere unter den entfremdenden Bedingungen, unter denen die ärmsten und unterdrückten Bevölkerungsschichten leben, bedeutet dies so etwas wie die Analyse des Unmöglichen, was zur Zunahme der Hoffnungslosigkeit und des Gefühls der Nutzlosigkeit führen könnte. Aus diesem Grund muß dieses Prinzip nicht nur im Hinblick auf die negative Realität angewendet werden, sondern auch in Hinblick auf das bestehende positive Potential in jedem Menschen und in jeder sozialen Gruppe. An dieser Stelle wirkt das Möglichkeitsprinzip, und zwar auf ergänzende und unverzichtbare Weise, da es die Erreichbarkeit des Zieles aufgrund des Potentials und der bestehenden Mittel definiert. Diese Mittel sind oft geleugnet worden, und werden jetzt jedoch neu bewertet und im Licht einer nicht entfremdenden Perspektive untersucht. Kein Mensch steht völlig hilflos da, und

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die Geschichte zeigt, daß nicht einmal die schlimmsten sozialen Verhältnisse dazu in der Lage sind, Veränderungen vollständig zu verhindern. Aus diesem Grunde ist es wichtig, bei Planung und Partizipation ein Gleichgewicht-Ungleichgewicht zwischen dem Schwierigkeitsgrad der Aufgabe und der Möglichkeit, sie erfolgreich zu erfüllen, herzustellen. Zwischen dem Wert also, der ihre Erfüllung für die Gruppe darstellt, und den Mitteln in ihrer Reichweite. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit der Verstärkung, indem Innovationen und erfüllte Aufgaben belohnt werden. Fals Borda (1957) nennt dies das Prinzip der Stimuli, das die Grundlagen der Prioritäten (Festlegung der Bedürfnisse durch die Gemeinde), der Gruppenautonomie, der sozialen Katalyse (der externe Forscher als Agent der Veränderung und nicht als dessen Leiter) und der Durchführungen ergänzt. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Auswahl von Zielaufgaben, die Erfolge einschließen müssen, damit die Partizipation und Gruppenaktion stimuliert und verstärkt wird. Dabei dürfen die bereits erwähnten zwei Prinzipien der Realität und der Möglichkeit nicht aus den Augen verloren werden. Die Wirklichkeit mit all ihren Mängeln muß so analysiert werden, daß die Aktion nicht in kleinen banalen Schritten ohne große Reichweite trivialisiert wird. Die reale Situation muß so analysiert werden, daß die Gruppe oder Gemeinde in die Lage versetzt wird, Strategien zu entwickeln und ihre Aktionen logistisch aufzubauen, so daß die gesetzten Ziele nicht soweit entfernt oder unerreichbar werden, daß sie entmutigend, demotivierend oder schlicht lähmend wirken. Wie Brehm und Esqueda (1985: 15) festgestellt haben, »wird die Energie nicht auf ihrer effektivsten Ebene mobilisiert, wenn die Aufgabe auf eine ferne Zukunft bezogen geplant wird«, und sie fügen hinzu: »Es gibt keine Energie, die auf eine sehr langfristige Aufgabe fixiert werden kann. Es gibt jedoch die Energisierung für die Ausführung einer instrumenteilen Aufgabe; im Falle einer Unterbrechung kehrt das Niveau der motivationalen Energie sehr bald auf das Grundniveau zurück.« Hier wird eine Erfahrung ausgedrückt, die Psychologen und Soziologen bei ihrer Gemeindearbeit bereits gemacht haben, und die sich im erwähnten Prinzip der Durchführungen und der Stimuli von Fals Borda (1987) ausdrückt: Die Notwendigkeit, das zarte Gleichgewicht zwischen dem kurzfristigen und dem langfristigen Erfolg zu erhalten und erdrückende Mißerfolge zu vermeiden. Darüberhinaus ist es notwendig, daß jede nicht erfolgreiche Aktion von der Gruppe analysiert wird, um von ihr zu lernen (Erfolg), was zukünftig vermieden und korrigiert werden muß, aber auch um falls vorhanden - ihre positiven Aspekte festzustellen. So wird die Bewertung des Mißerfolgs von der realen Perspektive her mit dem Blick auf die mögliche Perspektive verändert. Das Prinzip der Möglichkeit muß in der Auswertung, der Entstehung und der Mobilisierung der potentiellen Motivation wirksam werden. Dabei erlau-

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ben die Techniken der teilnehmenden Aktionsforschung die Aufnahme von Elementen der potentiellen Motivation in dem Maße, in dem sie die Partizipation jedes Gruppenmitgliedes fördern, fordern und ermöglichen. Dies geschieht im Sinne der Ursachenanalyse in der realen Situation, der individuellen und gruppalen verändernden Aktionen in der Vergangenheit und Gegenwart, und indem der erlebten Situation Sinn verliehen wird, und zwar im Rahmen einer globalen Wirklichkeit. Auf diese Weise wird versucht, eine Verhaltensform zu entwickeln, in der die Erfolgserlebnisse interne kausale Zuschreibungen hervorbringen und darüber hinaus positive Erwartungen an die eigene Leistungsfähigkeit fördert. Außerdem soll sie die Aktivität der Individuen mit ihren Ergebnissen in Zusammenhang setzen und eine kausale Beziehung herstellen, in der externe Einflüsse wie Zufall, Pech, Schicksal nicht mehr als Motoren der Ereignisse angesehen werden. Der Ursprung der Veränderung wird dann in den Personen und in der Gruppe selbst verortet. Eine weitere Folge wird die Selbstbejahung sein, durch die verschiedene Formen der Selbstbehauptung entstehen werden. Darunter verstehen wir nicht eine selbstverleugnende und passive Abwehr, sondern die explizite Übernahme der Interessen, die mit der Kultur, der ethnischen Gruppe, der Nation, der Region, der Menschheit verbunden sind. Der historische Sinn und seine befreienden psychosozialen Auswirkungen Ein wichtiger Aspekt des Befreiungsprozesses ist die kritische Aneignung der sozialen und gruppalen Geschichte. Eine Folge der Unterdrückung und Abhängigkeit ist der Verlust des historischen Bewußtseins, dessen Ergebnis auf individueller Ebene die Unfähigkeit ist, sich als Akteure der eigenen Zukunft wiederzuerkennen. Zu der Trennung zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft kommt die Vorstellung hinzu, daß die Erfolge von gestern heute nicht wiederholbar sind. Diese Vorstellung ist Bestandteil der negativen Stereotype, die auf viele lateinamerikanische Völker zutrifft. Zahlreiche Forscher auf dem Kontinent stimmen darin überein, daß die Rettung dieses historischen Bewußtseins sehr wichtig ist (vgl. u.a. Moffat 1984, Martin-Barö 1989, Guzmän Böckler 1975, Carrera Damas 1975, Montero 1984 und 1987), und zwar als wesentliches Element der Konstruktion und Aneignung einer objektiven sozialen Identität, die weder ideologisiert noch entfremdet ist. Die partizipatorische Aktionsforschung schließt die Anwendung bestimmter Techniken ein. Sie strebt folgende Zielsetzung an: 1. Die Aneignung des Objektes der Aktion, d.h. die Ergebnisse der Aktivität werden als individueller, gruppaler und sozialer Erfolg verstanden und

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nicht als Geschenk, als schicksalhafter Wechselfall, als milde Gabe oder als Hilfe seitens allmächtiger Wesen. 2. Die Aneignung der eigenen Realität, d.h. eine Unterscheidung vornehmen zu können, was einerseits zu der Überwindung von Halbwahrheiten, falschen Kausalitäten und scheinbaren Unmöglichkeiten gehört, und was andererseits durch feindliche und korrumpierende »Naturen«, genetische Belastungen, rassische Fehler, religiöse Geister konstruiert wird, um die sozialen Akteure und ihre Lebenswelt zu disqualifizieren. 3. Die Aneignung der Aktionen und ihrer Ziele im praktischen Leben. Die Wiederherstellung der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung und der Aneignung des Sinns der Aktivität, die auf diese Weise nicht mehr eine Ansammlung leerer Gesten ist und deren Resultate mit dem Akteur nichts mehr zu tun haben. 4. Die Aneignung der Geschichte, und zwar als das Ergebnis menschlicher Handlungen und der Aktion bestimmter sozialer Gruppen. Sie wird nicht als eine Sammlung von Mythen, eine leere Hülle der Religiosität, eine Reihe von unmöglichen Bildern, als fernes, unerreichbares, unwiederholbares Epos verstanden, sondern als Teil einer Entwicklung, zu der das Heute und die Konstruktion des Morgen unwiderrruflich gehört. Die Folge dieser historischen Aneignung ist das Entstehen des Bewußtseins: Bewußtsein über sich selbst als aktive und kreative soziale Gruppe, die für ihre Zukunft verantwortlich ist; Bewußtsein für sich selbst, im Sinne der Wiederherstellung der Beziehung zwischen dem Sein und dem Tun, zwischen Aktion und Reaktion, zwischen Ursache und Wirkung, so daß die sozialen Akteure ihre historische Rolle übernehmen und die entfremdenden (inneren und äußeren) Zuschreibungen überwinden können. Dabei übernehmen sie auch die Führung ihres Schicksals oder, mit den Worten von Goldmann: sie vollziehen den Übergang von dem realen Bewußtsein, der entfremdeten Wirklichkeit, in das mögliche Bewußtsein, die mögliche Welt, konstruiert auf der Basis des bislang geleugneten oder verbotenen Potentials und gerichtet auf eine wünschenswerte Welt, die immer wieder verbessert werden muß, die aber erreichbar ist und damit fühlbar wird, vorhersagbar, gerechter und weniger schwierig. Eine andere Folge ist die Produktion von objektiven sozialen (nationalen, ethnischen, kulturellen etc.) Selbstbildern, die keine entfremdende und lähmend entwürdigende Funktion aufweisen. Ihrer bedarf die Unterdrückung für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft, da ihre Opfer in Reproduzenten der Ideologie der Abhängigkeit und der Minderwertigkeit verwandelt werden müssen. Die Folge davon ist Teil der Konstruktion und Rekonstruktion der sozialen Identität, des notwendigen Schrittes für die soziale Veränderung. Jeder Befreiungsprozeß beinhaltet eine Entideologisierung, d.h. die Entdeckung des

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Verborgenen, des Verfälschten, des Verbotenen und der Gründe dafür, warum dieses vom Volk produziert und konsumiert wird. Das Ziel des Befreiungsprozesses und der Entideologisierung besteht für die Akteure in der Aufhebung der Entfremdung, d.h. in der Wiederaneignung der Beziehung zwischen den Subjekten und der Umwelt, zwischen den Subjekten und der Aktion. Letzteres Ergebnis führt zu verändernden sozialen Aktivitäten, die tatsächlich den sozialen Interessen entsprechen und neue Situationen hervorbringen, in denen Kontrollverhalten über die Bedingungen entsteht. So kann der Befreiungsprozeß bestätigt, verstärkt, und vertieft werden, und damit auch der gesamte Prozeß zur Schaffung einer neuen Gesellschaft.

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Theoretische Modelldarstellung der Psychologie der Befreiung Kontrollverhalten über die Lebensbedingungen (Konflikt - Anspannung - labiles Gleichgewicht) persönliche Ebene (Ergebnis + Bindung)

gruppale/Cemeindeebene (Bindung + Ergebnis) Partizipation

l

Solidarität

l

Planung pschologische Auswirkung (Kontrolle)

soziale Auswirkung (Kontrolle) Fähigkeit. Belohnungen zu verzögern

l

Entscheidungsfindung

l

(Gruppe/Individuum

l

Ergebniserfahrung

l

. Energisierung^ Realitätsprinzip

* Möglichkeitsprinzip Erlernen von Gewißheit * i positive Ursachenbeschreibung i Selbsteffizienz i Verinnerlichung

l

Hoffnung (Gleichgewicht zwischen positiven und negativen Anteilen kognitive Such^

sensibilisierende Emotion

Handlungsmotivation

Asertives Verhalten

l

Selbstbehauptung (keine Abwehr) des Handlungsobjektes der Zielsetzung im praktischen Handeln der Wirklichkeit der Geschichte

kritische Rückgewinnung systematische Rückgabe

Bewußtsein von sich selbst

für sich selbst

objektive Wahrnehmung und Selbstbildnis N .

individuelle Ebene objektive und soziale Identität i objektives Fremdbildnis i Entideologisierung i Entfremdungsbewältigung soziale Veränderungshaltung

soziale Ebene

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Maritza Montero

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Monica Sorín

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Ménica Sorín

Sozialpsychologie in Kuba: Grundzüge ihrer Entwicklung Einleitung In diesem Aufsatz werde ich einige Arbeiten auf dem Gebiet der Sozialpsychologie vorstellen, an denen ich mitgewirkt habe. Diese Arbeiten werden die Möglichkeiten verdeutlichen, die sich aus dem ständigen gesellschaftlichen Veränderungsprozeß ergeben, wie er seit 1959 in Kuba stattfindet. Zunächst wird die historische Vorgeschichte der Disziplin und die aktuelle Lage der Sozialpsychologie in Kuba kurz analysiert, um anschließend die methodologischen Grundlagen unserer Tätigkeit und zwei Fallbeispiele vorzustellen.

1. Sozialpsychologie in Kuba Historische Vorgeschichte Der Studiengang Psychologie ist in Kuba in den fünfziger Jahren eingerichtet worden, und zwar von der Universidad Católica de Santo Tomás de Villanueva, einem Zentrum der neothomistischen Lehre, das unter dem Einfluß der nordamerikanischen Kirche stand. In den staatlichen Universitäten ist dieser Studiengang erst durch das Hochschulreformgesetz vom lO.Januar 1962 eingeführt worden, und zwar an der Universidad de La Habana und an der Universidad Central de Las Villas. Dort wurden im Fachbereich der Wissenschaften der Studiengang Psychologie eingerichtet. Inzwischen gibt es eine eigene Fakultät für die Psychologie sowie 2000 Psychologen im gesamten Land, die ihren Titel ab 1966 erworben haben. Ich hatte das Glück, zu der ersten Studentengruppe zu gehören, die 1962 mit dem Studium begann, mit allen Schwierigkeiten, Verunsicherungen, Frustrationen, die diese Anfangszeit mit sich brachte. Das Fehlen von Berufs- und Forschungstraditionen an unseren Universitäten, der Mangel an Professoren mit einer soliden Ausbildung, die ideologischen Auseinandersetzungen, die die Universität in den ersten Jahren nach der Revolution prägten, das ungenügende Bewußtsein über unsere gesellschaftliche Rolle und unsere Möglichkeiten waren u.a. die Ursachen für diese Schwierig-

Sozialpsychologie in Kuba: Grundzüge ihrer Entwicklung

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keiten der ersten Jahre. Aber diese Faktoren haben diese Zeit auch spannend gemacht und uns zu mutigen und unkonventionellen Lösungen gezwungen. So mußten sich z.B. einige Studenten die Lehrtätigkeit mit den Professoren teilen, so daß wir einen gemeinsamen Lehr- und Lernprozeß durchlebt haben. Das Jahr 1963 war von der Frage geprägt: Was tun? Eine kleine Gruppe von Hochschullehrern1 bemühte sich darum, Antworten für die Anfragen der Studenten zu finden: Welche Rolle spielen die Psychologen im revolutionären Prozeß? Was müssen und was können wir tun? Der gesellschaftliche Prozeß selbst hat die Antwort auf diese Fragen gegeben. Ernesto Che Guevara wandte sich in seiner Funktion als Industrieminister als erster an die Schule für Psychologie der Universidad de La Habana. Sein Arbeitsbereich eröffnete einen direkten Bezug zur Sozialpsychologie: Er bat uns um eine Untersuchung der Arbeitsmoral in dem von ihm geleiteten Ministerium. Diese Bitte führte zu einer radikalen Veränderung unserer Geschichte, da die Schule all ihre Energie auf die Bearbeitung dieser Aufgabe konzentrierte und bald danach Anfragen von verschiedenen Organisationen eingingen. Unter diesen Aufträgen, die wir ab 1964 erhielten, waren von besonderer Bedeutung: die sozialpsychologischen Untersuchungen in neun Zuckerraffinerien (1965), die Untersuchung der Stadt Nuevitas, für die große ökonomische Veränderungen geplant waren (1966), die integrale Untersuchung von sieben ländlichen Gemeinden (1967) und die Untersuchung der Motivationen der Arbeiter einer Zuckerraffinerie (1967) (Rodriguez 1990; Casana 1984). Über diese Anfänge könnten viele Überlegungen angestellt werden. Zwei Tatsachen erscheinen mir jedoch von wesentlicher und symbolischer Bedeutung zu sein: Die Tatsache, daß der erste Auftrag von Comandante Guevara kam und daß dieser an die Sozialpsychologie gerichtet war, ist kein Zufall. Aus diesem Auftrag wuchs der Keimling unserer Berufsidentität, da wir zu begreifen begannen, wer wir waren, oder genauer, wer wir sein könnten. Eine Psychologie, die aus der Sozialpsychologie entsteht, kann keine reinen Hilfsdienste leisten, vielmehr wird sie Erkrankungen vorbeugen und die Gesundheit fördern. Die Anforderung, unsere Disziplin zu verändern, wurde an uns von einem gerichtet, der zu diesem Zeitpunkt den wegweisenden Aufsatz mit dem Titel »Der Sozialismus und der Mensch in Kuba« schrieb (Guevara 1970). Gegenwärtige Lage Ich werde die gegenwärtige Lage der Sozialpsychologie als Beruf und in der Lehre und Forschung kurz analysieren. Das Ziel ist, diese drei Aspekte eng miteinander zu verflechten. Es gibt wichtige Fortschritte in dieser Richtung, es muß jedoch noch weiter daran gearbeitet werden. In beruflicher Hinsicht wird 1

Unter anderen A.Bernal del Riesgo, A. Rodriguez, J. Guevara, E.G. Puig, D. Minster.

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Mànica Sorin

die Sozialpsychologie gegenwärtig in allen gesellschaftlichen Bereichen angewendet. Psychologen führen in Ministerien oder Behörden folgende Aufgaben durch: - Programme für die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, in enger Verbindung mit der Erziehungspsychologie; - Programme zur Gemeindeentwicklung; - Programme für die Entwicklung von Betrieben und Ausbildungsstätten; - Ausbildung in Führungstechniken; - Projekte für die Entwicklung einer psychologischen Kultur in verschiedenen Bevölkerungsgruppen (zur Verbreitung psychologischer Erkenntnisse). In diesen Bereichen werden ebenfalls Untersuchungen durchgeführt, die zu einer Vertiefung des theoretischen und methodischen Ansatzes führen. Diese Untersuchungen werden von der Fakultät für Psychologie und von Forschungszentren geleitet. Die Lehre findet in enger Zusammenarbeit mit anderen Institutionen an den Hochschulen statt. Diese Zusammenarbeit geschieht auf zwei Ebenen: die Professoren der Fakultät für Psychologie arbeiten für Organisationen, Ministerien, Gemeinden etc. und die Studenten nehmen unter der Leitung der Professoren an dieser Arbeit teil. Unabhängig vom systematischen Studium enthält der Lehrplan jährlich einen vollen Monat, der solchen Praktika gewidmet ist. Auf diese Weise haben die Studenten beim Erhalt ihres Diploms bereits fünf Monate Berufserfahrung in verschiedenen Arbeitsbereichen gesammelt. Das letzte Studienjahr sieht ein volles Semester für die Abfassung der Diplomarbeit vor. Normalerweise besteht diese in einer Arbeit mit einem Forschungsexperiment. In den letzten Jahren ist jedoch versucht worden, die Abschlußarbeiten stärker an der Berufspraxis zu orientieren, und zwar u.a. durch Ausbildungsprogramme, handlungsorientierte Forschungsprojekte und die Erarbeitung eigener Erfahrungen mit Veränderungsprozessen. Wir werden häufig gefragt, im Rahmen welcher theoretischen Schule wir Psychologen in Kuba arbeiten. Die Tatsache, daß wir uns am Marxismus orientieren, hat manchmal zu Verwirrung geführt: Einige denken, daß wir Reflexologen sind; andere behaupten, daß Marx sich nicht mit dem Problem der Subjektivität befaßt habe und daß es aus diesem Grunde keine marxistische Psychologie geben könne, und schließlich glauben viele, daß wir alle dasselbe denken. 2 Wie in anderen Ländern auch, bestehen in Kuba ebanfalls verschiedene psychologische Tendenzen und Strömungen. Was ist also mit der Zugehörigkeit zu einer marxistischen Richtung gemeint? 2

Selbstverständlich müßte die Frage gestellt werden, welche Verantwortung wir selbst bei der Entstehung dieser Mißverständnisse haben. Diese Analyse würde jedoch ein eigenes Kapitel erforderlich machen.

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Marx hat nie vorgehabt, eine psychologische Theorie zu entwickeln, noch eine Analyse der Subjektivität zu liefern. Der Marxismus bietet der Psychologie, wie auch anderen Fächern, eine Methode der Erkenntnis. Diese Methode liefert materialistische und dialektische Auffassungen, die zu einer Interpretation der Probleme des Menschen und der Gesellschaft führen. So wie der Bourgeois von Molière, ohne es zu wissen, in Prosa sprach, gibt es psychologische Texte, die das Wort »Marxismus« zwar nicht benutzen, jedoch ein Beispiel für die Anwendung der dialektisch materialistischen Denkweise darstellen. Leider schließt dies nicht aus, daß andere Handbücher das genaue Gegenteil tun, d.h. daß sie zwar ständig das Wort »Marxismus« anführen, tatsächlich aber eine Ode an den Idealismus und die Metaphysik formulieren. Marxist zu sein heißt nicht, über ein Patentrezept oder ein Namensschild zu verfügen, sondern es bedeutet, in einer bestimmten Weise kohärent zu denken und zu handeln. Wenn wir dies auf die Psychologie anwenden, ergibt sich, daß marxistisch orientierte Psychologen verschiedene psychologische Strömungen untersuchen. Die Wissenschaft entsteht in einem historischen Konstruktionsprozeß, und im Falle der Psychologie bestehen noch viele erkenntnistheoretische Lücken. Meines Erachtens kann keine bestehende psychologische Theorie alle Fragestellungen endgültig beantworten, und das ist gut so. Es ist eine Bedingung des Lernprozesses, Ungewißheit als Bestandteil der unendlichen Suche nach Wissen zu akzeptieren; dies muß weder zum Eklektizismus noch zum Agnostizismus führen. Es ist eher so, daß die Akzeptanz einer in sich geschlossenen Wahrheit in eine Sackgasse führt, weil jede unbewegliche Wahrheit eine lähmende Wirkung hat (Batista/Bauleo 1989). Ausgehend von dieser Position sucht die Psychologie in Kuba ständig nach Verbindungswegen zu verschiedenen theoretischen und methodischen Strömungen. Dies ist seit unseren Anfängen in den sechziger Jahren so gewesen. In jenen Jahren waren unsere Beziehungen zu Lateinamerika blockiert. Dank der »de facto Maßnahmen« der Regierung der Vereinigten Staaten mußte man, wenn man von Lateinamerika aus nach Kuba reisen wollte, immer den Weg über Europa nehmen, das eine Brücke zu uns bildete; die einzige Ausnahme war Mexiko. Dies hat den Austausch mit lateinamerikanischen Psychologen sehr erschwert. Der Kontakt mit einigen argentinischen Psychologen wie Pavlovsky und Bauleo hat jedoch die ersten Nachrichten über das Denken von Pichon Rivière zu uns gebracht, der für die Ausbildung von einigen von uns sehr wichtig gewesen ist. Häufiger und systematischer waren die Besuche westeuropäischer Psychologen wie u.a. René und Bianka Zazzo, Fraisse, Greco, Nuttin und Pages. Die siebziger Jahre waren durch einen engen Kontakt mit sowjetischen Psychologen geprägt, u.a. mit Luria, Leontiev, Galperin, Lomov und deutschen Wissenschaftlern wie Klix, Rotte, Schaardsmidt.

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Monica Soritt

Die Veränderungen der internationalen Lage, die Rolle Kubas auf der Weltbühne und die eigene Entwicklung der Psychologie in unserem Land haben dazu geführt, daß Anfang der achtziger Jahre unser Kontakt mit der Welt wuchs und vielfältiger wurde. So haben Psychologen aus Kuba an Veranstaltungen und Konferenzen in vielen Ländern teilgenommen und im Ausland gelehrt, insbesondere in Lateinamerika und Europa. Außerdem hat Kuba eine Reihe von wichtigen Kongressen ausgerichtet, die einen breiten beruflichen und menschlichen Austausch ermöglicht haben: - Am mexikanisch-kubanischen Psychologiekongreß von 1983 haben 50 mexikanische Experten teilgenommen; - am argentinisch-kubanischen Psychologiekongreß von 1986 haben 125 argentinische Psychologen teilgenommen; - am XXII. Interamerikanischen Psychologiekongreß von 1987 haben 1.500 Kollegen aus Amerika und Europa teilgenommen; - am I., II. und III. Kongreß für marxistische Psychologie und Psychoanalyse in den Jahren 1986, 1987 und 1989 haben hunderte von Berufstätigen aus Lateinamerika und Europa teilgenommen; - am Iberoamerikanischen Psychologiekongreß von 1990 haben 160 Psychologen aus Amerika und Europa teilgenommen. Diese Veranstaltungen haben bei allen Beteiligten zweifellos zu neuen Ansätzen geführt und mit Stereotypen und Vorurteilen über das »Bild des Anderen« gebrochen. Unsere berufliche Arbeit, unsere Tätigkeit in der Forschung und Lehre ist durch diesen Austausch gestärkt worden.

2. Theoretisch-methodische Begründung für die Untersuchung und damit verbundener Eingriffe in die Gemeinde Unter Gemeinde verstehen wir eine soziale, territorial abgegrenzte Einheit, deren Mitglieder gemeinsame Interessen und Alltagsprobleme haben sowie einen bestimmten, allgemein geteilten Bewußtseinsgrad, und die Bestandteil größerer gesellschaftlicher Einheiten sind und somit unter vielfältigen, gesellschaftlichen Bestimmungen stehen. 3 Die Gruppenpsychologie, und in einer allgemeineren Form die Arbeit des Psychologen in der Gemeinde, stehen im engen Zusammenhang mit dem Begriff des Psychologen als Träger des sozialen Wandels. 3

In diesem Epigraph stelle ich meine gegenwärtigen theoretisch-methodologischen Kriterien vor. Das bedeutet nicht, daß die konkreten Vorhaben, die in diesem Artikel geschildert werden, ausschließlich entsprechend diesen Ansätzen entwickelt worden sind. Ich habe jedoch diejenigen ausgewählt, die mit diesem theoretisch-methodologischen Ansatz übereinstimmen und die mich zu meiner aktuellen Einstellung geführt haben.

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Pichón Rivière (1988) hat gesagt, daß dem Sozialpsychologen die Funktion eines Kritiker des Alltagslebens zukommt. Kritik wird hier als objektive Analyse und veränderndes Handeln verstanden. Wir denken, daß jeder Psychologe, der im Gemeindezusammenhang arbeitet, unabhängig von seiner fachlichen Spezialisierung, sich als Kritiker des Alltagslebens verstehen muß. Dieser Ansatz beinhaltet das Verständnis von psychologischer Arbeit als aktive Förderung der Gesundheit und des Lernens. Förderung, Gesundheit und Lernen bilden hier also die drei Schlüsselbegriffe. Der Begriff der Förderung darf weder mit Hilfeleistung noch mit Vorbeugung verwechselt werden, weil er sie zwar einschließt, sie jedoch gleichzeitig in der Form einer dialektischen Negation überwindet. Die psychologische Hilfeleistung kreist um die Heilung von Krankheiten, die bereits aufgetreten sind. Die Vorbeugung zielt darauf ab, das Auftreten von Krankheitsrisiken zu verhindern (primäre Prävention) bzw. zu verzögern oder deren Entwicklung zu kontrollieren (sekundäre Prävention). Gemäß Martin, Chacón und Martínez ist es jedoch nicht dasselbe, weniger krank als gesund zu sein. Die Förderung schafft Gesundheit. Die Vorbeugung setzt eher Erhaltung als Entwicklung voraus. Die Vorbeugung umfaßt zwar die Partizipation der Gemeinde, die wesentlichen Handlungen werden jedoch vom Fachpersonal getragen. Die Förderung geht darüberhinaus und schließt eine Strategie für den Wandel ein. Die Gesundheitsförderung beinhaltet: die Konzentration auf die aktive Suche nach einem gesunden Zustand und nicht auf die Prävention der Erkrankung; sie umfaßt die gesamte Bevölkerung und nicht nur gefährdete Personen; sie arbeitet mit der konkreten Partizipation der Bevölkerung, sowohl hinsichtlich der Problemdefinition als auch der Entscheidungsfindung und der Ausführung der konkreten Aktionen. Sie schafft Veränderungen im Lebensstil; sie stellt unmittelbare Beziehungen zu den materiellen und sozialen Lebensbedingungen her. Die Gesundheitsförderung verbindet also verschiedene Aktivitäten miteinander und erfordert den Einsatz aller Gemeindeinstitutionen: der Ausbildungsstätten und der kulturellen, politischen und produktiven Institutionen, um nur einige zu nennen. In wenigen Worten: Die Gesundheitsförderung im Gemeinderahmen setzt einen ganzheitlichen Wandel voraus. Dies schafft Erwartungen und daher auch unvermeidliche Frustrationen, Ängste und Verunsicherungen, Infragestellungen, Beeinträchtigungen von Interessenslagen und neue Auffassungen über das Wissen und die Macht. All dies muß vorhergesehen und technisch bewältigt werden. Wir haben jedoch von Gesundheit gesprochen, ohne sie näher bestimmt zu haben. Verschiedene Autoren haben in den letzten Jahren festgestellt, daß der Begriff der Gesundheit folgende Elemente enthält, auf die sich auch die offizielle Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezieht:

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Monica Sonn

Gesundheit ist nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit, sondern die volle Fähigkeit zur individuellen und gesellschaftlichen Selbstverwirklichung. Gesundheit ist ein dynamischer und sich verändernder Begriff, der von den historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängig ist. Gesundheitsförderung ist eine interdisziplinäre Aufgabe. Gesundheit ist ein gesellschaftliches und ein politisches Problem.

Dies ist alles zutreffend und wir stimmen damit überein. Aber in vielen Ländern mangelt es noch an vielem, um diese abstrakten (und zutreffenden) Ideen in die Praxis umzusetzen. Wir werden an dieser Stelle nicht näher auf die objektiven Schwierigkeiten eingehen (Armut und Elend, Unterentwicklung, Analphabetismus), weil diese trotz ihres entscheidenden und bestimmenden Gewichtes weniger von der Psychologie als von der Politik abhängen. Selbstverständlich sind wir alle politische Wesen, aber bei der Veränderung der objektiven materiellen Lebensbedingungen spielen die Berufspolitiker eine unmittelbare Rolle (oder sie sollten es tun), während die Psychologen nur eine indirekte Funktion haben. Dies nimmt der psychologischen Arbeit nichts von ihrer Bedeutung, da die subjektiven Faktoren zweifellos jedes objektive Veränderungsvorhaben beeinflussen, es aktivieren und bereichern oder es lähmen und blokkieren. Aus diesem Grund braucht die Politik die Psychologie und deswegen muß sich der Psychologe bewußt sein, welchem politischen Projekt er sich verschreibt. Wir konzentrieren uns auf einige subjektive Schwierigkeiten, die beim praktischen und alltäglichen Umgang auftreten. Trotz der erwähnten Definitionen sind bei vielen Gesundheitsbehörden und -Verwaltungen und vielen ihrer Angestellten weiterhin Stereotypen und Vorurteile vorzufinden, die sich in verschiedenen »Ismen« ausdrücken, die miteinander in enger Beziehung stehen. Der erste ist der »Medikaiismus«, der Medizin als Hilfeleistung versteht und von einer Dichotomie zwischen Krankheit und Gesundheit ausgeht. Der Vertreter des Gesundheitswesens versteht sich als den Verwalter der Gesundheit und den Patienten oder die Bevölkerung als das Reservoir der Krankheit. In Kuba sind die objektiven Erfolge des öffentlichen Gesundheitswesens im Vergleich mit jedem lateinamerikanischen Land bemerkenswert. Dennoch sind die bestehenden Gesundheitsprobleme noch lange nicht überwunden. Als Beispiel und als Anregung zum Nachdenken sollen zwei kürzlich gemachte Erfahrungen zitiert werden: - In einer Diskussionsgruppe von Angestellten des Gesundheitswesens stellt ein Teilnehmer fest: »Ich bin hierher gekommen, um Behandlungstechniken für meine Patienten zu lernen. Es besteht kein Grund, hier über meine Probleme zu sprechen. Ich bin doch kein Patient.«

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Eine ökologisch orientierte Geographin schlägt einer Gruppe von Fachleuten aus dem Gesundheitswesen vor, die Bezirkskarten der Stadt nach Gesundheitsmerkmalen auszuwerten. Sie antworten darauf, daß dies nicht notwendig sei, da die medizinischen Dienstleistungen (Polikliniken, Krankenhäuser, Familienärzte) in allen Bezirken dieselben sind. Von daher müßten auch die Gesundheitsmerkmalen der verschiedenen Stadtsgemeinden einander sehr ähneln. Diese Antwort zeigt, daß von den ökonomischen, sozialpsychologischen und ökologischen Faktoren abstrahiert worden ist, die jeden Bezirk prägen.

Der Medikaiismus drückt sich häufig auch in Form eines »Technokratismus« aus (je mehr hochentwickelte und spezialisierte Apparate, desto mehr Gesundheit), eines »Veterinarismus« (das Verhältnis zwischen Arzt und Patient entspricht dem Verhältnis zwischen Tierarzt und Hund - mit Verlaub der Tierärzte) und eines »Organizismus« (nicht die Person wird behandelt, sondern ein Organ: die Leber, das Herz, etc.). Dies kann dazu führen, daß der Patient selbst oder die Familienangehörigen sich vom Personal begeisterte und leidenschaftliche Debatten über den organischen Grund des angegriffenen Gesundheitszustandes anhören muß bzw. müssen. Dabei bleibt oft unberücksichtigt, ob der Patient im Sterben liegt und daß er in jedem Fall leidet und Angst hat. Auffassungen wie diese treten in vielen Varianten und Ausdrucksformen auf, sie können die Arbeit der Gemeinde ernsthaft belasten und ihr deutlich den Aspekt einer Hilfeleistung geben, sodaß aus einer scheinbar präventiven eine kontraproduktive Arbeit entstehen kann. Der Ausdruck »kontraproduktiv« beinhaltet an sich keine ethische Bewertung: Viele »Ismen« wirken unabhängig vom Willen und dem Bewußtsein ihrer Träger, die ihrerseits den übernommenen Stereotypen zum Opfer fallen. Die Reflektionsarbeit innerhalb der Gemeindegruppe selbst ist daher ein Hilfsmittel ersten Ranges, denn um aktiv Veränderungen herbeiführen zu können, muß man sich selbst ändern; um Träger des Wandels zu sein, muß man die inneren Widerstände gegen den Wandel überwinden. In der Gesundheitsförderung treten auch andere »Ismen« auf, die sich von den bereits erwähnten unterscheiden: Der Psychologismus und der Voluntarismus. Die Verabsolutierung der Bedeutung der subjektiven Faktoren führt zu Projekten und Erwartungen, die jenseits dessen liegen, was uns die objektive Wirklichkeit »sagt«. So wird die Vorstellung einer messianischen Allmacht geschaffen, die langfristig lähmend wirkt, weil sie zu nichts führt. Es ist nicht leicht, die Schnittstelle dieser entgegengesetzten Pole zu finden, da wir dazu tendieren, sie zu dichotomisieren. Wir haben z.B. lateinamerikanische Experten kennengelernt, die ihre Gemeindearbeit mit wirklicher Hingabe leisten und die wirklich glauben, daß ihre Gemeinde wachsen wird, unabhängig von der Um-

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weit, von deren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bestimmungen sie jedoch abhängig ist. Andere sind im Gegensatz dazu der Meinung, daß »es nicht die Mühe wert ist, sich abzunutzen«, da doch nichts in der Gemeinde erreicht werden könne, solange sich die größeren Zusammenhänge nicht ändern. In der Gemeindearbeit kann das Team eine Diskussion über dieses Thema nicht umgehen: Wir müssen unsere Möglichkeiten und Grenzen in jeder konkreten Situation entdecken. Wir müssen unsere Utopie entwickeln, ohne daß diese uns paradoxerweise die Flügel stutzt. Die Utopie kann die Gesundheit fördern, solange sie mit der Vernunft verbunden ist. Träume sind nicht notwendigerweise irrational. Warum sollten sich die Leidenschaft und die Reflektion gegenseitig ausschließen? Gesundheitsförderung heißt auch genau das zu fördern. Dies führt uns zum Thema des Lernens. Pichón Rivière definiert das Lernen als »instrumenteil kognitive Aneignung der Realität, mit dem Ziel, sie zu verändern«. Das heißt, Lernen hat einen aktiven und verändernden Charakter. In der Gemeindearbeit bewegt sich der Lernprozeß auf mindestens zwei Ebenen: auf der der Gemeindemitglieder und auf der des Fachteams, das in der Gemeinde arbeitet. In diesem Zusammenhang soll auf Aspekte hingewiesen werden, die für beide Bereiche wertvoll sind: - Lernen bedeutet die Überwindung von Hindernissen. Im Prozeß des Wissenserwerbs müssen wir laut Bachelard zwei Arten von Hindernissen überwinden: epistemologische Hindernisse, die aus den Schwierigkeiten resultieren, die dem Wesen des Wissensobjektes selbst entspringen, und epistemophylische Hindernisse, die mit den Konflikten zusammenhängen, die das kognitive Subjekt als Bestandteil des Lernprozesses durchlaufen muß. - Lernen führt zu Verunsicherung; ohne Verunsicherung gibt es jedoch keinen wirklichen Lernprozeß. Dies trifft insbesondere auf Lernprozesse zu, in denen wir über uns selbst lernen (dies ist der Fall bei der Gruppenarbeit). Jedes Individuum und jede soziale Gruppe hat die Vorstellung, ohne »Kosten« lernen zu können, ohne Leidenserfahrungen. Die Problematisierung des scheinbar Selbstverständlichen und Indiskutablen erzeugt Angst und bedroht die Identität selbst. Je tiefer wir uns selbst befragen, den Anderen und das uns Gemeinsame, desto mehr Affekte und Verunsicherungen fließen in den Lernprozeß ein. So entsteht Widerstand gegenüber dem Wandel, der sich in vielen Formen ausdrücken kann. Vor einiger Zeit sagte eine Schülerin in einer Gruppe, die diesen Widerstand in extremer Form mobilisierte: »Ich bin nicht hierher gekommen, um mich zu ändern ... ich bin gekommen, um zu lernen«. Interessante Vorstellung: zu lernen, ohne sich dabei zu verändern. (Im Gegensatz dazu kann man sich verändern, ohne dabei zu lernen: wenn ein Wandel stattfindet, der nichts ändert). Lernen bedeutet,

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das Neue zu akzeptieren. Das Neue verdrängt das Alte (das Bekannte, das ich als mir zugehörig empfinde und das mir Sicherheit gibt). Die Bearbeitung der Verunsicherung, die das Verlassen des »Alten« (des Bekannten) hervorruft, und des Einbruchs des Neuen (Unbekannten) ist einer der komplexesten Aspekte des Lernprozesses. Dabei kann es dazu kommen, daß unbewußt Verteidigungsstrategien eingesetzt werden, die den Lernprozeß blockieren können, obwohl sie die Illusion der »Beruhigung« hervorrufen. Zwei häufig auftretende Strategien sind: 1. Die Verabsolutierung des Neuen oder des Alten. Im ersten Fall wird das Neue in undifferenzierter Weise übernommen, ohne Analyse und ohne es in das bereits Bekannte zu integrieren. So wird von Mode auf Mode übergegangen, ohne das eigene Wissen zu konsolidieren und ohne Wurzeln auszubilden, die als Grundlage für dieses Wissen dienen könnten. Es entsteht kein historisches Gedächtnis und deswegen kann auch kein Zukunftsprojekt entwickelt werden. Im zweiten Fall wird alles Neue abgelehnt und das Bekannte verwandelt sich in die einzige Wahrheit und versteinert damit. Das Gedächtnis verwandelt sich in einen lähmenden Faktor, weil es in unbeweglichen Punkten verankert ist. Paradoxerweise können beide Strategien für verschiedene Wissensobjekte oder für verschiedene Aspekte der Realität verwendet werden. In keinem der beiden Fälle findet jedoch ein Lernprozeß statt. Diese Widerstandsformen gegenüber dem Wandel finden sowohl auf der Ebene des Individuums statt, als auch auf der Ebene sozialer Gruppen. 2. Die Verabsolutierung der affektiven oder der rationalen Dimension. Im ersten Fall verhindert die affektive Dimension (Wünsche, Phantasien, Ängste, Verunsicherungen), das Nachdenken des Subjekts führt so zu undifferenzierten Verhaltensweisen. Im zweiten Fall wird alles intellektualisiert und dem Gefühlserleben kein Raum gelassen: Das Erlernte ist kalt und formalisiert, »es hat nichts mit mir zu tun« und mobilisiert deswegen auch nichts. Das Erlernte ist nicht so sehr Wissen als eine aus Büchern erworbene Information, die weder die Verhältnisse noch mich selbst verändert. Die Einheit von Denken und Fühlen ist jedoch unerläßlich für den Lernprozeß. Es ist schwer, diese Tendenz zur Dichotomie aufzubrechen. Wie eine Schülerin sagte: »Ich habe mich daran gewöhnt, daß alles in das ewig Gute und das ewig Schlechte eingeteilt wird.« Es ist daher unerläßlich, darüber nachzudenken, inwieweit Metaphysik und undialektisches Denken unsere Lernformen geprägt haben. Wie schwer fällt es uns, in kohärenter Form das Wesen der Dialektik zu begreifen, wie Lenin es definiert hat: die Dialektik als lebendes, vielseitiges Wissen, das über eine unendliche Zahl von Schattierungen und sukzessiven Annäherungen an die Wirklichkeit verfügt. Der Idealismus, sagte Lenin, kann

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nur seitens eines rauhen und vulgären Materialismus als Dummheit bezeichnet werden. Für den dialektischen Materialismus ist das Wesen des Idealismus die einseitige, versteinerte, verabsolutierte Entwicklung einer der vielfältigen Phasen eines Problems (Lenin 1964). Das metaphysische Denken, das den historischen Moment verewigt und das Besondere verallgemeinert, führt dazu, Widersprüche und Konflikte als Anomalie und nicht als Ausdruck einer Bewegung der Wirklichkeit zu behandeln. Kürzlich geschah in einer Gruppe von Jugendlichen, die das Thema der Liebe diskutierte folgendes. Beim Weggehen sagte eine Jugendliche zu mir: »Dieser Junge hat Persönlichkeitsprobleme.« Diese Aussage verdeutlichte, daß sie das Andere nicht in positiven Begriffen denken konnte; sie konnte sich keine Einheit in der Vielfalt vorstellen. Für sie war das Eine das Einzige, ihre Welt die Welt und das Andere das Pathologische. Die Gruppenarbeit erfordert wie jede Arbeit, die von Lernprozessen und sozialen Veränderungen ausgeht, die Akzeptanz von Vielfalt in der Wirklichkeit und deswegen auch Vielfalt in unserem Denken. Wenn wir als Psychologen eine Gemeinde betrachten, sind wir nicht die Träger der Wahrheit. Wir unterstützen und fördern neue Produktionen von Sinn, von Fragestellungen, von spontanem und kreativem Denken, von kollektiven Konstruktionen. Dies führt uns unmittelbar zur Rolle der Gruppe im Lernprozeß. Die Gruppe im Lernprozeß Jedes Subjekt organisiert seine Wissensform im Rahmen dessen, was Pichon Rivière Muster oder inneres Lernmodell nennt. Dieses Lernmuster beinhaltet Begriffe, Affekte und Aktionsschemata, die sozial konditioniert sind. In ihm sind das gesamte Lernpotential und dessen Hindernisse zusammengefaßt. Wir sprechen von Lernprozessen in einem umfassenden Sinne, der die allgemeine Logik des Denkens umschließt, die Erfahrungen, die das Nachdenken weckt und die Beziehung des Subjekts zu den anderen Denkenden. Wenn in einer Familie alles Wissen bei den Eltern liegt und alle Unwissenheit in den Kindern, werden diese ein Lernmuster entwickeln, das sich von demjenigen sehr unterscheiden wird, das in einer Familie entsteht, in der jeder Raum für seine Worte findet, für seine Zweifel und Erfahrungen. Die Inhalte und Stile, die die Kommunikation charakterisieren, stehen in direkter Beziehung zum Lernprozeß. Das Lernmodell entsteht in der Beziehung mit den Anderen, und zwar sowohl auf der makro- als auch auf der mikrosozialen Ebene: Die sozialen Beziehungen drücken sich in den Medien aus, in den Institutionen (Arbeit, Kultur, Familie) und bedingen ein aktives oder passives, rigides oder flexibles, kreatives oder stereotypes, autoritäres oder partizipatorisches Lernmodell. Deswegen können wir sagen, daß das Lernmuster ebenso wie dessen eventu-

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eile Veränderung auf vielfältige Weise gesellschaftlich bestimmt ist. Aus diesem Grunde ist die Gruppenarbeit unerläßlich für jede Gemeindeuntersuchung oder -arbeit. Ein Gruppeninterview hat beispielsweise einen qualitativ anderen diagnostischen Wert als jedes individuelle Diagnoseverfahren, weil durch die Interviewdynamik das innere Lemmodell »sichtbar« wird, daß in dieser Gruppe entsteht: wie Affekt und Reflexion miteinander in Beziehung treten, ob es einen »erzieherischen Zwang« gibt oder ob Ungewißheit und Fehler als Teil des Suchprozesses zugelassen werden. Ob der Zeitrhythmus und der Stil des Anderen respektiert werden, ob autoritäre Beziehungen hergestellt werden (in denen einige das Wissen und andere die Unwissenheit repräsentieren) oder ob ein freier Austausch zustandekommt. In der Phase der Gemeindeintervention ist die Gruppenarbeit gleichermaßen unerläßlich, weil niemand allein lernen kann. Jeder Lernprozeß braucht äußere Gesprächspartner, die sich schrittweise in innere Partner verwandeln (die verinnerlichten Anderen, die innere Gruppe). Diese stehen ihrerseits in neuen aktiven Kontakten mit anderen äußeren Gesprächspartnern. Diese konstante Lernspirale ist immer ein Gruppenprozeß (diese These leugnet nicht etwa, sondern bestätigt den notwendigen Verarbeitungsprozeß, den jedes Subjekt während des Lernprozesses leisten muß). Die Beherrschung von Gruppentheorien und -techniken ist demzufolge für die Gemeindearbeit grundlegend. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß Arbeit in der Gruppe nicht mit Arbeit der Gruppe gleichzusetzen ist. Im ersten Fall wird mit den Subjekten in einem kollektiven Umfeld gearbeitet. Bauleo (1990) sagt dazu karikierend: Jeder steht an, um sich zu äußern; im zweiten Fall ist jedoch die Gruppe das Subjekt der Erfahrung. Dies gilt ebenso für das Forschungsteam, da nur eine Arbeit der Gruppe es ermöglicht, schrittweise ein gruppales Bezugsschema zu entwickeln, das zu einem kohärenten und wirksamen Ansatz führt. Leicht gesagt ... Die Identität: ein weiterer Schlüsselbegriff Der Sinn der Identität der Subjekte steht in engem Zusammenhang mit den Aspekten, die bis jetzt angesprochen worden sind. Die Identität beantwortet mehrere Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? In der Identität fließt die gegenwärtige Interaktion, die Vergangenheit und die Zukunft zusammen, das heißt die eigene Geschichte und ihre Projekte. Die Identität des Subjekts nährt und entwickelt sich in der Dialektik zweier Pole: Individualität und Gruppenzugehörigkeit. In der Individualität - die nicht mit Individualismus verwechselt werden darf - drückt sich die gesamte Person aus, als einzigartiges und unwiederholbares Subjekt. In der Gruppenzugehörigkeit fließen die vielfältigen, gleichzeitigen und sukzessiven Wurzeln zusammen, die

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aus der Zugehörigkeit des Individuums zu einer Familie, zu einer Paarbeziehung, zu einem Freundeskreis, einem Stadtviertel, einem Land, einem politischen Prozeß entstehen. Ein Subjekt, das in einem dieser Pole angesiedelt ist, wäre entweder völlig entwurzelt: ein Ich, das Anderen weder Raum gibt noch für sich selbst beansprucht, oder, im anderen Extrem: ein völlig entpersonalisiertes Ich, das von den anderen verschlungen worden ist und das sich hat verschlingen lassen. Die Individualität kann ihr gesamtes Potential durch vielfältige und gesunde Gruppenzugehörigkeiten entwickeln (Gruppenzugehörigkeiten werden als gesund bezeichnet, wenn sie der Individualität von jedem Mitglied Raum lassen). Die Gruppenzugehörigkeit entwickelt sich in ihrem gesamten Potential durch die vielfältigen und gesunden Individualitäten (Individualitäten werden als gesund bezeichnet, wenn sie über partizipatorische Räume für die Gruppenzugehörigkeiten verfügen). Diese Definitionen sehen wie ein Wortspiel aus, sind jedoch mehr als das. In der Gruppenarbeit drückt sich die Identität der Gruppenmitglieder durch die Partizipation ihrer Individualitäten aus; die Partizipation entsteht aus dem Zugehörigkeitsgefühl und aus der Zusammenarbeit in der Gruppe. Das Zugehörigkeitsgefühl ist ermittelbar aus dem Grad an Verantwortung gegenüber der Gruppe; die Zusammenarbeit aus der Effektivität, mit der die gemeinsamen Aufgaben kollektiv bewältigt werden. Die Aufgabe der Gemeinde- oder Gruppenarbeit ist also die Schaffung oder Öffnung von Freiräumen für die Individualität und die Gruppenzugehörigkeit. An dieser Stelle wird die Bedeutung der Gruppenarbeit erneut deutlich, da es schwerfällt, sich eine harmonische Entwicklung von Individualität und Zugehörigkeit außerhalb von Gruppen vorzustellen. Das Alltagsleben und seine Sphären Gesundheit, Lernen, Identität: Sie wachsen oder verkümmern im konkreten Umfeld unseres Alltagslebens. Deswegen ist es von wesentlicher Bedeutung, diese Schlüsselbegriffe im Rahmen des Alltagslebens zu untersuchen. Diagnose und Eingriffe in eine Gemeinde setzen notwendigerweise die Berücksichtigung der Begriffe Gesundheit, Lernen und Identität voraus. Dies kann nur im konkreten Kontext des Alltagslebens geschehen. Wir haben vom Sozialpsychologen als Kritiker des Alltagslebens gesprochen. Dies sollte im Sinne einer objektiven Analyse der menschlichen Bedürfnisse innerhalb konkreter wirtschaftlicher und sozialer Strukturen geschehen. Aufgrund der historischen Konnotation des Wortes »Objektivität«, das fälschlicherweise mit »Neutralität« verwechselt wird, muß an dieser Stelle angemerkt werden, daß wir den Sozialpsychologen als einen objektiven und en-

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gagierten Kritiker des Alltagslebens verstehen. Wir wissen, wie umstritten das Binom Objektivität-Engagement ist. Für manche Sozialwissenschaftler verdirbt sich die Objektivität durch alles, was nach Engagement »riecht«. Manche glauben tatsächlich an das »Nicht-Engagement«. Ist es möglich, die Gesellschaft ohne Engagement zu untersuchen, wenn die Opulenz und das Elend, der Konsum und der Hunger, der Überfluß und der Mangel in der Welt auf so grausame Weise miteinander ringen? Wir glauben, daß dies nicht möglich ist: der Versuch, dem Engagement zu entsagen, ist bereits ein Engagement für den Status Quo. Andere nehmen die entgegengesetzte Position ein. Eine Wissenschaftlerin sagte in einer Diskussion: »Ja, ich bin Sozialwissenschaßlerin, aber über allem anderen steht mein politisches Engagement.« In ihren Augen kann das politische Engagement die Leugnung der Wahrheit im Namen der politischen Loyalität legitimieren. Eigenartiges Verständnis von politischer Loyalität durch die Lüge. Für uns bedeutet das Engagement des Sozialwissenschaftlers die objektive Enthüllung der Wirklichkeit, weil nur das erfolgreich verändert werden kann, was man gut kennt. Blind verändern zu wollen hieße, die Notwendigkeit des Wissens zu verleugnen. Theorie und Praxis zu trennen, indem eins von beiden verabsolutiert wird, führt nur in eine Sackgasse. Engagement kann also weder auf die Theorie noch auf die Praxis verzichten. Das Engagement kann auch die Objektivität eintrüben, weil sich Affekte und Nachdenken, Wünsche und Realitäten vermischen. Dies ist zwar wahr, dies trifft jedoch auf jede Wissenschaft zu, da auch in der scheinbar »nüchternsten« Wissenschaft die Motive des Forschers präsent sind, als Ansporn aber auch als Schranke. Stärker trifft es jedoch auf jene Wissenschaften zu, die den Menschen und die Gesellschaft zum Gegenstand haben. Hier muß es darum gehen, die technischen Verfahren zu verbessern und diejenigen epistemologischen Hindernisse in die wissenschaftliche Analyse zu integrieren, die das Studium des Subjekts und der Gesellschaft durch das Subjekt und die Gesellschaft beinhalten. Wir haben gesagt, daß die Diagnose und die Veränderung des Alltagslebens die zentrale Aufgabe der Gruppenarbeit in der Gemeinde darstellen. Die untersuchte Literatur zum Thema stellt drei Sphären des Alltagslebens fest: Arbeit, Familie und Freizeit, die im folgenden kurz zusammengefaßt dargestellt werden. Die berufliche Leistungsfähigkeit hängt in großem Maße von der Professionalität ab, mit der die gestellten Aufgaben bewältigt werden. Bei Professionalität wird meist nur an akademische Berufe und nur an die technische Seite der Angelegenheit gedacht. Es ist jedoch notwendig, diesen Begriff auf ein weiteres Feld anzuwenden: Jeder Mensch, der einer Arbeit nachgeht, sei es als Architekt oder als Straßenkehrer, Lehrer oder Schlosser, übt diese Arbeit mit einem bestimmten Grad an Professionalität aus, der sich in der technischen Vollendung und in der moralischen Kohärenz ausdrückt, mit der sie ausgeführt wird.

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Eine wichtige psychologische Auswirkung der Arbeit bezieht sich auf die Identität. Durch die Arbeit baut der Mensch eine Beziehung zur Außenwelt auf und nimmt sie in Besitz, indem er sie verändert. Die Welt, die mich umgibt, ist meine Welt, wenn ich die Ergebnisse meiner Arbeit, meiner Kreativität in ihr wiedererkenne. Gleichermaßen gibt uns die Welt, in der wir arbeiten, ein Bild von uns selbst zurück, da sie uns mitteilt, ob wir fähig sind oder unfähig, kreativ oder stereotyp, produktiv oder passiv. Die Organisationsform der Arbeitsaufgaben und das Bestehen oder das Fehlen einer Arbeitskultur, einer Kultur der Disziplin und der Leistungsfähigkeit, sind wesentliche Ausdrucksformen unseres Alltagslebens und wirken sich ihrerseits auf dieses aus, indem sie andere Bereiche konditionieren, wie z.B. das Familienleben und die Freizeit. Die Form, in der im Alltagsleben die Beziehung zwischen dem Individuum, der Familie und der Gesellschaft strukturiert ist, ist lebenswichtig. Jede sozioökonomische Formation organisiert den Sozialisierungsprozeß (den sozialpsychologischen Lernprozeß) entsprechend den typischen sozialen Beziehungen mit dem Ziel, Subjekte zu fördern, die diese Beziehungen reproduzieren und entwickeln können. In diesem Prozeß hat die Familie eine grundlegende Funktion, weil die Gesellschaft durch sie das Individuum »gestaltet«, und zwar von dessen Geburt an. Wenn die lateinamerikanischen konservativen Nationalisten behaupten, daß »die Rettung der Familie der Rettung des Vaterlandes gleichkommt«, wissen sie sehr gut, was sie da sagen. Der Unterschied besteht darin, welche Art von Vaterland und welche Art von Familie sie wollen. Die Familie ist der wichtigste Ort, an dem die sozialen Beziehungen und ihre psychologischen Folgewirkungen reproduziert werden: autoritäre oder demokratische Subjekte werden hier gebildet, selbstsichere oder unsichere Subjekte, Subjekte mit oder ohne Ideale. Eine andere Sphäre des Alltasglebens ist die Freizeit. Auch die Freizeit bedingt die Sozialisierung des Subjektes: Eine Gesellschaft, die passive, konsumorientierte oder massenbezogene Formen der Freizeitgestaltung fördert, wird andere Auswirkungen haben als eine Gesellschaft, in der die Freizeit so organisiert ist, daß sie der sozialen Partizipation, der Eigeninitiative, spirituell bereichernden Aktivitäten, der Anwendung der Intelligenz und dem Ausdruck Gefühle Raum gibt. Die »Freizeit« steht in enger Beziehung mit der »besetzten Zeit«. Deswegen drängt sich der Bezug zur Zeit im allgemeinen auf. Die pragmatisch denkenden Nordamerikaner behaupten: »time is money«. Die gut verwendete Zeit ist viel mehr als das: Sie ist spirituelle und materielle Entwicklung, sie ist Gesundheit und Freude. Sie ist Leben, unser Leben, das uns nur ein einziges Mal gegeben ist. Die Zeit, die ein Individuum verliert oder schlecht verwendet, ist unwiderruflich vergangen. Die Zeit, die eine gesellschaftliche Organisation oder die ge-

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samte Gesellschaft verlieren, ist nicht rückholbar, und zwar aus verschiedenen Gründen: Die verlorene Zeit reproduziert Unterentwicklung »innerhalb« und »außerhalb« der Menschen. Im Beziehungsgeflecht zwischen den drei untersuchten Sphären des Alltagslebens - und innerhalb einer jeden - entstehen Konflikte und Widersprüche; dies ist natürlich. Es ist jedoch notwendig zu analysieren, unter welchen Umständen diese Konflikte und Widersprüche zur Entwicklung beitragen bzw. dazu neigen, Reaktionen oder Situationen hervorzubringen, die der sozialen Gesundheit abträglich sind. Dies würde dazu zwingen, Entscheidungen und spezifische Politiken in verschiedenen Aspekten des Alltagslebens neu zu formulieren. Die Gemeindeforschung kann wichtige Beiträge in diesem Sinne leisten, sowohl hinsichtlich der Erarbeitung von Empfehlungen als auch ihrer eventuellen Umsetzung. Es geht darum, die Funktionsweise der Sphären des Alltagslebens zu bestimmen und zu ihrer Veränderung beizutragen, damit sie Gesundheit, Lernen und Identität hervorbringen.

3. Einige konkrete Erfahrungen Im folgenden wird von verschiedenen Arbeiten berichtet, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß in ihnen die Diagnose, der sozialpsychologische Handlungsansatz und die Entwicklung einer psychologischen Kultur in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung als Grundlage dient. Im folgenden werden Studien über kubanische Studenten und über multinationale Gemeinden vorgestellt. Studie über kubanische Studenten In den siebziger Jahren wurde festgestellt, daß die Hochschulstudenten, die ein Stipendium erhielten, schlechtere akademische Leistungen erbrachten als die externen Studenten. An dieser Stelle muß ich erklären, daß in Kuba diejenigen Studenten als Stipendiaten gelten, die aus den Provinzen kommen und an der Universität studieren. Die Stipendien bestehen in kostenloser Unterbringung und Ernährung. Die externen Stipendiaten studieren an ihrem Heimatort und leben bei ihrer Familie. Unsere Arbeitshypothese besagte, daß das institutionelle System der Stipendien selbst sozialpsychologische Bedingungen schuf, die den Lernprozeß nicht erleichterten. Ende der sechziger Jahre bildeten wir ein Team aus zwölf Psychologiestudenten und führten eine institutionelle Diagnose der verschiedenen Studentenwohnheime durch. Jede Fakultät verfügte über ein eigenes Wohnheim und hatte eigene Regeln für die Stipendiaten. Die Diagnosen ergaben, daß das Stipendiatenleben jeder Fakultät nach sehr unterschiedlichen Nonnen und Konzepten ausgerichtet war. Während im

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Wohnheim der humanistischen Fakultät ein positives sozialpsychologisches Klima bestand, mit vielen Kommunikationsnetzwerken zwischen den verschiedenen institutionellen Instanzen und die Verhaltensregeln im wesentlichen demokratisch gestaltet waren, war das Wohnheim der Medizinwissenschaften durch ein autoritäres und restriktives Klima gekennzeichnet (dies führte auch zu interessanten Reflektionen über die Berufsauffassung, die berufliche Rolle, die geförderte Persönlichkeit und die Institution). Wir haben den verschiedenen untersuchten Institutionen vorgeschlagen, eine Gruppenarbeit auf zwei Ebenen durchzuführen: innerhalb jeder Institution und zwischen den Institutionen. Die letztere wurde besonders spannend; während zweier Jahre (1970-1971) fanden wöchentliche Treffen zur Gruppenarbeit statt. In der Gruppe waren die Berufstätigen, die Verwaltungsebene und die Studentenschaft jeder Fakultät vertreten. So gab es einen Arzt, einen Ingenieur, einen Agronom, einen Sozialwissenschaftler und die entsprechenden Studenten. Das Bezugsschema, mit dem jeder in die Gruppe kam, wurde tief »erschüttert«. Die Ergebnisse der institutionellen Diagnose jeder Fakultät wurden in der Gruppe analysiert, und für jedes Mitglied wurden die Beziehung zwischen »seinem« institutionellen System und dem »Stipendiatentypus« sowie die Beziehungen, die sie hervorriefen, ersichtlich. Ein Arzt faßte diese Erfahrungen am treffendsten zusammen. Er war ein ausgezeichneter Spezialist seines Faches und der wichtigste »Ideologe« seiner autoritär und bürokratisch geführten Fakultät. Er zeichnete sich durch große persönliche Starrheit, aber auch durch eine große Ehrlichkeit aus. Dieser Arzt sagte in der letzten Sitzung: »Dies ist die wichtigste menschliche und politische Erfahrung meines Lebens gewesen. Ich fühle mich wie ein Gorilla, der vom Baum gefallen ist.« Das Ergebnis jener Etappe war die Annäherung an ein gemeinsames Bezugssystem, das zu bedeutenden Veränderungen in den verschiedenen Institutionen führte. Studie über multinationale Gemeinden Bei dieser Studie handelt es sich um eine Reihe von Arbeiten der institutionellen Psychologie, die sich auf das Zusammenleben mehrerer Nationalitäten bezogen und auf das Problem der nationalen Identität eingingen. In den siebziger Jahren nahm die Anzahl ausländischer Studenten in Kuba zu. Auf Anfragen mehrerer Länder bot Kuba Tausenden von Jugendlichen aus der sogenannten »Dritten Welt« Stipendien an, damit sie eine kostenlose Ausbildung in verschiedenen Disziplinen absolvieren konnten. In den Wohnheimen lebten nun Jugendliche aus sehr unterschiedlichen Ländern und sehr heterogenen Kulturen (Sprache, Lebensgewohnheiten, Traditionen) zusammen. Dies führte zu vielen Mißverständnissen. Insbesondere wurde ein interessantes

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und widersprüchliches sozialpsychologisches Phänomen beobachtet: Auf der Ebene allgemeiner Bekenntnisse bestätigten alle Studenten unabhängig von ihrer Nationalität ihre internationalistischen Überzeugungen, auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen des Alltagslebens kam es jedoch zu Konflikten und Konfrontationen. Wir begannen, mit der zahlenmäßig stärksten Gruppe von 1000 Studenten aus Vietnam zu arbeiten. Die erste Etappe, die vorherrschend diagnostischen Charakter hatte - obwohl wir bereits versuchten, einige Veränderungen herbeizuführen - war der Arbeit mit diesen Studenten und den Kubanern gewidmet, die mit ihnen zusammenlebten. Nachdem wir uns mit den grundlegenden Aspekten der vietnamesischen Geschichte und Kultur vertraut gemacht hatten, nahmen wir uns vor, das Selbstbild und das Bild des Anderen zu untersuchen sowie Lösungsmöglichkeiten für die Grundkonflikte zu überlegen, die im Alltag auftraten. Als entscheidender Faktor wurde die Unfähigkeit ermittelt, sich in den anderen hineinzuversetzen. Jeder »beurteilte« den anderen ausgehend von seinen eigenen kulturellen Schemata; selbstverständlich war auf diese Weise kein Dialog möglich. In der darauf folgenden Zeit widmeten wir uns einer intensiven Gruppenarbeit, mit Gruppen von Kubanern oder Vietnamesen, die durch gemeinsame Aktivitäten (Freizeit, Kultur) ergänzt wurde. Bei der jeweiligen Gruppenarbeit wurden diskussionsfördernde und erfahrungsorientierte Methoden eingesetzt, um die »psychologische Vorstellungskraft« (W. Mills) zu entwickeln, d.h. den Erwerb der Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und alternative Deutungs- und Reaktionsmöglichkeiten zu entwickeln, um die reale Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Die sich ergebenden Veränderungen in beiden Nationalitätengruppen übertrafen unsere Erwartungen bei weitem. Diese Studie wurde zwischen 1973 und 1974 durchgeführt und bildete eine grundlegende Erfahrung für das Forschungsteam. Später wurden ähnliche Projekte mit Kongolesen und Guineanern weitergeführt. Die Gesamtbilanz dieser Arbeitserfahrung bestätigte die potentielle Rolle, die der Sozialpsychologe als Agent des Wandels spielen kann. Fast zehn Jahre später diente diese Arbeit als Grundlage für eine interdisziplinäre Untersuchung auf der Isla de la Juventud, der früheren Isla de Pinos, auf der Tausende von jungen Kubanern studieren und auf Ersuchen mehrerer Länder auch Schulen für Jugendliche aus der sogenannten Dritten Welt eingerichtet worden sind. Um zu garantieren, daß diese Ausbildungsgänge die Ziele des Herkunftslandes erfüllen und bei den Schülern keine Transkulturationsprozesse einsetzen, die sie von ihren nationalen Wurzeln entfremden, sind verschiedene Maßnahmen getroffen worden, unter denen folgende entscheidend zu sein scheinen:

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Sozial- und Geschichtskunde werden von Lehrern aus den jeweiligen Herkunftsländern erteilt. Die kubanischen Lehrer unterrichten nur die naturwissenschaftlichen Fächer. Die Schulleitung umfaßt auch Lehrer- und Schülervertreter aus den Herkunftsländern.

Folgende Zahlen geben eine Vorstellung von der quantitativen Dimension dieser Arbeit: 1985 studierten 14.000 Personen aus 22 Ländern in der Grund-, Mittel* und Oberschule sowie an technischen Ausbildungsstätten. Es handelte sich also um eine große, multinationale Gemeinde, deren Mitglieder während eines längeren Zeitraumes (fünf Jahre oder länger) weit entfernt von ihrem Herkunftsland lebten. Diese Erfahrung beinhaltet komplexe Probleme, die u.a. in folgenden Fragestellungen wiedergegeben werden können: -

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Wie können Pädagogik und Didaktik unseres Ausbildungswesens an Schüler angeglichen werden, die bei ihrer Ankunft in Kuba mehrheitlich die spanische Sprache nicht beherrschen und in der Anfangszeit nur lückenhafte Sprachkenntnisse haben? Wie kann eine angemessene Entwicklung der nationalen und kulturellen Identität bei Jugendlichen gewährleistet werden, die in vielen Fällen aus Ländern stammen, in denen sich die Bildung eines Nationalbewußtseins erst in den Anfängen befindet? Wie muß die erzieherische Arbeit mit Jugendlichen aussehen, die aus so unterschiedlichen Kulturen stammen? Wie kann eine aktive schulische und soziale Integration erreicht werden? Welche Gesundheits- und Hygienepolitik sollte verfolgt werden? Welche künstlerischen und kulturellen Maßnahmen können ergriffen werden, um die Ausbildungsziele zu vervollständigen?

Diese Fragen konnten nur mit Hilfe eines wissenschaftlichen, multidisziplinären Ansatzes auf solide, wenn auch weder vollständige noch abschließende Weise beantwortet werden. Aus diesem Grunde wurde 1983 eine Gruppe aus Psychologen, Soziologen, Pädagogen, Ärzten, Linguisten, Ökonomen und Kulturarbeitern gebildet. Ich habe dieses Vorhaben von der PsychologieAbteilung der Akademie der Wissenschaften aus geleitet, obwohl verschiedene Experten von wissenschaftlichen und akademischen Institutionen ebenfalls daran teilnahmen.4 Unter den vielen Erkenntnissen dieses Forschungsvorhabens möchte ich folgende hervorheben:

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Die wichtigsten Mitarbeiterinnen bei diesem Forschungsvorhaben waren Daisy González, Karelia Barreras, Marisela Perera und Lourdes Fernández.

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a) Unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten erforderte die Bildung von Stereotypen und Vorurteilen in der gegenseitigen Wahrnehmung die größte Aufmerksamkeit. In diesem Sinne wurden Tendenzen beobachtet, die weitgehend mit den Ergebnissen der bereits erwähnten Studie übereinstimmten. So konnte der Widerspruch zwischen der allgemeinen und abstrakten positiven Bewertung einer Nationalität und der konkreten negativen Bewertung der erfahrbaren Angehörigen dieser Nationalität festgestellt werden. Die erste Bewertung weist einen im wesentlichen stereotypen und diskursiven Charakter auf, während die zweite das tatsächliche Verhalten bestimmt. Dies ist bemerkenswert, da in anderen Gesellschaften, die Vorurteile fördern, die abstrakte Bewertung anderer Nationalitäten oder Gruppen häufig viele negative Züge umfaßt, während in dieser Gesellschaft - die die Solidarität und den Internationalismus fördert und proklamiert - , die abstrakte Bewertung häufig sehr positiv ist. Wenn es jedoch zu einem konkreten Zusammenleben kommt, wird die gegenseitige Wahrnehmung komplexer, und falls keine angemessene Lösung für die Widersprüche gefunden wird, laufen in zunehmendem Maße folgende Prozesse ab: - die Menschen entwickeln eine sehr kritische Haltung zueinander und es kommt zu einer wachsenden Feindseligkeit zwischen den Nationalitäten; - die eigene Nationalität wird hervorgehoben und es kommt zu einem Verlust der Fähigkeit zur Selbstkritik; - jeder Pol zieht sich in sich selbst zurück und entwickelt einen inneren Zusammenhalt, der in stärkerem Maße von einem externen Feindbild als von gemeinsamen Zielen oder Orientierungen getragen wird. Diese Widersprüche werden von objektiven (im wesentlichen materielle Schwierigkeiten) und subjektiven Faktoren genährt. Ihr Abbau erfordert, in beide Richtungen zu arbeiten. Eine einseitige Arbeit führt zu »ökonomistischen« Positionen (wenn nur die objektiven Faktoren betont werden) oder zu »psychologisierenden« Thesen (bei ausschließlicher Betonung der subjektiven Faktoren). In diesem Projekt konzentrierte sich die Veränderung der subjektiven Faktoren auf die folgenden Aspekte: - Zunahme der gemeinsamen Aktivitäten (kultureller, studentischer Art, Gruppenarbeit), die zu einem schrittweisen Kennenlernen des »Anderen« führten und die Bedingungen für ein verbessertes Einfühlungsvermögen schafften; - die systematische Aufklärung von Mißverständnissen auf verschiedenen Wegen (Gruppenaustausch, kulturelle Aktivitäten); - der Abbau von Gerüchten und die weitgehende Abschaffung der Zweideutigkeit in der Informationsarbeit der betroffenen Institutionen.

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b) Vom methodischen Gesichtspunkt aus konnte u.a. festgestellt werden, daß, obwohl der optimale Ansatz für dieses komplexe Vorhaben in einem interdisziplinären Herangehen bestanden hätte, tatsächlich jedoch nur ein multidisziplinärer Ansatz sinnvoll ist. Auch hier haben objektive (sehr unterschiedliche Zeitbudgets) und subjektive Faktoren eine Rolle gespielt, da es sehr aufwendig ist, die einseitige Sichtweise eines wissenschaftlichen Problems aufzubrechen. Dies wird sowohl von den persönlichen methodischen Einstellungen der Wissenschaftler innerhalb des eigenen Faches beeinflußt (Strömungen, Tendenzen, Theorien, »Moden«), als auch von den Schwierigkeiten bei dem Versuch, die Realität von einer vielfältigeren Sichtweise aus zu begreifen, die folgende »Ismen« überwindet: u.a. Ökonomismus, Psychologismus, Soziologismus. Außerdem spielt auch die individuelle Grenzziehung vieler Wissenschaftler für die mögliche Integration in eine kollektive Aufarbeitung eine bedeutsame Rolle. Wissenschaftler, die zu dieser Arbeit in der Lage sind, müssen über eine offene, undogmatische Erkenntnislehre verfügen, und zwar in einem doppelten Sinn: innerhalb ihres Faches und zwischen den Fächern. Abgesehen von einigen Ausnahmen ist dies jedoch eher eine Zielvorstellung als eine Tatsache. c) Vom technischen Gesichtspunkt aus hat dieses Forschungsvorhaben bestätigt, daß es hilfreich ist, die klassischen Analyseelemente (semantische Differentiale, sozialer Abstand usw.) durch andere Techniken zu ergänzen, die eine ganzheitliche und problembezogene Annäherung ermöglichen, wie z.B. Gruppentechniken, Psychodrama und kreative Methoden. Es wäre unmöglich, auf diesen wenigen Seiten diese reichhaltige Arbeit von drei Jahren zu kommentieren. Wir können nur festhalten, daß wir auf theoretischer und methodischer Ebene folgende Aspekte gleichzeitig berücksichtigen mußten: - die klinische Methode, im Sinne der Untersuchung des Individuums als psychische Gesamtheit, auf Subjekte mit sehr unterschiedlichen Gebräuchen, Sprachen und zwischenmenschlichen Beziehungsstilen; - die Gnippenarbeit mit Personen und ihren sehr unterschiedlichen Beziehungs- und Verhaltensstrategien, abhängig von der Nationalität, dem Zeitpunkt der Ankunft auf der Insel, usw.; - die institutionelle Untersuchung, da sich die Analyse des schulischen Umfeldes als unerläßlich erwies; - die Analyse des Zusammenlebens, um den Einfluß der Kontakte zwischen der Bevölkerung der Insel und den Schülern kennenzulernen; - die Untersuchung der Nationalitäten, um die Besonderheiten jeder nationalen Gruppe kennenzulernen.

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Die Ergebnisse dieser Arbeit haben zu vielen spezifischen Empfehlungen geführt, die aus der Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen entstanden sind. Für unser Team bildete diese Studie ein Untersuchungsfeld zum Abbau einer ethnozentristischen Haltung und zur Erarbeitung eines Kommunikationstypus, in dem die Achtung vor dem anderen die Grundvoraussetzung bildet. »»»

Ich habe versucht, einige Ideen und Erfahrungen zusammengefaßt darzustellen. Müßte ich das wesentliche meiner Arbeit in einem Absatz zusammenfassen, würde ich sagen, daß die Sozialpsychologie in der heutigen, von Erschütterungen gekennzeichneten Welt zu einem Wandel beitragen kann und muß, der menschlichere Lebensbedingungen für alle schafft, die auf unserem Planeten leben. Sozialpsychologie heute, gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, zu betreiben, bedeutet mehr denn je Engagement und Herausforderung. Literatur Allport, G. (1971): La naturaleza del prejuicio, Buenos Aires: Ed. Eudeba. Ander Egg, E. (1983): Metodología y práctica de la animación sociocultural. Veröffentlichung des I.C.S.A., Alcay Batista, Bauleo et al. (1989): Lo grupal, Nr. 7, Buenos Aires: Ed. Búsqueda, Brasi, N., Bauleo, A. (1990): Clínica grupal, clínica institucional, Buenos Aires: Aruel Ediciones. Bleger, J.: Psicohigiene y psicología institucional, Buenos Aires: Ed. Paidos Casaña, Fuentes, Sorín, Ojalvo (1984): Estado actual y perspectivas del desarrollo de la psicología social en Cuba; in: Rev. Cubana de Psicología, Nr. 1, Jg. 1 Engels, F. (o.J.): Carta a J.Bloch (Brief an J. Bloch) (1890), in: Obras escogidas de Marx y Engels, Moskau: Ed. Progreso. Guevara, E. (1970): El socialismo y el hombre en Cuba; in: Obras, Havanna: Casa de las Américas. Lenin, W.I. (1964): Cuadernos filosóficos (Philosophische Hefte), Havanna: Ed. Política. Martin, A. et al. (o.J.): Psicología comunitaria, Spanien: Ed. Textos Visor. Marx, K. (1966): Contribución a la crítica de la economía política (Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie), Havanna: Ed. Política. Mills, W. (1966): La imaginación sociológica, Havanna: Ed. Política.

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Monica Sörth

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Politische Gewalt und Persönlichkeitsstruktur in Peru

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César Rodríguez Rabanal

Politische Gewalt und Persönlichkeitsstruktur in Peru Die Psychoanalyse wird hier verstanden als Zusammenführung der psychotherapeutischen Praxis und ihrer Forschungsmethoden. Sie bildet einen besonderen Zugang zum Studium der sozialpsychologischen Dimension von Phänomenen der Gewalt oder der Armut. Diese Phänomene können nicht vollständig erfaßt werden, wenn nicht die Erfahrungen des Subjektes berücksichtigt werden, das unter den konkreten Bedingungen der Unterjochung, des Mangels oder der Marginalität lebt. Es ist also notwendig, das Wesen der intrapsychischen »Anpassungsmechanismen« zu erforschen. Es geht nicht darum, die universelle Gültigkeit psychoanalytischer Begriffe zu beweisen, sondern darum, eine Methode anzuwenden, mit der die Vermittlungsprozesse zwischen der äußeren und der inneren Welt untersucht werden können. Die Dynamik des sozialen Geschehens entfaltet sich vor dem Hintergrund der objektiven Bedingungen und als singuläre Form, in der das Individuum oder die Gruppe seine bzw. ihre Erfahrungen aufgrund Paradigmen, deren Struktur aus der Kindheit herrühren, organisiert hat. Innerhalb dieses dialektischen Rahmens soll hier das Thema der Gewalt analysiert werden. Im Falle der untersuchten peruanischen Gesellschaft hängt die Gewalt eng mit der Armut zusammen. Mit dem Rückgriff auf die psychoanalytische Methode soll nicht ein psychologisches Profil bzw. eine Diagnose entworfen oder bestimmte Individuen untersucht werden. Unser Bestreben ist vielmehr, die komplexe Beziehung zwischen den Lebensbedingungen der extremen Armut, den Besonderheiten der Persönlichkeitsstruktur, die unter diesen Bedingungen entsteht, der Gewalt und den sozialen Organisationsformen zu untersuchen. Die empirische Basis der hier entwickelten Überlegungen ist das Material, das im Rahmen eines Forschungsprojektes mit einer Personengruppe von Opfern der politischen Gewalt gesammelt wurde, die sich in den letzten Jahren in Peru sehr verschärft hat. Die ausgewählte Siedlung befindet sich in der Zentralregion von Lima, zwischen den beiden wichtigsten Gefängnissen der Stadt. Es handelt sich um eine Population von ca. 1.000 Einwohnern, die mehrheitlich aus der Provinz Huanta, einer der Enklaven des peruanischen inneren Krieges im letzten Jahr-

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César Rodríguez Rabanal

zehnt, stammen. Der Großteil der Einwohner ist auf der Flucht vor dem Kreuzfeuer der Repression und der Subversion in die Stadt geflohen. Viele von ihnen haben durch den Krieg Angehörige verloren und verlieren sie immer noch. Die Lebensbedingungen sind von Armut geprägt, ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist jedoch nicht von extremer Armut betroffen. Die Migranten haben ihre Häuser schrittweise mit solidem Baumaterial gebaut. Hütten aus Stroh oder Pappe werden nicht gebaut. In vielen Fällen wird dem Bauvorhaben die Qualität der Ernährung der Familienmitglieder geopfert. Obwohl im Einzelfall Verbesserungen im Habitat feststellbar sind (in großem Maße wurden Kredite zu niedrigsten Zinssätzen von der vorherigen Regierung vergeben), haben die Menschen keinen Zugang zur öffentlichen Versorgung mit Trinkwasser, Kanalisation und Elektrizität. Die Bewohner erzählen und rekonstruieren ihr Leben mit Hilfe der Therapeuten, die zum Forschungsteam gehören. Das gesammelte Material schließt Aspekte der äußeren Realität mit ein, die sowohl unserem allgemeinen Wissen über die Wirklichkeit als auch der bewußten oder unbewußten subjektiven Dimension der Wirklichkeit gegenübergestellt werden kann. Im Alltagsleben vermischen sich diese beiden Ebenen und bilden ein einzigartiges Gewebe. Das Subjekt verfügt über Daten seiner realen Situation, die es normalerweise seinen Phantasien überordnet und an seine libidinösen oder aggressiven Triebe anpaßt. Die Studie wurde im Rahmen der qualitativen Methode erstellt und verwendet dabei den Ansatz der Aktionsforschung. Die psychotherapeutische Arbeit geht mit der Erhebung des Forschungsmaterials einher. Wir haben unsere Aufmerksamkeit auf die systematische Analyse der Wechselwirkung gerichtet, zu denen es beim Aufeinandertreffen der Bewohner - der Subjekte-Objekte des Forschungsvorhabens - und der forschenden Therapeuten kommt, die einer anderen sozialen Schicht angehören. Dieser Ansatz ermöglicht es, zentrale Facetten der Alltägsprobleme von Vertriebenen im Kontakt mit der Großstadt zu reproduzieren sowie, mutatis mutandi, der städtischen Bevölkerung mit ihnen. Ein wesentlicher Bestandteil unseres Ansatzes ist ebenfalls die ausdrückliche Einbeziehung des forschenden Therapeuten, der Zugang zum Wissen gewinnt, indem er die Beziehung erfaßt, die das Forschungssubjekt, das unter den Bedingungen der Gewalt lebt, zu ihm entwickelt. Unter den gegebenen Arbeitsbedingungen würde ein Denken in rigiden Ansätzen, die sich an den Anforderungen der Privatpraxis ausrichten, das Spezifische unseres Ansatzes verkennen. Die Sitzungen finden inmitten der natürlichen Umgebung der Bewohner statt: in ihren Häusern, den Gemeindelokalen. Auf diese Weise bildet das Habitat ein sinntragendes Element. Die untersuchten Migranten stammen mehrheitlich aus einem ländlichen Milieu. Ihre Biographien sind angefüllt mit traumatischen Unterbrechungen

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der Beziehungen zu ihren Bezugsobjekten. Zu dem häufig auftretenden Verlust der Eltern oder kleiner Kinder in der Vergangenheit, kommt in der Gegenwart der Verlust von Angehörigen durch politische Gewalt hinzu. Ausgehend von der psychoanalytischen Theorie verstehen wir unter einem Trauma den Einbruch äußerer Ereignisse, die das psychische Aufarbeitungssystem des Kindes überfordern. Um die psychischen Repräsentationen der traumatischen Erfahrung bildet sich eine Kapsel, die sie von der restlichen psychischen Struktur isoliert. Sie bildet einen »Fremdkörper«, der psychische Energie absorbiert und diese dem Entwicklungsprozeß der Persönlichkeit entzieht. Der Tod kleinerer Geschwister durch Krankheiten, aufgrund fehlender und (oder) nachlässiger ärztlicher Versorgung, und die durch unzulängliche Betreuung verursachte hohe Säuglingssterblichkeitsrate bilden Erfahrungen, die zu unbewußten Haßgefühlen gegenüber den Geschwistern führen. Diese Schwachstelle des Selbst ist im Migrationszusammenhang verwurzelt, d.h. in dem Verlassen der bekannten Umgebung, dem Zerbrechen der allgemein endogamen Familienbindungen und dem aktuellen Verlust naher Angehöriger und Verwandter. Die regressive Auswirkung der Überschneidung gegenwärtiger und vergangener Erfahrungen ist offensichtlich. Einige Folgewirkungen der Migration, wie die unsichere Beschäftigungslage, kommen hinzu. Im Verlauf der Therapien, sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen, wird ein natürliches Gefühl des Mißtrauens und des Argwohns gegenüber Hilfeleistenden feststellbar. Die Bewohner befürchten, verraten oder schlicht mit anderen Angehörigen identifiziert zu werden, die mit dem Sendero Luminoso sympathisieren oder sich in ihm engagieren. Auch wenn diese Gefühle im Rahmen einer stabilen therapeutischen Beziehung gemildert werden können, so kollidiert die besondere »Suchrichtung« des analytischen Prozesses (Sinnsuche) mit dem Widerwillen, sich Konflikten zu stellen. Die Menschen greifen wiederholt auf die Idealisierung der Vergangenheit zurück; die Bewohner empfinden, daß sie dazu gezwungen waren, von einem paradiesischen zu einem starren, ungastlichen und chaotischen Ort zu gehen so nehmen sie Lima wahr. »Zuhause wuchsen die Früchte ohne jede Anstrengung, die Bauern waren gastfreundlich und großzügig und überall gab es Solidarität in der Gemeinde.« Sie schließen jedoch die Möglichkeit aus, nach Huanta zurückzukehren, auch wenn die kriegerischen Handlungen abnehmen sollten. Die vielfältigen Probleme, die die Anpassung an Lima stellt, verringern die Attraktivität der Stadt nicht, da sie hier größere Entwicklungschancen sehen. Die Verteidigung als Schutz gegenüber Unbekanntem (Besorgnis, Argwohn, Mangel an Eigeninitiative) drückt das Bedürfniss aus, nicht nur das Trauma, sondern auch die immerwährende Leere und den Mangel zu verleugnen.

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Klinische Fälle Gruppentherapie mit Kindern Die Sitzungen werden im Gemeindelokal durchgeführt. Die Anzahl der teilnehmenden Kinder ist konstant, im allgemeinen sind es zwischen fünf und sechs Kinder. Es wird mit einer Spielkiste gearbeitet, die auf das Alter und die Anzahl der Teilnehmenden abgestimmt ist. Fall 1

Die Gruppe besteht aus sechs Kindern zwischen sieben und acht Jahren. Zur gegenwärtigen Sitzung ist nur einer gekommen, Richard. Er nähert sich der Spielkiste und probiert Stifte aus, die meisten von ihnen malen nicht mehr. An der Tür wird geklopft, der Therapeut öffnet und sieht nur einige Kinder, die weglaufen und sich verstecken. Richard sucht einen Anspitzer und findet ihn nicht. Es klopft erneut, der Therapeut öffnet wieder und sieht wieder Kinder, die weglaufen und sich verstecken. Der Junge nimmt einen Stift und beginnt, ein Häuschen zu zeichnen, »ich werde den Frühling malen«, sagt er. Er malt einige Hügel, einen Weg, einen Fluß und fragt den Therapeuten: »Welche Farbe hat das Wasser der Flüsse?« Der Therapeut antwortet: »Das ist, als ob Du wissen wolltest, ob ich mir Dein Zuhause, Huanta, vorstellen kann.« Richard antwortet: »Ich kann mich nicht mehr gut daran erinnern, ich bin vor einigen Jahren zurückgekehrt... Ich werde den Rasen und die Blumen malen und ein kleines Dorf.« Und an den Therapeuten gerichtet: »Wenn ich nicht gekommen wäre, wären Sie hier allein geblieben, nicht wahr?« Er sagt, daß er nun einen Herrn malen werde, der angle, und fragt: »Leben und wachsen die Fische weiter, nachdem sie gefangen worden sind?« Der Junge hat zwei Fische zuhause, »einer ist dick und der andere ist klein und dünn«. Aus den Hügeln, die seinem jetzigen Haus gegenüber liegen, holen sie den Lehm, mit dem sie ihre Hütten bauen; die Farbe des Hügels ist grau, traurig. Er wird einen Wald mit Rasen malen, »wie Huanta«, sagt er zu dem Therapeuten. »Ja, hier sind zwei Flüsse und grünes Gras«, sagt der Junge. Der Therapeut fügt hinzu: »Du mußt Huanta sehr vermissen, hier gibt es weder Rasen, noch Flüsse, nicht mal die Hügel sind hübsch.« Richard sagt: »Ja, meine Oma hat dort ein Häuschen, sie ist in Lima und das Haus ist leer.« Weihnachten wird er mit seinem Cousin nach Huanta fahren, um Punsch zu machen, der früher mit Keksen aus Ayacucho zubereitet wurde. Seine Oma hatte einen Gemüsegarten mit Blumen und ein Schweinchen. Richard versucht, fortzufahren: »Ich weiß nicht, wer jetzt meinen Hund hat, es ist ein Berghund, hier an der Küste würde er sterben.« Der Therapeut hat den Eindruck, daß der Junge traurig ist und Heimweh hat und fragt ihn: »Macht es Dich traurig, hier

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zu sein?« Richard sagt nein und fragt den Therapeuten, warum er die Puppen mitbringt, wenn er doch weiß, daß die Mädchen nicht kommen werden. Zum Schluß spielt Richard. Er schießt mit der Pistole, sagt, er sei ein Soldat, schlägt dann vor, Indios und Soldaten zu spielen, stellt die Flugzeuge in einer Reihe auf und die Sitzung endet. Auf den ersten Blick scheint sich der Eindruck des Therapeuten zu bestätigen, daß die Beziehung intensiver ist, wenn nur ein Kind an der Sitzung teilnimmt. Wenn wir uns jedoch an einige Merkmale unserer Methode erinnern, nach der wir die Gruppe als ein Ganzes auffassen und seine Mitglieder als Teil des »Gruppenindividuums«, stellen wir fest, daß die Gegenwart eines einzigen Mitglieds die Abwesenheit der anderen Teile unterstreicht. In diesem Fall handelt es sich also um die Beziehung, die ein »Fragment« des »Gruppenindividuums« unter Ausschluß der anderen mit dem Therapeuten bildet. Das regressive Niveau der Beziehung drückt sich im deutlich nostalgischen Ton der Sitzung aus, in der der Therapeut die emotionale Bedeutung der Abwesenheit der anderen Kinder leugnet, die nicht zur Sitzung erschienen sind (als nur ein Kind kommt, meint er, eine bessere Beziehung mit dem einen aufbauen zu können), indem er mit Richard die Sehnsucht nach einer paradiesischen Welt teilt, in der es keine Verluste gibt. Der Junge macht Bemerkungen über das Wasser der Flüsse, die idyllische Landschaft und im allgemeinen über den scheinbaren Wunsch, nach Hause zurückkehren zu können, als ob die Vorstellung einer Welt ohne Gewalt real wäre. Das Bild der guten Großeltern, die Gemüsegärten und Blumen haben, die Punsch zubereiten, sind der Ausdruck des paradiesischen Universums, in dem sowohl der Junge als auch der Therapeut Zuflucht suchen. Rückblickend, insbesondere während der Supervision wird sich der Therapeut darüber bewußt, wie deprimiert er war, da er sich von den Kindern der Gruppe verlassen fühlte. Richard teilt ihm ausdrücklich mit, daß er einen Trost für den Therapeuten darstellt, das heißt, er wählt die defensive Option angesichts intensiver Gefühle der Einsamkeit und der Verlassenheit. Diese Situation erinnert uns allgemein daran, wie einige Eltern ihre Kinder angesichts des Todes eines der Geschwister benutzen. Es entsteht eine scheinbare Intimität, die eher eine Schutzfunktion hat und eher die Verdrängung als die Entwicklung fördert. Das genannte Beispiel verdeutlicht die fehlende Immunität des Therapeuten bei dem psychoanalytischen Verfahren gegenüber dem Patienten. Gleichzeitig ermöglicht diese Methode jedoch, Überlegungen anzustellen - wenn auch a posteriori - , die über die Sitzung hinausgehen. In der Spielkiste gibt es eine Reihe von Stiften, die nicht malen, weil sie z.B. abgebrochen sind. Der Junge bemüht sich, die Stifte anzuspitzen und mit ihnen eine freundliche Landschaft zu zeichnen. Er macht deutlich, daß es Stifte gibt,

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die nicht malen, Kinder, die abwesend sind und daß die Landschaft seiner Kindheit von Blut und Tod durchtränkt ist. Er versucht, die schmerzhaften Erinnerungen von sich zu entfernen, indem er den Therapeuten darum bittet, damit aufzuhören, ihn mit dem Mädchenspielzeug daran zu erinnern, daß die Mädchen nicht mehr kommen werden. Er versucht, die Welt wiederzubeleben (Anspitzen der Stifte), die er mit den Großeltern verbindet; er sagt, daß er den leeren Hof der Großmutter bevölkern werde (leere Praxis). Richard scheint sich unruhig zu fragen, ob er auf Kosten der Abwesenheit der anderen emotional wachsen könne; ob das Wasser der Flüsse nicht mehr das lebensspendende Medium sei. Er ist in eine Welt ohne Wasser und (im konkreten Fall der Sitzung) ohne die anderen Fische versetzt worden. Außerdem hat er den Verdacht, daß der Herr Therapeut »ihn gefangen hat«, um seine eigenen Interessen zu befriedigen. Wie der Großvater, der das Schwein fütterte, um es dann selbst zu verspeisen. Kann ein Kind emotional wachsen, wenn die Erwachsenen es für ihre eigenen Zwecke benutzen? Das Thema taucht auch in der Figur des Hundes auf, der nur in den Bergen leben und deswegen nicht nach Lima gebracht werden kann. Als an die Tür geklopft wird, spüren der Junge und der Therapeut, daß es die anderen sein könnten; es sind jedoch unbekannte Kinder, die sich verstecken und sie spüren lassen, daß es Kinder gibt, die »anklopfen«. Mit ihrer flüchtigen Gegenwart erinnern sie an die Abwesenheit der eigenen Kinder. Auf der anderen Seite ist da der Lehm aus den ungastlichen Hügeln in der Nähe, ein Material, das alles andere als paradiesisch ist, aus dem jedoch das Rohmaterial gewonnen werden kann, um ein neues Leben aufzubauen. Es ist unerläßlich, sich der Notwendigkeit bewußt zu werden, das zugängliche Material zu nutzen, d.h. den häßlichen, nahegelegenen Hügel, auf dem kein Gras wächst, auf dem es kein Wasser gibt. Dies bedeutet, zur nostalgischen Suche, die notwendigerweise zu neuen Enttäuschungen führt, Abstand zu gewinnen. Die Kinder sind aus ihrer Umwelt gerissen worden, wie die Fische oder der Hund, sie können nur leben, wenn sie sich realistisch an die neuen Lebensbedingungen anpassen und wenn ihnen dabei von anderen geholfen wird (von den Erwachsenen), die die notwendigen Bedingungen für ihre Entwicklung schaffen, zum Beispiel durch die analytische Arbeit in einer Spielgruppe. Fall II Eine Gruppe von sechs Kindern, die zwischen neun und zehn Jahre alt sind. Der Therapeut ist dunkelhäutig und hat die Gesichtszüge eines Mestizen, im Unterschied zu den Therapeutinnen, die hellhäutig sind. Unabhängig davon, ob sie an der Therapie teilnehmen oder nicht, zeigen die Kinder der Siedlung Interesse an den Mitgliedern des Teams. Bei dieser Sitzung sind alle Mitglieder anwesend: Margot, Carla, Giulizza, Freddy, Roger und Jimmy. Alle haben den

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Tod oder das Verschwinden von Familienangehörigen aus der Nähe miterlebt. Bei zweien von ihnen sind die Eltern gestorben bzw. verschwunden, bei den anderen Onkel, Cousins und Großeltern. Die Sitzung findet nach zwei verstrichenen Terminen statt; die erste Sitzung hatte nicht stattgefunden, weil es ein Nationalfeiertag war und der Therapeut nicht arbeitete; die folgende Sitzung hatte ebenfalls nicht stattgefunden, weil nun die Kinder nicht gekommen waren. Drei Tage vor dieser Sitzung war unser Raum in der Siedlung eingeweiht worden, in Anwesenheit der Eltern mehrerer Kinder der Gruppe. Es ist die erste Sitzung in der neuen Praxis; die Bänke stehen durcheinander und es gibt einige Reste von dem Imbiß des Einweihungsfestes. Der Therapeut hat die Spielkiste im Kofferraum seines Wagens vergessen. Er hatte einen Unfall gehabt und den Wagen in eine Werkstatt bringen müssen. Im Unterschied zu früher, bei der etwas ähnliches geschehen war, entschied er diesmal, sich der Situation zu stellen und die Kiste nicht mit Papier und Stiften zu ersetzen, die er auf dem Weg hätte kaufen können. Der Therapeut fühlt sich jedoch dazu bewegt, den Kindern mitzuteilen, daß die Dauer der nächsten Sitzungen von einer Stunde auf eineinhalb Stunden verlängert wird. Sie diskutieren über die Uhrzeiten und es kommt zu Schwierigkeiten. Der Therapeut irrt sich und nennt anstelle einer bestimmten Uhrzeit eine andere, zu der er sich nicht in der Siedlung befindet. Es kommt zu einem langen Austausch von Vorschlägen, ohne zu einer Übereinkunft zu gelangen. Plötzlich sagt ein Junge, als ob er es vermeiden wollte, das Thema zu vertiefen: »Weder für dich noch für mich« und schlägt eine Uhrzeit in der Mitte vor. Der Therapeut unterbricht die Sitzung und geht hinaus, um zwei (langhaarige) Kollegen zu fragen, ob es zu Überschneidungen mit ihren Arbeitszeiten in der Praxis käme. Als er zurückkommt, scheinen die Kinder das Problem für erledigt zu halten und haben den Raum mit den Bänken in zwei Teile unterteilt: auf der einen Seite spielen die Mädchen, auf der anderen die Jungen. Die Mädchen haben Schminkspielzeug, das Giulizza mitgebracht hatte (Farben, Spiegel). Die Jungen spielen mit Murmeln. Der Therapeut ist von der Rauhheit des Spiels beeindruckt. Roger gewinnt das erste Spiel; Freddy und Jimmy haben keine Murmeln mehr. Sie entscheiden, ein anderes System anzuwenden. Der Gewinner nimmt proportional an Lebensjahren zu. Jimmy wird auf diese Weise elf Jahre alt und Freddy bewegt sich um die sieben Jahre. Währenddessen ist Carla völlig geschminkt. Giulizza sagt, daß sie nun spielen, daß Carla ausgeht und um 5 Uhr morgens nach Hause kommt. Sie ist die einzige, die das spielen kann, weil sie lange Haare hat (wie die Mitglieder des Teams), im Unterschied zu den anderen Mädchen, die kurze Haare haben (wie der Therapeut). Carla geht mit den Gebärden eines Mannequins und sagt, daß

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sie 20 Jahre alt sei. Einer der Jungen überschreitet die Trennlinie. Alle Mädchen sind empört. Roger sagt zu dem Jungen, daß er sich entschuldigen müsse. Der Therapeut ist verwirrt und hat große Schwierigkeiten, in der Dynamik der Sitzung einen Sinn zu erkennen. Die Frage der Uhrzeiten ist nicht gelöst worden. Gegen Ende der Sitzung macht er eine Bemerkung über die radikale Einteilung in eine Mädchen- und eine Jungengruppe und darüber, daß die Kinder sehr viel älter sein müßten, um mit den Erwachsenen Umgang haben zu können. Jimmy macht sich über den Therapeuten lustig und äfft ihn beim Sprechen nach. Der Therapeut scheint sich unwohl zu fühlen, weil er die Spielkiste vergessen hat, da er im Widerspruch zu seiner ausdrücklichen Entscheidung, sich seinem Vergessen zu stellen, versucht, sein Unwohlsein zu mildern, indem er die Verlängerung der Sitzungen anbietet. Dem defensiven Charakter dieses »Angebots« entsprechend gelingt es den Kindern nicht, sich über die Uhrzeiten zu einigen und schlagen stattdessen eine Zeit vor, die keinen wirklichen Integrationsversuch darstellt, sondern eher so etwas wie einen Kompromiß (Symptom). Der Gruppenprozeß scheint in großem Maße von einer Dynamik der Vergeltung bestimmt zu sein, die sowohl die Kinder als auch den Therapeuten betrifft: Dieser ist am Feiertag nicht gekommen, also kommen die Kinder zum folgenden Termin nicht. Zur gegenwärtigen Sitzung vergißt der Therapeut, die Spielkiste mitzubringen. Die Kinder haben die Vorstellung, daß der Therapeut es vorgezogen hat, den Feiertag ohne sie in einer anderen »Werkstatt« zu verbringen, in der er die Kiste zurückgelassen hat. Die Essensreste in der Praxis konfrontiert sie mit dem Einweihungsfest, an dem die Erwachsenen (die Eltern) teilgenommen haben. Die Kinder waren nicht eingeladen worden, obwohl der Raum angeblich ihnen gewidmet werden sollte. Dies könnte damit in Beziehung stehen, daß sich Kinder häufig ausgeschlossen fühlen, bzw. als Vorwand für eine Feier oder sogar als Vorwand für das Töten benutzt werden (»wir kämpfen, damit unsere Kinder ... usw.«). »Gefeiert wird ohne sie.« Was zählt sind die Unordnung, die Reste. In der Sitzung spielen die Kinder das Bedürfnis, schnell erwachsen zu werden, »Jahre zu gewinnen«. Sie können ihr eigenes Alter nicht leben, die für die Entwicklung des späteren Erwachsenen doch so wichtig ist. Der sprachlose Therapeut agiert Aspekte des Selbst der Kinder aus. Er, der Kurzhaarige, geht hinaus, um die Langhaarigen, die erwachsen sind und frei, »um Erlaubnis zu bitten«. Der Therapeut ist in dieser Sitzung unfähig dazu, die Konflikte innerhalb der Gruppe zu verarbeiten und entscheidet sich dafür, aus der Sitzung »zu fliehen«. Dabei erinnert er mit seinem Verhalten an die verzweifelten Versuche der Migranten, ihre ungastliche, vom Krieg belagerte Heimat zu verlassen, an ihre Ankunft in Lima und an ihre Versuche, sich an das Bild der Limeños anzupas-

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sen. Die Mädchen spielen lange Haare zu haben, wie die Therapeutinnen, sich zu schminken, um so die Spuren zu verdecken, die den abrupten Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter prägen. In der Sitzung dramatisieren die Knaben die einschneidende Trennung zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Therapeut und Patient, zwischen zwei verschiedenen soziokulturellen Gruppen, zwischen zwei Kriegsparteien. Vor der Aufteilung der Praxis stehen jedoch das vorgefundene Chaos, die Unordnung. Sie haben diese Unordnung nicht hergestellt, sie haben sie vorgefunden, als sie »auf die Welt gekommen sind«. Für ihre Versuche, eine Ordnung herzustellen, sind sie jedoch selbst verantwortlich, auch wenn dies bedeutet, statische Unterteilungen zu schaffen, die die Integration ermöglichen. In diesem Zusammenhang werden Unordnung und Chaos nicht durch den Krieg geschaffen; dieser ist vielmehr ihr Ergebnis. Die Unordnung wird assoziativ mit dem Ausschluß der Kinder in Beziehung gebracht, damit, daß sie von den Erwachsenen benutzt werden. Aus einer anderen Perspektive heraus gehorchen die Kinder und der Therapeut, der dunkel und kurzhaarig ist wie sie, den Befehlen anderer. Beide sind aus der Welt der reichen, langhaarigen Weißen ausgeschlossen. Unser Ansatz orientiert sich an den Wechselwirkungen der Vermittlungsprozesse, die in der Dimension des Unbewußten stattfinden und die sich teilweise im forschenden Therapeuten widerspiegeln (Gegenübertragung). Die Verbindungen zwischen den psychischen Spuren der kindlichen Erfahrungen, dem Erleben des gegenwärtigen Mangels und das Zusammentreffen mit dem Anderen (dem forschenden Therapeuten) machen deutlich, wie der unbewußte Widerstand gegen den Wandel organisiert ist. Der permanente Alarmzustand absorbiert psychische Energie, die der Entwicklung kreativer Optionen entzogen wird. In der Konfrontation mit der Psychoanalyse wird deutlich, daß sich die notwendige Entfaltung der assoziativen Beziehungen gleichzeitig entweder in eine Quelle der Angst verwandeln und den Rückzug in die Regression betonen kann, oder in ein Mittel zur Förderung der Einsicht.

Abschließende Überlegungen Im Fall Perus scheint es für die Probleme der Gewalt und der Armut keine stabile Lösung zu geben. Die Erfahrungsberichte der Betroffenen ergeben ein Schema, in dem die Bilder der Armut und der politischen Gewalt dominieren. Der unzureichende Grad der ethnischen und sozialen Integration führt zu einer ausgeprägten Segregation, die in Peru eines der wesentlichen Merkmale der politischen Gewalt ist. Es ist daher unerläßlich, die Besonderheiten der Dynamik kritisch zu untersuchen, die sich zwischen den Vertretern der kulturellen Sub-Universen und der verschiedenen sozialen Schichten (Patienten und

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Therapeuten) entfaltet. Dabei kann herausgearbeitet werden, wie unbewußte Neidgefühle ausagiert werden, indem die Spielregeln (Uhrzeiten, Arbeitskontinuität, usw.) sich nicht als ausreichend solide Stützen der Arbeit durchsetzen konnten, auf dem die konstruktive Entwicklung des Selbst hätte ruhen können. Im Gegenteil: Das Chaos breitet sich aus, die destruktiven und selbstzerstörerischen Triebe werden dominant. Durch den Übertragungsprozeß - d.h. die Projektion von schutzlosen und deshalb potentiell gewalttätigen Aspekten des Patienten auf die Person des Therapeuten - kann der Therapeut die Machtlosigkeit, das Bedürfnis, die Wirklichkeit zu verdrängen oder zu »schminken« am eigenen Leib erfahren. Auf diese Weise ermöglicht die psychoanalytische Methode, daß der forschende Therapeut im Prinzip die Rolle des Vermittlers zwischen der Zielgruppe der Hilfsbedürftigen und der Gesellschaft übernehmen kann. Der Therapeut wird dabei in dem Maße wirksam sein, in dem er dazu fähig ist, die sozialpsychologische Dimension der Gewalt »von innen heraus« zu deuten. Die ausgewählten Fälle von Gruppentherapien mit Kindern ermöglichen das Verständnis für die Bedeutung des Sozialisationsprozesses in Bezug auf die Gewalt zu vertiefen. Die Qualität der Affekte in den kindlichen zwischenmenschlichen Beziehungen - sowie in denen des Erwachsenenalters - bestimmen die Bereitschaft zu feindseligen Verhaltensweisen, die in Verbindung mit den entsprechenden sozio-ökonomischen und politischen Verhältnissen zur Gewalt führen.

Literatur Dahmer, Helmut (1983): Libido y Sociedad, Madrid: Siglo XXI Editores. Dilthey, Wilhelm (1944): El mundo histórico. In: Obras de Dilthey, Band VII, Mexiko: Fondo de Cultura Económica. Gadamer, Hans-Georg (1971): »Metakritische Erörterungen in Wahrheit und Methode«; in: Hermeneutik und Ideologie-Kritik, Frankfurt/M. Habermas, Jürgen (1982): Conocimiento e interés, Madrid: Ed. Taurus. Lorenzer, Alfred (1970): El lenguaje destruido y la reconstrucción psicoanalítica, Buenos Aires: Ed.Amorrortu. Lorenzer, Alfred (1975): Sobre el objeto del psicoanálisis: Lenguaje e Interacción, Buenos Aires: Ed.Amorrortu. Ricoeur, Paul (1972): La interpretación, Mexiko: Ed. Siglo XXI.

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Organisierte Gewaltanwendung und ihre psychologischen Auswirkungen auf Kinder in Lateinamerika* Eine phänomenologisch-vergleichende Annäherung

Einleitung Erst seit kurzem wurde damit begonnen, die sozialpsychologischen Auswirkungen politischer Unterdrückung bei Kindern, insbesondere bei denjenigen, deren Eltern verhaftet oder gewaltsam verschwunden sind, wissenschaftlich zu untersuchen. Auch in Lateinamerika ist die Systematisierung und Vertiefung dieses neuen Themas noch kaum über das Stadium der anklagenden Berichte dieser bitteren Realität hinausgegangen. Dieser Aufsatz bezieht sich auf Erkenntnisse, die aus verschiedenen Forschungsarbeiten zu diesem Thema stammen. In erster Linie werden wir uns zur theoretischen Erweiterung des thematischen Kontextes den Bedürfnissen, Reaktionen und Auswirkungen auf die Kinder widmen, die unter den Bedingungen von Katastrophen und Kriegen gelebt haben. Eine spezielle Aufmerksamkeit soll dabei auf die Kindern von Überlebenden der Konzentrationslager gerichtet werden. Danach werden wir uns der besonderen Situation jener Kinder zuwenden, die von der organisierten Gewaltanwendung betroffen sind (Riquelme 1986), also den Kindern von Verfolgten, politischen Gefangenen und »Verschwundenen«. Abschließend werden dann Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen sozialpsychologischen Leidensformen der Kindheit herausgearbeitet. Die Forschungsarbeiten zum Thema der Kinder von Verfolgten, politischen Gefangenen und »Verschwundenen« zeigen, daß die Lage dieser Kinder und ihrer Familien noch alarmierender ist, als die der Opfer anderer Katastrophen. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die Lebenslage der Mehrheit der Familien weiterhin von großer Unsicherheit geprägt ist. Eine frühere und kürzere Fassung dieses Artikels wurde in englischer Sprache in der Tidsskrift for

Norsk Psykologforening 24 (1987), Nr. 2 , veröffentlicht.

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Die traumatischen Situationen, die diese Kinder aufgrund der Verfolgung, Verhaftung und des Verschwindens ihrer Eltern erleben, spiegeln sich in verschiedenen Störungen wieder. Oft weisen die Kinder Regressionen auf, entwikkeln Phobien und Angstzustände, haben Sprachschwierigkeiten und weisen neben anderen Symptomen auch Verhaltensstörungen auf. Bei den Kindern handelt es sich sowohl um indirekte als auch um unmittelbare Opfer der Folter, sei es als Zeugen der Mißhandlung oder der Ermordung ihrer Eltern oder sei es, weil sie selbst gefoltert oder mißhandelt worden sind, mit dem Ziel, die Eltern zur Preisgabe von Informationen zu zwingen oder sie einzuschüchtern. Die Panik und die Todesangst, die die Kinder erfahren, ist ein tiefes Trauma, das oft in Form der bereits genannten Symptome sichtbar wird. Unter dem Eindruck jenes Traumas kann die familiäre Struktur zerfallen. Oft sind die Personen, die für die Kinder verantwortlich sind, ebenso von Schrekken und Trauer betroffen, so daß sie nicht dazu in der Lage sind, den Kindern dabei zu helfen, ihre Gefühle auszudrücken und sie einzudämmen. Dieselben Repressionserfahrungen, unter denen Lateinamerika jahrzehntelang gelitten hat, sind auch in anderen Kontinenten gemacht worden. Das bedeutet, daß die Leiden der Kinder, auf die sich dieser Artikel bezieht, für die Leiden tausender anderer Kinder stehen, die in anderen Teilen der Welt mit ihren Familien ebenfalls verfolgt werden. Auch wenn die äußeren Bedingungen sich ändern - wie im Falle der Rückkehr zur Demokratie in mehreren lateinamerikanischen Ländern - , so leben die Folgewirkungen der erlebten Traumata in den Kindern fort und können sich auf die nachfolgenden Generationen auswirken. Diese Arbeit beabsichtigt, die Folgen und die Ausdrucksformen kindlicher Psychopathologien darzustellen, die auf die politische Verfolgung zurückgehen. Gleichermaßen wird versucht, die Gründe für das Auftreten psychologischer Probleme sowie ihre Folgen für die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung der Kinder zu erarbeiten und theoretisch zu begründen. Ein Gutteil der verwendeten Literatur stammt aus Arbeiten von lateinamerikanischen Kollegen, die meist mit knappen Mitteln in ihren Herkunftsländern oder im Exil veröffentlicht worden sind. Trotz der scheinbaren Bescheidenheit dieser Arbeiten, in Bezug auf ihre anfängliche Verbreitung, bilden sie eine unverzichtbare Quelle für die Dokumentation unserer Sozialgeschichte und ihrer psychologischen Folgewirkungen. Das Erkenntnisinteresse dieses Aufsatzes gründet auf meiner über dreizehnjährigen, pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit Kindern und Familien, die in Norwegen Zuflucht gefunden haben, und wird durch die Erfahrungen aus der alltäglichen klinischen Praxis erweiternd illustriert.

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Kinder als Opfer der organisierten Gewalt Die Autoren, die die Reaktionen von Kindern auf verschiedene Katastrophen untersucht haben, unterstreichen die Bedeutung des familiären Umfeldes als einen bestimmenden Faktor für das Wohlergehen des Kindes vor und nach der Katastrophe. Sowohl die Gegenwart wichtiger Bezugspersonen im Leben des Kindes, als auch das psychologische Gleichgewicht derselben während der Katastrophensituation, sind bestimmend für die psychische Reaktionsweise der Kinder (Dyregrov 1983, Fräser 1973, Weisaeth 1984). Die Bedeutung der Trennung von den Eltern für das Auftreten kindlicher Psychopathologien während Krieg und anderer Katastrophen ist von Freud und Burlingham (1943) in ihrer Studie über Kinder betont worden, die während des Zweiten Weltkrieges die Bombardierungen von London erlebt hatten. Ihre Beobachtungen sind später von anderen Autoren bestätigt worden (Fräser 1973, Weisaeth 1984). Unter anderem wurden bei den Kindern nach Katastrophen Angstzustände, hohes Auftreten von Neurosen, Phobien, Bettnässen und regressiven Zuständen sowie aggressives Verhalten beobachtet (Fräser 1973, Weisaeth 1984). Die Kinder spiegeln die Lage ihrer Eltern wieder In Katastrophen werden die Kinder über das Geschehen im allgemeinen durch die Eltern oder die nächsten Angehörigen unterrichtet. Selbstverständlich wird das Angstniveau, das diese dabei zum Ausdruck bringen, die Reaktionen der Kinder beeinflussen, da sie eine Erklärung für das Geschehene verlangen und ihre (Un-)Sicherheitsgefühle davon abhängig sind, wie die Erwachsenen Informationen und die notwendige Kontrolle der Gefühle vermitteln (Dyregrov 1983; Fräser 1973). Weisaeth behauptet diesbezüglich, daß, wenn »der Vater (oder die Mutter) fähig sind, (in einer Katastrophensituation) ihre eigene Angst einzudämmen, die Kinder häufig keine Extremreaktion aufweisen (...). Die Kinder neigen dazu, durch ihre Bezugspersonen Streß zu erleben« (Weisaeth 1984: 339). Kessler (1972) betont seinerseits die Rolle, die die Identifikation bei dem Erkennen der Angst durch die Kinder spielt, da diese dazu neigen, die Reaktionen ihrer Bezugspersonen zu imitieren. Umkehrung der Rollen in katastrophischen Situationen In schwierigen Situationen, die die Eltern als angstbesetzt erleben, kann das Phänomen der »Rollenumkehrung« auftreten. Dieses Phänomen bedeutet, daß die Kinder sich dazu gezwungen sehen, ihre Eltern zu stützen und zu trösten,

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die paradoxerweise dieses Beschützerverhalten von ihren Kindern erwarten. Die Verhaltensform der Eltern scheint jedoch nicht durch die Streßsituation bestimmt zu sein, sondern durch Persönlichkeitsmerkmale der Eltern, die sie daran hindern, gegenüber den Kindern die Elternrolle zu erfüllen (Fräser 1973). Das Kind wird dadurch, daß es die eigenen Eltern als verletzlich erlebt, daran gehindert, in natürlicher Weise die Angst auszudrücken, die es in der angstbesetzten Situation spürt. Dies kann dazu führen, daß sich die Angst in verschiedenen Symptomen ausdrückt. Der »battle stress« bei Kindern Fräser (1973), ein irischer Kinderpsychologe, hat die psychologischen Reaktionen von Kindern untersucht, die den Straßenkrieg in Ulster miterleben. Im Unterschied zu den Kindern, die während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges untersucht worden sind, waren diese Kinder langfristigen Gewaltsituationen ausgesetzt. Diese Beobachtungen über die Allgegenwart und die lange Dauer der Gewalt werden durch Statistiken der UNICEF unterstützt. Sie zeigen, daß während des Ersten Weltkrieges 5 % der Zivilbevölkerung direkt von Gewalt betroffen waren, während des Zweiten Weltkrieges 50 %, während des Vietnamkrieges 80 % und während des Libanonkrieges 90 %. Fräser weist darauf hin, daß während beider Weltkriege die Kinder so beschützt werden konnten, daß sie den Feind, das Blut, die Verwundeten und andere Situationen des Schlachtfeldes nicht zu Gesicht bekamen. Derselbe Autor betont jedoch, daß im Gegensatz dazu die Kinder in Ulster - wie die Mehrheit der lateinamerikanischen Kinder, auf die sich diese Arbeit bezieht - von den sie umgebenden Gewalterfahrungen sehr stark betroffen sind. Dies spiegelt sich in schwerwiegenden psychologischen Symptomen wider, die denen ähneln, die normalerweise Soldaten als Folge der traumatischen Kriegserfahrungen aufweisen und die als »battle stress« bezeichnet werden. Magisches Denken bei Kindern Bis zu einem Alter von fünf oder sechs Jahren sind Kinder nicht in der Lage, zwischen Wirklichkeits- und Phantasieerlebnissen zu unterscheiden. Kleine Kinder schreiben ihren aggressiven oder destruktiven Phantasien ursächliche Wirkungen zu, und können deshalb eine Katastrophe ihren eigenen aggressiven Gedanken zuschreiben. Ein Kind kann sich angesichts des Todes, der Erkrankung eines Geschwisterteils oder eines Elternteils schuldig fühlen und das Eintreten dieser Ereignisse als Strafe für sein böses Verhalten interpretieren oder auch glauben, daß dies eine Folge seiner aggressiven oder destruktiven

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Phantasien ihnen gegenüber sei (Piaget 1974, Dyregrov 1983, Fräser 1973, Bowlby 1981). Wenn die Katastrophe bereits eingetreten ist, kann sich das Kind schuldig fühlen und seine Gefühle über ein gehemmtes oder aggressives Verhalten ausdrücken. Bowlby (1984) hat darauf hingewiesen, daß hinter dem aggressiven Verhalten von Kindern, die den Verlust oder die Trennung von Bezugspersonen erfahren, häufig Schuldgefühle gegenüber den Ereignissen stehen, die zu dieser Verlustsituation geführt haben. Ängste und Bedürfnisse in katastrophischen Situationen Die größte Angst, die Kinder haben, liegt darin, von ihren Eltern getrennt zu werden (Mahler 1975, Bowlby 1979). Die Beobachtungen von Fräser (1973) bei den Kindern von Ulster bestätigen dies. Während der Straßenkämpfe forderten die Kinder den körperlichen Kontakt mit ihren Bezugspersonen, und nachdem diese vorbei waren, sprachen sie über das Geschehene oder zeichneten es, um ihre Gefühle auszudrücken. Fräser hat beobachtet, daß die Kinder, die während der Angriffe mit ihren Eltern zusammen waren, die Situation besser bewältigen konnten als jene, die von ihren Eltern getrennt waren. Andere Untersuchungen zeigen, daß Kinder, die von ihren Eltern keinen emotionalen Halt bekamen, nach dem durch einen Tornado verursachten Trauma, häufiger emotionale Probleme aufwiesen als solche, die emotionale Unterstützung erhalten hatten (Bloch, Silber/Perry 1956, zit. bei Weisaeth 1984). Kinder, die von dem Verschwinden oder der Inhaftierung ihrer Eltern betroffen sind Wie im Falle der von Fräser in Ulster untersuchten Kinder sind auch Kinder, deren Eltern politisch verfolgt werden, unmittelbar Gewaltakten ausgesetzt. Oft haben sie gesehen, wie die Sicherheitskräfte ihre Eltern gefangengenommen und mißhandelt haben, und die Wohnungseinrichtung zerstört oder gestohlen haben. Häufig werden auch die Kinder selbst gefangengenommen und gefoltert, um die Eltern zum Sprechen zu zwingen. In einigen Fällen sind Kinder auf der Straße oder im Haus alleingelassen worden, während ihre Eltern inhaftiert wurden (Cohn 1980, Barudy 1980, Liwsky und Guarino 1983, Vázquez und Richard 1978; Carrasco und Escardó 1980). Wie weiter unten angeführt, hat diese dramatische Trennung von den Eltern oder einem Elternteil schwerwiegende Folgen für die spätere emotionale und kognitive Entwicklung der Kinder, da die Eltemanwesenheit von großer Be-

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deutung ist. Ganz besonders dann, wenn Kinder einer Kriegssituation ausgesetzt sind (Fräser 1973, Freud und Burlingham 1943) oder andere Katastrophen erleben (Dyregrov 1983, Weisaeth 1984).

Die Veränderung der unmittelbaren Umgebung des Kindes Soziale Segregation Während bei anderen Arten von Katastrophen tendenziell die gesamte Gemeinde, das Stadtviertel oder die ethnische Gruppe betroffen sind, trifft die politische Repression und Verfolgung in Lateinamerika im Gegensatz dazu meist die einzelne Person der Gesellschaft. Obwohl davon Tausende von Personen betroffen sein können, verhindern die Bedingungen der Repression selbst, daß sich eine Gruppe bildet, die Halt und Identifikationsmöglichkeiten verleihen kann. Die betroffenen Familien kennen im allgemeinen keine anderen, die dieselbe Situation erleiden, und sind oft dazu gezwungen, das ihnen Widerfahrene zu verbergen, um weitere Repressalien und Verfolgung zu vermeiden. Auf diese Weise sehen sich die Kinder von verhafteten oder verschwundenen Eltern dazu gezwungen, sowohl mit dem Verlust eines oder beider Eiternteile, als auch mit der Zerstörung ihrer sozialen Umwelt, fertig zu werden. Sie müssen häufig umziehen, um bei den Großeltern oder anderen Verwandten in einem anderen Viertel zu leben und eine andere Schule zu besuchen und müssen sogar ihre Identität verändern, um ihr Leben zu schützen. Die Angst vor der Verfolgung führt dazu, daß von einem Ort zum anderen gegangen wird, ohne den Kontakt mit alten Freunden aufrechterhalten oder neue Freundschaften schließen zu können. Einen besonderen Fall stellen jene hunderte von Kindern dar, die ihre Identität und ihre Familien verloren haben: es sind Kinder, die nach der Entführung ihrer Eltern von der Polizei oder dem Militär, die für das Verschwinden ihrer Eltern verantwortlich waren, in Heime gesteckt oder unter falschen Namen zur Adoption freigegeben wurden (Amnesty International 1982, Abuelas de Plaza de Mayo 1983). Restrukturierung der Familie Kinder, deren Eltern entführt und/oder inhaftiert wurden, erleben eine dramatische Veränderung der Familienstruktur. Nicht nur durch den Verlust eines oder beider Elternteile, sondern auch dadurch, daß die neuen Bezugspersonen damit beschäftigt sind, die Verhafteten ausfindig zu machen. Dies bedeutet, daß das Kind, über den Verlustschock hinaus akuter Vereinsamung ausgesetzt ist.

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Infantilisierung der Elternfiguren Die körperlichen und psychischen Verletzungen, die die politisch Verfolgten durch die Sicherheitskräfte erleiden, werden oft durch massive Kampagnen öffentlich legitimiert. Sie verächtlichen und kriminalisieren die Verfolgten und können dazu führen, daß sich das Bild der Eltern bei den Kindern der Verhafteten und Verschwundenen verschlechtert. Verschiedene Autoren (Väsquez und Richards 1978, Liwsky und Guarino 1983, Barudy 1984) haben darauf hingewiesen, daß diese Kinder einander widersprechenden Einstellungen, Botschaften und Wertorientierungen ausgesetzt sind, die die Verlusterfahrung chaotisch wirken lassen. Zusätzlich trägt die Tatsache, daß die Eltern von der Polizei verschleppt werden, dazu bei, das Kind zu verwirren. Für die Mehrheit der Kinder ist die Polizei gleichbedeutend mit Gerechtigkeit: Sie bestraft die Bösen und hilft den Guten. Die Folge davon ist, daß das Kind an den guten Eigenschaften seiner Eltern zweifelt, da diese von der Polizei oder den Streitkräften wie Verbrecher behandelt worden sind (Väsquez und Richards 1978, Liwsky und Guarino 1983, Barudy 1984). In vielen lateinamerikanischen Ländern kämpft nur eine exponierte Gesellschaftsgruppe gegen das totalitäre Regime und wurde oder wird deswegen verfolgt. Deswegen haben die Betroffenen kaum die Möglichkeit dazu, ihre Erfahrungen offen der Mehrheit der Gesellschaft mitzuteilen. In verschiedenen Ländern neigen, auch nach der Rückkehr zur Demokratie, breite Teile der Gesellschaft dazu, die Menschen zu stigmatisieren und zu isolieren, die von der Repression der Diktatur betroffen waren. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet der Fall Nicaraguas. Die sandinistischen Behörden haben sich bewußt für die Rehabilitierung und Integration der von dem Befreiungskrieg und den Angriffen der Contra Betroffenen Erwachsenen und Kinder eingesetzt. Folgen für die moralische Entwicklung des Kindes Aufgrund der natürlichen Loyalität, die das Kind gegenüber seinen Eltern empfindet, kann es sich dazu gezwungen sehen, daran zu glauben, daß sie Recht hatten. Es entwickelt jedoch auch Zweifel an den moralischen Werten, die die Eltern repräsentieren, da sie von der Gesellschaft verurteilt werden. Die Psychologinnen Ana Väsquez und Gabriela Richards (1978) haben darauf hingewiesen, daß Kinder, die ihre Eltern als verletzlich und kindlich erlebt haben, sie nicht mehr als Vertreter des moralischen Gesetzes wahrnehmen können. Diese Funktion fällt nun auf andere soziale Akteure zurück, wie z.B. die Polizei, das Heer und die Regierung. Piaget (1974) hat die Rolle der Affektivität in der Konstruktion der moralischen Werte des Kindes hervorgehoben und daraus gefolgt, daß diese Werte

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aus der Achtung - einer Mischung aus Liebe und Angst - entstehen, die es seinen Eltern einseitig entgegenbringt. Zu einem späteren Zeitpunkt machen diese Gefühle einer gegenseitigen Achtung Platz, die dazu führt, daß das Kind die moralischen Werte der Eltern verinnerlicht. Väsquez und Richards weisen darauf hin, daß die Strenge des von den Eltern repräsentierten Gesetzes durch die affektive Wärme der Eltern-Kind-Beziehung gemildert wird, während die Gesetze, die durch Kräfte eingesetzt werden, die den Bezugspersonen äußerlich sind, unflexibel und emotionslos sind. Deswegen ist das Kind gezwungen, sich so schnell wie möglich an dieses harte Gesetz anzupassen. Dies geschieht auf eine oberflächliche Weise, die negative Folgen für die soziale und kreative Entwicklung des Kindes haben kann (Väsquez und Richards 1978). Folgen für die soziale Anpassung des Kindes Die nachgiebige Haltung, die diese Kinder gegenüber dem Gesetz einnehmen müssen, erlaubt es nicht, sich als Teilhaber dieses Gesetzes zu fühlen. Dies beeinträchtigt ihre soziale Entwicklung. Im allgemeinen sind die Kinder von politischen Gefangenen oder Verschwundenen durch gering entwickelte soziale Fähigkeiten geprägt. Häufig werden sie auch als unterwürfig und passiv beschrieben, als Kinder, die eher dazu neigen, zu rezipieren und zu wiederholen, keine Initiative zu sozialen Kontakten ergreifen und deren Kreativität nur gering entwickelt ist (Väsquez und Richards 1983). Um von ihren Schul- und Spielkameraden akzeptiert zu werden, sehen sich diese Kinder oft dazu gezwungen, ihre familiäre Situation und ihre Erfahrungen zu verbergen und so einen Teil ihres Lebens und ihrer Identität als Kinder ihrer Eltern zu leugnen. Dieser Aspekt und die Tatsache, daß diese Kinder sich häufig dazu gezwungen sahen, ihre Umwelt zu wechseln, trägt zur sozialen Isolierung und zu einem niedrigen Selbstwertgefühl bei, das von verschiedenen Forschern festgestellt worden ist (Liwsky und Guarino 1983; Pidee 1984, Barudy 1984). Den Kindern mangelt es an der Möglichkeit, ihre Angst auszudrücken Kinder haben nach einem starken traumatischen Ereignis das natürliche Bedürfnis, ihre Ängste auszudrücken. Dies stellt einen entscheidenden Aspekt für die Verarbeitung der Krise dar (Fräser 1973, Aberastury 1978, Bowlby 1981, Martinez et al. 1990). John Bowlby, ein englischer Kinderpsychiater, unterstreicht die Bedeutung der Umwelt, in der sich das Kind entwickelt, als einen Faktor, der den normalen Verlauf des Trauerprozesses angesichts des Verlusts einer Bezugsperson fördern oder verhindern kann. Das ist der Fall, wenn die Erwachsenen, die sich um das Kind kümmern, die Traurigkeit und die Verzweiflung des Kindes nicht auffangen können, ihre eigenen Gefühle dazu ver-

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bergen und vermeiden, dem Geschehenen oder der Person gebührend Platz einzuräumen (Bowlby 1981, Aberastury 1978). Die Untersuchungen, die über die Kinder von politischen Gefangenen und Verschwundenen durchgeführt worden sind, zeigen, daß diese Kinder im allgemeinen kaum die Möglichkeit haben, ihre Gefühle auszudrücken, und daß die verantwortlichen Erwachsenen dazu neigen, das Geschehene vor ihnen zu verbergen. Sogar nachdem das Kind gesehen hat, daß sein Vater von der Polizei verhaftet worden ist, kann es vorkommen, daß es von den Erwachsenen damit »getröstet« wird, daß sein Vater verreist sei und bald wiederkommen werde (Pidee 1985, Barudy 1984). Dies kann dazu beitragen, die Verwirrung des Kindes zu steigern und schließlich dazu führen, daß es über das Geschehene keine Fragen mehr stellt. Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, warum die Erwachsenen nicht dazu fähig sind, den Kindern angemessene Antworten zu geben. Ein Grund kann darin liegen, daß sie in der Tat den Aufenthaltsort oder das Schicksal der verhafteten Person nicht kennen. Das größte Hindernis stellt jedoch die eigene Angst gegenüber dem Geschehenen dar. Die Ungewißheit über das Schicksal der geliebten Person(en), die von den Sicherheitskräften verhaftet wurde(n), und die ständige Angst vor neuen Verhaftungen in der Familie kann die verantwortlichen Erwachsenen in einen Zustand der Verzweiflung und Resignation versetzen. Im Gegensatz zu anderen Arten von Katastrophen, besteht hier für die Erwachsenen keine Gelegenheit, neue Gefahren zu verhindern und sie sind der Gefahr besonders ausgesetzt, vom Gefühl der Machtlosigkeit beherrscht und für Depression anfällig zu werden. Auswirkungen für die kognitive Entwicklung des Kindes Arminda Aberastury hat bei der Untersuchung der Reaktionen von Kindern angesichts des Todes festgestellt: »Der Erwachsene belügt sich selbst, wenn er glaubt, durch Ungeschehenmachung das Kind vor dem Leid zu schützen, als ob die Negation des Schmerzes diesen auf magische Weise annullieren könnte.« (1978:163) Diese Beobachtungen gelten auch für die Kinder dieser Studie, da aufgrund der Unwahrheiten der Erwachsenen »das Kind eine furchtbare Verwirrung und ein desolates Gefühl der Hoffnungslosigkeit verspürt, weil es sich an niemanden wenden kann« (ebd.: 164). Dieselbe Autorin glaubt, daß der Mangel an Auskunft und Haltung zu einer Hemmung der kindlichen Neugierde führt, die auf andere Lebensbereiche des Kindes übertragen werden kann, und zwar in der Form von fehlendem Interesse an der Erforschung seiner Umwelt. Dies kann dazu führen, daß keine Fragen mehr gestellt werden, eventuell auch zu kognitiven Schwierigkeiten, die einen normalen Lernprozeß behindern können.

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Verschiedene Autoren (Vásquez und Richards 1978, Liwsky und Guarino 1983, Araya et al. 1980, Pidee 1984) haben ihre Untersuchungen auf die negativen Folgen ausgerichtet, die das Verschwinden oder die Inhaftierung der Eltern für die kognitive Entwicklung der Kinder haben kann. Zu den beobachteten und beschriebenen Schwierigkeiten zählen Lemprobleme, fehlende Kreativität, Konzentrationsschwierigkeiten und Hemmungen, an den schulischen Aktivitäten teilzunehmen. Die Erfahrungen der Menschenrechtskommission von Guatemala mit guatemaltekischen Kindern, die den Massakern des Heeres zum Opfer gefallen sind, zeigen, daß das Auftreten von Lernproblemen bei von Gewaltakten betroffenen Kindern häufiger ist, als bei nichtbetroffenen Kindern anderer lateinamerikanischer Länder (Comisión de Derechos Humanos de Guatemala 1987). Existentielle Loyalität und Delegierung des familiären Gebots Neben anderen Autoren haben Stierlin (1979) und Bugge (1989) darauf hingewiesen, daß die Loyalität, die die Kinder ihren biologischen Familien entgegenbringen, besondere Bindungen schafft, die sie dazu führen, sich mit den Erwartungen und Wünschen der Eltern zu identifizieren. Die Erfüllung dieser Erwartungen oder familiären Gebote kann jedoch zu einer schwierigen Lage führen, auf die die Kinder nicht vorbereitet sind. Die Kinder von politisch Verfolgten sehen sich häufig dazu gezwungen, die Befreiung des Vaterlandes durchführen zu müssen, die ihre Eltern begonnen haben. Dies wird insbesondere im Exil bei den männlichen Kindern deutlich, da die gesamte Familie in einem alltäglichen hochpolitisierten Klima lebt. Die Vorstellung, die politische Aufgabe der Eltern zu vervollständigen, umfaßt für das Kind sowohl Gefühle des Stolzes als auch der Angst, da es sich bei der Feststellung eigener Werte und Absichten wichtig und von den Eltern anerkannt fühlen kann. Bei der Umsetzung der Aufgabe kann es sich jedoch als potentielles Opfer von Verhaftungen, Gefangennahme, Folter und Tod wahrnehmen. Das emotionale Chaos und die Angst, die dies hervorruft, kann sich in verzweifeltem und aggressivem Verhalten ausdrücken. Kinder als mittelbare Zeugen traumatischer Erfahrungen Häufig sind Kinder Zuhörer von detaillierten Beschreibungen der traumatischen Erfahrungen der Erwachsenen. Die Abwesenheit eigenen Erfahrungskontextes, d.h. eine absolute Unmittelbarkeit zerstörerischer Situationen, ruft bei ihnen angesichts ihrer Hilflosigkeit und Machtlosigkeit Angst hervor und kann sie stark verunsichern.

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So scheint die Tatsache, daß das Kind ständig Beschreibungen von gefährlichen und schrecklichen Situationen anhören muß, die die Erwachsenen durchlitten haben, zur ausgeprägten Verunsicherung beizutragen. Das Kind integriert die Phantasien, die es mit den Beschreibungen von Entführungen, Verhaftungen und Qualen assoziiert, in seinen eigenen Erfahrungshorizont. Ein überpolitisiertes familiäres Klima trägt dazu bei, das Kind zu verunsichern. Meine Erfahrung mit Flüchtlingskindern in Norwegen ist die, daß das Familienleben häufig um Themen kreist, die sich auf die politische Verfolgung und den Befreiungskampf im Herkunftsland beziehen und daß die Kinder ständig Gesprächen, Videos und Bildmaterial ausgesetzt sind, die sie verängstigen können. Die Psychotherapie der Kinder von Opfern der Konzentrationslager macht deutlich, daß die Kinder das Eindringen erschreckender Erzählungen in ihre kindliche Phantasie erfahren, ohne daß sie den Schrecken, der sie einkreist und unterdrückt, relativieren können (Winnik 1968, Trossman 1968). Die (Un-)Fähigkeit, Umfang und Qualität von Informationen einzuschätzen, die an Kinder weitergegeben werden, ist ein Aspekt, der auf das Niveau des psychischen Schadens hinweist, den die Erwachsenen erlitten haben. Einige Autoren glauben, daß die gesündesten Eltern selten die Erfahrungen erwähnen, die sie während des Krieges gemacht haben (Trossman 1968). Andere Autoren meinen, daß die psychisch am meisten verletzten Eltern auch nicht über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen (Weisaeth 1986). Dies kann dazu führen, daß sie im Verlauf der Kindheit und der Adoleszenz ihrer Kinder psychisch abwesend wirken. Dies kann Identitätsprobleme verursachen, wenn das Kind dasselbe Geschlecht hat wie der betroffene Elternteil (Rakoff 1966). Das emotionale Bedürfnis, Angst auszudrücken und von den Eltern emotionalen Halt sowie Auskunft über die den Streß verursachende Situation zu erhalten, ist als eines der wichtigsten emotionalen Bedürfnisse genannt worden (Fräser 1973). Das Niveau der Verunsicherung, die die Erzählungen der Erwachsenen begleitet, ist ebenfalls relevant für die Angst, die das Kind verspürt. Ein wichtiger Aspekt ist die Möglichkeit, daß es zu einer Umkehrung der Rollen kommen kann, in der der Erwachsene das Kind zum Auffangen seiner Ängste benutzt, und in der das Kind sich dazu gezwungen sieht, dem Erwachsenen Halt zu geben (Fräser 1973). Dies kann dazu führen, daß die Kommunikation zwischen beiden beeinträchtigt und das Kind überbelastet wird. Das kindliche Spiel in Krisensituationen Das kindliche Spiel ist durch die Erfahrungen geprägt, die das Kind erlebt hat. Durch das Spiel entfaltet es Konfliktsituationen, in denen es Gefühle der Angst und der Machtlosigkeit ausdrückt. Häufig verwandelt sich das Kind im Spiel

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jedoch vom Opfer in den Akteur, indem es seinem Spielzeug oder seinen Spielkameraden Leid zufügt. Durch diesen Mechanismus - der im nächsten Absatz detailliert beschrieben wird - versucht es, das Geschehene zu verarbeiten, um ein besseres psychologisches Gleichgewicht zu erreichen. Hier besteht jedoch auch das Risiko, daß das Kind nur aggressive Verhaltensformen aufzeigt, ohne die ursprünglichen traumatischen Situationen zu überwinden. In Krisensituationen spiegelt das kindliche Spiel das alltägliche Erleben der Kinder wider, einschließlich Gewalt und Zerstörung. Dies ruft bei den Erwachsenen häufig Angst und eine Neigung zu Sanktionen hervor, wodurch eine vermeintliche Bosheit der Kinderhandlungen unterstrichen wird. Ein Teufelskreis entsteht, in dem das Kind vom Spiel nicht lassen kann, um seinen Schmerz zu überwinden und das Trauma in neuen sozialen Situationen reaktiviert. Es wird dafür von den Erwachsenen bestraft, was seine Angst erhöht und sein Selbstbewußtsein verringert, wodurch es erneut zu destruktiven Spielen kommt. Beispiel: Zwei Kinder, eines aus dem Iran, sieben Jahre alt, und das andere aus dem Irak, neun Jahre alt, greifen einander auf dem Schulhof an. Beide leben erst seit einigen Monaten in Norwegen und haben die Sprache noch nicht gelernt, so daß sie nicht mit den norwegischen Kindern spielen können. Sie »wiederholen« den Krieg zwischen ihren Herkunftsländern auf dem Schulhof. Einer lebt allein bei seinem Vater, der verfolgt und gefoltert wurde, seine Mutter ist im Irak geblieben. Der andere lebt bei seiner Mutter, der Vater ist im Iran getötet worden. Beide Kinder identifizieren sich stark mit ihren Eltern und hören jeden Tag etwas über die gewaltsamen Umstände, die sie in das Exil gezwungen haben. Die Schulleitung ist besorgt und denkt, daß die Gewalt der Kinder auf ihre Herkunft als »Araber, Moslems und kulturell ohnehin gewalttätige Menschen« (sie!) zurückzuführen sei. In der Arbeit mit den Kindern, ihren Lehrern und Eltern wurde versucht, die durch Krieg bedingte Verhaltensgrundlage dieser Kinder zu erklären und dafür ein unmittelbares Verständnis anstatt pauschaler Annahmen zu fördern. Identifikation mit dem Aggressor Dieser Verteidigungsmechanismus - die Identifikation mit dem Aggressor (Freud 1936) - ist häufig in der psychotherapeutischen Praxis mit Kindern beobachtet und beschrieben worden, die in Lateinamerika von politischer Repression betroffen waren. Die Gewalterfahrungen, der sie und ihre Familien ausgesetzt waren, können insbesondere bei den Knaben zur Identifikation mit den

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Sicherheitskräften führen. Dies drückt sich in gewalttätigen und aggressiven Spielen aus, wenn sie älter sind auch in dem Wunsch, »Soldat« oder »Polizist« zu werden, um nicht zu den »Verlierern« zu gehören, um nicht mißhandelt zu werden oder in das Exil gehen zu müssen (Carrasco und Escardó 1981, Comisión de Derechos Humanos de Guatemala 1987). Beispiel: Martin ist acht Jahre alt, in Chile geboren und lebt seit drei Jahren in Norwegen, er hat sich gut in seine Schule integriert. Seine Eltern sind in der Solidaritätsarbeit mit dem Herkunftsland sehr engagiert und erklären dem Jungen ständig ihre Überzeugungen. Martin macht jedoch deutlich, daß er »kein Sozialist werden will, weil man dann rausgeworfen wird und sein Land verlassen muß«. Die Perspektive dieser Wahl kann die Kinder vor ein emotionales Dilemma stellen, sodaß sie sich einerseits den Eltern verpflichtet fühlen und andererseits aber Angst davor haben, dasselbe Schicksal zu erleiden und Opfer ähnlicher Qualen zu werden. In dieser Situation drückt die Identifikation mit dem Aggresor den Wunsch aus, die Situation umzukehren und die Kontrolle über ihre Bedingungen zu übernehmen, um selbst in der Lage zu sein, anderen Leid zuzufügen. Nicht gelöste Trauer bei Kindern und den Personen, die sich um sie kümmern Kinder, deren Eltern verhaftet wurden oder verschwunden sind, teilen mit den Personen, die sie betreuen, die Erwartung, das betroffene Familienmitglied wiederzusehen. Natürlich ist die Lage für die Menschen noch schlimmer, für die sowohl der Aufenthaltsort ihrer Angehörigen, als auch ob diese noch leben oder schon gestorben sind, unbekannt ist. Diese Personen hoffen lange Zeit darauf, ihre Angehörigen wiederzusehen und leben so in einem konstanten Streßzustand. Gleichzeitig kann ihr Trauerprozeß nicht abgeschlossen werden, da sie emotional »in der Luft hängen« und es als Verrat empfinden, die Abwesenden selbst für tot zu erklären (Riquelme 1988 und 1990). Bowlby (1981) hat die Störungen detailliert beschrieben, die normalerweise bei einem nicht abgeschlossenen Trauerprozeß auftreten. Diese Störungen können sich im Laufe von Jahren entwickeln, bevor sie durch Symptome sichtbar werden. Derselbe Autor hat darauf hingewiesen, daß hinter dem aggressiven Verhalten eines Kindes häufig Schuldgefühle stehen, die durch Verlustsituationen, die es erfahren hat, hervorgerufen werden und für die es sich auf magische Weise verantwortlich fühlt (ebd.).

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Psychopathologien bei Kindern, die der politischen Repression zum Opfer gefallen sind Unter den psychischen Störungen, die Kinder von politischen Gefangenen und Verschwundenen aufweisen, treten Schlafstörungen (oft verbunden mit Alpträumen über Soldaten, die Polizei, Ermordung der Eltern), Phobien und Angstzustände (hervorgerufen durch Sirenen, Uniformierte, Autos und Motoren) besonders häufig auf. Oft kommt es auch zu regressiven Verhaltensweisen: Das Kind wird abhängig, näßt ein und hat Sprachschwierigkeiten. Wie bereits gesagt können auch Konzentrationsschwierigkeiten und fehlende Kreativität gemeinsam mit sozialen Hemmungen und aggressivem Verhalten zu schulischen Leistungsschwierigkeiten führen. Psychosomatische Reaktionen sind ebenfalls häufig und drücken sich durch Kopf- und Magenschmerzen aus, Eßstörungen wie Anorexie, Fettleibigkeit, Gewichtsverlust, Bettnässen und Einkoten (Allodi 1980, Cohn 1980, Liwsky und Guarino 1983, Barudy 1984, Carrasco und Escardó 1981, Araya et al. 1980, Hjern und Angel 1988). Bei der Feststellung psychischer und psychosomatischer Störungen bei Kindern von Verschwundenen und politisch Verfolgten kann die Berücksichtigung einiger allgemeiner Überlegungen über die Auslöser von kindlichen Neurosen und anderen Pathologien interessant sein. Nach der Äthiologie von Freud (1958) wird zwischen konstitutionellen Neurosen und reaktiven Neurosen unterschieden. Die Mehrheit der Kinder, auf die sich diese Arbeit bezieht, weist Symptome als Folge einer reaktiven Neurose auf, in der die traumatische Situation real und konkret ist. Obwohl familiäre oder konstitutionelle Faktoren für die Äthilogie eine Rolle spielen können, weist die Mehrheit der Autoren, die mit Kindern politischer Gefangenen und Verschwundenen gearbeitet hat, auf die aktive Rolle hin, die die Diktaturen bei dem Auftreten und der Entwicklung der psychischen Symptome gespielt haben. In der Symptomatologie der Kinder, die der politischen Repression zum Opfer gefallen sind, finden wir dasselbe reaktive Spektrum wieder, das andere Kinder in intensiven Streßsituationen aufweisen. Dies muß berücksichtigt werden, da der universelle Charakter der Symptomatologie dazu führen kann, daß der Psychologe die Äthiologie des Traumas vergißt. Gleichzeitig muß darauf bestanden werden, daß die reaktiven Symptome als nachvollziehbare Symptome behandelt werden, d.h. daß den Eltern und Kindern erklärt wird, daß diese Symptome normalerweise in schwierigen Situationen auftreten. Es sollte also nicht pathologisiert werden, sondern es muß das gegenseitige Verständnis gefördert werden.

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Kasuistik Regressive Verhaltensweisen: Wie wir gesehen haben besteht die größte Angst der Kinder darin, von den Eltern getrennt zu werden. Diese Verlustangst drückt sich häufig durch regressive Verhaltensweisen aus. Die Kinder zeigen eine starke Anhänglichkeit von den Eltern und ängstigen sich, wenn sich diese nicht in unmittelbarer Nähe befinden. Diese Verhaltensweisen können als schmerzhafte Verzögerung der kindlichen Entwicklung erlebt werden: eine Entwicklungsstufe, die bereits erreicht worden war, wird durch eine unerwünschte Verhaltensweise blockiert. Sekundäres Bettnässen bei einem kleinen Mädchen: Carrasco und Escardó stellen den Fall von Isabel vor, einer achtjährigen Uruguayerin, drittes Kind eines Akademikerehepaares. Das Kind entwickelte sich bis zu einem Alter von fünf Jahren normal, als sein Vater in den Untergrund gehen mußte. Das Heer suchte ihn und verwandelte das Haus in eine »Mausefalle«, umringte es fünf Tage lang, um den Vater und seine Kameraden zu fangen. Jedes Geräusch in der Umgebung des Hauses erhöhte die Anspannung der Familienmitglieder, die befürchteten, daß der Vater heimkäme und verhaftet würde. In diesen Tagen beginnt Isabel damit, das Bett einzunässen (Carrasco und Escardó 1981:5ff.). Alpträume und Phobie vor der Dunkelheit bei einem Neunjährigen: Pablo ist ein chilenischer Junge, der in ein Kinderheim - ein »Kindergefängnis« - eingewiesen wurde, während der Vater im Untergrund war. Die Wachen des Heims mißhandelten und schlugen ihn mit einem Kabel, um ihn zu zwingen, den Aufenthaltsort des Vaters zu verraten. Als die Familie im Exil wieder zusammenkommt, leidet Pablo unter blutigen Alpträumen, in denen er die Mißhandlungen im Kinderheim erneut durchlebt. Außerdem hat er Angst vor der Dunkelheit und davor, alleine zu schlafen. Sprachstörungen, Störungen der sozialen Beziehungen und Lernschwierigkeiten bei einem Zwölßährigen: José aus Chile wird von Carrasco und Escardó vorgestellt (1981). Im Alter von neun Jahren befand Pablo sich mit seinem Vater und seinem Bruder zuhause, als die Militärs kamen und seinen Vater vor den Augen der Kinder mißhandelten. Die Mutter war ausgegangen und als José sah, daß sie sich dem Haus näherte, wollte er ihr etwas zurufen, damit sie entkommen könnte, er brachte jedoch kein Wort heraus. Seit diesem Tag begann José zu stottern; später nahmen seine schulischen Leistungen ab.

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Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen bei einem Siebenjährigen: Als Camilo fünf Jahre alt war, wurde seine Mutter verhaftet und gefoltert, um den Aufenthalt ihres Mannes zu erzwingen, eines uruguayischen Militärs, der in Opposition zur Diktatur stand. Nachdem die Familienmitglieder in verschiedene spanischsprachige Länder ins Exil gegangen waren, konnte die Familie in Norwegen wieder zusammenfinden. Camilos Eltern sprechen oft über das Geschehene, wie schlecht es ihnen in Norwegen geht und von der Hoffnung, daß die Kinder keine »Norweger« werden, sondern die Arbeit der Eltern fortsetzen. Als er von den Mißhandlungen seiner Mutter hört, wird Camilo traurig und unruhig. In der Schule hat Camilo oft Streit mit anderen Kindern und Konzentrationsschwierigkeiten, er zerstört Stifte und Radiergummis. Phobien: Zu den häufigsten Reaktionen bei Kindern, die Zeugen von Mißhandlungen durch die Sicherheitskräfte gewesen sind, gehören Phobien vor Uniformen, Sirenen und plötzlichen Geräuschen. Silvia, ein kleines Mädchen, das von der Polizei vergewaltigt wurde, reagiert wie gelähmt, wenn es uniformierte Männer oder Männer mit blauen Jacken sieht. Sie erschrickt furchtbar, wenn sie Polizeiwagen hört und braucht den unmittelbaren körperlichen und verbalen Kontakt und den Schutz der Eltern. Marcos ist ein zweieinhalbjähriges Kind, das sich mit seinen Eltern in Norwegen im Exil befindet. Sein Vater wurde von der Polizei gefangengenommen und das Haus, in dem sie lebten, wurde durch die chilenische Polizei in Brand gesteckt. Marcos weint und ängstigt sich, wenn er ein rotes Auto sieht, da es ihn an die Feuerwehr erinnert.

Ähnlichkeiten mit Problemen von Kinder der Überlebenden in Konzentrationslager Die Kinder von politisch Verfolgten und Verschwunden weisen Symptome auf, die denen ähneln, die bei Kinder von Überlebenden der Konzentrationslager vorzufinden sind. Mehrere Autoren haben auf die Auswirkungen der Traumata der Eltern auf die zweite Generation hingewiesen. Die Überlebenden werden häufig wie versunken in ihre eigene, nicht abgeschlossene Trauer der toten Angehörigen beschrieben. Sie haben starke Schuldgefühle, weil sie überlebt haben. Sigal (1973) behauptet, daß die Kinder eine Störung des Trauerprozesses der Eltern bilden; dies kann zu einem Teufelskreis führen, in dem die Kinder versuchen, die Aufmerksamkeit der - psychisch abwesenden - Eltern durch extreme, schrankenlose Verhaltensweisen zu erregen, ohne eine angemessene Reaktion von den Eltern zu erhalten. Derselbe Autor hat glei-

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chermaßen beobachtet, daß die Eltern zuweilen aggressive Verhaltensweisen bei ihren Kindern förderten, die sie selber aus Angst vor Repressalien nicht gewagt hatten. Die Schuldgefühle, die die Eltern haben, weil sie nicht in der Lage gewesen sind, das Leben der Geschwister, Eltern und anderen Angehörigen zu retten, macht sie unfähig dazu, den eigenen Kindern Schranken zu setzen (Sigal 1973). Rakoff (1966) weist darauf hin, daß der nicht abgeschlossene Trauerprozeß, in dem sich die Eltern befinden, einen Bereich der scheinbaren Unsensibilität gegenüber ihren eigenen Kindern schafft. Aus diesen Beschreibungen werden notorische Ähnlichkeiten zwischen beiden Gruppen von Kindern und Erwachsenen deutlich. Die Angehörigen der Kinder von verhafteten, getöteten oder verschwundenen Eltern sind ebenfalls als Überlebende einer Extremsituation zu begreifen, die es häufig verhindert, sich den Kindern gegenüber angemessen zu handeln. Dies kann bei letzteren zu schweren Unsicherheiten und Verhaltensstörungen führen.

Therapeutische Ansätze In einigen Fällen betrifft die politische Verfolgung auch jene, die versuchen, den Opfern zu helfen - u.a. Rechtsanwälte, Pfarrer, Ärzte, Krankenschwestern und Psychologen. Dieser Aspekt der Situation stellt einen fundamentalen Unterschied zu anderen Katastrophen dar, bei denen den Opfern physische und psychologische Hilfe innerhalb des Rahmens einer breiten sozialen und moralischen Unterstützung zuteil wird. Sowohl in ihren eigenen Herkunftsländern als auch im Exil, haben viele Therapeuten die Tatsache unterstrichen, daß sich der Patient und der Therapeut in derselben sozialen und historischen Lage befinden, in der einer von beiden der Patient - die Hilfe des anderen - des Therapeuten - braucht, der ihn solidarisch unterstützt, ohne zu vergessen, daß die Verantwortung für den schlechten Gesundheitszustand des Betroffenen bei den Diktaturen liegt (Carrasco 1980, Carrasco und Escardó 1981, Barudy 1984, Colat 1984, Steen 1988, Arenas et al. 1987). Auch in den therapeutischen Ansätzen für die Arbeit mit Kindern geht es darum, ihnen dabei zu helfen, ihre Erfahrungen und die ihrer Familie innerhalb einer historischen und sozialen Perspektive einzuordnen, die es ihnen ermöglicht, ihre individuellen Probleme auch als Teil eines kollektiven Problems zu begreifen (Sveaas 1987, Maggi und Domínguez 1984). In der Arbeit mit den Kindern von Verschwundenen unterstreichen die Psychologen Martínez, Pechman und Marciano die Bedeutung eines Gruppenansatzes, der Körpertherapien einschließt, die »die Verarbeitung der traumatischen Situation ermöglicht, deren körperliche Basis den Gebrauch der Sprache erschwert« (1990:118ff.).

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Individuelle und kollektive Hilfe: In den therapeutischen Ansätze der Arbeit mit Opfern der politischen Verfolgung wird betont, wie wichtig es ist, in Verbindung mit der individuellen Arbeit Gruppenerfahrungen zu ermöglichen, da die betroffenen Familien und Kinder häufig unter den Folgen der sozialen Isolation, und des Verlustes eines oder mehrerer Angehöriger, leiden. Die Familie versinkt in Verzweiflung und in Schuldgefühlen, weil sie das Opfer nicht beschützen konnte. Sie spürt das dominierende Bedürfnis, diese Gefühle anderen Personen mitzuteilen, die ähnliche Erfahrungen durchgemacht haben und die ihr den notwendigen Halt und die Solidarität geben können (Kordon et al. 1982, Barudy et al. 1984, Carrasco 1980). Der Verlust eines geliebten Menschen wird oft von dem Verlust der bekannten sozialen und physischen Umgebung begleitet. Dies versetzt die betroffenen Kinder in eine Situation extremer Verletzbarkeit, die Probleme bei ihrer sozialen Entwicklung hervorrufen kann und oft zu Hemmungen führt. Darum schließen die therapeutischen Arbeitsansätze mit diesen Kindern die Möglichkeit ein, neue Beziehungen aufzubauen und sich in eine Gruppe mit anderen Kindern zu integrieren (Pidee 1984, Carrasco und Escardö 1981, Barudy et al. 1984). Einige Autoren betonen, wie wichtig es ist, Gruppen aus Kindern mit verschiedenen Problemen zu bilden, um zu verhindern, daß eine defizitäre Identität aufgrund ähnlicher Verlusterfahrungen entwickelt wird, wie sie z.B. Kinder von Verschwundenen gemacht haben (Haimovici 1984, Lagos 1988). In Nicaragua wurde unter der sandinistischen Regierung bei der Arbeit mit Kriegswaisen ein ähnlicher Ansatz verwendet. Diese Kinder wurden mit anderen zusammen in verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Aktivitäten zusammengebracht (Carli 1989).

Das soziale Engagement der Psychologen Trotz der Gefahrensituation, in der sich die Psychologen befinden, fahren einige damit fort, den Betroffenen in Kolumbien, El Salvador oder Guatemala zu helfen, in derselben Weise, wie es früher in anderen lateinamerikanischen Ländern getan wurde, so z.B. in Argentinien oder Chile zur Zeit der Diktaturen. Diese Erfahrungen führen dazu, den Aspekt des sozialen Engagements der Berufstätigen im Bereich der psychischen Gesundheit zu berücksichtigen. Die soziale Isolation der Familien von politischen Gefangenen und Verschwundenen dehnt sich auch auf die Therapeuten aus, die mit ihnen arbeiten. Die Gesellschaft wird dazu veranlaßt, zu schweigen; die Therapeuten werden ebenfalls durch jene Kollegen ausgeschlossen, die ihre Arbeit nicht zur Kenntnis nehmen wollen (Bozzolo 1983).

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Schlußfolgerungen Kinder, die das gewaltsame Verschwinden oder die Verhaftung ihrer Eltern erleben - infolge organisierter Gewaltanwendung - sind Opfer der von Menschen verursachten Katastrophen, gegen die es keine effektiven Vorbeugungsmaßnahmen gibt. Die Auswirkungen bei den Kindern sind schwerwiegend, da sie und ihre Familien neben der Trennung von einem oder beiden Elternteilen von weiterer Verfolgung bedroht sind. Andererseits sind die Erwachsenen, die sie aufnehmen, häufig selbst unfähig, ihnen den emotionalen Halt zu geben, den sie in diesen Katastrophensituationen brauchen. In diesem Sinne können die Kinder von verschwundenen oder verhafteten Eltern ähnliche Symptome aufweisen, wie die Kinder der Opfer der Konzentrationslager. Sie werden häufig als sehr abhängig und verängstigt beschrieben und können oftmals von den neuen Bezugspersonen wenig Unterstützung erfahren, da diese in eigener Trauer stehen. Ein Kind, das das Geschehene nicht vollständig versteht, kann sich von seinen Eltern, die nicht mehr bei ihm sind, verlassen fühlen. Diese Situation ruft häufig Schuldgefühle bei dem Kind hervor, das dazu neigt, die elterliche Abwesenheit oder Unaufmerksamkeit eigenem schlechtem Benehmen oder Gedanken als Strafe zuzuschreiben. Andererseits können die mißhandelten Elternfiguren den imaginären allmächtigen Schutz nicht mehr gewähren, den die Kinder brauchen, so daß sich diese unsicher und verängstigt fühlen und sich in einem Dauerstreß befinden. Verschiedene Autoren haben die negativen Auswirkungen des Bruchs der Familienbindungen für die Kinder aufgezeigt (Freud und Burlingham 1947, Fräser 1973, Weisaeth 1984). Bei den Kindern, auf die sich dieser Aufsatz bezieht, spiegeln sich die Auswirkungen dieser Trennung in Phobien, Persönlichkeitsstörungen, gehemmten oder aggressiven Verhaltensweisen und einem verlängerten Streß wider, der zu emotionalen, kognitiven und psychomotorischen Entwicklungsstörungen führt. Die Häufigkeit von Unfällen bei Kindern von Verschwundenen, die Liwsky und Guarino (1983) erwähnen, kann dem Todeswunsch zugeschrieben werden, hinter dem die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit den abwesenden Eltern steht (Bowlby 1981, Aberastury 1978). Die Traumata, die diese Kinder belasten - darunter mit großer Gewalttätigkeit - rufen bei den Psychologen, die ihnen Hilfe leisten, eine große emotionale Anspannung hervor. Unsere erste Reaktion kann sein, daß ihre Geschichten bei uns auf Ablehnung stoßen. Wir können kaum glauben, daß Menschen dazu fähig sind, anderen, insbesondere Kindern, soviel Leid zuzufügen. Bozzolo (1983) hat auf die immensen Anstrengungen hingewiesen, die die Therapeuten aufbringen müssen, wenn sie mit Angehörigen von Verschwundenen arbeiten, um die eigene Angst angesichts der Erzählungen zu überwin-

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den und trotzdem ihre Reflexionsfähigkeit zu erhalten. Wie bei der Arbeit mit Erwachsenen, muß der therapeutische Ansatz mit Kindern, die der politischen Repression zum Opfer gefallen sind, die aufgewiesenen Probleme ausdrücklich als Konsequenz der sozialen und politischen Lage verdeutlichen, in der sich sowohl die Therapeuten als auch die Patienten befinden. Es ist notwendig, sich dieses normalerweise verdeckten Aspektes der sozialpsychologischen Realität Lateinamerikas bewußt zu werden. Die Unkenntnis über die Auswirkungen der organisierten Gewaltanwendung bei Kindern schafft Bedingungen der emotionalen Isolation und des Vergessens durch induziertes Schweigen, sodaß ihre Integration als volle Mitglieder der Gesellschaft zumindest gehemmt, wenn nicht unwahrscheinlich wird. Literatur Aberastury, A. (1978): La percepción de la muerte en los niños, Buenos Aires: Kargieman. Abuelas de Plaza de Mayo (1984): Niños desaparecidos en la Argentina desde 1976, Buenos Aires: Abuelas de Plaza de Mayo. Allodi, F. & Rojas (1983): The health and adaptation of victims of torture from Latin America and their children in metropolitan Toronto (mimeo). Amnesty International (1981): Disappearances - a work book, New York: Amnesty International USA. Araya, P. et al. (1981): El exilio de los niños. Amsterdam: CMT. Arenas, J. et al. (1987): Flygtningernes psykiske kriser, Dansk Psykologisk ForIag. Barudy, J. (1984): Modelo e instrumentos de una intervención psico-social; in: Colat (Hg.): Psicopatologia de la Tortura y el Exilio, Madrid: Fundamentos. Bozzolo, R. (1983): Algunos efectos de la contratransferencia en la asistencia a los familiares de desaparecidos; in: Madres de Plaza de Mayo (Hg.): Desaparecidos - Efectos Psicológicos de la Represión, Buenos Aires: Madres de Plaza de Mayo. Bowlby, J. (1973): Separation, London: Penguin Books. Bowlby, J. (1980): Loss, London: Penguin Books Bugge, R.G. (1989): Tverkulturell Oppvekst - Psykososiale konsekvenser, Tidskrift for Norsk Psykologforening, Nr. 26, S. 165-172. Carrasco, I., Escardó, M. (1981): Represión y exilio sufrido por los niños y adolescentes, Amsterdam: Sosiaal Psychiatrische Dienst voor Latijns Amerikanske Vluchtelingen (mimeo).

Organisierte Gewaltanwendung

- Auswirkungen

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Amalia Carli

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Krieg und Medien

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Krieg und Medien: Grenzüberschreitungen zwischen Informationspolitik und psychologischer Folter Ich gewöhnte mich in jenen Tagen der hereinbrechenden Dämmerung an die Unsicherheit in Europa, das zwar weder unter unablässigen Revolutionen noch Erdbeben leidet, jedoch das tödliche Gift des Krieges nährt, das Luft und Brot durchtränkt. Pablo Nerudä1

»Psychologische Studien über den Krieg«, schrieb Ignacio Martin-Barö 2 wenige Monate vor seiner Ermordung durch salvadorianische Todesschwadronen, »konzentrieren sich hauptsächlich auf zwei Gebiete: die einen sind darauf ausgerichtet, die Effizienz militärischer Aktionen zu verbessern, indem sie sich auf jene Faktoren konzentrieren, die dem Kriegserfolg dienen (was man 'psychologische Kriegsführung' nennt); die anderen konzentrieren sich auf die psychologischen Kriegsfolgen und sind auf Prävention und Therapie ausgerichtet. Gleichwohl gibt es einen weiteren Aspekt des Krieges, der von großer Wichtigkeit ist und von Sozialpsychologen untersucht werden sollte: die Art, wie er alles soziale unter seine Definitionsmacht bringt.« Dieser dritte Aspekt des Krieges ist Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes, in dem ich die leidvollen Erfahrungen, welche die Menschen in vielen lateinamerikanischen Ländern mit Folter und Staatsterrorismus gemacht haben, als Grundlage für den Versuch heranziehe, unsere eigene psychosoziale Situation in Deutschland während des Golfkrieges besser verstehen zu können. Schon die Kriege »niedriger Intensität«, wie sie von den USA während der 80er Jahre in Zentralamerika geführt wurden, waren von einem massiven Pro1

Pablo Neruda: Ich bekenne, ich habe gelebt. Darmstadl: Luchterhand 1977, S. 153.

2

Martin-Barö, I.: »Die psychischen Wunden der Gewalt«; in: W. Kempf (Hg.), Verdeckte Gewalt. Psychosoziale Folgen der Kriegsführung niedriger Intensität in Zentralamerika, Hamburg: Argument 1991, S. 34.

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pagandafeldzug gegen die kritische Öffentlichkeit begleitet, die sich Reagans Kriegspolitik in den USA und Europa entgegenzustellen drohte. 3 Indem die USA dabei ihre eigene Bevölkerung zum Zielobjekt psychologischer Kriegsführung machte, bestätigte sich nicht nur jene Erfahrung, die Pablo Neruda 4 mit den Worten beschrieben hat, »daß die nordamerikanischen Feinde unserer« d.h. der lateinamerikanischen - »Völker gleichfalls Feinde des nordamerikanischen Volkes waren«. Es zeigte sich auch, daß der Krieg »niedriger Intensität« in Wahrheit ein totaler Krieg ist, dem sich nichts und niemand entziehen kann, und der weltweit geführt wird. Diese Universalität des Krieges verschärfte sich noch, als mit der US-Intervention in Panama der Übergang zu einer neuen Militärdoktrin eingeleitet wurde: zum Krieg »mittlerer Intensität«, wie er im Golfkrieg erstmals voll zur Anwendung kam.5 Denn die damit verbundene Zunahme direkter militärischer Gewaltanwendung gegen einen äußeren »Feind« kann nur um den Preis einer verschärften psychologischen Kriegsführung gegen die Köpfe und Herzen der eigenen Bevölkerung durchgesetzt werden. Wie sich bereits an der Medienberichterstattung während der ersten Woche des Golfkrieges gezeigt hat, nimmt dieser psychologische Krieg (zumindest) tendentiell Formen an, die dem Repertoire der psychologischen Folter entlehnt sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Folgen eines Klimas der Unterdriikkung nicht nur die von der Repression direkt verfolgten Bevölkerungsschichten betreffen, sondern grundsätzlich alle Bevölkerungsschichten, da sich jedermann an die Umstände anpassen muß, einschließlich derer, die von den herrschenden Verhältnissen zu profitieren meinen und/oder auch tatsächlich davon profitieren.6 So wie es in einem Terrorsystem niemanden gibt, der nicht betroffen ist, kann sich in einem globalen Krieg, wie es der Golfkrieg war, niemand der Logik des Krieges entziehen: sei es als Opfer oder als Täter. Die Einwirkungen der psychologischen Kriegsführung auf die westliche Öffentlichkeit ist daher zwar nicht mit der Extremtraumatisierung vergleichbar, welche die Folter für ihre Opfer bedeutet, wohl jedoch mit dem kumulativen Trauma, welches das Leben unter dem Staatsterrorismus nach sich zieht. Der Golfkrieg eröffnete nicht nur in militärischer und politischer Hinsicht eine neue Dimension der Kriegsführung gegen die Dritte Welt. Um der Kriegspolitik zur Durchsetzung zu verhel3

Hinige sozialpsychologische Untersuchungen hierzu finden sich in W. Kempf (Hg.): Medienkrieg oder »Der Fall Nicaragua«, Hamburg: Argument 1990.

4

Pablo Neruda, a.a.O., S. 328.

5

Vgl. M.T. Klare: »Krieg den Aufsteigern. Die neue US-Doktrin der 'Konflikte mittlerer Intensität' (MIC)«; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/91, S. 320-326.

6

Martin-Barö, a.a.O.

Krieg und Medien

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fen, nahm auch die psychologische Beeinflussung der westlichen Öffentlichkeit eine neue Dimension an, die den Methoden des Terrors zumindest strukturell verwandt ist. Hauptelemente der psychologischen Kriegsführung, mittels derer die Führbarkeit des Golfkrieges sichergestellt werden sollte, bestanden in Desinformation bzw. Informationsverweigerung, in Maßnahmen der psychologischen Destabilisierung, sowie in Maßnahmen zur Polarisierung der Bevölkerung. Dabei gelang es den USA, die Medien fast der gesamten westlichen Welt für ihre psychologische Kriegsführung zu funktionalisieren, indem sie diese in eine reine Kriegsberichterstattung einband, die nicht nur Kriegsursachen und Kriegsziele im Dunklen ließ, sondern auch so gut wie keine Informationen über Kriegsverlauf und Kriegsopfer bot, während zugleich der Eindruck vermittelt wurde, als könnte Mensch den Krieg am Fernsehschirm live miterleben. Kontrolliert wurde diese Kriegsberichterstattung durch einen Katalog von »Grundregeln« (Operation Desert Shield Ground Rules) die vom US-Verteidigungsministerium festgelegt worden waren und strenge Zensurvorschriften und Sprachregelungen enthielten, durch welche die zulässigen Informationen vage und inhaltsleer wurden. Außerdem wurden Richtlinien für die Nachrichtenmedien (Guidelines for News Media) erlassen, wonach Journalisten die kämpfende Truppe nicht ohne Militäreskorte begleiten durften (so daß sie auch nur an die Orte kamen, an die man sie führen wollte, und nur zu sehen bekamen, was man ihnen zeigen wollte) und sich mit sogenannten »Pool-Berichten« begnügen mußten. Zur Berichterstattung zugelassen waren nur wenige - fast ausschließlich US-amerikanische - Journalisten, deren Beiträge - nachdem sie von der Zensurbehörde genehmigt worden waren - allgemein zur Verfügung gestellt wurden. 7 Dadurch wurden authentische Berichte verhindert, wie sie im Vietnamkrieg die öffentliche Meinung maßgebend beeinflußt hatten. Stattdessen wurden »schöne« Bilder erfolgreicher Bombardements gezeigt, die den Eindruck eines »sauberen« Krieges gegen Militäreinrichtungen vermittelten, von dem die Bevölkerung ausgenommen zu sein schien. Zweifel am Realitätsgehalt dieser Berichterstattung konnten sich allenfalls daran festmachen, daß immer wieder dieselben Bilder gezeigt wurden, die aber (angeblich) jedesmal etwas anderes darstellen sollten. Was nun die psychologische Situation betrifft, die dadurch geschaffen wurde, so weist diese alle Merkmale einer Double-Bind-Situation auf: gerade weil Mensch merkt, daß er angelogen wird, daß ihm Informationen vorenthalten werden, er sich kein 7

Vgl. W. Kempf: »Verdeckte Gewalt. Herausforderungen an Friedensforschung, Friedens- und Solidaritätsbewegung zu Beginn der 90er Jahre«; in: W. Kempf (Hg.), Verdeckte Gewalt. Psychosoziale Folgen der Kriegsführung niedriger Intensität in Zentralamerika, Hamburg: Argument 1991, S. 23f.

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Urteil bilden kann, ist er gezwungen denen zu glauben, die ihn anlügen und die ihm Informationen vorenthalten, ja ggf. noch deren Lügen weiter zu verteidigen, wo Zweifel aufkommen. In der klinischen Psychologie wurde man auf solche »Doppelbindungen« zuerst als Ursache für die Entwicklung schizophrener Denkstörungen aufmerksam. 8 Definitionsmerkmale der Doppelbindung sind: 1.

Eine so intensive Beziehung zu einer anderen Person oder Institution, daß es besonders wichtig wird, deren Mitteilungen genau zu verstehen, um angemessen darauf reagieren zu können. Im konkreten Fall ist die Intensität dieser Beziehung schon allein durch das Informationsmonopol der Medien gewährleistet. 2. Diese Person oder Institution übermittelt mit ihrer Äußerung zwei widersprüchliche Botschaften. Im konkreten Fall ist dies einerseits die Botschaft realitätshaltige Informationen zu liefern, während gleichzeitig die Botschaft übermittelt wird, daß diese Informationen infolge der Zensur unglaubwürdig seien. 3. Die betroffene Person kann zu den einander entgegengesetzten Botschaften nicht Stellung beziehen - was im konkreten Fall schon allein durch den Mangel an unabhängigen Informationsquellen verhindert wird - , sie kann sich aber auch nicht aus der Situation zurückziehen - was im konkreten Fall aus der Allgegenwart des Krieges folgt. Eine traurige Berühmtheit erlangte der systematische Einsatz von Doppelbindungen im Rahmen psychologischer Foltermethoden, vor allem in lateinamerikanischen Diktaturen während der 70er und 80er Jahre. Dabei kann es entweder eine Arbeitsteilung zwischen zwei oder mehr Folterern geben, von denen der eine die Rolle des verständnisvollen, väterlichen und freundlichen Befragers spielt, während die übrigen sich feindselig und aggressiv geben, sodaß d e m Opfer entgegengesetzte Informationen über das zwischen ihm und der Institution bestehende Verhältnis, deren Absichten und seine Aussichten davonzukommen, übermittelt werden. Ein anderes Setting sieht vor, daß ein und derselbe Folterer die widersprüchlichen Haltungen in sich vereinigt. Z.B. verhält er sich handlungsmäßig aggressiv, verbal aber freundlich. Oder er zeigt ein ständiges Hin und Her zwischen Sadismus und Gefälligkeit, wodurch ebenfalls erreicht wird, daß der Gefangene über seine Situation im Unklaren ist und deshalb keine angemessenen Abwehrstrategien entwickeln kann. 9 Infolge des Einsatzes von Doppelbindungen z u m Zwecke der psychologischen Folter verfügen wir in der Psychologie über einige Studien, welche sich mit deren Langzeitwirkungen befassen. 8

G. Bateson, D.D. Jackson, J. Haley, J. Weakland: »Toward a theory of schizophrenia«, in: Behavioral Science, 1,1956, S. 251-264.

9

Vgl. G. Keller: »Die Psychologie der Folter«, Frankfurt/M: Fischer 1981.

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Diese Studien zeigen, daß nicht wenige Folteropfer in ihrem Denken und ihren Wahrnehmungen dauerhaft von der Manipulation durch andere abhängig bleiben. Psychosoziale Traumata wie die - auch im Medienkrieg betriebene Zerstörung der Bezugssysteme durch Doppelbindungen führen zu einem Prozeß der Dehumanisierung, 10 dessen Symptome im Rahmen der psychologischen Kriegsführung durchaus als beabsichtigt gelten können. Dazu gehören: - selektive Unaufmerksamkeit und Festklammem an Vorurteilen, - Absolutheitsansprüche und Idealisierungen, - ausweichender Skeptizismus und - paranoide Abwehrhaltungen welche u.a. die Fähigkeit klar zu denken beeinträchtigen und für das Leid anderer unempfänglich machen. In der Projektgruppe Friedensforschung an der Universität Konstanz arbeiten wir z.Z. an einem Forschungsprojekt, in dem wir einige der psychologischen Auswirkungen des Golfkrieges in der Bundesrepublik untersuchen. Den Ausgangspunkt unserer Studien bildeten zunächst Alltagsbeobachtungen am Arbeitsplatz und im Wohnviertel, im Freundeskreis und in der Familie. Schon diese Alltagsbeobachtungen scheinen darauf hinzuweisen, daß die durch die Inszenierung des Golfkrieges in unseren Medien geschaffenen Doppelbindungen - zwar abgemindert durch die relativ kurze zeitliche Dauer - auch tatsächlich einige der Folgen zeitigten, wie sie als Auswirkungen des Staatsterrorismus in vielen lateinamerikanischen Ländern beobachtet wurden. Manche dieser Symptome sind oft schon sehr unmittelbar und gleich nach Kriegsbeginn aufgetreten: dazu gehört die Verarmung der Fähigkeit klar zu denken, oft verbunden mit einem Gefühl des Realitätsverlustes - als wäre Mensch von der Wirklichkeit abgeschnitten, durch eine dichte Wolke von den Mitmenschen abgetrennt. Andere Symptome sind dagegen erst als Langzeitwirkungen zu bemerken. Zu ihnen gehört die tiefe Agonie, in welche die Antikriegsbewegung nach Beendigung der Kampfhandlungen gefallen ist, und die selbst vor den Friedenswissenschaften nicht haltgemacht hat. So mußte u.a. eine für September 1991 an der Universität Gießen geplante Tagung zum Thema »Politik der Verdrängung: die Rolle der Sozialwissenschaften und der Medien« wieder abgesagt werden, weil bei den Veranstaltern nur eine einzige Beitragsanmeldung einging. Natürlich lassen sich solche Beispiele verschieden interpretieren. Eine mögliche Interpretation lautet, daß die Agonie der Antikriegsbewegung als Ausdruck eines Demoralisierungssyndroms zu werten ist, unter dem Mensch keinen Sinn mehr darin sieht, sich für oder gegen etwas einzusetzen, sondern stattdessen die Ereignisse fatalistisch auf sich zukommen läßt, da das Vertrau10 J. Samoyoa: »Guerra y deshumanización. Una perspectiva psicosocial«; in: Estudios Centroamericanos (ECA), N». 461,1987, S. 213-225.

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en fehlt, wirksam etwas dagegen unternehmen zu können.11 Für diese Interpretation spricht auch das oft bemerkte Gefühl, am liebsten nichts mit den Dingen zu tun haben zu müssen, das sich auch daran ablesen läßt, wie sich der Mediengebrauch in der Bundesrepublik während und nach dem Golfkrieg verändert hat. Wie bereits die Pilotstudie zu einer Fragebogenerhebung gezeigt hat, die ich im November 1991 gemeinsam mit Michael Reimann an Konstanzer Studierenden durchgeführt habe, hat der Mediengebrauch von Schülern und Studenten (die ja in der Bundesrepublik den Kern des Widerstandes gegen den Golfkrieg gebildet hatten) während des Krieges zunächst stark zugenommen, um später auf ein Niveau abzusinken, das weit unter dem Mediengebrauch vor dem Golfkrieg lag. Während des Golfkrieges sahen jeweils mehr als 3 / 4 der Befragten mindestens einmal täglich die Fernsehnachrichten und mehrmals wöchentlich politische Magazinsendungen. Ebenso viele lasen mindestens eine Tageszeitung pro Tag und über 1 / 3 der Befragten las jede Woche mindestens eine Wochenzeitung. Dieser intensive Mediengebrauch während des Golfkrieges zeigt die Intensität, welche das Bedürfnis nach Information angenommen hatte. Fast 90 % der Befragten berichteten, daß sie während des Golfkrieges häufiger Nachrichtensendungen und politische Magazine im Fernsehen gesehen haben, als vor dem Krieg. Ebenso viele haben während des Krieges häufiger Tageszeitungen gelesen als vorher. Mit dem Ende des Krieges hat der Mediengebrauch - erwartbarerweise wieder abgenommen. Dabei ist das Ausmaß, in welchem der Mediengebrauch zurückgegangen ist, jedoch so stark, daß es durch die wieder eingetretene »Normalisierung« des Informationsbedürfnisses nicht erklärt werden kann: mehr als 1 / 3 der Befragten sehen heute weniger Nachrichtensendungen und politische Magazine im Fernsehen und 2 / 3 der Befragten lesen seltener Tageszeitungen als vor dem Krieg. Ein intensiverer Mediengebrauch als vor dem Krieg wurde in keinem einzigen Fall berichtet. Wenn man die Entstehungsbedingungen dieser Symptomatik zu rekonstruieren versucht, so stößt man dabei nicht nur auf jene Doppelbindungen, welche aus der Funktionsweise der Medien und den Bedingungen der Zensur resultierten und das Verhältnis der Subjekte zu den Medien bestimmten. Die durch die Medien vorgetragene Desinformationskampagne, durch welche öffentliche Zustimmung zu dem Krieg erreicht und der Widerstand gegen den Krieg gei l Vgl. hierzu auch H. Keupp: »Psychische Störungen im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang«; in: G.C. Davison, J.M. Neale, Klinische Psychologie, München: Psychologie Verlags-Union 1988, S. 77f.

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brochen werden sollte, hatte auch zur Folge, daß das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst durch Doppelbindungen geprägt war. So wurde die Formel »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«, in der sich die Lehren des zweiten Weltkrieges für viele Deutsche verdichtet hatten, auf den Kopf gestellt und zur Legitimation des Golfkrieges benutzt. Durch die Gleichsetzung von Saddam Hussein mit Adolf Hitler (und parallel dazu: die sprachliche Gleichsetzung der multinationalen Streitkräfte mit den Alliierten des Zweiten Weltkrieges) wurde nicht nur die gegenteilige Parole aufgestellt »Nie wieder Faschismus, deswegen Krieg«, und damit die Angst geschürt, womöglich schon wieder vor der Geschichte zu versagen. Mangels differenzierter Informationen über Konfliktursachen und Konfliktgenese am Golf ebenso, wie über die von den USA und ihren Verbündeten tatsächlich verfolgten Kriegsziele wurde Mensch auch effektiv daran gehindert, die Frage verantwortlich entscheiden zu können, ob der Krieg der USA gegen Irak zu unterstützen sei oder nicht. Auf welche Seite sich Mensch auch schlagen mochte - die der Pazifisten oder die der Bellizisten - mußte Mensch sich selbst mißtrauen, ob er nicht doch wieder die falsche Entscheidung getroffen habe. Der Wunsch, am liebsten nichts mit den Dingen zu tun haben zu müssen, ist so nur die logische Konsequenz eines Szenarios, das von vorneherein auf kein anderes Ziel gerichtet war, als die kritische Öffentlichkeit im Keim zu ersticken. Daß der psychologische Krieg den Widerstand der Antikriegsbewegung dennoch nicht gänzlich brechen konnte, bestätigt in diesem Zusammenhang noch eine weitere Erfahrung des Lebens unter staatsterroristischen Regimes. Denn obgleich der Staatsterrorismus systematische Methoden entwickelt hat, jede Opposition bereits im Keim zu ersticken, 12 sind auch die Verfechter der 'regimes de fuerza' nirgendwo in Lateinamerika auf bedingungslose Akzeptanz gestoßen. Vielmehr hat die organisierte Gewaltanwendung in Lateinamerika eine Form von Widerstand auf den Plan gerufen, die sich öffentlich Ausdruck verschafft hat, um die Einzelheiten der systematischen Unterdrückung bekanntzumachen. 13 In diesem Sinne vermag der Rückgriff auf die Erfahrungen des Lebens unter dem Staatsterrorismus nicht nur die Wirkungsweise des psychologischen Krieges aufzuhellen, sondern er eröffnet zugleich auch eine Perspektive darauf, welche emanzipatorischen Gegentendenzen selbst in der finstersten Dunkelheit zu entstehen vermögen.

12 H. Riquelme: »Das grauenerregende Wirkliche. Psychokulturelle Auswirkungen des Staatsterrorismus in Südamerika«; in: W. Kcmpf (Hg.), Medienkrieg oder »Der Fall Nicaragua«, Hamburg: Argument 1990, S. 122. 13 H. Riquelme: »Südamerika: Menschenrechte und psychosoziale Gesundheit«; in: Recht und Psychiatrie, V/3,1987.

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Juan Jorge Fariña

Psychosoziale Aspekte der Amnes(t)ie in Argentinien: Drei Schritte hin zur Freisprechung von Schuld und Verantwortung »Es sind nun Millionen Jahre, daß die Blumen Dornen hervorbringen. Es sind Millionen Jahre, daß die Schafe trotzdem die Blumen fressen. Und du findest es unwichtig, wenn man wissen will, warum sie sich soviel Mühe geben, Dornen hervorzubringen, die zu nichts Zweck haben? Dieser Kampf der Schafe mit den Blumen soll unwichtig sein?« Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz

Warum vergessen die Völker? Diese Frage faßt die Überlegungen zu Schuld, Strafe, Straflosigkeit und Vergessen zusammen, mit denen sich Wissenschaftler aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern befaßt haben, in denen es Anfang der achtziger Jahre zu grundlegenden Verfassungsänderungen gekommen ist. Sie nimmt die historischen Lehren auf, die in den Industrieländern zu wichtigen Untersuchungen über das Erinnerungsvermögen von Gesellschaften geführt haben, die unter den Schrecken des Nationalsozialismus gelitten haben. Was kann heute, in den neunziger Jahren, über dieses Thema gesagt werden? Kann die Erforschung der psychischen Gesundheit und der Menschenrechte etwas zu der Beantwortung der bereits klassischen Fragestellung beitragen, warum die Unterdrückten selbst die ideologischen Gründe verinnerlichen und weitergeben, die ihre Unterwerfung aufrechterhalten? Es geht um die Rückkehr zu einer alten Problemstellung, die sowohl die marxistische Debatte, unter dem Begriff der Entfremdung, als auch die Psychoanalyse, im Rahmen der Ideologietheorien, behandelt haben. Die doppelte Bin-

Psychosoziale Aspekte der Amnes(t)ie in Argentinien

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dung des Menschen an die Produktionsformen und an die Struktur der Sprache und Wünsche bildet den unumgänglichen Ausgangspunkt, um dieser Fragen erneut nachzugehen. Die Ideologie nimmt dabei die Form eines Gruppengespenst an, das sich in dem Maße etabliert, in dem die Anderen, durch die Anerkennung derselben, den Status des Besonderen bestätigen, das das Psychische »bindet«. Die Flucht vor der Angst in die Gruppe bildet den Ausgangspunkt für das Phänomen der Masse, dessen Mechanismen Freud mit visionärer Weitsicht analysiert hat. Am Beispiel Argentiniens soll die besondere ideologische Formation der Gesellschaft vorgestellt werden. Nicht etwa weil sie vom politischen Standpunkt aus besonders originell ist - es bestehen frühere Fälle dieser Art und weitere Nachfolger kündigen sich bereits in Lateinamerika an - , sondern weil sich an diesem Fallbeispiel besondere, vielleicht tatsächlich originelle Verdrängungsformen aufweisen lassen. Zwei zentrale Fragen sollen die Analyse dabei leiten: - Wie kann eine Gesellschaft, in der 1984 das Buch »Nunca Más« - die Auflistung der Schrecken der Diktatur - zum Bestseller wurde, die vollständigen Rechtfertigung aller an den Massakern Beteiligten akzeptieren? - Wie konnte der Konsens entstehen, der die Verbrecher nicht nur straflos, sondern teilweise ohne jede Sanktion davonkommen ließ? Die Analyse dieses politischen und subjektiven Rechtfertigungsprozesses ist Teil der politischen Psychologie. In Anlehnung hieran können im speziellen Fall Argentiniens drei entscheidende Momente dieses Prozesses herausgearbeitet werden: Erstes Moment: Der Schlußpunkt (Punto Final) 1984 bildete die Regierung die CONADEP, eine Kommission zur Untersuchung der Verbrechen des Militärregimes zwischen 1976 und 1983. Ungefähr 10.000 Fälle wurden von ihr dokumentiert und 350 geheime Konzentrationslager identifiziert; es wurden Zeugenaussagen aufgenommen, die ca. 2.500 Mitglieder der Streit- und Sicherheitskräfte mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit belasten. 1985 kam es zu einem historischen Moment: die öffentliche Gerichtsverhandlung gegen die neun Oberbefehlshaber, die nacheinander die Militärjuntas gebildet hatten. Fünf wurden schuldig gesprochen und verurteilt, zwei von ihnen (Videla und Massera) zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Im Jahre 1986 dehnten sich die gerichtlichen Untersuchungen auf ihre Untergebenen aus; ca. 500 Personen wurden angeklagt, weitere Anklagen befanden sich in Vorbereitung. Im Dezember 1986 traf der Kongreß eine politische Entscheidung, um den Verlauf dieser Anklagen aufzuhalten: die Verabschiedung des Gesetzes Nr. 23.492, das sogenannte Schlußpunktgesetz (Ley de Punto Fi-

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nal). In ihm wurde eine Frist von 60 Tagen festgesetzt, nach deren Ablauf jede Anklageerhebung nichtig wurde. Innerhalb dieser Frist, im Laufe des Februars 1987, wurden 170 neue Anklagen erhoben. Dieses vom Parlament verabschiedete Gesetz wurde von der passiven Zustimmung der Bevölkerung getragen und führte zu einem besonderen gesellschaftlichen und subjektiven Phänomen. Das System setzte eine zeitliche Einschränkung, mit der versucht wurde, das politische Problem zu verringern und Untersuchungen und Prozesse gegen die Verbrecher historisch zu begrenzen. So sollte der Umfang des Schreckens auf das bereits Untersuchte eingefroren werden und eine Realitätsbetrachtung herstellen, die sich auf die Bestrebungen derjenigen Gruppe beschränkte, die dieses Gesetz eingebracht hatte. Dieses Abbild der Realität etablierte sich in der kollektiven Subjektivität mit dem klaren Ziel, die Untersuchungen zu beenden und jedes Infragestellen an den Rand zu drängen: Der Schlußpunkt verlagerte alle Fragen, die diese Grenze infragestellten, in einen Raum jenseits des offiziellen Diskurses. Jene, die stur weiterfragten und untersuchten, wurden als subversive Archäologen oder schlicht als »Provokateure« dargestellt. So bildete diese Maßnahme einen ersten Schritt der Politik des Vergessens, in der die zeitliche Einschränkung des repressiven Kontinuums als »notwendig« erschien, um die Behandlung der Tatsachen in einen neuen Kontext einzuordnen.1 Diese Begrenzung, mit der der Umfang des bereits Bekannten in ein beschränktes Areal der individuellen Angelegenheit und Bewertung eingekapselt wurde, ist paradoxerweise dank der sogenannten »Informationspolitik« möglich gewesen. Tatsächlich handelte es sich hier jedoch um eine Überstimulierung, mit der die Medien in jenen Jahren das Thema der »Menschenrechte« behandelt hatten. Die ständige Vervielfältigung der Stimuli durch das Fernsehen wurde mit einem imaginären Begriff von »Freiheit« verwechselt; dies traf auch auf die fortschrittlichen Organisationen selbst zu. Im Innern der unzulänglichen Demokratie wurden mehr und mehr Schauergeschichten zutage gefördert, ohne zu begreifen, daß in dieser »Überdosis« an Folterungen und Massengräbern der Embryo der Lähmung heranwuchs, die später als passiver Konsens den Versuch des Widerstands gegen den Schlußpunkt brechen sollte. Der Gesetzgeber nutzte dieses Phänomen für sein Spiel des politischen Gleichgewichts mit der militärischen Klasse und verwandelte sich in den »Spiegel« einer bestimmten gesellschaftlichen Forderung, nämlich »all diese Dinge nicht mehr sehen zu wollen«. Die erste Folge der dadurch bedingten fehlenden politischen Analyse war die Tatsache, daß anstatt einer Ver1

In Bezug auf das Schicksal dieser Einschnitte in die Geschichte, die die Macht vorgenommen hat, zeigt die Untersuchung von Victor Farias über Heidegger und seine Beziehung zum Nationalsozialismus, die fast vierzig Jahre nach den Ereignissen geschrieben worden ist, nicht nur die Sinnlosigkeit der Verheimlichungsstrategien, sondern auch ihre große traumatisierende Wirkung, die durch den Lauf der Zeit potenziert wird.

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urteilung der gesamten militärischen Institution, das Fehlen eben jener klaren Artikulation eine Falle hervorbrachte, die die Grenzen des »tolerierbaren« Schreckens festlegte. Dieser Prozeß der konsensorientierten Errichtung eines Schlußpunktgesetzes ist nie ausreichend analysiert worden. Das Vergessen, das auf ihm lastet, ist das Symptom desselben Phänomens. In dieser Instanz wird die willkürliche Begrenzung von Schuld und Verantwortung als natürlich akzeptiert und es entstehen die Bedingungen, unter denen die späteren Ereignisse wie in einem Uhrwerk ablaufen und ein zweites Moment hervorbringen. Zweites Moment: Die Gehorsamspflicht (obediencia debida) Die Unterscheidung zwischen »verurteilten« und »nicht verurteilbaren« Militärs war eines der Elemente, die in der kollektiven Vorstellung das Bild des »Unwohlseins im Innern der Streitkräfte« erschuf. Dieses »Unwohlsein« war in Wirklichkeit das Gefühl der argentinischen politischen Klasse, die sich der Falle, in der sie sich befand, bewußt wurde: Sie hatte zwar einen Schritt getan, um die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Gewissen zu mildern, sie war jedoch nicht dazu bereit, diese Teilentscheidung konsequent umzusetzen. Mit anderen Worten: Der Einschnitt eines Schlußpunktes hatte Folgen. Da der Unterschied zwischen den einen und den anderen Tätern nie wirklich existiert hatte, ging es bei den Militärs im Rahmen ihres Blutpaktes weiterhin um alle oder keinen. Die Ereignisse um Ostern 19872 stellen die logische Inszenierung dieses Widerspruches dar. Einmal mehr dominierte die imaginäre Dimension: Eine Gruppe von Militärs mit bemalten Gesichtern (die »carapintadas«) spielte die Hauptrolle in dem kinoreifen Aufstand, der die Welt durch das Fernsehen miterlebte. Hinter den Kulissen ging es aber um die Entscheidung, was mit den Verbrechen, die bereits an die Oberfläche gedrungen waren, geschehen sollte, und wie der Schrecken aufgelöst werden konnte, der über die Grenzen der Todeslager hinaus gedrungen war. Um dies zu erreichen, wurde die Argumentation der militärischen Gruppen gewählt. Im Juli 1987, noch unter Alfonsin, verabschiedete der Kongreß das sogenannte Gesetz der Gehorsamspflicht, das festlegt, daß alle Militärs mit Rängen unterhalb des Brigadegenerals, die der Entführung, der Folter oder des Mordes an2

Zu Ostern, im April 1987, erhob sich eine Gruppe von Militärs unter der Führung von Oberst Aldo Rico; dies führte zu anderen Aufständen in verschiedenen militärischen Einheiten des Landes, und in der Hauptstadt selbst, um die Regierung zu zwingen, die Untersuchungen über die Verbrechen der Militärs während der Diktatur (1976-1983) zu beenden. Die beteiligten Militärs sind als »carapintadas« bekannt, da sie zur Tarnung ihre Gesichter bemalten. Über die unmittelbaren Auswirkungen dieser Aktion gibt der Inhalt und das Datum der Verabschiedung des Gesetzes über die Gehorsamspflicht Auskunft.

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geklagt waren, »sich unter der Befehlsgewalt der übergeordneten Autorität befanden und Befehle ausführten, ohne die Möglichkeit zu haben, deren Notwendigkeit oder Legitimität zu erkennen, sich zu verweigern oder Widerstand entgegenzubringen«3. Das Gesetz beruht auf der Legitimation der sogenannten »antisubversiven« Aktion und ihrer Methoden: Folter, Entführung, Verschwindenlassen, Tod. Bestraft werden nur solche Handlungen, die als unnötig oder »übertrieben« angesehen werden, wie z.B. die Entführung von Kindern, Diebstahl und Vergewaltigung von Frauen. Diese Handlungen sind ausdrücklich von dem Schutz des Gesetzes ausgenommen. Der gesetzliche Wortlaut schützt die Verantwortlichen der allgemeinen Strategie des Regimes, die aus folgenden Elementen bestand: -

Entführung und Verschwindenlassen (dies betraf insbesondere Gewerkschafter und politisch Aktive) Tötung (mit dem Ziel der physischen und spurlosen Eliminierung).

Diese Legitimierung des abweichenden Verhaltens der Täter rückt die bereits beschriebenen Überlegungen über die Machthaber an erste Stelle, da der Staat hier eine gesellschaftliche Botschaft verabschiedet, deren innere Festlegung mit dem folgenden Paradoxon beschrieben werden kann: Wenn ein Unterdrücker eine Frau foltert, begeht er kein Verbrechen; vergewaltigt er sie nach der Folterung, begeht er ein Verbrechen; tötet er sie schließlich, löscht er das vorhergehende Verbrechen aus und kann nicht mehr verurteilt werden. 4 Dies ist ein makabrer und verleugnender Syllogismus der menschlichen Würde, der nicht gerechtfertigt werden kann. Zu diesen Rechtfertigungen ist es jedoch gekommen. In diesem Aufsatz werden wir nicht die parteipolitischen Rechtfertigungen referieren, die, wie bereits dargestellt, in den Klassen- oder Kastenpakten angelegt sind, d.h. Rechtfertigungen, die in privaten Interessen begründet sind, die sich als öffentliche Entscheidung verkleiden. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Generalstaatsanwalt Octavio Gauna, der Autor dieses Gesetzes, versucht hat, seine Argumente psychologisch zu begründen. Sowohl im Vorwort als auch im Rahmen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Gesetz werden die Handlungen der beschuldigten Militärs mit ihren subjektiven Bedingungen gerechtfertigt. Die »Vernebelung des Gewissens« oder die »Zwangslage gegenüber dem Befehl eines Vorgesetzten« bilden die mildernden Umstände für die Ausführung der Verbrechen. 5 3

Text des Gesetzes über die Gehorsamspflicht. Erster Artikel, Revista La Ley, Buenos Aires, 1987. Veröffentlicht in Sitio, Nr. 8., Buenos Aires 1987.

4

Vgl. die Dokumente der Asamblea Permanente por los Derechos Humanos (APDH), 1987, insbesondere den Text von Graciela Fernández Meijide in Página¡12, .

5

Die Studie von Jorge Jinkins, »Vergüenza y responsabilidad«, in der Zeitschrift Conjetural , Bue-

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Das erstaunlichste Element des Gesetzes über die Gehorsamspflicht ist jedoch das »Legitimationssystem«, mit dem es durchgesetzt wurde. Im Parlament wurde der Sinn einer Abstimmung zugunsten des Gesetzes debattiert. Die Abgeordneten, die »bedauerten, dies zu tun« oder die »mit einem Gefühl der Übelkeit abstimmten«, drückten in der Relativierung ihrer Handlung den wahren Sinn des Affektwiderspruchs aus: in ein und derselben Handlung werden die Verbrechen verurteilt und verziehen. Die Befehlslogik - vom Befehlshaber an die Untergebenen - wurde in der Festlegung von Haftstrafen ausschließlich für die ersteren unterstrichen. Auf diese Weise exkulpierte das Gesetz einige tausend Militärs und Zivile, deren Verantwortung für die angeklagten Verbrechen bereits festgestellt worden war. Um die innere Logik des Gesetzes aufrecht zu erhalten, mußte der geförderte Konsensmechanismus auf der Befestigung zustimmender Komplizität beruhen. In die abweichende Handlung waren sowohl jene verstrickt, die das Gesetz konzipiert hatten als auch die Gesetzgeber selber, wie auch indirekt die Wähler, die die Abgeordneten gewählt hatten, die sich nun für das Gesetz aussprachen. Der »Legitimität«, mit der dem kollektiven Bewußtsein der Sinn dieses Gesetzes vermittelt wurde, ist wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Er entsteht durch die Volksdeputierten, an die die Ausführung des kollektiven Willens delegiert wird. Sie erscheinen dabei als äußere Agenten dieser Maßnahme und ihrer Notwendigkeit. »Niemand« will das Gesetz, »alle« verabschieden es jedoch. Das pragmatische Ziel der gesetzlichen Maßnahme bestand darin, die endgültige Anzahl der Beschuldigten auf 40 Offiziere zu reduzieren. Ein Großteil des Problems war bereits auf dem Wege der »Absolution« der Streitkräfte gelöst worden. Was blieb, war auf das geeignete Moment für den logischen Sprung zu warten: die Reduktion der Strafe auf Null. Drittes Moment: Die Begnadigung Der Weg, den Präsident Menem 1989-90 gewählt hatte, stellte das dritte Moment der Exkulpation dar. Die Begnadigung bildete die Krönung dieses Vorgehens. Die Begnadigung war kein Gesetz mehr, das der Zustimmung des Parlaments bedurft hätte, sondern ein einfaches Dekret des Präsidenten. Die Form ist erstaunlich: Menem übernimmt die Verantwortung für die Maßnahme. Wurde für die Exkulpation der Untergebenen in der unteren Befehlskette noch an die Verantwortung der Parlamentarier appelliert, so war für die Exkulpation der Oberbefehlshaber jedoch nur die Stimme einer einzigen Person notwendig: die des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, d.h. Menem selbst. nos Aires 1987, gibt Auskunft über den Charakter dieser Argumente und den verwendeten Subjektivitätsbegriff.

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Es war seine Aufgabe, die Begnadigung gesetzlich durchzusetzen. Die Rede von Italo Luder, dem damaligen Verteidungsminister, war deutlich: »Der Präsident übernimmt die völlige Verantwortung und verlangt nicht einmal, bei diesem Unternehmen begleitet zu werden.« Mit anderen Worten, Menem verzichtete einfach auf die Ausübung der »Gehorsamspflicht« innerhalb des Staats- und Pateiapparates. Dagegen hatte Alfonsin früher noch, angesichts des Widerstands vieler Abgeordneten seiner Partei, d.h. Wahlenthaltungen der Menschenrechtskämpfer, »Übelkeit« der Unentschiedenen, schlichte Komplizenschaft der Zyniker, seinen militanten Abgeordneten die Gehorsamspflicht verordnet: »Diskutieren sie nicht, tun sie es.« Die Strategie der Begnadigung beabsichtigt, das potentielle Leiden »aufzusparen«. In der Wahlbuchhaltung wird das als »politischer Preis« verbucht, was die eigentliche Qualität der Delegierung von Befehlen ausmacht. Während sich die Regierung Alfonsins für die Strategie der Delegierung entschied, haben Menem und der Peronismus den Weg der Privatisierung gewählt. 6 Angesichts der Konsolidierung des ökonomischen Modells, das auf der Privatisierung der Staatsunternehmen beruht, entsteht ein Konsens bezüglich der Privatisierung der kollektiven Entscheidungsfindung, deren ausführendes Organ der Präsident ist. Wie in den anderen Fällen auch, wirkt dieser Konsens erfolgsversprechend und nimmt die Folgen seines Scheiterns vorweg. Menem verlangt keine breite Unterstützung für seine Entscheidung: Scheitert er, übernimmt er allein die Verantwortung, ist er erfolgreich, werden alle davon profitieren. Diese Form der sozialen Transaktion wird als »günstige Gelegenheit« dargestellt; wobei demagogisch ein autoritäres Gesicht hinter einer Sprache des freien Marktes verdeckt wird. Die Bevölkerung wird von der geteilten Verantwortung mit paternalistischen Parolen entledigt. Obwohl die Umfragen ergaben, daß 70 % der Bevölkerung gegen die Begnadigung waren, konnte die Opposition wenig dagegen tun. Die Logik des Verzeihens reiht sich so in die tiefergehenden Schichten der Beziehung zur Macht ein: Es geht nicht um die bloße »Herrschaft« der einen über die anderen, sondern um eine passiv werdende Haltung des Subjekts innerhalb seines gesellschaftlichen Kontextes durch seine minimmisierte Stellungsnahme zu dem anderen. Um der Angst zu entfliehen ist dieser Weg immer verlockend. Sie wächst in Zeiten der Ungewißheit, die Argentinien so oft erlebt hat. In diesen Momenten kehrt die Forderung nach Machtstrukturen durch ein machtvolles Andere zurück. Handlungen werden wieder wirksam, die wegen ihrer Einfachheit faszinieren und entfesseln so eine ganze Kette von scheinlogischen Schlußfolgerungen und Zweckbegründungen. 7 6

Im Sinne von León Rozitscher, »Indulto: privatización terminal«; in: Página/12, Buenos Aires. 1990.

7

Vgl. dazu Guillermo Mari: »Los ideales y la política del exterminio« und die Beobachtungen ron.

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Epilog Die Wahlen, die im September 1991 in der Hauptstadt und in mehreren argentinischen Provinzen stattgefunden haben, zählten mehrere Akteure der genannten drei Momente zu ihren Hauptdarstellern. Dies soll hier erwähnt werden, um die soziale Wirksamkeit dieses inszenierten Vergessens darzustellen sowie die darauf folgende Rückkehr des Verdrängten zu verdeutlichen: General Antonio Bussi, Gouverneur von Tucumän erhielt während der Militärdiktatur eine bedeutende Anzahl von Stimmen in seiner Provinz. Seine Wiederwahl wurde durch den Gegenkandidaten, den Schlagersänger Palito Ortega, nur knapp verhindert. Aldo Rico, der die militärische Erhebung von Ostern 1987 angeführt hatte, konnte sich als dritte politische Kraft in der Provinz Buenos Aires, der bevölkerungsreichsten Provinz des Landes, behaupten. Er erhielt einen Großteil der Stimmen der ärmsten Bevölkerungsgruppen. Der ehemalige Generalstaatsanwalt José Octavio Gauna, ideologischer Autor des Gesetzes über die Gehorsamspflicht, führte die Liste der Radikalen Partei in der Hauptstadt an und wurde ins Parlament gewählt. In diesem Zusammenhang soll daran erinnert werden, daß sich ein Großteil der Österreicher mit Kurt Waldheim identifiziert hat, als dieser bei seiner Amtsübernahme als österreichischer Staatspräsident die Spuren seiner Vergangenheit hinter sich auslöschte. Der Gang der Geschichte lehrt uns über die Ergebnisse dieses Vergessens, daß die Völker, die die Erinnerung an ihre Vergangenheit ablehnen, damit auf subtile Weise die Bedingungen für ihre Wiederholung schaffen.

Maci und Fariña in: »Tesis analíticas sobre la desaparición de personas tal como se presentan en la experiencia clínico-institucional«, Vortrag zum I. Treffen über Psychosoziale Gesundheit und Menschenrechte. Buenos Aires, September 1983.

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Leitmotiv

LEITMOTIV DES SYMPOSIUMS »Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika«: Band III Nach dem ersten Band Zeitlandschaft im Nebel. Menschenrechte, Staatsterrorismus und psychosoziale Gesundheit in Lateinamerika und dem zweiten Erkundungen zu Lateinamerika. Identität und psychosoziale Partizipation in Lateinamerika folgt nun der dritte. So bildet dieses Buch einen Teil der Serie, die in Folge des multidisziplinären Symposiums »Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika« herausgegeben wird. Bereits sechs Veranstaltungen dieser Art sind im Rahmen der Universität Hamburg durchgeführt worden, zuletzt im September 1992. Das beständige Interesse am Symposium äußert sich in der intensiven und zahlreichen Teilnahme europäischer und lateinamerikanischer Personen und Institutionen, die sich an der Bearbeitung der Thematik beteiligen. So konnte sich das Symposium zu einem Forum entwickeln, in dem ein kontinuierlicher wissenschaftlicher Austausch über psychosoziale Themen in Lateinamerika stattfindet. In Bezug auf konzeptionelle und inhaltliche Aspekte des Symposiums ist eine offene, stringente und interdisziplinäre Qualität des wissenschaftlichen Diskurses zu verzeichnen. All das hat dazu beigetragen, folgende Überlegungen zu entwickeln: 1. Durch diese akademischen Begegnungen in Hamburg ist ein neuartiges Forum entstanden, in dem die Teilnehmer aus Europa und Lateinamerika Gelegenheit erhalten, sich mit verschiedenen psychosozialen Versorgungs- und Forschungsansätzen in Lateinamerika näher zu befassen und im offenen Dialog sowohl positive als auch negative Aspekte der dortigen Situation aufzuarbeiten. 2. Erkenntnisse über die Wechselwirkung von Kultur und psychosozialer Situation nehmen eine Schlüsselfunktion beim aufbauenden Verständnis über die Menschen in den verschiedenen Regionen Lateinamerikas ein. Erst dann kann die Grundlage für eine auf gegenseitigen Respekt basierende Kooperation entstehen. 3. Bei dem Bestreben, grundlegende Schnittstellen der Kultur und der psychosozialen Situation in Lateinamerika gebührend zu erfassen, kann weder eine Einzeldisziplin, noch eine bestimmte theoretische Konzeption einen wie immer

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gearteten Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Vielmehr müßten die verschiedenen methodologischen Auffassungen und Erkenntnisse der Einzeldisziplinen, die auf ihren spezifischen Erfahrungen beruhen, gemeinsam und im direkten Austausch dazu beitragen, die komplexe Realität Lateinamerikas zu erhellen und inhaltlich zu vermitteln. 4. Allerdings kann ein phantasievoller und kreativer Umgang mit der Thematik und ein stringenter methodologischer Ansatz dazu beitragen, neue Kategorien und Zugangswege für die Erklärung und Vertiefung im Verständnisprozeß der psychosozialen Wirklichkeit Lateinamerikas zu entwickeln. 5. Dazu wird ein Prozeß der kreativen Überwindung von Mißverständnissen und Vorurteilen sowohl für die europäischen als auch für die lateinamerikanischen Teilnehmer wie folgt angeregt: Die Beteiligten an psychosozialen Versorgungs- und/oder Forschungsprojekten in Lateinamerika sehen sich hier dazu veranlaßt, die aus eigener Erfahrung vor Ort entstandenen Überlegungen und Erkenntnisse einem europäischen Publikum mitzuteilen und, dank der Herausforderung einer transkulturellen Diskussion, das in der jeweiligen Situation Spezifische wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen. Den europäischen Teilnehmern wird nun die Möglichkeit geboten, im direkten Dialog mit lateinamerikanischen Kollegen, ihr theoretisches und praxisbezogenes Wissen über die psychosoziale Lage der verschiedensten Regionen Lateinamerikas zu überprüfen und zu vertiefen. 6. Schließlich erlaubt der Dialog von Europäern und Lateinamerikanern Ähnlichkeiten und Unterschiede der psychosozialen Entwicklungen in Europa und dem neuen Kontinent zu erkennen. Die so begonnene Interaktion kann nun durch die Aufnahme sachbezogener Handlungen zu konkreten Themen in eine langfristige Zusammenarbeit der Teilnehmer beider Kontinente münden. Die deutschen und spanischen Veröffentlichungen, die den Symposien jeweils folgen, haben sich zur Unterstützung weiterer Aktivitäten als sehr nützlich erwiesen. So möchten wir von Hamburg aus - mitten in der Strukturkrise des sich wiedervereinenden Deutschlands und im dem Jahr, in dem sich die Ankunft Columbus auf den Kontinent, der später Amerika genannt wurde, zum 500. Mal jährt - diesen kritischen Dialog fortsetzen. Horacio Riquelme U.

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Abstracts

Abstracts Horado Riquelme: Consumption of alcohol and daily life culture in the Chilean population The cultural aspects of consuming alcoholic drinks (especially wine) by Chilean population is the essential theme of this article. The combination of historical and medicalanthropologic references is aimed towards a holistic representation of the cultural situation about the interaction between Chilean population and wine. Picturesque details of a »subculture« are not represented in this article, but relevant contents of culture which are rooted in the cultural experience by the majority of the Chilean population (from chronicles and field research from 1551 up to the present time). This metodic approach is helpful for the understanding of excessive consumption of alcohol and its often medically relevant consequences. The syndrome of alcoholism has been viewed by people who live in this sociocultural context. This approach shows the underlying psychocultural roots of excessive consumption of alcohol and allows a broader base of understanding between healthworkers and the people concerned. It can help to promote the realization of a community-based approach through programms of participatory research. Johannes Sommerfeld: Vodou and Mental Health in Haiti A Vodou practitioner in Haiti is said to be a servant of the Iwa, spiritual force derived from Africa. Trance, dance, rythm, the entirety of Vodou practice serve »psychohygienic« functions for the poor and politically marginalized majority of the Haitian population. This article discusses the historical and socio-political context of this religious practice, the background for its existence and important meaning still today for large sections of the population. This article asks for some of the reasons of its persistance in a society of chronic crisis. Is the practice of Vodou merely a psychic pressure release, as some Haitian intellectuals assume, or is it a cultural heritage that can be analyzed outside of power relations? The article argues that Vodou provides the Vodou believer with a set of explanatory models for illness, healing and the existing power structure within the Haitian society. Vodou is much more than a religious practice. It serves as a preventive and curative medical system that enhances some sort of socio-psychological health in a society of crisis. Roberto Campos Navarro: The Psychosocial Importance of Urban »Curanderismo« (popular healing). A Case of Study in Mexico City The importance of »curanderismo« as a psychotherapeutic resource and as an element of social cohesion has been emphasized by different professionals (psychologists, physicians, psychiatrists, anthropologists, among others) however this conception has frequently been ignored and also denied by the latinoamerican medical organizations and sanitary authorities.

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Abstracts

In this article we present the case of »Doña Marina«, a urban popular healer (»curandera«) of Mexico City, expert in curative herbs and also psychotherapeutic resources for »popular« and »scientific« diseases such as »nervios« (nervous breakdown), »susto« or »espanto« (magical fright) among other diseases with unquestionable psychosocial components. The function of urban »curanderismo« must be reviewed or revaluated as a psychotherapeutic resource in agreement to the resolutions of the World Health Organization. Walter

Andritzky.

Traditional healing rituals as a form of psychosocial crisis intervention. Case studies from Peru As there are almost no representative data on the traditional sector of the Peruvian health system the article starts with a short analysis of the structure of the modern medical sector. The data shows that 30 % of the population has no access to modern medicine. Since the traditional methods are the basis for health care of the majority, the article centers on the questions of effectivness of the traditional methods from a clinical point of view. Based on participant observation three case studies of crisis intervention by an urban folk healer in Lima are presented. The healer's primary method is a systematic translation of the client's problems and his pathogenic social relationships on a metaphorical level where it is manipulated by rituals, symbolic actions and narratives. In this context the healer links units of Andean symbolic motivs with esoteric and European elements. In evaluating this procedure three kinds of healing parameters have been identified: one corresponds very close with the common factors of psychotherapy research (e.g. an empathic healer-patient relationship, a shared world view), the second is known in health psychology (e.g. social support and cognitive coping), and the third is used within psychotherapy by using myth, fairy tales and metaphors. Niels

Biedermann-Dommasch:

Cultural identity and psychological problems of the Chilean Mapuche When Mapuche people change their living space by moving from the countryside to the cities of Chili they have to pass through the emotional experience of being confronted with two different sets of values. As a consequence psychological illness and problems can arise. The article presents a psychological study which was developed through therapeutical practise with the Mapuche people in a hospital of Santiago de Chile. It presents different cases of Mapuche patients which includes a characterisation of their specific psychological problems as well as an insight into their world of values. The centre of the analysis concentrates on the search for possible approaches to develop a method which allowes an intercultural therapy. Edith

Seligmann-Silva:

Mental Health and Work in Brazil Psychosocial disturbances related to working life have been studied in groups of industrial workers, bank-office employees and train drivers. It has been verified that work organization,

Abstracts

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more than technology differences, contributes for constitution of psychosocial disturbances. Social work relations are strongly involved in the strain and illness-producing dynamics. The paper analyses the interplay between different work-environmental, work-organisational, socio-economics and psycho-cultural aspects. Job-insecurity and humiliation, together with over-load and strong exposure to environmental harmfull agent, joined to constitute a highly hazardous situation for workers in unskilled occupations. Maritza Montero:

Psychology of Liberation. A proposal for a Psychosociological Theory Starting with the study of behaviour in conditions of powerlessness, alienation, and opression, the need for the construction of a psychosociological theory of liberation is presented. Such a theory is based on the assumption of control over everyday life circumstances, social participation, and critical retrieval of historical consciousness. External and internal factors that make this task difficult are analyzed, while incorporating knowledge developed through Participatory Action Research. The need to study the psychological level of ideology and alienation, in order to reverse those processes, is also emphasized, as well as the study of several psychosocial variables. Mànica Sorín:

Some aspects on the developement of Social Psychology in Cuba A brief historical background of the study of psychology in Cuba is given. The determining role of social psychology in its origin and development is also described. The present situation of social psychology is presented as a profession, research subject matter and educational discipline. Some considerations are made with respect to different schools of psychology and their relationship to marxist-oriented philosophy. Some works are presented which combine diagnosis, social-psychological intervention, and subsequent publication with a view to the expansion of psychological culture. These particulary refers to: institutional psychology, national identity, art and subjectivity. César Rodríguez Rabanal:

Political Violence and the Structur of Personality in Peru The article comprises the psicosocial parameter of the violence, based on case studies compiled within a research project started in 1986 up to date and developed in a 'new village'* of refugees from a south andean province, currently the center a the peruvian internal war. Psychoanalytic methodolgy is aplied to both sexes adults and children population, through individual or group therapies. Poorness and violence seem to be, in the peruvian case, almost with no solution up to now. Racial and social apartheid, a key component of the peruvian political riot, can be reviewed 'in situ' and in depth of the interrelationship between therapist and the •

»pueblo joven«, 'asentamiento humano' is a human conglomerate of people that become land owners invading public or private properties.

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representatives of the various socio-cultural stages. Unconscious feelings of envy are reproduced in the sessions, through chaos dissemination and - as it happens in the society as a whole - confirming the dominance of destructive and self-destructive tendencies. Children therapy cases give us a chance to get an insight into the meaning of their social path respect of the violence. The quality level of the affect within the interpersonal relationships, both in children and adults, is determinant in its toward hostile behaviors which, linked to socio-economical and political conditions lead to violence. Amalia Carlv.

Organized Violence and their Psychological Effects on Children in Latin America. A Phenomenological-Comparative Approach Children facing the forced disappearance or imprisonment of their parents due to their political persecution by dictatorial forces. They are victims of a man made sisaster of violent characteristics, and where virtually no preventive measures can be taken. The disappearance and imprisonment of family members provide a situation in which the remaining relatives are unable to contain emotionally the bereaved child. Often this situation is accompanied with the disruption of family bonds, so traumatic for children, and with enhanced negative consequences when it takes place during a disaster situation. In order to avoid further persecution and social stigmata, families affected by violent political persecution tend to be socially isolated, and are sometimes forced to migrate. These conditions contribute to the child's emotional instability. The effects of this violent separation from the parents is expressed through phobias, anxiety states, psychosomatic symptoms, inhibited or aggressive behavior, speech and cognitive disturbances, regressive states, and a prolongued stress which has negative consequences for the child's emotional, social, cognitive and moral development. Therapeutic approaches with children of persecuted parents must be based on a thorough understanding of the child and the social circumstances surrounding the traumatic events. This implies that the therapist while being engaged in necessary social change, must be able to overcome his/her own anxiety and keep the capacity for reflection in order to help the child and his/her family to cope with the situation and reach therapeutic goals. WiIhelm Kempf.

War and Media: Transgressions of the Border between Information Policy and Psychological Torture The US. invasion of Panama (1989) was the first test of a new military doctrine »Mid Intensity Conflict« that was fully applied in the Gulf War (1991). As compared with the so called »Low Intensity Conflicts« that were fought during the 80ies in Central America (Nicaragua and El Salvador) the new doctrine brought about an increasement of direct military violence that can be accomplished only for the price of an intensification of psychological warfare against the minds and the hearts of the people of the U.S. themselves and their allies. As the reporting of German mass media during the Gulf War shows, this psychological warfare takes forms that

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stem from the repertoire of psychological torture. Moderated by a comparatively lower intensity and duration, the psychological warfare also brings about the same consequences that have been experienced as the results of state terrorism in various Latin American Countries. Juan Jorge Fariña: Tsycho-social Aspects of the Exculpation in Argentina Why do people forget? This is the central question of this article. The author ties up to the historical lesson which derives from the dismay of the Nazi dicatorship. He tries to explain the three steps which were taken up by the different political forces after the military dicatorship in Argentina, and which leads to the general oblivion about what has happened through the years before. The author tries to reconstruct the process of oblivion by describing and analysing the following steps: the act of the punto final, the act of the obedience (obediencia debida) and as the last moment the act of the general amnesty. The result of his analysis consists in the assessment that the fact of forgetting leads to a subtle recreation of conditions which made a reiteration of the terror possible.

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Auoren

Autoren WALTER ANDRITZKY: Deutscher. Dr.phil. Soziologe. Psychologe. Hat als Psychologe h der Klinik der Tannenhof-Stiftung in Remscheid und in der Anstalt für Sozialtherapie gearbeitet. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich für allgemeine psychologische Pädagogik der Universität Köln und am Institut für Zukunftsforschung in Berlin. Wissenschaf liehe Arbeiten zu Fragen der Ethnomedizin und der transkulturellen Psychiatrie in Berlin, Düsseldorf und Köln. Forschung über die traditionelle Medizin in Peru. NIELS BIEDERMANN-DOMMASCH: Chilene. Dr. med. Psychiater und Psychotherapeut. Studium in Chile, Deutschland und den USA. Mitglied des chilenischen Instituts für Famlientherapie und des lateinamerikanischen Instituts für psychische Gesundheit und Mensrhenrechte (ILAS) in Santiago. Er hat als Dozent an der Universität, und als Arzt am psycliatrischen Krankenhaus in Santiago gearbeitet. Forschungsarbeiten zu Problemen der psychischen Gesundheit ethnischer Minoritäten und der Behandlung von Patienten mit Folgeschädei aufgrund politischer Verfolgung. AMALIA CARLI: Argentinierin. Psychologin. Lebt seit 1977 in Norwegen und arbeitet an Institut Nie Waals in Oslo. Sie hat im klinischen und pädagogischen Bereich mit Flüchtlingen und Immigranten gearbeitet. Die Schwerpunktthemen sind Sexualität, Drogen, Kindesmißbrauch und Adoption. Weitere Forschungsarbeiten zu exilierten Kindern und Frauen in Lateinamerika. Autorin verschiedener Veröffentlichungen zu diesen Themen. JUAN JORGE FARIÑA: Argentinier. Psychologe. Dozent und Wissenschaftler an der psychologischen Fakultät der Universität Buenos Aires. Mitglied des »Movimiento Solidario de Salud Mental« (MSSM) mit Sitz in Buenos Aires, Argentinien. WILHELM KEMPF: Österreicher. Prof. Dr. phil. Studienaufenthalte in Nordamerika und Lateinamerika (USA, Kanada, Mexiko und Kuba). Professor (psychologische Methodologie und Statistik) an der Universität Konstanz. Von 1984-88 Sprecher der Abteilung für Sozialps/chologie der »Arbeitsgemeinschaft für Frieden und Konfliktforschung«. Publikationen über Menschenrechte und sozialpsychologische Aspekte der Massenmedien, insbesondere zu Mittelamerika. ROBERTO CAMPOS NAVARRO: Mexikaner. Dr.med. Spezialisiert in Familienmedizir. Magister in Sozialanthropologie. Professor der medizinischen Anthropologie am Fachbereich der Medizingeschichte und -philosophie der medizinischen Fakultät. Universität Autónoma de México (UNAM).

Autoren

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MARITZA MONTERO: Venezolanerin. Dr. phil. Dipl. psych. Ordentliche Professorin an der Zentraluniversität von Venezuela. Gastprofessuren an verschiedenen akademischen Institutionen in Europa und den USA: St.Antony's College, Univ. Oxford (1980-81), Universität von Paris Vni (1990), Zentrum für multikulturelle Erziehung der University of London (1989-90). Gründerin der »Asociación Venezolana de Psicología Social« (AVEPSO). Autorin meherer Bücher und zahlreicher Artikel in Fachzeitschriften. HORACIO RIQUELME U.: Deutsch-Chilene. Dr. med. Hochschulassistent für transkulturelle Psychiatrie an der Universität Hamburg. Mitglied der ICHP (Genf), hier Leiter des »Committee on International Mental Health«. Mitglied des internationalen, akademischen Kommittes des »Zentrum zur psychosozialen Erforschung des Stress« (Universität Aalborg, Dänemark) und des »Behandlungszentrum für Folteropfer e.V.« (Berlin). Koordinator des jährlichen Symposiums »Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika« an der Universität Hamburg. CESAR RODRIGUEZ RABANAL: Peruaner. Dr. med. Psychoanalytiker. Direktor des »Zentrums für Psychoanalyse und Gesellschaft«, Lima. Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen über sozialpsychologische und psychoanalytische Themen in verschiedenen Sprachen. EDITH SELIGMANN-SILVA: Brasilianerin. Dr. med. Psychiaterin. Forschungen zum Thema psychische Gesundheit und Arbeit. Dozentin an der Universität von Sao Paulo und an der Schule für Unternehmen der Stiftung Getulio Vargas. JOHANNES SOMMERFELD: Deutscher. Ethnologe. Spezialisiert in anthropologischer Medizin. Feldforschung in Haiti und Mali zu traditionellen Heilsriten und Gesundheit in den Ländern des Südens. MONICA SORIN: Argentinierin, lebt seit 1962 in Kuba. Dr. psych. Professorin der psychologischen Fakultät an der Universität La Habana in Kuba. Leiterin der Arbeitsgruppe »Kulturelle Förderung von Kindern und Jugendlichen« des Kulturministeriums in Kuba.