Ambulante Interventionen der DDR-Jugendhilfe in die Familien in den 1960er bis 1980er Jahren: Rechtliche Normierung sowie tatsächliche Anlässe [1 ed.] 9783428554775, 9783428154777

Die vorliegende Arbeit leistet einen neuen Ansatz zur Darstellung der DDR-Jugendhilfe und damit exemplarisch zum öffentl

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Ambulante Interventionen der DDR-Jugendhilfe in die Familien in den 1960er bis 1980er Jahren: Rechtliche Normierung sowie tatsächliche Anlässe [1 ed.]
 9783428554775, 9783428154777

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Schriften zur Rechtsgeschichte Band 189

Ambulante Interventionen der DDR-Jugendhilfe in die Familien in den 1960er bis 1980er Jahren Rechtliche Normierung sowie tatsächliche Anlässe

Von

Iris Riege

Duncker & Humblot · Berlin

IRIS RIEGE

Ambulante Interventionen der DDR-Jugendhilfe in die Familien in den 1960er bis 1980er Jahren

Schriften zur Rechtsgeschichte Band 189

Ambulante Interventionen der DDR-Jugendhilfe in die Familien in den 1960er bis 1980er Jahren Rechtliche Normierung sowie tatsächliche Anlässe

Von

Iris Riege

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 978-3-428-15477-7 (Print) ISBN 978-3-428-55477-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Die Gefährdung der Erziehung und Entwicklung, der Gesundheit oder der wirtschaftlichen Interessen des Kindes ist als Zustand zu verstehen, der das Eingreifen der staatlichen Organe erfordert.“ Kommentar zum FGB, 5. Aufl. von 1982, zu § 50, S. 146

Vorwort und Danksagung Während meiner Promotion wurde mir häufig die Frage gestellt, wie ich – eine kurz vor der Wende in Bayern geborene Juristin – denn dazu gekommen sei, gerade ein Buch über das Recht der DDR und insbesondere der Jugendhilfe zu schreiben. Das Anliegen für eine rechtshistorische Arbeit besteht für mich in erster Linie darin, mich in eine völlig neue Denkweise hineinzubegeben, um sich durch diesen Prozess der Axiome und Selbstverständlichkeiten des eigenen Rechtssystems in besonderer Weise bewusst zu werden und dadurch über diese hinaustreten zu können. Dieses kann durch die Erforschung der ehemaligen DDR in besonderer Weise erfüllt werden, da es als sozialistisches Rechtssystem eine Welt mit völlig eigenen Regeln darstellt, zusätzlich aber als neuere deutsche Geschichte auch für die Gegenwart direkte Relevanz hat. Mein Interesse, dies explizit anhand der Jugendhilfe zu untersuchen, wurde durch das Buch „Zwangsadoptionen in der DDR“ von Marie-Luise Warnecke1 geweckt: ihre Darstellung der staatlichen Interventionen mit der höchsten Intensität – Adoptionen gegen bzw. ohne den Willen der Eltern – passt in die bisherige Rezeption der DDR-Geschichte und führte mich zu der Frage, wie denn die alltägliche und rein ambulante Tätigkeit der Jugendhilfe aussah. Die in dieser Arbeit in Hinblick auf Erwägungen der materiellen Gerechtigkeit verfolgte „neutrale“ Herangehensweise soll gewährleisten, gerade das DDR-Typische des Rechtssystems herauszuarbeiten, und machte die Untersuchung automatisch auch zu einer rechtsdogmatischen Arbeit am Beispiel der Jugendhilfe. Fragen der materiellen Gerechtigkeit wurden damit bewusst ausgeklammert; diese mag der Leser2 aufgrund der dargestellten Fakten selbst entscheiden. Gerade dieses Anliegen, ein völlig anderes Rechtssystem von innen heraus Schritt für Schritt zu verstehen und sich seinem essentiellen Gehalt zu nähern, sowie sich von der eigenen BRD-rechtlichen Herangehensweise zu distanzieren und sich nicht von gängigen Klischees über die DDR vereinnahmen zu lassen, machte die Arbeit besonderes spannend und stellte gleichzeitig eine große Her1

Warnecke, Marie-Luise, Zwangsadoptionen in der DDR, Berlin 2009. Als weitere Inspiration ist auch das Werk von Markovits zu nennen, Markovits, Inga, Gerechtigkeit in Lüritz – Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte, München 2006. 2 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in diesem Dokument auf eine geschlechterspezifische Differenzierung, wie zum Beispiel „der Leser“/„die Leserin“, verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichberechtigung für alle Geschlechter.

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Vorwort und Danksagung

ausforderung dar. Diesen Erkenntnisprozess soll das vorliegende Buch möglichst transparent und chronologisch nachzeichnen. Die Arbeit wurde in der Fassung vom 5. August 2016 im Oktober 2016 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Stand der Literatur ist der der Verteidigung (Dezember 2016). Die Entstehung der Untersuchung haben Personen und Institutionen gefördert, welchen ich an dieser Stelle ausdrücklich danke: An erster Stelle möchte ich meinen Doktorvater, Prof. Dr. Martin Löhnig, nennen, der mich entscheidend zu dieser Untersuchung inspiriert und mich die gesamte Dauer in jeder Hinsicht unterstützt und gefördert hat. Herzlichen Dank dafür. Prof. Dr. Hans-Jürgen Becker danke ich für die rasche Anfertigung des Zweitgutachtens. Prof. Dr. Eberhard Mannschatz möchte ich für das im Anhang abgedruckte Interview und seine Einblicke in die Jugendhilfe und die politischen Hintergründe der DDR als Zeitzeuge danken. Die Erstellung der Arbeit wäre ohne die Bereitstellung von Akten sowie die zeitintensive Anfertigung von Kopien nicht möglich gewesen. Ich danke deshalb den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern folgender Archive: Kreisarchiv Bautzen, Bezirksamt Pankow von Berlin, Bezirksamt Mitte von Berlin und Kreis- und Verwaltungsarchiv des Landkreises Oberhavel. Für die finanzielle Beteiligung an Archivreisen und Kopierkosten danke ich der Frauenförderung der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg. Für ihr zeitliches Engagement, die wertvollen fachlichen Anmerkungen und die persönliche Begleitung gilt mein besonderer Dank Dr. Barbara Bucher, Jonas Kühne, Philipp Riege, Julia Schlicht, Christian Seitz und Sebastian Wild. Außerdem danke ich meinen Eltern Renate und Gerd Riege für ihre Inspiration und Unterstützung, ohne die meine gesamte juristische Ausbildung nicht denkbar gewesen wäre. Von der ersten Idee bis hin zur Veröffentlichung haben mich viele weitere geschätzte Menschen bei diesem vielfältigen Prozess begleitet und mich jeder auf seine Weise unterstützt. Dafür bin ich allen sehr verbunden. Abschließend möchte ich Ursula Warko für ihren bedingungslosen Rückhalt danken. Ihr widme ich dieses Buch. Berlin/Nürnberg, im Dezember 2019

Iris Riege

Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 IV. Forschungsleitende Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 V. Gang der Untersuchung: Quellen, Methoden und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . 27

1. Kapitel Exegese zentraler Rechtsnormen

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A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB . . . . . . . . . . . . . . . . 36 I. Art. 38 der Verfassung der DDR von 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 II. Zentrale Normen des FGB von 1965 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 III. Zwischenergebnis: Normiertes sozialistisches Familienverständnis und Erziehungsideal sowie Gesellschafts- bzw. Staatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . 96 I. Die Jugendhilfe als staatliches Organ: Grundsätzliche Normierung staatlicher bzw. gesellschaftlicher Tätigkeit im Bereich der Familie nach dem FGB . . . . . 97 II. Organisation und Rechtsgrundlagen der Tätigkeit der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . 113 III. Zwischenergebnis: Normierte Tätigkeit der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe, insbesondere nach dem FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

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Inhaltsübersicht II. Zwischenergebnis: Rechtliche Normierung von Interventionen und Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . 158

D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung . . . . . . 162 2. Kapitel Empirische Analyse von Einzelfallakten der Jugendhilfe des ehemaligen Kreises Hoyerswerda

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A. Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Aktenbestand: Einzelfallakten der Jugendhilfe aus dem ehemaligen Kreis Hoyerswerda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 II. Gang der Auswertung, Begrifflichkeiten und Auswertungsmethoden . . . . . . . . . 178 III. Kritische Beleuchtung der Valenz der zu erzielenden Ergebnisse . . . . . . . . . . . . 179 B. Ermittlung der relevanten Einzelfallakten: Untersuchungszeitraum, „Arbeiterschicht“ und ambulante Tätigkeit der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 I. Geburtenjahrgänge 1955 – 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 II. Arbeitergeber der Eltern bzw. Wohnort der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 III. Akte dokumentiert ambulante Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 IV. Relevante Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 C. Auswertung: Tatsächliche Anlässe der Interventionen der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . 183 I. Auswertung des Aktenbestandes nach quantitativen Verfahren: Erforschung der Rechtspraxis der Jugendhilfeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 II. Auswertung nach qualitativen Verfahren: Analyse der Lebenssachverhalte . . . . 187 D. Ergebnis: Tatsächliche Anlässe der dokumentierten Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . 217 Schlussbetrachtung: Rechtsbegriff des „öffentlichen“ DDR-Familienrechts . . . . . . . 221 Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz am 21. 03. 2012 in Berlin 228 Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG . . . . . . . . . . . 237 Anhang III: Liste der von der Untersuchung ausgeschlossenen Akten . . . . . . . . . . . . 244 Anhang IV: Ergebnisse der statistischen Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Inhaltsübersicht

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Anhang V: Ergebnisse der qualitativen Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 I. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 II. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 IV. Forschungsleitende Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 V. Gang der Untersuchung: Quellen, Methoden und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . 27 1. Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Rechtliche Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 c) Interview mit Prof. Mannschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Exegese der Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 b) Empirische Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 c) Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Kapitel Exegese zentraler Rechtsnormen

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A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB . . . . . . . . . . . . . . . 36 I. Art. 38 der Verfassung der DDR von 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Wortlaut und Auslegung anhand des Verfassungskommentars . . . . . . . . . . . . 37 2. Normierter Gesellschaftsbegriff des Verfassungskommentars . . . . . . . . . . . . . 41 3. Verständnis von sozialistischen Grundrechten und Grundpflichten nach dem amtlichen Lehrbuch von 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Sozialistische Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 b) Sozialistische Grundpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 c) Garantien und subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Fazit zum Familien- und Erziehungsverständnis anhand der Verfassung der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Zentrale Normen des FGB von 1965 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Grundsätze des FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) Präambel des FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 aa) Legaldefinition von Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

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Inhaltsverzeichnis bb) Die Stellung der Familie in der sozialistischen Gesellschaft . . . . . . . . 53 (1) Hauptaufgabe bzw. Hauptfunktion der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . 54 (2) Entwicklungsprozess zur sozialistischen Familie . . . . . . . . . . . . . . 55 (3) Sozialistische Idealgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 cc) Aufgaben des FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) § 1 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 aa) In der Kommentierung zu § 1 FGB keine direkte Nennung von Rechten der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 bb) Ergeben sich indirekt aus den Kommentierungen zu § 1 FGB „Rechte“ der Bürger? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 (1) Bestehen Rechtspflichten der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Organe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 (2) Bestehen Schranken bei der Umsetzung des Schutzes und der Förderung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 (3) Die Auslegung der Begriffe Schutz und Förderung . . . . . . . . . . . . 63 c) § 3 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 aa) Sozialistisches Familienbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 bb) Sozialistisches Erziehungsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 d) Fazit zu den Grundsätzen des FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2. §§ 42, 43 und 49 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a) § 42 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 aa) Inhalt und Aufgaben des Erziehungsziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (1) Umsetzung der Aufgaben aus dem Erziehungsziel . . . . . . . . . . . . . 72 (2) Erziehungsprozess gem. § 42 Abs. 3 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 (3) Entwicklungstendenzen in der Kommentierung zum Erziehungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 bb) Erziehungsrecht gemäß den Kommentierungen zu § 42 FGB . . . . . . . 75 b) § 43 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 aa) Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes, § 43 S. 1 FGB . . . . . . . . . . 79 bb) Betreuung und Beaufsichtigung des Kindes, § 43 S. 1 FGB . . . . . . . . . 79 cc) Betreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 dd) Beaufsichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 ee) Rechtliche Vertretung des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 ff) Regelung der Vermögensangelegenheiten des Kindes . . . . . . . . . . . . . 83 gg) Bestimmung des Aufenthalts des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 c) § 49 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 d) Fazit zu den §§ 42, 43 und 49 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3. Fazit zu den zentralen Normen des FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 III. Zwischenergebnis: Normiertes sozialistisches Familienverständnis und Erziehungsideal sowie Gesellschafts- bzw. Staatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Entwicklung der zentralen Begrifflichkeiten im Untersuchungszeitraum . . . . 89

Inhaltsverzeichnis

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2. Sozialistischer Familienbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Sozialistisches Erziehungsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4. Sozialistischer Staats- und Gesellschaftsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5. Aufgaben statt Rechte für die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe . . . . . . . . . . 96 I. Die Jugendhilfe als staatliches Organ: Grundsätzliche Normierung staatlicher bzw. gesellschaftlicher Tätigkeit im Bereich der Familie nach dem FGB . . . . . . 97 1. Staatliche bzw. gesellschaftliche Tätigkeit anhand der unter Kap. 1 A. analysierten Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Staatliche bzw. gesellschaftliche Tätigkeit anhand der §§ 4 und 44 FGB . . . . 103 a) § 4 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 aa) § 4 Abs. 1 S. 1 FGB: Die Pflichten der staatlichen Organe . . . . . . . . . 104 bb) § 4 Abs. 1 S. 2 FGB: Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationen und Kollektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) § 44 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Organisation und Rechtsgrundlagen der Tätigkeit der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . 113 1. Organe auf unterer Verwaltungsebene (Kreise, Stadtkreise, Stadtbezirke) . . . 113 a) Das Referat Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Der Jugendhilfeausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 c) Die Jugendhilfekommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 d) Der Vormundschaftsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Organe auf Bezirksebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Organe auf Ministerialebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Leitung und Kontrolle der örtlichen Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5. Verfahrens- und Formvorschriften der JHVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 III. Zwischenergebnis: Normierte Tätigkeit der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe, insbesondere nach dem FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Rechtsgrundlagen für Interventionen der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Wortlaut der §§ 49 Abs. 2, 50 FGB und § 1 JHVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Auslegung der §§ 49 und 50 FGB anhand des FGB-Kommentars . . . . . . . . . . 129 a) Auslegung des § 49 FGB, insbesondere Absatz 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 aa) Kommentierung von 1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 bb) Kommentierung von 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 cc) Kommentierung von 1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 dd) Kommentierung von 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

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Inhaltsverzeichnis b) Auslegung des § 50 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 aa) „Allgemeines“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (1) Kommentierung von 1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (2) Kommentierung von 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (3) Kommentierung von 1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (4) Kommentierung von 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (5) Fazit zu den Kommentierungen zu § 49 Abs. 2 FGB (i.R.d. § 49 Abs. 2 FGB und auch i.R.d. § 50 FGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Exkurs: Begriff der Erziehungsschwierigkeiten i.S.d. § 49 Abs. 2 FGB . . . 139 Exkurs: Erkenntnisse zum sozialistischen „Eingriffs“-Begriff und zur gesellschaftlichen Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Voraussetzungen des § 50 FGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (1) Auslegung des Begriffs der „Gefährdung“ sowie der „Gefährdung der Erziehung und Entwicklung“ im Speziellen i.S.v. § 50 FGB 144 (2) Kein Verschulden der Eltern für die Gefährdung, § 50 S. 1 FGB

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4. Fazit zu den §§ 49 Abs. 2, 50 FGB und § 1 JHVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 II. Zwischenergebnis: Rechtliche Normierung von Interventionen und Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . 158 1. Rechtliche Normierung von Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 2. Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe 159 D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung . . . . . 162 2. Kapitel Empirische Analyse von Einzelfallakten der Jugendhilfe des ehemaligen Kreises Hoyerswerda

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A. Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Aktenbestand: Einzelfallakten der Jugendhilfe aus dem ehemaligen Kreis Hoyerswerda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. Aktenlage und Auswahl des Aktenbestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Beschreibung des Quellenmaterials und datenschutzrechtliche Anforderungen 171 II. Gang der Auswertung, Begrifflichkeiten und Auswertungsmethoden . . . . . . . . . 178 III. Kritische Beleuchtung der Valenz der zu erzielenden Ergebnisse . . . . . . . . . . . . 179 B. Ermittlung der relevanten Einzelfallakten: Untersuchungszeitraum, „Arbeiterschicht“ und ambulante Tätigkeit der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 I. Geburtenjahrgänge 1955 – 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 II. Arbeitergeber der Eltern bzw. Wohnort der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 III. Akte dokumentiert ambulante Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 IV. Relevante Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

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C. Auswertung: Tatsächliche Anlässe der Interventionen der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . 183 I. Auswertung des Aktenbestandes nach quantitativen Verfahren: Erforschung der Rechtspraxis der Jugendhilfeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1. Erarbeitung von auswertungsleitenden Fragen und Indikatoren bezüglich der Rechtspraxis der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Ergebnisse der statistischen Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3. Fazit zur quantitativen Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 II. Auswertung nach qualitativen Verfahren: Analyse der Lebenssachverhalte . . . . 187 1. Deduktive Erarbeitung einer qualitativen Auswertungsmethode . . . . . . . . . . . 189 2. Erarbeitung von objektiven Kriterien für eine Typisierung der Akten . . . . . . . 190 Exkurs: Verhältnis des Quellenmaterials zu den geltenden Normen einerseits und dem zu ermittelnden tatsächlichen Lebenssachverhalt andererseits . . . . . 191 a) Soziale Ausgangssituation in der Familie zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 b) Gegenstand des Schwerpunktes der Interventionen der Jugendhilfe . . . . . . 195 3. Ergebnisse der qualitativen Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) „Typisierbare“ und „komplexe“ Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Die Stichprobenlänge als Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 c) Typenmodell der durch die Kriterien abbildbaren Akten . . . . . . . . . . . . . . . 199 d) Akten mit „komplexerem“ Lebenssachverhalt bzw. nicht typisierbare Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4. Fazit zur qualitativen Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) „Typisierbare“ Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) „Komplexe“ Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 D. Ergebnis: Tatsächliche Anlässe der dokumentierten Interventionen . . . . . . . . . . . . . . 217 Schlussbetrachtung: Rechtsbegriff des „öffentlichen“ DDR-Familienrechts . . . . . . . 221 Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz am 21. 03. 2012 in Berlin 228 Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG . . . . . . . . . . . 237 Anhang III: Liste der von der Untersuchung ausgeschlossenen Akten . . . . . . . . . . . . 244 Anhang IV: Ergebnisse der statistischen Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Anhang V: Ergebnisse der qualitativen Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 I. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 II. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Abkürzungsverzeichnis Abs. anl. Art. Aufl. BGB BRD bspw. BVerfG BVerfGE bzgl. bzw. DDR d.h. etc. f., ff. FGB fol. GBl. GG Hrsg. HS. i.R.d. i.S.d. i.S.v. i.V.m. JHVO Kap. n.f. r S. SED SGB VIII StGB u.a. v vgl. XXX z.B. z.T.

Absatz anlässlich Artikel Auflage Bürgerliches Gesetzbuch Bundesrepublik Deutschland beispielsweise Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheidung bezüglich beziehungsweise Deutsche Demokratische Republik das heißt et cetera folgende, fortfolgende Familiengesetzbuch der DDR folio (dt. Blatt) Gesetzesblatt Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Herausgeber Halbsatz im Rahmen des/im Rahmen der im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit Jugendhilfeverordnung der DDR Kapitel nicht feststellbar recto (dt. „auf der Vorderseite von“) Seite(n) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialgesetzbuch, Achtes Buch, Kinder- und Jugendhilfe Strafgesetzbuch und andere verso (dt. „auf der Rückseite von“) vergleiche Platzhalter für die Namen von natürlichen Personen (aus datenschutzrechtlichen Gründen) zum Beispiel zum Teil

Einführung I. Erkenntnisinteresse Das leitende Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit besteht in der Erforschung der Rechtsgrundlagen und der Rechtswirklichkeit staatlicher Interventionen in der DDR1 – und damit des öffentlichen Rechts der DDR im weitesten Sinne – anhand des „öffentlichen“2 DDR-Familien- und Jugendhilferechtes. Es wird nicht allein eine Normengeschichte im Sinne der klassischen Rechtsgeschichte, aber auch nicht lediglich eine faktische Normanwendungsgeschichte staatlicher Interventionen in der DDR untersucht, sondern gerade auch sozialhistorische Aspekte mit einbezogen. So soll neben der Normenebene also nicht eine Verwaltungsgeschichte erzählt werden, sondern insbesondere die Sozialrechtsgeschichte von staatlichen Interventionen erforscht werden. Dieses spezifische Erkenntnisinteresse ergibt sich aus dem Studium des öffentlichen DDR-Rechts selbst, welches als sozialistisches Recht auf einem grundlegend eigenen Rechtsverständnis mit völlig anderen Grundannahmen, staatlichen Interessen und Vorstellungen basiert und damit die soziale Wirklichkeit in einem sozialistischen System in einer ganz spezifischen Weise gestaltete. Die Arbeit wird daher maßgeblich durch das Anliegen bestimmt, aus dem Zusammenhang zwischen Rechtsgrundlagen und Rechtswirklichkeit das DDR-Typische staatlicher Interventionen herauszuarbeiten. Hieraus folgt ein interdisziplinäres Erkenntnisinteresse: es ergeben sich in Bezug auf die staatlichen Interventionen juristisch-dogmatische und sozialhistorische Fragen, welche auf der grundlegenden rechtssoziologischen Vorstellung basieren, dass das Rechtssystem nur als eines von mehreren Ordnungsprinzipien in einer Gesellschaft zu betrachten ist3 und daher nicht isoliert untersucht werden kann. All diese Faktoren werden im Zusammenhang mit dem öffentlichen Familien- und Jugendhilferecht besonders relevant: Anhand dieses Rechtsgebietes wird das Ver1 Was bei der vorliegenden Untersuchung unter „Intervention“ verstanden wird, wird i.R.d. Untersuchungsgegenstandes erarbeitet unter Einleitung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 2 Ob es in der DDR „öffentliches“ Recht im Sinne des bürgerlich-rechtlichen Verständnisses geben konnte wird noch ausführlich diskutiert werden, vgl. unter 1. Kapitel: Exegese zentraler Rechtsnormen. 3 Rechtsnormen werden in der Rechtssoziologie nur als ein Sonderfall sozialer Normen betrachtet (vgl. dazu ausführlich Raiser, Thomas, Grundlagen der Rechtssoziologie, 6. Auflage, Tübingen 2013, S. 177 ff.).

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hältnis von Staat und Bürger durch den sozialistischen Gesellschaftsanspruch der DDR besonders deutlich und die Auswirkungen der Gestaltung der Rechtsgrundlagen auf die Rechtswirklichkeit und deren Verhältnis besonders anschaulich. Die Relevanz solcher Zusammenhänge, auch für heutige politische Debatten, wird somit besonders greifbar. Die Analyse staatlicher Interventionen in die Familie – dem Inbegriff der Privatheit der Bürger – kann daher als ein Brennglas und Beispiel dienen für sämtliche Kernfragen, welche an das öffentlichen Recht der DDR gestellt werden mögen. Die Untersuchung derselben, sowie die erarbeiteten Antworten auf diese, können über das Rechtsgebiet hinaus einen symbolischen Wert für das sonstige öffentliche Recht der DDR bekommen.

II. Forschungsstand Die historische Forschung zur Familienpolitik der DDR bezüglich staatlicher Interventionen in die Familien durch die Jugendhilfe war zeitweise recht intensiv: Exemplarisch können hier die Arbeiten von Gisela Helwig, Rudolf Bauer und Cord Bösenberg, Gesine Obertreis4 sowie Jutta Gysi genannt werden. Helwig unterzieht die Rezeption der staatlichen Erziehungspolitik einer kritischen Analyse und gibt Hinweise darauf, dass sich viele Familien gegen die staatliche Instrumentalisierung gesträubt hätten, ohne jedoch konkrete Fälle zu verfolgen.5 Bauer und Bösenberg untersuchen in einem ausführlichen Werk die Geschichte der Jugendhilfe seit der Weimarer Republik bis hin zum Aufbau der Strukturen in der DDR und geben damit wichtige Hinweise auf die Genese derselben.6 Eine der am meisten profiliertesten Forscherinnen im Bereich der Familienforschung ist Jutta Gysi, welche sich vor allem mit dem Alltagsleben und den Leitbildern von Familien in der DDR beschäftigt hat.7 Ebenso zu erwähnen ist das Werk von Verena Zimmermann, welches sich neben den klassischen Jugendhilfefeldern auch mit anderen staatlichen Maßnahmen gegenüber auffälligen Jugendlichen beschäftigt. Am Beispiel der Jugendwerkhöfe beleuchtet sie dabei die praktische Umsetzung von Umerziehungsmaßnahmen. Diese Untersuchung tritt aber hinter der schwerpunktmäßigen Analyse des Diskurses über die Ursachen von Devianz und Kriminalität in der DDR sowie der

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Vgl. Obertreis, Gesine, Familienpolitik in der DDR 1945 – 1980, Opladen 1985. Vgl. Helwig, Gisela, Jugend und Familie in der DDR. Leitbild und Alltag im Widerspruch, Köln 1984. 6 Vgl. Bauer, Rudolf/Bösenberg, Cord, Heimerziehung in der DDR, Frankfurt/New York 1979. 7 Vgl. Gysi, Jutta/Speigner, Wulfram, Changes in the Life Patterns of Families in the German Democratic Republic, Berlin 1983 und Gysi, Jutta (Hg.), Familienleben in der DDR. Zum Alltag von Familien mit Kindern, Berlin 1989 und Gysi, Jutta, Familienformen in der DDR. In: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik, Berlin 1988, S. 508 – 524. 5

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Darstellung der Verwaltungsebenen zurück.8 Es wird eindeutig eine „Geschichte von oben“ erzählt. Es gibt zwar einige historische Werke, welche sich mit dem Handeln der staatlichen Organe in geschlossenen Einrichtungen, insbesondere den Jugendwerkhöfen, auseinandersetzen9 und in diesem Bereich auch versuchen, die Sozialrechtsgeschichte zu beleuchten. Jedoch darf aus dem Umgang der Jugendhilfe mit den ihnen überantworteten Jugendlichen in den geschlossenen Einrichtungen nicht auf die Tätigkeit der Jugendhilfe im ambulanten Bereich geschlossen werden. Der stationäre Bereich unterlag besonderen (gesetzlichen) Regeln und setzte seiner Natur nach völlig andere Anforderungen und Rahmenbedingungen für das Handeln der Jugendhilfe.10 Seit 1989 ist jedoch in diesem Bereich der Forschung – trotz nun zugänglicher Archive – kaum Substantielles hinzugekommen. Auf rechtshistorischer Ebene war die Forschung nie intensiv; die meisten vorliegenden Arbeiten konzentrieren sich auf die Darstellung der Entwicklung der Rechtsnormen, ohne die Rechtspraxis und die institutionelle Umsetzung dieser Normen in den Blick zu nehmen. Diese meist nach 1990 entstandenen rechtshistorischen Arbeiten stellen die Umsetzung von Normen in der DDR schlicht dar, ohne zu hinterfragen, ob eine Umsetzung der Normen wie in Rechtsstaaten westeuropäischer Prägung angenommen werden kann.11 Das Recht der DDR wird so an den Maßstäben des bürgerlichen Rechts des Westens gemessen und nicht auf grundlegende Fragen nach dem tatsächlich praktizierten Recht eingegangen. Auch Stolleis befasst sich in seinen beiden Werken von 2009 und 2012 zur DDR lediglich in analytisch-rechtsdogmatischer Weise und nicht aufgrund von weiteren Primärquellen bzw. anhand der Rechtspraxis mit dem Rechtssystem der DDR.12

8 Zimmermann, Verena, Den neuen Menschen schaffen – Die Umerziehung von schwer erziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945 – 1990), Köln 2004. 9 Vgl. bspw. Krause, Hans-Ullrich, Fazit einer Utopie: Heimerziehung in der DDR; eine Rekonstruktion, Freiburg im Breisgau 2004, Vogel, Rahel Marie, Auf dem Weg zum neuen Menschen: Umerziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ in den Jugendwerkhöfen Hummelshain und Wolfersdorf (1961 – 1989), Frankfurt am Main 2010 oder Jörns, Gerhard, Der Jugendwerkhof im Jugendhilfesystem der DDR, Göttingen 1994. 10 Wie auch die Vorkommnisse in westdeutschen Jugendheimen oder auch kirchlich geführten Heimen vermuten lassen, scheint die besondere Machtposition, die Erwachsene im Verhältnis zu Minderjährigen in Heimen einnehmen, darüber hinaus zu einer eigenen Dynamik zu führen, welche nicht als DDR-spezifisches Problem betrachtet werden kann. 11 Exemplarisch: Arnold, Hans-Henning, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der Deutschen Demokratischen Republik: zugleich ein Beitrag zur Reform des Rechts der elterlichen Sorge und der Adoption in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1975 und Großekathöfer, David, Es ist ja jetzt Gleichberechtigung – Die Stellung der Frau im nachehelichen Unterhaltsrecht der DDR, Wien u.a. 2003. 12 Vgl. Stolleis, Michael, Sozialistische Gesetzlichkeit: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München 2009 und Stolleis, Michael, Geschichte des öffentlichen

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Lediglich Marie-Luise Warnecke geht in ihrer Untersuchung von „Zwangsadoptionen“ in der DDR über die bloße Normgeschichte hinaus. Sie nimmt gerade auch die Rechtspraxis in den Blick, indem sie diese anhand von Einzelakten unter Einbeziehung nicht nur der Normen, sondern auch der politischen Leitlinien, in diesem speziellen Bereich analysiert. Dabei bezieht sie sich aber schwerpunktmäßig auf den Entzug des Sorgerechts, und damit automatisch auf die Tätigkeit der Gerichte.13 Die rein ambulante Tätigkeit der Jugendhilfe, noch bevor es zur Einschaltung der Gerichte kam, wird damit nur ganz am Rande behandelt. Im Übrigen basiert ihre Analyse auf einer Darstellung der Rechtsgrundlagen der DDR anhand der bürgerlich-rechtlichen Terminologie. Zudem bildet der Vergleich mit den geltenden Gesetzen der BRD einen Schwerpunkt dieser Darstellung. Es fehlt damit an Untersuchungen, welche dem spezifischen Charakter des DDRFamilienrechts gerecht werden und die jenseits der ideologischen Vorgaben, politischen Entscheidungen und der Rechtsnormen darüber Auskunft geben, wie die sozialrechtliche Wirklichkeit angesichts der mit umfangreichen Kompetenzen ausgestatteten Jugendhilfe in der DDR aussah. Abschließend ist somit zu konstatieren, dass es kaum aktengestützte Untersuchungen zur Praxis der Intervention staatlicher Institutionen der DDR in die Familie gibt, insbesondere keine, welche speziell die DDR-Jugendhilfe im rein ambulanten Bereich betreffen. Außerdem fehlt es an einer empirisch unterfütterten Aufarbeitung der familienrechtlichen Normen, deren Auslegungsmaßstäbe sich am sozialistischen Recht der DDR selbst orientieren und nicht ex post mit Werturteilen an die Forschung herangehen. Gleiches gilt für das Rechtssystem der DDR im Ganzen, sodass die erforderliche Basis für eine grundlegende Einordnung – etwa entsprechend Fraenkels14 Bewertung des Nationalsozialistischen Staates – bisher fehlt. Mit der vorliegenden Arbeit soll damit ein Beitrag zu einer neuen Darstellung der Jugendhilfe und damit exemplarisch des öffentlichen Rechts der DDR geleistet und diese Forschungslücke geschlossen werden. Denn für eine Erforschung der Rechtsgrundlagen und der Rechtswirklichkeit der DDR jenseits von Rechtfertigungsarbeiten aus dem Osten bzw. von systemstabilisierender Kritik des Westens ist jetzt – mehr als 25 Jahre nach der Wiedervereinigung – die Zeit gekommen.

III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist es, zu ergründen, wie im Untersuchungszeitraum die rechtliche Normierung von ambulanten Interventionen Rechts in Deutschland. 4. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West- und Ost: 1945 – 1990, München 2012. 13 Vgl. Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR. 14 Vgl. Fraenkel, Ernst, Der Doppelstaat: Recht und Justiz im „Dritten Reich“, The dual State , Frankfurt a.M. 1984.

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der DDR-Jugendhilfe in die Familie ausgestaltet war und welche tatsächlichen Anlässe für diese Interventionen aus den dokumentierten Sachverhalten der Familien empirisch feststellbar sind. Soll ein Rechtssystem unter Einbeziehung seiner Rechtswirklichkeit in neutraler Weise analysiert werden, so stellen sich grundsätzliche Herausforderungen: bereits der Begriff „Familie“ kann beispielsweise in bürgerlich-rechtlicher Hinsicht sowie nach sozialistischem Rechtsverständnis, aber auch im Sinne der Pädagogik und der Soziologie verwendet werden und hat in jedem Deutungssystem eine völlig andere Dimension. Juristische Begrifflichkeiten, welche im Rechtssystem der heutigen BRD zu verorten sind, aber auch aktuelle pädagogische Begriffe, welche mit dem heutigen Wertesystem korrespondieren, würden viele Grundannahmen implizieren und eine wertungsfreie Beschreibung aufgeben. Da das sozialistische Rechtssystem bzw. die sozialistische Gesellschaft selbst den Untersuchungsgegenstand darstellt, sind auch sozialistische Begrifflichkeiten nicht geeignet, einen neutralen Untersuchungsrahmen zu gewährleisten, da gerade deren Bedeutung erst erarbeitet werden soll; rein sozialwissenschaftliche Begrifflichkeiten werden dagegen dem rechtlichen Aspekt des Untersuchungsgegenstandes nicht gerecht. Daher wird zunächst eine eigene Terminologie geschaffen, um den Untersuchungsgegenstand eindeutig bestimmen und einer neutralen Analyse zugänglich machen zu können: Um aus dem öffentlichen DDR-Familienrecht selbst neue Aussagen über dieses zu erlangen, werden die Begriffe für diese Analyse zunächst möglichst frei von spezifischer Bedeutung bzw. deskriptiv-faktisch gewählt. Es wird damit auf die Ebene des tatsächlichen Lebens abgestellt, ohne hierdurch eine rechtliche oder anderweitige Wertung bzw. Einordnung vorzunehmen. Die Terminologie ist daher vor allem in einem tatsächlichen Sinne deskriptiver Natur. Nur auf diese Weise kann ein geeigneter wertungsfreier rechtssoziologischer Untersuchungsrahmen aufgespannt werden und darin der Untersuchungsgegenstand so definiert werden, dass er der Interdisziplinarität des Erkenntnisinteresses entspricht und somit das DDR-Spezifische herausgearbeitet wird. Dementsprechend wird der für die Untersuchung zentrale Begriff der „Intervention“ eigenständig definiert. Um die der Arbeit zugrunde gelegte Bedeutung des Begriffes zu verdeutlichen und zu definieren, was als „Anlass“ von Interventionen zu verstehen ist, wird zunächst eine gedankliche Ebene höher angesetzt und der Begriff der staatlichen „Tätigkeit“ als übergeordnete Kategorie definiert: Unter „Tätigkeit“ wird zunächst sämtliche rein tatsächliche staatliche Aktivität im Bereich der Familie verstanden. Dabei ist nicht entscheidend, ob es sich um Aktivität im Innen- oder Außenverhältnis handelt, sodass auch die Aktivitäten gegenüber anderen staatlichen bzw. gesellschaftlichen Behörden von dem Begriff erfasst werden. Gegenstand der Tätigkeit ist jedoch die Familie, wobei es sich um eine einzelne Familie, aber auch eine Vielzahl von Familien handeln kann, wie z.B. bei Propaganda, oder generellen Geldzuwendungen an eine Vielzahl von Familien. Der

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Personenkreis kann damit bestimmt oder unbestimmt sein. Ebenso ist es nicht entscheidend, ob diese Tätigkeit aufgrund einer rechtlichen Grundlage erfolgt oder nicht.15 Wie schon angedeutet ist dabei gerade der Begriff der „Familie“ Teil des Untersuchungsgegenstandes. Es wird daher zu untersuchen sein, was darunter nach den Rechtsgrundlagen16 und in den Akten17 zu verstehen war. Ebenso ist die Definition (und Existenz) eines „Staates“ (und seine Abgrenzung zur Gesellschaft) nicht selbstverständlich und selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes. Seine Existenz wird auch hier zunächst allgemein angenommen. Vorerst soll daher die Feststellung genügen, dass rein faktisch auch in der DDR ein Staat existierte18 und dass der Staat auf die Familien19 Einfluss nahm; alles Weitere wird im Folgenden untersucht. Unter „Intervention“ wird eine spezifische Variante staatlicher Tätigkeit im Bereich der Familie verstanden. Es wird somit nicht auf bereits bestehende Interventionsbegriffe aus den Politikwissenschaften oder der Pädagogik zurückgegriffen, sondern der Begriff folgendermaßen definiert: Als staatliche Intervention in die Familie wird diejenige staatliche Tätigkeit im Bereich der Familie verstanden, welche eine zielgerichtete spezifische und bewusste Einflussnahme durch die Jugendhilfe auf eine einzelne Familie im tatsächlichen Sinne darstellt. Auch hierbei ist wiederum unerheblich, ob die Intervention aufgrund einer rechtlichen Grundlage einem Handlungsgebot folgt oder nicht.20 Unter Einflussnahme soll dabei jede staatlich veranlasste Einmischung im weitesten Sinne verstanden werden. Dafür ist nicht entscheidend, welche Folgen diese hatte, es reicht also auch der Versuch. Spezifische bzw. zielgerichtete Einflussnahme bedeutet, dass sich die staatliche Aktivität schon auf eine einzelne Familie konkretisiert hat. Damit ist also im Begriff der Intervention nicht die Tätigkeit der Jugendhilfe mit eingeschlossen, welche an viele Familien und damit an einen unbestimmten Personenkreis gerichtet ist, wie beispielsweise Propaganda oder generelle Regelungen zu Arztuntersuchungen für das Kind; vielmehr muss sich die Tätigkeit schon auf die einzelne individuelle Familie konkretisiert haben. 15 Umgekehrt handelt es sich aber bei jeder staatlichen Aktivität auf Grundlage einer Norm um „Tätigkeit“ im Sinne der Definition, wie noch gezeigt werden wird. 16 Vgl. 1. Kapitel, A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB. 17 Vgl. 2. Kapitel, A. II. Gang der Auswertung, Begrifflichkeiten und Auswertungsmethoden. 18 Unter Staat soll damit zunächst lediglich eine politische, verwaltungstechnische und mit Machtbefugnissen ausgestattete Organisationsstruktur verstanden werden, welche dem Bürger in einem Über-Unterordnungsverhältnis entgegen tritt. 19 Unter „Familie“ soll dabei in dieser Arbeit zunächst fern von einer juristischen Definition lediglich verstanden werden, dass mindestens ein Erwachsener mindestens einen Minderjährigen faktisch unmittelbar betreut und diese sich als Familie begreifen. 20 Umgekehrt handelt es sich aber bei jeder in den DDR-Gesetzen als „Maßnahme“ bezeichneten normierten Aktivität der staatlichen Organe um Interventionen im Sinne der Definition, wie noch gezeigt werden wird.

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Entscheidend auch schon bezüglich der staatlichen Tätigkeit, besonders aber für den Begriff der Intervention ist, dass diese Tätigkeit rein tatsächlich verstanden wird und keinerlei Wertung beinhaltet, also in keiner Weise normativ verstanden wird. Ebenso wenig ist die Definition an eine Schwelle oder Intensität der Einflussnahme gebunden; auch die Art und Weise der weiteren Auswirkungen der Intervention sind nicht entscheidend für den Interventionsbegriff. Vor allem aber ist zu betonen, dass dem in dieser Untersuchung verwendeten Interventionsbegriff keine Wertung im Sinne des Eingriffsbegriffs des heutigen öffentlichen Rechts der BRD zugrunde liegt, welcher auf dem Modell von „Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung“ basiert.21 Mit dem Begriff der Intervention werden somit keine Voraussetzungen impliziert und auch keine Konsequenzen automatisch daran geknüpft, weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Form. Der Begriff der Intervention weist somit einen rein neutralen, deskriptiven Charakter ohne Implikationen oder Wertungen auf und umfasst alle unterschiedlichen Intensitäten der Einflussnahme. Dieser weite Interventionsbegriff erfordert für die Untersuchung eine weitere Konkretisierung, denn die Tätigkeit des Staates im Bereich der Familie, aber auch staatliche Interventionen in die Familie, sind in vielen Rechtssystemen die Aufgaben der Jugendhilfe (oder ähnlicher Organe) und daher nicht generell, sondern immer nur im Hinblick auf ihre genaue Ausgestaltung interessant. Außerdem erfordert das rechtshistorische Interesse die Betrachtung der Interventionen unter einem Aspekt, welcher besonderen Aufschluss über das spezifisch sozialistische DDR-Recht, seine Natur, seine Rolle und Funktion geben kann. Um daher etwas über die Interventionen der Jugendhilfe zu erfahren und über die spezifische Arbeitsweise der Jugendhilfe der DDR wird nach den Anlässen der Interventionen gefragt. Die Natur der Interventionen offenbart sich so am deutlichsten. Dabei werden unter „Anlässen“ – in Abgrenzung zum Begriff des „Auslösers“ aus der Systemtheorie – diejenigen Faktoren verstanden, welche dazu führten, dass sich die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe in Form einer Intervention auf eine einzelne Familie konzentrierte. Entsprechend der rechtssoziologischen Herangehensweise werden hierunter auch bestimmte Aspekte der Rechtsgrundlagen verstanden, aber nur als eine Art von Faktoren neben anderen. Bei der Analyse der Anlässe von Interventionen soll der Schwerpunkt der Untersuchung nicht auf den Interventionen selbst liegen, sondern vor allem analysiert werden, unter welchen Voraussetzungen, Bedingungen, nach welchen Regeln und sozialen Gegebenheiten die Jugendhilfe in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu intervenieren begann (wofür auch die Interventionen selbst bis zu einem gewissen Maße betrachtet werden müssen). Dabei können selbstverständlich nicht sämtliche Anlässe untersucht werden. Daher beschränkt sich die Untersuchung jeweils auf bestimmte Anlässe. 21 Vgl. weiterführend bspw. Michael, Lothar/Morlok, Martin, Grundrechte, 4. Auflage, Baden-Baden 2014, § 4 I, S. 51 ff. und § 17 I, II, S. 251 ff., Sodan, Helge/Ziekow, Jan, Grundkurs Öffentliches Recht: Staats- und Verwaltungsrecht, 6. Auflage, München 2014, § 24 I, S. 216 ff.

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Die Untersuchung der Anlässe von Interventionen ist ein idealer Ansatzpunkt um dem rechtshistorischen Erkenntnisinteresse22 gerecht zu werden und die Rolle des Rechts im öffentlichen Familienrecht der DDR zu analysieren. Dabei ist wiederum zu unterstreichen, dass diese Analyse keine Wertung impliziert. Es geht bei dieser Arbeit also nicht um ein „Recht zum Eingriff“ sondern um „Anlässe für Interventionen“. Daraus folgt – wie schon erwähnt – dass es nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist, im Sinne einer Normanwendungsgeschichte die Rechtswirklichkeit direkt mit den Rechtsgrundlagen zu vergleichen. Demzufolge wird auf der normativen Ebene unter „Rechtsgrundlagen“ auch nicht „Rechtgrundlagen für Eingriffe“ verstanden, sondern zunächst lediglich formale und materielle Rechtsanweisungen, bestehend aus Tatbestand und Rechtsfolge, ohne weitere Implikationen. Zu beachten ist, dass unter Rechtsgrundlagen bzw. Normen in der DDR mehr als die Gesetzesnormen zu verstehen ist, da der Rechtsquellenhaushalt sich anders gestaltete als in der BRD.23 Mit der Beschränkung auf den ambulanten Bereich wird die tatsächliche Tätigkeit in den Kinderheimen, Jugendwerkhöfen, Kitas etc. bewusst von der Untersuchung ausgenommen. Zum einen ist diese stationäre Tätigkeit schon teilweise erforscht worden.24 Zum anderen hat die Tätigkeit in geschlossenen Einrichtungen, wenn Kinder auf Dauer der Obhut Fremder überlassen werden, erfahrungsgemäß ihre ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten, welche primär wohl durch die faktische Macht Erwachsener über fremde, aus ihren Ursprungsfamilien herausgelösten, Kindern geprägt ist. Damit ist diese Tätigkeit nicht geeignet, dem DDR-Typischen des Rechtssystems näher zu kommen. Die Arbeit der Jugendhilfe, welche den Alltag der Bürger der DDR prägte und die tägliche Normalität ausmachte ist dagegen bestens geeignet um die Sozialrechtsgeschichte der Jugendhilfe zu untersuchen. Als Untersuchungszeitraum wurden die 1960er, 70er und 80er Jahre ausgewählt, um auf diese Weise einerseits die Etablierungsphase mit der Bewältigung der schlimmsten Kriegsfolgen sowie andererseits die Phase des Niedergangs der DDR auszuklammern. In diesem Zeitraum der „etablierten“ DDR kann am besten die spezifische Tätigkeit der Jugendhilfe untersucht werden.

IV. Forschungsleitende Fragestellung Der Untersuchungsgegenstand wird mit einer explizit rechtshistorischen Herangehensweise erarbeitet und die Anlässe von Interventionen der Jugendhilfe in die Familie unter dem Blickwinkel von Rechtsgrundlagen und Rechtswirklichkeit analysiert. Es wird zum einen die normative Ebene daraufhin untersucht, welche 22

Vgl. Einführung, I. Erkenntnisinteresse. Vgl. Quellen unter Einfu¨ hrung, V. Gang der Untersuchung: Quellen, Methoden und Vorgehensweise. 24 Vgl. Einführung, II. Forschungsstand. 23

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Anlässe in den Rechtsgrundlagen dafür festgelegt wurden, dass sich die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe in Form einer Intervention auf die einzelne Familie konzentrierte. Die Implikation, dass Rechtsgrundlagen fern von einem „Recht zum Eingriff“ schlicht als mögliche Anlässe (neben anderen) für staatliche Aktivität betrachtet werden, ist eine rechtssoziologische Herangehensweise. Anschließend wird gefragt, welche tatsächlichen, nicht normativen, Anlässe für die Interventionen der Jugendhilfe erkennbar sind. Die forschungsleitende Fragestellung lautet somit: Wie sah im Untersuchungszeitraum die rechtliche Normierung von ambulanten Interventionen der Jugendhilfe aus und welche tatsächlichen Anlässe sind für diese aus den dokumentierten Sachverhalten der Familien in Hoyerswerda-Neustadt empirisch feststellbar? Diese relative Weite der erkenntnisleitenden Fragestellung bzw. des Untersuchungsrahmens ist dem Untersuchungsgegenstand selbst und der gewählten deduktiven Vorgehensweise geschuldet und wird daher an jeder Stelle der Untersuchung weiter präzisiert.25

V. Gang der Untersuchung: Quellen, Methoden und Vorgehensweise 1. Primärquellen Aus dem Zuschnitt der Fragestellung ergibt sich, dass die wenige vorhandene Sekundärliteratur26 kaum etwas zu deren Beantwortung beitragen kann.27 Die erkenntnisleitende Fragestellung wird vielmehr anhand von ausgesuchten Primärquellen analysiert, um so deduktiv in enger Wechselwirkung zwischen den Primärquellen und der forschungsleitenden Frage eine selbständige Betrachtungsweise der Interventionen der Jugendhilfe erarbeiten zu können. 25

Vgl. dazu auch weiter unten die Methodik. Vgl. Einführung, II. Forschungsstand. 27 Die in der DDR entstandene Literatur kann mangels einer fehlenden Unabhängigkeit der Wissenschaft in der DDR nicht den heutigen Anforderungen an Wissenschaftlichkeit genügen. Aber auch in Bezug auf die vor der Wende in der BRD entstandene Literatur muss befürchtet werden, dass sie zumeist entstanden ist, um sich (positiv) von der DDR abzugrenzen oder in sonstiger Weise nicht frei vom ideologischen Kontext geschrieben werden konnte, da der allgemeine Zeitgeist dies nicht zuließ. Die nach der Wende entstandene Literatur kann zwar herangezogen werden, sie bezieht sich jedoch wiederum stark auf die Literatur vor der Wende in Ost und West. Damit trägt diese Literatur oft wenig zu den hier gesetzten Schwerpunkten der Arbeit bei, welche gerade in einer neuen, von alten Grabenkämpfen losgelösten Betrachtung bestehen sollten; daher ist diese Literatur auch besonders quellenkritisch zu betrachten. Eine Analyse der Sekundärliteratur wäre aber sehr interessant für eine Diskursgeschichte der damaligen Zeit. 26

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Entsprechend der rechtshistorischen Vorgehensweise werden zunächst rechtliche und anschließend aktenbasierte Quellen untersucht. a) Rechtliche Primärquellen Für die Analyse der Rechtsgrundlagen wurden als zentrale Schlüsselquellen die einschlägigen Normen der Verfassung der DDR vom 6. April 1968, des FGB in der Fassung vom 20. Dezember 1965 sowie der JHVO in der Fassung vom 3. März 1966 ausgewählt28. Außerdem wurde sich für die insgesamt fünf Auflagen des Kommentars zum FGB aus den Jahren 196629, 196730, 197031, 197332 und 198233 entschieden sowie für den Kommentar zur Verfassung der DDR34 und ein Lehrbuch zu den Grundrechten35. Diese wurden alle durch das Ministerium der Justiz im 28 Sind im Folgenden einmal andere Fassungen gemeint, so wird dies ausdrücklich gekennzeichnet. Anderenfalls ist von den genannten Fassungen auszugehen. 29 Autorenkollektiv: Beyer, Karl-Heinz u.a., Ministerium der Justiz (Hrsg.), Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Lehrkommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, Berlin 1966. 30 Autorenkollektiv: Beyer, Karl-Heinz u.a., Ministerium der Justiz (Hrsg.), Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Lehrkommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, 2. Auflage, Berlin 1967. Bei dieser Auflage handelt es sich lediglich um einen „photomechanischen Nachdruck“ der 1. Auflage von 1966 in welcher nur die Richtlinien Nr. 23 und 24 des Obersten Gerichts der DDR neu aufgenommen worden waren (Kommentar zum FGB, 2. Aufl. 1967, Titelseite Nr. 4) 31 Autorenkollektiv: Beyer, Karl-Heinz u.a., Ministerium der Justiz (Hrsg.), Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Kommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, 3., überarbeitete Auflage, Berlin 1970. 32 Autorenkollektiv: Beyer, Karl-Heinz u.a., Ministerium der Justiz (Hrsg.), Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Kommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, 4., überarbeitete Auflage, Berlin 1973. 33 Autorenkollektiv: Beyer, Karl-Heinz u.a., Ministerium der Justiz (Hrsg.), Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Kommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, 5., überarbeitete Auflage, Berlin 1973. 34 Autorenkollektiv: Arlt, Reiner u.a., Sorgenicht, Klaus (Hrsg.) u.a., Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik: Dokumente/Kommentar, Band 1 und 2, Staatsverlag der DDR, Berlin 1969. 35 Redaktionskollektiv: Poppe, Eberhard (Leiter) u.a., Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, Staatsverlag der DDR, Berlin 1980.

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Staatsverlag der DDR herausgegeben. Angesichts der politischen Wirklichkeit der DDR hatten sie faktisch „Gesetzeskraft“ und werden deshalb in dieser Arbeit ebenfalls als rechtliche Primärquelle und als amtlich bindende Auslegungsmaßstäbe behandelt.36 Es werden die verschiedenen Auflagen verglichen, um Veränderungen der Auslegungen im Untersuchungszeitraum untersuchen zu können. Der Kommentar zur Verfassung der DDR sowie das Lehrbuch zu den Grundrechten erschienen jedoch jeweils nur in einer Auflage. Zur JHVO existierte keine Kommentierung. In den 1960er, 1970er und 1980er Jahren ist die Normenebene im Bereich des Familienrechts insgesamt stabil. Eine Ausnahme stellt die Verfassungsänderung von 1968 dar, welche jedoch angesichts der Bedeutung der Verfassung der DDR im Normengefüge der DDR nicht als entscheidend zu betrachten ist.37 Diese Auswahl an Gesetzen bzw. der Verordnung umfasst damit alle zentralen Normen im Bereich des öffentlichen Familienrechts; anhand dieser können die entscheidenden Strukturen untersucht werden. Weitere Gesetze wie das Jugendgesetz o. ä. wurden damit bewusst von der Untersuchung ausgenommen. Anhand der vier Auflagen des Kommentars zum FGB kann verglichen werden, ob auf der Auslegungsebene Veränderungen im Untersuchungszeitraum feststellbar sind. Diese Kommentierungen sind für das grundsätzliche Verständnis des Familienund Erziehungsbildes in der DDR sowie die staatliche bzw. gesellschaftliche Konzeption und den ideologischen Überbau sehr wichtig, da hier auch die entscheidenden Ergebnisse der Direktiven von Parteitagen mit eingearbeitet wurden ebenso wie wichtige Entscheidungen des Obersten Gerichtes und die wesentlichen Punkte der Richtlinien des Zentralen Jugendhilfeausschusses. Veränderungen in den Auflagen des Kommentars zum FGB über die Zeit hinweg stellen damit auch ein sehr entscheidendes Abbild der Auffassungen und politischen Leitlinien dar und sind damit besonders bedeutsam. Der FGB-Kommentar wurde bisher außerdem noch nicht vertieft analysiert oder gar die einzelnen Auflagen miteinander verglichen. Auf die Auswertung weiterer Durchführungsbestimmungen zum FGB bzw. zur JHVO, der Richtlinien des Obersten Gerichtes, der Direktiven der Parteitage sowie diverser Leitfäden, wie beispielsweise der Jugendhilfe-Kommissionen wurde verzichtet und die Analyse vielmehr auf die Arbeit mit den zentralen Schlüsselquellen konzentriert. b) Archivalische Quellen Zur Analyse der Rechtswirklichkeit wurde sich für Einzelfallakten der Jugendhilfe entschieden. Darunter sind Akten zu verstehen, welche für einzelne Minderjährige (bzw. zum Teil auch für Geschwister) von der Jugendhilfe behördenintern angelegt wurden. Durch die damalige Praxis der Aktenführung sind diese äußerst 36 Eine einfache Unterscheidung zwischen Politik, Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz ist in der DDR nicht möglich (vgl. bspw. Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit, S. 35 ff.). 37 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Kapitel, A. I. Art. 38 der Verfassung der DDR von 1968.

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reich an verschiedenen Dokumenten und belegen die Rechtspraxis sowie die sozialen Verhältnisse der betreuten Familien der Jugendhilfeverfahren in besonderer Weise. Es existieren bis heute mehrere solcher Aktenbestände im Gebiet der ehemaligen DDR anhand derer viele Fragestellungen untersucht werden könnten. Für die vorliegende Arbeit, welche es sich zum Ziel gemacht hat, die DDR bestmöglich von innen heraus zu verstehen, wurde sich konkret für den Aktenbestand „KA BZ Bestand 505 Rat des Kreises Hoyerswerda“ des Kreisarchivs Bautzen entschieden. Dieser betrifft unter anderem Hoyerswerda-Neustadt, die zweite sozialistische Planstadt der DDR38. Auf diese Weise kann ein spezielles Milieu nicht nur der Bürger, sondern auch der Tätigkeit der meist ehrenamtlich tätigen und daher aus der Bevölkerung stammenden Mitarbeiter der Jugendhilfe untersucht werden.39 In welcher Weise diese Art von Akten sowie der ausgewählte Aktenbestand besonders aufschlussreich für das DDR-typische Handeln der Jugendhilfe sind, wird noch ausführlich erörtert werden.40 c) Interview mit Prof. Mannschatz Außerdem wird der Arbeit ein Interview mit Prof. Mannschatz41 zugrunde gelegt, welches für die eigene Vorarbeit im März 2012 in Berlin geführt wurde. Mannschatz wirkte als Leiter der Abteilung Jugendhilfe im Ministerium für Volksbildung der DDR zwischen 1952 bis 1954 und von 1957 bis 1977.42 Damit prägte und beeinflusste er sowohl die Normsetzung als auch die Rechtspraxis der Jugendhilfe auf entscheidende Weise.43 Seine Aussagen werden zum Teil ergänzend herangezogen. 2. Methoden Für die gesamte Analyse wurde sich für eine deduktive Herangehensweise entschieden: die jeweilige Auswertungsmethode wird immer aus der Wechselwirkung zwischen dem Untersuchungsgegenstand einerseits und dem Quellenmaterial an38 Hoyerswerda-Neustadt war damals ein Neubaugebiet, welches in relativ kurzer Zeit entstanden war und dessen Wohnungen von der SED an ausgewählte Arbeiter vergeben wurden. 39 Auf diesen Aspekt wird im Rahmen des empirischen Teils noch ausführlich eingegangen werden, vgl. 2. Kapitel, A. I. 2. Aktenlage und Auswahl des Aktenbestandes. 40 Vgl. 2. Kapitel, A. I. 1. Aktenlage und Auswahl des Aktenbestandes. 41 Vgl. Mannschatz, Eberhard, Persönliches Interview mit der Verfasserin, Nachträglich autorisiert von Mannschatz, Berlin, 21. 03. 2012, Anhang I. 42 Zu seinem beruflichen Werdegang vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I. 43 Zur Mitwirkung von Mannschatz am Gesetzgebungsprozess des FGB vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I. Da die Abteilung Jugendhilfe im Ministerium für Volksbildung eine Sonderstellung einnahm, war Mannschatz als deren Leiter besonders einflussreich, vgl. auch seine eigene Einschätzung, Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I.

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dererseits erarbeitet. Demzufolge wird vor allem mit den genannten Primärquellen gearbeitet und sich einer interdisziplinären Methodik bedient: Innerhalb des bereits im Rahmen des Untersuchungsgegenstandes abgesteckten rechtssoziologischen Analyserahmens und mittels der festgelegten neutralen Terminologie44 wird für die Analyse selbst nach einem – im Folgenden noch näher zu bestimmenden – rechtshistorischen Ansatz vorgegangen. Der hinreichenden Würdigung der zentralen Rechtsquellen folgt eine empirische Untersuchung der Rechtswirklichkeit anhand von Einzelfallakten der Jugendhilfe. Das Interview mit Mannschatz wird immer wieder für die ganze Arbeit ergänzend herangezogen. a) Exegese der Rechtsnormen Als Schwerpunkt der Arbeit werden die Primärquellen des DDR-Rechts deduktiv analysiert und so die sozialistischen Rechtsbegriffe und der Regelungsinhalt herausgearbeitet: Dabei wird nach den gegenwärtig geläufigen Auslegungsmethoden zunächst der Gesetzestext selbst in seinem Wortlaut und nach seiner Systematik sowie teleologisch – also nach dem Sinn der Norm – gewürdigt und schließlich die Auslegung anhand der Kommentierung der Gesetze nachgezeichnet und analysiert.45 Auf diese Weise kann vorgegangen werden, da keine spezifisch sozialistische Auslegungsmethode existierte.46 Die historische Auslegung wurde auf die Interpretation nach den verschiedenen Auflagen des FGB-Kommentars beschränkt: die Entwicklung der DDRRechtsbegriffe im Untersuchungszeitraum kann anhand des Vergleichs der verschiedenen Auflagen des FGB-Kommentars nachgezeichnet werden. Von einem entsprechenden Kommentar zur Verfassung der DDR gab es nur eine Auflage; auf die historische Auslegung mittels des Gesetzgebungsprozesses wurde bewusst verzichtet, da dies ein weiteres sehr umfangreiches Forschungsfeld bedeutet hätte, jedoch für die Untersuchung des Forschungsgegenstandes nicht unbedingt erforderlich ist. Um dem sozialistischen Rechtssystem der DDR gerecht zu werden, wird für die Analyse der Primärquellen auf die Verwendung bürgerlich-rechtlicher Rechtsbegriffe verzichtet, da diese zu viele Implikationen und Wertungen beinhalten.47 Auf einer Metaebene wird daher lediglich mit einer rein deskriptiven, soziologisch44

Siehe oben unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. Vgl. bspw. Reimer, Franz, Juristische Methodenlehre, Baden-Baden 2016, S. 117 ff. Über die Frage der Art und Weise der teleologischen Auslegung besteht ein Meinungsstreit: Dabei wird nach der überwiegenden Meinung nicht im Sinne einer subjektiven Auslegung auf den Willen des Gesetzgebers abgestellt, sondern auf den objektiv in der Norm erkenntlichen Zweck der Norm (vgl. bspw. Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, München 2012, § 4 II/III, S. 17 ff.). 46 Dies überrascht nicht, da es sich bei dieser Auslegungsmethode um universell gängige Textexegese handelt. 47 Vgl. auch oben, Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 45

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faktischen Terminologie erarbeitet, ob und inwiefern durch die Rechtsgrundlagen eine Tätigkeit bzw. Intervention der Jugendhilfe normiert wird. So kann das DDRRecht aus sich selbst heraus deduktiv dargestellt, sich den DDR-spezifischen Rechtsbegriffen neutral genähert und ihre Wandlung nachgezeichnet werden.48 Stellenweise angestellte Vergleiche zum heute geltenden BRD-Recht haben nicht die Funktion eines Rechtsvergleiches, sondern sollen lediglich dazu dienen, die Eigenheiten des DDR-Rechts besonders herauszustellen und dem Leser anschaulich zu machen. Keinesfalls soll das DDR-Recht in wertender Weise mit dem heutigen BRD-Recht verglichen oder anhand anderer externer Maßstäben gemessen werden. Aus diesen Gründen hätte ein historischer Vergleich der Rechtsgrundlagen der DDR mit dem damals geltenden BRD-Recht, wie ihn beispielsweise Warnecke49 anstellt, im Widerspruch mit dem Untersuchungsgegenstand gestanden und die Analyse in eine ganz andere Richtung gelenkt.50 Überdies steht zu befürchten, dass in der BRD im Vergleich zur DDR damals wie heute unterschiedliche Rechtsbegriffe existieren und daher nicht Vergleichbares gegenübergestellt werden würde. Kritik oder Anmerkungen beziehen sich somit immer nur auf die innere Kohärenz des DDR-Familienrechts selbst. b) Empirische Auswertung Da eine Analyse der Akten nach rechtlichen Aspekten wegen des Untersuchungsgegenstandes und aufgrund des erarbeiteten Rechtsbegriffs in der DDR (wie noch gezeigt werden wird)51 nicht zweckdienlich wäre, wurde auf juristische Auswertungsmethoden und Maßstäbe (beispielsweise im Sinne einer „Tatbestandsmäßigkeitsüberprüfung“ oder einer generellen Normanwendung) verzichtet und die sozialhistorische Dokumentenanalyse gewählt. Durch erarbeitete Indikatoren wird zunächst die Untersuchung der für die Arbeit relevanten Akten sichergestellt und dann die Rechtspraxis mittels einer quantitativen und qualitativen Analyse der genannten Akten empirisch nach den Anlässen für Interventionen der Jugendhilfe untersucht. Zunächst werden die Akten statistisch nach erarbeiteten Indikatoren ausgewertet. Anschließend wird sukzessive ein aufeinander aufbauendes, mehrstufiges Verfahren für die qualitative Inhaltsanalyse aus

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Vgl. oben unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung; es werden für die Analyse der Rechtsgrundlagen aber auch noch weitere Begriffe definiert, (vgl. unten, 1. Kapitel, Exegese zentraler Rechtsnormen). 49 Vgl. Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR. 50 Im Übrigen kann der als Nebenprodukt angestellte ahistorische Vergleich dazu beitragen, Erkenntnisse über das aktuelle Recht in der BRD zu erlangen und aktuelle politische Diskussionen zu bereichern. 51 Vgl. 1. Kapitel, D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung.

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dem Quellenmaterial heraus entwickelt. Dafür wird eine phänomenologische Einordung und Typologisierung der Akten vorgenommen.52 c) Ergebnisse In einem letzten Schritt werden die Ergebnisse der Analyse der Rechtsgrundlagen komparativ den Ergebnissen der Aktenanalyse gegenübergestellt und in einen größeren Bedeutungsrahmen gestellt. 3. Vorgehensweise Die Untersuchung erfolgt in zwei großen Arbeitsschritten: der Darstellung und Analyse der Rechtsgrundlagen sowie einer empirischen Dokumentenauswertung. Dem schließt sich eine zusammenfassende Schlussbetrachtung an, in welcher auch ein weiterführender Ausblick gegeben wird. Das erste Kapitel und zugleich der Schwerpunkt der Arbeit behandelt das geschriebene Recht. Es werden die ausgewählten rechtlichen Primärquellen daraufhin analysiert, welche normierten Anlässe sich in ihnen für ambulante Interventionen der Jugendhilfe finden lassen. Dabei wird zunächst herausgearbeitet, welches Familien- und Erziehungsverständnis normiert war. Die Bestimmung von Familie und Erziehung im Sinne des sozialistischen Rechtsverständnisses der DDR53 ist notwendige Voraussetzung dafür, staatliches und gesellschaftliches Tätigwerden im Bereich der Familie sowie speziell Interventionen der Jugendhilfe in die Familie überhaupt betrachten zu können. Dies setzt auch – wie bereits genannt – eine Auseinandersetzung mit dem normierten Staats- und Gesellschaftsbegriff sowie dem verrechtlichten sozialistischen Erziehungsideal der DDR voraus. Anschließend werden die Aufgaben des Staates und der Gesellschaft in der DDR sowie insbesondere der Jugendhilfe im Bereich der Familie in Grundzügen dargestellt. Im Folgenden wird sich auf die Jugendhilfe konzentriert und zunächst ihre Organisation und sachliche Zuständigkeit vorgestellt. Darauf aufbauend wird schließlich untersucht, welche rechtlichen Grundlagen für ambulante Interventionen der Jugendhilfe im Sinne der vorausgesetzten Definition feststellbar sind und sich auf die Tatbestände einzelner Maßnahmen, welche eine Intervention bedeuten, konzentriert.

52 Die genaue Methodik des empirischen Teils wird ausführlich im Rahmen der empirischen Analyse dargestellt, vgl. dazu ausführlich: 2. Kapitel, A. II. Gang der Auswertung, Begrifflichkeiten und Auswertungsmethoden. 53 Von einem „Schutzbereich“ im heutigen bürgerlich-rechtlichen Sinne kann nicht gesprochen werden, wie später noch gezeigt werden wird.

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Aufbauend auf dieser Exegese können grundsätzliche Rückschlüsse auf die Bedeutung der Jugendhilfe in der DDR sowie den Rechtsbegriff im „öffentlichen“ Familienrecht der DDR gezogen werden. Um dem rechtstatsächlichen Aspekt des Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden wird im zweiten Kapitel der Arbeit anhand von Einzelfallakten der Jugendhilfe die Rechtswirklichkeit daraufhin untersucht, welche Anlässe für die Interventionen der Jugendhilfe tatsächlich feststellbar sind. Im Gegensatz zu den Rechtsgrundlagen besteht hier die Möglichkeit, die Interventionen der Jugendhilfe als einheitlichen Lebensvorgang der Beeinflussung auch in ihrer zeitlichen Dimension untersuchen zu können. Dafür wurde die Gesamtstichprobenlänge von n = 240 Akten nach bestimmten Kriterien vorselektiert, um die für den Untersuchungsgegenstand besonders relevanten Akten zu ermitteln. Die statistische Analyse beschäftigt sich allgemein mit der Rechtspraxis der Jugendhilfeverfahren und versucht anhand von Indikatoren vor allem zu ermitteln, welche Art von Familien von der Jugendhilfe betreut wurden bzw. welche Faktoren offensichtlich keine Rolle spielten. Auch weitere wesentliche Eckdaten des Verfahrens werden hierbei herausgestellt. Auf diese Weise soll sich indirekt den sachlichen Anlässen von Interventionen der Jugendhilfe genähert werden. In einem zweiten Schritt wird aus den Akten heraus sukzessive eine qualitative Inhaltsanalyse entwickelt, welche direkt nach bestimmten tatsächlichen Anlässen für die in den Akten dokumentierten Interventionen fragt. Dabei kristallisierten sich innerhalb der Akten zum Teil bestimmte Muster heraus, welche in einem Typenmodell nachgezeichnet werden. Für die restlichen Akten konnten zusammenfassend, jedoch mit gewissen Einschränkungen und Schwierigkeiten, ebenfalls Anlässe für die Interventionen herausgearbeitet werden. Abschließend werden auf der Basis der Ergebnisse der Exegese der Rechtsgrundlagen und der Aktenanalyse grundsätzliche Schlussfolgerungen für das „öffentliche“ DDR-Familienrecht gezogen und der weitere Forschungsbedarf aufgezeigt.

1. Kapitel

Exegese zentraler Rechtsnormen Im ersten Kapitel, welches gleichzeitig den Schwerpunkt der Untersuchung darstellt, wird entsprechend der forschungsleitenden Fragestellung der Untersuchungsgegenstand der Anlässe von Interventionen gleichgesetzt mit der Frage nach den Rechtsgrundlagen1 der Interventionen der Jugendhilfe in die Familie. Dafür werden insbesondere die Tatbestandsvoraussetzungen der Normen als (mögliche) Anlässe für Interventionen betrachtet. Um überhaupt über Interventionen in Familien durch die Jugendhilfe und deren Organe sprechen zu können, werden zunächst die Familie und Erziehung im Rechtsverständnis der DDR näher bestimmt.2 Dies geschieht in Ermangelung einer bisherigen Exegese mittels eines deduktiven Ansatzes unter Konzentration auf die ausgewählten Schlüsselquellen anhand des Art. 38 der Verfassung der DDR sowie das familienrechtliche Regelungswerk.3 Als Voraussetzung für die Untersuchung von Interventionen ist es notwendig, Familie und Erziehung sowie Staat bzw. Gesellschaft zu betrachten: Das spezifische Verständnis dieser Begriffe und der sich hieraus ergebenden Leitbilder und Zielstellungen ist erforderlich, um die rechtliche Ebene der Jugendhilfearbeit in Form der rechtlichen Normierung der Tätigkeit der Jugendhilfe in einem zweiten Schritt erarbeiten zu können. So kann schließlich der Untersuchungsgegenstand, also die Tatbestandsvoraussetzungen als mögliche Anlässe dafür, dass sich die dargestellte allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe in Form einer Intervention auf eine einzelne Familie konzentrierte, analysiert werden. So soll anhand des Untersuchungsgegenstandes der „Interventionen der DDRJugendhilfe in die Familie“ im Sinne der Definition4 das DDR-spezifische Verständnis des „öffentlichen“5 Familienrechts der DDR erarbeitet werden.

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Zum hier verwendeten Begriff der Rechtsgrundlagen vgl. Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. Es werden unter Rechtsgrundlagen lediglich formale und materielle Rechtsanweisungen verstanden, ohne dass dies weitere Implikationen beinhaltet. 2 In der BRD würde man an dieser Stelle vom „Schutzbereich“ sprechen. Warum dieser Begriff auf das DDR-Recht keine Anwendung finden kann, wird noch erörtert werden. 3 Vgl. Einführung, V. Gang der Untersuchung: Quellen, Methoden und Vorgehensweise. 4 Vgl. oben unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 5 In der DDR gab es keine klare Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, wie noch gezeigt werden wird.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB Begonnen wird damit, wie Familie und Erziehung sowie Staat bzw. Gesellschaft6 normiert waren. Dies ist zum einen erforderlich, da die rechtliche Normierung von Interventionen nicht untersucht werden kann ohne die Familie als Objekt einer Intervention zu konkretisieren sowie den Staat – zu welchem die Jugendhilfe gehört – als Akteur. Außerdem lassen sich aus der Auffassung von Familie und Erziehung, aber auch aus dem Staats- und Gesellschaftsbegriff bereits wichtige Faktoren ermitteln, welche zu einer Intervention führten. Um bestimmen und näher untersuchen zu können, inwiefern der Staat in Bezug auf Familien Einfluss nahm, also tätig wurde bzw. dann auch intervenierte7, muss, wie schon erwähnt, zunächst dargestellt werden, was Familie und Erziehung in der DDR im rechtlichen Sinne überhaupt bedeutete. Dabei werden die einschlägigen Normen der Verfassung der DDR und des FGB dargestellt und anhand derer das sozialistische Familien- und Erziehungsverständnis erarbeitet.

I. Art. 38 der Verfassung der DDR von 1968 Zwar war die Verfassung der DDR von 19498 zu Beginn des Untersuchungszeitraums der Arbeit9, also in den 60er Jahren, noch gültig, jedoch hatte diese bereits zu Beginn der 60er Jahre keine Bedeutung mehr.10 Die Art. 30 ff. der Verfassung der DDR von 1949 wären damit lediglich als Entstehungshintergrund des Art. 38 der Verfassung der DDR von 1968 von Bedeutung. Es wird sich daher auf die Verfassung der DDR von 1968 als für den Untersuchungszeitraum relevant konzentriert, da sich für die Grundrechte in der revidierten Fassung von 1974 keine Änderungen ergaben.

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Die Begriffe „Staat“ und „Gesellschaft“ und inwiefern diese in der DDR gleichgesetzt werden konnten, wird noch erörtert werden. 7 Vgl. Definition der Intervention unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 8 Die erste Verfassung der DDR von 1949 war stark an die Weimarer Reichsverfassung angelehnt und schrieb fest, dass die DDR ein demokratischer, liberaler und föderaler Rechtsstaat sei (vgl. der Art. 1 – 5), mit liberalen Bürgerrechten, welche die Staatsgewalt begrenzen sollten (vgl. Art. 6 ff.). Die elterlichen Rechte und Pflichten waren in den Art. 30 ff. der Verfassung der DDR von 1949 geregelt. 9 Vgl. Untersuchungszeitraum unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 10 Vgl. Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit, S. 33.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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Gem. Art. 107 der Verfassung der DDR von 196811 waren alle Normen der Verfassung der DDR unmittelbar geltendes Recht, sollten also auch ohne einfachgesetzliche Umsetzung eine unmittelbare rechtliche Wirkung haben. Die Ziele der Verfassung der DDR und damit des Staates, sowie die Staatsform, werden in der Präambel der Verfassung der DDR von 1968 genannt sowie im ersten Artikel wie folgt normiert: Präambel der Verfassung der DDR „In Fortsetzung der revolutionären Tradition der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus hat das Volk der Deutschen Demokratischen Republik in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche sein Recht auf sozial-ökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Erfüllt von dem Willen, seine Geschicke frei zu bestimmen, unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens, der Demokratie und der Völkerfreundschaft zu gehen, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diese sozialistische Verfassung gegeben.“ Art. 1, S. 1 „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“

Die Verfassung der DDR von 1968 schrieb damit eine „sozialistische Verfassung“ fest. Diese Feststellung, sowie die Tatsache, dass die Verfassung der DDR als unmittelbar geltendes Recht normiert wurde zeigen bereits, dass die Gesetze der DDR nicht einfach wie bürgerlich-rechtliche Gesetze behandelt werden können, sondern dass diese als eigenständiges Rechtsgefüge ohne Rückgriff auf andere Interpretationen zu analysieren sind. Somit wird Art. 38 Verfassung der DDR von 1968 als unmittelbares Recht untersucht, sowie sich gleichzeitig anhand der ausgewählten Primärquellen mittels dieses Grundrechts der Verfassung der DDR und dem originär eigenen Rechtssystem der DDR genähert. 1. Wortlaut und Auslegung anhand des Verfassungskommentars Familie und Erziehung wird nach dem Wortlaut der Verfassung der DDR folgendermaßen definiert:

11 Dieser Grundsatz der unmittelbaren rechtlichen Wirkung der Verfassungsnormen der DDR war in der vorgehenden Verfassung der DDR von 1949 in Art. 144 Abs. 1 sowie in der nachfolgenden Verfassung der DDR von 1974 in Art. 106 geregelt.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen Art. 38 der Verfassung der DDR Abs. 1 „Ehe, Familie und Mutterschaft stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Ehe und Familie.“ Abs. 2 „Dieses Recht wird durch die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe und Familie, durch die gesellschaftliche und staatliche Unterstützung der Bürger bei der Festigung und Entwicklung ihrer Ehe und Familie gewährleistet. Kinderreichen Familien, alleinstehenden Müttern und Vätern gilt die Fürsorge und Unterstützung des sozialistischen Staates durch besondere Maßnahmen.“ (Abs. 3 „Mutter und Kind genießen den besonderen Schutz des sozialistischen Staates. Schwangerschaftsurlaub, spezielle medizinische Betreuung, materielle und finanzielle Unterstützung bei Geburten und Kindergeld werden gewährt.“) Abs. 4 „Es ist das Recht und die vornehmste Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und gebildeten Menschen, zu staatsbewußten Bürgern zu erziehen. Die Eltern haben Anspruch auf ein enges und vertrauensvolles Zusammenwirken mit den gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen.“

Art. 38 Abs. 1 S. 1 Verfassung der DDR schreibt den besonderen Schutz der Familie vor. Laut des Verfassungskommentars ist damit gemeint, dass Ehe, Familie und Mutterschaft durch staatliche Leistungen materieller und sozialer Art eine spezifische Förderung erfahren.12 Unter dem Schutz des Staates wurde verstanden, Störfaktoren für Ehe, Familie (und Mutterschaft) aus dem Weg zu räumen und dafür zu sorgen, „[…] daß die mit der Geburt, Erziehung und Betreuung der Kinder in der Familie verbundenen Leistungen anerkannt und gewürdigt [wurden].“13 Gerade die Verwendung des Wortes „Leistung“ deutet auf ein sehr funktionales Verständnis hin, beispielsweise in Bezug auf die Bedeutung der Familie für Kinder und deren Versorgung. Gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 Verfassung der DDR wurde die Achtung, der Schutz und die Förderung von Ehe und Familie selbst zum Grundrecht erhoben.14 Damit wurde in der DDR trotz des fast gleich lautenden Wortlautes des Art. 6 Abs. 1 GG („Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“) unter „Schutz“ etwas völlig anderes verstanden.15 12

Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 166. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 166 f. 14 Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 167. 15 In der BRD wird die Familie dagegen als eigenständiger und abgeschlossener Lebensbereich geschützt (vgl. bspw. Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard/Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf, Grundrechte: Staatsrecht II, 31. Auflage, Heidelberg 2015, § 15 II, S. 182 ff. oder 13

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Durch die „prinzipiellen Garantien“16 des zweiten Absatzes wird der erste Absatz dahingehend konkretisiert, dass die staatliche und gesellschaftliche Unterstützung17 bei der Festigung und Entwicklung der Ehe und Familie des Bürgers gewährleistet wird, insbesondere für kinderreiche Familien und Alleinerziehende. Als „besondere Maßnahmen“ werden im Kommentar zur Verfassung der DDR beispielsweise Kindergeld und steuerliche Vergünstigungen, Elternbeiräte sowie Ehe- und Familienberatungsstellen genannt; aber auch generell sollte die Gestaltung der Arbeitsund Lebensbedingungen der Förderung der Familien dienen.18 Der dritte Absatz schreibt den staatlichen Schutz von Mutter und Kind fest. Darunter wurde unter anderem der 14-wöchige Schwangerschaftsurlaub, Kündigungsschutz für schwangere Frauen, kostenlose Geburtshilfe und die Entbindung in einer Klinik sowie generell die Gleichstellung von Kindern, welche außerhalb einer Ehe geboren wurden, verstanden.19 Mit Art. 38 Abs. 4 S. 1 Verfassung der DDR wird die elterliche Erziehung der Kinder als Grundrecht aber zugleich auch als Grundpflicht bestimmt. Was unter sozialistischen Grundpflichten zu verstehen ist wird noch ausführlich erörtert werden, da diese einen wesentlichen Teil des sozialistischen Verfassungsverständnisses ausmachen und einen großen Unterschied zu bürgerlichen Verfassungen darstellen. Der vierte Absatz legt außerdem, in Übereinstimmung mit Art. 17 („Wissenschaft und Forschung“), Art. 18 („Sozialistische Nationalkultur“) und Art. 25 („Recht auf Bildung“), das Ziel der elterlichen Erziehung fest: „Dieses Erziehungsziel liegt im gemeinsamen Interesse der Eltern wie der Gesellschaft, weil es vom sozialistischen Humanismus geprägt ist und die Gewähr bietet, daß die Kinder zu bewußten Gestaltern ihres Lebens und einer glücklichen Zukunft in der sozialistischen Gemeinschaft heranwachsen.“20 In der inhaltlichen Festlegung des Erziehungsziels durch die Verfassung der DDR ist ebenfalls ein wesentlicher Unterschied zu Art. 6 GG21 zu sehen. Denn das in Art. 6 GG enthaltene Elternrecht garantiert den Eltern, dass diese selbst bestimmen können, nach welchen Vorstellungen sie ihre Kinder Schlüter, Wilfried, BGB-Familienrecht, 14. Auflage, Heidelberg 2012, § 1 II, S. 5 ff. und § 25 VIII, S. 255 ff.). 16 Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 167. 17 Auf den verwendeten Gesellschafts- und Staatsbegriff wird noch ausführlich eingegangen werden. 18 Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 167. Weitere Maßnahmen für Alleinerziehende waren bspw. die bevorzugte Unterbringung der Kinder in Säuglingsheimen, Kinderkrippen und -gärten sowie die Zahlung von Krankengeld für den Fall des Arbeitsausfalls wegen Betreuung des kranken Kindes. Außerdem werden Ausbildungsbeihilfen und Lehrmittelfreiheit, geeigneter Wohnraum und Mietzuschüsse genannt, wobei sich nicht eindeutig ergibt, welche Maßnahmen dabei nur für Familien mit vier oder mehr Kindern gelten (vgl. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, S. 167 f.). 19 Vgl. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 167. 20 Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 168. 21 Vgl. Wortlaut des Art. 6 GG, Anhang II.

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erziehen; die Kindererziehung in der Familie steht unter verfassungsrechtlichem Schutz, Art. 6 Abs. 2 GG.22 Das sozialistische Grundrecht auf Erziehung der Kinder bedeutet vor allem, dass die Eltern die Unterstützung von Gesellschaft und Staat, wie sie auch in den einschlägigen Gesetzen geregelt ist, erwarten dürfen.23 Die Eltern hatten laut Art. 38 Abs. 4 Verfassung der DDR Anspruch auf ein „enges und vertrauensvolles Zusammenwirken“ mit den gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen sowie Unterstützung bei pädagogischen und psychologischen Problemen.24 Die Bezeichnung der Erziehungspflicht als „vornehmste“ Pflicht in Art. 38 Abs. 4 Verfassung der DDR sollte signalisieren, dass für den Regelfall angenommen wurde, dass die Eltern diese als „moralische Selbstverständlichkeit“ und keinesfalls als bedrückend empfinden würden. Die Formulierung des Verfassungskommentars, dass die Eltern nur in Ausnahmefällen auf „ihre Erziehungspflicht gegenüber ihren Kindern hingewiesen werden müssen“ scheint sehr optimistisch, gerade auch da im Anschluss als einziges Beispiel für eine Erziehungspflicht der Eltern ihre Verantwortung genannt wird, dafür zu sorgen, dass die Kinder ihrer Schul- bzw. Berufsausbildungspflicht nachkommen.25 Laut des amtlichen Kommentars regelt der Verfassungstext daher auch nicht, wann die angedeuteten „Ausnahmen“ einschlägig sind; dies wurde ganz den „einfachen“ Gesetzen überlassen.26 Im Verfassungsrechtskommentar der DDR fällt auf, dass gleich im Allgemeinen Teil zu Art. 38 die Präambel des FGB zitiert wird, sowie außerdem, dass auch im Folgenden häufig auf das FGB verwiesen wird.27 Dies ist entstehungsgeschichtlich möglich, da das FGB von 1965 schon in Kraft war, als es zur Verfassungsänderung von 1968 kam. Jedoch zeigt dieser Rückgriff auf das FGB laut des Verfassungskommentars, dass die Verfassung der DDR nicht den Anspruch beinhaltete, alle auftretenden Konstella22 Dies bedeutet, dass Eltern in ihrem Erziehungsrecht nicht durch staatlich verordnete Erziehungsziele oder -mittel eingeschränkt werden dürfen. Sie sind frei, ihre Kinder im Sinne ihrer eigenen Weltanschauung und Religion sowie ihrer eigenen Moral zu erziehen, der Staat hat nur ein „staatliches Wächteramt“ für das Kindeswohl (vgl. bspw. Michael/Morlok, Grundrechte, § 9 VI, S. 156 f. und § 23 IV, S. 326 f. und Schwab, Dieter, Familienrecht, 23. Auflage, München 2012, § 55 II, S. 300 ff.). Im SGB ist dieses Recht der Eltern über die Erziehungsziele und -mittel zu bestimmen u.a. in § 9 SGB VIII verankert. 23 Vgl. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 169. 24 Vgl. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 169. 25 Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 169. Die Schul- und Berufsausbildungspflicht für Kinder und Jugendliche gem. Art. 25 Abs. 4 Verfassung der DDR greift weiter als der heutige Art. 7 Abs. 1 GG, welcher lediglich zum Erlass der Schulpflicht ermächtigt (vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, § 9 VII, S. 260 f. und § 23 IV, S. 327). 26 Vgl. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 169. Dass schwerere Vernachlässigungen im Verfassungskommentar nicht genannt wurden, ist damit zu erklären, dass solche Erscheinungen nicht mit dem idealisierten Menschenbild in der sozialistischen Gesellschaft vereinbar waren und daher als nicht existent bzw. als bloße Randerscheinung behandelt wurden, wie noch gezeigt werden wird. 27 Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 165 f.

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tionen abstrakt und grundsätzlich zu regeln. Die Verfassung der DDR scheint damit nicht als den anderen Rechtsnormen übergeordnet konzipiert worden zu sein. Hierauf wird anhand des Lehrbuchs zu den Grundrechten28 noch ausführlich eingegangen werden. 2. Normierter Gesellschaftsbegriff des Verfassungskommentars Wie sich zeigt, wurde der Gesellschaftsbegriff in diesen Primärquellen offensichtlich in zwei zentralen Bedeutungen verwendet: Bereits aus der Auffassung von der Erfüllung der Erziehungspflichten durch die Eltern wurde ersichtlich, dass laut des Verfassungskommentars zum Teil sogar schon von dem Bestehen einer völlig neuen Gesellschaft ausgegangen wird: „[…] die Wurzeln für den Verfall und die Zerstörung der Familie sowie die Herabsetzung der Frau [wurden] beseitigt […]. Es entstanden Ehe- und Familienbeziehungen neuer Art.“29 Die Zielstellung des Art. 38 Verfassung der DDR wurde als Folgende beschrieben: „Es ist das Anliegen der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates, gesunde, harmonische und dauerhafte Ehe- und Familienbeziehungen zu fördern […] “; da es als eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung einer großen sozialistischen, alle Bürger der DDR vereinigenden „Menschengemeinschaft“ gesehen wurde, dass die „Familie, als der kleinsten Gemeinschaft“ von positiven zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt ist.30 In dieser neu geschaffenen sozialistischen Gesellschaft „[…] stehen erstmalig die Bemühungen der Eltern, ihre Kinder im Geist des Humanismus zu tüchtigen, gebildeten und verantwortungsbewußten Menschen zu erziehen in sinnvoller Übereinstimmung mit den Interessen des Staates.“31 Art. 38 der Verfassung der DDR sollte in diesem Sinne die Ehe- und Familienbeziehungen fördern.32 An dieser Stelle fällt auf, dass im analysierten Kommentar in einem Zug (und sogar auf der gleichen Seite)33 zum einen die neue sozialistische Gesellschaft als bereits bestehend vorausgesetzt wird, zugleich sollen aber neue Ehe- und Familienbeziehungen gefördert werden, um gerade diese neue Gesellschaft entstehen zu lassen. So wird in Bezug auf die Interessen der Eltern und des Staates bezüglich der Kindererziehung angenommen, dass diese aufgrund der neuen sozialistischen Gesellschaft identisch seien; gleichzeitig aber ist für das Entstehen einer solchen Form der Gesellschaft selbst bereits erforderlich, dass die Eltern und der Staat in Übereinstimmung handeln. Hieraus ergibt sich ein Zirkelschluss in der Argumentation. Dieser folgt im Kern aus den unterschiedlich verwendeten Gesellschaftsbegriffen, 28 29 30 31 32 33

Poppe u.a., Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 166. Vgl. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 166. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 166. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 166. Vgl. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 166.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

welche hier nicht kohärent erscheinen. Aus den Primärquellen ist dabei bereits deutlich geworden, dass der in den Gesetzen verwendete Gesellschaftsbegriff keinesfalls mit der heutigen „Zivilgesellschaft“ bzw. „Bürgergesellschaft“ nach heutigem Verständnis gleichgesetzt werden kann. Im realen Sozialismus der DDR durchdrang staatliches Handeln die gesamte Lebenswirklichkeit und jeder mögliche Lebensbereich war somit „organisiert“. Wird im Folgenden also von „Gesellschaft“ gesprochen, so ist in keinem Falle eine liberale „Bürgergesellschaft“ nach dem (demokratischen) Verständnis der BRD gemeint. Der Gesellschaftsbegriff in der DDR muss also anders verstanden werden. Anhand dieses Beispiels zeigt sich, dass der Gesellschaftsbegriff in der DDR offensichtlich in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet wurde. Zum einen im Sinne eines bereits erreichten Ideals des Zusammenleben aller im Sozialismus, welches wohl der Utopie nach Marx und Engels entsprechen soll.34 Diese existierende „neue sozialistische Gesellschaft“ wird an diesen Stellen als erreicht gesehen und daher kein Staat erwähnt, da ein solcher in dieser Vorstellung nicht nötig ist. Oder aber der Begriff wird, wie es das schon erwähnte Zitat des Kommentars zur Verfassung gut belegt („Es ist das Anliegen der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates, gesunde, harmonische und dauerhafte Ehe- und Familienbeziehungen zu fördern […]“)35, im Sinne eines realsozialistischen Gesellschaftsbegriffs der DDR verwendet, welche als Übergangsphase zur Erreichung dieser sozialistischen Idealgesellschaft begriffen wurde. In dieser existiert notgedrungen noch ein Staat, welcher aber die gleichen Interessen wie die Gesellschaft hat – und zwar diese in die ideale sozialistische Gesellschaft i.S.v. Marx und Engels zu führen. Dabei finden sich aber auch Formulierungen, welche zwischen diesen beiden Positionen nicht klar einzuordnen sind: „Sozialistische Machtausübung und freie Entfaltung der Persönlichkeit werden in jedem Teil der Verfassung als dialektische Einheit betrachtet; denn die Persönlichkeitsentfaltung liegt nicht nur im Interesse des einzelnen, sondern ist ein objektives Erfordernis des entwickelten Sozialismus.“36 3. Verständnis von sozialistischen Grundrechten und Grundpflichten nach dem amtlichen Lehrbuch von 198037 Da sich aus der Verfassung der DDR und insbesondere aus den Kommentierungen zu Art. 38 Verfassung der DDR eine völlig andere Auffassung von Grundrechten abzeichnet und die Grundrechte bzw. -pflichten – wie gleich gezeigt wird – scheinbar 34

Vgl. z.B. Raiser, Rechtssoziologie, S. 54 f. Vgl. Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, zu Art. 38, S. 166. 36 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 60. 37 Vgl. Poppe u.a., Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft. Dieses Buch erschien, wie schon erwähnt, nur in einer Auflage, sodass die Entwicklungen in Bezug auf die Auffassung der Grundrechte und -pflichten im Untersuchungszeitraum nicht nachvollzogen werden können. 35

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eine hohe symbolische Wirkung haben sollten38, wird an dieser Stelle ergänzend auf das amtliche Lehrbuch aus dem Jahre 1980 zu den Grundrechten und Grundpflichten eingegangen, um die grundsätzlich andere Auffassung herauszuarbeiten. Es wurde nicht nur von sozialistischen Grundrechten gesprochen, sondern auch von sozialistischen Grundfreiheiten. Laut dem genannten Lehrbuch39 unterscheiden sich die Grundfreiheiten im juristischen Sinne nicht von den Grundrechten, sodass sie unter den Begriff der Grundrechte subsumiert40 werden können. Der Begriff „Grundfreiheiten“ soll vielmehr „[…] die vom Sozialismus errungene Freiheit des Menschen bewußt machen.“41 Als spezifisch sozialistische Grundfreiheit ist die „Freiheit von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit“ gem. Art. 19 der Verfassung der DDR zu erwähnen.42 Die sozialistischen Grundrechte bzw. Grundfreiheiten und Grundpflichten sollten „das grundlegende Verhältnis von Staat und Bürger, von Gemeinschaft und Individuum unter den Bedingungen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung in der Verfassung verbindlich regeln“43 : a) Sozialistische Grundrechte Wie schon aus dem Verfassungskommentar erkennbar war, stellten die sozialistischen Grundrechte und Grundpflichten nicht die Gesamtheit der Rechte und Pflichten eines Bürgers dar, sondern diejenigen, „[…] deren Regelung im Grundgesetz des Staates die herrschende politische Macht für notwendig hielt, um die prinzipielle Stellung der Bürger in der Gesellschaft zu kennzeichnen und die Öffentlichkeit im weitesten Sinne, alle Adressaten dieser Grundrechte und Grundpflichten (auch die weitere Gesetzgebung, die Rechtsprechung, die Staatsorgane usw.) zu ihrer Achtung, Sicherung und Entwicklung anzuhalten.“44 Innerhalb der Gesamtheit der Rechte und Pflichten sollten die Grundrechte und Grundpflichten allerdings Priorität haben und eine „für alle verbindliche Orientierung“ bei der Regelung oder Anwendung weiterer Rechte und Pflichten sein.45 Diese Formulierung deutet auf eine symbolische, aber auch erzieherische Funktion der Verfassung der DDR hin. 38

So auch Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 60. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 62 f. 40 Unter Subsumtion versteht man die Unterordnung des konkreten (Lebens)Sachverhaltes unter den abstrakten gesetzlichen Tatbestand (vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 16, S. 79). 41 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 62 f. 42 Ein weiteres spezifisches Grundrecht ist das Grundrecht auf Arbeit, Art. 24 Verfassung der DDR. 43 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 54. 44 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 60. 45 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 60. 39

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Eine Kontinuität zwischen bürgerlichen Grundrechten und den sozialistischen Grundrechten der DDR wurde nicht angenommen: Da die sich scheinbar ähnelnden bürgerlichen und sozialistischen Rechte und Freiheiten aus entgegengesetzten klassenmäßigen und objektiven Beweggründen entstanden seien, hätten sie – auch wenn die Fortschritte der bürgerlichen Revolution anerkannt wurden – „grundverschiedene Qualitäten“.46 Die sozialistischen Grundrechte und Grundpflichten der DDR wurden vielmehr bereits als Ausdruck der bereits objektiv bestehenden Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft angesehen.47 Eine Notwendigkeit ihrer gesetzlichen Regelung wurde aufgrund dessen nicht als selbstverständlich angenommen, sondern in ihrer gestaltenden Funktion gesehen: Die Bürger sollten dadurch zur aktiven Umsetzung und Inanspruchnahme dieser objektiv wirkenden Gesetzmäßigkeiten angeregt werden, denn die Bürger sollten selbst „die aus dem Kapitalismus überkommenen Behinderungen ihrer Persönlichkeitsentfaltung […] bewusstseinsmäßig und tatsächlich [überwinden] […].“48 Die in Art. 38 Verfassung der DDR beschriebenen Elternrechte sind wegen dieser DDR-spezifischen Grundrechteauffassung damit keinesfalls als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat zu verstehen. b) Sozialistische Grundpflichten Die schon mehrfach erwähnten sozialistischen Grundpflichten wurden als „juristische Pflichten“ bezeichnet, welche zu jedem Recht und jeder Freiheit in direkter Beziehung stünden49 d.h. sie waren juristisch erzwingbar50 und stellen damit im Gegensatz zu bürgerlichen Verfassungen eine wesentliche Besonderheit der sozialistischen Verfassung der DDR dar. Aus Art. 38 Abs. 4 S. 1 Verfassung der DDR ergibt sich die spezifische sozialistische Grundpflicht für Eltern, ihre Kinder zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und gebildeten Menschen, zu staatsbewussten Bürgern zu erziehen. Als ein weiteres Beispiel sozialistischer Grundpflichten kann z.B. Art. 24 Verfassung der DDR genannt werden, welcher eine Pflicht zur gesell46

Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 65. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 63. 48 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 63. Diese Ausführungen zu den „objektiv wirkenden Gesetzmäßigkeiten“ können am besten mit einem soziologischen Rechtspositivismus beschrieben werden. Nach Marx ist das Recht nur ein Teil des Überbaus, die reale Basis bildet dagegen die ökonomische Struktur aus der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse, (vgl. Raiser, Rechtssoziologie, S. 50 ff.). Nach dieser Auffassung ist folglich die Herleitung von Grundrechten aus dem Naturrecht nicht möglich, sodass die Geltung der Grundrechte in der DDR nur positivrechtlich begründet werden konnte (vgl. Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 17 ff.). 49 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 83. 50 Dies lässt sich daraus folgern, dass die „moralischen Verpflichtungen“ in Abgrenzung zu den Grundpflichten im Gegensatz nicht juristisch erzwingbar sein sollten (vgl. Poppe/ Zschiedrich, Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 84). 47

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schaftlich nützlichen Arbeit normiert51, aber auch Art. 23 („Ehrenpflicht zum Schutz des Friedens des sozialistischen Vaterlandes und seiner Errungenschaften“), der bereits erwähnte Art. 25 und Art. 10 Verfassung der DDR („Pflicht der Bürger, das sozialistische Eigentum zu schützen und zu mehren“).52 Argumentativ wurde sich zur Begründung der Grundpflichten auf Engels berufen, demzufolge die für alle Bürger gleichermaßen geltenden Pflichten eine besonders wichtige Ergänzung zu den bürgerlich-demokratisch gleichen Rechten seien und ihnen ihren spezifisch bürgerlichen Sinn nehmen würden; die Verfassung bekenne sich damit zur untrennbaren Einheit von Rechten und Pflichten.53 Dem Leitsatz von Marx und Engels „keine Rechte ohne Pflichten und keine Pflichten ohne Rechte“54 wurde entnommen, dass sich hierin die Interesseneinheit zwischen Bürgern, Staat und Gesellschaft ausdrückt.55 Die „Verknüpfung von Verantwortung und Freiheit“56 wurde damit als einer der wichtigsten Züge des Sozialismus gesehen; wobei unter „Verantwortung“ eine Verantwortung gegenüber der sozialistischen Gesellschaft, bzw. sogar der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft und weltweiter Solidarität, verstanden wurde.57 Der Bürger sollte die untrennbare Einheit von Rechten und Pflichten erkennen und seine Rechte immer im Hinblick auf diese gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen.58 Den bürgerlichen Rechtsordnungen wurde vorgeworfen, dass durch die Zusicherung einer Fülle von Rechten bei gleichzeitigem Verzicht auf Grundpflichten dem Bürger eine Freiheit suggeriert würde, welche für die Werktätigen angesichts der politischen und ökonomischen Zwänge und ideologischer Manipulation faktisch nicht existiere.59 In der BRD sah man dagegen gerade die vollstreckbaren Pflichten60

51 Diese sozialistische Pflicht setzte sich auch in § 249 Abs. 1 StGB der DDR in seinen verschiedenen Fassungen von 1968, 1977 und 1979 weiter fort. 52 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 80. 53 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 81. 54 So Marx und Engels (vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 82). 55 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 81. 56 Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 82. 57 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 83. 58 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 83. 59 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 81. „Den Hauptwiderspruch erkannte Marx in der Unvereinbarkeit des Rechts auf Freiheit mit dem Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln.“ (Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 67).

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als ursächlich für die Verletzung der Freiheit der Persönlichkeit an. Es zeigt sich aber an dieser Stelle das ideologisch geprägte Menschenbild der DDR: die sozialistische Literatur sah in der „höhere[n] Verantwortung und [den] Pflichten in der und für die Gesellschaft […] Attribut[e] einer Persönlichkeit, die zur Gesellschaftsgestaltung in ihrem Interesse und nach ihrem Maß berufen ist.“61 Zusätzlich enthält die Verfassung der DDR noch moralische Verpflichtungen. Anders als die Grundpflichten sind diese nicht juristisch erzwingbar.62 Die Verpflichtungen erstrecken sich unter anderem auf Gebiete wie den „Umweltschutz gem. Art. 15 Abs. 2 Verfassung der DDR, sollen aber auch das Miteinander der Bürger und die demokratische Teilhabe prägen: gem. Art. 19 Abs. 3 Verfassung der DDR wird beispielsweise eine Verpflichtung normiert, dass die Beziehung zum Mitbürger geprägt sein soll von den Grundsätzen der sozialistischen Moral; gem. Art. 21 Abs. 3 Verfassung der DDR gilt die Verwirklichung des Rechts auf Mitbestimmung und Mitgestaltung als hohe moralische Verpflichtung.63 Zum Teil scheint die Art und Weise der juristisch-theoretischen Argumentation wenig konsistent. Wie schon erwähnt waren gem. Art. 107 Verfassung der DDR von 196864 alle Normen der Verfassung unmittelbar geltendes Recht, sollten also auch ohne einfachgesetzliche Umsetzung eine unmittelbare rechtliche Wirkung haben. Gleichzeitig aber sollten sich die sozialistischen Grundrechte nicht darauf beschränken, „[…] schon errungene Erfolge zu verankern.“, sondern die Verfassung der DDR sollte „[…] sowohl Bilanz des Erreichten als auch Programm für die weitere Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Bürger [sein].“65 Dass sich zwischen diesem bewusst programmatischen Inhalt und der Wirkung der Verfassung der DDR als unmittelbar geltendes Recht gem. Art. 107 ein Widerspruch ergeben könnte, wurde auch von Poppe und Zschiedrich erkannt66. Argumentativ wurde der Konflikt aber dadurch als nicht existent betrachtet, dass durch Art. 107 die strikte Verwirklichung der Verfassung der DDR festgeschrieben sein sollte, was jedoch gleichzeitig beinhalten sollte, dass die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die in einer ungewissen bzw. nicht näher bestimmbaren Zukunft 60 Dass diese vollstreckbar sein sollten wird nicht direkt angesprochen, ergibt sich aber aus dem Umkehrschluss zu den moralischen Verpflichtungen der Verfassung der DDR, welche nicht vollstreckbar sein sollten (vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 84). 61 Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 81. 62 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 84. 63 Vgl. Poppe/Zschiedrich, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 84. 64 Bzw. auch gem. Art. 144 Abs. 1 Verfassung der DDR von 1949 oder Art. 105 Verfassung der DDR von 1974. 65 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 68. 66 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 68 f.

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hätten verwirklicht werden können, davon ausgenommen sein sollten. Die Verwirklichung der Grundrechte sollte nur an den objektiv vorhandenen Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft gemessen werden, alle Möglichkeiten zur Realisierung sollten aber ausgeschöpft werden, z.B. in Form der Fünfjahrespläne.67 Dennoch wurde betont, dass jedes Grundrecht für den Bürger unmittelbar geltendes und anwendbares Recht sei,68 „die Verfassung der DDR verzichtet auf leere Zukunftsversprechungen.“69 „Programmatische Ziele“70 waren aber dennoch erwünscht. c) Garantien und subjektive Rechte Die sozialistischen Grundrechte wurden durch Verfassungsartikel und Rechtsvorschriften garantiert71, aber auch durch wirksame politische, ideologische, ökonomische und andere Grundlagen und Mittel, was als wesentliches Merkmal der sozialistischen Grundrechte betrachtet wurde72. Auch in der DDR wurden die Grundrechte als subjektive Rechte bezeichnet: es wurden unter subjektiven Rechten persönliche, zugleich aber auch gesellschaftliche Rechte verstanden.73 Adressaten der Grundrechte waren „[…] alle diejenigen […], die verpflichtet sind, die Bedingungen zu schaffen, damit jeder Bürger seine Rechte und Pflichten unbehindert und aktiv ausüben und verwirklichen kann.“74 Subjekt der Grundrechte sind die Bürger, wobei die kollektive Inanspruchnahme gewünscht war, da entsprechend der sozialistischen Auffassung sich das Wesen nur im Kollektiv entfalten kann.75 Die Grundrechte hatten aber nicht die Funktion, den Bürger gegen den Staat zu schützen. Dies erklärt sich daraus, dass nach der sozialistischen Staats- und Rechtstheorie in der DDR „eine prinzipielle Übereinstimmung von gesellschaftlichen und individuellen Interessen […]“76 bestand. Dem Bürger einen „staatsfreien“ Raum zuzuerkennen – wie in der BRD durch die gesetzliche Ausgestaltung der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte des Bürgers77 –, wurde lediglich als Schutz 67

Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 68 f. Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 68 f. 69 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 69. 70 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 68. 71 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 70. 72 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 69 f. 73 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 68. 74 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 76. 75 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 76. 76 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 67. 77 Vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 22 I 1, S. 194 ff. Dem Bürger muss nach Ansicht des BVerfG ein „[…] „Innenraum“ verbleiben […] in dem er „sich selbst besitzt“ und in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe 68

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

vor einer „fremden und feindlichen Staatsmacht“ interpretiert, welcher somit in der DDR nicht notwendig sein sollte: „Der sozialistische Staat ist das Machtinstrument der Werktätigen, die die Macht nach ihrem Willen und Interesse ausüben. Die Massen brauchen nicht vor der Macht abgeschirmt zu werden, die sie selbst revolutionär geschaffen haben.“78 Aus dieser Interessengleichheit, in diesem Falle zwischen Eltern und Staat, erklärt sich auch das einheitlich festgeschriebene sozialistische Erziehungsideal. Zwar wurden berechtigte Ansprüche des Einzelnen nicht ausgeschlossen, da die Übereinstimmung von gesellschaftlichen und individuellen Interessen als lediglich prinzipielle Übereinstimmung erkannt wurde79 ; jedoch wurde daraus nicht gefolgert, dass ein dem BRD-Recht ähnlicher Schutzbereich notwendig sei.80 Denn: „Im Sozialismus ist ein hoher Stand der Verwirklichung der Rechte der Bürger erreicht, und diese Rechte haben eine bedeutende Harmonisierungsfunktion erlangt, um die ständige Interessenübereinstimmung von Gesellschaft und Individuum zu steuern und möglichen Konflikten prophylaktisch zu begegnen.“81 Dem DDR-Rechtssystem wurde also ein solch hoher Standard hinsichtlich des Schutzes der Interessen des Einzelnen zugesprochen, auch im Hinblick auf die Vermeidung möglicher zukünftiger Interessenswidersprüche zur „Gesellschaft“, dass im Ergebnis, durch die regulierende Wirkung des Rechts, doch wieder von einer Übereinstimmung ausgegangen wurde. Diese unterstellte Interessengleichheit hatte zur Folge, dass automatisch keine staatlichen Eingriffe in subjektive Rechte möglich sein konnten und demzufolge auch keine Schutzbereiche als notwendig erachtet wurden. Wie auch schon in Bezug auf die übereinstimmenden Interessen von Eltern und Staat bei der Kindererziehung erörtert, überzeugt es auch im Zusammenhang mit den sozialistischen Grundrechten nicht ganz, zum einen den hohen Stand der Verwirklichung der Rechte der Bürger und die (bereits bestehende) Interessengleichheit von Gesellschaft und Individuum zu betonen, dabei aber gleichzeitig die Übereinstimmung als nur prinzipiell zu bezeichnen und den Grundrechten eine bedeutende Harmonisierungsfunktion zuzuweisen. Hier zeigt sich erneut das schon aufgezeigte Argumentationsmuster: einerseits wird zur Begründung der spezifisch sozialistischen Grundrechte vorausgesetzt, dass bereits der Zustand der Interessengleichheit zwischen Gesellschaft und Individuum bestünde, wie sich gut aus dem Zitat „[…] die ständige Interessenübereinstimmung von Gesellschaft und Individuum […]“82 erkennen lässt, in welchem der Staat nicht erwähnt wird; gleichzeitig sollen die gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt.“ (BVerfGE, in: Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 22 I 1, S. 194 f.). 78 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 67. 79 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 67. 80 Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 67 f. 81 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 68. Dies wurde vor allem auch durch die Gewährleistung der Grundrechte als subjektive Rechte mittels der anderen Rechtsgebiete der DDR wie dem Zivil-, Prozess- und Verwaltungsrecht geleistet. 82 Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 68.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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Grundrechte (und der Staat) gerade zur Erreichung dieses (Ideal-)Zustandes beitragen und diesen sichern. 4. Fazit zum Familien- und Erziehungsverständnis anhand der Verfassung der DDR In der DDR existierte gemäß der Präambel der Verfassung der DDR eine „sozialistische Verfassung“. Das durch die Verfassung der DDR, insbesondere durch Art. 38 Abs. 4 Verfassung der DDR, fest normierte und allgemeingültige Erziehungsziel die „[…] Kinder zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und gebildeten Menschen, zu staatsbewußten Bürgern zu erziehen.“83 beruht auf der diesbezüglich unterstellten Übereinstimmung der Interessen der Eltern und des Staates bzw. der sozialistischen Gesellschaft und bestimmt den Charakter der sozialistischen Elternrechte: Die verfassungsrechtlichen Elternrechte und -pflichten sind damit in der DDR spezifisch sozialistisch ausgestaltet und nicht mit den bürgerlichen Elternrechten des Grundgesetzes zu vergleichen. Die normierten Grundrechte bzw. -freiheiten sollten von den Bürgern dazu genutzt werden, die sozialistische Gesellschaft zu erreichen und sind somit vielmehr, neben den ohnehin normierten Grundpflichten, ebenfalls im Sinne eines Gebotes zu verstehen. Der Gehalt der subjektiven Rechte aus der Verfassung der DDR war damit sehr gering. Aus dem Verfassungskommentar ergibt sich ein sozialistischer Gesellschafts- und Staatsbegriff, welcher zwischen realsozialistischer Wirklichkeit und dem gesellschaftlichen Ideal nach Marx und Engels mäandert und damit zu systematischen Inkonsequenzen in der juristisch-theoretischen Auslegung führt. Dabei enthält der Verfassungskommentar in jedem Falle auch viele programmatische Leitsätze. Bezüglich des für den Untersuchungsgegenstand wesentlichen sozialistischen Verständnisses von Staat und Gesellschaft kann somit an dieser Stelle bereits festgehalten werden, dass eine Übereinstimmung der Interessen des Einzelnen mit denen der Gesellschaft und des Staates angenommen wurde84, woraus sich eine eigene DDR-spezifische Grundrechteauffassung sowie die sozialistischen Grundpflichten ergeben. Diese tragen zu einer völlig eigenen sozialistischen Rechtsauffassung bei. Das darauf basierende sozialistische Familien- und Erziehungsverständnis ist im Lichte des verfassungsrechtlich normierten Erziehungsideals zu betrachten, sodass sich aus dem Verfassungsrecht kaum greifbare subjektive Rechte für die Eltern erkennen lassen. Im folgenden Abschnitt wird die rechtliche Festlegung von Familie und Erziehung anhand des FGB weiter untersucht werden. Dies schafft die Basis für die 83

Vgl. Wortlaut des Art. 38 Abs. 4 S. 1 Verfassung der DDR. Diese Auffassung stellt das Gegenteil zu der, den bürgerlichen Rechtssystemen zugrunde liegenden, Vorstellung eines Dualismus zwischen Staat und Bürgern dar, aus welcher die Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers von der Staatsmacht folgen (vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 22 I 1, S. 194 ff.). 84

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

rechtliche Normierung von Interventionen der DDR- Jugendhilfe; zugleich können aus diesen Begriffen bereits Anlässe für staatliche Interventionen herausgelesen werden.

II. Zentrale Normen des FGB von 1965 Für die Betrachtung der Rechtsgrundlagen der Interventionen85 ist es, wie schon erwähnt, erforderlich, zunächst das Verständnis der sozialistischen Familie (und Erziehung) in ihrer rechtlichen Ausgestaltung als Objekt der Jugendhilfe herauszuarbeiten. Nachdem dies bereits anhand des Verfassungsrechts geschehen ist, wird nun in gleicher Weise die familienrechtliche Ausgestaltung von Familie und Erziehung anhand der Normen des FGB untersucht. Erst aus der Gesamtschau der rechtlichen Festlegungen durch die Verfassung der DDR und durch das FGB kann dann das sozialistische Familien- und Erziehungsverständnis erarbeitet werden, sowie festgestellt werden, welche Rechte86 der Familie in der sozialistischen Gesellschaft zustanden und insbesondere welche Elternrechte es gab. Denn, so heißt es in den Kommentierungen zur Präambel: „Das FGB konkretisiert die verfassungsrechtliche Stellung der Familie“.87 Die grundsätzlichen Aufgaben der Jugendhilfe, also das rechtlich normierte Tätigsein der Jugendhilfe, sowie die Normierung der Interventionen der Jugendhilfe in die einzelne Familie, werden darauf aufbauend herausgearbeitet. 1. Grundsätze des FGB Das FGB war gültig ab dem 20. Dezember 1965 und wurde innerhalb des Untersuchungszeitraumes der 1960er, 70er und 80er Jahre durch das Einführungsgesetz zum Zivilgesetzbuch vom 19. Juni 1975 einmalig geändert, die dargestellten Vorschriften waren hierdurch jedoch nicht betroffen. Mit der Präambel und den §§ 1 ff. bis einschließlich § 3 FGB werden die Grundlinien des FGB festgeschrieben. Die Tatsache, dass dem FGB eine Präambel vorangestellt ist, lässt ausgehend von bürgerlich-rechtlichen Kriterien an ein öffentlich-rechtliches Gesetz denken. 1966 war auch erkennbar, dass das FGB noch in die Kategorien von Zivilrecht und öffentlichem Recht bzw. einfachem Recht und Verfassungsrecht eingeordnet wurde: 85 Vgl. Definition des Begriffs der Rechtsgrundlagen und der Intervention unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 86 Die Problematik bezüglich des Rechtsbegriffs der DDR wird noch erarbeitet werden. 87 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 21 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel S. 17. In den Kommentaren von 1966 und 1970 wurde noch von der „grundrechtlichen Stellung der Familie“ gesprochen, siehe Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 18 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 25.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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„§ 1 FGB enthält Familienrecht und Staatsrecht zugleich.“88 In den späteren Auflagen wurde diese Unterscheidung dann überhaupt nicht mehr thematisiert. Wie schon im Rahmen der Behandlung der Fragen zur Verfassung der DDR erwähnt, standen die Grundrechte (und damit offensichtlich das Verfassungsrecht generell) in einem anderen Verhältnis zu den „einfachen“ Gesetzen als nach bürgerlich-rechtlicher Vorstellung. Es scheint damit möglich, dass es auch keine Dichotomie von öffentlichem Recht und Privatrecht gab. Die Grundsätze der Präambel werden im Kommentar zum FGB von 1966 als „[…] Ausgangspunkt bei jeder Einzelfrage der Anwendung des Gesetzes […]“89 bezeichnet. Die Analyse der Präambel ist daher Voraussetzung für das Verständnis des gesamten FGB und damit für die Herausarbeitung des rechtlichen Verständnisses von Familie in der DDR. a) Präambel des FGB Betrachtet man den Text der Präambel, so lässt sich feststellen, dass sich die ersten vier Absätze vor allem der Definition der sozialistischen Familie widmen und die letzten beiden die generellen Zielstellungen des FGB betreffen. Im staatlichen Kommentar zum FGB, welcher wie schon erwähnt in einer Erstauflage (von 1966), einem nicht überarbeiteten Nachdruck (von 1967) sowie drei überarbeiteten Auflagen (von 1970, 1973 und 1982) erschienen war90, wurden in den ersten drei Auflagen91 dementsprechend auch die Erläuterungen zur Präambel untergliedert in einen Abschnitt zur Stellung der Familie in der sozialistischen Gesellschaft und in einen Abschnitt zu den Aufgaben des FGB. aa) Legaldefinition von Familie Gleich mit dem ersten Absatz der Präambel des FGB wird der sozialistische Familienbegriff legaldefiniert.92 88

Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 28. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 11. 90 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966; Kommentar zum FGB, 2. Aufl. 1967; Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970; Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982. Vgl. außerdem die verwendeten Quellen unter Einführung. 91 Bei der 2. Auflage des Kommentars zum FGB handelt es sich um keine überabeitete Auflage, sondern lediglich um einen „photomechanischen Nachdruck“ der 1. Auflage in welcher nur die Richtlinien Nr. 23 und 24 des Obersten Gerichts der DDR neu aufgenommen worden waren. Da diese Richtlinien in der vorliegenden Arbeit nicht mit einbezogen werden und die Auflage von 1967 sonst wortgleich mit der 1. Auflage von 1966 ist (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. von 1966 und Kommentar zum FGB, 2. Aufl. von 1967), werden im Folgenden unter „Auflagen“ lediglich die Erstauflage von 1966 sowie die drei überarbeiteten Auflagen von 1970, 1973 und 1982 verstanden. Die Auflage von 1967 wird somit nicht mehr mitgezählt. 92 Im heutigen Recht der BRD existiert dagegen keine Legaldefinition der Familie. 89

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen Präambel des FGB Abs. 1 „Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft. Sie beruht auf der für das Leben geschlossenen Ehe und auf den besonders engen Bindungen, die sich aus den Gefühlsbeziehungen zwischen Mann und Frau und den Beziehungen gegenseitiger Liebe, Achtung und gegenseitigen Vertrauens zwischen allen Familienmitgliedern ergeben.“

Laut der Kommentierung zum FGB wird mit der Legaldefinition der Familie als der „kleinsten Zelle der Gesellschaft“, „[…] die untrennbare Einheit von Gesellschaft und Familie […]“, die Familie als „Teilsystem der Gesellschaft“ klar ausgedrückt und als wichtiger Baustein und Bestandteil der Gesellschaft anerkannt93. Mit dieser Beschreibung der Familie wird auch die zentrale Vorstellung des sozialistischen Rechts von der Interessengleichheit wieder aufgenommen: „Neu und charakteristisch für unsere Gesellschaft ist, daß die Familie im Grundsätzlichen die gleichen Wünsche, Ziele und Interessen hat wie die Gesellschaft und umgekehrt.“94 Diese Sichtweise ist prägend für die Vorstellung der sozialistischen Familie und zieht sich durch sämtliche Auflagen des FGB-Kommentars95 ; sie ist, wie noch gezeigt werden wird, entscheidend für das gesamte Familienrecht. Neben dieser gesamtgesellschaftlichen Betrachtungsweise der Familie wird in den ersten beiden Auflagen des FGB-Kommentars die Familie noch als Gemeinschaft einzelner Menschen, verbunden durch besonders starke zwischenmenschliche Beziehungen, also unter dem emotionalen Aspekt, betrachtet: „Die Spezifik der Familiengemeinschaft ist in den besonders engen Bindungen und Gefühlsbeziehungen begründet, die diese Gemeinschaft kennzeichnen.“96 Obwohl dies dem Wortlaut der Präambel direkt entspricht, entfällt diese Betrachtungsweise in den späteren Auflagen97, und die Bedeutung der Familie für die Gesellschaft wird immer mehr betont. In den Kommentaren von 1973 und 1982 wird außerdem festgestellt, dass die sozialistische Familie die der „bewussten Elternschaft“98 sei und dass unter Familie i.S.d. FGB die Zweigenerationenfamilie verstanden würde, da andere Familienbe-

93 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 11 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 17. 94 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 12. 95 Vgl. z.B. auch Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 18. 96 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 19 und fast genauso: Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 11. 97 Allerdings wird im Kommentar von 1973 i.R.d. § 1 FGB auf die gleiche Definition von Familie abgestellt (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27). Daraus ergibt sich, dass diese Interpretation erst in der Auflage von 1982 entfiel. 98 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 19 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 16. Jedoch wird, wie in der vorherigen Fußnote bereits erwähnt, im Kommentar von 1973 in § 1 auf Seite 27 doch auf das gleiche Familienbild zurückgegriffen.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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ziehungen weniger regelungsbedürftig und daher auch nicht Gegenstand des FGB seien99. Interessant ist die Behandlung der Bedeutung der Ehe für den Familienbegriff. Im Kommentar von 1973 wird erstmals betont, dass Familien, welche auf einer stabilen Ehe fußen, das Leitbild darstellen, da hier die bestmögliche Entfaltung der Persönlichkeit (gemeint ist offensichtlich die sozialistische Persönlichkeit) gewährleistet sei. Dies lässt sich auch aus dem Wortlaut des ersten Absatzes der Präambel entnehmen. Aber auch nur ein Elternteil mit einem Kind bzw. Kindern sei eine Familie; der Familienbegriff würde nicht von der Ehe abhängig gemacht.100 Die Konstellation, dass die Eltern mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern zusammenleben, jedoch nicht verheiratet sind, wird hier gar nicht thematisiert. Im Kommentar von 1982 wird dagegen auf diese Möglichkeit eingegangen und betont, dass Beziehungen von Partnern, welche ohne Ehe zusammenleben, nicht durch das FGB erfasst werden würden: „Die Ehe ist ein durch gemeinsame Willenserklärung der Partner unter Mitwirkung des Staates begründetes Rechtsverhältnis. Wurde es nicht begründet, besteht kein Familienrechtsverhältnis zwischen den Partnern und können ihm entsprechende Rechte und Pflichten nicht entstehen. Diese Konzeption bestimmt auch die Rechtsstellung zusammenlebender unverheirateter Eltern gegenüber ihren Kindern […].“101 Unter Familie wird also von der Zweigenerationenfamilie ausgegangen102, welche idealerweise auf einer Ehe basieren sollte. Die einzelne Familie ist mit dem sozialistischen Staat durch die Interessengleichheit verbunden. Das FGB normiert durch die Legaldefinition sowie durch die recht konkreten Ausführungen des Kommentars detailliert das Verständnis von Familie. Dieses unterlag über die Auflagen hinweg – wie noch gezeigt werden wird – offensichtlich einem Wandel. bb) Die Stellung der Familie in der sozialistischen Gesellschaft In den weiteren Absätzen der Präambel wird konkretisiert, dass in der DDR „Familienbeziehungen neuer Art“ entstehen sollen, sowie welche Voraussetzungen dafür geschaffen werden bzw. wurden: Präambel des FGB Abs. 2 „Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik sind die feste Grundlage für die sozial gesicherte Existenz der Familie. Mit dem Aufbau des Sozialismus entstanden gesellschaftliche Bedingungen, die dazu führen, die Familienbezie99

Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 17 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 15. 100 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 17 f. 101 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 15. 102 Ebenso wie nach der bundesdeutschen Rechtsprechung des BVerfG (vgl. bspw. Michael/ Morlok, Grundrechte, § 9 VI, S. 155 f.).

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen hungen von den Entstellungen und Verzerrungen zu befreien, die durch die Ausbeutung des Menschen, die gesellschaftliche und rechtliche Herabsetzung der Frau, durch materielle Unsicherheit und andere Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft bedingt waren.“ Abs. 3 „Mit der sozialistischen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik entstehen Familienbeziehungen neuer Art. […] Harmonische Beziehungen in Ehe und Familie haben einen großen Einfluß auf die Charakterbildung der heranwachsenden Generation und das persönliche Glück und die Lebens- und Arbeitsfreude des Menschen.“ Abs. 4 „In der Deutschen Demokratischen Republik hat die Familie große gesellschaftliche Bedeutung. Sie entwickelt sich zu einer Gemeinschaft, in der die Fähigkeiten und Eigenschaften Unterstützung und Förderung finden, die das Verhalten des Menschen als Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft bestimmen.“

Absatz 2 formuliert, welche äußeren Voraussetzungen als notwendig erachtet werden um „Familienbeziehungen neuer Art“ entstehen zu lassen. In Absatz 3 klingt an, dass es bei der Herausbildung von Familienbeziehungen einer neuen Qualität zwar auch um das Glück des Einzelnen geht, genauso aber auch um die positive Entwicklung der nächsten Generationen sowie die positive Beeinflussung der Gesellschaft an sich, vgl. Absatz 4. Aus dem Kommentar zum FGB ergibt sich Folgendes: (1) Hauptaufgabe bzw. Hauptfunktion der Familie In den Auflagen des FGB-Kommentars wird der Aspekt des Absatzes 4 noch weiter verstärkt: es wird sogar als Hauptaufgabe der Familie angesehen (sowohl der Eltern, als auch der Kinder), bestmöglich bei der Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit mitzuwirken, da der spezifische Einfluss der Familie bei diesem Prozess nicht beliebig ersetzbar sei.103 In der Auflage des FGB-Kommentars von 1982 wird nicht mehr von der „Hauptaufgabe“ sondern von der „Hauptfunktion“ der Familie gesprochen.104 Diese Änderung in der Wortwahl spiegelt die sich ändernde Auffassung der immer funktionaleren Bedeutung der Familie wider. Was die Voraussetzungen für die Entwicklung der sozialistischen Familie betrifft, so ist zu unterscheiden zwischen den persönlichen Voraussetzungen des Absatzes 1 der Präambel (Liebe, Achtung, Vertrauen) und den gesellschaftlichen Voraussetzungen, welche in Absatz 2 angedeutet werden.105 Die Interpretation dieser äußeren Voraussetzungen unterliegt über die Auflagen hinweg einem Wandel. So wird dar103

Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 18 f. Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 15 f. Zu den anderen Funktionen der Familie in der sozialistischen Rechtstheorie vgl. z.B. Kommentar zum FGB. 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 12 ff. 105 Vgl. auch Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 14. 104

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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unter 1966 dem Wortlaut des Absatzes 2 entsprechend vor allem die physische und sozial gesicherte Existenz der Familie sowie die Beseitigung von störenden Umständen verstanden.106 1973 und 1982 wurden unter diesen äußeren Voraussetzungen ganz im Sinne des SED-Sozialismus das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, die Macht der Arbeiterklasse unter Führung der SED sowie die Planmäßigkeit der sozialistischen Entwicklung verstanden.107 (2) Entwicklungsprozess zur sozialistischen Familie Die Entwicklung zur sozialistischen Familie wird in allen Auflagen der Kommentare als „langandauernder, komplizierter und auch widersprüchlicher Prozess“108 beschrieben. Dies wird v. a. darauf zurückgeführt, dass sich gerade in der Familie alte Muster und Gewohnheiten besonders hartnäckig halten,109 zumindest in den ersten Auflagen des FGB werden aber auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen als noch in der Entwicklung beschrieben.110 Der Hinweis, dass es durch diese Entwicklung der gesellschaftlichen Bedingungen zum Wegfall äußerer Stabilitätsfaktoren für die Familie (wie religiöse und moralische Zwänge, ökonomische Abhängigkeiten etc.) und damit zu einer Instabilität der Familien kommen würde, wird allerdings nur in den Auflagen von 1966 und 1970 erwähnt.111 Man ging davon aus, dass es zunächst eine Zeit dauern würde, bis sich neue Stabilitätsfaktoren gebildet hätten; denn echte Stabilität könne nur aus der Qualität des Familienlebens selbst bzw. aus dem Sozialismus heraus gewonnen werden, da sich nur durch diesen (aus positiven Motiven heraus) stabile Familien bilden könnten.112 (3) Sozialistische Idealgesellschaft An dieser Stelle ist wiederum gut nachvollziehbar, vor welchen Problemen die sozialistische Rechtsdogmatik stand: sie fußt auf einer Vorstellung, nach welcher die sozialistische Familie ihre Stabilität aus der gerade erst – und durch eben diese neue Form der Familien – entstehenden neuen sozialistischen Gesellschaft erhalten sollte;113 nach welcher die Gleichheit der Interessen zwischen Bürger und Staat, Familie und Gesellschaft eigentlich schon bestehen mussten um eben diese zu er106

Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 14. Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 18 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 15. 108 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 19 f. 109 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 15. 110 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 15 sowie Kommentar zum FGB. 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 22. 111 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 16 f. Dafür wurde im Kommentar von 1973 dieses Problem bei der Kommentierung des § 1 FGB aufgegriffen (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 26). 112 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB,1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 16 f. 113 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 17. 107

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reichen und in der „[…] die Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit [gleichzeitig] Ziel und Voraussetzung für die entwickelte sozialistische Gesellschaft [war] […]“114. cc) Aufgaben des FGB Die letzten beiden Absätze der Präambel beschäftigen sich mit den Aufgaben des Familiengesetzbuches für den Prozess der Entwicklung der sozialistischen Familie und für die sozialistische Gesellschaft allgemein: Präambel des FGB Abs. 5 „Es ist die Aufgabe des Familiengesetzbuches, die Entwicklung der Familienbeziehungen in der sozialistischen Gesellschaft zu fördern. Das Familiengesetzbuch soll allen Bürgern, besonders auch den jungen Menschen, helfen, ihr Familienleben bewußt zu gestalten. Es dient dem Schutz der Ehe und Familie und dem Rechte jedes einzelnen Mitgliedes der Familiengemeinschaft. Es soll Familienkonflikten vorbeugen und auftretende Konflikte überwinden helfen. Es regelt in diesem Zusammenhang Pflichten und Aufgaben der staatlichen Organe und Institutionen.“ Abs. 6 „Das Familiengesetzbuch lenkt die Aufmerksamkeit der Bürger, der sozialistischen Kollektive und der gesellschaftlichen Organisationen auf die große persönliche und gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie und auf die Aufgaben jedes einzelnen und der gesamten Gesellschaft, zum Schutz und zur Entwicklung jeder Familie beizutragen.“

Die wesentlichen Aspekte der Aufgaben des FGB erschließen sich bereits aus dem Wortlaut. Aufgabe des FGB sollte es sein, die Gestaltung der Familienbeziehungen in der Weise, wie sie in den ersten Absätzen der Präambel definiert wurden, zu entwickeln, zu fördern und zu schützen. Dafür wird die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die große Bedeutung der Familie für diese gelenkt. Das FGB richtet sich dabei gleichermaßen an die staatlichen Organe und deren Vertreter sowie an die Bürger. Allein aus diesem Adressatenkreis wird klar, dass unter den „Aufgaben“ des FGB nicht Aufgabenzuweisungen im Sinne bürgerlichrechtlicher Rechtssysteme zu verstehen sind wie beispielsweise im Polizeirecht der BRD.115 Aufgrund dieses Adressatenkreises des FGB ergeben sich Schwierigkeiten, die beiden letzten Absätze der Präambel nur hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes bzw. an dieser Stelle hinsichtlich des normierten Familienverständnisses zu analysieren, ohne gleichzeitig auch die staatlichen Aufgaben zu behandeln.

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Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 19. Als Beispiel sei hier nur Art. 2 Polizeiaufgabengesetz Bayern genannt. Offenbar wurde in der DDR keine klare Grenze zwischen zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Gesetzen gezogen. 115

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Laut den Ausführungen in den Kommentaren zum FGB wird jedoch besonders unterstrichen, dass gerade die Bürger selbst direkt angesprochen werden und ihnen Leitlinien an die Hand gegeben werden sollen, um Konflikte nicht nur zu lösen, sondern ihnen vielmehr vorzubeugen; so solle die Eigenheit sozialistischer Gesetze unterstrichen werden.116 Dementsprechend beschäftigt sich die Kommentierung vor allem mit der Beschreibung der Familie: Es sei das Ziel des FGB, die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse noch besser für die Familie nutzbar zu machen117 und die Bürger auf ihre große Eigenverantwortung hinzuweisen118. Dies entspräche der grundsätzlichen Rolle des sozialistischen Rechts, den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess anzuleiten.119 Es sei „keine Sammlung von Rechtsnormen zur Entscheidung der verschiedensten Konfliktfälle.“120 Daher werden im FGB – anders als in den bürgerlichen Gesellschaften, in denen es „[…] keine einheitliche Bedeutung und Zielstellung für die Familien aller Klassen“121 gebe, bzw. nichts offen normiert sei – „[…] Aussagen über die moralischen Grundlagen des Familienlebens, über seinen Inhalt, über die wichtigsten Aufgaben dieser Gemeinschaft [geregelt], und es enthält für einige besonders wichtige Fragen Verhaltensregeln für einzelne Familienmitglieder.“122 In den Auflagen des Kommentars von 1973 und 1982 wird in diesem Zusammenhang darüber hinaus von einem durch das FGB geschaffenen „rechtlichen Leitbild der Familienbeziehungen“ gesprochen.123 Trotz dieser Auslegung der Rolle des FGB wurde 1966 und 1970 betont, dass die inneren Familienbeziehungen nicht über staatlich erzwingbare gegenseitige Rechte und Pflichten unterstützt werden könnten und dass es weder möglich noch erforderlich sei, das Verhalten der Familienmitglieder untereinander durch Reglementierung, staatliche Einmischung oder andere pauschale gesetzliche Vorschriften zu

116 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 18 f., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 25 f. und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 21. 117 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 20 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 27. 118 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 22. 119 Vgl. auch Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 17 f. 120 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 17; wortgleich auch in: Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 24 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 21 sowie Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 17. 121 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 18. 122 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 25; wortgleich auch in: Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 22; vom Wortlaut sehr ähnlich in: Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 18. Dies wurde 1982 noch dadurch verstärkt, dass von „Zielen und Aufgaben von Ehe und Familie“ gesprochen wird (vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 17). 123 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 21 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 17.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

lenken.124 Es wurde 1973 und 1982 aber auch festgestellt, dass die gefühlsmäßigen Bindungen das Familienleben prägen und daher äußerer Zwang für die Beeinflussung der Gestaltung des Familienlebens nicht geeignet sei:125 „Ganz sicher geht von der öffentlichen Meinung der sozialistischen Gesellschaft ein gewichtiger Einfluß und sicher auch ein moralischer Zwang aus. Doch sichert er gerade in dem Maße die Entwicklung der Familienbeziehungen und damit ihre Stabilität, wie er von den Bürgern anerkannt und zur Grundlage ihre Verhaltens in Ehe und Familie gemacht wird.“126 Dieser Anspruch an das FGB, einerseits grundsätzliche Zielstellungen und Verhaltensregeln mit der Autorität des Gesetzes auszusprechen127 und gleichzeitig immer auf die Eigenverantwortlichkeit des Bürgers abzustellen128, soll laut den Kommentaren von 1966 und 1970 durch verschiedene Arten neu entwickelter Normen erfüllt werden, welche nur von den Familienmitgliedern selbst umgesetzt werden könnten und für welche es keinen staatlichen Zwang zur Durchsetzung geben solle129. Dabei wurde unterschieden zwischen reinen Moralnormen und Normen, die Aufgaben und Zielstellungen enthielten, welche zwar nicht in spezielle Rechtspflichten zerlegt werden konnten, jedoch gleichzeitig konkrete Rechtspflichten enthalten sollten.130 Bis (mindestens) zum Jahre 1982 relativierte diese Interpretation des FGB alles in allem den Charakter der Normen als konkrete Anspruchsgrundlage; andererseits lässt sich daraus auf die Vorstellung eines „familiären Freiraums“ schließen, in welchem die emotionale Zugewandtheit der Familienmitglieder im Vordergrund stand und dessen Abgeschlossenheit in sich selbst scheinbar juristisch respektiert wurde. Auffällig ist, dass im Kommentar von 1982 zwar weiterhin die Eigenverantwortlichkeit der Bürger in Bezug auf die Gestaltung der Familienbeziehungen betont wird131, dagegen aber weder, wie in den anderen Auflagen, betont wird, dass äußerer Zwang nicht geeignet sei, die Familienbeziehungen zu gestalten, noch wie 1966 und 1970 Ausführungen zum Charakter der Normen des FGB gemacht werden. Auch wenn dies der im Vergleich zu den drei vorherigen Auflagen allgemein viel knap124 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 19 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 26. 125 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 21 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 17. 126 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 22. Inhaltlich ähnlich vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 17. 127 Vgl. z.B. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 19. 128 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 22. 129 Vgl. z.B. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 19. 130 Vgl. z.B. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 19 oder Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 26. 131 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 17.

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peren Textfassung der Auflage von 1982 geschuldet sein sollte, so ist die Kürzung des Kommentars gerade an diesen Stellen bedeutungsvoll.132 Bezüglich der im fünften Absatz der Präambel genannten Pflichten und Aufgaben der staatlichen Organe wurde lediglich im Kommentar von 1966 erwähnt, dass diese in weiteren Normen des FGB näher konkretisiert werden.133 Auf die Normierung der staatlichen Aufgaben im Bereich der Familie wird aber erst im zweiten Abschnitt der Rechtsgrundlagen eingegangen und dort dann ausführlich untersucht werden, inwiefern durch diese Normierung Rechtsgrundlagen für die Tätigkeit bzw. Interventionen der Jugendhilfe geschaffen werden.134 Erster Teil des FGB: Grundsätze (§§ 1 – 3 FGB) Es wird sich somit auch im Folgenden auf das sozialistische Familien- und Erziehungsverständnis konzentriert und nur insoweit die Aufgabenbeschreibung durch das FGB bezüglich der staatlichen und gesellschaftlichen Organe beschrieben, als dies hierfür erforderlich ist. Die Grundsätze des FGB sind mit der Präambel bereits festgelegt worden und werden daher im ersten Teil des FGB, den „Grundsätzen“, nach §§ 1 bis 3, nur noch vertieft. b) § 1 FGB Dies ist auch schon bei § 1 FGB festzustellen: § 1 FGB Abs. 1 „Der sozialistische Staat schützt und fördert Ehe und Familie. Staat und Gesellschaft nehmen durch vielfältige Maßnahmen darauf Einfluß, daß die mit der Geburt, Erziehung und Betreuung der Kinder in der Familie verbundenen Leistungen anerkannt und gewürdigt werden. Staat und Gesellschaft tragen zur Festigung der Beziehungen zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern sowie zur Entwicklung der Familie bei. Die Bürger haben ein Recht auf staatlichen Schutz ihrer Ehe und Familie, auf Achtung der ehelichen und familiären Bindungen.“

132 Generell ist erstaunlich, dass gerade die 5. Auflage des Kommentars zum FGB einen viel geringeren Umfang als alle anderen Auflagen hat. Bei bürgerlich-rechtlichen Kommentaren nimmt in der Regel der Umfang der Kommentierung von Auflage zu Auflage zu. 133 Kommentar zum FGB, 1. Aufl.1966, zur Präambel, S. 20. Ausführlich sind die Pflichten und Aufgaben der staatlichen Organe aber auch in anderen Rechtsvorschriften geregelt, bspw. in der JHVO. 134 Vgl. 1. Kapitel, B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen Abs. 2 „Die sozialistische Gesellschaft erwartet von allen Bürgern ein verantwortungsvolles Verhalten zur Ehe und Familie.“

Eine inhaltliche Gegenüberstellung des Gesetzestextes des § 1 FGB mit den bisher behandelten Normierungen zeigt große Übereinstimmungen: Fast alle nach dem Wortlaut des § 1 FGB normierten Grundsätze sind so auch schon in Art. 38 Verfassung der DDR oder der Präambel (vor allem in Abs. 5) des FGB direkt normiert oder aber durch die Kommentierungen in dieser Weise bestimmt worden. Beispielsweise die Ausgestaltung eines „Rechts auf staatlichen Schutz und Achtung der Familie“, wie es in § 1 Abs. 1 S. 4 FGB ausdrücklich benannt wird, wurde schon im Zusammenhang mit Art. 38 Abs. 1 S. 2 der Verfassung der DDR bzw. Abs. 5 der Präambel des FGB erwähnt. Es ist daher zu überprüfen, was sich über die Verfassung der DDR und die Präambel des FGB hinaus aus den Kommentierungen zu § 1 FGB an neuen Erkenntnissen bezüglich des sozialistischen Verständnisses der Familie bzw. an zusätzlichen „Rechten“ der Bürger aus § 1 FGB direkt oder indirekt ergibt sowie in welcher Weise das bisher Festgestellte weiter konkretisiert wird. Dabei ergibt sich wiederum – wie auch schon im Zusammenhang mit den Aufgaben des FGB gem. Abs. 5 und 6 der Präambel des FGB angeklungen – die Problematik, dass in den Grundlagen zum FGB – und, wie sich später zeigen wird, im gesamten FGB – die Beschreibung von Ehe, Familie und Erziehung eng verzahnt ist mit der Beschreibung der Aufgaben der staatlichen und gesellschaftlichen Organe und somit nicht völlig getrennt von diesen behandelt werden kann. Dennoch soll dies bei der Behandlung des § 1 FGB bestmöglich versucht werden, um so Klarheit bezüglich der Definition von Familie und Erziehung zu gewinnen. Auf die Ausführungen des § 1 FGB bezüglich der staatlichen und gesellschaftlichen Aufgaben im Bereich der Familie wird dann explizit im zweiten Abschnitt der Rechtsgrundlagen eingegangen.135 Bezüglich der Rechte der Bürger wird im Gesetzestext direkt nur das Recht auf Schutz und Achtung der Ehe und Familie benannt, § 1 Abs. 1 S. 4 FGB. Laut den Kommentierungen zu § 1 FGB normiert dieser den Grundsatz des staatlichen Schutzes und der staatlichen Förderung; gleichzeitig wird durch § 1 FGB aber auch der Grundsatz der gesellschaftlichen Beteiligung für den Schutz und die Förderung der Familie festgeschrieben. Unter Schutz wurde zunächst die Sicherung der Existenz der Familie und ihrer Lebensbedingungen verstanden; mit Förderung war gemeint, dass die Familie bei ihrer Entwicklung zu unterstützen und ihr Perspektiven zu verschaffen seien.136 Was jedoch unter diesem allgemeinen Grundsatz 135

Vgl. 1. Kapitel, B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe. 136 Dies blieb auch über die verschiedenen Auflagen des Kommentars hinweg einheitlich (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 22, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 32, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 26 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20).

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genauer verstanden wurde, wird sogleich noch dargestellt werden. Im zweiten Teil der Arbeit wird vertieft werden, welche „Wege und Methoden zum Schutze und zur Förderung von Ehe und Familie“137 es gab bzw. was 1982 unter der „Familienpolitik als wesentliche Seite sozialistischer Familienpolitik“138 verstanden wurde. Es ergibt sich aus den Kommentierungen von 1973 und 1982 eine weitere Konkretisierung bezüglich des Familienbildes. Auf dem VIII. Parteitag der SED im Jahre 1971 wurde Art. 38 Abs. 1 Verfassung der DDR dahingehend konkretisiert, dass es um die „Förderung der auf der stabilen Ehe beruhenden Mehrkinderfamilie“139, insbesondere der Drei-Kinder-Familien aus der Arbeiterklasse und der übrigen Werktätigen gehe.140 Wie auch in der Verfassung der DDR wird als Gegenstück zu den „Rechten“ der Familie aus § 1 Abs. 1 FGB mit dem zweiten Absatz des § 1 FGB gleichzeitig eine Pflicht normiert: Das verantwortungsvolle Verhalten gegenüber Ehe und Familie könne als moralische Verpflichtung von den Familien erwartet werden, da die sozialistische Gesellschaft gute Entwicklungsmöglichkeiten und eine sichere rechtliche Stellung biete.141 aa) In der Kommentierung zu § 1 FGB keine direkte Nennung von Rechten der Bürger Trotz des Wortlauts des § 1 Abs. 1 S. 4 FGB („Die Bürger haben ein Recht auf staatlichen Schutz ihrer Ehe und Familie, auf Achtung der ehelichen und familiären Bindungen.“) werden in den Kommentierungen nicht direkt Rechte benannt, welche sich aus diesem „Recht auf Schutz und Achtung der Ehe und Familie“ gem. § 1 FGB ergeben würden. Satz 4 hat im Rahmen des § 1 Abs. 1 FGB offensichtlich auch keine herausgehobene Stellung.142

137 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24 ff. und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 33 ff. Im Kommentar von 1973 wurde von „Aufgaben und Methoden“ gesprochen (Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27 ff.). 138 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu §1, S. 20 ff. 139 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 28. 140 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 28 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20. 1982 wird jedoch nur von der „stabilen Mehrkinderfamilie“ gesprochen (vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20). 141 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 28 und ebenso Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 37. 142 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 22 ff., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 32 ff., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 26 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20 ff.

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bb) Ergeben sich indirekt aus den Kommentierungen zu § 1 FGB „Rechte“ der Bürger? Ob der Familie mit § 1 FGB Rechtspositionen zugestanden wurden und inwiefern diese über die Verfassung der DDR und die Präambel des FGB hinaus gingen, muss wiederum zusätzlich indirekt daraus geschlossen werden, wie die Begriffe „Schutz“ und „Förderung“ durch die staatlichen und gesellschaftlichen Organe interpretiert wurden, sodass an dieser Stelle schon der Normierung staatlicher bzw. gesellschaftlicher Tätigkeit vorgegriffen werden muss: (1) Bestehen Rechtspflichten der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Organe? In den Jahren 1966 und 1970 heißt es noch, dass sich zwar aus § 1 FGB keine detaillierten Rechtspflichten ergäben, er aber als direkte Rechtspflicht für alle Organe und Institutionen, die Einfluss auf die Familien nehmen würden, und daher nicht nur als deklaratorisch dahingehend zu verstehen sei, dass auf Schutz und Förderung der Familie hinzuwirken sei.143 Inwieweit sich aus den an die staatlichen Organe und die Gesellschaft gerichteten Grundsätzen auch korrespondierende (einklagbare) Rechte bzw. ein Anspruch für die Familien ergibt, wird aber nicht einmal thematisiert.144 Ab 1973 fehlt der Absatz bezüglich der direkten Rechtspflicht zum Schutz und zur Förderung für alle Organe und Institutionen völlig.145 In der Auflage von 1982 wird dann zwar von einem Anspruch der Bürger darauf gesprochen, dass die familiären Leistungen von der Gesellschaft anerkannt würden und dass die Eigenständigkeit der Familie in ihrer Einmaligkeit und Integrität geschützt und geachtet würde.146 Dies entspricht im Wesentlichen den Festlegungen des § 1 Abs. 1 S. 2 und S. 4 FGB. Zugleich wird aber erstmalig betont, dass „[…] das Recht der DDR keinen abstrakten Schutz von Ehe und Familie [kennt] […]“ und es nicht um die Achtung der Institution Ehe und Familie als solcher gehe.147 Diese Feststellung von 1982 stimmt mit den schon im Rahmen der Verfassung der DDR gemachten Ergebnissen überein.148 (2) Bestehen Schranken bei der Umsetzung des Schutzes und der Förderung? In den Kommentierungen bis einschließlich 1973 heißt es, dass bei Maßnahmen zur Umsetzung des Schutzes und der Förderung beachtet werden müsse, dass eine 143 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 27 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zur Präambel, S. 36. 144 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 22 ff. und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 32 ff. 145 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 26 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20 ff. 146 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20. 147 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20. 148 Vgl. oben unter 1. Kapitel, A. I. 4. Fazit.

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„[…] gewisse Eigen- und Selbständigkeit zum Wesen der Familie gehört und daß die Familienmitglieder die Familienbeziehungen nur selbst gestalten können. Die Berücksichtigung des speziellen Wesens der Beziehungen in der Familie ist bei allen Maßnahmen zu ihrem Schutz und ihrer Förderung äußerst wichtig.“149 Die Familie sei als emotionale Gemeinschaft „im intimen Lebensbereich der Menschen“150 definiert und entspricht damit der bereits oben bei der Präambel dargestellten Vorstellung von „Familie“. Es wird also zumindest bis 1973 scheinbar von gewissen Richtlinien und Schranken für die Maßnahmen des Staates und der Gesellschaft ausgegangen und damit indirekt eine Rechtsposition abgesteckt, welche man (wie auch schon in der Präambel des FGB und der Verfassung der DDR) als „familiären Freiraum“ bezeichnen könnte. In der Kommentierung des § 1 FGB von 1982 entfällt der zitierte Absatz ersatzlos, es ist keine entsprechende Formulierung zu finden und die Familie wird, genauso wenig wie i.R.d. Präambel des FGB, als Gefühlsgemeinschaft definiert151. Es ergibt sich damit, wie schon im Rahmen der Kommentierung zur Präambel des FGB, der Eindruck, dass sich die Auslegung der Familie von der Gefühlsgemeinschaft hin zur Familie mit Funktionen für die sozialistische Gesellschaft wandelt. Dies zeigt sich auch an der Auslegung der Begriffe des Schutzes und der Förderung: (3) Die Auslegung der Begriffe Schutz und Förderung In den Auflagen von 1966 bis 1973 wird nicht benannt, vor was genau die Familie zu schützen sei, wenn doch ein Schutz der Familie vor dem Staat nicht notwendig sei152, sondern generell dem Begriff des „Schutzes“ kaum Bedeutung beigemessen; dagegen wird zumeist auf den Begriff der „Förderung“ abgestellt.153 Die Kommentierung zu § 1 FGB macht also in erster Linie Vorgaben, inwiefern und nach welchen Kriterien durch das Handeln der Organe und Institutionen die Familie gefördert werden sollte; dies wird daher erst im zweiten Teil dieses Kapitels dargestellt. An dieser Stelle bedeutsam ist aber, dass hierfür 1982 viele Rechtsvorschriften außerhalb des FGB angeführt wurden, aus denen sich „subjektive Rechte und Pflichten ergeben, aber auch Aufgaben- und Zielnormen, die der Konkretisierung bedürfen“154. Aus § 1 FGB ergibt sich jedoch, wie schon erwähnt, kein An149 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24. Wortgleich aber auch: Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 32 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27. 150 Siehe auch weiterführend Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24. Fast wortgleich aber auch: Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 32 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27. 151 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20 ff. 152 Vgl. 1. Kapitel, A. I. 4. Fazit. 153 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 22 ff., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 32 ff., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 26 ff. 154 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 21.

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spruch auf Förderung für die Familie, sondern nur eine Rechtspflicht für die Organe und Institutionen. 1982 werden dann Achtung und Schutz ausdrücklich mit der „Sorge um die bestmöglichsten Entwicklungsbedingungen dieser Gemeinschaft“, also mit der Familienförderung, gleichgesetzt: „Alle Maßnahmen der Familienförderung dienen zugleich der Achtung und dem Schutz von Ehe und Familie. Deshalb sind diese Aktivitäten der Gesellschaft und des Staates als Einheit zu betrachten.“155 Damit wird offen ausgesprochen, was in den Auflagen zuvor nur indirekt (durch die fehlenden Ausführungen zum Schutz der Familie und deren Rechten sowie die Aussparung der Bedeutung des § 1 Abs. 1 S. 4 FGB in den Kommentierungen) anklingt: Aus § 1 FGB ergibt sich kein Schutz, sondern nur Vorgaben zur Herausbildung einer guten sozialistischen „Gesamtgesellschaft“156, indem in erster Linie der sozialistische Familientyp gefördert wird und die Familie wiederum der wichtigen Aufgabe der Herausbildung des sozialistischen Menschen dient; die Familienförderung im Speziellen rückt dabei in den Hintergrund.157 Der Schutz der Familie erschöpft sich 1982, wie schon in der Verfassung der DDR, in der Beseitigung von Störfaktoren und der Verbesserung der Lebensbedingungen. Insgesamt lässt sich damit feststellen, dass aus den Kommentierungen von 1973 und 1982 eine Konkretisierung des Leitbildes der besonders zu fördernden Familien hervorgeht; ansonsten ist zu konstatieren, dass § 1 FGB im Vergleich mit der Verfassung und der Präambel des FGB wenig Neues bringt und die Ausführungen kaum auf konkrete Aussagen festzulegen sind. § 2 FGB beschäftigt sich mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Diese Gleichbehandlung ist als zentrale Grundüberzeugung in der DDR anzusehen und beeinflusst das Familienbild der DDR auf entscheidende Weise. Entsprechend des Untersuchungsgegenstandes steht aber das Verhältnis von Familie und Staat, insbesondere die Stellung der Familie in der sozialistischen Gesellschaft, im Vordergrund. Auf den Gleichberechtigungsgrundsatz wird hier daher, wie auch schon bei der Präambel des FGB und der Verfassung der DDR, nicht genauer eingegangen. c) § 3 FGB Wie schon bei § 1 FGB erörtert, wird an dieser Stelle fokussiert, was § 3 FGB bezüglich des Familien- und Erziehungsbildes normiert und ob Rechtspositionen für die Familie abgesteckt wurden. Handlungsanweisungen an die staatlichen Organe werden aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit erst später behandelt.

155 156 157

Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20. Dies wird schon im Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 28 betont. Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20 ff.

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§ 3 FGB Abs. 1 „Die Bürger gestalten ihre familiären Bindungen so, daß sie die Entwicklung aller Familienmitglieder fördern. Es ist die vornehmste Aufgabe der Eltern, ihre Kinder in vertrauensvollem Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und allseitig gebildeten Menschen, zu aktiven Erbauern des Sozialismus zu erziehen.“ Abs. 2 „Die Erziehung der Kinder ist zugleich Aufgabe und Anliegen der gesamten Gesellschaft. Deshalb gewährleistet der sozialistische Staat durch seine Einrichtungen und Maßnahmen, daß die Eltern ihre Rechte und Pflichten bei der Erziehung ihrer Kinder ausüben können. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Hilfe für kinderreiche Familien und für alleinstehende Mütter und Väter.“

aa) Sozialistisches Familienbild Entsprechend des Wortlauts des § 3 Abs. 1 S. 1 FGB wird auch in allen Kommentierungen der Hauptsinn des Familienlebens in der Bedeutung der Familie für die Entwicklung aller Familienmitglieder gesehen und dabei mit § 3 Abs. 1 S. 2 FGB die Rolle der Familie bei der Erziehung der Kinder als wichtigste Funktion der Familie überhaupt interpretiert.158 „Diese Aufgabe der Familie ist umso wichtiger, als es unserer Gesellschaft bei den Bemühungen um die Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit um die Entwicklung aller Bürger geht.“159 Das Gesetz würde davon ausgehen, dass in der sozialistischen Gesellschaft die entscheidenden Voraussetzungen dafür geben seien.160 Die bestmögliche Entwicklung aller Familienmitglieder zu erreichen161 wurde als schwierige Aufgabe gesehen, welche ab 1973 auch schon mit der Familienplanung162 begann; dabei fällt auf, dass extra erwähnt wurde, dass 158 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 3, S. 31, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 3, S. 40, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 35 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 24. (Wobei ab 1973 die Rolle der Familie bei der Erziehung der Kinder nicht mehr als wichtigste Funktion der Familie betont wird, sondern der Schwerpunkt allein auf die Bedeutung für die Entwicklung der Familienmitglieder gelegt wird.) 159 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 3, S. 31 f. und auch wörtlich in: Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 3, S. 40. In den zwei jüngeren Kommentaren ist dieser Satz zwar nicht mehr wörtlich zu finden, es wird aber von der gleichen Vorstellung ausgegangen (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 35 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 24 ff.). 160 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 3, S. 31, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 3, S. 40. Indirekt auch in: Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 24. 161 Nur im Kommentar von 1973 wird dies dahingehend verstanden, dass die Entwicklung nicht auf Kosten der Eltern, insbesondere der Mutter, gehen dürfe (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 35). 162 Dabei wird 1973 auch ausdrücklich auf die Einführung des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft verwiesen (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 35).

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die Familiengröße und Geburtenfolge durch das Gesetz nicht bestimmt würde, sondern den Eltern frei stünde163; dies war in der DDR also keine Selbstverständlichkeit. bb) Sozialistisches Erziehungsverständnis Gemäß seines Wortlautes wird durch § 3 Abs. 1 S. 2 sowie Abs. 2 S. 2 FGB in Übereinstimmung mit Art. 38 Abs. 4 Verfassung der DDR das sozialistische Erziehungsverständnis festgelegt: die Eltern haben die Erziehungsaufgabe (vgl. § 3 Abs. 1 S. 2 FGB), also ein Erziehungsrecht, aber auch die Pflicht zur Erziehung (vgl. § 3 Abs. 2 S. 2 FGB). Außerdem wird in § 3 Abs. 1 S. 2 FGB auch das sozialistische Erziehungsziel der Verfassung der DDR wiederholt. Laut der Kommentierung zu § 3 FGB entspräche das sozialistische Erziehungsziel hierbei „den Grundsätzen des sozialistischen Humanismus“164 und wird in § 42 FGB konkretisiert.165 Aus dem Wortlaut des § 3 FGB ergibt sich die Zusammenarbeit von Familie und Gesellschaft bei der Erziehung der Kinder: die Kinder sollen „in vertrauensvolle[m] Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen“ erzogen werden, vgl. § 3 Abs. 1 S. 2. Dies wird mit § 3 Abs. 2 S. 1 FGB noch betont: „Die Erziehung der Kinder ist zugleich Aufgabe und Anliegen der gesamten Gesellschaft.“ In den Kommentaren von 1973 und 1982 heißt es wörtlich: „Die Entwicklung der Kinder verläuft am besten, wenn die Erziehung in den gesellschaftlichen Einrichtungen und in der Familie sich gegenseitig ergänzen.“166 Diese Zusammenarbeit wurde als notwendig und unproblematisch angesehen, da sie auf der Basis identischer Erziehungsziele von Familie und Gesellschaft in den grundsätzlichen Fragen beruhe167: „Die gesellschaftlichen Bedingungen […] ermöglichen immer mehr die tatsächliche Übereinstimmung der gesellschaftlichen mit den persönlichen Inter-

163 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 35 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 24 f. 164 So auch laut der Kommentierung (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 3, S. 32, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 3, S. 40 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 36 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 25). 165 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 3, S. 32, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 3, S. 41, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 36 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 25. 166 Dabei fällt die gewählte Reihenfolge der Erziehungsträger auf (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 36 und, fast wortgleich, Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 25). 167 Vgl. wörtlich identisch in folgenden Kommentaren: Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 3, S. 32, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 3, S. 41 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 36.

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essen und ihre Realisierung.“168 Der Familie wurden in Bezug auf die Entwicklung des einzelnen Kindes die größten Einflussmöglichkeiten zuerkannt und dies noch in den ersten beiden Auflagen der Kommentare zu § 3 FGB als „spezifischen Verantwortung“ der Familie bezeichnet.169 Die Notwendigkeit der Erziehung der Kinder in der Familie sei „in ihrer Spezifik begründet“170 und resultiere unter anderem aus der besonderen Emotionalität, Konstanz und Individualität jeder Familie.171 Im Kommentar von 1973 wurde erstmalig für die Erziehung der Kinder durch ihre Familien der Begriff der „Familienerziehung“ verwendet172, was insbesondere deshalb bezeichnend ist, da in den Kommentierungen von 1970 und 1973 zu § 42 FGB betont wurde, dass der Begriff der Familienerziehung ein pädagogischer sei und also mit dem (juristischen) Begriff des Erziehungsrechtes nicht identisch.173 Gleichzeitig wurde ab dem Kommentar von 1973 umfangreicher Begründungsaufwand174 betrieben um zu belegen, weshalb Familienerziehung erforderlich und richtig sei. Dass die Gesellschaft durch gesellschaftliche Einrichtungen an der Erziehung Anteil hat wurde dagegen nicht gerechtfertigt oder wenigstens begründet. Damit ist der Grundsatz der Zusammenarbeit als Grundpfeiler des sozialistischen Erziehungsverständnisses zu verstehen und bedeutet, genau genommen, die Normierung der gesellschaftlichen (Mit-)Erziehung der Kinder; der Familie wurde aber in diesem Prozess im Kern selbst in den juristischen Kommentierungen eine rein faktische, pädagogische Rolle zugedacht. Gemäß der angenommenen Interessengleichheit dient die Familie wiederum durch die Erziehung der Kinder der Schaffung des sozialistischen Menschen; in diesem Sinne ist § 3 FGB als Konkretisierung der in § 1 Abs. 2 FGB normierten Verantwortung der Familie gegenüber der Gesellschaft zu verstehen. Familie wird also vor allem in ihrer Funktionalität für die Gesellschaft begriffen. Das persönliche Glück des Einzelnen kommt nur einmal im Kommentar von 1982 vor, dies aber im Zusammenhang mit der „völlig freien Entscheidung zum 168 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 35 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 24. Dabei gab es ab dem Jahre 1973 sehr konkrete Vorstellungen darüber, was unter diesen übereinstimmenden Interessen zu verstehen sei: insbesondere die im gesellschaftlichen Interesse liegenden Mehrkinderfamilien (Zwei- und viele Drei-Kinder-Familien) hätten auch besonderen Wert für die Familie (vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 24 f.). 169 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 3, S. 31 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 3, S. 40. Später fehlt dieser Hinweis (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 35 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 24 ff.). 170 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 36. 171 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 36 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 25. 172 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 36. 173 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179. 174 Vgl. bspw. ausführlicher Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 36. Dies war 1966 und 1970 noch nicht der Fall (vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 35 f.).

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Kind“ und wieder im Sinne einer Verantwortung sich selbst und der Bevölkerungsentwicklung gegenüber.175 Anstatt konkrete Elternrechte zu normieren bzw. die Rechtspositionen aus der Verfassung der DDR zu konkretisieren (welche genau hierfür ja auf spezielleres Recht verweist), entsteht aus den Kommentierungen zu § 3 FGB vielmehr der Eindruck, dass die „Aufgabe der Eltern“ i.S.d. § 3 FGB, ihre Kinder zu erziehen, als sinnvoll gerechtfertigt werden muss. Die Eltern“rechte“ gehen bei genauerer Betrachtung völlig in der Verantwortung und Pflicht gegenüber der Gesellschaft auf. Mit § 3 Abs. 2 S. 2 FGB werden die verschiedenen staatlichen Einrichtungen dazu verpflichtet, den Eltern zu helfen, ihren Erziehungsaufgaben nachzukommen;176 mit § 3 Abs. 2 S. 3 FGB wird, wie auch schon durch Art. 38 Abs. 2 S. 2 der Verfassung der DDR, die Aufmerksamkeit auf kinderreiche Familien und Alleinerziehende gelenkt. d) Fazit zu den Grundsätzen des FGB Durch die Präambel des FGB wird zum einen die sozialistische Familie als „kleinste Zelle der Gesellschaft“ legaldefiniert sowie zum anderen die Aufgaben des FGB dargelegt. In § 1 FGB wird der Grundsatz des staatlichen Schutzes und der Förderung festgeschrieben sowie in § 3 Abs. 2 FGB über eine gesellschaftliche Beteiligung hinaus das Ideal der gesamtgesellschaftlichen Erziehung der Kinder. Die Kommentierungen zu diesen Vorschriften sind Wandlungen unterworfen; insbesondere die Auflage von 1982 unterscheidet sich von den drei vorherigen in der Hinsicht, dass sie das DDR-spezifische sozialistische Familien- und Erziehungsverständnis besonders kompromisslos formuliert und am deutlichsten herausstellt. Die ersten beiden Auflagen sind dagegen meist wortgleich; die Auflage von 1973 orientiert sich oft an diesen, entspricht manchmal aber auch schon dem Text der Auflage von 1982. In dieser Hinsicht besteht eine Kontinuität zwischen den Auflagen des Kommentars zum FGB. Insgesamt lässt sich über die Auslegung zu den Grundlagen den FGB sagen, dass zunächst noch der emotionale Aspekt der Familie als Gefühlsgemeinschaft betont und Familie später immer mehr bzgl. ihrer Funktionen für die sozialistische Gesellschaft betrachtet wurde. Die Beschreibung von Ehe, Familie und Erziehung ist dabei immer eng verknüpft mit den Aufgaben der staatlichen Organe. Bei genauerer Analyse ergeben sich aus den Kommentaren keine direkten Rechte der Eltern. Auch lassen sich aus den Rechtspflichten der staatlichen Organe keine „indirekten“ Rechte ableiten. 1982 wird dieser grundsätzliche Eindruck auch offen ausgedrückt: „[…] das Recht der DDR [kennt] keinen abstrakten Schutz von Ehe und Familie […].“177 175

Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 25. Vgl. exemplarisch für alle Auflagen des Kommentars zum FGB: Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 37. 177 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20. 176

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Dieses Zitat stimmt mit den im Zusammenhang mit der Verfassung der DDR erarbeiteten Ergebnissen überein. Somit bleibt laut den Kommentierungen nur die Erziehungsaufgabe für die Eltern gem. § 3 Abs. 1 FGB; also ein Erziehungs“recht“, mit welchem gleichzeitig die Pflicht zur Erziehung im Sinne des sozialistischen Erziehungsziels korrespondierte. Somit ist § 3 FGB ebenfalls sehr differenziert zu betrachten und eher als Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu verstehen als als Norm aus welcher Rechte hergeleitet werden können; auch dieses Ergebnis steht in Übereinstimmung mit den bezüglich des Verfassungsrechts getroffenen Feststellungen. Festzuhalten bleibt außerdem, dass die Zusammenarbeit von Familie und Gesellschaft bezüglich der Erziehung als notwendig dargestellt wurde. Dass mit den behandelten Rechtsnormen des FGB lediglich die Begriffe Familie und Erziehung definiert werden und keine konkreten Rechtspositionen für die Familie bzw. die Eltern normiert werden, könnte mit dem bewusst allgemeinen Charakter der Präambel des FGB sowie der Grundsätze des FGB zu erklären sein. Es wird daher anhand der §§ 42, 43 und 49 FGB erarbeitet, ob sich aus diesen ein anderes Bild ergibt. 2. §§ 42, 43 und 49 FGB Nachdem die Grundsätzen des FGB dargestellt wurden, kann darauf aufbauend das Verständnis von Familie und Erziehung erarbeitet werden, sowie der Frage nachgegangen werden, ob sich aus den §§ 42, 43 oder 49 FGB konkrete Rechtspositionen für die Eltern ergeben. a) § 42 FGB Da sich § 4 FGB allein an die staatlichen bzw. gesellschaftlichen Organe wendet und sich der zweite Teil des FGB (§§ 5 – 41 FGB) mit der Ehe befasst und damit für den Untersuchungsgegenstand und die Darstellung der Normierung des Verhältnisses zwischen Familie und Staat nicht relevant ist, wird erst wieder der dritte Teil des FGB mit dem Titel „Eltern und Kinder“ analysiert. Das erste Kapitel dieses Teils beinhaltet Regelungen zur elterlichen Beziehung:178 § 42 FGB knüpft hierbei an die in Art. 38 der Verfassung der DDR normierten sozialistischen Grundrechte und Grundpflichten sowie die Grundsätze des FGB, insbesondere § 3 FGB, an:

178

Vgl. §§ 42 ff. FGB.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen § 42 FGB Abs. 1 „Die Erziehung der Kinder ist eine bedeutende staatsbürgerliche Aufgabe der Eltern, die dafür staatliche und gesellschaftliche Anerkennung und Würdigung finden.“ Abs. 2 „Das Ziel der Erziehung der Kinder ist, sie zu geistig und moralisch hochstehenden und körperlich gesunden Persönlichkeiten heranzubilden, die die gesellschaftliche Entwicklung bewußt mitgestalten. Durch verantwortungsbewußte Erfüllung ihrer Erziehungspflichten, durch eigenes Vorbild und durch übereinstimmende Haltung gegenüber den Kindern erziehen die Eltern ihre Kinder zur sozialistischen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus.“ Abs. 3 „Die Erziehung der Kinder ist untrennbar mit der Herausbildung solcher Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und der Achtung vor dem Alter verbunden. Die Erziehung der Kinder umfaßt auch ihre Vorbereitung zu einem späteren verantwortungsbewußten Verhalten zur Ehe und Familie.“ Abs. 4 „Die Eltern sollen bei der Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben und zur Gewährleistung einer einheitlichen Erziehung eng und vertrauensvoll mit der Schule, anderen Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen, mit der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ und der Freien Deutschen Jugend zusammenarbeiten und diese unterstützen.“

Mit dem Gesetzestext des § 42 FGB werden viele Prinzipien der Verfassung der DDR sowie der Präambel des FGB und der Grundsätze des FGB wiederholt bzw. in ähnlicher Form ausgeführt: § 42 Abs. 1 FGB ähnelt beispielsweise dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 FGB, befasst sich hier jedoch konkret mit den Eltern und nicht allgemein mit den Bürgern bzw. der Familie; mit § 42 Abs. 4 FGB wird das Prinzip der einheitlichen Erziehung des § 3 FGB aufgegriffen. aa) Inhalt und Aufgaben des Erziehungsziels Aus dem Wortlaut des § 42 FGB geht aber auch hervor, dass dieser schwerpunktmäßig mit seinem zweiten und dritten Absatz detailliert das schon in Art. 38 Verfassung der DDR sowie im § 3 Abs. 1 FGB normierte Erziehungsziel des sozialistischen Humanismus ausgestaltet. Dabei ist festzustellen, dass mit § 42 Abs. 2 S. 1 FGB „Das Ziel der Erziehung […]“ und damit eine abschließende Festlegung der Erziehungsziele beansprucht wird. Auch in den anderen Absätzen findet sich keine Relativierung des benannten Erziehungsziels. In den Kommentierungen wird die Allgemeingültigkeit des Erziehungsziels einerseits mit der Interessengleichheit von Familie und Gesellschaft begründet sowie

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andererseits damit, dass die Allgemeingültigkeit bereits aus dem Wesen der sozialistischen Gesellschaft folge.179 Gleichzeitig sollte das Erziehungsziel nicht nur allgemeingültig, sondern auch sehr konkret sein: § 42 FGB beschränke sich „bewußt nicht auf die Formulierung eines allgemeinen Erziehungsziels, sondern [spricht] die wichtigsten Seiten der Persönlichkeitsbildung des heranwachsenden Menschen aus“180. Eine solche Normierung von Erziehungsinhalten ist nach bürgerlich-rechtlichen Prinzipien nicht möglich, da die Elternrechte gem. Art. 6 GG bzw. § 1666 ff. BGB – wie oben bereits dargestellt – grundgesetzlich geschützt sind und dies denknotwendig auch die freie Festlegung der Erziehungsinhalte mit einschließt.181 In der DDR wurde 1966 die gesetzliche Festlegung des einheitlichen Erziehungsziels dagegen als Fortschritt gesehen.182 Es wurde darüber hinaus über alle Kommentierungen hinweg davon ausgegangen, dass die sich aus dem Erziehungsziel ergebenden Aufgaben unabhängig von weltanschaulichem Hintergrund durch ihren humanistischen Inhalt von allen Klassen und Schichten bejaht und erfüllt werden können.183 Inhalt und Aufgaben des Erziehungsziels sollten also aus den gemeinsamen Grundinteressen von Familie und Gesellschaft, orientiert am sozialistischen Humanismus, resultieren184 und wurden entsprechend dem Wortlaut des § 42 Abs. 2 S. 1 FGB darin gesehen, alle Seiten der Persönlichkeitsentwicklung185, d.h. die politische, moralische, charakterliche, geistige und körperliche Entwicklung der Kinder zu fördern186. „[…] die Kinder sollen zu bewußten Gestaltern der sozialistischen Gesellschaft heranwachsen“.187 Hierin – wie schon im Zusammenhang mit Art. 38 Verfassung der DDR bzw. Art. 6 GG erwähnt – liegt ein wesentlicher Unterschied zum heute geltenden BRD-Recht: nicht nur im Grundgesetz, sondern auch im SGB

179 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 128, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 198 f. Inhaltlich aber auch in: Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 158 f. und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 178 f. 180 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 159 f. 181 Vgl. bspw. Michael/Morlok, Grundrechte, § 9 VI, S. 156 f. und § 23 IV, S. 326 f. oder Schwab, Familienrecht, § 55 II, S. 300. 182 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 158 f. 183 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 161, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 200, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 128. 184 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 128. 185 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 159, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 200 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 129. 186 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 200 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179. Im Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 129 wird dies noch erweitert auf die weltanschauliche, polytechnische und ästhetische Erziehung; die charakterliche Entwicklung wird nicht mehr erwähnt. 187 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199.

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VIII ist die Werteneutralität des Staates verankert sowie die „Grundrichtung der Erziehung“ ausdrücklich den Eltern überlassen, § 9 SGB VIII.188 (1) Umsetzung der Aufgaben aus dem Erziehungsziel § 42 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 FGB definieren, in welcher Art und Weise die Eltern ihren Aufgaben aus dem Erziehungsziel (i.S.d. FGB) gerecht werden sollten, geben also „prinzipielle Hinweise zur Gestaltung des Erziehungsprozesses“189. Entsprechend des Wortlauts des § 42 Abs. 2 S. 2 HS. 1 FGB bezieht sich dieser auf die Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen der Eltern, welche sie selbst aufweisen sollten, um der Erziehung ihrer Kinder gerecht zu werden: es werden Verantwortungsbewusstsein, Vorbildfunktion und übereinstimmende Haltung der Eltern bei der Kindererziehung als zielführend benannt. In den Kommentierungen wird generell mit den Jahren immer stärker die Verantwortung der Eltern betont, auch steigen die Erwartungen an sie: 1970 und 1973 heißt es, es sei „entscheidend, wie es die Eltern verstehen, die sozialen Beziehungen innerhalb der Familie und zur Gesellschaft zu gestalten“190. Ganz besonders wird im Kommentar von 1982 die Bedeutung der Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften der Eltern für den Erziehungsprozess hervorgehoben191 und „für die Entwicklung der Kinder der Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit gefordert.“192 Dafür würden die Eltern Anerkennung und Würdigung in den §§ 1 und 3 FGB erfahren.193 Dies wird an vielen Stellen auch im Zusammenhang mit den hervorragenden gesellschaftlichen Bedingungen begründet.194 Mit dem Wortlaut des § 42 Abs. 2 S. 2 HS. 2 werden die Erziehungsinhalte aufgezählt. Benannt wird also, was den Kindern mitgegeben werden sollte, wie unter anderem eine sozialistische Lern- und Arbeitshaltung, die Einhaltung der sozialistischen Regeln des Zusammenlebens und der Solidarität195. Diese Aufzählung wurde abschließend formuliert und konkretisiert damit detaillierter das allgemeine Erziehungsziel aus § 42 Abs. 2 S. 1 FGB. Da innerhalb des selben Satzes aber betont wird, dass die Eltern in gerade diesen Punkten mit eigenem Vorbild vorangehen sollen, kann der zweite Halbsatz (indirekt) auch als Botschaft an die Eltern verstanden 188 In Bezug auf die Jugendhilfe wird die Werteneutralität in der BRD auch durch die freie und öffentliche Jugendhilfe gesichert, § 3 SGB VIII. 189 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179. 190 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 201 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 180. 191 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 128. 192 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 129. 193 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 128. 194 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179 oder Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 128. 195 Vgl. Wortlaut des § 42 Abs. 2 S. 2 HS. 2 FGB.

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werden. § 42 FGB hat an dieser Stelle daher auch Erziehungsfunktion gegenüber den Eltern. (2) Erziehungsprozess gem. § 42 Abs. 3 FGB § 42 Abs. 3 S. 1 FGB beschäftigt sich wörtlich genauer mit dem Erziehungsprozess und normiert, welche einzelnen Eigenschaften bzw. Tugenden der Kinder gestärkt werden sollten: Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und Achtung vor dem Alter; diese Aufzählung scheint hierbei nicht abgeschlossen zu sein196. Mit § 42 Abs. 3 S. 2 FGB wird schließlich festgelegt, dass die Kinder auf Ehe und Familie vorbereitet werden sollen. Die Kommentierungen zu § 42 FGB von 1966 gehen unwesentlich über den aus dem Gesetzestext erschließbaren Inhalt hinaus, legen den Schwerpunkt aber stark auf die Arbeitseinstellung der Kinder: Durch die Vorbildwirkung der Eltern sollten sie zu einer guten Arbeits- und Lernhaltung gelangen; dies werde nicht unwesentlich durch die richtige Entwicklung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse beeinflusst.197 Das Kind solle durch die Gewöhnung an Pflichten und eine „exakte Tageseinteilung innerhalb der Familie“ zu der Erkenntnis gelangen, dass „Arbeit für das Kollektiv und im Interesse des Kollektivs“ als Grundbedingung für das Leben in der Gemeinschaft zu begreifen sei.198 Ab 1970 werden noch detailliertere pädagogische Kriterien für eine sozialistische (1982: „kommunistische“199) Erziehung festgelegt;200 im Kommentar von 1970 wird außerdem auf weiterführende Literatur der sozialistischen Pädagogik verwiesen201. An die Eltern werden aus dem Erziehungsziel zahlreiche Anforderungen abgeleitet. In den Kommentierungen ab 1970 wurde bestimmt, dass die Eltern das Lebensalter und den Entwicklungsstand des Kindes zu beachten hätten, da dies bei Nichtbeachtung häufig eine Quelle für Erziehungsfehler sei.202 Außerdem würden Erziehungsfehler häufig auf Mängeln in der Organisation des Familienlebens basieren; als wesentliches Erziehungsmittel müsse daher die Lebensordnung zweckmäßig, konsequent und für alle Familienmitglieder verbindlich sein.203 1982 wurde generell ein harmonisches Familienleben verlangt.204 In den Kommentierungen von 1970 und 196

Vgl. den Wortlaut des § 42 Abs. 3 S. 2 FGB: „[…] solcher Eigenschaften wie […]“. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 160. 198 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 160. 199 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 127. 200 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 200 ff., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 129 ff. 201 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 201. 202 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 200 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 180 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 130. 203 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 202, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 181 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 129 f. 204 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 130. 197

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1973 wurde zusätzlich ausgeführt, dass für die Bildung und Erziehung des Kindes die zahlreichen Eindrücke und Einflüsse auf die Familie durch ihre Beziehungen zur sozialistischen Gesellschaft (durch das Berufsleben der Eltern, die Mitwirkung in gesellschaftlichen Organisationen, der Hausgemeinschaft oder durch Massenkommunikationsmittel) wichtig seien und dass das Kind entsprechend seiner Reife miteinbezogen werden müsse.205 1982 wurde dieser Aspekt noch etwas verschärfter ausgedrückt, indem angenommen wurde, dass es zur politischen und erzieherischen Grundhaltung der Familie gehöre, die Kinder mit „anderen Gemeinschaften und Personen“ in Kontakt zu bringen.206 Mit dem Wortlaut des vierten Absatzes des § 42 FGB wird die bereits in § 3 FBG normierte Zusammenarbeit noch weiter konkretisiert. Die Erfüllung der Erziehungsaufgaben sowie die „einheitliche Erziehung“ sollten ganz konkret durch die Zusammenarbeit mit der Schule bzw. anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sowie der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ und der Freien Deutschen Jugend gewährleistet werden.207 Was unter den Begriff der Zusammenarbeit subsumiert wurde, wandelte sich nach der Kommentierung im Laufe der Jahre: 1966 wurde darunter verstanden, dass die Eltern die gesellschaftliche Zielstellung bei der Erziehung ihrer Kinder nach bestem Vermögen unterstützen sollten.208 Ab 1970 wurde in den Kommentierungen betont, dass die allseitige Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zur gemeinsamen Aufgabe der Eltern, Lehrer, Erzieher, und der Jugendorganisationen werde209, wobei 1970 und 1973 die Bedeutung der Schule besonders hervorgehoben wurde210. 1982 wird erstmals auch die Gegenseitigkeit der Zusammenarbeit hervorgehoben: nicht nur Eltern bekommen Hilfe und Unterstützung bei der Erziehung der Kinder, vgl. auch §§ 44 und 49 FGB, sondern auch die Erziehungs- und Bildungseinrichtungen profitieren von den Eltern.211 „Erfolge in der Erziehungsarbeit hängen entscheidend vom Niveau des Zusammenwirkens zwischen Elternhaus und Schule bzw. Ausbildungsbetrieb, vom Grad der Übereinstimmungen in den Erziehungsabsichten ab.“212

205

Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 202 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 182. 206 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 130. 207 Vgl. § 42 Abs. 4 FGB. 208 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 163. 209 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 202 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 182 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 130. 210 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 203 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 182. 211 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 130 f. 212 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 131.

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(3) Entwicklungstendenzen in der Kommentierung zum Erziehungsprozess Insgesamt ist in den Kommentierungen zu § 42 FGB festzustellen, dass, wie auch schon bei den §§ 1 und 3 FGB angeklungen, Folgendes wiederholt und betont wird: Es wird ausführlich erläutert, dass die Familie für die Kinder faktisch sehr prägend sei, dass die Familienerziehung deshalb aber auch besonders wirkungsvoll (und positiv) sei und dabei die sich daraus ergebende besondere Bedeutung der Familie im Erziehungsprozess und damit in der Gesellschaft unterstrichen.213 Dabei wird sich immer wieder auf die Pädagogik Makarenkos bezogen. Die Familie sei im Erziehungsprozess von so großer Bedeutung, da das Kind in sie hineingeboren werde und die Familie dem Kind Grundhaltungen und Einstellungen vermittelt.214 Die Familienerziehung wurde also als stark rechtfertigungsbedürftig gesehen. Im Kommentar von 1982 wurde sogar extra ein neuer Gliederungspunkt geschaffen. Dieser lautete folgendermaßen: „Besonderheiten, die [der Familie] besonders günstige Möglichkeiten zur Erziehung geben“.215 Dieser Gliederungspunkt offenbart charakteristisch einerseits wieder den hohen Begründungsaufwand welcher betrieben wurde um zu zeigen, dass die Erziehung durch die Familie besonders gut sei, gleichzeitig aber durch die Verwendung des Begriffs „Besonderheiten“, wie selbstverständlich die Familie lediglich als einer von vielen Erziehungsträgern betrachtet wurde. bb) Erziehungsrecht gemäß den Kommentierungen zu § 42 FGB In den Kommentierungen ab 1970 wird dann auch unter „elterlicher Erziehung“ die „Gesamtheit der elterlichen Rechte und Pflichten, die zur Sicherung des Anteils der Familie an der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes von den Eltern wahrgenommen werden“ definiert216 und der Begriff „Erziehungsrecht“ als hierfür spezifischer und gleichbedeutender familienrechtlicher Begriff benannt217. Mit der gewählten Formulierung „Sicherung des Anteils der Familie“ wird wiederum unterstrichen, dass die Familie bei der Persönlichkeitsentwicklung und Erziehung der Kinder nur einer von vielen Akteuren sei. Vor allem wird damit aber offengelegt, dass das Erziehungs“recht“ der Eltern faktisch im Sinne einer Erziehungs“aufgabe“ der Eltern verstanden wurde, da sich das Erziehungsrecht in der rein faktischen Aus213

Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 159 ff., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 178 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 127 ff. 214 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 201 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 181. 215 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 128. 216 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 127. 1982 dann aber schon mit dem Hinweis auf alleinstehende Mütter und Väter, so z.B. in § 45 FGB. 217 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179. Der Begriff „Erziehungsrecht“ wird bspw. in § 45 FGB verwendet.

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übung der elterlichen Erziehung erschöpfte. Hieran wurden zahlreiche Pflichten geknüpft. Es existierte daher – im Einklang mit den schon im Zusammenhang mit der Verfassung der DDR gemachten Feststellungen – nicht etwa ein vor staatlichen Eingriffen geschütztes Erziehungsrecht im bürgerlich-rechtlichen Sinne. Zugleich waren die Inhalte dieser Erziehung normiert. Insofern schlägt sich die schon erwähnte formale Differenzierung zwischen dem pädagogischen Begriff der „Familienerziehung“ und dem juristischen Begriff des „Erziehungsrechtes“ auch inhaltlich nieder: der Begriff der „Familienerziehung“ umfasst lediglich die tatsächliche Erziehung des Kindes in der Familie, wohingegen der Begriff des Erziehungsrechts beschreibt, dass die Eltern berechtigt (und verpflichtet) sind, ihren Anteil an der Erziehung im Sinne des sozialistischen Erziehungszieles zu erbringen. Das Erziehungsrecht ist hierbei mit der „elterlichen Erziehung“ deckungsgleich, jedenfalls solange die Eltern das Erziehungsrecht innehaben.218 Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass sich die bereits i.R.d. § 3 FGB getroffene Feststellung, dass sich das Erziehungsrecht der Eltern vor allem in der Umsetzung des sozialistischen Erziehungsziels erschöpft, bei der Einordnung des § 42 FGB fortsetzt. In § 42 FGB selbst und in den Kommentierungen dazu wird eine noch detailliertere Beschreibung des „richtigen“ pädagogischen Vorgehens vorgegeben.219 Die bei der Beschreibung des § 42 FGB immer wieder verwendeten anderen Differenzierungen und verwissenschaftlichen Kategorien (es wird neben dem normierten Begriff des Ziels der Erziehung220 auch von „Aufgaben der elterlichen Erziehung“221, „Prinzipielle[n] Hinweise[n] für die Gestaltung des Erziehungsprozesses“222, „Erziehungsziel[en] und Anforderungen an die Eltern“223, sowie von „Bedingungen für die elterliche Erziehung“224 gesprochen) erschweren das Verständnis des § 42 FGB und führen dazu, dass er nicht auf den ersten Blick greifbar ist. In diesem Zusammenhang fällt besonders auf, dass nur 1966 betont wird, dass § 42 FGB eine Zielstellung sei und grundsätzlich nicht mit staatlichem Zwang

218 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179. Dies muss nicht immer der Fall sein, vgl. bspw. § 52 FGB. 219 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 160 ff., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 200 ff., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 129 ff. Am ausführlichsten wird dies in den Jahren 1970 und 1973 getan. 220 Vgl. z.B. § 42 Abs. 2 FGB. 221 Vgl. z.B. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179. 222 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 127. 223 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 128. 224 Vgl. z.B. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 201 oder Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 180.

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verwirklicht werden könne; ein solcher Hinweis fehlt bereits 1970.225 Damit bleibt fraglich, ob man sich damit staatlichen Zwang zur Durchsetzung des sozialistischen Erziehungsziels vorbehalten wollte. Laut den Kommentierungen ab 1970 stehen im engen Zusammenhang mit § 42 FGB die §§ 43, 44 und 49 FGB226, welche ebenfalls inhaltliche Aussagen zum elterlichen Erziehungsrecht beinhalten sollen227. Dabei ist die Nennung des § 44 FGB (welcher sich ganz auf die Unterstützung der Eltern bei der Erziehung durch die staatlichen Organe bezieht) und des § 49 FGB (welcher v.a. die Erziehungspflichten der Eltern regelt und sich wiederum auf die Zusammenarbeit mit den staatlichen und gesellschaftliche Organen bezieht) in diesem Zusammenhang besonders interessant und als Hinweis darauf zu verstehen, dass unter dem Erziehungsrecht der Eltern vor allem auch ihre Erziehungspflicht sowie das Recht verstanden wurde, staatliche Hilfe zu fordern. Insofern wird, insbesondere durch die Nennung der §§ 44 und 49 FGB ab 1970 (wie später noch gezeigt werden wird228) bereits mit § 42 Abs. 4 FGB – eine Rechtsgrundlage zumindest für staatliches Tätigwerden normiert, sofern die Eltern dies zulassen. In gleicher Weise ist daher auch § 3 FGB als Rechtsgrundlage für staatliche Tätigkeit zu betrachten und es zeichnet sich ab, dass das sozialistische Recht an vielen Punkten nur schwer danach zu differenzieren ist, ob es um die Normierung der Elternrechte bzw. der Erziehung der Kinder geht, oder um Rechtsgrundlagen der staatlichen Tätigkeit. Dies ergibt sich automatisch aus dem Postulat der gesamtgesellschaftlichen Erziehung. Zwischenfazit zu § 42 FGB § 42 FGB knüpft mit seinem Wortlaut an Art. 38 Verfassung der DDR sowie die Grundsätze des FGB an und normiert sehr detailliert sowie abschließend das sozialistische Erziehungsziel einschließlich der Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen der Erziehenden und der expliziten Erziehungsinhalte (vgl. Wortlaut). Durch die ausdrücklich formulierte Vorbildfunktion der Eltern wendet sich das Gesetz auch direkt an die Eltern und fordert von ihnen eine dementsprechende Persönlichkeitsentwicklung. Laut den Kommentierungen ergibt sich das umfassende Erziehungsziel aus den gemeinsamen Grundinteressen von Familie und Gesellschaft. Wie die Erziehung auszusehen hat, wird dabei von Auflage zu Auflage immer mehr und mit Verweisen auf die sozialistische Pädagogik ausdifferenziert und die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Gesellschaft zunehmend betont. Gleichzeitig steigen die Erwartungen an die Eltern.

225 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 161. Auf diesen Punkt wird unter 1. Kapitel, B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe noch ausführlicher eingegangen werden. 226 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 127. 227 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 127. 228 Vgl. 1. Kapitel, C. 1. 3. Auslegung der §§ 49 und 50 FGB anhand des FGB-Kommentars.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

b) § 43 FGB Mit § 43 FGB werden schließlich sehr konkrete Rechte und auch Pflichten der Eltern normiert: § 43 FGB „Zu den Rechten und Pflichten der Eltern gehören auch die Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes, seine Betreuung, seine Beaufsichtigung, seine rechtliche Vertretung, das Recht, seinen Aufenthalt zu bestimmen, die Pflicht, für seinen Unterhalt zu sorgen und erforderlichenfalls Vermögensangelegenheiten des Kindes in seinem Interesse zu regeln. Die Eltern können Rechte des Kindes im eigenen Namen geltend machen.“

Gemäß des Gesetzeswortlautes oblag grundsätzlich den Eltern als Erziehungsberechtigten gem. §§ 45 und 46 FGB die Wahrnehmung dieser Rechte229 und Pflichten, jedoch konnten einzelne Pflichten den Eltern oder einem Elternteil auch ohne das Erziehungsrecht obliegen, ebenso dem Ehegatten des Erziehungsberechtigten, vgl. § 47 FGB.230 Nicht erziehungsberechtigt waren Eltern in den Fällen des § 52 FGB, nach Entzug des Erziehungsrechtes gem. § 51 FGB, nach Einsetzung eines Pflegers gem. § 104 FGB sowie dann, wenn ihnen das Erziehungsrecht grundsätzlich nicht zustand, so z.B. gem. § 46 Abs. 1 S. 1 FGB, oder dem Elternteil, welchem nach der Scheidung das Erziehungsrecht nicht übertragen wurde. In den Kommentierungen wurden diese Rechte und Pflichten in engem Zusammenhang mit den Zielen und Aufgaben der elterlichen Erziehung gem. § 42 FGB gesehen und zur dort definierten „elterlichen Erziehung“ gezählt.231 Sie sollten der ungestörten Entwicklung des Kindes, dem Schutz seiner Person und seiner Interessen dienen.232 Damit rückt § 43 FGB die individuellen Interessen des Kindes in den Vordergrund; dies jedoch erneut unter der Prämisse der Kongruenz mit den gesellschaftlichen Interessen des § 42 FGB. Im Folgenden wird dargestellt, wie die einzelnen Varianten des § 43 FGB nach den Kommentierungen zum FGB ausgelegt wurden:

229

Zur Verwendung dieses Begriffes vgl. unten unter Zwischenfazit zu § 43 FGB. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 167, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 203. Identisch im Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 182 (vgl. auch Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 131). 231 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 203, ebenso Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 182. Inhaltlich ähnlich im Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 131. Im Kommentar von 1966 wird hierzu nichts erwähnt (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164 ff.). 232 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 203 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 182. Dieser Satz fehlt jedoch im Kommentar von 1982. Auch im Kommentar von 1966 wird hierzu nichts erwähnt (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164 ff.). 230

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aa) Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes, § 43 S. 1 FGB Hierunter wurde laut der Kommentierung die Befriedigung der materiellen sowie der „kulturellen“233 Bedürfnisse des Kindes verstanden.234 Die Aufwendungen hierfür wurden vor allem in §§ 12 und 52 Abs. 4 FGB genauer geregelt. Lebte das Kind getrennt von den Eltern, schuldeten diese zur Befriedigung seiner Bedürfnisse Unterhalt, vgl. §§ 19 und 46 Abs. 1 FGB; diese Unterhaltspflicht bestand unabhängig vom elterlichen Erziehungsrecht (vgl. beispielsweise §§ 25 Abs. 1, 26 Abs. 3, 51 Abs. 2 und 52 Abs. 4 FGB) und deren Verletzung konnte gem. § 141 StGB der DDR235 strafrechtlich geahndet werden.236 Die Pflicht, die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen oder Unterhalt zu zahlen erlosch also auch nicht bei der Übertragung des Erziehungsrechtes auf andere Personen.237 Im Falle der Adoption erloschen die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Kind und den leiblichen Eltern und damit auch die Unterhaltspflicht; zwischen dem Annehmenden und dem Angenommenen entstanden neue Rechtsbeziehungen wie zwischen Eltern und leiblichem Kind, vgl. §§ 66, 73 Abs. 1 FGB.238 bb) Betreuung und Beaufsichtigung des Kindes, § 43 S. 1 FGB Betreuung und Beaufsichtigung sollten als untrennbare Bestandteile des Erziehungsprozesses inhaltlich vom Erziehungsziel bestimmt sein, sodass diesbezüglich an viele der Vorgaben des § 42 FGB angeknüpft wurde.239 Die erziehungsberechtigten Eltern konnten diese Pflichten übertragen, hatten aber auch weiterhin die Verantwortung zu überprüfen, ob die Person hierfür geeignet war.240 Konnte ein Elternteil gem. § 52 FGB das Erziehungsrecht nicht ausüben bzw. war es ihm gem. § 51 FGB entzogen worden, so oblag ihm dennoch die Betreuung und 233 Im Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164 wird auf § 46 Abs. 1 FGB verwiesen, in dessen Satz 2 von den „kulturellen Lebensbedürfnissen“ des Kindes gesprochen wird; in keiner Auflage der Kommentare wird näher bestimmt, was darunter zu verstehen sei. 234 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 203, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 182 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 131. 235 § 141 StGB der DDR („Verletzung der Unterhaltspflicht“) blieb unverändert in seiner Fassung von 1968. 236 Vgl. auch Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 204, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 183 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 131. 237 Vgl. auch Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 167. 238 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 167. 239 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 204, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 183 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 131. 240 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 204 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 183 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 131.

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Beaufsichtigung des Kindes, sobald es in seiner Obhut war241, vgl. bspw. § 52 Abs. 4 FGB; ebenso verhielt es sich im Falle des Umgangsrechts gem. § 27 FGB nach Scheidung242. Wuchs das Kind außerhalb des elterlichen Heims auf, wandelten sich dagegen Inhalt und Umfang der Pflicht für die erziehungsberechtigten Eltern.243 cc) Betreuung Der Begriff der Betreuung wurde im Sinne des Erziehungsziels sehr weit verstanden und daher auch direkt an die pädagogischen Vorgaben aus § 42 FGB angeknüpft:244 […] die Kinder [sind] zu geistig und moralisch hochstehenden, körperlich gesunden Persönlichkeiten zu erziehen“245. Abermals wurde betont, dass die Betreuung (als wichtiger Teil der Erziehung) eine psychische, moralische und physische Seite aufweise246 und dass die Eltern, um dieser pädagogischen Aufgabe gerecht zu werden, entsprechende Bedingungen schaffen müssten, um die Kinder altersgerecht zu betreuen und für ihr gesamtes Leben die richtigen Grundlagen zu schaffen.247 Ausdrücklich erwähnt wurde die Pflege des Kindes, u.a. von der gesunden Ernährung, Kleidung und Hygiene bis hin zur Sorge für die Gesundheit des Kindes;248 aber auch die altersgerechte Gestaltung des Tagesablaufs und zweckmäßige Freizeitgestaltung, das Gespräch mit dem Kind, die Inspiration des Kindes zu Kunst und

241 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164 und 167. Im Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 204, dem Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 183 und dem Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 131. Im Kommentar von 1982 heißt es allerdings „[…] obliegt ihm dennoch die Betreuung, wenn er mit dem Kind zusammenlebt“. (vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 131). 242 Vgl. außerdem auch die Mitwirkung des Ehegatten gem. § 47 FGB. Für die rechtliche Vertretung, die Regelung der Vermögensangelegenheiten und die Bestimmung des Aufenthaltsrechtes des Kindes war dagegen das Erziehungsrecht erforderlich, vgl. unten unter (f) Regelung der Vermögenangelegenheiten des Kindes sowie (g) Bestimmung des Aufenthaltes des Kindes. 243 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164. 244 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43 S. 203. 245 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164. 246 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 204 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 183. 247 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132. 248 Hierzu gehörten laut des Kommentars von 1973 auch diverse Meldepflichten bzgl. übertragbarer Krankheiten und auch bzgl. Körperbehinderungen etc. (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 183 f.).

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Kultur und die Sorge für die Einhaltung der (Oberschul- und Berufs-)Schulpflicht wurden genannt.249 Betreuung und Beaufsichtigung wurden als zwei ineinander übergehende Pflichten gesehen, beispielsweise im Falle der Kontrolle der Erfüllung der von den Eltern und der Schule auferlegten Pflichten.250 dd) Beaufsichtigung Die Beaufsichtigung wurde in unmittelbarem Zusammenhang mit der Betreuung gesehen, denn durch die Beobachtung des Kindes, seines Verhaltens und seiner Leistungen sollten die Eltern das Kind zielgerecht lenken und beeinflussen können.251 Insofern wurde unter Beaufsichtigung ab 1970 ein pädagogisches Instrument gesehen, welches sich nicht nur in der Aufsichtspflicht der Eltern nach heutigem Verständnis erschöpfte, sondern wieder dem Erziehungsziel dienen sollte.252 Zentraler Aspekt blieb aber die Aufsichtspflicht entsprechend dem bürgerlichrechtlich Verständnis, also der Schutz des Kindes vor Gefahren sowie die Bewahrung anderer Bürger vor Schaden, welchen das Kind verursachen könnte: „Durch die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht soll das Kind befähigt werden, sich allgemein nach den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verhalten“253, beispielsweise im Straßenverkehr.254 Die Verletzung der Aufsichtspflicht konnte auch zur zivil- sowie strafrechtlichen Verantwortlichkeit führen255 ; die Jugendschutzordnung enthält weitere diesbezügliche Vorgaben.256 249

Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 164 f., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 204, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 183 sowie Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132. 250 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 165. 251 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205, ebenso im Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132. 252 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132. 1966 wurde die ausdrückliche Erwähnung der Beaufsichtigung in § 43 FGB noch lediglich als Anknüpfungspunkt für die Anwendung entsprechender zivil- und strafrechtlicher Vorschriften wie z.B. § 823 BGB gesehen. 253 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205. Wortgleich im Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184 sowie fast wortgleich im Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132. 254 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132. 255 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 165, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132. Die Erfüllung der Aufsichtspflicht der Eltern sollte dabei immer in Gesamtschau mit den sonstigen elterlichen Erziehungspflichten gesehen werden und weder einerseits zu einem einzelnen Zeitpunkt zu unzumutbaren Forderungen an die Eltern führen, noch andererseits isoliert nur die Beaufsichtigung bei einem

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ee) Rechtliche Vertretung des Kindes Die rechtliche Vertretung (oder auch „gesetzliche Vertretung“, vgl. z.B. §§ 55 Abs. 1 und 104 Abs. 3 FGB) bedeutet, soweit dieser dabei ausdrücklich vertreten werden muss257, die Wahrnehmung aller persönlichen und vermögensrechtlichen Angelegenheiten des Minderjährigen bereits vor seiner Geburt und bis zu seiner Volljährigkeit.258 Sie wird durch die Erziehungsberechtigten wahrgenommen und 1973 so definiert, dass sie zur Ausübung des Erziehungsrechts gehört und der Entwicklung des Kindes entsprechend dem Erziehungsziel und der Wahrnehmung seiner Interessen dient.259 Die Erziehungsberechtigten können sich selbst vertreten lassen (§ 164 BGB); im eigenen Namen können aber nur sie selbst die Rechte des Kindes geltend machen.260 Die Vertretungsbefugnis ist hierbei durch § 50 FGB beschränkt, vgl. insbesondere § 50 S. 2 FGB.261 Bei Verhinderung und Interessenkollision galten § 104 FGB und § 181 BGB.262 Bei rechtserheblichen Handlungen, welcher der Minderjährige selbst vornahm, beispielsweise dem Abschluss eines Lehrvertrages für das Kind, trat der Erziehungsberechtigte laut der Kommentierung zum FGB von 1970 im Rahmen seiner Vertretungsmacht neben dem Kind auf.263 Ab 1973 wurde dies als eine Mitwireinzelnen Geschehnis überprüft werden, sondern immer in Bezug auf den gesamten Erziehungsprozess gesehen werden. (Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 165, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132.) 256 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184. 257 Vgl. §§ 104 ff. BGB. 258 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 165 f., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132 f. 259 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184. Die Wahrnehmung der Interessen des Kindes wird auch im Kommentar von 1982 erwähnt (vgl. Kommentar zum FGB der DDR, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132). 260 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133. Ab 1976 löste allerdings das Zivilgesetzbuch der DDR das BGB ab. 261 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 166, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 206, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133. 262 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 166, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 206, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132 f. 263 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 205 f. Laut des Wortlauts des Kommentars von 1966 wurde ein Lehrvertrag für das Kind noch allein durch den Erziehungsberechtigten abgeschlossen (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 165).

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kungspflicht des Erziehungsberechtigten bezeichnet, welche ebenfalls im Zusammenhang mit seinen Erziehungsaufgaben stehen sollte; diese Mitwirkung war meist als Zustimmung des rechtlichen Vertreters ausgestaltet.264 Die neue Begrifflichkeit der Mitwirkungspflicht aufgrund der Erziehungsaufgaben sollte wohl die Verantwortlichkeit der Erziehungsberechtigten bei der Erfüllung seiner Erziehungsaufgaben unterstreichen. ff) Regelung der Vermögensangelegenheiten des Kindes Die elterliche Aufgabe der Regelung der Vermögensangelegenheiten des Kindes wurde 1966 definiert als Verwaltung des Vermögens des Kindes und die Verfügung über dieses.265 Auch die Regelung der Vermögensangelegenheiten oblag den Erziehungsberechtigten.266 Als Maßstab sollten hierfür allein die Interessen des Kindes herangezogen werden und es wurde in allen Auflagen des Kommentars ausdrücklich betont, dass durch das Gesetz hierfür keine Vorgaben gemacht würden.267 Es galten hierfür jedoch die Bestimmungen der §§ 823 ff. BGB (Haftung für unerlaubte Handlungen) sowie außerdem § 50 FGB.268 Gem. § 12 FGB konnte das Kind an den Aufwendungen für die Familie beteiligt werden. gg) Bestimmung des Aufenthalts des Kindes „Das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen, steht nur den Erziehungsberechtigten […] zu“269, vgl. auch § 45 Abs. 5 FGB, kann aber wiederum gem. § 50 FGB eingeschränkt werden.270 Diese sollen den Aufenthalt des Kindes nicht willkürlich, sondern stets nur in Abhängigkeit von seiner Erziehung und Entwick-

264 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 184 ff., Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 132 f. 265 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 166. 266 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 207 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185. Die im Zusammenhang mit der rechtlichen Vertretung gemachten Ausführungen treffen auch hier zu (vgl. z.B. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133). 267 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 166, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 206, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133. 268 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 166, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 206, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133. 269 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 206 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185. 270 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 166, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 207, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 186 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133.

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lung bestimmen.271 Ab 1970 wurde angenommen, dass das Kind grundsätzlich bei den erziehungsberechtigten Eltern lebt.272 Wenn sie nicht in der Lage seien, das Kind selbst zu erziehen und zu betreuen, könnten sie (entsprechend den Ausführungen zur Betreuung und Beaufsichtigung) andere Personen damit beauftragen; auch eine Veränderung des Aufenthaltsortes sei zulässig.273 Ab 1973 wurde hinzugefügt, dass dies – auch bei vorübergehender Unterbringung – dem Wohl des Kindes nicht widersprechen dürfe.274 Zwischenfazit zu § 43 FGB Nachdem § 42 FGB sehr moralisch und ideell geprägt ist sowie die Kommentierungen zu § 43 FGB sehr pädagogisch sind, regelt § 43 FGB ganz konkret die Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes. Das allgemeine Erziehungsziel des § 42 FGB wird an dieser Stelle auf die elementaren Erziehungsaufgaben der Eltern heruntergebrochen und im rechtlichen Sinne definiert. Unter den Prämissen des generell eigenen sozialistischen Verständnisses des Erziehungsrechtes ist § 43 FGB ein gutes Beispiel dafür, dass das FGB in bestimmten Teilgebieten ähnlich der bürgerlich-rechtlichen Normen ausgestaltet war. Aufgrund des ideologisch völlig anderen Kontextes hat § 43 FGB aber dennoch eine andere Bedeutung und ist mehr als Ausgestaltung einzelner Pflichten zu verstehen: § 43 FGB normiert die „Rechte“, welche es braucht, um die Aufgaben und Pflichten der Erziehung im Sinne der sozialistischen Erziehungsvorstellung (gut) erfüllen zu können. Es handelt sich um das absolute Minimum an Rechten bzw. besser gesagt: Kompetenzzuweisungen für die Eltern, um ihren Pflichten gerecht werden zu können, welche in einem rein „technischen“ Katalog aufgeführt sind. In Bezug auf die Kommentare zu § 43 FGB fällt auf, dass die Kommentierungen über alle Auflagen hinweg nahezu identisch sind. Die Ausführungen des Kommentars von 1966 sind zwar noch etwas umfassender und dafür 1982 leicht gekürzt, inhaltlich gibt es aber so gut wie keine Veränderungen. Insbesondere die Auflagen von 1970 und 1973, und zum größten Teil auch von 1982, sind in den meisten Passagen wortgleich. Diese große Kontinuität könnte daran liegen, dass die Inhalte 271 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 206. Wortgleich Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 und inhaltlich ähnlich unter Nennung des „Wohl[es] des Kindes“ Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133. 272 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 206, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133. 1966 wurde noch deutlich formuliert, dass die Eltern bestimmen würden, „[…] ob das Kind außerhalb des gemeinsamen ehelichen Haushalts und gegebenenfalls bei wem es unterzubringen ist […]“ (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 166). 273 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 43, S. 166, vor allem aber Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 43, S. 206 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133. 274 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 43, S. 185 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 43, S. 133.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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des § 43 FGB zu einem der Bereiche gehören, welche wenig ideologisch gefärbt sind und aus praktischen Notwendigkeiten heraus ent- und bestanden. c) § 49 FGB § 49 FGB ist zwar bereits unter dem Unterabschnitt „Erziehungshilfe, Entzug und Ausschluß des elterlichen Erziehungsrechts“ eingeordnet (§§ 49 – 53 FGB), also einem Abschnitt, welcher seiner Bezeichnung nach bereits Rechtsgrundlagen für Interventionen schafft. Von seinem Wortlaut her wendet er sich jedoch auch direkt an die Eltern und konkretisiert damit auch ihre Erziehungsaufgaben, sodass er im Rahmen der Konkretisierung des sozialistischen Erziehungsverständnisses noch näher beleuchtet werden soll: § 49 FGB Abs. 1 „Die Verantwortung der Eltern für die moralische, geistige und physische Entwicklung ihres Kindes stellt an sie hohe Anforderungen. Sie sollen danach streben, ihre für die Erziehung und Pflege der Kinder erforderlichen Kenntnisse zu erweitern und die dafür vorgesehenen staatlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen.“ Abs. 2 „Bei Schwierigkeiten in der Erziehung ihrer Kinder können sich die Eltern vertrauensvoll an die Einrichtungen der Vorschulerziehung und des Gesundheits- und Sozialwesens, die Schule, den Elternbeirat, die Organe der Jugendhilfe, die gesellschaftlichen Organisationen und Kollektive oder die Ehe- und Familienberatungsstellen wenden und deren Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen.“

§ 49 Abs. 1 FGB stellt vom Wortlaut her teilweise eine inhaltliche Wiederholung des § 42 FGB dar: Betont wird, dass die Eltern ihre Kenntnisse für die Erziehung erweitern und die staatlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten nutzen sollen (vgl. insbesondere § 42 Abs. 2 FGB). Inhaltlich greift § 49 Abs. 1 FGB mit seinem zweiten Satz auch § 42 Abs. 4 FGB sowie § 44 FGB275 auf, indem er die Eltern auffordert, die vorgesehenen staatlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen, um ihre Kenntnis im Hinblick auf die Kindererziehung zu erweitern. Hierin kann ebenfalls eine Rechtsgrundlage für staatliche Tätigkeit im Bereich der Familie gesehen werden, wie es schon im Zusammenhang mit § 42 Abs. 4 FGB ausgeführt wurde, auch wenn hierfür vorausgesetzt wird, dass sich die Eltern der staatlichen Möglichkeiten bedienen. Dies wird auch in den Kommentierungen angedeutet: die geforderte Aktivität der Eltern gem. § 49 FGB stehe auf der einen Seite im engen Zusammenhang mit den Aufgaben, Rechten und Pflichten der Eltern gem. §§ 42 und 43 FGB sowie zum

275 Da sich § 44 FGB direkt an die staatlichen Organe wendet, wird er behandelt unter: 1. Kapitel, B. I. 2. Staatliche bzw. gesellschaftliche Tätigkeit anhand der §§ 4 und 44 FGB.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

anderen mit den Aufgaben und Pflichten der staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte gem. § 44 FGB.276 Es wird betont, dass die bewusste und zielgerichtete Familiengestaltung im Hinblick auf die bestmögliche Förderung der Entwicklung der Kinder Aufgabe der Eltern sei277, für welche Erfahrungen aus dem eigenen Elternhaus meist nicht ausreichend seien278. Die Ursachen für mangelnden positiven Einfluss sowie für schwere Erziehungsfehler werden in der mangelnden Kenntnis über die Anforderungen an die Erziehung sowie der passenden Erziehungsmethoden im Hinblick auf das sozialistische Erziehungsziel gesehen (1966 wurde dagegen noch ganz allgemein von „Zielstellung“279 gesprochen).280 Dass die Eltern pädagogische Grundkenntnisse erwerben wurde daher als Notwendigkeit gesehen.281 Im zweiten Absatz des § 49 FGB geht es gemäß des Wortlautes erstmalig um die einzelne Familie sowie auch um Erziehungsschwierigkeiten; bei solchen „können“282 die Eltern Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, vgl. § 49 Abs. 2 FGB. Hier wird schließlich deutlich, dass es sich bei § 49 FGB – zumindest mit seinem zweiten Absatz – um die erste Rechtsgrundlage für staatliche Interventionen in die Familie handelt und dabei angeknüpft wird an die Inanspruchnahme staatlicher bzw. gesellschaftlicher Hilfe durch die Eltern. Inhaltlich wird ein Bezug zu den staatlichen Aufgaben gem. § 44 FGB gezogen.

276 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. Auch im Kommentar von 1966 wird auf die §§ 42 und 44 FGB verwiesen (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183, jedoch ohne von einer „geforderten Aktivität der Eltern zu sprechen“). 277 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. 278 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183: „In diesen Erfahrungen liegt oft viel Wertvolles, aber sie genügen nicht mehr“. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203: „In diesen Erfahrungen liegt oft viel Wertvolles, aber sie allein genügen meistens nicht“. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144: „[…] die vom eigenen Elternhaus vermittelten Erfahrungen reichen allein nicht aus […]“. 279 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183. 280 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. 281 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. 282 Auf den Wortlaut „können“ in § 49 Abs. 2 FGB, welcher eine Optionalität sowie Freiwilligkeit für die Eltern normiert, wird später noch näher eingegangen werden.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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Zwischenfazit zu § 49 FGB Es zeigt sich daher erneut, dass das FGB als organisatorisches Gesetz für die Verteilung der Aufgaben bzw. Zuständigkeiten zwischen den Eltern und der sozialistischen Gesellschaft in Bezug auf die Kindererziehung gesehen wurde und dass dies wegen des gesamtgesellschaftlichen Erziehungsideals kaum getrennt dargestellt werden kann. So richten sich einzelne Normen oft sowohl an die Eltern als auch an den Staat bzw. die sozialistische Gesellschaft zugleich. § 49 FGB und insbesondere sein zweiter Absatz wird daher im Bezug auf die Rechtsgrundlagen für Interventionen der Jugendhilfe noch ausführlich analysiert werden, da mit diesem die erste Rechtsgrundlage für Interventionen normiert wird.283 d) Fazit zu den §§ 42, 43 und 49 FGB Mit den §§ 42, 43 FGB sowie den zugehörigen Kommentierungen wird das sozialistische Erziehungsziel genau normiert. Gem. § 42 FGB wird die Vorstellung, auf welche Art und Weise der sozialistische Erziehungsprozess vonstatten gehen sollte ausgeführt sowie gem. § 43 FGB sehr konkrete Rechte und Pflichten der Eltern ausgestaltet: die Kinder sollen im Sinne des sozialistischen Humanismus erzogen werden; hierfür werden den Eltern konkrete Rechte zur Erziehung im Sinne dieses Zieles zugestanden. Der Familien- und Erziehungsbegriff wird damit abschließend und sehr detailreich konkretisiert. Aus § 43 FGB ergibt sich ein Minimum an Rechten der Eltern, welche für die Ausübung ihrer Pflichten aus dem sozialistischen Erziehungsziel erforderlich sind. Da diese Vorschriften des § 43 FGB in erster Linie dem zivilrechtlichen Familienrecht angehörig sind, berühren sie das Verhältnis zwischen Bürger und Staat nur indirekt und sind vermutlich aus praktischen Notwendigkeiten entstanden. Dass § 43 FGB konkrete Rechte normiert, stellt die bisher gemachten Aussagen im Rahmen der anderen Normen daher nicht in Frage. § 49 FGB bekräftigt mit seinem ersten Absatz die Verantwortung der Eltern gegenüber den Kindern sowie ihre Verantwortung die staatlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Mit seinem zweiten Absatz sowie der Stellung der Norm im Abschnitt „Erziehungshilfe, Entzug und Ausschluß des elterlichen Erziehungsrechts“ wird eine Rechtsgrundlage für Interventionen der Jugendhilfe normiert. Daher wird auf § 49 Abs. 2 FGB im Rahmen der Normierung der staatlichen Tätigkeit nochmals genauer eingegangen werden. 3. Fazit zu den zentralen Normen des FGB Mit den analysierten Vorschriften des FGB sowie durch die zugehörigen Kommentierungen wird das sozialistische Familien- und Erziehungsverständnis im Vergleich zu den Normen der Verfassung der DDR detaillierter ausdifferenziert; dies 283 Vgl. unter 1. Kapitel, C. I. 3. Auslegung der §§ 49 und 50 FGB anhand des FGBKommentars.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

erfolgt insbesondere durch die §§ 42 und 43 FGB. Dabei basieren auch hier sämtliche Ausführungen auf der Annahme der Übereinstimmung der Interessen des Einzelnen bzw. der Familie mit den Interessen der Gesellschaft und des Staates. Hieraus folgt auch das in § 3 Abs. 2 FGB normierte Ideal der gesamtgesellschaftlichen Erziehung der Kinder. Dies wird durch die Legaldefinition der Familie in der Präambel des FGB besonders schön veranschaulicht: „Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft.“284 In den Kommentierungen lässt sich über die Auflagen hinweg feststellen, dass das Familien- und Erziehungsverständnis einem Wandel unterlag und mit der Auflage von 1982 besonderes offen der sozialistische Anspruch formuliert wurde. Wie bereits im Zusammenhang mit der Verfassung der DDR festgestellt, ergibt auch die Analyse der zentralen Normen des FGB kaum greifbare subjektive Rechte für die Eltern: aus den Grundsätzen des FGB ergeben sich weder direkte konkrete Rechte noch indirekte Rechte oder wenigstens klare Schranken für die Umsetzung des staatlichen Schutzes und der Förderung gem. § 1 FGB. Die Erziehungsaufgabe der Eltern gem. § 3 Abs. 1 FGB wird ebenfalls vor allem als Pflicht ausgelegt. Konkrete Rechte für die Eltern ergeben sich damit nur aus § 43 FGB. Die Regelungen des § 43 FGB sind primär dem zivilrechtlichen Familienrecht angehörig, also als horizontale Regelung unter den Bürgern, nicht als vertikale Regelung zwischen Bürger und Staat. Sie berühren das Verhältnis zwischen Bürger und Staat daher nur indirekt. § 43 FGB normiert vielmehr diejenigen „Rechte“, welche die Eltern zur Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben gem. § 3 Abs. 1 FGB und § 42 Abs. 1 FGB unbedingt benötigen und werden dafür immer im Hinblick auf das sozialistische Erziehungsziel ausgelegt. Insofern steht auch § 43 FGB in engem Zusammenhang mit den Aufgaben und Pflichten der Eltern aus dem sozialistischen Erziehungsziel. Wegen des Postulats der gesamtgesellschaftlichen Erziehung beschäftigen sich die Normen des FGB gleichzeitig auch immer und nicht trennbar von der Beschreibung der Familie und Erziehung mit der staatlichen Tätigkeit im Bereich der Familie, was sich besonders gut an § 49 FGB nachvollziehen lässt. Im Folgenden werden die gesamten im ersten Kapitel gewonnenen Ergebnisse bezüglich des Untersuchungsgegenstandes herausgearbeitet.

III. Zwischenergebnis: Normiertes sozialistisches Familienverständnis und Erziehungsideal sowie Gesellschafts- bzw. Staatsbegriff Als notwendige Voraussetzung für die Analyse von Interventionen der DDRJugendhilfe und deren Anlässe wurden zunächst die für den Untersuchungsgegenstand zentralen Begrifflichkeiten des sozialistischen Familien- und Erziehungsver-

284

Vgl. Abs. 1 S. 1 der Präambel des FGB.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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ständnisses sowie der sozialistische Gesellschafts- und Staatsbegriff in der DDR untersucht und an dieser Stelle zusammenfassend dargestellt. 1. Entwicklung der zentralen Begrifflichkeiten im Untersuchungszeitraum Um nachvollziehen zu können, ob die Auslegung der zentralen Begrifflichkeiten konstant war oder Veränderungen unterlag wurden die unterschiedlichen Auflagen des Kommentars zum FGB miteinander verglichen. Es wurde festgestellt, dass in Bezug auf alle Paragraphen der Text meist nur leicht überarbeitet wurde und strukturell relativ gleich blieb. Dabei weicht die Auflage von 1982 am stärksten von den übrigen Auflagen ab. Bei genauerer Analyse zeigte sich aber, dass scheinbar kleine Veränderungen des Textes im Ergebnis oft große Veränderungen in der Auslegung bedeuten. Die Veränderungen im Text sind deshalb besonders interessant und aussagekräftig, da sie offensichtlich sehr bewusst vorgenommen wurden. Dabei ähneln sich die Auflagen von 1960 und 1970 in der Regel sehr bzw. sind sogar wortgleich; die größten inhaltlichen Verschiebungen sind meistens zwischen den Auflagen von 1970 und 1973 feststellbar285. Die Auflage von 1982 beinhaltet meist nochmals eine herausstechend eigene Interpretation.286 Bei allen Ausführungen zum sozialistischen Verständnis von Begrifflichkeiten muss also mit einbezogen werden, dass es nicht das eine sozialistische Erziehungsverständnis gab, sondern dass dieses Schwankungen unterlag.287 Insgesamt zeigt sich jedoch über alle Normen hinweg eine klare Entwicklungstendenz: In der Auflage von 1966 wird noch stark auf bürgerlich-rechtliche Rechtskategorien der BRD Bezug genommen, meist indem (vermeintliche) Unterschiede herausgestrichen werden. So wird zum Beispiel in Bezug auf § 43 FGB extra betont, dass es in der DDR um alle Seiten der Persönlichkeitsentwicklung gehe und nicht nur um das körperliche Wohl.288 In den neueren Auflagen werden immer weniger Vergleiche mit dem Recht der BRD angestellt. 1982 werden dann – in der Regel erstmalig – Zitate von SED-Parteitagen aufgenommen sowie häufig die „Weltanschauung und Moral der Arbeiterklasse“ als Begründung aufgeführt289. Auch wird 285

Lediglich bei der Auslegung des § 42 FGB ist der Bruch schon von der Auflage von 1966 zu 1970 erkennbar (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 158 ff. und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 198 ff.). 286 Es ist davon auszugehen, dass sich auch die Auffassungen bzgl. der Grundrechte und -pflichten im Laufe der Zeit wandelten. Mangels weiterer Auflagen des Verfassungskommentars sowie zum Lehrbuch „Poppe u.a., Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft“ ist dies aber nicht nachprüfbar. 287 Auf welche historischen und insbesondere politischen Gründe diese Schwankungen zurückzuführen sind, wäre ein interessanter Untersuchungsgegenstand für weitere Forschungsarbeiten. 288 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42 FGB, S. 164 f. 289 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42 FGB, S. 129.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

nun zunehmend der Begriff der „kommunistischen Erziehung“ verwendet.290 Zudem ist auffällig, dass über die Auflagen hinweg immer mehr, besonders aber 1982, von einer Soll-Formulierung hin zu einer feststellenden Formulierung gewechselt wird291 und damit zum Ausdruck kommt, dass manche in den vorherigen Auflagen gemachten Zielvorgaben nun als erfüllt betrachtet werden. Gleichzeitig wird die Alternativlosigkeit des normierten Verhaltens unterstrichen. Damit wird 1982 das sozialistische Familien- und Erziehungsbild besonders kompromisslos formuliert und am klarsten herausgestellt. Durch die kontinuierliche und stimmige Entwicklung in Bezug auf alle Auflagen und Paragraphen entsteht der Gesamteindruck, dass Tendenzen, welche zuvor nur angedeutet wurden, hier nun offen ausformuliert werden. Dadurch ist eine Festlegung der Definition der sozialistischen Begrifflichkeiten möglich, auch wenn nicht zu jedem Zeitpunkt des Bestehens der DDR jeder Aspekt in gleicher Weise offen normiert wurde. Eine Kontinuität der Rechtsvorschriften über das Bestehen der DDR hinweg wird im Übrigen auch von Mannschatz betont.292 Die hier getroffenen Ausführungen bestätigen sich auch bei den weiteren untersuchten Rechtsvorschriften; daher wird im Folgenden auf diesen Aspekt nur erinnernd hingewiesen werden. 2. Sozialistischer Familienbegriff Der sozialistische Familienbegriff wurde durch Abs. 1 der Präambel des FGB legaldefiniert und mittels der Kommentierungen weiter präzisiert. Durch die Kommentare wurde die Zweigenerationenfamilie normiert und immer wieder betont, dass diese am besten kinderreich sein sollte. Ab 1973 wurde zunehmend der in Abs. 1 S. 2 der Präambel des FGB normierte Aspekt betont, dass diese Familie auf einer soliden Ehe gründen sollte293. Gemäß § 2 FGB aber wurde auch die Gleichstellung von Mann und Frau festgeschrieben und somit traditionelle Vorstellungen mit fortschrittlichen verbunden. Zunächst wird in den Kommentierungen immer wieder der emotionale Aspekt der Familie als Gefühlsgemeinschaft hervorgehoben.294 Mehr und mehr wird dies aber davon abgelöst, dass die Funktionen der Familie für die sozialistische Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt werden: Die Familie dient der Erziehung der Kinder und darüber hinaus der Heranziehung der sozialistischen Persönlichkeit. Auf diese Weise soll, wie auch gemäß der Legaldefinition des Abs. 1 der Präambel des FGB mit der 290

Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 16 oder zu § 42 FGB, S. 127 f. 291 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42 FGB, S. 127 ff. 292 Vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I. 293 Vgl. z.B. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 18 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zur Präambel, S. 15. 294 Vgl. auch Abs. 1 S. 2 der Präambel des FGB.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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Familie als „kleinste[r] Zelle der Gesellschaft“ symbolisiert wird, die sozialistische Gesellschaft geschaffen werden. Die Vorstellung von Ehe und Familie wurde daher immer auch eng verknüpft mit den Aufgaben der Bürger für die sozialistische Gemeinschaft. So zeigt sich, dass die faktisch überall existente Familie („Vater-Mutter-Kind“) durch das sozialistische Familienverständnis und dessen Verhältnis zur sozialistischen Gesellschaft dennoch eine ganz andere Bedeutung erfuhr und ganz neue Erwartungen an die Familie gestellt wurden: „Mit der sozialistischen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik entstehen Familienbeziehungen neuer Art. Die von der Ausbeutung freie schöpferische Arbeit, die auf ihr beruhenden kameradschaftlichen Beziehungen der Menschen, die gleichberechtigte Stellung der Frau auf allen Gebieten des Lebens und die Bildungsmöglichkeiten für alle Bürger sind wichtige Voraussetzungen, die Familie zu festigen und sie dauerhaft und glücklich zu gestalten. Harmonische Beziehungen in Ehe und Familie haben einen großen Einfluß auf die Charakterbildung der heranwachsenden Generation und auf das persönliche Glück und die Lebens- und Arbeitsfreude des Menschen.“295

Es kann somit von einem Leitbild der sozialistischen Familie gesprochen werden: „In der Deutschen Demokratischen Republik hat die Familie große Bedeutung.“296 In diesem Sinne wurde von allen Bürgern ein verantwortungsvolles Verhältnis zu Ehe und Familie erwartet.297 3. Sozialistisches Erziehungsverständnis Das sozialistische Erziehungsverständnis in der DDR ist geprägt von dem abschließend normierten Erziehungsziel. Dieses wird durch Art. 38 Abs. 3 Verfassung der DDR sowie § 3 Abs. 1 FGB und § 42 FGB legaldefiniert: Die Kinder sollen zu „[…] gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und allseitig gebildeten Menschen, zu aktiven Erbauern des Sozialismus […]“298 erzogen werden, mit einer „[…] sozialistischen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus.“299 Die Kinder sollen dabei die gesellschaftliche Entwicklung bewusst mitgestalten.300 Die Kommentierungen umschreiben diese gesetzliche Definition mit vielen Worten, im Endeffekt wird aber auch hierin lediglich der sozialistische Humanismus als Erziehungsideal beschrieben. 295

Vgl. Abs. 3 der Präambel des FGB. Vgl. Abs. 4 S. 1 der Präambel des FGB. 297 Vgl. § 1 Abs. 2 FGB. 298 Siehe § 3 Abs. 1 FGB. Sehr ähnlich auch in Art. 38 Abs. 4 Verfassung der DDR, jedoch sollten die Kinder noch zu „staatsbewussten Bürgern“ erzogen werden. 299 Siehe § 42 Abs. 2 FGB. 300 Vgl. § 42 Abs. 2 FGB. 296

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Auch auf welche Art und Weise der sozialistische Erziehungsprozess abzulaufen habe, wird gesetzlich durch die §§ 42, 43 und 49 FGB normiert und durch die Kommentierung weiter ausgeführt. Die Anweisungen sind dabei sowohl in Bezug auf das Verhalten der Eltern (vgl. § 42 Abs. 2 S. 2 HS. 1 FGB und § 49 FGB) als auch in Bezug auf genaue Erziehungsinhalte (vgl. beispielsweise § 42 Abs. 3 FGB) sehr konkret. In den Kommentierungen wird darüber hinaus noch auf sozialistische pädagogische Literatur verwiesen. Bemerkenswert ist dabei, dass sich alle Erziehungsinhalte indirekt auch an die Eltern richten, da diese ausdrücklich mit einer Vorbildfunktion vorangehen sollten.301 Die Allgemeingültigkeit des Erziehungszieles sowie des Erziehungsprozesses fußt auf der unterstellten Interessengleichheit zwischen Familie und Staat, welches einer der zentralsten Aspekte des sozialistischen Familienrechts ist und sich bereits aus Art. 38 Verfassung der DDR ergibt. Wegen der Interessengleichheit und dem gemeinsamen Erziehungsziel wurde, insbesondere gem. § 3 FGB und § 42 Abs. 4 FGB, darüber hinaus die Zusammenarbeit von Familie und Staat bzw. Gesellschaft normiert: die Eltern sollten in „[…] vertrauensvollem Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen […]“ (§ 3 Abs. 1 S. 2 FGB) die Kinder im Sinne des Erziehungsziels erziehen; die Kinderziehung wurde als „[…] Aufgabe und Anliegen der gesamten Gesellschaft“ (§ 3 Abs. 2 S. 1 FGB) betrachtet. Gem. § 42 Abs. 4 FGB wird unter Zusammenarbeit konkret das Zusammenwirken der Eltern mit den aufgezählten Institutionen verstanden; laut der Kommentierung wechselte jedoch die Interpretation dessen, was unter der Zusammenarbeit überhaupt zu verstehen sei: „Unter sozialistischen Verhältnissen werden Bildung und Erziehung der Jugend immer stärker zum gesamtgesellschaftlichen Anliegen.“302 Ab 1973 wurde sogar einiger Begründungsaufwand betrieben, weshalb die Erziehung der Kinder in der Familie überhaupt erforderlich und richtig sei; dies erfolgt offenbar in Abgrenzung zur staatlichen bzw. gesamtgesellschaftlichen Erziehung. Daher stiegen die Erwartungen an die Erziehung der Eltern immer mehr und es stellt sich bei kritischer Analyse heraus, dass nicht nur von einem Grundsatz der Zusammenarbeit gesprochen werden kann, sondern dass die Eltern zur Zusammenarbeit gesetzlich verpflichtet waren. Die gesamtgesellschaftliche Erziehung der Kinder303 wurde also zu einem Ideal erhoben, welches der Schaffung des sozialistischen Menschen und damit der sozialistischen Gesellschaft dienen sollte.

301

Vgl. § 42 Abs. 2 S. 2 HS. 1 FGB. Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 178. 303 Auch Mannschatz betont die „Jugendförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). 302

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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4. Sozialistischer Staats- und Gesellschaftsbegriff Der sozialistische Gesellschaftsbegriff wird in allen analysierten Rechtsnormen vor allem in zwei unterschiedlichen Bedeutungsweisen verwendet: zum einen im Sinne einer bereits bestehenden vollendeten sozialistischen Gesellschaft, welche dem Ideal von Marx und Engels zu entsprechen scheint.304 Da alle im gleichen Interesse handeln, ist in dieser Gesellschaft weder ein Staat noch eine Machtausübung von oben mehr erforderlich.305 Zum anderen wird der Gesellschaftsbegriff im Sinne einer realsozialistischen Übergangsphase begriffen, in welcher noch ein Staat existiert, welcher die Funktion hat, die Gesellschaft zu einer vollkommenen sozialistischen Gesellschaft zu überführen. Letzteres wurde insbesondere anhand der Kommentierung zur Verfassung der DDR dargestellt, gilt in gleicher Weise aber auch für die Kommentierungen zum FGB. Im Laufe der Jahre wurde die Argumentation der Kommentierung zum FGB jedoch immer mehr darauf gestützt, dass die sozialistische Gesellschaft bereits erreicht sei. Aus dem zwischen realsozialistischer Wirklichkeit und dem sozialistischen Gesellschaftsideal mäandernden Gesellschaftsbegriff ergeben sich systematische Inkonsequenzen in der juristisch-theoretischen Auslegung: Zentrale Annahmen wie die Interessengleichheit von Eltern und Gesellschaft bzw. Staat bei der Kindererziehung, das einheitliche sozialistische Erziehungsideal, die neue sozialistische Familie oder auch die Vorbildfunktion der Eltern für die Kinder in allen Aspekten der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung entspringen dem sozialistischen Ideal und haben gleichzeitig die Funktion, diese direkt oder indirekt erst zu erschaffen. Dieser Zirkelschluss taucht an sehr vielen Stellen auf und wird zum Teil auch relativ offen benannt: „[…] die Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit [ist gleichzeitig] Ziel und Voraussetzung für die entwickelte sozialistische Gesellschaft […]“306. 5. Aufgaben statt Rechte für die Eltern Im Rahmen der Analyse von Art. 38 Verfassung der DDR hat sich herausgestellt, dass dieser nicht als geschütztes Erziehungsrecht nach heutigem Verständnis und auch nicht im Sinne einer Abwehrfunktion gegen staatliche Eingriffe zu verstehen ist, da im sozialistischen Recht von der Interessenübereinstimmung zwischen Familie und Staat bzw. Gesellschaft in Fragen der Erziehung ausgegangen wurde.307 Die Bürger sollten die normierten Grundrechte bzw. -freiheiten nutzen um an der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken. Damit sind die Grund304

Vgl. bspw. Raiser, Rechtssoziologie, S. 54 f. Vgl. insbesondere „Staats- und Gesellschaftsbegriff nach dem Verfassungskommentar“, aber auch „Sozialistische Idealgesellschaft“ i.R.d. Präambel des FGB sowie z.B. § 42 FGB. 306 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zur Präambel, S. 19. 307 Diese Interessengleichheit stellt das Gegenteil des bürgerlich-rechtlichen Dualismus zwischen Bürger und Staat dar, vgl. oben 1. Kapitel, A. I. 4. Fazit. 305

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

rechte bzw. -freiheiten, ähnlich wie die normierten Grundpflichten, ebenfalls als eine Art Gebot an die Bürger zu verstehen. Es ergeben sich daher aus der Verfassung der DDR kaum subjektive Rechte. Aus § 1 FGB sowie den zugehörigen Kommentierungen ergeben sich ebenfalls keine direkten Rechte und auch keine indirekten Ansprüche. Ab 1982 entfällt selbst die Aufforderung, die „[…] gewisse Eigen- und Selbständigkeit […]“ der Familie zu beachten,308 sodass auch keine Schranken für die staatliche Tätigkeit formuliert werden. Es existiert lediglich die allgemeine Zusicherung, dass die Existenz der Familie und ihrer Lebensbedingungen geschützt und sie in ihrer Entwicklung unterstützt werden soll. Aus den Gesetzen und Kommentierungen ergeben sich damit nur Erziehungs„aufgaben“ für die Eltern, wie es auch im Wortlaut des § 3 Abs. 1 FGB und des § 42 Abs. 1 FGB ausdrücklich heißt. An dieser Stelle wird nun deutlich, weshalb die Normen in der vorliegenden Arbeit nicht im Hinblick auf die „Rechte der Eltern“ analysiert wurden: Die Familie bzw. die Eltern sind nur einer von vielen Akteuren bei der Erziehung der Kinder. Erziehungs„rechte“ der Eltern werden nur im Sinne einer Erziehungs„aufgabe“ verstanden. Es wird lediglich die rein faktische Ausübung der Erziehung im Sinne des sozialistischen Erziehungsziels zugestanden womit gleichzeitig zahlreiche Pflichten und eindeutig normierte Erziehungsinhalte verbunden waren. Auch die Art und Weise des pädagogischen Vorgehens war durch § 42 FGB und seine Kommentierung detailliert normiert. Dass es sich aber nicht um Rechte der Eltern handelt, sondern lediglich um Aufgaben für die Eltern mit den entsprechenden minimalen Kompetenzen zu deren Erfüllung, wurde nicht offen ausformuliert, sondern durch komplizierte Formulierungen in den Kommentierungen lediglich angedeutet. Im Zusammenhang mit § 42 FGB wird darüber hinaus deutlich, dass ab 1970 auch staatlicher Zwang nicht mehr ausdrücklich ausgeschlossen wurde, um die Zielstellungen des Staates in Hinblick auf die Kindererziehung zu erreichen. Da § 42 FGB sehr umfassende Forderungen an die Eltern stellt, könnten fortan sämtliche „Aufgaben“ der Eltern mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden. Dass den Eltern gem. § 43 FGB konkrete Rechte zugestanden wurden steht zu dieser Feststellung nicht im Widerspruch; auch diese Rechte wurden in engem Zusammenhang mit den Zielen und Aufgaben der elterlichen Erziehung gem. § 42 FGB gesehen und auf diese Weise mithin als Pflichten interpretiert, diese „Rechte“ im Sinne des sozialistischen Erziehungsideals zu nutzen. Dass die „Rechte“ des § 43 FGB ein praktisch notwendiges Minimum zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse des Kindes darstellen, lässt sich nicht nur aus deren Inhalt folgern, sondern auch aus der auffällig großen Kontinuität in den Kommentaren zu § 43 FGB. Somit fügt sich auch § 43 FGB stimmig in das Bild der elterlichen Aufgaben.

308

So noch im Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27.

A. Familie und Erziehung in der Verfassung der DDR und im FGB

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Die vielfältige und langatmige Begründung bzw. Rechtfertigung, warum die Familie wichtig für das Kind und nicht durch die gesellschaftlichen Organisationen ersetzbar sei, obwohl sich in Familien „alte Muster“309 besonders hartnäckig halten würden und der Einfluss in die Familien nicht besonders groß sei, lässt den Rückschluss zu, dass die Eltern in Bezug auf ihre Kinder nicht als deren „Treuhänder“ angesehen wurden, sondern anders herum als „Treuhänder“ des Staates bzw. der sozialistischen Gesellschaft. Überspitzt kann also gesagt werden, das den Eltern nur einzelne „Rechte“ bzw. Kompetenzen zur Wahrnehmung spezifischer und genau definierter Erziehungsaufgaben im Sinne des sozialistischen Erziehungsziels zugestanden wurden, woraus sich gleichzeitig die Pflicht gegenüber dem Staat bzw. der Gesellschaft ergab, diese Aufgaben auch ordnungsgemäß zu erfüllen. Anders als in den Darstellungen von Warnecke und Arnold310 wurden den Eltern also keine Rechtspositionen zugestanden, sondern ihnen mehr und mehr lediglich „faktische Zuständigkeiten“311 zugesprochen, um Aufgaben im Allgemeininteresse zu erfüllen, welche aber nicht bzw. nicht hinreichend geschützt waren. „Privilegien“ dieser Art sind aber keine Rechte. 6. Fazit Hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes der Anlässe für Interventionen der Jugendhilfe in die Familie ergeben sich folgende erste Erkenntnisse: Es wurde das Objekt der Intervention, die normierte Familie im sozialistischen Verständnis, erarbeitet. Aus der Feststellung, dass für Eltern keine Rechte sondern vielmehr nur Aufgaben normiert waren, kann gefolgert werden, dass es in der DDR keine juristische Verankerung eines geschützten Raums der Familie in Form von subjektiven Rechten gab; weder die Verfassung der DDR noch das FGB wurden dazu geschaffen, Rechte von Eltern zu wahren. Wie eingangs angenommen, kann staatliche Tätigkeit sowie Interventionen der Jugendhilfe daher nicht vor dem Hintergrund des BRD-rechtlichen Modells von „Schutzbereich- Eingriff- Rechtfertigung“ betrachtet werden, da es bereits an der Existenz eines „sachlichen Schutzbereiches“ fehlt, in welchen eingegriffen werden könnte.312 Für die Interventionen der DDRJugendhilfe galten somit völlig eigene Grundannahmen und Voraussetzungen, welche in den folgenden Abschnitten weiter erarbeitet werden.

309

Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zur Präambel, S. 15. Vgl. Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR und Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR. 311 Dabei ist unter „Zuständigkeiten“ nicht die Begrifflichkeit i.S.d. öffentlichen Rechts der BRD zu verstehen mit ihren Implikationen (vgl. bspw. Sodan/Zielkow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 72 III, S. 550). 312 Vgl. Sodan/Zielkow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 24 I, S. 216 ff. 310

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Aus dem sozialistischen Erziehungsideal, der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe der Erziehung der Kinder in dessen Sinne sowie besonders aus der erzieherischen Funktion der Vorschriften auch gegenüber den Eltern und dem DDR-spezifischen Staats- und Gesellschaftsbegriff ergibt sich ebenfalls, dass das „öffentliche“ Familienrecht der DDR auf völlig eigenen Prinzipien beruhte. Aus der angenommenen Interessengleichheit zwischen Bürger und Staat und der fortschreitenden Etablierung des sozialistischen Rechts in der DDR folgte beispielsweise auch die Loslösung von der Vorstellung einer Dichotomie zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht, sodass privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Regelungsinhalte in einem Gesetz miteinander verschmelzen konnten.313 Auf der Basis dieser Erkenntnisse kann die Normierung der Tätigkeit und schließlich der Interventionen der Jugendhilfe erarbeitet werden.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe Nachdem im ersten Abschnitt die normierte Stellung und Definition der Familie sowie die Ausgestaltung der Erziehung in der DDR mithilfe der Gesetze und Kommentierungen herausgearbeitet wurde, wird im Folgenden die Normierung der Jugendhilfearbeit dargestellt. Um die Rechtsgrundlagen für Interventionen314 der Jugendhilfe und ihre Ausgestaltung ganz verstehen und richtig einordnen zu können, wird zunächst analysiert, wie die staatliche bzw. gesellschaftliche315 Tätigkeit – d.h. die staatliche Aktivität – im Bereich der Familie rechtlich grundsätzlich normiert war und ein Überblick gegeben, welche anderen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen neben der Jugendhilfe im Bereich der Familie tätig waren. Erst vor dem Hintergrund dieses grundsätzlich normierten Verhältnisses von Staat bzw. Gesellschaft und Familie und dem grundsätzlichen Verständnis staatlicher Organe im Bereich der Familie kann sich anschließend explizit auf die Jugendhilfe konzentriert werden und deren Rechtsgrundlagen für Interventionen der Jugendhilfe in die Familie als Anlässe analysiert werden.

313

Vgl. auch Abs. 5 der Präambel des FGB. Zum Begriff der Intervention sowie der Tätigkeit vgl. oben die Definition unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 315 Vgl. hierzu auch 1. Kapitel, A. III. 4. Sozialistischer Staats- und Gesellschaftsbegriff. 314

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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I. Die Jugendhilfe als staatliches Organ: Grundsätzliche Normierung staatlicher bzw. gesellschaftlicher Tätigkeit im Bereich der Familie nach dem FGB Um das verrechtlichte Verhältnis von Familie und Staat in der DDR angesichts des sozialistischen Gesellschaftsanspruchs zu beleuchten und die Jugendhilfe als staatliches Organ verstehen zu können, wird zunächst zusammenfassend dargestellt, wie in der DDR grundsätzlich die staatliche und gesellschaftliche Tätigkeit im Bereich der Familie nach dem FGB normiert war. Hierfür wird dargestellt, welche Erkenntnisse sich in dieser Hinsicht aus den im ersten Abschnitt der Normenexegese analysierten Rechtsnormen ergeben, da im Familienrecht der DDR die Gesetze zugleich Feststellungen in Bezug auf Familie und Erziehung als auch im Hinblick auf die staatliche Tätigkeit machen. Anschließend wird auf die §§ 4 und 44 FGB eingegangen. Dabei ergibt sich auch implizit, welche sonstigen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen neben der Jugendhilfe durch das FGB für den Bereich der Familie genannt werden. 1. Staatliche bzw. gesellschaftliche Tätigkeit anhand der unter Kap. 1 A. analysierten Normen Entsprechend der Annahme der sozialistischen Gesellschaft von der Interessengleichheit des Staates, der Gesellschaft und des Einzelnen, ist im FGB keine Norm so klar formuliert, dass sie sich nur an einen Akteur wendet oder nur einen einzigen Regelungsinhalt haben kann. Daher ergeben sich aus den bereits im ersten Abschnitt dieses Kapitels im Hinblick auf die Familie und die Erziehung in der DDR analysierten Normen zusammengefasst auch folgende Grundzüge bzw. Grundsätze bezüglich des staatlichen und gesellschaftlichen Einflusses auf die Familie: Für das in den Normen festgelegte Verständnis der staatlichen und gesellschaftlichen Tätigkeit im Bereich der Familie ist auch der im ersten Kapitel erarbeitete sozialistische Staats- und Gesellschaftsbegriff316 bedeutsam. Aus diesem ergibt sich auch die angenommene grundsätzliche Interessenübereinstimmung zwischen Individuum, Staat und Gesellschaft und das darauf basierende sozialistische Erziehungsideal. Aus letzterem folgt, dass kein Schutz der Familie vor dem Staat im Sinne von Abwehrrechten erforderlich sei, da gegebenenfalls dennoch aufgrund von Einzelinteressen auftretende Konflikte durch das Rechtssystem der DDR ausgeglichen und verhindert würden317. Zentrale Aufgabe des Staates und der Gesell316 317

Vgl. 1. Kapitel, A. III. 4. Sozialistischer Staats- und Gesellschaftsbegriff. Vgl. Poppe, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. 67 f.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

schaft blieb daher der Schutz und die Förderung der Familie, vgl. Art. 38 Abs. 1 Verfassung der DDR. Hierunter wurde in erster Linie die Beseitigung von Störfaktoren für die Familie, die Anerkennung und Würdigung der Familie sowie die Festigung und Entwicklung der Familienbeziehungen verstanden. Art. 38 Abs. 4 Verfassung der DDR normiert in diesem Sinne ein vertrauensvolles Zusammenwirken zwischen den Eltern und den gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen. Auch die Präambel des FGB und § 1 FGB nehmen diese Inhalte wieder auf. Dem ersten Absatz der Präambel des FGB wurde die Interessengleichheit entnommen. Ob äußerer Zwang für die Beeinflussung der Gestaltung des Familienlebens geeignet sei, wurde im Zusammenhang mit der Präambel des FGB im Laufe der Zeit unterschiedlich gesehen.318 Wie bereits im ersten Abschnitt besprochen, normiert § 1 Abs. 1 FGB den Grundsatz des staatlichen und gesellschaftlichen Schutzes sowie der Förderung der Familie. § 1 Abs. 1 FGB normiert hierbei auch das Recht der Bürger auf Schutz und Achtung ihrer Familie: „Staat und Gesellschaft nehmen durch vielfältige Maßnahmen darauf Einfluß, daß die mit der Geburt, Erziehung und Betreuung der Kinder in der Familie verbundenen Leistungen anerkannt und gewürdigt werden.“319 Hierbei wird deutlich, dass der hier und im Folgenden verwendete Begriff der „Maßnahmen“ nicht im verwaltungsrechtlichen Sinne der BRD verwendet wurde, sondern sehr weit und unspezifisch verwendet wurde: In allen Auflagen der Kommentierung bis einschließlich 1973 wurde – wie schon dargestellt – die Familie als Gemeinschaft „im intimen Lebensbereich der Menschen“ beschrieben.320 Daraus folge, „daß eine gewisse Eigen- und Selbständigkeit zum Wesen der Familie gehört und daß die Familienmitglieder die Familienbeziehungen nur selbst gestalten können. Die Berücksichtigung des speziellen Wesens der Beziehungen in der Familie ist bei allen Maßnahmen zu ihrem Schutz und ihrer Förderung äußerst wichtig.“321 Der Einfluss der Gesellschaft sei daher im Wesentlichen mittelbarer Natur.322 Dies wurde auch 1982 unterstrichen: „Familienförderung ist eine Form der mittelbaren Einflußnahme der Gesellschaft und des Staates auf die Entwicklung der Familienbeziehungen.“323 Laut der Kommentierung zu § 1 FGB wurde dabei, wie schon im Zusammenhang mit der Darstellung von Familie und Erziehung erörtert, unter „Schutz“ – ohne klarzustellen, vor was die Familie konkret zu schützen sei – lediglich die Sicherung der Existenz und der Lebensbedingungen der Familie ver318 So im Zusammenhang mit der Präambel des FGB: in den Kommentaren von 1966 und 1970 wurde dies noch explizit herausgestellt, später dann nicht einmal mehr erwähnt. 319 Vgl. Wortlaut des § 1 Abs. 1 S. 2 FGB. 320 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 33 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27. 321 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 33 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27. 322 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 33 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27. 323 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 21.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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standen und mehr auf die „Förderung“ abgestellt; diese bedeutete, die Familie bei der Entwicklung zu unterstützen und ihr Perspektiven zu verschaffen. Welche generellen Maßnahmen hierfür zur Verfügung standen, wurde in allen Kommentaren zu § 1 FGB sehr ausführlich beschrieben und – um die Beschreibung der Familie und Erziehung möglichst isoliert hiervon darzustellen – bisher noch nicht erwähnt.324 Grundsätzlich fällt jedoch auf, dass an dieser Stelle die Ausführungen insgesamt sehr vage und redundant sind: In den Kommentierungen von 1966 und 1970 wurde differenziert zwischen den Maßnahmen zur Förderung der Familienbeziehungen im Allgemeinen und im Speziellen.325 Unter dem Begriff der „allgemeinen Maßnahmen“326 verstand man ökonomische Maßnahmen (die generelle ökonomische Weiterentwicklung sowie die direkte Förderung durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Einrichtungen zur Erziehung der Kinder, des Wohnungsbaus, durch Zahlung von Geburtenhilfe und Kindergeld u.a.), welche insgesamt der Entwicklung der Familie dienen sollten.327 Zudem fielen Maßnahmen im Bereich der Erziehung und Persönlichkeitsbildung unter diesen Begriff, also unter anderem die Schaffung der von Ausbeutung befreiten menschlichen Beziehungen durch die sozialistische Gesellschaft, das einheitliche sozialistische Bildungssystem, die Ideen des sozialistischen Humanismus, welche gute Voraussetzungen für die Entwicklung der Familie setzen sollten, sowie die ökonomische und ideologische Anerkennung und Würdigung der großen Leistungen der Familie im Sinne des § 1 FGB.328 Bezüglich der Einflussnahme auf die einzelne Familie wurde unterstrichen, dass deren Auswirkungen über die einzelne Familie hinaus auch auf andere Familienbeziehungen und das Verhältnis einzelner Familien zur Gesellschaft und zum Staat

324 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24 ff., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 33 ff., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 21 ff. 325 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24 ff. und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 33 ff. 326 Im Kommentar von 1973 wurde dies beschrieben mit „[…] Maßnahmen, die speziell auf die Familienentwicklung abzielen und die sich auf alle Familien oder auf große Gruppen von Familien beziehen.“ (Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 28). Diese Maßnahmen umfassten unter anderem auch die Schaffung weiterer Einrichtungen zur gesellschaftlichen Erziehung der Kinder, den Wohnungsbau, Geburtenhilfen und Kindergeld, besondere Maßnahmen zur Unterstützung von Familien mit Kindern usw. (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 28 f.). 327 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 25 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 34 f. 328 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 25 f. und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 35. Diese wurden 1973 als Maßnahmen zur „Entwicklung der Gesamtgesellschaft“ beschrieben und hierunter der Lebensstandard, das kulturelle Leben, das Bildungswesen, die Arbeitsbedingungen und vieles mehr gefasst (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 28).

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

ausstrahlten.329 Hierfür wurde die Beendigung der räumlichen Trennung von Familienmitgliedern, Veränderungen in der Arbeitsorganisation, Hilfe des Betriebes oder der Arbeitskollektive bei Auseinandersetzungen – beispielsweise der Brigade mit einem ihrer Mitglieder, wenn es seinen familiären Aufgaben und Verpflichtungen nicht gerecht wird – usw. angeführt.330 Als Beispiele für Maßnahmen, die unter beide der genannten Maßnahmenkategorien fallen, wurden das Ehescheidungsverfahren (womit die inhaltliche Beratung von ehelichen Problemen unabhängig vom Ausgang des Verfahrens gemeint ist) sowie Eheberatungsstellen331 genannt.332 Angesichts der Vielfalt an Maßnahmen sei es nicht möglich, diese Verantwortung an einzelne staatliche Organe oder gesellschaftliche Organisationen zu übertragen.333 „Das Gesetz verpflichtet alle staatlichen Organe, Betriebe und Institutionen, im Rahmen ihrer allgemeinen Aufgaben334 die Entwicklung der Familie im allgemeinen und besonderen zu fördern, und es regt alle gesellschaftlichen Organisationen und Kollektive an, entsprechende Überlegungen in ihre Gesamtarbeit einzubeziehen.“335 Aus dem gleichen Grund sei es nicht möglich, alle Maßnahmen einzeln gesetzlich festzulegen, auch wenn das FGB dies zu großen Teilen tue, sondern die Belange der Familien seien darüber hinaus im Rahmen der allgemeinen Aufgaben der Organe zu beachten; Gleiches gelte auch für die gesellschaftlichen Organisationen.336 Dabei waren sämtliche Bereiche der Aufgaben staatlicher Organe gemeint: Produktion, Entwicklung der Arbeitskräfte und der Arbeitsorganisation, Tätigkeit zentraler und örtlicher staatlicher Organe auf den verschiedensten Gebieten, Städteplanung, Erziehungsarbeit etc..337 Hieraus zeichnet sich bereits ab, dass der Begriff der „Aufgaben“ ebenso wie der der „Maßnahmen“ sehr grundsätzlich und weit verstanden wurde und nicht mit bürgerlich-rechtlichen Begrifflichkeiten gleichzusetzen ist.338 329 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 26 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 35. 330 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 26 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 35. 331 Vgl. hierzu die Anmerkungen im Rahmen des § 4 FGB. 332 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 26 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 36. 333 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 27 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 36. 334 Die Verwendung des Begriffs der „Aufgaben“ im FGB wird im Folgenden noch diskutiert werden. 335 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 27 und fast identisch im Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 36. 336 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 27 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 36. 337 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 27 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 36. 338 Im Sinne des BRD-Rechts wird eine Maßnahme definiert als ein einseitig-hoheitliches Handeln des Staates, das in Abgrenzung zur Rechtsnorm nicht allgemein verbindlich ist,

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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Unter „Maßnahme“ wurde lediglich ganz allgemein jede rechtlich normierte Aktivität der staatlichen Organe, aber auch der gesellschaftlichen Organisationen, verstanden. 1973 wurden die inhaltlichen Anforderungen an die Familienförderung anhand von drei Aufgaben beschrieben: (1) der Befähigung der Bürger zur selbständigen Gestaltung der Familienbeziehungen, (2) dem ständigen Ausbau der materiellen Entwicklungsbedingungen und (3) der Entwicklung hin zur Mehr-Kind-Familie.339 Dabei wurde aus dem Programm des VIII. SED-Parteitages zitiert, jedoch ergibt dies über das Dargestellte hinaus keine weiteren Erkenntnisse.340 1982 heißt es dann ganz bestimmt, dass das Recht der DDR keinen abstrakten Schutz der Ehe und Familie kenne; „[…] es geht nicht um die Achtung der Institution als solcher. Der wichtigste Ausdruck der Achtung und des Schutzes von Ehe und Familie ist die gesellschaftliche und staatliche Sorge um die bestmöglichen Entwicklungsbedingungen dieser Gemeinschaft. Alle Maßnahmen der Familien-Förderung dienen zugleich der Achtung und dem Schutz von Ehe und Familie.“341 Deshalb seien diese Aktivitäten der Gesellschaft und des Staates als Einheit zu betrachten.342 Familienförderung wurde als wesentlicher Teil der sozialistischen Familienpolitik verstanden und an dieser Stelle noch genauer als in den vorherigen Auflagen die verschiedenen Möglichkeiten aufgezählt, wobei hier auch andere Bereiche, wie die Frauen- und die Jugendpolitik, mit einbezogen wurden.343 Die Rechtsformen der Familienförderung seien vielfältig und bestünden in durch Rechtsnormen fixierten subjektiven Rechten und Pflichten (z.B. den Anspruch auf Geburtenbeihilfe) oder in Aufgaben- und Zielnormen, welche der Konkretisierung bedürften (in Plänen, Kommunalverträgen etc. …).344 Auch hier wurde wieder aus dem Programm des VIII. SED-Parteitages zitiert, woraus sich wiederum keine Neuerungen ergaben.345 Es wurden damit in den Kommentierungen zu § 1 FGB drei verschiedene Arten der Einflussnahme auf Familien genannt: (1) durch die generelle Ausgestaltung der Lebensbedingungen, (2) durch Maßnahmen, welche generell der Familienförderung dienen und (3) durch Maßnahmen, welche nur eine einzelne Familie bzw. spezielle

sondern einen Einzelfall betrifft (vgl. Creifelds, Carl, Rechtswörterbuch, 21. Auflage, München 2014, S. 548 u. 842). 339 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27. 340 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 28 f. 341 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20. 342 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20. 343 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20 ff. 344 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 21. 345 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20 ff.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Familiensituationen betreffen.346 Nach der überblicksartigen Darstellung der ersten beiden Kategorien wird sich im nächsten Kapitel auf die Maßnahmen in Bezug auf die einzelne Familie durch die Jugendhilfe konzentriert. Wie schon im Zusammenhang mit der rechtlichen Ausgestaltung von Familie und Erziehung beschrieben, wird mit dem Wortlaut des § 3 FGB sowie des § 42 Abs. 4 FGB für die Erreichung des sozialistischen Erziehungszieles der Grundsatz der Zusammenarbeit von Eltern, staatlichen Organen und der Gesellschaft normiert. Generell wiederholt § 42 FGB – wie schon erwähnt – von seinem Wortlaut her die Verfassung der DDR sowie die Präambel des FGB und die Grundsätze des FGB. In den Kommentierungen zu § 3 FGB heißt es, die verschiedenen staatlichen Einrichtungen seien dazu verpflichtet, die Eltern bei der Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben zu unterstützen.347 Ab 1973 wurde verstärkt betont, dass insbesondere kinderreiche Familien und alleinstehende Elternteile unterstützt werden müssten.348 Durch § 42 Abs. 4 FGB werden für die Zusammenarbeit explizit die Schule, andere Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen sowie die Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ und die FDJ aufgezählt. Bezüglich der Kommentierungen zu § 42 FGB ist in diesem Zusammenhang nochmals zu wiederholen, dass 1966 noch betont wurde, dass § 42 FGB eine Zielstellung sei und grundsätzlich nicht mit staatlichem Zwang verwirklich werden könne349, dieser Hinweis 1970 aber bereits fehlt.350 Es wurde 1966 außerdem betont, die Mittel des Staates und der Gesellschaft zur Verwirklichung des § 42 FGB lägen im Bereich der politisch-moralischen Überzeugungen und wüchsen mit der Entwicklung der Persönlichkeit der Eltern selbst; nur in Fällen absoluten Versagens der Eltern bei der Betreuung und Erziehung der Kinder kämen staatliche Maßnahmen in Betracht.351 Bis 1973 wurde unterstrichen, jede Institution der Bildung und Erziehung habe ihr besonderes Potenzial, das sich aus ihrem Wesen, ihren Aufgaben und ihrer Organisation ergäbe.352 1982 wurde unterstrichen, dass die Erfolge in der Erziehungsarbeit entscheidend abhängig seien vom Niveau des Zusammenwirkens zwischen Elternhaus und Schule bzw. Ausbil346 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24 ff., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 33 ff., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 1, S. 27 ff. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 1, S. 20 ff. 347 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 3, S. 32, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 3, S. 41, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 37. In der Kommentierung von 1982 wird allerdings der „[…] Anspruch [der Eltern] auf vertrauensvolles Zusammenwirken mit den gesellschaftlichen Erziehungseinrichtungen […]“ herausgestellt (vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 25). 348 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 3, S. 37 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 3, S. 26. 349 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 160. 350 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 198 ff. 351 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 160 f. 352 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 42, S. 161; ähnlich Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 42, S. 199 sowie Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 42, S. 179 f.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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dungsbetrieb sowie vom Grad der Übereinstimmung in den Erziehungsabsichten.353 Auf der Grundlage des gemeinsamen Erziehungszieles soll die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes als gemeinsame Aufgabe zwischen den Eltern und den anderen Erziehungsträgern – Kinderkrippe, Kindergarten, Schule, Kinder- und Jugendorganisation – gelöst werden.354 Zwischenfazit Die normierte Tätigkeit im Bereich der Familie war also von der Vorstellung gekennzeichnet, dass aufgrund der Interessengleichheit von Bürger, Staat und Gesellschaft sämtliche staatlichen und gesellschaftlichen Organe bzw. Institutionen auf allen Ebenen und in allen Bereichen die Eltern bei der Erziehung der Kinder unterstützen und für gute Lebensbedingungen für die Familien sorgen sollten. Die Aktivitäten des Staates und der Gesellschaft wurden 1982 sogar als Einheit bezeichnet. Was unter „Schutz“ bzw. „Förderung“ i.S.d. § 1 FGB zu verstehen sei, wandelte sich im Laufe der Zeit; insgesamt hatte der Begriff des „Schutzes“ in der Auslegung aber kaum Bedeutung, sondern es wurde sich auf den Aspekt der Förderung konzentriert. 1982 wurde offen ausgesprochen, dass es nicht um den Schutz der Familie als Institution gehe. Mit § 49 Abs. 2 FGB wird in Bezug auf die Tätigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Organe normiert, dass diese den Eltern bei Erziehungsschwierigkeiten helfen müssten, wenn diese durch die Eltern dazu aufgefordert werden. Dabei geht es aber schon um Tätigkeit in Bezug auf die einzelne Familie, sodass dies erst im Abschnitt über die Rechtsgrundlagen für Interventionen der Jugendhilfe erörtert werden wird. 2. Staatliche bzw. gesellschaftliche Tätigkeit anhand der §§ 4 und 44 FGB Neben den Erkenntnissen, welche sich bereits aus den dargestellten Normen ergeben, finden sich im FGB – ebenso wie zum sozialistischen Begriff von Familie und Erziehung – mit den §§ 4 und 44 FGB auch direkte Aussagen zu den „Pflichten“ (vgl. § 4 FGB) bzw. „Aufgaben“ (vgl. § 44 FGB) der staatlichen Organe und gesellschaftlichen Institutionen im Bereich der Familie.

353 354

Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 131. Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 42, S. 130.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

a) § 4 FGB In § 4 Abs. 1 FGB, welcher entsprechend seiner Einordung in die Struktur des FGB noch zu den Grundsätzen des FGB gehört, wird die „Verpflichtung“ der staatlichen Fachorgane und damit der Organe der Jugendhilfe wie folgt beschrieben: § 4 Abs. 1 FGB „Die staatlichen Organe, insbesondere die Organe der Volksbildung, der Jugendhilfe [und des Gesundheits- und Sozialwesens, und die Organe der Rechtspflege] s i n d v e r p f l i c h t e t , in geeigneter Weise die Ehegatten bei der Entwicklung ihrer Familienbeziehungen zu unterstützen und den Eltern bei der Erziehung der Kinder zu helfen. Dabei sollen die gesellschaftlichen Organisationen, Arbeitskollektive und Elternbeiräte entsprechend ihren Möglichkeiten mitwirken.“

aa) § 4 Abs. 1 S. 1 FGB: Die Pflichten der staatlichen Organe § 4 Abs. 1 S. 1 FGB normiert mit seinem Wortlaut als Pflichten der staatlichen Organe die Entwicklung der Familienbeziehung und Unterstützung der Erziehung. Ab der Auflage des Kommentars von 1973 wurde dabei verstärkt auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung hingewiesen355; in der Auflage des Kommentars von 1982 wird nicht mehr so klar zwischen den einzelnen Sätzen des § 4 Abs. 1 FGB bzw. zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Organen differenziert356. Die ausdrückliche Aufzählung der staatlichen Organe in § 4 Abs. 1 FGB sollte verschiedene Wirkungen erzielen: zum einen sollte sie den Bürgern die Möglichkeit geben, dem Gesetz direkt die zu ihrer Unterstützung relevanten Organe zu entnehmen.357 Zum anderen sollten sich die staatlichen Organe ihrer besonderen Verantwortung bewusst werden und überprüfen, ob sie mit ihrer Tätigkeit der genannten Aufgabe gerecht werden.358 Dabei wurde eine Klärung der augenblicklichen Situation in der Familie in der Regel als unzureichend angesehen; daher wurde gefordert, durch Beratung und durch Maßnahmen die Beziehungen in der Familie grundsätzlich weiterzuentwickeln.359 Dabei sollten die speziellen staatlichen Organe

355 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 38 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 27. 356 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 27 f. Dies korrespondiert mit der Vorstellung von der Entwicklung hin zur einheitlichen sozialistischen Gesellschaft (vgl. oben 1. Kapitel, A. I. 2. Normierter Gesellschaftsbegriff des Verfassungskommentars). 357 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 33, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 42 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 39. 358 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 33, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 42 f. und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 39. 359 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 33 f., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 43 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 39.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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den anderen staatlichen Organen360 helfen und generelle – nicht nur situative – Anregungen bieten.361 Ab der Auflage von 1973 wurde die besondere Verantwortung der örtlichen Volksvertretungen auf Ebene der Stadt und der Gemeinde betont.362 Dies stellte 1973 eine Neuerung dar und ging auf den VIII. Parteitag von 1971 zurück.363 Den örtlichen Volksvertretungen wurde „[…] die Konkretisierung der einheitlichen, von Partei und Regierung beschlossenen sozialistischen Familienpolitik und ihre Durchsetzung im Zusammenwirken aller staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte.“ zugeordnet, da Familienentwicklung als „[…] untrennbar mit der Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen, des geistig-kulturellen Lebens und aller anderen Seiten der Entwicklung im Territorium verbunden.“ und Familienförderung daher als “[…] notwendiger Teil der Leitungstätigkeit in jeder Stadt und Gemeinde.“ angesehen wurde.364 Diese Arbeit wurde als wichtige Grundlage dafür gesehen, dass die Bürger ihre Familien selbst so gestalten können, damit die staatlichen Organe weniger erforderlich sei; die Hervorhebung der örtlichen Volksvertretungen sollte die zunehmende Bedeutung der aktiven örtlichen Familienpolitik anzeigen.365 bb) § 4 Abs. 1 S. 2 FGB: Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationen und Kollektiven In § 4 Abs. 1 S. 2 FGB wird wörtlich der schon in § 1 FGB enthaltene Mitwirkungsgrundsatz der Gesellschaft366 wiederholt. Dies sollte den staatlichen Organen anzeigen, „daß gerade in der Gesellschaft und ihren Kollektiven die Kräfte sind, die bei der Entwicklung der Familie helfen können.“367 Es wurde aber bis einschließlich der Auflage von 1973 betont, dass aufgrund der Spezifik der Familienbeziehungen in jedem konkreten Falle die Möglichkeiten, die Zweckmäßigkeit und die Form der Einbeziehung der gesellschaftlichen Insti360 Auch Hör- und Fernsehfunk, Presse und andere Publikationsorgane wurden dabei als staatliche Organe bzw. Institutionen genannt (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 34 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 43). 361 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 33 f., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 43 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 39. 362 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 38 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 27. 363 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 38. 364 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 38. Ähnlich in: Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 27. 365 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 38 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 27 f. 366 Zu den beiden verschiedenen Auffassungen des Gesellschaftsbegriffs vgl. oben unter 1. Kapitel, A. I. 2. Normierter Gesellschaftsbegriff des Verfassungskommentars. 367 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 34.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

tutionen neu überprüft werden müssten und immer nach ihrem Nutzen für die Familie und die Entwicklung der Kinder zu richten seien.368 Dieser Hinweis entfiel in der Auflage des Kommentars von 1982 völlig.369 Als explizite Beispiele für die gesellschaftlichen Organe, auf welche zurückgegriffen werden sollte wurden erst im Kommentar von 1973 die Gewerkschaften genannt370, im Kommentar von 1982 dann zusätzlich die FDJ, die Frauenorganisation, die Nationale Front, sowie – im Gesetzeswortlaut einzeln aufgezählt – die Arbeitskollektive371. Gerade letzteren wurde eine große Bedeutung zugesprochen.372 Auch bezüglich der Zusammenarbeit mit den gesellschaftlichen Organisationen und Kollektiven wurde ab dem Kommentar von 1973 verstärkt die Arbeit der örtlichen Volksvertretungen betont373 : „Je mehr diese gesellschaftlichen Kräfte, insbesondere die Gewerkschaft, die Durchsetzung der sozialistischen Familienpolitik als ihre Aufgabe verstehen, desto besser wird es gelingen, die Ideologie der Arbeiterklasse auch für diesen Lebensbereich stärker bewußt zu machen […] und sozialistische Familienbeziehungen zu festigen.“374 Als Beispiele für Verbesserungen wurden 1982 beispielsweise die Hinarbeit auf eine Arbeitszeitverkürzung, die Umgestaltung von Stadtteilen, Verkehrsverbindungen und Standorten für Industriegebiete sowie die Erweiterung der Schichtarbeit genannt und dabei generell die objektive Komplexität dieser Aufgabe betont.375 Im Sinne des sozialistischen Ideals wurde damit die zunehmende Inanspruchnahme der gesellschaftlichen Kräfte durch die örtlichen Volksvertretungen sowie die umfassende Vernetzung der verschiedenen Bereiche staatlicher Tätigkeit in den Mittelpunkt gerückt. Die schon oben bei den Grundzügen des staatlichen und gesellschaftlichen Handelns erwähnten staatlichen Ehe- und Familienberatungen des § 4 Abs. 2 FGB sind als Teil der grundsätzlichen Bemühungen um die Entwicklung der Familienbeziehungen in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft zu begreifen. In den Kommentierungen von 1966 und 1970 wurde außerdem noch auf die §§ 44 und 49 FGB als Konkretisierung der gesellschaftlichen Unterstützung verwiesen.376 368 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 34 f., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 43 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 40. 369 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28 f. 370 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 39. 371 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 27 f. 372 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28. 373 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 39 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28. 374 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 39. So ähnlich wurde dies auch im Kommentar von 1982 formuliert, dort wurde jedoch von der Förderung der „[…] Erfüllung der Funktionen der Familie […]“ gesprochen (vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28). 375 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 27 f. 376 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 33 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 42.

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§ 4 Abs. 2 FGB „Durch die staatlichen Organe sind in Zusammenarbeit mit den gesellschaftlichen Organisationen Ehe- und Familienberatungsstellen einzurichten, in denen lebenserfahrene, sachkundige Bürger denen Rat und Hilfe gewähren, die vor einer Eheschließung stehen oder sich sonst in Familienangelegenheiten an sie wenden. Die Mitarbeiter der Ehe- und Familienberatungsstellen sind zur vertraulichen Behandlung der ihnen vorgetragenen Anliegen verpflichtet.“

Für das grundsätzliche Verständnis staatlichen und gesellschaftlichen Einflusses auf die Familie in der DDR dient § 4 Abs. 2 FGB als anschauliches Beispiel. Er normiert die Ehe- und Familienberatung, welche der Staat laut der Kommentierung auf Wunsch der Bürger kostenlos und in allen Angelegenheiten der Ehe und Familie gewähren soll.377 Im Zentrum stand dabei die Vorstellung dass die staatlichen Maßnahmen gegenüber der Familie weniger zur Entscheidung von Konfliktfällen sondern vielmehr „[…] der rechtzeitige und sachkundige Rat in den Vordergrund […]“ treten sollte.“378 Zweck der Beratung sollte also wiederum sein, die Familienbeziehungen zu festigen und zu entwickeln sowie familiäre Konflikte zu überwinden.379 Dabei wurde die Vertraulichkeit der Behandlung, welche in § 4 Abs. 2 S. 2 FGB normiert ist, betont.380 Besetzt sein sollten die Stellen jeweils mit einem Arzt, einem Juristen, einem Pädagogen sowie nach Möglichkeit mit „weitere[n] sachkundige[n] und lebenserfahrene[n] Bürger[n]“.381 1966 wurde das Ziel der Arbeit der Beratungsstellen noch wie folgt definiert: „[Mit der Einrichtung der Ehe- und Familienberatungsstellen] […] nehmen die Beziehungen zwischen den einzelnen Bürgern und dem Staat bezüglich des Familienlebens konkreter als bisher eine Form an, wie sie den objektiv übereinstimmenden Interessen von Gesellschaft und Familie entsprechen.“382 In den folgenden Auflagen des Kommentars wurde dieses Ziel mehr und mehr als bereits erreicht impliziert.383

377 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 35, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 43 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 40 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28. 378 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 35, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 44, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 40 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28. 379 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 35, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 44 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 40. 380 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 35, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 44 f. und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 40 f. 381 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 36, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 44 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 41. Es gab außerdem noch Sexualberatungsstellen, in welchen medizinische Beratung erfolgte, insbesondere bzgl. der Familienplanung (vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 45). Diese wurden im Laufe der Zeit aber bewusst mit den Ehe- und Familienberatungsstellen zusammengelegt (vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 41). 382 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 4, S. 35.

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Interessant ist, dass nach der Einrichtung der Stellen 1970 festgestellt wurde, dass ein Beratungsbedürfnis durchaus vorhanden sei, die Stellen aber noch weiter ausgebaut werden müssten und die Arbeit verbessert werden müsste384 ; 1982 wurde dagegen die Notwendigkeit der Beratung sowie das Bedürfnis danach durch „hohe inhaltliche Erwartungen an die Familienbeziehungen, der Differenziertheit und Dynamik in der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Aufgabe der kommunistischen Erziehung“ als gewachsen eingeschätzt, die faktische Inanspruchnahme durch die Bürger jedoch als „differenziert“ beschrieben385. Die Arbeit der Beratungsstellen sollte daher noch optimiert werden, bewährt habe sich aber bereits die Einbeziehung der Berater in die Öffentlichkeitsarbeit.386 § 4 Abs. 2 FGB veranschaulicht damit gut zum einen die Idee der Prävention familiärer Konflikte, zum anderen aber zugleich den stark pädagogischen Charakter des FGB im Hinblick auf die Erwachsenen bzw. die Eltern sowie die unterstellte Interessengleichheit zwischen den Bedürfnissen des Individuums und der Gesellschaft bzw. des (als vorübergehend angelegten) Staates.387 b) § 44 FGB § 44 FGB „Die staatlichen Organe, insbesondere die Organe der Volksbildung, des Gesundheits- und Sozialwesens, sowie die gesellschaftlichen Organisationen, die Arbeitskollektive, die Elternbeiräte und Hausgemeinschaften haben die A u f g a b e , die Eltern bei der Erziehung der Kinder zu unterstützen.“

§ 44 FGB ähnelt vom Wortlaut her stark dem des § 4 FGB und wirkt daher wie eine sehr allgemeine Regelung. Er ist in Bezug auf die staatlichen Organe allgemeiner formuliert, da er die Organe der Jugendhilfe und der Rechtspflege nicht explizit aufzählt, bezieht sich aber im Gegensatz zu § 4 FGB nur auf die Erziehung der Kinder und nicht auch auf die Entwicklung der Familienbeziehungen; zudem erwähnt er im Vergleich zu § 4 FGB bei den gesellschaftlichen Organisationen zusätzlich die Hausgemeinschaften. Nach dem Wortlaut von § 44 FGB geht es bei diesem aber, wie bei § 4 FGB, um die grundsätzliche Unterstützung der Familie durch Staat und Gesellschaft, fernab von Konfliktsituationen und Problemen der 383 1970 heißt es „[…] nehmen […] eine objektiv notwendige Form an […]“, 1973 „[…] haben […] eine notwendige Form erhalten […]“ (vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 44, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 4, S. 40). 384 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 4, S. 44. 385 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28. 386 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28 f. Wie im Folgenden noch ausgeführt werden wird, wurde mit der Zeit die Hauptverantwortung für die Ehe- und Familienberatungsstellen den Kreisen gegeben, speziell dem Rat des Kreises, wogegen das Gesetz die staatlichen Organe zum Aufbau verpflichtete (vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 4, S. 28 f.). 387 Vgl. oben unter I. 1. a) bb) Normierter Gesellschaftsbegriff des Verfassungskommentars.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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einzelnen Familie; damit normiert § 44 FGB eine Tätigkeit der Jugendhilfe und der anderen Organe bzw. Institutionen.388 Diese teilweise Wiederholung ist damit zu erklären, dass § 44 FGB (gemeinsam mit den §§ 42 und 43 FGB) zu den Grundsätzen der elterlichen Erziehung gehört, ebenso wie § 4 FGB zu den Grundsätzen389 des FGB im Allgemeinen zählt. Außerdem ist das FGB, wie schon erwähnt, generell stark von Wiederholungen geprägt. Bezüglich des spezifischen Regelungsgehalts des § 44 FGB im Vergleich zu anderen Normen wird im Kommentar zum FGB von 1966 § 44 FGB (gemeinsam mit § 49 FGB) als die Vertiefung des § 1 FGB im Hinblick auf die gesellschaftliche Beteiligung im Bereich der Familie dargestellt ebenso wie § 4 FGB die Beteiligung der staatlichen Organe an der Erziehung näher ausführt.390 In selbigem Kommentar heißt es aber auch, dass § 44 FGB das Gegenstück zu § 42 FGB sei: § 42 FGB richte sich an die Eltern und bestimme ihre Aufgaben bei der Kindererziehung, § 44 FGB dagegen wende sich an die staatlichen und gesellschaftlichen Organe hinsichtlich ihrer Pflicht zur Unterstützung.391 In den folgenden Auflagen der Kommentare wird dagegen keine systematische Einordnung der Funktion des § 44 FGB mehr vorgenommen.392 Wie schon in den anderen Vorschriften des FGB wiederholt normiert, wird betont, dass die Unterstützung der Eltern bei der Erziehung der Kinder ein objektives gesellschaftliches Erfordernis und Teil des Zusammenwirkens von Familie und Gesellschaft sei.393 Interessant ist dabei, dass in den Kommentierungen der Erziehungsbegriff weiter ausgeführt wird: „Dabei muß der Begriff Erziehung im weitesten Sinne des Wortes verstanden werden. […] Inhalt und Formen der Unterstützung sind vielfältig.“394 Die Beispiele für diese Unterstützung reichen von der gesundheitlichen Betreuung des Kleinkindes in der Mütterberatung und der Aufnahme in Krippe und 388 Dass § 44 FGB in Verbindung mit § 49 Abs. 2 FGB anders interpretiert wurde, wird noch ausführlich dargestellt werden. 389 Die „Grundsätze“ der jeweiligen Abschnitte sind mit der Funktion des „Allgemeinen Teils“ im bürgerlichen Zivilrecht vergleichbar. 390 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966 zu § 4, S. 33. 391 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 168. 392 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 207 ff., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 133 f. Allgemein lässt sich sagen, dass sich alle Kommentare bzgl. § 44 FGB sehr gleichen, aber die Kommentierungen nach 1970 nahezu wortgleich sind (vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 168 ff., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 207 ff., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 133 f.). 393 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 207, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 133. Dabei wird auch auf die §§ 3, 4, 42 FGB verwiesen (vgl. z.B. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 133). 394 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 207, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 und vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 133 f.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Kindergarten bis hin zur Gestaltung einer „erzieherisch wertvollen Lebensordnung“ und der Beratung in Fragen der Leistung und beruflichen Entwicklung des Kindes.395 Dabei wird auch auf § 4 Abs. 2 FGB verwiesen, was erneut die Ähnlichkeit im Regelungsgehalt unterstreicht.396 Auffällig ist, dass im Zusammenhang mit § 44 FGB meist nur von der „gesellschaftlichen Unterstützung“ gesprochen wird, obwohl sich § 44 FGB vom Wortlaut her ausdrücklich auch auf die staatlichen Organe bezieht. Die Jugendhilfe wird nie explizit erwähnt. Nur im Kommentar von 1982 werden die Aufgaben der staatlichen Organe bei der Unterstützung genannt; dies erschöpft sich aber in einem Verweis auf die Grundsätze der sozialistischen Familienpolitik wie sie sich aus Art. 38 Verfassung der DDR und §§ 1 und 4 FGB ergeben.397 Der spezifische Regelungsgehalt des § 44 FGB, insbesondere in Abgrenzung zu den erwähnten anderen Normen des FGB, ist daher auch mit den Kommentierungen schwer zu konkretisieren: Die Aufgaben der staatlichen Organe in den Bereichen Volksbildung, Gesundheits- und Sozialwesens ergeben wenig Konkretes, es wird die Zusammenarbeit und Mitarbeit der Mütterberatung, der Säuglingsschwestern, Kinderärzte, Lehrer und Erzieher mit den Eltern als Teil der Erfüllung ihrer beruflichen Pflichten gefordert 398, sowie der ständige Ausbau der Krippen, Kindergärten, Schulen und Horte399, wobei die besondere Bedeutung der gewählten Elternvertretungen und ihrer Kommissionen hervorgehoben wird400 ; 1966 wird darüber hinaus noch die Bedeutung der Pädagogen betont401. In Bezug auf die Aufgaben der Jugendhilfe wird 1970 und 1973 lediglich direkt auf § 50 FGB verwiesen.402 Den Arbeitskollektiven und Hausgemeinschaften wird aufgrund ihres unmittelbaren Kontakts zu den Eltern die Möglichkeit der besonders wirkungsvollen Hilfe und Unterstützung zugeschrieben, beispielsweise durch allgemeine Gespräche über Kindererziehung, spezielle Maßnahmen für Alleinerziehende, Patenschaften bei

395

Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 207, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 und vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 133 f. 396 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134. 397 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134. 398 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 207 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134. 399 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 168, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 207 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134. 400 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 169, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 208, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 186 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134. 401 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 168. 402 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 208 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 187.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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Leistungsversagen oder zwischen Brigaden und Schulklassen.403 1982 wird, wie schon bei § 4 FGB, auf die Gewerkschaften, den DFD, die Nationale Front und die FDJ als verpflichtete gesellschaftliche Organisationen hingewiesen.404 Interessant ist auch, dass die pädagogische Propaganda durch Presse, Funk, Fernsehen, Elternversammlungen, Elternschulen und Erziehungsberatungsstellen etc.405 als gesellschaftlicher Auftrag angesehen wurde.406 Den Eltern sollen ihre erzieherischen Aufgaben erläutert werden und wichtige Kenntnisse für die Familienerziehung vermittelt werden.407 Dabei wurde den staatlichen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen (Krippen, Kindergärten und Schulen) eine besondere Bedeutung zugesprochen, von der die pädagogischen Impulse auszugehen hätten.408 Insgesamt lässt sich feststellen, dass in der Kommentierung des § 44 FGB der Schwerpunkt in auffälliger Weise mehr auf die gesellschaftliche als auf die staatliche Unterstützung der Familie gelegt wird. Was der § 44 FGB in Bezug auf die Tätigkeit der staatlichen Organe und insbesondere der Jugendhilfe bedeutet, wurde dagegen nicht ausgeführt. Zwischenfazit Gemäß den §§ 4 und 44 FGB war es die zentrale Aufgabe der Gesellschaft (und des Staates), die Eltern bei der Erziehung der Kinder zu unterstützen. Bezüglich der Kommentierungen zu den in diesem Kapitel neu analysierten Paragraphen kann festgestellt werden, dass die verschiedenen Auflagen der Kommentare im Zeitverlauf die gleiche Entwicklungstendenz aufweisen wie bereits im Rahmen des ersten Kapitels beschrieben. Somit ist es möglich, einen zusammenfassenden Überblick der Auslegung zu geben, da sich die Kommentierungen zu den verschiedenen Vorschriften kontinuierlich entwickeln und insbesondere 1982 besonders klare Feststellungen getroffen werden. Zur grundsätzlichen rechtlichen Ausgestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Tätigkeit im Bereich der Familie lässt sich zusammenfassend festhalten, dass im FGB auch diesbezüglich konsequent am Grundsatz der Interessengleichheit 403 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 169 f., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 208 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 187. 404 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134. 405 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 169, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 208 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 187 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134. 406 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 169, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 208 f. und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 187. 407 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 169, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 208 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 187 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134. 408 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 44, S. 169, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 44, S. 209, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 44, S. 187 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 44, S. 134.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

zwischen Staat, Familie und Gesellschaft bezüglich der Förderung der Lebensbedingungen für die Familie sowie der Bedingungen für die Erziehung im Sinne des sozialistischen Erziehungsideals festgehalten wird. Der „Schutz“ der Familie wird mit dem sozialistischen Verständnis der Förderung der Familie gleichgesetzt. Besonders wird hervorgehoben, dass die Eltern mit den staatlichen und gesellschaftlichen Organen und Institutionen zusammenzuwirken hätten. Der Begriff der „Gesellschaft“ wurde an dieser Stelle zunehmend gleichgesetzt mit den im Bereich der Familie tätigen gesellschaftlichen Institutionen bzw. Organisationen. Im Zusammenhang mit den §§ 4 Abs. 1 S. 2 und 42 Abs. 4 FGB werden unter anderem die Schule, andere Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen, die Pionierorganisation „Ernst Thälmann“, Massenorganisationen wie die Freie Deutsche Jugend, die Gewerkschaften, die Arbeitskollektive und Elternbeiräte, Familienund Eheberatungsstellen aufgezählt. Hieran zeigt sich zum einen, dass das Ideal der gesellschaftlichen Beteiligung sehr allumfassend verstanden wurde, zugleich der sozialistische Gesellschaftsbegriff sehr institutionell interpretiert sowie bezüglich der Aufgaben und Pflichten keine inhaltliche Unterschiede zwischen den staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen gemacht wurden. An dieser Stelle verschwimmen also der sozialistische Staatsbegriff und der sozialistische Gesellschaftsbegriff, werden immer in einem Atemzug erwähnt und sehr institutionell bzw. an den Organen orientiert begriffen. Im Zusammenhang mit § 44 FGB wird in den Kommentierungen auffälliger Weise nur noch von „gesellschaftlicher“ Unterstützung gesprochen und die staatlichen Organe entgegen des Wortlauts des § 44 FGB gar nicht mehr erwähnt. Unter dem Begriff der „Aufgaben und Pflichten der staatlichen und gesellschaftlichen Organe“ nach dem FGB ist nicht der verwaltungsrechtliche Aufgabenbegriff des Verwaltungsrechts der BRD zu verstehen. Vielmehr wird mit diesen Begriffen offenbar nur eine grundlegende Zielstellung bzw. Verpflichtung zur normierten Tätigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Organe beschrieben. Unter „Maßnahmen“ wird offenbar jede in den Rechtsgrundlagen festgelegte staatliche bzw. gesellschaftliche Aktivität verstanden. Als staatliches Organ hatte die Jugendhilfe also wie alle anderen staatlichen und gesellschaftlichen Organe, Organisationen und Institutionen die Aufgabe, die Eltern bei der Erziehung der Kinder zu unterstützen. Welches Tätigkeitsfeld für die Jugendhilfe im Speziellen verrechtlicht war, wird im nächsten Abschnitt anhand ihrer Organisation dargestellt.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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II. Organisation und Rechtsgrundlagen der Tätigkeit der Jugendhilfe Nachdem die allgemeine Normierung der Tätigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Organe im Bereich der Familie nach dem FGB dargestellt wurde, wird sich nun auf die Jugendhilfe konzentriert. Hierfür wird das rechtlich abgesteckte Tätigkeitsfeld der Jugendhilfe anhand der Organisation der Jugendhilfe gem. dem FGB und der JHVO dargestellt, namentlich der Aufbau der Jugendhilfe und die jeweilige Zuständigkeit409 des betreffenden Organs für die normierte Tätigkeit.410 § 50 FGB verweist auf die JHVO411; die JHVO verteilt die Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe auf ihre einzelnen Organe. Diese werden abschließend in § 4 Abs. 1 JHVO aufgezählt. Sie waren auf allen Verwaltungsebenen der DDR412 angesiedelt und wie folgt untergliedert: 1. Organe auf unterer Verwaltungsebene (Kreise, Stadtkreise, Stadtbezirke) a) Das Referat Jugendhilfe Gemäß § 4 Abs. 1 a) JHVO i.V.m. § 15 JHVO war auf der lokalen Verwaltungsebene der Kreise, Stadtkreise und Stadtbezirke413 das Referat Jugendhilfe angesiedelt, welches das unmittelbar zuständige Hauptorgan der Jugendhilfe war.414 Es war ein Fachorgan des Rates des Kreises (bzw. Stadtkreises, Stadtbezirkes) und

409 Der Begriff der Zuständigkeit wird in der JHVO häufig verwendet (vgl. bspw. § 12 JHVO, „Zuständigkeit der Jugendhilfekommissionen“). 410 Zur Beschreibung der Organisation sowie der „Dienstbereich[e]“ der Jugendhilfe durch Mannschatz, vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I. 411 Zu den Organen der Jugendhilfe findet sich nur in Zusammenhang mit § 50 FGB etwas in den Kommentierungen zum FGB. Da die Kommentierungen jedoch nicht über den Wortlaut der Gesetze hinaus gehen, werden diese nicht zitiert. 412 Der Zentralstaat der DDR gliederte sich nach der Auflösung der Länder 1958 auf mittlerer Verwaltungsebene in 14 Bezirke. Sie können am ehesten mit den heutigen Regierungsbezirken verglichen werden, jedoch wurden auf dieser Ebene mehr Aufgaben wahrgenommen. Auf der unteren Verwaltungsebene gab es die Kreise, entsprechend der heutigen Landkreise, die Stadtkreise (entsprechend den kreisfreien Städte) und die Stadtbezirke von OstBerlin, welche verwaltungstechnisch auf Höhe der Stadtkreise standen. Den Kreisen unterstanden die („kreisangehörigen“) Gemeinden. 413 Das Referat Jugendhilfe gab es auch auf Bezirksebene, vgl. § 4 I a) JHVO, § 28 JHVO. Die Jugendhilfe hatte gem. §§ 28, 30 JHVO auf Bezirkseben aber andere Aufgaben als auf lokaler Ebene, vgl. unten unter 1. Kapitel, B. II. 4. Leitung und Kontrolle der örtlichen Organe. 414 Arnold vergleicht dieses in vielerlei Hinsicht mit dem (damaligen) Jugendamt, (Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 34).

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

gehörte zugleich zur Abteilung Volksbildung des Rates.415 Seine Zuständigkeiten ergaben sich aus den einschlägigen Normen des FGB i.V.m. den §§ 18, 20, 21 Abs. 2 und 22 JHVO: sie bestanden in der Leitung der Arbeit zur Lösung der Aufgaben der Jugendhilfe im Kreis (Stadtkreis, Stadtbezirk), der Vorbereitung der Entscheidungen des Jugendhilfeausschusses und deren Durchführung sowie der fachlichen Anleitung der Jugendhilfekommissionen.416 Gem. § 18 Abs. 3 JHVO hatte es die Verantwortung für die Anleitung und Kontrolle der ihm unterstellten Einrichtungen. Den hauptamtlichen Mitarbeitern, den „Jugendfürsorgern“417, stand gem. § 15 S. 3 JHVO ein vom Rat (des Kreises, Stadtkreises, Stadtbezirkes) berufener Referatsleiter vor; gem. § 47 JHVO wurden die Entscheidungen des Referates durch Verfügung des Leiters erlassen. Der Referatsleiter durfte gem. § 22 JHVO auch vorläufige Verfügungen treffen und war in den Fällen des § 21 Abs. 2 JHVO sogar berechtigt, alleine tätig werden. Dabei sind v. a. Fragen der Vormundschaft und Pflegschaft (§ 18 Abs. 1 Ziff. 2 a) JHVO), die Vermittlung von elternlosen und familiengelösten Minderjährigen in fremde Familien (§ 18 Abs. 1 Ziff. 2 b) JHVO) sowie die Sicherung von wirtschaftlichen Interessen Minderjähriger (§ 18 Abs. 1 Ziff. 3 b) JHVO) zu nennen. Gem. § 48 JHVO galten verfahrensrechtlich die Bestimmungen über das Beratungsverfahren des Jugendhilfeausschusses (§§ 36 bis 46 JHVO) entsprechend. b) Der Jugendhilfeausschuss Beim Rat des Kreises (bzw. des Stadtkreises, -bezirkes)418 war als weiteres Organ der Jugendhilfe der Jugendhilfeausschuss angesiedelt, § 4 Abs. 1 b) JHVO i.V.m. § 16 JHVO. Bei Bedarf konnten auch mehrere Ausschüsse eingesetzt werden, § 16 Abs. 3 JHVO. Seine Zuständigkeiten ergeben sich aus den einschlägigen Normen des FGB i.V.m. den §§ 18 Abs. 1 und Abs. 2, 21 JHVO419 : er hatte die zentrale Aufgabe der Sicherung der Erziehung und Entwicklung der Gesundheit des Kindes420, ihm oblagen damit zentrale Erziehungsrechtsentscheidungen421. 415

Vgl. § 15 S. 1 JHVO. Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 231, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 207 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 147. 417 Laut Mannschatz gab es in der DDR in etwa über 250 Bezirke mit ca. 1200 – 1500 Jugendfürsorgern (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). 418 Auch auf Bezirksebene gab es Jugendhilfeausschüsse, vgl. § 4 I b) JHVO, diese hatten gem. §§ 29, 30 JHVO aber andere Aufgaben als auf lokaler Ebene (vgl. unten unter dd) Leitung und Kontrolle der örtlichen Organe). 419 I.V.m. § 23 JHVO; die Maßnahmen und Handlungsbefugnisse werden noch genauer erörtert werden. 420 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 147 421 Vgl. insbesondere § 21 Abs. 1 i.V.m. § 18 JHVO. 416

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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Als Kollegialorgan setzte er sich aus drei bis fünf „in der Erziehungsarbeit erfahrenen Bürgern“, also ehrenamtlichen Mitarbeitern, den sogenannten „Jugendhelfern“422, zusammen, welche vom Rat für zwei Jahre berufen wurden und denen der Leiter des Referates Jugendhilfe oder ein von ihm eingesetzter Jugendfürsorger vorstand, vgl. § 16 Abs. 2 JHVO. Die Beauftragung von ehrenamtlichen Mitarbeitern mit Erziehungsrechtsentscheidungen sollte zur Entbürokratisierung beitragen und für mehr Bürgernähe sorgen.423 Welche Bedeutung dem beizumessen ist, wird noch besprochen werden.424 Gem. § 36 Abs. 1 JHVO konnte das Beratungsverfahren des Jugendhilfeausschusses auch in Schulen, Heimen, sozialistischen Betrieben und anderen Orten durchgeführt werden, was den besonderen Charakter des Verfahrens für die Beteiligten mit einer hohen erzieherischen Funktion und unmittelbaren Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche symbolisieren und auch befördern sollte.425 c) Die Jugendhilfekommission Gem. § 4 Abs. 1 a) i.V.m. § 11 Abs. 1 JHVO wurde in den Gemeinden und kreisangehörigen Städten die Arbeit der Jugendhilfe von ehrenamtlichen Jugendhelfern426 ausgeübt. Dies geschah in Verantwortung der jeweiligen Räte, welche auch die Jugendhelfer beriefen; bei mehr als 1000 Einwohnern waren aus den Jugendhelfern sog. „Jugendhilfekommissionen“ zu bilden.427 Dies konnte gem. § 11 Abs. 1 S. 3 JHVO auch bei Bedarf geschehen. Auf der Ebene der Stadtkreise und -bezirke konnten nach Bedarf ebenfalls Jugendhilfekommissionen gebildet werden, § 11 Abs. 2 JHVO. Auch hier setzten sich die Jugendhilfekommissionen aus den hier vom Referat Jugendhilfe berufenen Jugendhelfern zusammen, § 11 Abs. 3 S. 2 JHVO; die Räte bestätigten nur die Vorsitzenden der Jugendhilfekommissionen, § 11 Abs. 3 S. 3 JHVO. Die Jugendhilfekommissionen waren gem. § 12 JHVO vor allem zuständig für die Unterstützung der Erziehungsberechtigten428, die Sicherung der Erziehung und Betreuung der Minderjährigen, für die Kontrolle der Durchführung von Maßnahmen 422

Laut Mannschatz gab es bis zur Wende 25.000 bis 30.000 Jugendhelfer (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). 423 Vgl. Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 35. 424 Vgl. unter 1. Kapitel, C. II. 2. Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe. 425 Zu den sonstigen Verfahrensvorschriften für Jugendhilfeausschüsse, §§ 36 ff. JHVO, vgl. unten unter 1. Kapitel, C. II. 5. Verfahrens- und Formvorschriften der JHVO. 426 Vgl. zu deren Tätigkeit, Schulung etc. §§ 5 ff. JHVO. 427 Vgl. § 11 Abs. 1 und Abs. 3 JHVO. In kleineren Gemeinden werden diese Aufgaben von den Räten wahrgenommen (vgl. § 14 JHVO). 428 Für allgemeine Erziehungsfragen waren die Ehe- und Erziehungsberatungsstellen gem. § 4 Abs. 2 FGB zuständig.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

anderer Organe der Jugendhilfe429 sowie für die Vorbereitung von Maßnahmen wie beispielsweise einer Annahme an Kindes statt430. In den Kommentaren wird einheitlich von der Aufgabe der „Überzeugungs- und Erziehungsarbeit gegenüber den Eltern und dem Kind“431 gesprochen. Für die zur Anwendung gekommenen verfahrensrechtlichen Vorschriften wird auf § 49 JHVO verwiesen. d) Der Vormundschaftsrat Gemäß § 4 Abs. 1 c) i.V.m. § 17 Abs. 1 JHVO konnten bei den Referaten der Jugendhilfe auf Ebene der Kreise (bzw. Stadtkreise, Stadtbezirke) „zur Sicherung der umfassenden Sorge für elternlose und familiengelöste Minderjährige“432 fakultativ Vormundschaftsräte gebildet werden. Dies bedeutete, dass der Vormundschaftsrat gem. § 17 Abs. 1 S. 2 JHVO dafür zuständig war, die für die Sicherung der Erziehung dieser Minderjährigen verantwortlichen Organe, Einrichtungen und Bürger433 zu beraten, anzuleiten und zu kontrollieren434 sowie gem. § 17 Abs. 1 S. 3 JHVO dem Referat Jugendhilfe Verbesserungsvorschläge auf diesem Gebiet zu machen.435 Als Organ des Rates des Kreises (Stadtkreises, -bezirkes) ergaben sich weitere Aufgaben aus § 18 Abs. 1 und Abs. 2 JHVO. Der Leiter des Referats Jugendhilfe berief die Mitglieder, den Vorsitz musste ein Jugendfürsorger inne haben.436

429 Gem. § 12 Abs. 2 JHVO konnten den Jugendhilfekommissionen auch im Rahmen ihrer sachlichen Zuständigkeit Aufträge durch übergeordnete Organe der Jugendhilfe erteilt werden. 430 Vgl. § 12 Abs. 1 d), f) und g) JHVO. Laut Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 36, wurden die Jugendhilfekommissionen in der Regel aufgrund von Mitteilungen und Anregungen von Schulen, Hausgemeinschaften oder Jugendorganisationen tätig. 431 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 186, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 230, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 207 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 147. Dies ist insofern interessant, da hierin die einzige Ergänzung zu den Organen der Jugendhilfe über den Wortlaut der JHVO hinaus besteht. 432 Vgl. § 17 Abs. 1 S. 1 JHVO. 433 Damit wurde die Gesellschaft mit eingebunden. 434 Laut Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 37, wurde die Entscheidungstätigkeit des Referates Jugendhilfe lediglich indirekt durch die Verbesserungsvorschläge des Vormundschaftsrates kontrolliert. 435 Damit wurde der Vormundschaftsrat nicht direkt gegenüber den Eltern/betroffenen Familien tätig (so auch Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 37: „Er hat […] gegenüber den Eltern keine Zwangsbefugnisse.“). 436 Vgl. § 17 Abs. 2 JHVO. Gem. der Richtlinie Nr. 4 des Zentralen Jugendhilfeausschusses kann auch ein Jugendhilfeausschuss die Aufgaben des Vormundschaftsrates übernehmen.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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2. Organe auf Bezirksebene Auch auf Bezirksebene waren bei den Räten der Bezirke Organe der Jugendhilfe angesiedelt (Referate der Jugendhilfe und Jugendhilfeausschüsse, vgl. § 4 Abs. 1 a) und b) i.V.m. §§ 28, 29 JHVO), sie hatten gem. § 30 JHVO aber Leitungs- und Kontrollfunktion für die untergeordneten Organe auf Kreis- bzw. Stadtkreis- und Stadtbezirksebene sowie für die ihnen unterstellten Einrichtungen. Der Jugendhilfeausschuss beim Rat des Bezirkes konnte gem. § 30 Abs. 1 b), Abs. 2 JHVO über Beschwerden gegen Beschlüsse und Verfügungen der Jugendhilfeorgane der Kreise entscheiden. 3. Organe auf Ministerialebene Die zentrale staatliche Leitung der Jugendhilfe durch das Ministerium für Volksbildung erfolgte gem. § 4 Abs. 1 a) und b) i.V.m. § 31 Abs. 1 S. 1 JHVO durch die Abteilung Jugendhilfe im Ministerium für Volksbildung und den Zentralen Jugendhilfeausschuss. Die Zuständigkeiten bestimmten sich nach § 32 JHVO, wobei der Zentrale Jugendhilfeausschuss gem. §§ 31 Abs. 2 i.V.m. § 32 Abs. 2 JHVO verantwortlich war für den Erlass von Richtlinien zur einheitlichen Gestaltung der Jugendhilfe (§ 32 Abs. 1 d) JHVO) und für die Aufhebung von Entscheidungen der örtlichen Organe der Jugendhilfe (§ 32 Abs. 1 e) JHVO), sodass er legislative und judikative Funktionen innehatte437; das Aufhebungsverfahren bestimmte sich gem. § 53 JHVO438. Für alle anderen ministeriellen Leitungsfragen wie die Anleitung und Kontrolle der örtlichen Organe der Jugendhilfe (§ 32 Abs. 1 c) JHVO), die personelle Entwicklung (§ 32 Abs. 1 f) JHVO) etc. war die Abteilung Jugendhilfe zuständig. Der Leiter der Abteilung Jugendhilfe wurde vom Minister für Volksbildung439 berufen und abberufen und hatte gleichzeitig den Vorsitz des Zentralen Jugendhilfeausschusses inne, vgl. § 31 Abs. 1 S. 2 JHVO. Die zehn Mitglieder des Zentralen Jugendhilfeausschusses wurden ebenfalls vom Minister für Volksbildung für zwei Jahre berufen, vgl. § 31 Abs. 2 JHVO. 4. Leitung und Kontrolle der örtlichen Organe Durch die Ansiedlung beim Ministerium und durch die benannten Aufgaben hatten die Abteilung Jugendhilfe und der Zentralen Jugendhilfeausschusses als oberste Verwaltungsebene gem. § 4 Abs. 3 und § 32 JHVO unmittelbare Leitungs-, 437

Vgl. Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 38. Vgl. unten unter 1. Kapitel, B. II. 4. Leitung und Kontrolle der örtlichen Organe. 439 Zur Verantwortlichkeit des Ministers für Volksbildung im Bereich der Jugendhilfe vgl. auch § 1 Abs. 2 JHVO. 438

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Beratungs- und auch Kontrollfunktion der örtlichen Organen der Jugendhilfe bis hin zur Aufhebung von Entscheidungen gem. einem Verfahren nach § 53 JHVO440. Die Organe der Jugendhilfe auf Bezirksebene fungierten wie schon erwähnt als Leitungs- und Kontrollorgane der untergeordneten Organe und Einrichtungen auf der unteren Verwaltungsebene (vgl. oben); gem. § 30 Abs. 1 c) JHVO i.V.m. § 53 Abs. 1 S. 1 Var. 2 JHVO konnten die Leiter der Referate Jugendhilfe ebenfalls ein Aufhebungsverfahren beantragen. Die Organe der Jugendhilfe auf Kreisebene bzw. Stadtkreis-, Stadtbezirksebene (Referat Jugendhilfe, Jugendhilfeausschuss und Vormundschaftsrat) leiteten die Jugendhilfekommissionen an und kontrollierten sie; sie konnten deren Entscheidungen abändern oder aufheben sowie über Beschwerden gegen Maßnahmen der Jugendhilfekommissionen entscheiden, vgl. § 18 Abs. 2 JHVO. Die Referate der Jugendhilfe auf dieser Ebene kontrollierten und leiteten die ihnen unterstellten Einrichtungen an, vgl. § 18 Abs. 3 JHVO. Dabei muss aber beachtet werden, dass sämtliche Organe unterhalb der Ministerialebene den jeweiligen örtlichen Räten441 unterstellt und rechenschaftspflichtig waren, bei denen sie angesiedelt waren, vgl. § 1 Abs. 3 und § 4 Abs. 2 JHVO. Diese umfassende Rechtmäßigkeits- wie Zweckmäßigkeitskontrolle der örtlichen Organe der Jugendhilfe durch die jeweiligen übergeordneten Organe bzw. durch die zuständigen Räte und die Ministerialebene könnte mit einer mehrstufigen umfassenden „Fachaufsicht“ im Sinne des Verwaltungsrechts der BRD442 verglichen werden.

440 Gem. § 53 Abs. 1 S. 1 JHVO konnte ein Aufhebungs- bzw. Änderungsverfahren durch den Zentralen Jugendhilfeausschuss auf Antrag des Leiters der Abteilung Jugendhilfe (der gleichzeitig der Vorsitzende des Zentralen Jugendhilfeausschusses war, vgl. § 31 Abs. 1 S. 2 JHVO) oder durch die Leiter der Referate Jugendhilfe der Räte der Bezirke durchgeführt werden. Adoptionsbeschlüsse waren jedoch ausgenommen (vgl. § 53 Abs. 1 S. 2 JHVO). Der Zentrale Jugendhilfeausschuss konnte die Entscheidung aber auch mit einer Empfehlung zurückverweisen (vgl. § 53 Abs. 2 JHVO). Durch vorläufige Verfügung konnte der Vollzug von Entscheidungen bis zum Ende eines laufenden Aufhebungsverfahrens ausgesetzt werden (vgl. § 53 Abs. 3 JHVO). 441 Dabei handelte es sich um die jeweiligen Exekutivorgane als Teil der unmittelbaren Staatsverwaltung auf der jeweiligen Verwaltungsebene. 442 Da in der DDR alles der unmittelbaren zentralistischen Staatsverwaltung unterlag und es kein Selbstverwaltungshandeln gab, konnte es keine Entsprechung zur Rechtsaufsicht (als notwendiges Gegenstück zu rechtlich selbständigen Verwaltungsträgern) geben.

B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe

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5. Verfahrens- und Formvorschriften der JHVO In der JHVO werden außerdem umfassende Vorgaben zum Verfahren (§§ 33 ff. JHVO) und zur Form getroffen.443 Die Vorschriften sind detailliert ausgestaltet und umfassten unter anderem Beratungs- und Entscheidungsvorschriften des Jugendhilfeausschusses (vgl. §§ 36 ff. JHVO) wie den Inhalt des Beschlusses (§ 40 JHVO), dessen Bekanntgabe (§ 43 JHVO) sowie Vorschriften zu den Entscheidungen des Referates Jugendhilfe (vgl. 47 ff. JHVO), zu Beurkundungen und Beglaubigungen (vgl. §§ 54 ff. JHVO) und zur Zwangsvollstreckung aus Urkunden (vgl. § 61 JHVO). Dabei fällt auf, dass das gesamte Verfahrensrecht erkennbar sozialistisch geprägt ist. So lässt sich z.B. eine pädagogische Funktion in § 36 Abs. 1 JHVO vermuten, welcher normiert, dass die Sitzungen des Jugendhilfeausschusses „[…] auch in Schulen, Heimen, sozialistischen Betrieben und Genossenschaften, Wohngebieten und Gemeinden stattfinden.“, vgl. § 36 Abs. 1 S. 2 JHVO, sodass die Maßnahmen der Jugendhilfe sehr präsent im Alltag und in der Lebenswirklichkeit der Bürger waren. Gem. § 36 Abs. 2 und Abs. 3 JHVO konnten auch Bürger aus dem Lebens-, Schul- und Arbeitsbereich der Minderjährigen und ihrer Erziehungsberechtigten zu den Beratungen des Jugendhilfeausschusses hinzugezogen werden, welche sich auch durch Vorschläge einbringen durften, sodass die propagierte „Mitwirkung der Gesellschaft“ sich konkret in diesen Verfahrensvorschriften widerspiegelt. Auch die ehrenamtliche Mitarbeit von Werktätigen gem. §§ 5 ff. JHVO ist unter diesem Aspekt zu sehen. Das Jugendhilfeverfahren ist damit durch die Verfahrensvorschriften sowie die Organisation in Gremien insgesamt stark politisch-ideologisch überformt. Zwischenfazit Die Jugendhilfe war damit stark hierarchisch strukturiert und die Zuständigkeiten zwischen den Organen der Jugendhilfe sehr genau ausgestaltet. Der Leiter der Abteilung Jugendhilfe hatte großen Einfluss; viele Entscheidungen wurden aber in Kollegialorganen getroffen. Durch die ehrenamtlichen Jugendhelfer, in deren Händen laut Mannschatz ein großer Teil der Einzelfallbearbeitung lag, war die Bevölkerung faktisch stark eingebunden.444 Wie die Darstellung der Organisation und der verschiedenen Zuständigkeiten der einzelnen Organe zeigt, war das Tätigkeitsfeld der Jugendhilfe denkbar weit ausgestaltet und es eröffnete sich daher für sie ein großer Aufgaben- bzw. Kompetenzbereich. Die JHVO normiert für die Umsetzung und Ausübung des Aufgabenbereichs eine breite Palette an möglichen Maßnahmen für die einzelnen Organe.

443

Zum Beschwerdeverfahren und zur Aufhebung von Entscheidungen gem. §§ 50 ff. JHVO vgl. die Konzeption der Jugendhilfe unter 1. Kapitel, C. II. 2. Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe. 444 Vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Außerdem werden in der JHVO auch detaillierte Verfahrens- und Formvorschriften festgelegt, welche eine sozialistische Vorgehensweise garantieren sollten. Nicht zuständig war die Jugendhilfe dagegen für Kinder unter 5 Jahren; dies fiel in den Zuständigkeitsbereich der Organe des Gesundheitswesens. Die Mütterberatungsstellen (für Säuglinge und Kleinkinder unter 3 Jahren), Kinderkrippen (für 0 – 3 Jährige) und Kindergärten (für 3 – 6 Jährige) sowie Heime für Kinder unter 3 Jahren gehörten nicht zum Tätigkeitsfeld der Jugendhilfe.

III. Zwischenergebnis: Normierte Tätigkeit der Jugendhilfe Wie die Darstellung der Zuständigkeiten, der Organisation und der Verfahrensvorschriften der Jugendhilfe zeigt, war diese hierarchisch gegliedert und bis ins Kleinste durchorganisiert; das Verfahren war stark sozialistisch geprägt. Die normierte Tätigkeit der Jugendhilfe umfasste inhaltlich einen sehr weiten Kompetenzbereich. Die Aufgabe des Staates bzw. der Gesellschaft im Bereich der Familie – und damit auch der Jugendhilfe – war es gem. der §§ 4 und 44 FGB die Familie bei ihrer Entwicklung zu unterstützen und den Eltern bei der Kindererziehung zu helfen. In den Kommentierungen445 wird bezüglich der Förderung der Familie sowie der Bedingungen für die Erziehung im Sinne des sozialistischen Erziehungsideals ebenfalls von der angenommenen Interessengleichheit von Familie, Staat und Gesellschaft ausgegangen. Die sich aus der Annahme der Interessengleichheit ergebenden Schlussfolgerungen für die staatliche bzw. gesellschaftliche Tätigkeit werden noch konsequenter als bei der Beschreibung des sozialistischen Familien- und Erziehungsverständnisses gezogen. So wurden im Hinblick auf die Normierung der Tätigkeit im Bereich der Familie Staat und Gesellschaft gleichgesetzt. Dies geschah dadurch, dass unter „Gesellschaft“ nur noch ganz formalistisch die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen verstanden wurden und diese mit den staatlichen Organen in einem Atemzug genannt wurden. Die rechtlich beschriebene Tätigkeit der Jugendhilfe ist damit vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Beteiligung bzw. der Mitwirkung aller staatlichen Organe bei der Förderung der Familie und der Erziehung der Kinder zu betrachten. Die Familie hatte sich daran in gleicher Weise zu beteiligen. Damit haben die im Rahmen des 1. Abschnitts getroffenen Ergebnisse bezüglich des sozialistischen Familien- und Erziehungsverständnisses und des sozialistischen Gesellschafts- und Staatbegriffs446 nicht nur theoretische Relevanz, sondern sind 445 Vgl. oben das Zwischenfazit zu den §§ 4 und 44 FGB: hier können wieder die gleichen Entwicklungslinien zwischen den verschiedenen Auflagen des Kommentars festgestellt werden, sodass eine zusammenfassende Darstellung möglich ist. 446 Vgl. 1. Kapitel, A. III. Zwischenergebnis: Normiertes sozialistisches Familienverständnis und Erziehungsideal sowie Gesellschafts- bzw. Staatsbegriff.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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für die rechtliche Ausgestaltung der Tätigkeit der Jugendhilfe konkret entscheidend. In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand der Anlässe der Interventionen der Jugendhilfe447 ist herauszustellen, dass in den Kommentierungen zu § 1 FGB von 1966 und 1970 unterstrichen wurde, dass bei der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Einflussnahme auf die einzelne Familie (und damit bei Interventionen der Jugendhilfe) auch die Auswirkungen über die einzelne Familie hinaus auf andere Familien und deren Verhältnis zur Gesellschaft und zum Staat bedacht werden müssten448; zudem wurde betont, dass durch Ehe- und Familienberatungsstellen nicht lediglich situative Problemkonstellationen gelöst werden sollten, sondern die Prävention von Konflikten im Vordergrund stand. Hierin können bereits Anlässe für Interventionen gesehen werden. Im Folgenden wird nun analysiert, welche Vorschriften zur Tätigkeit der Jugendhilfe gleichzeitig Rechtsgrundlagen449 für Interventionen der Jugendhilfe in die Familie darstellten.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe Gegenstand der Normenexegese ist die Analyse der Rechtsgrundlagen450 als rechtlich normierte Anlässe für Interventionen.

447 Im Sinne der erarbeiteten Definition stellen Interventionen der Jugendhilfe die zielgerichtete spezifische und bewusste Einflussnahme auf eine einzelne Familie im tatsächlichen Sinne dar (vgl. dazu auch die Begriffsbestimmung oben unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung). 448 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 1, S. 24 und Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 1, S. 33 f. 449 Unter Rechtsgrundlagen wird dabei kein „Recht zur Intervention“ verstanden, sondern nur eine formale und materielle Rechtsanweisung (vgl. auch hierzu Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung). Rechtsgrundlagen für Interventionen sind daher lediglich Normen, welche Rechtsfolgen festschreiben, die bei praktischer Umsetzung tatsächlich eine Intervention bedeuten würden. 450 Rechtsgrundlagen werden in dieser Untersuchung nicht als „Rechte zur Intervention“ oder in anderem wertenden Kontext verstanden, sondern lediglich als formale und materielle Rechtsanweisungen (vgl. auch oben zu den festgelegten Begrifflichkeiten unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung).

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

I. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe, insbesondere nach dem FGB Auf der Basis des erarbeiteten Familien- und Erziehungsbegriffs und des grundsätzlichen Verständnisses der staatlichen Tätigkeit im Bereich der Familie sowie der Organisation der Jugendhilfe kann nun in diesem Abschnitt der Arbeit die rechtliche Ausgestaltung der Interventionen der Jugendhilfe konkreter untersucht werden. Wie im einführenden Kapitel festgelegt, wird unter einer Intervention in der vorliegenden Arbeit eine spezifische Variante staatlicher Tätigkeit im Bereich der Familie verstanden und zwar die zielgerichtete spezifische und bewusste Einflussnahme durch die Jugendhilfe auf eine einzelne Familie im faktisch-tatsächlichen Sinne. Unter Einflussnahme wird dabei jede staatlich veranlasste Einmischung im weitesten Sinne verstanden; zielgerichtet und spezifisch ist die Einflussnahme dann, wenn sich die staatliche Aktivität schon auf eine einzelne Familie konkretisiert hat. Unter normierten Anlässen für Interventionen der Jugendhilfe werden diejenigen Faktoren verstanden, welche aus den Normen heraus dafür erkennbar sind, dass sich die allgemeine staatliche Tätigkeit in Form einer faktisch-tatsächlichen Intervention auf eine Familie konzentrierte. Dies bedeutet die Analyse der Ausgestaltung der Tatbestandsvoraussetzungen derjenigen Normen, welche Rechtsfolgen normieren, deren tatsächliche Umsetzung auf der tatsächlichen Ebene eine Intervention bedeuten würden. Es wurde sich von Anfang an auf ambulante Maßnahmen451 beschränkt.452 Außerdem wird sich an dieser Stelle453 angesichts der sehr umfassenden Kompetenzen der Jugendhilfe auf die direkte und unmittelbare Beeinflussung der einzelnen Familie durch die Jugendhilfe selbst und damit auf eine spezielle Form der Intervention konzentriert. Es werden also nur diejenigen Rechtsgrundlagen herausgegriffen, die Maßnahmen regeln, welche die Jugendhilfe selbst und unmittelbar und nicht lediglich in Form der Mitwirkung bei gerichtlichen Maßnahmen treffen konnte.

451 Unter „Maßnahmen“ wurde jegliche in den Rechtsgrundlagen festgelegte staatliche bzw. gesellschaftliche Aktivität verstanden (vgl. auch das Fazit zu §§ 4 und 44 FGB). 452 Zu den Gründen vgl. oben das einführende Kapitel. 453 Im Zusammenhang mit der Analyse der Interventionen der Jugendhilfe anhand von Akten wird diese Eingrenzung dagegen nicht vorgenommen. Eine derartige Unterscheidung würde die in den Akten dargestellten natürlichen Lebenssachverhalte unsachgemäß auseinander reißen.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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1. Rechtsgrundlagen für Interventionen der Jugendhilfe Folgende Vorschriften enthalten Rechtsgrundlagen für Interventionen der Jugendhilfe im Sinne der hier zugrunde gelegten Definition454 ; ihr Regelungsinhalt wird jeweils zusammenfassend dargestellt: – § 27 Abs. 2 FGB: Umgangsrecht nach Scheidung Die Jugendhilfe unterstützt auf Antrag die Eltern dabei, sich im Rahmen des Scheidungsverfahrens über den Umgang mit dem Kind zu einigen. Gem. den §§ 25 ff. FGB wird die Scheidung selbst sowie das Erziehungsrecht und der Unterhalt nach Scheidung durch das Gericht entschieden. – §§ 45 Abs. 2 S. 2, Abs. 3, 46 Abs. 2 und 47 Abs. 3 FGB: Übertragung des Erziehungsrechts Die genannten Paragraphen regeln, in welchen Fällen (Tod bzw. Verlust des Erziehungsrechtes eines oder beider Elternteile) die Jugendhilfe das Erziehungsrecht übertragen kann und an wen. Gem. § 45 Abs. 3 S. 1 FGB entscheidet aber das Gericht über das Erziehungsrecht nach der Scheidung der Eltern und wenn die Ehe für nichtig erklärt wird (§ 25 FGB). – §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB: Erziehungshilfe Gem. § 49 Abs. 2 FGB kann die Jugendhilfe auf Wunsch der Eltern Hilfe und Unterstützung bei Erziehungsschwierigkeiten bieten. Gem. § 50 FGB kann die Jugendhilfe Maßnahmen zur Sicherung der Erziehung und Entwicklung bzw. der Gesundheit des Kindes treffen. Das Erziehungsrecht kann jedoch gem. § 51 FGB nur durch das Gericht – allerdings auf Klage der Jugendhilfe hin – entzogen werden. – § 55 Abs. 3 FGB: Feststellung der Vaterschaft durch Anerkennung und Verpflichtung zur Unterhaltszahlung Die Vaterschaft wird, wenn die Eltern nicht verheiratet sind, durch Anerkennung begründet und durch die Jugendhilfe bzw. durch das staatliche Notariat beurkundet. Die Einflussnahme auf die Familie aufgrund dieser rechtlichen Regelung war relativ gering. Gem. der §§ 56 ff. FGB kann die Vaterschaft auch im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens festgestellt werden.

454 Vgl. oben die zugrunde gelegte Definition, unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

– § 65 Abs. 3 FGB: Annahme eines anderen Familiennamens Die Jugendhilfe kann gem. § 65 Abs. 3 FGB zum Wohle des Kindes aus geschiedener Ehe die Einwilligung des nichterziehungsberechtigten Elternteils für die Annahme eines neuen Familiennamens ersetzen. – § 68 ff. FGB: Annahme an Kindes Statt Die Annahme an Kindes Statt wird nach Antrag des Annehmenden durch Beschluss der Jugendhilfe entschieden, vgl. § 68 FGB. Auch die Einwilligungserklärungen der Eltern bzw. des Kindes455 sind vor dem Organ der Jugendhilfe oder in notariell beurkundeter Form abzugeben, § 69 Abs. 2 FGB. Die Einwilligung der Eltern kann auf Klage der Jugendhilfe auch durch das Gericht ersetzt werden, § 70 Abs. 1 FGB. – §§ 88 ff. FGB: Vormundschaft Die Jugendhilfe ist für die Anordnung, Bestellung und Kontrolle eines Vormundes für einen Minderjährigen ohne Erziehungsberechtigten verantwortlich, vgl. § 88 FGB.456 – §§ 104 ff. FGB: Pflegschaft Die Jugendhilfe bestellt einen Pfleger, wenn der Erziehungsberechtigte oder Vormund an der Ausübung des Erziehungsrechtes oder an der Ausübung bestimmter Pflichten verhindert ist oder es sich um einen Interessenkonflikt handeln könnte, vgl. § 104 FGB.457 Es wird nun analysiert, welche Voraussetzungen im Einzelnen dafür formuliert wurden, dass sich die Jugendhilfe im Rahmen ihrer allgemeinen Tätigkeit458 der einzelnen Familie widmet und spezifisch, direkt und unmittelbar auf diese einwirkt, also in die Familie interveniert im Sinne der hier verwendeten „engen“ Definition von Interventionen. Denn der normierte Tatbestand wird – fern von einer „Berechtigung zum Eingriff“ – in rechtssoziologischer Herangehensweise schlicht als Anlass für Interventionen der Jugendhilfe in die Familie verstanden. Dabei ergibt sich aus dem Wortlaut der Paragraphen im Überblick der Eindruck, dass die Tatbestandsvoraussetzungen umso höher sind, je intensiver die normierte Rechtsfolge und damit bei entsprechender Umsetzung auch die Intervention wäre. Diese Staffelung wirkt sachgerecht und wie eine Ausprägung einer Art „Erforderlichkeitsgrundsatz“.

455

Ab dem 14. Lebensjahr hat auch das Kind einzuwilligen, § 69 Abs. 1 S. 1 FGB. Ausführlicher dazu: Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. 53 ff. 457 Ausführlicher dazu: Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. 55 f. 458 Siehe dazu die Definition unter Einleitung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 456

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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Von den erwähnten Rechtsgrundlagen wird mit den §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB begonnen, da bei diesen die Tatbestandsvoraussetzungen besonders detailliert und in Bezug auf das DDR-spezifische Verständnis des Familienrechts interessant sind. 2. Wortlaut der §§ 49 Abs. 2, 50 FGB und § 1 JHVO Der Unterabschnitt „Erziehungshilfe, Entzug und Ausschluß des elterlichen Erziehungsrechts“ beginnt, wie schon erwähnt, mit § 49 FGB und betont gem. Absatz 1 die hohe Verantwortung der Eltern gegenüber den Kindern sowie gem. Absatz 2 die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Eltern mit den staatlichen Organen: § 49 Abs. 2 FGB „Bei Schwierigkeiten in der Erziehung ihrer Kinder können sich die Eltern vertrauensvoll an die Einrichtungen der Vorschulerziehung und des Gesundheits- und Sozialwesens, die Schule, den Elternbeirat, die Organe der Jugendhilfe, die gesellschaftlichen Organisationen und Kollektive oder die Ehe- und Familienberatungsstellen wenden und deren Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen.“

Dem Wortlaut nach ist § 49 Abs. 2 FGB als Angebot an die Eltern formuliert, welches die Eltern freiwillig nutzen können: Die Eltern können bei (durch sie selbst subjektiv festgestellten) Erziehungsproblemen Hilfe und Unterstützung erbitten, die Gesellschaft ist dann gem. § 44 FGB zur Unterstützung verpflichtet. Dies lässt sich auch aus der Formulierung des § 49 FGB schließen: er ist ausdrücklich an die Eltern gerichtet,459 dabei werden explizit die Organe der Jugendhilfe aufgezählt460. Damit wird im FGB eine Rechtsgrundlage für Interventionen normiert: denn im Gegensatz zum Eingriffsbegriff ist es für eine Intervention im Sinne der Definition461 nicht entscheidend, dass die Rechtsgrundlage den Eltern nur das Angebot macht, selbst und freiwillig dieses Angebot in Anspruch zu nehmen: Die Inanspruchnahme durch die Eltern ist lediglich eine Tatbestandsvoraussetzung für eine spätere faktische Beeinflussung der Familie im Sinne des Interventionsbegriffes. Gleichzeitig beschreibt § 49 Abs. 2 FGB inzident aber auch die Verpflichtung der gesellschaftlichen und staatlichen Organe gegenüber den einzelnen Familien, Hilfe und Unterstützung zu bieten. Der Tatbestand für eine Intervention gem. § 50 FGB wird wie folgt beschrieben:

459 In diesem Zusammenhang befremdet dagegen die Einordnung der freiwilligen Erziehungshilfe zusammen in einem Abschnitt des FGB mit „Entzug und Ausschluß des elterlichen Erziehungsrechtes“. 460 Im FGB-Kommentar wird dagegen später nur noch von „gesellschaftlichen Organen“ gesprochen, vgl. die Auslegung des § 49 FGB i.R.d. § 50 FGB. 461 Spezifisch auf die einzelne Familie gerichtete Einflussnahme durch die Jugendhilfe. Einflussnahme ist dabei im weitesten faktisch-soziologischen Sinne zu verstehen.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

§ 50 FGB „Sind die Erziehung und Entwicklung oder die Gesundheit des Kindes gefährdet und auch bei gesellschaftlicher Unterstützung der Eltern nicht gesichert, hat das Organ der Jugendhilfe nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen Maßnahmen zu treffen. Das gilt auch dann, wenn wirtschaftliche Interessen des Kindes gefährdet sind. Das Organ der Jugendhilfe kann den Eltern oder dem Kind Pflichten auferlegen oder Maßnahmen zu seiner Erziehung treffen, die zeitweilig auch außerhalb des Elternhauses durchgeführt werden können. Das Organ der Jugendhilfe kann das Kind in einzelnen Angelegenheiten selbst vertreten oder zur Wahrnehmung dieser Angelegenheiten einen Pfleger bestellen.“

In § 50 FGB werden in Satz 1 und 2 die Voraussetzungen für eine Intervention im Sinne des Paragraphen definiert: es wird dabei an den zentralen Begriff einer Gefährdung angeknüpft, entweder der Erziehung und Entwicklung oder der Gesundheit des Kindes (S. 1) bzw. der wirtschaftlichen Interessen des Kindes (S. 2). Im Umkehrschluss zu § 51 Abs. 1 S. 1 FGB ergibt sich, dass im Rahmen des § 50 S. 1 FGB hierfür ein Verschulden der Erziehungsberechtigten keine Voraussetzung ist. Die Erwähnung des Begriffs „Erziehung“ an dieser Stelle stellt einen wesentlichen Unterschied des sozialistischen öffentlichen Familienrechts im Vergleich zum bürgerlich-rechtlichen Familienrecht dar, welches auf – wie schon des Öfteren erwähnt – der Werteneutralität des Staates basiert. In der DDR galt jedoch, wie schon besprochen, das sozialistische Erziehungsideal des § 42 FGB. Die Formulierung „[…] und auch bei gesellschaftlicher Unterstützung der Eltern nicht gesichert […]“ ist auslegungsbedürftig. Insbesondere die Frage, auf welche anderen Normen sich hierbei bezogen wird, lässt sich aus dem Wortlaut und der Stellung des § 50 FGB allein nicht beantworten. Ein Bezug auf § 49 Abs. 2 FGB liegt nahe, jedoch scheint der Begriff der gesellschaftlichen Unterstützung angesichts der in § 49 Abs. 2 FGB aufgezählten Organe nicht ganz zu passen. Nach dem Wortlaut der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB wird damit festgelegt, dass die Eltern bei Erziehungsschwierigkeiten gem. § 49 Abs. 2 FGB freiwillig um Hilfe und Rat bitten können. Erst bei einer Gefährdung des Kindes, welche mit gesellschaftlicher Unterstützung nicht zu beseitigen sei, soll die Jugendhilfe gem. § 50 FGB (ungebeten) einschreiten und dann auch Maßnahmen erlassen können. Dadurch entsteht der Eindruck, dass bei einem Vergleich zwischen § 49 Abs. 2 FGB und § 50 FGB nicht nur ein Unterschied in den verschiedenen Qualitäten der Beeinflussung, also ein Ansprung der Interventionsintensität (von Hilfe und Unterstützung hin zu einem Einschreiten ohne bzw. gegen den Willen der Eltern) feststellbar ist, sondern gleichzeitig – je nach der Qualität der Beeinflussung – die Beeinflussung auch an unterschiedlich hohe Bedingungen geknüpft wird, ähnlich wie bei den Regelungsinhalten nach dem BGB und SGB VIII462 : zum einen ist Voraussetzung der Anwendbarkeit des § 49 Abs. 2 FGB die Inanspruchnahme des gesetzlich bestehenden Angebotes durch die Eltern, zum anderen ist Voraussetzung der Einschlägigkeit des § 50 FGB eine Kindeswohlgefährdung sowie eine weitere Voraussetzung. Damit 462

Vgl. §§ 1666 ff. BGB, § 8 a SGB VIII sowie §§ 42 ff. SGB VIII.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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scheint es vom Gesetzeswortlaut her in der DDR mit § 50 FGB auch ohne das Bestehen von subjektiven Rechten eine Art „Hürde“ bzw. Schwelle zu geben: zwar werden keine subjektiven Rechte im Sinne des bürgerlichen Rechtsbegriffes normiert, jedoch werden an eine Intervention ohne oder gar gegen den Willen der Eltern höhere Voraussetzungen gestellt und zwar ebenfalls eine Kindeswohlgefährdung.463 Durch die Variante der Gefährdung von „Erziehung und Entwicklung“ ist für die Annahme einer Gefährdung ein deutlich größerer Spielraum als in der BRD. In der BRD wird die Erziehung nur in den engen Grenzen des staatlichen Wächteramtes gem. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG überprüft und „[…] es ist nicht erlaubt, eine „Staatserziehung“ zu etablieren […].“464 Was genau unter „Gefährdung der Erziehung und Entwicklung“ i.S.d. § 50 FGB subsumiert wurde, ist auslegungsbedürftig und anhand der Kommentierung nachzuvollziehen. Gleichzeitig stellt § 50 S. 1 FGB bezüglich der möglichen Maßnahmen der Organe der Jugendhilfe eine Zuweisungsnorm zu „besonderen gesetzlichen Bestimmungen“ dar, insbesondere der JHVO.465 Die JHVO normiert die Zielstellung und Pflichten der Organe der Jugendhilfe, vgl. §§ 1, 2 und 3 JHVO, und – wie bereits dargestellt – die Organisation der Jugendhilfe, die möglichen Maßnahmen der einzelnen Organe sowie formale Vorschriften zum Verfahren. § 1 Abs. 1 und Abs. 4 JHVO normiert hierbei Voraussetzungen für Interventionen der Jugendhilfe: § 1 JHVO466 Abs. 1 „Jugendhilfe umfasst die rechtzeitige korrigierende Einflußnahme bei Anzeichen der sozialen Fehlentwicklung und die Verhütung und Beseitigung der Vernachlässigung und Aufsichtslosigkeit von Kindern und Jugendlichen, die vorbeugende Bekämpfung der Jugendkriminalität, die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Minderjährigen sowie die Sorge für elternlose und familiengelöste Kinder und Jugendliche.“ Abs. 4 „Die Organe der Jugendhilfe werden tätig, wenn die Erziehung und Entwicklung oder die Gesundheit Minderjähriger gefährdet und auch bei gesellschaftlicher und staatlicher Unterstützung der Erziehungsberechtigten nicht gesichert sind, wenn für Minderjährige niemand das elterliche Erziehungsrecht hat oder wenn sie in gesetzlich besonders bestimmten Fällen die Interessen der Minderjährigen vertreten müssen. Die Organe der Jugendhilfe 463

Heutzutage muss die Kindeswohlgefährdung in einem gerichtlichen Verfahren, auf der Basis der Einschätzung von Fachleuten und nach objektiv bestimmbaren Kriterien festgestellt werden. Nur bei Gefahr in Verzug kann das Jugendamt selbst eine Kindeswohlgefährdung feststellen. Diese Entscheidung muss im Nachhinein aber gerichtlich bestätigt werden (vgl. §§ 1666 ff. BGB, § 8 a SGB VIII sowie §§ 42 ff. SGB VIII. Vgl. weiterführend bspw. Schlüter, BGB-Familienrecht, § 25 VIII, S. 255 ff.). 464 Schwab, Familienrecht, § 55 II, S. 300. 465 Vgl. bspw. auch Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205. 466 Zu § 1 Abs. 2 und 3 JHVO vgl. Organisation der Jugendhilfe.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

unterstützen andere staatliche Organe, insbesondere die Rechtspflegeorgane, wenn über Angelegenheiten Minderjähriger beraten und entschieden wird.“

Gemäß § 1 Abs. 4 JHVO wird, wie auch bei § 50 FGB, auf ein Gefährdungsmoment abgestellt und dies zur Voraussetzung einer Intervention gemacht. § 1 Abs. 1 JHVO definiert jedoch die Schwelle, ab welcher die Jugendhilfe „Maßnahmen zu treffen hat“ (vgl. den Wortlaut des § 50 FGB), deutlich anders: es wird allgemein eine „soziale Fehlentwicklung“ vorausgesetzt sowie mit der unspezifischen Begrifflichkeit der „rechtzeitigen korrigierenden Einflussnahme“ eine ähnlich weite Formulierung wie bei der Beschreibung der Tätigkeit i.S.d. § 4 FGB gewählt. Dies verwundert, da sich für Absatz 1 des § 1 JHVO keine Entsprechung im FGB findet. Auch mit dem Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB ist § 1 Abs. 1 JHVO nicht vergleichbar, da dort – wie schon ausgeführt wurde – Interventionen auf Basis des § 49 Abs. 2 FGB an die Bedingung geknüpft werden, dass die Eltern das gesetzliche Angebot, sich Hilfe und Unterstützung zu holen, erst selbst (freiwillig) in Anspruch nehmen müssen bei (durch die Eltern subjektiv festgestellten) Erziehungsschwierigkeiten. Absatz 1 scheint jedoch der Jugendhilfe dem Wortlaut gemäß bereits vor einer objektiv festgestellten Gefährdung i.S.d. Absatz 4 eine Rechtsgrundlage für Interventionen auch ohne die Voraussetzung der freiwilligen Inanspruchnahme der Eltern zu geben, sobald lediglich Anzeichen der sozialen Fehlentwicklung vorzuliegen scheinen – wobei diese Einflussnahme möglichst „rechtzeitig“ erfolgen sollte. Auch zwischen einer klaren Gefährdungssituation gem. Absatz 4 als Auslöser für Interventionen der Jugendhilfe sowie gem. Absatz 1 einer „rechtzeitige[n] korrigierende[n] Einflußnahme bei Anzeichen der sozialen Fehlentwicklung“ besteht nach heutigem Verständnis eine deutliche Diskrepanz. Dies bedeutet, dass entweder festgelegt wurde, dass auch schon „Anzeichen der sozialen Fehlentwicklung“ gem. § 1 Abs. 1 JHVO als „Gefährdung“ i.S.d. § 1 Abs. 4 JHVO zu verstehen sind und der Gefährdungsbegriff damit denkbar weit gefasst wurde. Oder aber es ist davon auszugehen, dass mit § 1 Abs. 1 JHVO noch eine Art Zwischenstufe zwischen § 49 Abs. 2 FGB und § 50 FGB normiert wurde (zwischen dem freiwilligen Hilfegesuch der Eltern sowie dem Tätigwerden bei Gefährdung des Kindes also); dies ist möglich, da die JHVO erst nach dem FGB in Kraft trat. Möglich ist aber auch, dass der Gesetzestext in sich nicht kohärent ist und die scheinbare Widersprüchlichkeit des Wortlauts der Absätze 1 und 4 tatsächlich besteht. In Ermangelung eines Kommentares zur JHVO kann daher lediglich festgestellt werden, dass dem reinen Wortlaut nach § 1 JHVO insgesamt sehr unbestimmt zu sein scheint und im Gegensatz zu den §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB hier keine deutlich festgeschriebene Hürde von der einen Interventionsintensität zur anderen normiert ist. Aufgrund des sehr weit gefassten § 50 FGB und des scheinbar widersprüchlichen, in jedem Falle aber unkonkreten Wortlauts des § 1 JHVO ist näher anhand der

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Auslegung in den Kommentierungen zu untersuchen, welche rechtlichen Voraussetzungen für die Interventionen der Jugendhilfe mit unterschiedlicher Intensität gegeben sein mussten. 3. Auslegung der §§ 49 und 50 FGB anhand des FGB-Kommentars Nach dem Wortlaut des FGB scheint § 49 Abs. 2 FGB eindeutig die freiwillig angeforderte Erziehungshilfe zu betreffen und Maßnahmen der Jugendhilfe können gem. § 50 FGB auch ohne oder gegen den Willen der Eltern nur unter der Voraussetzung einer Gefährdungssituation erfolgen. Anders als für das FGB gab es für die JHVO keinen amtlichen Kommentar, daher wird sich auf die Auslegung gemäß der Kommentierungen zum FGB in Bezug auf die §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB konzentriert.467 a) Auslegung des § 49 FGB, insbesondere Absatz 2 § 49 Abs. 1 FGB wurde bereits unter dem Aspekt der Rechte und Pflichten der Eltern ausführlich besprochen. Im Folgenden wird sich schwerpunktmäßig auf § 49 Abs. 2 FGB konzentriert, da dieser im FGB die erstgenannte Rechtsgrundlage für eine Intervention der Jugendhilfe im Sinne der Definition468 ist: es werden Rechtsfolgen mit der geringsten Intensität normiert: „Hilfe und Unterstützung“ (vgl. Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB). Analysiert man die Kommentierung des § 49 Abs. 2 FGB, so ist eine merkliche Veränderung der Auslegung von Auflage zu Auflage erkennbar; die neue Interpretation deutet sich schon ab 1970 durch eine neue Wortwahl an: aa) Kommentierung von 1966 In der Auflage von 1966 wird es nach § 49 Abs. 1 FGB als „moralische Forderung“469 angesehen, dass die Eltern nach Möglichkeiten suchen, sich die erforderlichen Kenntnisse für die notwendige Gestaltung der Familienerziehung anzueignen und die Notwendigkeit des Erwerbs pädagogischer Grundkenntnisse unterstrichen.470 Die Pflichten der Gesellschaft (und damit auch des Staates) werden fol467 Die Auslegung nach dem Kommentar zum FGB ist besonders aufschlussreich, da hier auch die Richtlinien, Parteitagsbeschlüsse etc. eingearbeitet wurden. 468 Definition vgl. oben unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. Dass es Voraussetzung ist, dass die Familie erst um Hilfe und Unterstützung bitten muss, ist nach dieser Definition unerheblich. Entscheidend ist die Rechtsfolge der zielgerichteten Einflussnahme auf die einzelne Familie. 469 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183. 470 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183.

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gendermaßen beschrieben: wie schon in § 44 FGB normiert, müsse das Bedürfnis der Eltern, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, geweckt werden471, der Schwerpunkt aller Arbeit mit den Eltern müsse darauf gerichtet sein, die in der Familie und in der Persönlichkeit der Eltern liegenden sowie die sich aus der Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule ergebenden Kräfte voll zu wecken und zu nutzen.472 „Es entspricht dem humanistischen Charakter unserer Gesellschaft, wenn den Kindern, deren Entwicklung mit Schwierigkeiten verbunden ist, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein [solches] Kind […] bedarf der besonderen Fürsorge und Liebe, verbunden mit pädagogischer Konsequenz.“473 Diese Auslegung ist noch vom Wortlaut gedeckt und insofern im Kontext des sonstigen sozialistischen öffentlichen Familienrechts nicht bemerkenswert. bb) Kommentierung von 1970 In der Auflage von 1970 wird in Bezug auf § 49 FGB nicht mehr allgemein von einer moralischen Forderung gesprochen: „Die in der Bestimmung geforderte Aktivität der Eltern, sich selbst um die Erweiterung ihrer Kenntnisse für die Erziehung der Kinder in der Familie zu bemühen, dafür vorgesehene staatliche und gesellschaftliche Möglichkeiten zu nutzen und Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, muß im engen Zusammenhang mit den Aufgaben, Rechten und Pflichten der Eltern (§§ 42 und 43) und den Aufgaben und Pflichten staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte (§ 44) betrachtet werden.“474 Gerade weil die Kommentierungen von 1966 und 1970 in vielen Punkten wortgleich sind, fallen zwei Unterschiede umso deutlicher auf: es wird zum einen betont, dass es bei allen auftretenden Schwierigkeiten darauf ankäme, rechtzeitig Beratung, Hilfe und Unterstützung zu suchen, um der Fehlentwicklung des Kindes vorzubeugen.475 Zum anderen wird der Text von 1966 etwas abgewandelt und nun insgesamt mehr Betonung auf die Hilfe und Unterstützung der Eltern durch die Gesellschaft gelegt.476

471

Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 184. 473 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 184. 474 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227. 475 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 228. 476 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 228: „Es entspricht dem humanistischen Charakter der sozialistischen Gesellschaft, wenn den Kindern, deren Entwicklung mit Schwierigkeiten verbunden ist, große Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diese Kinder bedürfen der besonderen Fürsorge und Liebe und ihre Eltern der spezifischen Hilfe und Unterstützung.“ 472

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cc) Kommentierung von 1973 Die Kommentierung von 1973 ist fast identisch mit der von 1970, auch bezüglich der Forderung nach der Rechtzeitigkeit. Gerade deshalb fallen wiederum folgende Änderungen besonders auf: Es wird nun bzgl. des § 49 Abs. 2 FGB nicht mehr von „besonderen“ Schwierigkeiten gesprochen, sondern lediglich von Schwierigkeiten.477 Dies ist an sich dem Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB entsprechend, aber im Zusammenhang mit dem folgenden, 1973 erstmalig neu hinzukommenden Absatz, anders zu bewerten: Es wird erneut betont, dass die in Absatz 2 genannten Organe „die Bereitschaft der Eltern, sich beraten und helfen zu lassen, wecken und fördern“478, wozu auch die pädagogische Propaganda diene.479 „Unterlassen es die Eltern, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, obwohl Schwierigkeiten bei der Erziehung auftreten die sie nicht leisten können, müssen sie mit Folgen rechnen. So kann ein Unterlassen zu einer Gefährdung des Kindes führen, die das Eingreifen der Organe der Jugendhilfe auch gegen den Willen der Eltern fordert (vgl. § 50). Geschieht die Unterlassung aus verantwortungsloser Gleichgültigkeit, kann der Entzug des Erziehungsrechts geboten sein (vgl. § 51).“480 Der erste Satz des Zitats der Kommentierung von 1973 „Unterlassen es die Eltern …“ ist so formuliert, als hätten die Eltern schon allein wegen des Unterlassens selbst mit negativen Folgen zu rechnen (und nicht erst wegen einer Gefährdung oder gar Schädigung des Kindes). Der zweite Satz schwächt dies zwar ab, da er eine Gefährdung des Kindes zur Voraussetzung macht; im letzten Satz des Zitats wird allerdings wiederum allein auf die Unterlassung selbst abgestellt, dies sogar im Zusammenhang mit dem Entzug des Erziehungsrechts. Dieser Eindruck könnte auch lediglich durch unsaubere Formulierung entstanden sein und ganz selbstverständlich für sämtliche Konsequenzen eine Gefährdung des Kindes vorausgesetzt werden. Dennoch bleibt der Duktus dieses Absatzes drohend, alleine durch die erstmalige Verwendung des Wortes „Unterlassen“. Wurde der Begriff schlicht als Nichtvornahme einer Handlung verstanden, so ist dies allein schon bemerkenswert im Gegensatz zum Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB: aus diesem ergibt sich ein Anspruch der Eltern, auf welchen sie sich freiwillig berufen können („können… in Anspruch nehmen“). Die Formulierung lässt aber vielmehr auf die Verwendung eines engen Unterlassungsbegriffs in der Form schließen, dass die Nichtvornahme der Handlung, Hilfe und Unterstützung anzunehmen, als Verstoß gegen eine bestehende Pflicht bzw. ein Gebot dies zu tun, verstanden wurde. Damit wäre ab 1973 dem § 49 Abs. 2 FGB offenbar entgegen seines Wortlautes ein reiner Pflichtcharakter gegeben worden. Die Freiwilligkeit des Wortlautes sowie die Gestaltung als Anspruch der Eltern wären damit in ihr Gegenteil verkehrt. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass der Formulierung des Kommentars nach im Zentrum einer 477 478 479 480

Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 204. Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 204. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 204.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

etwaigen „Pflichtverletzung“ nicht im Fokus steht, sich zu wenig um das Befinden des Kindes gekümmert zu haben, sondern das Unterlassen, gesellschaftliche bzw. staatliche Hilfe nicht angefordert oder angenommen zu haben. Dass dies aber nicht deutlich ausgesprochen wird, muss ebenfalls Funktionen gehabt haben und wird noch diskutiert werden. dd) Kommentierung von 1982 Im Kommentar von 1982 wird dann der Pflichtcharakter des § 49 Abs. 2 FGB noch deutlicher herausgestellt: „Hilfe und Unterstützung zu fordern und anzunehmen gehört zu den Rechten und Pflichten der Eltern (§ 4 Abs. 1). Das gilt insbesondere dann, wenn Schwierigkeiten bei der Erziehung auftreten, die die Eltern auf sich allein gestellt nicht meistern können. Sie zu überwinden, ist häufig ohne sachkundige Beratung, der eine exakte Analyse der Erziehungssituation vorausgehen muß, nicht möglich. Von den Eltern muß erwartet werden, daß sie sich in einer solchen Situation so früh wie möglich um Rat und Hilfe bemühen, um rechtzeitig einer Fehlentwicklung des Kindes vorzubeugen.“481 Im Vergleich zu 1970 und 1973 wird damit nicht mehr nur gefordert, dass sich die Eltern „rechtzeitig“ um Beratung, Hilfe und Unterstützung bemühen482, sondern sogar, dass dies „so früh wie möglich“ geschehen solle und somit der Maßstab für einen verantwortungsvollen Umgang der Eltern i.S.d. § 49 Abs. 1 FGB noch weiter verschärft. Im Übrigen gleicht die Kommentierung von 1982 den beiden vorhergehenden Auflagen: „Die Bereitschaft der Eltern zur Annahme von Rat und Hilfe ist durch die Arbeitsweise der in Abs. 2 genannten Organe, Organisationen und Institutionen zu wecken und zu fördern. Umfang sowie Art und Weise […] sind von den Erfordernissen des Einzelfalles abhängig.“483 Von einem Unterlassen wird allerdings nicht mehr gesprochen.484 Zwischenfazit Insgesamt kann also festgehalten werden, dass durch die Auflagen des Kommentars ab 1970 trotz des Wortlautes „können“ immer mehr eine Pflicht für die Eltern in die Bestimmung des § 49 Abs. 2 FGB hineininterpretiert wird. Damit bekommt die Bestimmung eine ganz neue Zielrichtung: statt einer 1966 angenommenen „moralischen Forderung“485, wird 1970 bereits „geforderte Aktivität“486 im Sinne der Norm angenommen und 1982 schließlich (trotz der Erwähnung des 481

Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 228 und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 204. 483 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 145. 484 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144 f. 485 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183. 486 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227. 482

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Rechtsanspruchs aus den §§ 4 und 49 FGB) gänzlich ein Verpflichtungscharakter der Norm für die Eltern angenommen sowie gefordert, „so früh wie möglich“487 um Hilfe zu bitten. Damit bekommt gleichzeitig auch § 49 Abs. 1 FGB eine andere Bedeutung und wird ab 1973 zu einer rechtsverbindlichen Pflicht; insbesondere sein letzter Halbsatz ist in diesem Kontext als verbindliche Forderung zu verstehen: „[…] sie sollen […] die dafür vorgesehenen staatlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten nutzen.“488 Diese Auslegung würde die Stellung von § 49 Abs. 1 FGB im Abschnitt über Erziehungshilfe, den Entzug und den Ausschluss des elterlichen Erziehungsrechts erklären. In jedem Falle ist festzuhalten, dass § 49 Abs. 2 FGB über seinen reinen Wortlaut hinaus ausgelegt wurde und so ganz im Lichte der Pflichten gem. § 49 Abs. 1 FGB steht. Damit wird aber gleichzeitig die im Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB normierte Freiwilligkeit in Frage gestellt. b) Auslegung des § 50 FGB aa) „Allgemeines“ Bevor die Tatbestandsvoraussetzungen des § 50 FGB beschrieben werden, gehen alle Auflagen des Kommentares zu § 50 FGB unter der Überschrift „Allgemeines“ zunächst nochmals näher auf § 49 Abs. 2 FGB ein. Wegen des Wortlauts des § 50 S. 1 FGB („[…] und auch bei gesellschaftlicher Unterstützung nicht gesichert […]“) erscheint dies auch konsequent. Auf diesen Nebensatz des § 50 S. 1. FGB wird sich jedoch in keinem der Kommentare bezogen. Außerdem sind die Ausführungen zu dem Abschnitt „Allgemeines“ in allen Auflagen von der Art der Formulierung sehr unspezifisch gehalten, ohne klare Strukturen und Zielrichtungen aufgebaut und auffällig verworren. Gleichzeitig drängt sich der Eindruck auf, dass an dieser Stelle wichtige Konkretisierungen des Verständnisses von § 49 Abs. 2 FGB und seines Verhältnisses zu § 50 FGB gemacht werden, welche auch über diese Paragraphen hinaus Bedeutung haben. Über alle Auflagen hinweg wird eingangs relativ einheitlich der Kontext der anderen Normen, auf welchen § 50 FGB basiert, unterstrichen: § 50 FGB ginge von der hohen Verantwortung der Eltern für die Entwicklung der Kinder i.S.d. § 49 Abs. 1 FGB aus.489 Die sozialistische Gesellschaft erwarte, dass sich die Eltern dessen bewusst seien und alles tun sollten, der Verantwortung gem. Art. 38 der Verfassung der DDR gerecht zu werden.490 487

Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. Siehe § 49 Abs. 1 S. 2 HS. 2 FGB. 489 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 228, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 145. 490 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 228 f. und Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205. 488

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Da die Kommentierungen sonst aber ziemlich unübersichtlich sind, werden diese erneut ausführlich und einzeln nach den Jahrgängen analysiert: (1) Kommentierung von 1966 In der Kommentierung von 1966 heißt es zu § 49 Abs. 2 FGB: „Die Eltern müssen ständig bemüht sein, dieser Verantwortung [i.S.d. § 49 Abs. 1 FGB] gerecht zu werden, und erforderlichenfalls auch die Hilfe und Unterstützung der Gesellschaft in Anspruch nehmen. Die Bereitschaft der Eltern, sich helfen und unterstützen zu lassen ist unterschiedlich. Daher müssen die im § 49 (2) aufgezählten Einrichtungen, Organe und Organisationen ihrerseits dem im Einzelfall auftretenden passiven Verhalten der Eltern entgegenwirken, das Verantwortungsbewußtsein der Eltern stärken und ihre Bereitschaft, Hilfe und Unterstützung anzunehmen, fördern.“491 Das Zitat überrascht insofern, als diese Kommentierung über die Auslegung i.R.d. § 49 FGB aus demselben Jahr hinausgeht: es ist dort keine Rede davon, dass die Eltern etwas „müssen“492, sondern es wird lediglich von einer „moralischen Forderung“493 gesprochen. Dass es als „passives Verhalten“ gewertet wurde, wenn sich Eltern nicht unterstützen und helfen lassen wollen, geht bereits in Richtung der Wertung der Kommentierung von 1973 (i.R.d. § 49 FGB), worin dies als „Unterlassen“494 gewertet wurde. Dass es als Pflicht der Organe des § 49 Abs. 2 FGB angesehen wurde, darauf hinzuarbeiten, die Eltern zur Erfüllung ihrer Pflichten zu motivieren, ist dagegen keine Neuerung im Vergleich zur Kommentierung von 1966 i.R.d. § 49 FGB.495 Damit wurde also auch schon 1966 der § 49 Abs. 2 FGB als Pflicht für die Eltern interpretiert sowie als Rechtsgrundlage für die dort aufgezählten Organe, die Eltern aktiv zur Nutzung der Möglichkeiten des § 49 Abs. 2 FGB zu animieren und aktiv ihrer „Passivität“ entgegenzuwirken. Anschließend wird 1966 auf das Verhältnis von § 50 FGB und § 49 Abs. 2 FGB eingegangen: „Die Gefährdung des Kindes und seiner wirtschaftlichen Interessen soll in erster Linie durch die gesellschaftliche Unterstützung der Eltern vermieden beziehungsweise beseitigt werden.“496 Dies entspricht auch dem Wortlaut des § 50 FGB: „Sind die Erziehung und Entwicklung oder die Gesundheit des Kindes gefährdet und auch bei gesellschaftlicher Unterstützung der Eltern nicht gesichert, hat das Organ der Jugendhilfe nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen Maßnahmen zu treffen.“ Der Kommentar führt aber noch weiter aus: „Vor einem staatlichen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht ist daher der Grundsatz zu beachten, daß die gesellschaftliche Initiative auszuschöpfen ist. Die Organe der Jugendhilfe können nach ihren besonderen gesetzlichen Bestimmungen nur tätig werden, wenn dieser 491 492 493 494 495 496

Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 204. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183 f. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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dem Wesen der sozialistischen Demokratie und dem sozialistischen Familienrecht entsprechende Grundsatz erfüllt ist.“497 Dieser Wortlaut schreibt damit den Organen obligatorisch vor, zuerst mit Mitteln der gesellschaftlichen Hilfe einer Gefährdung zu begegnen. Hierin könnte ein Erforderlichkeitsgrundsatz gesehen werden. Da diese Ausführungen aber außerdem auch im Zusammenhang mit § 49 Abs. 2 FGB gemacht werden, erscheint es so, als würde dieser dahingehend ausgelegt, dass er sich auch an die staatlichen und gesellschaftlichen Organe richtet, was vom Wortlaut der Norm an sich nicht gedeckt ist. In jedem Falle wird in den § 49 Abs. 2 FGB ein starker Pflichtcharakter in Bezug auf die Eltern hineininterpretiert. (2) Kommentierung von 1970 Zur Interpretation des § 49 Abs. 2 FGB bezüglich der Eltern heißt es im Kommentar von 1970498 nur, dass die sozialistische Gesellschaft von den Eltern erwarte, dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst seien und nicht mehr wie im Kommentar von 1966, dass sie Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen müssten. Anschließend ist die Kommentierung nahezu wortgleich zur Auflage von 1966; es wird jedoch betont, dass sich einige Eltern der Mängel in ihrer Familienerziehung nicht in genügendem Maße bewusst seien. Außerdem wird nach dem erwähnten Zitat hinzugefügt: „In der sozialistischen Gesellschaft lebt niemand auf sich allein gestellt, und die Verantwortung der sozialistischen Gesellschaft für die Erziehung der Kinder wirkt gegenüber allen Familien. Anzeichen der Vernachlässigung und Aufsichtslosigkeit sind deshalb z.B. Gründe, die ein besonderes Bemühen der gesellschaftlichen Kräfte erfordern. Unter sozialistischen Bedingungen sind alle Möglichkeiten gegeben, die Erziehung und Entwicklung der Kinder in der Familie zu gewährleisten und einer Gefährdung durch rechtzeitige korrigierende Einflußnahme zu begegnen. Die gesellschaftliche Hilfe gegenüber den Eltern zur Sicherung der Erziehung und Entwicklung der Kinder (z.B. durch Beratung oder durch Aussprache im Arbeitskollektiv) stellt keinen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht dar. Diese Hilfe muss vielmehr unter dem Gesichtspunkt der Verbindlichkeit der §§ 44 und 49 (2) betrachtet werden.“499 Dieses Zitat beginnt mit der sehr allgemeinen und bereits öfter gemachten Feststellung der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Erziehung der Kinder. Die Wortwahl des zweiten Satzes ist relativ unklar, da nicht ersichtlich ist, was mit einem „Bemühen“ der gesellschaftlichen Kräfte genau gemeint ist. Da sich an die gesellschaftlichen Kräfte gewendet wird, könnte damit gemeint sein, dass i.R.d. § 49 Abs. 2 FGB den Eltern Angebote gemacht werden sollen, sobald Anzeichen für eine Gefährdungssituation i.S.d. § 50 FGB vorliegen. Betrachtet man den 497 498 499

Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185. Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 228 f. Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 229.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

darauffolgenden Satz („Unter sozialistischen Bedingungen […]“500) isoliert, so wird durch die allgemeine Formulierung zunächst nicht deutlich, ob gemeint ist, dass die Eltern alle Möglichkeiten hätten, die Erziehung und Entwicklung der Kinder zu gewährleisten und einer Gefährdung zu begegnen (da sie ja dem Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB gemäß die Adressaten sind) oder ob die gesellschaftlichen bzw. staatlichen Organe bzw. auch beide Varianten gleichzeitig gemeint sind. Jedoch spricht die Wortwahl des zweiten Halbsatzes („ […] einer Gefährdung durch rechtzeitige korrigierende Einflußnahme zu begegnen.“) dafür, dass sich zumindest auch an die gesellschaftlichen bzw. staatlichen Organe gewendet wird. Dabei drängt sich die Frage auf, ob dieser Satz nicht vielleicht eine Interpretation des § 50 FGB sein könnte, da er dessen wortlautkonformer Auslegung auch entsprechen würde. Jedoch behandelt der gesamte erste Absatz in der Kommentierung von 1970 zu § 50 FGB ausschließlich den § 49 FGB501 und gerade mit den beiden auf das Zitat folgenden Sätzen wird hervor gehoben, dass man sich explizit auf § 49 Abs. 2 FGB bezieht. In diesem Kontext legt die unbedingte Formulierung „[…] einer Gefährdung [ist]502 durch rechtzeitige korrigierende Einflussnahme zu begegnen.“ in Verbindung mit der Erwähnung des § 49 Abs. 2 FGB nahe, dass § 49 Abs. 2 FGB sich an die staatlichen Organe richtet und als Rechtsgrundlage für deren Tätigkeit betrachtet wurde. Dies würde implizieren, dass die Zustimmung der Eltern keine obligatorische Voraussetzung wäre, da die Organe des § 49 Abs. 2 FGB ja in jedem Fall zum Handeln verpflichtet wären. Dies würde noch verstärkt durch die Verwendung des Wortes „rechtzeitig.“ Damit wäre aber die Bedeutung des § 49 Abs. 2 FGB durch die Verbindung mit § 44 FGB als freiwillige Anspruchsgrundlage für die Eltern in ihr Gegenteil verkehrt und § 49 Abs. 2 FGB dadurch zu einer Rechtsgrundlage für Interventionen der Jugendhilfe auch ohne Zutun der Eltern ausgelegt. Insgesamt kann zunächst festgehalten werden, dass sich aus dem genannten Zitat der Eindruck ergibt, als würden nach der Kommentierung von 1970 die Grenzen zwischen der Auslegung des § 49 Abs. 2 FGB (in Verbindung mit § 44 FGB) und dem Wortlaut des § 50 FGB zumindest verschwimmen. Damit geht auch bei dieser Auflage des Kommentars die Auslegung deutlich über die i.R.d. § 49 FGB selbst vorgenommene Auslegung hinaus, in welcher lediglich eine rechtzeitige Aktivität der Eltern, die Angebote des § 49 Abs. 2 FGB zu nutzen, als Pflicht der Eltern formuliert sowie die gesellschaftliche Unterstützung betont wurde.503 (3) Kommentierung von 1973 Im Vergleich zu 1970 ist die Kommentierung von 1973 in Bezug auf die Deutung des § 49 Abs. 2 FGB im Hinblick auf die Eltern deutlich entschärft und dem Wortlaut 500

Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 229. Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 228 f. 502 Auch wenn dies durch die Satzkonstruktion relativ versteckt formuliert wird, so ist es doch sinngemäß darin enthalten. 503 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227 f. 501

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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des § 49 Abs. 2 FGB entsprechender ausgelegt. Nach der Betonung der elterlichen Verantwortung i.S.d. § 49 Abs. 1 FGB und der Möglichkeiten, Hilfe und Unterstützung i.S.d. § 49 Abs. 2 FGB in Anspruch zu nehmen, heißt es nun lediglich: „Unter sozialistischen Bedingungen sind damit alle Möglichkeiten gegeben, die Erziehung und Entwicklung der Kinder in der Familie zu gewährleisten. Deshalb erwartet die sozialistische Gesellschaft, daß sich die Eltern ihrer Verantwortung stets bewußt sind und alles tun, um ihr gerecht zu werden (vgl. Art. 38 Verfassung der DDR).“504 Der 1970 entscheidende zweite Halbsatz in Bezug auf die rechtzeitige korrigierende Einflussnahme i.R.d. § 49 Abs. 2 FGB fehlt und auch vom Kontext her wird sich bezüglich der Möglichkeiten, welche die sozialistische Gesellschaft bietet, klar an die Eltern gewendet. Auch im Folgenden wird zwischen den Anwendungsbereichen der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB differenziert und die Voraussetzung der Freiwilligkeit der Inanspruchnahme von Hilfen durch die Eltern nicht grundsätzlich in Frage gestellt: „Die gesellschaftliche Unterstützung muss sich auch dann bewähren, wenn Schwierigkeiten bei der Erziehung der Kinder auftreten (vgl. § 49 Abs. 2), wenn das Kind, seine Erziehung und Entwicklung, seine Gesundheit oder seine wirtschaftlichen Interessen gefährdet sind. Elterliche Verantwortung schließt ein, in solchen Situationen Hilfe zu verlangen und anzunehmen, die nicht als Einmischung in die familiären Angelegenheiten zu betrachten [ist] und kein Eingriff505 in das elterliche Erziehungsrecht ist. Nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen werden Maßnahmen erst dann erforderlich, wenn im Einzelfall gesellschaftliche Unterstützung nicht ausreicht oder von den Eltern nicht in Anspruch genommen oder abgelehnt wird. Diese Maßnahmen sind in der JHVO festgelegt.“506 Es wird damit aber unterstrichen, dass die Nutzung der Möglichkeiten des § 49 Abs. 2 FGB als Teil der elterlichen Verantwortung angesehen wird und dass die Behörden auch ungefragt einige Angebote machen sollten. Die Interpretation des § 49 Abs. 2 FGB als Pflicht der Eltern, wie es 1973 im Rahmen des § 49 FGB durch die Verwendung des Wortes „Unterlassen“ zusammen mit der Forderung, sich rechtzeitig an die Behörden zu wenden, deutlich hervorgehoben wurde (vgl. oben), wird an dieser Stelle nicht wieder aufgenommen. Es wird sich im Gegenteil stark am Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB orientiert und den Eltern Freiwilligkeit in Bezug auf § 49 Abs. 2 FGB zugestanden (vgl. oben) (4) Kommentierung von 1982 Die Kommentierung der Auflage von 1982 ist in Bezug auf § 49 Abs. 2 FGB an den entscheidenden Stellen wortgleich zu 1973. Da in der Auflage von 1982 bereits im Rahmen der Kommentierung zu § 49 FGB selbst der Verpflichtungscharakter des 504 505 506

Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205. Auf den Eingriffsbegriff wird noch ausführlich eingegangen werden. Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

§ 49 Abs. 2 FGB deutlich gemacht und gefordert wird, dass sich die Eltern „so früh wie möglich“ um Hilfe und Unterstützung zu bemühen hätten (vgl. oben), ist die Auslegung des § 49 Abs. 2 FGB im Rahmen des § 50 FGB im Vergleich deutlich entschärft und wird wortlautkonform ausgelegt. Auf den Eingriffsbegriff der Kommentierung von 1982 wird noch eingegangen werden. (5) Fazit zu den Kommentierungen zu § 49 Abs. 2 FGB (i.R.d. § 49 Abs. 2 FGB und auch i.R.d. § 50 FGB) Insgesamt kann für die Kommentierungen zur Auslegung des § 49 Abs. 2 FGB im Rahmen des § 50 FGB also Folgendes festgehalten werden: Die Auflagen von 1966 und 1970 gehen bezüglich des § 49 Abs. 2 FGB deutlich über die oben dargestellten Interpretationen i.R.d. § 49 FGB selbst hinaus. Daher wird in diesen beiden Auflagen der Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB weiter überdehnt. Dass die Auslegung des § 49 Abs. 2 FGB über dessen Wortlaut hinaus nicht im Rahmen des § 49 FGB, sondern erst im Rahmen des § 50 FGB vorgenommen wird – wo sie nicht so schnell ins Auge fällt – verstärkt die fehlende Transparenz der Auslegung. 1973 wird dagegen § 49 Abs. 2 FGB im Vergleich zur Kommentierung i.R.d. § 49 FGB wieder näher am Wortlaut ausgelegt und lediglich der Verpflichtungscharakter der Norm angedeutet. Die Auslegung in der Auflage von 1982 ist i.R.d. § 50 FGB viel schwächer und wortlautkonform, weiterhin aber wird klar betont: elterliche Verantwortung bedeutet, Hilfe zu verlangen und auch anzunehmen.507 In allen Auflagen zeichnet sich damit die Kommentierung zu § 49 Abs. 2 FGB durch (einen) sehr starken Verpflichtungscharakter aus.508 Dies ergibt sich insbesondere implizit aus der Art und Weise, in welcher über die Situation gesprochen wird, in der sich die Eltern die angebotene Hilfe und Unterstützung nicht holen oder sich ihr gar verweigern. Zudem wird ab 1970 ein Vorrang gesellschaftlicher Unterstützung normiert, welcher argumentativ auf die §§ 44 i.V.m. 49 Abs. 2 FGB gestützt wird. Damit wird § 49 Abs. 2 FGB entgegen seines Wortlautes so ausgelegt, dass er sich an die staatlichen und gesellschaftlichen Organe wendet. Insgesamt scheint daher die Normierung des „Vorrangs der gesellschaftlichen Unterstützung“ weniger als Schutz der Eltern verstanden worden zu sein und auch nicht vorrangig als Anwendung eines Prinzips, zunächst „mildere Mittel“ anzuwenden, sondern vielmehr als rechtliche Regelung von Zuständigkeiten zwischen den einzelnen staatlichen und gesellschaftlichen Organen (quasi einer verwaltungsinternen Vorschrift entsprechend), auf welche sich die Eltern ebenfalls berufen konnten. 507

Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 145. Dies kann offensichtlich auch Einfluss auf die Auslegung des § 50 FGB haben wie noch genauer analysiert werden wird. 508

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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Exkurs: Begriff der Erziehungsschwierigkeiten i.S.d. § 49 Abs. 2 FGB Wird die Norm des § 49 Abs. 2 FGB entsprechend ihres Wortlautes als Angebot an die Eltern verstanden, welches diese völlig freiwillig nutzen können, so wird damit gleichzeitig impliziert, dass die Eltern selbst bestimmen, wann „Erziehungsschwierigkeiten“ nach ihren persönlichen Kriterien bestehen. Ist unter § 49 Abs. 2 FGB allerdings (auch) eine obligatorische Pflicht der Eltern zu verstehen, bei deren Nichterfüllung (bzw. bei der im Falle eines Verstoßes gegen diese – falls ein Verstoß gegen diese Pflicht möglich sein sollte –) indirekt auch mit Konsequenzen gedroht wird, so wäre eine Festlegung erforderlich, wer und aufgrund welcher (objektiven) Kriterien zu bestimmen hätte, ob es sich um Erziehungsschwierigkeiten handelt, da diese Kriterien dann zu Voraussetzungen für eine Intervention gem. § 49 Abs. 2 FGB gemacht werden würden. Aus dem Wortlaut des § 50 S. 1 FGB („Sind die Erziehung und Entwicklung oder die Gesundheit des Kindes gefährdet und auch bei gesellschaftlicher Unterstützung der Eltern nicht gesichert, hat das Organ der Jugendhilfe nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen Maßnahmen zu treffen.“) ergibt sich im Umkehrschluss, dass objektiv auch schon eine Gefährdung des Kindes bestehen kann, wenn die Eltern auf Grundlage des § 49 Abs. 2 FGB von den Organen der Jugendhilfe unterstützt werden. Die Gefährdung ist aber objektiv zu bestimmen und erst für ein Handeln der Jugendhilfe auf Basis des § 50 FGB entscheidend. In den Kommentierungen wird Folgendes zum Begriff der Erziehungsschwierigkeiten erwähnt: 1966 werden Erziehungsschwierigkeiten an einer Stelle umschrieben mit „auffällig negativem Verhalten“509. 1970 wird von „besonderen Schwierigkeiten“510 und 1973 dann lediglich von „Schwierigkeiten“511 gesprochen, ohne dies näher auszuführen. 1982 werden ebenfalls nur „Schwierigkeiten“512 erwähnt und höchstens indirekt festgelegt, was in jedem Falle unter diesen i.S.d. § 49 Abs. 2 FGB zu subsumieren sei: „Hilfe und Unterstützung zu fordern und in Anspruch zu nehmen, gehört zu den Rechten und Pflichten der Eltern (§ 4 Abs. 1). Das gilt insbesondere dann, wenn Schwierigkeiten bei der Erziehung auftreten, die die Eltern auf sich alleine gestellt nicht meistern können.“513 Dass aber die Eltern selbst auf Grund ihrer eigenen, subjektiven Einschätzung bestimmen können sollten, wann Erziehungsschwierigkeiten bestehen, wird in keiner der Auflagen auch nur angedeutet, sondern im Gegenteil betont, dass ihre Kenntnisse über die Erziehung in der sozialistischen Gesellschaft in der Regel für die sozialistische Erziehung nicht ausreichen.514 Gemäß der Kommentierung von 1970 wird sogar angenommen, dass sich die Eltern oft der Mängel in der Familienerziehung gar nicht in genügendem Maße bewusst würden.515 Es wurde damit offensichtlich vorausgesetzt, dass jedenfalls nicht die Eltern allein beurteilen können, wann Erziehungsschwierigkeiten bestünden (trotz der formulierten Freiwilligkeit in der Bestimmung), sondern dass objektiv klar sei, wann es sich um 509

Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 184. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227. 511 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203. 512 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. 513 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. 514 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 144. 515 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 229. 510

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(Erziehungs-)Schwierigkeiten handelte. Ob die Kompetenz für diese Einschätzung allein der sozialistischen Gesellschaft bzw. dem Staat zugestanden wurde, muss im Folgenden noch überprüft werden. Was „Erziehungsschwierigkeiten“ sein sollten und wer darüber nach welchem Verfahren sowie nach welchen Kriterien zu urteilen hat, wurde somit in den Kommentierungen zum FGB nicht festgelegt. Auch in anderen Bestimmungen lässt sich dazu keine Konkretisierung finden, insbesondere gab es kein Verwaltungsverfahrensgesetz, welches in dieser Hinsicht aufschlussreich hätte sein können. Aus BRD-rechtlicher Sicht scheint dies problematisch, da so auch nicht objektivierbar war, ab welchem genauen Zeitpunkt Hilfe erbeten werden sollte bzw. musste. Die Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs war damit nicht festgelegt bzw. wurde jedenfalls nicht offengelegt. Andererseits existierte in der DDR das normierte Erziehungsideal gem. Art. 38 Verfassung der DDR und gem. § 42 FGB, welches von der sozialistischen Gesellschaft bzw. dem Staat auch ganz offen und damit politisch festgelegt wurde. Insofern war es in der DDR inhaltlich gar nicht widersprüchlich, dass die Eltern verpflichtet wurden, sich staatliche Hilfe und Unterstützung zu holen, sobald sie das gesetzlich normierte Erziehungsideal (egal, aus welchem Grund) nicht erfüllen konnten. Fraglich bleibt aber, weshalb dies nicht im Wortlaut des § 49 Abs. 2 FGB offen normiert wurde, sondern erst durch dessen Auslegung in den Kommentierungen festgelegt wurde und weshalb selbst in den Kommentierungen zu § 49 Abs. 2 FGB im Zusammenhang mit den Erziehungsschwierigkeiten nicht direkt auf § 42 FGB bzw. allgemein auf das sozialistische Erziehungsziel hingewiesen wurde.

Fazit zum Begriff der Erziehungsschwierigkeiten In jedem Falle ist völlig unklar, was der Auslegung nach unter „Erziehungsschwierigkeiten“ zu verstehen ist: Ist dieser Begriff ein unbestimmter Rechtsbegriff, so wäre er besonders auslegungsbedürftig. Dies gilt, wenn § 49 Abs. 2 FGB als Anspruchsgrundlage der Eltern angesehen wird, auf welche sich diese völlig freiwillig berufen konnten; umso mehr muss der Begriff der Erziehungsschwierigkeiten aber konkretisiert werden, wenn er als Voraussetzung einer sanktionsbewährten Pflicht der Eltern zu verstehen ist. Statt eine juristische Auslegung vorzunehmen, wird in den Kommentierungen häufig auf sozialistisch-pädagogische Literatur verwiesen.516 Selbst ein klarer Verweis auf das sozialistische Erziehungsideal fehlt und würde den Begriff allein aber auch noch nicht genügend konkretisieren, um für hinreichende Klarheit für die Eltern zu sorgen, damit diese ihrer Pflicht überhaupt gerecht werden können. Zudem wird in den Kommentierungen betont, die Eltern könnten ihre Fehler selbst gar nicht erkennen.517 Wird § 49 Abs. 2 FGB also als Pflicht der Eltern verstanden, so wird gleichzeitig in Frage gestellt, ob die Eltern überhaupt die Fähigkeiten und Möglichkeiten hätten, diese zu erfüllen. Der rechtlichen Normierung ist daher kaum eine Konkretisierung des Begriffs der Erziehungsschwierigkeiten zu entnehmen.

Wie aus den Kommentierungen zu § 49 Abs. 2 FGB (im Rahmen der Kommentierung zu § 50 FGB) im Laufe der Zeit ersichtlich, wird die gemäß seines Wortlauts bestehende freiwilligen Möglichkeit der Eltern, Hilfe und Unterstützung 516 517

Bspw. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 147 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 229.

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aufgrund des § 49 Abs. 2 FGB anzunehmen, zunehmend ausgehöhlt. Ihnen wird die Pflicht auferlegt, die staatlichen Organe möglichst bald mit einzubeziehen. Damit erhält § 49 Abs. 2 FGB einen (reinen) Verpflichtungscharakter zulasten der Eltern, was Folgen für die Auslegung des Begriffs der Erziehungsschwierigkeiten hat. Gerade in Anbetracht dessen, dass es indirekt schon als unverantwortlich angesehen wurde, bei Erziehungsschwierigkeiten keine Hilfe gem. § 49 Abs. 2 FGB zu beanspruchen518 bzw. die Organe der Jugendhilfe angehalten waren, im Rahmen des § 49 Abs. 2 FGB „passivem Verhalten“ der Eltern entgegenzuwirken519, wird mit dem in §§ 44 i.V.m. 40 Abs. 2 FGB normierten Vorrang der gesellschaftlichen Unterstützung offensichtlich bereits eine Rechtsgrundlage für Interventionen geschaffen – und zwar ohne die Hürde der Aufforderung durch die Eltern gem. § 49 Abs. 2 FGB und ohne die Voraussetzungen des § 50 FGB. Dieses Ergebnis würde auch zu den im Rahmen des § 1 JHVO dargestellten Unstimmigkeiten passen. Um diesen Eindruck weiter zu prüfen und so die Rechtsgrundlagen für Interventionen der Jugendhilfe konkretisieren zu können wird daher im Anschluss die Auslegung des § 50 FGB anhand der Kommentare nachvollzogen. In allen Auflagen der Kommentierung zu § 50 FGB wird im Zusammenhang mit der erneuten Auslegung des § 49 Abs. 2 FGB häufig und kaum trennbar mit ihr verwoben immer wieder der Begriff des Eingriffs erwähnt520 ; in der Auslegung des § 50 FGB selbst jedoch nicht mehr erwähnt. Daher wird zunächst an dieser Stelle der Eingriffsbegriff des FGB analysiert: Exkurs: Erkenntnisse zum sozialistischen „Eingriffs“-Begriff und zur gesellschaftlichen Hilfe Die Verwendung des Begriffes „Eingriff“ in den Kommentierungen zu § 50 FGB erweckt bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein, als würde sie äquivalent zum heutigen öffentlichen Recht der BRD verwendet. Dafür fehlt es allerdings – wie schon im Abschnitt über Familie und Erziehung in der DDR festgestellt – bereits an einer wichtigen Voraussetzung: ein Eingriff i.S.d. heutigen Verständnisses in bestehende bürgerliche Elternrechte setzt an sich bestehende unveräußerliche Rechte (und nicht lediglich vom Staat gewährte Rechte/Privilegien/Zuständigkeiten) voraus. Die sozialistischen (Grund-)Rechte müssen allein demzufolge einen völlig eigenen sozialistischen Eingriffsbegriff nach sich ziehen. Bei genauerer Betrachtung hat dies daher nichts mit einem Eingriff in das Elternrecht i.S.d. heutigen BRD-Grundrechts gem. Art. 6 GG (bzw. in das Elternrecht aus § 42 SGB VIII und § 1666 BGB) zu tun.

518

Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185. 520 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 229, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 145. 519

142 *

1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Eingriffsbegriff nach dem Gesetzeswortlaut Gesetzlich wurde der Eingriffsbegriff weder im FGB noch in der Verfassung der DDR normiert. Die Formulierung des FGB ist neutral, es wird beispielsweise von „Maßnahmen“521 der Jugendhilfe gesprochen.

*

Eingriffsbegriff nach den Kommentierungen zum FGB In den Kommentierungen zu § 49 FGB wird lediglich 1973 der Begriff des Eingriffs erwähnt.522 Dies erfolgt interessanterweise im Zusammenhang mit der „unterlassenen“ Beanspruchung von Hilfen gem. § 49 Abs. 2 FGB durch die Eltern: „Unterlassen es die Eltern, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, obwohl Schwierigkeiten bei der Erziehung auftreten, die sie nicht leisten können, müssen sie mit Folgen rechnen. So kann ein Unterlassen zu einer Gefährdung des Kindes führen, die das Eingreifen der Organe der Jugendhilfe auch gegen den Willen der Eltern fordert (vgl. § 50).“ Durch die Formulierung „auch gegen den Willen der Eltern“ ist offenbar gemeint, dass in diesem Falle das Eingreifen auch gegen den Willen der Eltern gefordert ist; ohne deren Willen ohnehin. Daraus lässt sich schließen, dass als „Eingriffe“ 1973 diejenigen Interventionen der Jugendhilfe gewertet wurden, welche ohne oder gegen den Willen der Eltern getätigt wurden. Direkt im Zusammenhang mit der erneuten Konkretisierung des § 49 Abs. 2 FGB und noch vor der Auslegung des § 50 FGB sowie der Betonung des Vorrangs der gesellschaftlichen Hilfe und Unterstützung wird, wie bei den Zitaten aus allen Auflagen schon ersichtlich wurde, der Begriff des „Eingriffs“ des FGB verwendet523 und folgendermaßen ausgelegt: 1966 heißt es, dass „Vor einem staatlichen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht […]“524 der Grundsatz zu beachten sei, dass zunächst die gesellschaftliche Initiative gegenüber den Eltern voll auszuschöpfen sei.525 Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die gesellschaftliche Initiative nicht als Eingriff i.S.d. FGB gewertet wurde. So heißt es dann auch konsequenterweise, dass Maßnahmen auf Basis des § 50 FGB das elterliche Erziehungsrecht einschränken würden, damit also als Eingriff gewertet wurden. § 50 FGB stellt die Zuweisungsnorm für die JHVO dar. Im Zusammenhang mit Maßnahmen gem. der JHVO heißt es aber auch: „Die Jugendhilfekommissionen (vgl. §§ 4 u. 11 JHVO) sind berechtigt, solche Maßnahmen zu ergreifen, die ihre Überzeugungs- und Erziehungsarbeit gegenüber den Eltern und dem Kind verstärken. Dafür sind besonders die Maßnahmen nach § 13 JHVO526 geeignet, die keinen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht darstellen.“527 Hierin ist eine

521

Vgl. bspw. § 50 S. 1 FGB. Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 49, S. 183 f., Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 49, S. 227 f., Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 49, S. 203 f. und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 49, S. 203 f. 523 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 229, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 145. 524 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185. 525 1966 wurde dies sogar noch als ein „[…] dem Wesen der sozialistischen Demokratie und dem sozialistischen Familienrecht entsprechender Grundsatz […]“ bezeichnet (Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185). 526 Vgl. Wortlaut des § 13 JHVO, Anhang II. 527 Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 186. 522

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logische Inkonsequenz zu sehen, da § 50 FGB die Zuweisungsnorm zur JHVO darstellt und jede Maßnahme gem. der JHVO damit einen Eingriff darstellen müsste. Wie oben bereits zitiert, wurde 1970 die gesellschaftliche Hilfe und Unterstützung zur Sicherung der Erziehung und Entwicklung des Kindes („durch Beratung oder durch Aussprache im Arbeitskollektiv“) nicht als Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht gewertet.528 Diese Hilfe müsse vielmehr im Hinblick auf die Verbindlichkeit der §§ 44 und 49 Abs. 2 FGB verstanden werden.529 „Ein staatlicher Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht durch die Organe der Jugendhilfe liegt jedoch erst dann vor, wenn zur Sicherung der Erziehung und Entwicklung des Kindes gem. § 50 FGB in Verbindung mit den Bestimmungen der JHVO Entscheidungen (Beschlüsse oder Verfügungen) erlassen werden müssen.“530 Was 1966 nur indirekt aus der Kommentierung erkennbar war, wird nun offen normiert. Der Hinweis, dass Maßnahmen gem. § 13 JHVO keine Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht darstellen, fehlt.531 1973 und 1982 wird bezüglich der Bewertung gesellschaftlicher Hilfe ebenso wie schon 1970 festgestellt, dass diese kein Eingriff sei. Es wird darüber hinaus aber sogar noch betont: „diese Hilfe ist nicht als Einmischung in die familiären Angelegenheiten zu betrachten (und kein Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht).“532 Auch in diesen Auflagen werden erst weitere Maßnahmen als Eingriff betrachtet.533

Fazit zum Eingriffsbegriff Damit bleibt der Eingriffsbegriff über den Untersuchungszeitraum hinweg konstant: Als „Eingriff“ in das elterliche Erziehungsrecht werden schlicht Maßnahmen gewertet, welche auf der Grundlage von § 50 FGB erfolgen. Interessant ist dabei, dass der Eingriffsbegriff meist nur in neutralem Zusammenhang534 verwendet bzw. negativ definiert wird, z.B. wenn erwähnt wird, dass die niedrigeren Interventionsstufen, welche vor Maßnahmen gem. § 50 FGB zu ergreifen seien, keine Eingriffe darstellen. Dass die Abgrenzung zwischen § 50 FGB und § 49 Abs. 2 FGB bzw. der ganze Grenzbereich vor der eindeutigen Bejahung einer Gefährdungssituation des Kindes problematisch ist, legt auch der hohe Begründungsaufwand sowie die Betonung, dass es sich bei allen Maßnahmen vor der Schwelle des § 50 FGB um keinen Eingriff handeln würde, nahe. Auf diese Weise wird erst bei genauerem Studium der Texte erkenntlich, dass kein Prüfungsverfahren normiert wird, nach dem sich ergibt, ob es sich bei der Tätigkeit der Jugendhilfe bereits um eine „Eingriff“ handelt. Außer einer internen Prüfung aufgrund der

528

Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 229. Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 229. 530 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 230. 531 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 232 f. 532 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 145. Inhaltlich ebenso im Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205. 533 Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 145. 534 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 229, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 145. 529

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Beschwerde der Eltern, also einer Art „verwaltungsinternem Verfahren“, war keine weitere Überprüfung vorgesehen.535 Der Eingriffsbegriff hat damit nicht die Funktion, für die Rechtsfolge implizite Voraussetzungen zu schaffen (wie den Schutzbereich durch Elternrechte oder die Rechtfertigung desselben). Die Beurteilung dessen, ob ein Eingriff im Sinne des DDR-Verständnisses vorliegt oder nicht, hängt im Gegenteil allein von der Qualität der faktisch getroffenen Intervention ab und ist Maßstab für deren Intensität. Dies passt auch zu der Interpretation des § 49 Abs. 2 FGB als elterliche Pflicht sowie zum Vorrang der gesellschaftlichen Unterstützung gem. der §§ 44 i.V.m. 49 Abs. 2 FGB.

bb) Voraussetzungen des § 50 FGB Wie oben bei den Ausführungen zu § 49 Abs. 2 FGB im Rahmen der Kommentierung zu § 50 FGB bereits festgestellt, verschwimmen in der Auslegung die Anwendungsbereiche zwischen § 49 Abs. 2 FGB und § 50 FGB. Es drängt sich der Eindruck auf, dass § 49 Abs. 2 FGB bereits als Rechtsgrundlage für Interventionen in die Familie auch ohne Mitwirkung der Eltern interpretiert wurde. Bei der Abgrenzung der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB ist die Auslegung der Voraussetzungen des § 50 FGB von zentraler Bedeutung und wird daher vorliegend näher geprüft. Dabei wird wieder chronologisch anhand der verschiedenen Auflagen des Kommentars vorgegangen, um Entwicklungen in der Auslegung besser nachvollziehen zu können. (1) Auslegung des Begriffs der „Gefährdung“ sowie der „Gefährdung der Erziehung und Entwicklung“ im Speziellen i.S.v. § 50 FGB Um den Anwendungsbereich von § 50 FGB zu eröffnen, muss gem. des Wortlauts des § 50 S. 1 FGB eine Gefährdungssituation vorliegen: eine Gefährdung der Erziehung und Entwicklung, der Gesundheit oder der wirtschaftlichen Interessen des Kindes.536 Gefährdungsbegriff des § 50 FGB • Kommentierung von 1966 1966 wurde nicht auf die verschiedenen Alternativen des § 50 S. 1 FGB eingegangen, sondern offensichtlich der Gefährdungsbegriff allgemein mit der ersten Alternative (Gefährdung der Erziehung und Entwicklung) gleichgesetzt. Dies ist an sich schon bemerkenswert:

535

Vgl. dazu auch ausführlicher unter I. 3. b) bb) Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe sowie unter I. 4. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung. 536 Vgl. Wortlaut des § 50 S. 1 FGB.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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„Die Gefährdungssituation, die besondere Maßnahmen der Organe der Jugendhilfe rechtfertigt, muß im Zusammenhang mit der Betreuung und Erziehung des Kindes im Elternhaus stehen.“537

Eine Gefährdungssituation stellt damit die Legitimation für „besondere“ Maßnahmen538 dar. Wie noch gezeigt wird, ist die Erwähnung einer „Rechtfertigung“ (ein nach dem BRD-Rechtsverständnis für das öffentliche Recht zentraler Begriff) in diesem Zusammenhang einmalig in den Kommentierungen. Dass von „besonderen“ Maßnahmen gesprochen wird, geschieht in Abgrenzung zu gegebenenfalls bereits i.R.d. § 49 Abs. 2 FGB erfolgten Maßnahmen. Wann ein Zusammenhang mit der Betreuung und Erziehung des Kindes im Elternhaus besteht, wird nicht näher konkretisiert.539 • Kommentierung von 1970 Ab 1970 wird zwischen den verschiedenen Varianten der Gefährdung in § 50 S. 1 und S. 2 FGB (Gefährdung der Erziehung und Entwicklung, der Gesundheit und der wirtschaftlichen Interessen des Kindes) differenziert.540 Der Gefährdungsbegriff an sich wird jedoch anscheinend mit der ersten Alternative gleichgesetzt: „Die Gefährdungssituation, die besondere Maßnahmen der Organe der Jugendhilfe erfordert, wird in der Regel im Zusammenhang mit Mängeln der Betreuung und Erziehung des Kindes durch die Eltern stehen. Sie kann z.B. dadurch eintreten, daß die Eltern im Rahmen der Möglichkeiten der Familienerziehung allein nicht in der Lage sind, der begonnenen Fehlentwicklung wirksam zu begegnen.“541

Hier fällt sofort auf, dass dieser Satz nur sprachlich dem Satz von 1966 ähnelt, inhaltlich aber eine ganz andere Zielrichtung enthält: 1966 wird konkretisiert, dass die Gefährdungssituation, welche besondere Maßnahmen rechtfertigt, im Zusammenhang mit der Betreuung und Erziehung im Elternhaus stehen muss. Dies klingt so, als läge dem die öffentlich-rechtliche Vorstellung des BRD-Rechts zugrunde, dass ein Eingriff in einen Schutzbereich gerechtfertigt sein müsse.542 Die Formulierung von 1970 verkehrt dies gerade in ihr Gegenteil, indem es dort heißt, die Gefährdungssituation sei objektives Erfordernis für besondere Maßnahmen der Jugendhilfe. Diese stünden in der Regel in Verbindung mit Mängeln in der Betreuung und Erziehung des Kindes durch die Eltern.543

537

Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185. Wie schon erwähnt, wird der Begriff der „Maßnahme“ offensichtlich generell für jede juristisch normierte Tätigkeit verwendet. 539 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 185. 540 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 230 ff. 541 Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 230. 542 Vgl. Sodan/Zielkow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 24 I, S. 216 ff. 543 Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 230. 538

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Am Vergleich dieser beiden so ähnlich formulierten Sätze wird besonders deutlich, wie mit geringfügigen Änderungen die Auslegung eine ganz andere Zielrichtung erhalten kann: 1970 geht es nicht mehr darum, für die Tätigkeit der Jugendhilfe begrenzende Voraussetzungen zu kommentieren, sondern im Gegenteil darum, das (zwingende) Erfordernis ihrer Tätigkeit herauszustellen. Dieses Erfordernis ergebe sich in der Regel aus der mangelhaften Erziehung der Kinder durch die Eltern. Was unter einer „Fehlentwicklung“ verstanden wurde, wird nirgendwo näher beschrieben.544 Hieraus zeichnet sich ab, dass die Gefährdungssituation als Zustand begriffen wird, bei welchem die Jugendhilfe tätig werden sollte (und nicht umgekehrt). • Kommentierung von 1973 Ab 1973 wurde zunächst der Gefährdungsbegriff allgemein kommentiert und sich dann den verschiedenen Alternativen des § 50 S. 1 FGB gewidmet. 1973 wird die Gefährdungssituation des § 50 FGB folgendermaßen definiert: „Die Gefährdung der Erziehung und Entwicklung, der Gesundheit oder der wirtschaftlichen Interessen des Kindes ist als Zustand zu verstehen, den die Eltern auch mit gesellschaftlicher Unterstützung nicht überwinden können oder wollen.“545

Diese Formulierung ähnelt sehr dem Wortlaut des § 50 S. 1 FGB (bzw. dem des § 1 Abs. 4 S. 1 JHVO). Jedoch heißt es dort: „Sind die Erziehung und Entwicklung oder die Gesundheit des Kindes gefährdet und auch bei gesellschaftlicher Unterstützung der Eltern nicht gesichert, […]“. Durch den Wortlaut des § 50 S. 1 FGB wird damit die Gefährdung (der Erziehung und Entwicklung oder der Gesundheit) des Kindes als eigenständige Tatbestandsvoraussetzung normiert. Die Tatbestandsvoraussetzung der gesellschaftlichen Unterstützung ist davon unabhängig und bezieht sich augenscheinlich auf § 49 Abs. 2 FGB, welcher seinem Wortlaut nach optional für die Eltern ist. Die Kommentierung von 1970 macht dagegen bereits das Bestehen einer für § 50 FGB relevanten Gefährdung davon abhängig, ob gesellschaftliche Unterstützung zur Überwindung einer Gefährdung schon gescheitert ist bzw. abgelehnt wurde. Damit wird die gesellschaftliche Unterstützung im Umkehrschluss nicht mehr als rein optional sondern vielmehr als feste Voraussetzung des § 50 FGB verstanden. Es müsste in diesem Falle von der „Gesellschaft“546 zumindest versucht worden sein, den Eltern Unterstützung i.S.d. § 49 Abs. 2 FGB anzubieten, was auch zu der Formulierung „nicht können … oder wollen.“ passen würde. Folglich wäre aber entweder § 49 Abs. 2 FGB implizit über seinen Wortlaut hinaus nicht nur als Pflicht der Eltern (anstatt als rein freiwilliger Anspruch) ausgelegt, sondern darüber hinaus auch als Norm verstanden worden, welche die dort aufgezählten Organe 544

Vgl. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 230 ff. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205. 546 Es wird zwar immer von „gesellschaftlicher“ Unterstützung gesprochen; da § 49 Abs. 2 FGB aber ausdrücklich auch staatliche Organe – darunter die Jugendhilfe – aufzählt, ist dies (bewusst?) irreführend. 545

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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verpflichtet, entsprechende „Angebote“ zu machen. Oder aber in § 50 FGB selbst wurde eine Rechtsgrundlage für „gesellschaftliche Unterstützung“ gesehen. Im Hinblick auf die Ausführungen der Kommentierungen zu § 49 Abs. 2 FGB i.R.d. § 50 FGB – insbesondere wegen des angenommenen Verpflichtungscharakters der Norm für die Eltern – erscheint es so, als wäre in § 49 Abs. 2 FGB implizit eine schon vor § 50 FGB bestehende Rechtsgrundlage für Interventionen der Jugendhilfe gesehen worden, auch ohne dass die Eltern die Hilfe verlangten. Durch diese Auslegung wird zwar nie offen die Gefährdung als Voraussetzung für die Rechtsgrundlage des § 50 FGB in Frage gestellt; jedoch ist diese im Ergebnis nicht als zwingende Voraussetzung anzusehen, da nach der Kommentierung folgendes Vorgehen vorgeschrieben wird: Bevor i.R.d. § 50 FGB abschließend geprüft werden muss, ob eine Gefährdungssituation für das Kind vorliegt oder nicht, soll betrachtet werden, ob auch Maßnahmen gem. § 49 Abs. 2 FGB möglich sind. Für Maßnahmen gem. § 49 Abs. 2 FGB war aber keine Gefährdung normiert, da dort nur von Erziehungsschwierigkeiten gesprochen wurde (die Voraussetzung der Aufforderung durch die Eltern entfiel faktisch, da diese wie bereits herausgearbeitet, als dazu verpflichtet angesehen wurden). Bei der Auslegung von § 50 FGB heißt es ferner, es seien nur Gefährdungen zu betrachten, die nicht schon gem. § 49 Abs. 2 FGB beseitigt werden konnten. § 50 FGB wird also als auf § 49 Abs. 2 FGB aufbauend ausgelegt, sodass schließlich auch im Rahmen des § 50 FGB die Prüfung der Voraussetzung einer Gefährdung unterbleibt: denn die Maßnahmen gem. § 49 Abs. 2 FGB reichten ja zur Überwindung des Zustandes nicht aus, es wurde also eine Gefährdung unterstellt. Durch die Vorverlagerung des § 49 Abs. 2 FGB und das Stufenprinzip547, wurde im Ergebnis die Tatbestandsvoraussetzung der Gefährdungssituation i.R.d. § 50 FGB ausgehebelt, aber auch nicht zur Voraussetzung des § 49 Abs. 2 FGB gemacht, sodass sie faktisch nie geprüft wurde. Zwischen der Auslegung des Vorrangs der gesellschaftlichen Beteiligung und der Gefährdungssituation besteht somit ein enger Zusammenhang. Die in § 49 Abs. 2 FGB und § 50 FGB normierten Rechtsfolgen mit sehr unterschiedlicher Intensität hatten damit nach dieser Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen faktisch ein und dieselben Voraussetzungen. Diese waren überdies sehr unklar und unbestimmt. An das angesprochene Zitat anschließend wird 1973 außerdem betont: „Eine Schädigung des Kindes, seiner Entwicklungsperspektiven, seiner Gesundheit oder seiner Interessen muß nicht bereits eingetreten sein. Durch das rechtzeitige Eingreifen der Organe der Jugendhilfe soll nach Möglichkeit ein Schaden verhindert werden, der als Folge der Gefährdung eintreten würde.“548 Da es an einer weiteren Konkretisierung der Gefährdung fehlt (entgegen des BRD-Rechts, in dem eine 547 Dass § 49 Abs. 2 FGB dem § 50 FGB faktisch vorgelagert wurde, stellen auch Warnecke und Arnold fest, jedoch ohne eine Diskrepanz zum Gesetzeswortlaut zu erwähnen oder die impliziten Konsequenzen daraus zu ziehen (vgl. Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. 74 sowie Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 29). 548 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

solche Konkretisierung erfolgt), unterstreicht dieses Zitat erneut die generelle Unbestimmtheit des Gefährdungsbegriffs des § 50 FGB. Weil in diesem Zusammenhang des Weiteren die Rechtzeitigkeit des Eingreifens durch die Jugendhilfe betont wird, entsteht der Eindruck, dass der Jugendhilfe indirekt auch eine präventive Funktion übertragen wurde, ohne dies rechtlich zu konkretisieren.549 • Kommentierung von 1982 Auch im Kommentar von 1982 wird eine Aussage zum Gefährdungsbegriff unabhängig von den Alternativen des § 50 S. 1 FGB getroffen: „Die Gefährdung der Erziehung und Entwicklung, der Gesundheit oder der wirtschaftlichen Interessen des Kindes ist als Zustand zu verstehen, der das Eingreifen der staatlichen Organe erfordert. Seine Erscheinungsformen sind so vielfältig, daß eine einheitliche Definition dieses Zustands nicht möglich ist.“550

1982 wird damit offen ausgesprochen, was sich in den vorherigen Auflagen schon angedeutet hat: Insbesondere der erste Satz zeigt überdeutlich, dass der Gefährdungsbegriff in § 50 FGB keine obligatorische Voraussetzung für eine Intervention der Jugendhilfe i.S.d. § 50 FGB ist; keine Tatbestandsvoraussetzung im BRDrechtlichen Sinne also. Vielmehr offenbart sich hier ein zentraler Wesenszug des sozialistischen öffentlich Familienrechts: zwar gab es rechtsförmige Vorschriften für jede Tätigkeit der Jugendhilfe, jedoch können in den Normen keine tatsächlich das Verwaltungshandeln beschränkenden Vorschriften gesehen werden. Anstelle einer Präzisierung in den Kommentierungen zu § 50 FGB, wann die Organe der Jugendhilfe zuständig sind und wie und nach welchem Verfahren dies zu ermitteln sei, wird quasi festgestellt, dass das „Eingreifen“ der staatlichen Organe erforderlich ist, wenn die staatlichen Organe „eingreifen“. Es wird nicht gefragt, ob die staatlichen Organe intervenieren dürfen, sondern anders herum wird die Zuständigkeit der Organe der Jugendhilfe von ihrem faktischen Tätigsein abgeleitet: ein „Eingriff“

549 Auch im BRD-Recht ist in § 1666 BGB ein präventiver Charakter normiert. Dieser ist jedoch an die hohe Hürde der Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB geknüpft, welche erreicht ist, wenn: 1. das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet ist, 2. die Gefährdung verursacht wird durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten, 3. die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, diese Gefahr abzuwehren. Falls nicht schon eine Störung in der Entwicklung des Kindes eingetreten ist, ist eine Gefahr für die Kindesentwicklung laut Rechtsprechung des BGH dann anzunehmen, wenn die Gefahr gegenwärtig oder konkret ist. Konkret ist sie dann, wenn eine Schädigung nahe bevorsteht, d.h., wenn sie mit ziemlicher Sicherheit eintritt, falls keine Maßnahmen ergriffen werden (vgl. Schwab, Familienrecht, § 64, S. 338 ff.). Im Vorfeld des § 1666 BGB sind Hilfsangebote bzw. die Inanspruchnahme von Hilfen bspw. gem. §§ 13, 27, 28 oder 42 SGB VIII möglich; diese sind jedoch freiwilliger Natur. Für Maßnahmen ohne oder gegen den Willen der Eltern müssen die Voraussetzungen des § 8a SGB VIII bzw. des § 1666 BGB erfüllt sein. 550 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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bedeutet, dass der Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe nun auch „eröffnet“ ist. Dass im Kommentar von 1982 der Gefährdungsbegriff als komplex bezeichnet wurde bzw. eine einheitliche Definition für unmöglich erklärt wurde551, ist aus heutiger Sicht inhaltlich nachvollziehbar. Auch nach dem heutigen Recht der BRD ist die Kindeswohlgefährdung i.S.d. § 1666 BGB bzw. § 42 SGB VIII ein unbestimmter Rechtsbegriff. Gerade deshalb unterliegt er jedoch der vollständigen Überprüfung durch die Familiengerichte, welche auf der Basis von Gutachten externer Experten entscheiden. Dabei muss die Werteoffenheit des Grundgesetzes in Bezug auf elterliche Erziehungskonzepte einbezogen werden. Die Schwierigkeit der Feststellung einer objektiv bestehenden Kindeswohlgefährdung führt also zu besonders hohen Hürden für die Tätigkeit des Jugendamtes; die Einschätzung wird bewusst auf externe, gut ausgebildete Fachkräfte verlagert.552 In der DDR diente die Feststellung, dass die Erscheinungsformen des Gefährdungszustandes so vielfältig seien, dass eine einheitliche Definition nicht möglich sei553, dagegen anscheinend als Rechtfertigung, diese Frage überhaupt nicht rechtlich zu regeln: Abgesehen von einigen konkreten Beispielen für eine Gefährdung in der Kommentierung hatte damit die Jugendhilfe im Ergebnis selbst zu entscheiden, wann eine Gefährdung vorliegt, welche ihr Handeln erfordert. Weil die Überprüfung durch ein anderes Organ nicht vorgesehen war, gab es kein rechtlich normiertes Korrektiv für diese Entscheidung. Auch an dieser Stelle zeigt sich erneut der in den Kommentierungen verwendete „Eingriffs“-Begriff.554 Ab 1982 wurde außerdem auf die noch nicht eingetretene Schädigung des Kindes eingegangen: „Im Begriff Gefährdung liegt zugleich ein vorbeugender Aspekt, denn eine Schädigung des Kindes, seiner Entwicklungsperspektiven, seiner Gesundheit oder seiner Interessen muß noch nicht eingetreten sein. Es geht vielmehr darum, durch das rechtzeitige Eingreifen der Organe der Jugendhilfe einen möglichen Schaden zu verhindern.“555 Damit wird im Vergleich zu 1973 offen ausgesprochen, dass in der Auslegung ein vorbeugender Aspekt im Gefährdungsbegriff gesehen wurde. Es kann somit festgestellt werden, dass es dem allgemeinen Gefährdungsbegriff des § 50 FGB – entgegen dem ersten Eindruck aus den Kommentierungen – kein Kriterium der Konkretheit der Gefahr enthält und vielmehr der präventive Charakter deutlich in den Vordergrund gestellt wird. 551

Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. Wie i.R.d. Ausbildung der Jugendhilfemitarbeiter gezeigt wurde, lag ein großer Teil der Entscheidungstätigkeit und v. a. die Ersteinschätzung eines Sachverhaltes in der Hand von unausgebildeten ehrenamtlichen „Jugendhelfern“. 553 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. 554 Vgl. Exkurs: Erkenntnisse zum sozialistischen „Eingriffs“-Begriff und zur gesellschaftlichen Hilfe. 555 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. Zum Begriff der Gefährdung wird auf ein nicht näher bezeichnetes Lehrbuch verwiesen (vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146). 552

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Zwischenfazit zum Gefährdungsbegriff des § 50 FGB 1966 und 1970 wurden zum Gefährdungsbegriff an sich keine Aussagen gemacht, sondern unmittelbar auf die Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes abgestellt. Hieraus lässt sich auf die große Bedeutung dieser ersten Alternative des § 50 FGB schließen. Aus der Kommentierung von 1973 ergibt sich ebenfalls keine Konkretisierung des abstrakten Gefährdungsbegriffes, da durch eine komplizierte Auslegung der „gesellschaftlichen Unterstützung“ faktisch der Gefährdungsbegriff umgangen wurde. 1982 wurden dann relativ offen die Schwierigkeiten einer einheitlichen Definition des Gefährdungsbegriffes als Begründung dafür angeführt, diese Frage – abgesehen von einigen beispielhaften Aufzählungen – nicht durch die Auslegung oder durch ein Verfahren zu regeln. Bezüglich des Gefährdungsbegriffs des § 50 FGB kann insgesamt Folgendes festgehalten werden: Der Begriff wird zusehends mit einem präventiven Aspekt verknüpft, in der Auslegung werden aber kaum greifbare Kriterien für eine Gefährdung genannt. Es wird daher im Folgenden untersucht, nach welchen rechtlich normierten Maßstäben die Jugendhilfe den Gefährdungsbegriff der einzelnen Alternativen zu bestimmen hatte. Dabei wird sich auf die „Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes“ konzentriert, da dieser Variante durch die Kommentierungen große Aufmerksamkeit geschenkt wurde und hier ein unbestimmter Rechtsbegriff vorliegt, welcher nicht durch messbare Kriterien konkretisiert werden kann und der Jugendhilfe damit den meisten Handlungsspielraum gab. Diese Alternative ist daher entscheidend für die Konkretheit der rechtlichen Normierung von Interventionen der Jugendhilfe gem. § 50 FGB. Zudem stellt diese Alternative einen spezifisch sozialistischen Rechtsbegriff dar. 1. Alternative: „Gefährdung d e r E r z i e h u n g u n d E n t w i c k l u n g d e s K i n d e s “, § 50 S. 1 Alt. 1 FGB Eine ausdrückliche Konkretisierung „der Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes“ findet sich erstmalig im Kommentar von 1973: „Erziehung und Entwicklung sind gefährdet, wenn sich die Eltern gegenüber ihren Erziehungspflichten (vgl. § 42) verantwortungslos verhalten, z.B. das Kind vernachlässigen, ungenügend betreuen und beaufsichtigen, bewußt oder unbewußt in negativer Weise moralisch beeinflussen, wenn die Lebensordnung der Familie ungeregelt ist usw.“556 Als Gefährdung wird damit ausdrücklich das verantwortungslose Verhalten der Eltern im Hinblick auf ihre Erziehungspflichten gemäß § 42 FGB definiert. Die ersten Beispiele hierfür beziehen sich direkt auf die Pflichten gem. § 43 FGB, welche, wie erörtert, nach dem bürgerlich-rechtlichen Verständnis zentral für eine Gefährdung des Kindes sind. Die letzten beiden Beispiele für einen Verstoß der 556

Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 206.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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Eltern gegen ihre Erziehungspflichten, also die bewusste oder unbewusste negative moralische Beeinflussung des Kindes und eine ungeordnete Lebensordnung in der Familie, unterstreichen dagegen, dass mit dem Verweis auf § 42 FGB das sozialistische Erziehungsziel durchaus als auch für die Praxis relevant und verbindlich angesehen wurde. Dass auch die unbewusste negative Beeinflussung der Moral der Kinder schon als ausreichend angesehen wurde, verleiht der Praxisrelevanz des sozialistischen Erziehungsziels eine noch größere Bedeutung. So wird bei der Auslegung der Gefährdung des Kindes nicht das Kind selbst und dessen Befinden, sondern vielmehr das Verhalten der Eltern in den Mittelpunkt gestellt. Das Zitat führt anschließend aus, was unter dem verantwortungslosen Verhalten der Eltern gegenüber ihren Erziehungspflichten genau zu verstehen sei: „Typisch sind für diese Eltern ihre ungenügende politisch-erzieherische Grundhaltung. Sie sind ihren Kindern in der Einstellung zur Arbeit, zur Familie und zur Gesellschaft kein Vorbild, nehmen Ratschläge und Hinweise zur Gestaltung des Familienlebens und der Familienerziehung nicht an, und die gesellschaftliche Hilfe (vgl. § 44 und 49(2)) führt nicht zum Erfolg. Es besteht die Gefahr, daß sich das Kind fehlentwickelt, erziehungsschwierig wird und insgesamt in Leistung und Verhalten hinter den gesellschaftlichen Anforderungen zurückbleibt. Oft wird die ungenügende Verantwortung der Eltern für die Kindererziehung gerade durch das Verhalten des Kindes bekannt.“557 Die „ungenügende politisch-moralische Grundhaltung“ wird an erster Stelle und als typisches und damit zentrales Kriterium für das verantwortungslose Erziehungsverhalten gestellt und sich nochmals sehr konkret auf § 42 FGB, insbesondere § 42 Abs. 2 FGB bezogen.558 Besonders bedeutsam aber ist, dass in noch nicht dagewesener Offenheit ausgesprochen wird, dass es als Verstoß der Eltern gegen ihre Erziehungspflichten angesehen wird, wenn die Eltern die Ratschläge bzw. die gesellschaftliche Hilfe gem. der §§ 44 und 49 Abs. 2 FGB nicht annehmen. Da für die Bestimmung der Gefährdung v.a. an das Verhalten der Eltern angeknüpft wird, wirkt es außerdem so, als wäre schon dieser Umstand allein als Gefährdung für das Kind betrachtet worden. Diesem Aspekt ist deshalb so große Bedeutung beizumessen, da ansonsten aus den Formulierungen nie darauf geschlossen werden konnte, ob erst das Ausbleiben des Erfolgs der gesellschaftlichen Hilfe (welcher ja auch bei Annahme der Hilfe und Mitwirkung durch die Eltern ausbleiben konnte) als Gefährdung betrachtet wurde, 557

Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 206. „Das Ziel der Erziehung der Kinder ist, sie zu geistig und moralisch hochstehenden und körperlich gesunden Persönlichkeiten heranzubilden, die die gesellschaftliche Entwicklung bewußt mitgestalten. Durch verantwortungsbewußte Erfüllung ihrer Erziehungspflichten, durch eigenes Vorbild und durch übereinstimmende Haltung gegenüber den Kindern erziehen die Eltern ihre Kinder zur sozialistischen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus.“, siehe § 42 Abs. 2 FGB. 558

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

oder ob bereits die Ablehnung von gesellschaftlichen bzw. staatlichen Hilfestellungen durch die Eltern als Gefährdung gewertet wurde. Da Letzteres hier nun aber offen als Verstoß gegen Erziehungspflichten gewertet wird, sowie die Verantwortungslosigkeit der Eltern gegenüber ihren Erziehungspflichten schon als Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes interpretiert wird559, kann dies kaum anders angenommen werden und es muss konsequenter Weise gefolgert werden, dass die Tätigkeit der gesellschaftlichen und staatlichen Organe gem. §§ 44 und 49 Abs. 2 FGB nicht lediglich als Angebote angesehen werden können, welche freiwillig in Anspruch genommen werden konnten. Vielmehr wurden § 44 FGB (Aufgabe der Organe zur Unterstützung) i.V.m. § 49 FGB (in seiner Auslegung als Pflicht der Eltern, die gebotene Unterstützung anzunehmen) tatsächlich bereits als Rechtsgrundlage für die Intervention der gesellschaftlichen und staatlichen Organe, und damit eben auch der Jugendhilfe – in die einzelne Familie hinein, auch ohne deren Aufforderung – angesehen. Diese Auslegung von 1973 stellt damit aber eine ganz neue Qualität dar, denn sie geht weg von der Überprüfung einer (objektiven) Gefährdungssituation für das Kind hin zu einer Bewertung des Verhaltens der Eltern. Dies zeigt sich indirekt auch an dem letztgenannten Satz des Zitats „Oft wird die ungenügende Verantwortung der Eltern für die Kindererziehung gerade durch das Verhalten des Kindes bekannt.“560 Im Übrigen ist dieser Satz nahezu ein Zirkelschluss, denn um eine Gefährdung für das Kind zu bestimmen, wird die Erziehung durch die Eltern betrachtet; die Erfüllung der elterlichen Verantwortung für die Erziehung wird aber wiederum anhand des Verhaltens des Kindes gemessen. Laut des Kommentars von 1973 läge eine Gefährdung der Erziehung und Entwicklung zudem auch dann vor, wenn die Eltern zwar weder gleichgültig noch verantwortungslos sind, das Kind auf die erzieherischen Absichten aber unangepasst reagieren würde oder seine Entwicklung in Leistung und Verhalten dem erzieherischen Bemühen widerspräche.561 Für diese Fälle sei ein Unvermögen der Eltern typisch, der begonnenen Fehlentwicklung des Kindes sei daher in diesen Fällen wirksam zu begegnen.562 Es wurde hierzu in der Kommentierung direkt auf das Werk von Mannschatz, „Einführung in die sozialistische Familienerziehung“563 verwiesen. Auch hier wird also für eine Gefährdung des Kindes auf das Verhalten der Eltern abgestellt, selbst wenn an sich keine Erziehungsfehler feststellbar seien. In Bezug auf die moralische Grundhaltung der Eltern stellt das DDR-Familienrecht damit den Gegenpol zu den heutigen Grundsätzen des Art. 6 GG und der § 1666 BGB /§ 42 SGB VIII dar: zwar hat der Staat das staatliche Wächteramt inne, dieses besteht aber nur zum Schutze des Kindeswohls in „Extremfällen“; keinesfalls zur 559 560 561 562 563

Vgl. nochmals Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1973, zu § 50, S. 206. Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1973, zu § 50, S. 206. Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 206. Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 206. Berlin 1971, S. 119 ff.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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Durchsetzung gesellschaftlicher und moralischer Werte.564 In der DDR wurde dagegen direkt an die politische und moralische Grundhaltung der Eltern angeknüpft. Dieser Unterschied wird in schwerwiegenden Fällen, z.B. der akuten Vernachlässigung des Kindes, kaum relevant sein. Durch die direkte Einbeziehung des § 42 FGB mit seiner politisch-moralischen Grundwertung sowie der Bezugnahme auf das sozialistische Erziehungsziel wird im DDR-Familienrecht aber gerade auch der Erziehungsinhalt und so die Art und Weise der Erziehung zum Gegenstand staatlicher Kontrolle gemacht. Überspitzt gesagt wurde 1973 die Gefährdung der Entwicklung und Erziehung und damit generell die Kindeswohlgefährdung unter anderem auch als Zustand verstanden, in welchem sich die Eltern entgegen dem sozialistischen Erziehungsideal verhalten. 1982 wurde dann die Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes so definiert, dass die Möglichkeit bestünde, „daß sich das Kind nicht altersgerecht entwickelt, erziehungsschwierig wird und in Leistung und Verhalten hinter den gesellschaftlichen Anforderungen zurückbleibt. Es muß ein ursächlicher Zusammenhang mit der Familienerziehung bestehen.“565 Als Beispiel für das Fehlen eines ursächlichen Zusammenhangs mit dem Elternhaus wurde das Zurückbleiben des Kindes in mehreren Schulfächern genannt, da hier auch die Initiative der Lehrer gemeinsam mit den Eltern gefragt sei.566 Weiter heißt es: „Eine Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes liegt vor, wenn das Bemühen der Eltern keine erzieherischen Erfolge zeigt, das Kind unangepaßt reagiert oder sich dem erzieherischen Einfluß entzieht. Eine Gefährdung liegt ferner vor, wenn die Eltern ihre erzieherischen Aufgaben ungenügend erfüllen, das Kind vernachlässigen, mangelhaft betreuen und beaufsichtigen. Das ist z.B. auch der Fall, wenn die Lebensweise der Eltern den sozialistischen Moralauffassungen widerspricht und ihr negatives Vorbild sich auf das Kind auswirkt (Mannschatz, Einführung in die sozialistische Familienerziehung, Berlin 1971, S. 119 ff.).“567 Außerdem sei die Gefährdung der Erziehung und Entwicklung i.S.d. § 50 FGB gegeben, wenn die Eltern bzw. der allein Erziehungsberechtigte sich vom Kind getrennt haben und das Erziehungsrecht nicht ausüben wollen.568 Auch 1982 wurden damit die Pflichten gem. § 43 FGB und das sozialistische Erziehungsziel des § 42 FGB als Maßstab für die Bestimmung der Gefährdung von Erziehung und Entwicklung des Kindes herangezogen. Insgesamt wird durch die abweichenden Formulierungen von 1982 im Vergleich zu 1973 für die Bestimmung einer Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes wieder viel mehr an das Verhalten des Kindes als an das der Eltern angeknüpft. Durch die Betrachtung der 564 Vgl. bspw. Michael/Morlok, Grundrechte, § § 9 VI, S. 156 f. und § 23 IV, S. 326 f. oder Schwab, Familienrecht, § 55 II, S. 300. 565 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. 566 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. 567 Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. 568 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

generellen Lebensweise der Eltern und deren möglicherweise negativem Vorbild für das Kind in Hinblick auf die sozialistischen Moralauffassungen wird jedoch auch hier wieder stark auf das Verhalten der Eltern verwiesen. Dies wird allerdings dadurch relativiert, dass sich dies auf das Kind auswirken müsse. Zwischenfazit zu § 50 S. 1 Alt.1 FGB In allen Auflagen ab 1970 wurde damit die Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes ganz nach den Pflichten der Eltern gem. § 43 FGB, aber auch nach dem sozialistischen Erziehungsideal des § 42 FGB ausgerichtet. Das Kind werde durch bewusste oder unbewusste negative moralische oder politische Beeinflussung in seiner Erziehung und Entwicklung gefährdet. Dazu wurde auch gezählt, dass die Eltern die Ratschläge bzw. die gesellschaftliche Hilfe gem. §§ 44 und 49 Abs. 2 FGB nicht annehmen. Für eine Gefährdung des Kindes i.S.v. § 50 S. 1 Alt. 1 FGB wurde damit in erster Linie an das Verhalten der Eltern in Bezug auf ihre Pflichten aus den §§ 43 und 42 FGB angeknüpft und weniger an das Befinden des Kindes. (2) Kein Verschulden der Eltern für die Gefährdung, § 50 S. 1 FGB Aus dem Vergleich des Wortlauts des § 50 S. 1 FGB mit dem des § 51 Abs. 1 S. 1 FGB ergibt sich, dass ein Verschulden der Erziehungsberechtigten nicht erforderlich ist, um Maßnahmen gem. § 50 FGB zu erlassen.569 Allein dass in § 51 FGB von „schuldhafter Verletzung“570 gesprochen wird legt nahe, wie stark dabei an das Verhalten der Eltern angeknüpft wird statt an ein objektiviertes Gefährdungsmoment für das Kind. Auch in allen Auflagen des Kommentares wurde explizit erwähnt, dass es für die Notwendigkeit des staatlichen Eingriffs unerheblich sei, ob die Eltern schuldhaft (vorsätzlich oder fahrlässig) die Gefährdung herbeigeführt haben.571 Besonders interessant ist, dass 1973 (und nahezu wortgleich auch 1982) hinzugefügt wird: „Für die Notwendigkeit des Eingriffs der staatlichen Organe der Jugendhilfe ist es unerheblich ob die Eltern schuldhaft (vorsätzlich oder fahrlässig) die Gefährdung herbeigeführt haben oder es unterlassen haben, an ihrer Überwindung mitzuwirken.“572 Dies könnte zum einen so verstanden werden, dass ab 1973 das Unterlassen der Eltern als weitere Variante neben dem schuldhaften Herbeiführen eingefügt wurde (schuldhaft herbeigeführt – oder unterlassen), oder aber dass das schuldhafte 569 Auch § 1666 Abs. 1 BGB setzt kein Verschulden der Eltern voraus (vgl. auch Schlüter, BGB-Familienrecht, § 25 Abs. 8, S. 256). 570 Vgl. Wortlaut des § 51 FGB. 571 Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 186, Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, zu § 50, S. 230, Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. 572 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205 und fast wortgleich Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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Unterlassen dem schuldhaften Tun gleichgestellt wurde (schuldhaft – herbeigeführt oder unterlassen). Da in jedem Falle aber das Verschulden nicht entscheidend sein sollte, kann festgehalten werden, dass ab 1973 das Unterlassen, an der Überwindung der Gefährdung – also an Maßnahmen im Vorfeld des § 50 FGB, d.h. im Rahmen der „gesellschaftlichen Hilfe“ gem. der §§ 44 i.V.m. 49 Abs. 2 FGB – mitzuwirken, der aktiven Verursachung einer Gefährdung gleichgestellt wurde. Für weitere Maßnahmen i.S.d. § 50 FGB wurde damit direkt an die fehlende Mitwirkung der Eltern bezüglich der gesellschaftlichen Hilfe angeknüpft. Dies zeigt, dass das Unterlassen, Hilfe anzunehmen, sanktionsbewehrt war, was wiederum bestätigt, dass nach der Auslegung § 49 Abs. 2 FGB als verpflichtend für die Eltern angesehen wurde. Außerdem wurde in allen Auflagen bis auf 1970 das Verhalten der Eltern ausdrücklich als relevant für die Art und Weise des staatlichen Eingriffs eingestuft: 1966 hieß es, das Verschulden der Eltern könne bedeutsam sein für die Art und Weise des staatlichen Eingriffs.573 Diese „Kann-Formulierung“ wurde 1973 und 1982 zu einer „Ist-Formulierung“ verändert und außerdem nicht nur ein Verschulden der Eltern, sondern auch deren „Verhalten“, ihre „Persönlichkeitseigenschaften“ sowie ihr Wissen und Können speziell in Erziehungsfragen als „bedeutungsvoll“ für die Art und Weise des Vorgehens der staatlichen Organe eingestuft.574 Dies wurde 1973 – in Abgrenzung zu § 51 FGB – noch damit begründet, dass „[…] die Überwindung der Gefährdungssituation mit den Eltern, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit ihnen erreicht werden muß.“575, 1982 dann aber nur noch ohne weitere Begründung festgestellt.576 Es ist daher anzunehmen, dass gerade wegen des in § 49 Abs. 2 FGB hineininterpretierten Verpflichtungscharakters ein „Unterlassen“ um Hilfe zu bitten bzw. Ratschläge anzunehmen Auswirkungen auf die Ausgestaltung und Intensität der Interventionen hatte. Betrachtet man dies vor dem Hintergrund des sozialistischen Erziehungsideals und der Vorbildfunktion der Eltern, so ist dies durchaus stimmig; jedoch wird eine solche Begründung nicht angeführt. Bezüglich des § 49 Abs. 2 FGB kann also durch die Auslegung mithilfe der Kommentierungen von der Variante des „sanktionsbewehrten Unterlassens“ gesprochen werden. Dies steht jedoch im Widerspruch zum Normtext, welcher lediglich als Angebot an die Eltern formuliert ist. Der bereits festgestellte Eindruck, dass für Maßnahmen gem. § 50 FGB damit nicht nur an eine Gefährdung des Kindes, sondern auch an das Verhalten der Eltern angeknüpft wurde, entsteht somit auch hier wieder, ebenso der Eindruck, dass auch schon das elterliche Verhalten bezüglich der Anfrage bzw. Annahme der „gesellschaftlichen Hilfe“ mit in die Prüfung gem. § 50 FGB einbezogen wurde.

573

Vgl. Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, zu § 50, S. 186. Vgl. Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205 und Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. 575 Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, zu § 50, S. 205. 576 Vgl. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, zu § 50, S. 146. 574

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

4. Fazit zu den §§ 49 Abs. 2, 50 FGB und § 1 JHVO Es wurden die Tatbestandvoraussetzungen der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB sowie des § 1 JHVO als rechtlich normierte Anlässe für Interventionen der Jugendhilfe untersucht. Aus dem Wortlaut dieser Paragraphen ergeben sich Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten, weshalb die darin normierten rechtlichen Voraussetzungen für Interventionen der Jugendhilfe anhand des FGB-Kommentars genauer analysiert wurden. Auch bezüglich dieser Kommentierungen kann – wie insbesondere im Rahmen des Fazits zum ersten Kapitels beschrieben – wieder festgestellt werden, dass die von Auflage zu Auflage getroffenen Aussagen, abgesehen von einzelnen Ausnahmen, inhaltlich die gleiche Zielrichtung haben und im Laufe der Zeit immer offener ausgesprochen wird, was in den Jahren zuvor nur angedeutet wurde. Somit ist auch bezüglich der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB eine zusammenfassende Darstellung möglich; da diese den Endpunkt der Entwicklung darstellt wird sich besonders an der Auflage von 1982 orientiert. Insgesamt lässt sich feststellen, dass weiterhin Staat und Gesellschaft gleichgesetzt wurden und unter der „Gesellschaft“ die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen verstanden wurden; die staatlichen Organe wurden auffälliger Weise im Kommentar zum FGB kaum erwähnt. In Bezug auf die Auslegung der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB durch den FGBKommentar ist feststellbar, dass diese – auch im Vergleich zur Auslegungspraxis der bisher analysierten Normen – auffällig über den Gesetzestext der Paragraphen hinausgeht bzw. diesen in einen völlig neuen Kontext stellt. Die Auslegung dieser Normen ist dabei besonders schwer systematisierbar und greifbar. Aus allen Auflagen der Kommentare geht aber mehr oder minder deutlich hervor, dass § 49 Abs. 2 FGB, welcher seinem Wortlaut nach klar als Angebot an die Eltern formuliert ist die staatliche bzw. gesellschaftliche Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen zu können, als Verpflichtung der Eltern ausgelegt wurde, um „gesellschaftliche Unterstützung“ zu bitten. Bei § 50 FGB, welcher im Falle einer Gefährdung der Erziehung, Entwicklung, der Gesundheit oder der wirtschaftlichen Interessen des Kindes Maßnahmen nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen vorsieht, steht die Kommentierung nicht ganz so offensichtlich im Gegensatz zu dessen Wortlaut. Jedoch wird der Begriff der „Gefährdung“ nach der Auslegung weder konsequent konkretisiert noch durch sonstige juristische Mechanismen (wie beispielsweise durch die Normierung eines formalisierten Prüfverfahrens) gewährleistet, obwohl dieser nach dem Wortlaut eine zentrale Tatbestandsvoraussetzung des § 50 FGB ist. Der abstrakte Gefährdungsbegriff wird damit nur durch Beispiele konkretisiert und es wird v.a. auf sozialistischpädagogische Literatur von Mannschatz verwiesen.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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Bei der Beurteilung des § 50 S. 1 Alt. 1 FGB („Gefährdung der Erziehung und Entwicklung des Kindes“) wird auf die Pflichten der Eltern gem. §§ 42 und 43 FGB verwiesen. Insbesondere wenn das sozialistische Erziehungsideal des § 42 FGB als Maßstab herangezogen wird, scheint in erster Linie an das Verhalten der Eltern und weniger an das Befinden des Kindes angeknüpft zu werden. Da das sozialistische Erziehungsziel des § 42 FGB aber ebenfalls denkbar weit gefasst ist, ergibt sich hieraus nur wenig Konkretes. Einer Gefährdung i.S.d. § 50 S. 1 Alt. 1 FGB wird außerdem gleichgestellt, dass die Eltern gesellschaftliche Hilfe gem. der §§ 44 und 49 Abs. 2 FGB nicht annehmen bzw. es unterlassen, diese zu fordern. Das Verhalten der Eltern kann somit Auswirkungen auf die Art und Weise der staatlichen Interventionen gem. § 50 FGB haben, sodass die Verpflichtung der Eltern gem. § 49 Abs. 2 FGB sanktionsbewehrt ist und der Pflichtverstoß auch durch Unterlassen verwirklicht werden kann. Im Ergebnis wird über diese Verknüpfung des Gefährdungsbegriffs des § 50 FGB mit der „gesellschaftlichen Unterstützung“ des § 49 Abs. 2 FGB auf komplizierte Weise § 50 FGB nach dem Stufenprinzip als auf § 49 Abs. 2 FGB aufbauend begriffen. Somit wird § 49 Abs. 2 FGB nicht nur ein Verpflichtungscharakter für die Eltern gegeben, sondern § 49 Abs. 2 FGB (zum Teil in Verbindung mit § 44 FGB) indirekt auch als Rechtsgrundlage für Interventionen interpretiert, was ebenfalls nicht von dessen Wortlaut gedeckt scheint. Insgesamt sind die Ausführungen zu den §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB sehr wirr und unklar und es entsteht der Eindruck, dass vielmehr Regelungsinhalte dem Wortlaut der Paragraphen zugeschrieben wurden, als dass umgekehrt der Regelungsgehalt der Normen durch Auslegung konkretisiert wurde. Dies erschwert eine systematische Darstellung der Normen erheblich. Angesichts dieser Unkonkretheit der Auslegung des § 49 Abs. 2 FGB und insbesondere der Unklarheiten bezüglich des zentralen § 50 FGB, auf welchem auch § 51 FGB aufbaut und welcher eine Zuweisungsnorm zur JHVO darstellt, erscheint es für den Untersuchungsgegenstand als nicht weiter hilfreich, weitere Tatbestände des FGB und der JHVO als Anlässe für Interventionen der Jugendhilfe zu analysieren. Die JHVO normiert zudem selbst keine eigenen Tatbestandsvoraussetzungen, sondern lediglich allgemeine Aufgaben (vgl. §§ 1, 2 und 3 FGB) und eine detaillierte Palette an Maßnahmen für die einzelnen Organe, also Rechtsfolgen; die Tatbestandsvoraussetzungen bestehen nur in einer Wiederholung derjenigen Tatbestandsvoraussetzungen des FGB577. Selbst wenn die Bedeutung von Zuweisungsnormen in der DDR eine andere gewesen sein sollte als nach BRD-rechtlichem Verständnis, so lassen sich der JHVO dennoch keine konkreteren Voraussetzungen für Interventionen entnehmen.

577

Vgl. bspw. den Wortlaut des § 23 Abs. 1 JHVO.

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Welche Ergebnisse sich aus den bisherigen Erkenntnissen für den Untersuchungsgegenstand ziehen lassen, werden im Folgenden dargestellt.

II. Zwischenergebnis: Rechtliche Normierung von Interventionen und Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe 1. Rechtliche Normierung von Interventionen Die Untersuchung der Ausgestaltung der Tatbestandsvoraussetzungen einzelner Rechtsnormen als Anlässse für Interventionen der Jugendhilfe578 wurde mit einer Analyse der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB begonnen und ergab folgende Ergebnisse: Es wurde erarbeitet, welche der gesetzlichen Grundlagen des FGB für die Tätigkeit der Jugendhilfe auch Tatbestände für Interventionen im Sinne der hier relevanten Definition579 darstellen: Die gesetzlichen Grundlagen umfassen weitreichende Kompetenzen von der Übertragung des Erziehungsrechtes und der Erziehungshilfe, über die Feststellung der Vaterschaft und den Unterhalt bis hin zu Adoption, Vormundschaft und Pflegschaft580. Bezüglich der Ergebnisse zu den Tatbeständen der Normen, welche eine Rechtsgrundlage für Interventionen normieren, ist wieder – wie schon des Öfteren dargestellt – zu beachten, dass der Kern der Aussagen der Kommentierungen abgebildet wird. Selbstverständlich ist die Darstellung auch an dieser Stelle lediglich eine Annäherung, welche darauf basiert, dass über die Auflagen des Kommentars zum FGB hinweg eine Auslegungstendenz festgestellt werden konnte, welche mit den Jahren immer deutlicher aus den Kommentierungen ersichtlich wird. Dabei ergab sich eine deutlich über den Wortlaut der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB hinausgehende Auslegung in allen Auflagen des Kommentars, nach welcher die §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB als aufeinander aufbauend begriffen werden im Sinne eines Stufenprinzips. Dies hat zur Folge, dass dem § 49 Abs. 2 FGB nicht nur, wie ausgeführt, ein Verpflichtungscharakter für die Eltern zugeschrieben wird, sondern dieser bereits als eine Rechtsgrundlage für Interventionen angesehen werden kann.581 Im Ergebnis bedeutet diese Auslegung, dass aufgrund der verschiedenen Ausle578

Vgl. auch oben die Begrifflichkeiten unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 579 Vgl. oben die Einführung zum Abschnitt C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe: die zielgerichtete spezifische und bewusste Einflussnahme durch die Jugendhilfe auf eine einzelne Familie im faktisch-tatsächlichen Sinne. An dieser Stelle der Analyse sind außerdem nur solche Interventionen gemeint, welche die Jugendhilfe direkt und unmittelbar und damit selbst vornehmen konnte. 580 Vgl. oben unter 1. Kapitel, C. I. 1. Rechtsgrundlagen fu¨ r Interventionen der Jugendhilfe. 581 Vgl. Fazit zur Auslegung der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

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gungsmethoden für Rechtsfolgen, welche in der tatsächlichen Umsetzung eine Intervention darstellen, kaum klare Tatbestandsvoraussetzungen normiert sind. Statt begrenzende Voraussetzungen für die Tätigkeit der Jugendhilfe zu formulieren, wird im Kommentar zum FGB dagegen das zwingende Erfordernis der Tätigkeit der Jugendhilfe unterstrichen und mit Beispielen dargestellt. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Verwendung des „Eingriffs“-Begriffs, welcher keinerlei die Interventionen der Jugendhilfe beschränkende oder kontrollierende Funktion hat.582 1982 wird relativ offen dargestellt, dass im Falle einer faktischen Intervention durch staatliche Organe auch die Voraussetzungen für diese gegeben seien.583 Die unterschiedlichen Interventionsintensitäten werden damit nicht an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft und der Jugendhilfe sogar eine präventive Funktion zugeschrieben. Die Analyse der Tatbestandsvoraussetzungen für Interventionen anhand der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB ergab somit im Einzelnen, dass diese sehr unkonkret sind, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass die Jugendhilfe anstatt klar abgegrenzter Tatbestände, welche es nach dem Wortlaut der Paragraphen des FGB zunächst zu sein scheinen, laut der Rechtsgrundlagen stufenlose Interventionsmöglichkeiten hatte. Angesichts der Unbestimmtheit der Rechtsvorschriften ist eine Analyse weiterer Tatbestände für Interventionen nicht zielführend. Der Kommentar zum FGB beschreibt im Ergebnis lediglich in Form von Rechtsfolgen unterschiedliche Interventionsintensitäten. Auch die JHVO ergibt diesbezüglich keine Konkretisierung. 2. Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe Für die rechtliche Normierung der Jugendhilfe sind diese Erkenntnisse gerade vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe besonders bedeutsam: Wie bereits durch die Beschreibung der Tätigkeit der Jugendhilfe als staatliches Organ, der Organisation sowie des normierten Tätigkeitsfeldes der Jugendhilfe erkenntlich wurde, legen die Rechtsgrundlagen sehr umfassende Kompetenzen und einen großen Stellenwert der Jugendhilfe in der sozialistischen Gesellschaft fest, demgemäß die Jugendhilfe viele wesentliche Entscheidungen zu treffen hatte. Von den Interventionen mit hoher Intensität wurde lediglich der endgültige Erziehungsrechtsentzug bzw. die Adoption gegen den Willen der Eltern durch ein Gericht vorgenommen und lag damit nicht in der Zuständigkeit der Jugendhilfe.

582 Vgl. Exkurs: Erkenntnisse zum sozialistischen „Eingriffs“-Begriff und zur gesellschaftlichen Hilfe. 583 Vgl. bspw. Kommentar zum FGB, 5. Aufl. von 1982, zu § 50, S. 146.

160

1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

Die Arbeit der Einzelfallbetreuung in Form der ambulanten Einflussnahme oblag im Wesentlichen ehrenamtlichen Jugendhelfern und damit unausgebildeten Laien584, sodass auch keine Objektivität durch externe Experten in das Jugendhilfeverfahren eingebracht wurde. Wie schon im Abschnitt über Familie und Erziehung in der DDR beschrieben, wurde gem. § 3 FGB und § 42 FGB „vertrauensvolles Zusammenwirken“ der betroffenen Familien mit den staatlichen und gesellschaftlichen Organen vorausgesetzt; das ganze Verfahren war damit von dem Grundsatz der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Erziehung der Kinder dominiert. Die individuellen Einflussmöglichkeiten der Betroffenen auf das Jugendhilfeverfahren waren dagegen sehr beschränkt. Außer dem Recht auf Anhörung für das Kind gem. § 53 FGB und dem Recht auf Anhörung für die Erziehungsberechtigten gem. der §§ 36 und 37 JHVO gab es keine weiteren Verfahrensrechte für die Betroffenen; zudem stand das Recht zur Anhörung nicht nur den betroffenen Eltern, sondern auch den anderen Beteiligten (Schule, Arbeitgeber etc.) entsprechend dem Grundsatz der gesamtgesellschaftlichen Beteiligung zu.585 In ein Jugendhilfeverfahren in der DDR wurden sehr viele Akteure rechtlich einbezogen und somit zu Beteiligten im weitesten Sinne gemacht. Eine wirkliche Einflussmöglichkeit auf das Jugendhilfeverfahren eröffnete allein das Rechtsmittel des Beschwerdeverfahrens gem. §§ 50 – 52 JHVO: Gab das Organ der Jugendhilfe, gegen dessen Entscheidung gem. §§ 50 f. JHVO Beschwerde eingelegt wird, der Beschwerde nicht gem. § 52 Abs. 1 JHVO statt oder nur teilweise, so entschied das zuständige Mitglied des Rates darüber, ob die Beschwerde erneut durch dasselbe Organ der Jugendhilfe zu entscheiden war oder es veranlasste, dass das übergeordnete Organ der Jugendhilfe darüber bestimmt, vgl. § 52 Abs. 2 JHVO. Gegen die Entscheidung des übergeordneten Organs der Jugendhilfe gab es kein weiteres Rechtsmittel, vgl. § 52 Abs. 7 JHVO.586 Bis auf die Einschaltung des Mitgliedes des Rates gab es somit nur die interne Kontrolle innerhalb der Jugendhilfe selbst, also keine externe Rechtmäßigkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die §§ 50 – 53 JHVO enthalten außerdem keinerlei Maßstäbe, nach welchen Kriterien die Beschwerde überprüft wird. In Ermangelung eines Verwaltungsverfahrensgesetzes und einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR war weder der Verwaltungsrechtsweg eröffnet587 noch stand das Instrumentarium der Verfassungsbeschwerde offen. Da sich darüber hinaus sowohl aus der Verfassung der DDR als auch aus dem FGB kaum konkrete Rechte für 584 Vgl. auch Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I. Zu den Anforderungen an die Jugendhilfemitarbeiter vgl. Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. 40 f. 585 Vgl. Wortlaut des § 53 FGB und der §§ 36 f. JHVO sowie ausführlicher dazu Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. 85 f. und S. 111 ff. 586 Vgl. dazu auch Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. 38. 587 Vgl. Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. 112.

C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe

161

die Eltern entnehmen ließen588, hatte die Jugendhilfe in der DDR nicht nur ein weites Aufgabenfeld und sehr umfassende Kompetenzen, sondern wurde auch durch die gesamte Konzipierung inhaltlich kaum begrenzt oder gar kontrolliert. Da es in Ermangelung eines Verwaltungsverfahrensgesetzes und einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR auch keinen Rechtsschutz in Form des Verwaltungsrechtsweges gab589 sowie auch keine Verfassungsbeschwerde und sich darüber hinaus sowohl aus der Verfassung der DDR und auch aus dem FGB kaum konkrete Rechte für die Eltern ziehen lassen590, hatte die Jugendhilfe in der DDR nicht nur ein weites Aufgabenfeld und sehr umfassende Kompetenzen, sondern wurde auch durch die gesamte Konzeption inhaltlich kaum begrenzt oder gar kontrolliert. Diese Einschätzung wird auch bestätigt durch Mannschatz: „Mit der Jugendhilfeverordnung waren wir bemüht, Analyse, Entscheidung[en] über Maßnahmen und deren Verwirklichung durch begleitende Erziehungshilfe in einer Hand zu vereinigen; und zwar in einer Verwaltungsbehörde, die der Volksbildung zugeordnet ist; und außerdem der Jugendhilfe die Möglichkeit und Kompetenz einzuräumen, im gegebenen Falle in das „Vorfeld“ der Aktivitäten der Regelsysteme abfordernd und korrigierend einzuwirken. Aus diesem Spektrum wuchs der Jugendhilfe große Vollmacht und Verantwortung zu.“591 Vor diesen Hintergrund erscheint die Tatsache, dass die Normierung der Interventionen der Jugendhilfe in der Gesamtschau sehr unkonkret ist und somit aus den Rechtsgrundlagen592 nicht erkennbar ist, aus welchen Anlässen heraus sich die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe tatsächlich auf die einzelne Familie konzentrierte, noch viel brisanter, da der Jugendhilfe im Ergebnis scheinbar eine Art „Generalermächtigung“ zustand. Im Kontrast zu der inhaltlichen Weite, welche der Jugendhilfe zugestanden wurde, stehen hierbei die sehr klaren Organisations-, Verfahrens- und Formvorschriften der JHVO. Diese Erkenntnisse haben weitreichende Folgen für das generelle Verständnis des DDR Jugendhilferechts, worauf nun im folgenden Kapitel eingegangen werden wird.

588

Vgl. unter 1. Kapitel, A. I. 4. Fazit zum Familien- und Erziehungsverständnis anhand der Verfassung bzw. unter 1. Kapitel, A. II. Zentrale Normen des FGB von 1965. 589 Vgl. Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. 112. 590 Vgl. unter 1 Kapitel A. III. Zwischenergebnis: Normiertes sozialistisches Familienverständnis und Erziehungsideal sowie Gesellschafts- bzw. Staatsbegriff. 591 Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I. Mannschatz schätzte die Zuständigkeit der Jugendhilfe aber nicht als überdehnt ein (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). 592 Wie schon des Öfteren betont, werden unter Rechtsgrundlagen keine „Rechtsgrundlagen für Interventionen“ oder gar „Eingriffe“ verstanden, sondern lediglich formale und materielle Rechtsanweisungen (vgl. auch Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung).

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung Betrachtet man die ausgewählten zentralen Gesetzesvorschriften, so offenbart sich ein facettenreiches Konglomerat, welches sich offensichtlich aus unterschiedlichsten Quellen speiste593 und anscheinend zwischen realsozialistischen Anforderungen, marxistischen Idealen, bewusster Abgrenzung von und versteckter Orientierung an westlichen Rechtsmaßstäben sowie offenen und unausgesprochenen Zielen mäandert. Dadurch entstanden Rechtsvorschriften, welche zwar nicht immer konsequent kohärent sind, sich aber des Öfteren aufeinander beziehen und wiederholen und dabei eine gemeinsame Zielrichtung verfolgen. Hinzu kommt, dass die Kommentierung zum FGB in den 60er, 70er und 80er Jahren einer deutlichen Wandlung unterlag; sämtliche Ergebnisse der Exegese müssen also unter dieser Prämisse betrachtet werden. Aufgrund der Tatsache, dass, wie schon mehrfach festgestellt und anhand von vielen Beispielen dargestellt wurde, sämtliche Rechtsnormen aber eine Tendenz verbindet und eine – von wenigen Ausnahmen abgesehen – über die Jahre hinweg kontinuierliche Entwicklung feststellbar ist, kann an dieser Stelle zusammenfassend das Jugendhilferecht der DDR dargestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass die getroffenen Aussagen insgesamt für die Auslegung von 1966 sicher noch weniger zutrafen als für das Verständnis der Rechtsgrundlagen von 1982. Jedoch wurden auch 1966 – wie ausführlich gezeigt – keine dem Auslegungsergebnis entgegenstehenden Aussagen getroffen, sondern lediglich die gleichen Tendenzen normiert, wenn auch weniger offensichtlich. Ziel der Exegese zentraler Rechtsnormen ist es, die rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe zu untersuchen; also herauszuarbeiten, aus welchen normierten Anlässen heraus sich die Tätigkeit der Jugendhilfe im Sinne einer Intervention594 auf die einzelne Familie konzentrierte. Dafür wurde zunächst das Verständnis von Familie und Erziehung sowie von Staat und Gesellschaft nach den Rechtsgrundlagen der DDR untersucht, um eine Basis für die Analyse der Interventionen nach der rechtlichen Festlegung zu schaffen. Es konnte anhand der Rechtsnormen das sozialistische Familienideal sowie das Ideal der gesamtgesellschaftlichen Erziehung und ein DDR-spezifischer Staats- bzw. Gesellschaftsbegriff erarbeitet werden. Darauf folgend wurde sich der Darstellung der Tätigkeit der Jugendhilfe sowie ihrer Organisation gewidmet. Die Jugendhilfe war hierarchisch strukturiert und hatte umfassende Aufgaben und Kompetenzen, welche mit der gesamtgesellschaftlichen Beteiligung bzw. der Mitwirkung aller staatlichen Organe an der Erziehung der Kinder begründet wurden.

593

Offenbar aus dem Weimarer Recht, dem Recht der Sowjetunion und neuer sozialistischer Gesetzgebung der DDR; hierzu wären eigene Untersuchungen wünschenswert. 594 Vgl. Begriffsbestimmungen unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung.

D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit empirischer Untersuchung

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So konnte die rechtliche Verankerung von ambulanten Interventionen der Jugendhilfe in Form ihrer Tatbestandsvoraussetzungen anhand der §§ 49 Abs. 2 und 50 FGB direkt untersucht werden. Dies ergab, dass über den Untersuchungszeitraum hinweg auf Basis der ausgewählten Quellen kaum klare und verbindliche Voraussetzungen, Bedingungen und Regeln für Interventionen feststellbar sind. Die Kommentierung unterstreicht vielmehr, dass sich aus Interventionen der Jugendhilfe selbst deren Notwendigkeit ergibt. Es ist somit entgegen des Gesetzeswortlautes keine klare Schwelle zwischen der Normierung der allgemeinen Tätigkeit der Jugendhilfe und der Normierung von Interventionen erkennbar: Aufgrund der Auslegung der §§ 44 i.V.m. 49 Abs. 2 FGB als Rechtsgrundlage für Interventionen der Jugendhilfe595 entstand der Eindruck, dass aus den Begriffen der „Aufgaben“ bzw. „Pflichten“ des Staates und der Jugendhilfe596 nicht nur eine Rechtsgrundlage für die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe fern von Interventionen gefolgert wurde597, sondern bereits die Pflichten und Zielstellungen der Jugendhilfe im Hinblick auf alle Familien – also die generellen „Aufgaben“ der Jugendhilfe – als hinreichende Rechtsgrundlage für die Interventionen der Jugendhilfe auch in die einzelne Familie betrachtet wurden. Im rechtlichen Sinne konnte damit keine Unterscheidung zwischen der rechtlichen Ausgestaltung der allgemeinen Tätigkeit der Jugendhilfe und Interventionen im Speziellen festgestellt werden. Die Aussagen im ersten und zweiten Teil dieses Kapitels bezüglich der Interessengleichheit von Staat, Gesellschaft und Familie, des sozialistischen Erziehungsideals und der gesamtgesellschaftlichen Erziehung, die auf den ersten Blick lediglich als propagandistischen Zwecken dienend erscheinen konnten, stellten sich damit für die Tätigkeit der Jugendhilfe als entscheidend heraus und haben damit im Ergebnis – da es keine klaren juristischen Voraussetzungen für Interventionen der Jugendhilfe in Abgrenzung zu ihrer sonstigen Tätigkeit598 gab – auch für Interventionen der Jugendhilfe direkte Relevanz.599 Auf der Basis der ermittelten Erkenntnisse und insbesondere vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe kann das „öffentliche“ Familienrecht der DDR daher insgesamt folgendermaßen beschrieben werden: Die Jugendhilfe hatte im Rahmen ihrer generellen Aufgaben und Pflichten umfassende Kompetenzen,

595

Vgl. unter 1. Kapitel, C. I. 4. Fazit zu den §§ 49 Abs. 2, 50 FGB und § 1 JHVO. Wie sie insbesondere in den §§ 4, 44 FGB, aber auch in § 3 Abs. 2 FGB verwendet werden. 597 Quasi entsprechend einer „sachlichen Zuständigkeit“ des öffentlichen Rechts der BRD (vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 72 III, S. 550). 598 Zu den Begrifflichkeiten vgl. Einleitung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 599 Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass Staat und Gesellschaft im Zusammenhang mit der staatlichen Tätigkeit im Bereich der Familie zunehmend gleichgestellt wurden und die Gesellschaft immer formalisierter mit gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen gleichgesetzt wurde. 596

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1. Kap.: Exegese zentraler Rechtsnormen

ohne durch die generelle Konzeption der Jugendhilfe klaren Bindungs- oder Kontrollmechanismen unterworfen zu sein.600 Auf formaler Ebene fällt jedoch die hierarchische Verteilung innerhalb der Struktur der Jugendhilfe sowie die detaillierten Verfahrensvorschriften der §§ 36 – 46 JHVO ins Auge. Die Normierung war insgesamt so offen angelegt und schuf für die Jugendhilfe ein so weites Handlungsspektrum, dass vielmehr der Eindruck entsteht, es sei hier lediglich darum gegangen der Jugendhilfe möglichst viele Kompetenzen zu geben. So ging es im Kern immer darum, zu untermauen, dass die Jugendhilfe zuständig war, sowie welches ihrer Organe zuständig war. Durch die Art und Weise, wie die gesamtgesellschaftliche Erziehung durch die Kommentare unterstrichen wurde und die „Familienerziehung“ aufwändig gerechtfertigt wurde, entsteht der Eindruck, dass der Staat an sich vorrangig für die Kindererziehung zuständig war und den Eltern lediglich gewisse Kompetenzen gewährt wurden. Daher gab es auch keine „Rechtmäßigkeitsüberprüfung“ der Interventionen der Jugendhilfe. Lediglich die endgültige Wegnahme des Kindes aus der Familie wurde einem Gericht unterstellt, welches jedoch ebenfalls durch die Zuarbeit der Jugendhilfe beeinflusst wurde.601 Das sozialistische öffentliche Familienrecht ist damit nicht als Rechtssystem zu verstehen, in welchem die Rechte der Eltern und die Interventionen des Staates nach materiellen Dimensionen festgelegt werden, sondern vielmehr als Kompetenzzuweisungs- bzw. Organisationsrecht, welches die sich aus dem sozialistischen Erziehungsziel ergebenden Aufgaben bzw. Pflichten der Eltern und der gesellschaftlichen und staatlichen Organe zwischen den verschiedenen Akteuren verteilt. Die Tatbestände für Interventionen der Jugendhilfe können lediglich so verstanden werden, dass sie Zuständigkeiten verteilen und die Tätigkeit der Jugendhilfe in gewissen Grenzen und Bahnen hielten; vielleicht um zu demonstrieren, dass westliche Standards eingehalten wurden – dies bleibt jedoch bloße Spekulation. Die detaillierten Verfahrens- und Formvorschriften sowie die klare Organisationsstruktur passen ebenfalls zu diesem Organisationscharakter und sorgten für einen reibungslosen Ablauf des Jugendhilfeverfahrens. Das „öffentliche“ Familienrecht der DDR normiert damit in erster Linie die Rechtsfolgen der Tatbestände sowie das Verfahren und die Organisation der Jugendhilfe und hatte damit offenbar eine völlig andere Bedeutung und Rolle als in der BRD. Es können damit aus der Analyse weiterer Tatbestandsvoraussetzungen für Interventionen keine tieferen Erkenntnisse in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand erwartet werden, sodass nun eine empirische Analyse notwendig ist. Die empirische Analyse des Untersuchungsgegenstandes ist vielversprechend, da in der DDR in der Rechtspraxis tatsächlich nur einzelne ausgewählte Familien in 600 Vgl. unter 1. Kapitel, C. II. 2. Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe. 601 Vgl. § 51 FGB.

D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit empirischer Untersuchung

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Form eines Jugendhilfeverfahrens betreut wurden602 und nicht etwa jede Familie durch die Jugendhilfe begleitet wurde, wie es nach der Darstellung der Rechtsgrundlagen ebenfalls möglich erscheinen würde. Damit existierte in der Rechtspraxis faktisch eine Schwelle zwischen allgemeiner staatlicher Tätigkeit im Bereich der Familie und der Betreuung einzelner Familien durch die Jugendhilfe (sprich Interventionen der Jugendhilfe), welche sich aus den Rechtsgrundlagen nicht herauslesen ließ. Aus den dargestellten Ergebnissen der Exegese ergibt sich nun, weshalb für die Untersuchung der Interventionen der Jugendhilfe nicht der klassisch rechtshistorische Vergleich zwischen Rechtsgrundlagen und Rechtswirklichkeit in Form einer reinen Darstellung von Normebene und Anwendungsebene, sondern vielmehr von Anfang an ein sozialgeschichtlicher Untersuchungsgegenstand gewählt wurde. Die ausführliche deduktive Normenexegese der sozialistischen Rechtsgrundlagen der Jugendhilfe hat lediglich einen Rahmen für die Tätigkeit der Jugendhilfe durch Leitlinien, Grundsätze und Ziele ergeben. Eine Überprüfung der „Tatbestandsmäßigkeit“ des Verwaltungshandelns in der DDR bzw. die Darstellung der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ist wenig interessant, da die Rechtsgrundlagen in Bezug auf konkrete Tatbestandsvoraussetzungen für Interventionen der Jugendhilfe zu unbestimmt bzw. weit sind. Es lassen sich somit aus ihnen keine konkreten Anlässe dafür entnehmen, weshalb sich die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe in Form einer Intervention auf die einzelne Familie konzentrierte: Es muss dagegen anhand von Einzelfallakten untersucht werden, welche Familien tatsächlich durch die Jugendhilfe betreut wurden, da dies aufgrund der Normen nicht klar genug bestimmbar und vorhersehbar ist. Es wird also analysiert, welche Anlässe für das faktische Tätigwerden der Jugendhilfe im Sinne einer Intervention feststellbar sind.

602 Vgl. dazu 2. Kapitel: Empirische Analyse von Einzelfallakten der Jugendhilfe des ehemaligen Kreises Hoyerswerda.

2. Kapitel

Empirische Analyse von Einzelfallakten der Jugendhilfe des ehemaligen Kreises Hoyerswerda Nachdem im ersten Kapitel der Arbeit der Untersuchungsgegenstand der Anlässe von Interventionen anhand der rechtlichen Grundlagen für Interventionen – insbesondere anhand der Tatbestandsvoraussetzungen der Normen als (mögliche) Anlässe für Interventionen – und mittels der juristischen Auslegungsmethode analysiert wurde1, ist es nun aus den ausführlich erörterten Gründen2 erforderlich, den Untersuchungsgegenstand auf der rechtstatsächlichen Ebene zu untersuchen. Dies geschieht anhand der Analyse von Einzelfallakten der Jugendhilfe. Die Akten beinhalten im Gegensatz zu den allgemein-abstrakten Gesetzen und Kommentierungen konkret-individuelle Fälle von Familien in die interveniert wurde. Hierin wurde auch die Art und Weise dokumentiert, in der dies geschah. Wie noch gezeigt werden wird, dokumentieren die Akten einen einheitlichen Lebensvorgang der Beeinflussung der Familien durch die Jugendhilfe und sind somit in besonderer Weise geeignet, die Anlässe von Interventionen zu analysieren. Es ist aufgrund der erarbeiteten Erkenntnisse der Normenexegese nicht zielführend, allen im ersten Kapitel anhand der Rechtsgrundlagen erarbeiteten Aspekten bzw. Anlässen der Interventionen an dieser Stelle eine rechtstatsächliche Betrachtung gegenüberzustellen. Da im ersten Teil der Untersuchung festgestellt werde konnte, dass das Recht nur einen weiten Rahmen festlegt, viele Tatbestandsvoraussetzungen durch die normierten Rechtsquellen aber nicht konkret festlegt wurden, werden die Akten daraufhin analysiert, welche tatsächlichen Anlässe für die Interventionen der Jugendhilfe konkret erkennbar sind; welche Faktoren also tatsächlich die Interventionen bedingten.3 Hierfür wird auch analysiert, wie sich wichtige Eckdaten des Jugendhilfeverfahrens gestalteten, um hierüber weitere indirekte Hinweise auf die tatsächlichen Anlässe zu erhalten. Wie sich aus den Ergebnissen der Normenexegese ergeben hat, würde ein rechtsge1 Vgl. die Begrifflichkeiten unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung sowie die Methoden der Normenexegese unter Einführung, V. Gang der Untersuchung: Quellen, Methoden und Vorgehensweise. 2 Vgl. dazu 1. Kapitel, D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung. 3 Zur Unterscheidung zwischen der Normebene und den tatsächlichen Anlässen, vgl. unten Exkurs: Verhältnis des Quellenmaterials zu den geltenden Normen einerseits und dem zu ermittelnden tatsächlichen Lebenssachverhalt andererseits.

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

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schichtliches Arbeiten, welches die Rechtswirklichkeit der Auslegung von Tatbestandsvoraussetzungen, unbestimmten Rechtsbegriffen, die Ausnutzung von Auslegungsspielräumen etc. untersucht – also eine „Überprüfung der Tatbestandsmäßigkeit“ im weitesten Sinne – der Natur des sozialistischen Familienrechts nicht gerecht werden.4 Wie im einführenden ersten Teil der Arbeit bereits dargestellt, lautet daher die erkenntnisleitende Fragestellung für den empirischen Teil folgendermaßen: Welche tatsächlichen Anlässe sind für die dokumentierten Interventionen der Jugendhilfe empirisch feststellbar?5 Dabei wird unter „Interventionen der Jugendhilfe in die Familie“ eine spezifische, direkte Beeinflussung einer Familie durch den Staat in Form der Jugendhilfe verstanden, welche individuell und zielgerichtet auf diese einzelne Familie abgestimmt wurde.6 Es erfolgt an dieser Stelle aber keine Einschränkung auf solche Interventionen, welche die Jugendhilfe allein und unmittelbar durchführen konnte, wie es im Rechtsgrundlagenteil geschehen ist.7 Interventionen, welche eine Mitwirkung an gerichtlichen Maßnahmen darstellen, werden hier in die Untersuchung miteinbezogen, um den natürlichen Lebenssachverhalt nicht künstlich aufzuspalten. Unter „Tätigkeit der Jugendhilfe“ wird jegliche Aktivität der Jugendhilfe verstanden, was zum einen Interventionen einschließt, zum anderen aber auch die Aktivität im Innenverhältnis der Jugendhilfe. Unter „Anlässen von Interventionen“ werden diejenigen Faktoren verstanden, welche dazu führen, dass sich die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe auf die einzelne Familie konkretisiert.8 Auf welche Art von Anlässen sich dabei jeweils sinnvollerweise konzentriert wird, ist Teil der Untersuchung selbst und wird bei jedem Schritt der Analyse explizit erarbeitet.

4 An dieser Stelle wird auch klar, weshalb der Untersuchungsgegenstand und die Methodik von vornherein anders gewählt wurden. 5 Vgl. unter Einführung, IV. Forschungsleitende Fragestellung. 6 Vgl. unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 7 Vgl. unter 1. Kapitel, C. Rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe. 8 Vgl. unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

A. Vorgehen I. Aktenbestand: Einzelfallakten der Jugendhilfe aus dem ehemaligen Kreis Hoyerswerda 1. Aktenlage und Auswahl des Aktenbestandes Es existieren insgesamt einige gut erhaltene Aktenbestände von Einzelfallakten der Jugendhilfe der DDR.9 Außer des untersuchten Aktenbestandes wurden für die Vorarbeiten und zum Vergleich noch weitere Akten der ehemaligen Räte der Kreise Oranienburg, Berlin-Mitte und Berlin-Prenzlauer Berg sowie weitere Aktenbestände des Kreisarchivs Bautzen eingesehen.10 Es wurde sich für einen gut erhaltenen Aktenbestand an Einzelfallakten der Jugendhilfe des Rates des Kreises Hoyerswerda entschieden.11 Dieser Aktenbestand ermöglichte die Untersuchung von Einzelfallakten von Familien des Kreises Hoyerswerda und umfasst insgesamt 49 Laufmeter mit der Laufzeit 1951 – 1990. Anhand dieses Aktenbestandes kann die Funktionsweise der Jugendhilfe in der DDR anhand der Tätigkeit des Referates Jugendhilfe des Kreises Hoyerswerda12 unter besonderen Bedingungen betrachtet werden: Der Kreis Hoyerswerda war ein Landkreis im Bezirk Cottbus der DDR, der Sitz der Kreisverwaltung befand sich in Hoyerswerda. Der Sitz des Kreisreferates Jugendhilfe war daher in Hoyerswerda angesiedelt (s. Abb. 1). Hoyerswerda liegt ca. 35 Kilometer südlich von Cottbus und 55 km nordöstlich von Dresden und besteht aus einer mittelalterlichen Altstadt sowie einem Ortsteil genannt Hoyerswerda-Neustadt. Hoyerswerda ist und war infrastrukturell wenig angebunden und wegen seiner Lage ganz im Osten der ehemaligen DDR ohnehin sehr abgeschieden. Dadurch kann davon ausgegangen werden, dass die Bevölkerung größtmöglich von westlichen Einflüssen abgeschottet war.

9 Vgl. die äußere Beschreibung des Aktenbestandes unten unter 2. Kapitel, A. II. Beschreibung des Quellenmaterials und datenschutzrechtliche Anforderungen. 10 Kreis- und Verwaltungsarchiv des Landkreises Oberhavel, Aktenbestand des ehemaligen Rates des Kreises Oranienburg, Referat Jugendhilfe; Bezirksamt Mitte von Berlin, Aktenbestand des ehemaligen Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte, Referat Jugendhilfe sowie Bezirksamt Pankow von Berlin, Aktenbestand des ehemaligen Rates des Stadtbezirks BerlinPrenzlauer Berg, Referat Jugendhilfe. 11 Kreisarchiv Bautzen, Aktenbestand 505 Rat des Kreises Hoyerswerda, Jugendhilfeakten. 12 Z.T. wurden die Akten offenbar nur zu Archivierungszwecken nach Hoyerswerda übersandt oder aber das Jugendhilfeverfahren hatte unter einer anderen Kreiszuständigkeit begonnen und wurde übergeben. In diesen Fällen betreffen die Akten auch die Tätigkeit der Jugendhilfe anderer Kreise. Dies ist jedoch bei den untersuchten Akten nur sehr selten der Fall.

A. Vorgehen

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Abbildung 1: Ehemaliger Standort des Kreisreferates Jugendhilfe Hoyerswerda, Gerhard-von-Scharnhorst-Straße (ehemals Nr. 6), Hoyerswerda-Neustadt. Von dieser Kreuzung aus fuhren auch die Busse mit Arbeitern direkt zu den Großbetrieben.

Ab Mitte der 50er Jahre wurden im großen Stil Neubausiedlungen gebaut, um Arbeiter für das Kombinat „Schwarze Pumpe“ sowie für andere hochindustrielle Betriebe in dieser Gegend anzusiedeln, sodass die Einwohnerzahl ausgehend von 7.000 Einwohnern in den 50er Jahren bis zum Jahr 1981, also gerade im Untersuchungszeitraum, auf ein Maximum von 71.124 Einwohnern – und somit drastisch – anwuchs. Diese Wohnungen wurden von der VEB Bauunion, einem staatseigenen Betrieb, in Groß- und Plattenbauweise erbaut; eine solche Art von Wohnungen war besonders begehrt, da Altbauwohnungen meist – besonders in Bezug auf die sanitären Anlagen – wenig Komfort hatten. Der Ortsteil der damaligen Neubauten wurde Hoyerswerda-Neustadt genannt und liegt auf der anderen Seite des Schwarze-Elster-Kanals direkt an der Altstadt. Die Neustadt ist eine Planstadt, welche in 14 Stadtteile bzw. 10 Wohnkomplexe gegliedert war. Die urbane Aufteilung galt für damalige Verhältnisse als äußerst modern. In jedem Wohnkomplex befanden sich Einrichtungen, die die alltäglichen Bedürfnisse der Bewohner befriedigen sollten und eine staatliche Kinderbetreuung anboten. Damit sollte gewährleistet werden, dass beide Elternteile möglichst viel Zeit zum Arbeiten aufwenden konnten.13 Häufig handelte es sich dabei um 13 So gab es in jedem Wohnblock einen Supermarkt, eine Wäscherei etc.; ein Busbahnhof brachte die Arbeiter direkt in das Kombinat „Schwarze Pumpe“ und andere hochindustrielle Betriebe.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Schichtarbeit in den hochindustriellen Anlagen. Hoyerswerda wurde auch „zweite sozialistische Stadt der DDR“14 genannt und kann als „Idealstadt“ im Sinne der DDR verstanden werden. Ziel bei der Auswahl des Aktenbestandes war es durch diesen sicherzustellen, dass bei der Untersuchung die Tätigkeit der Jugendhilfe unter Bedingungen analysiert wird, welche in der DDR selbst als nahezu „ideal“ hätten bezeichnet werden können, sowohl in Bezug auf die Jugendhilfe selbst, als auch in Bezug auf die betreuten Familien. Diese Herangehensweise steht bewusst im Kontrast zu einer Untersuchung problematischer Themen wie z.B. der Jugendwerkhöfe oder von Zwangsadoptionen, denn so kann bei den Ergebnissen nicht der Zweifel aufkommen, ob es sich um ungewollte oder durch den Druck politisch-gesellschaftlicher Polarisierung entstandene Einzelfälle handelte: In der DDR wurde die Wohnpolitik staatlich gelenkt, so dass davon auszugehen ist, dass gerade solche begehrten Neubauwohnungen an Bürger vergeben wurden, die dem Anspruch der sozialistischen Gesellschaft entsprachen; insbesondere Arbeiterfamilien. Außerdem war Hoyerswerda-Neustadt eine „Schlafstadt“ für die Schwerindustrie im Lausitzer Revier. Daher ist davon auszugehen, dass gerade in Hoyerswerda-Neustadt – der einwohnerreichsten Stadt im Kreis Hoyerswerda – eine sehr spezifische Bevölkerungsstruktur vorzufinden war. Wegen der großen Einwohnerzahl von Hoyerswerda-Neustadt lebten statistisch sehr viele Einwohner des ehemaligen Kreises Hoyerswerda und damit auch des genannten Aktenbestandes in Hoyerswerda-Neustadt. Da die Betreuung der Familien durch die Jugendhilfe an der Basis maßgeblich durch sogenannte Jugendhelfer15, also ehrenamtlich tätige Mitarbeiter der Jugendhilfe, geleistet wurde und diese Mitarbeiter somit direkt aus der Bevölkerung stammten, ist anzunehmen, dass auch die Jugendhilfe des Kreises Hoyerswerda eine spezielle Riege war.16 Es kann davon ausgegangen werden, dass zumindest eine generelle Bereitschaft zur Umsetzung der Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe bestand.17 14

Als „Erste sozialistische Planstadt“ wurde Halle-Neustadt bezeichnet. Vgl. auch unter 1. Kapitel, B. II. 1. Organe auf unterer Verwaltungsebene (Kreise, Stadtkreise, Stadtbezirke). 16 Dies bestätigt auch Mannschatz indem er betont, dass die Betreuung der Einzelfälle meist von ehrenamtlichen Jugendhelfern geleistet wurde, worauf man in der DDR besonders stolz war (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). Diese Jugendhelfer hatten keine fachliche, bspw. pädagogische, Ausbildung. 17 Für die Abgeschiedenheit von Hoyerswerda allgemein, sowie für die dortige spezielle Besetzung des Referates Jugendhilfe spricht auch, dass der von Mannschatz beschriebene „Verfallsprozess“ der Jugendhilfe gegen Ende der DDR in den Akten nicht feststellbar war (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). Selbst kurz vor der Wende wurde hier noch mit ehrenamtlichen Mitarbeitern das Jugendhilfeverfahren unverändert weiter durchgeführt (vgl. bspw. KA BZ 505/15 oder KA BZ 505/17). Das Ehrenamt erfüllte in Hoyerswerda seine Aufgaben also auch noch zu dieser Zeit. 15

A. Vorgehen

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Daher können im Kreis Hoyerswerda die Interventionen durch die Jugendhilfe der DDR in Familien unter ganz besonderen Bedingungen betrachtet werden: Wegen der geografischen Abgeschiedenheit innerhalb der DDR und der Distanz zur BRD sowie der Tatsache, dass hier viele Bürger und damit auch Jugendhilfemitarbeiter lebten, welche zumindest nicht offen gegen das System der DDR Stellung bezogen, bietet der Aktenbestand aus dieser Gegend eine Art Laborcharakter für die Untersuchung, wie die Jugendhilfe in der DDR quasi unter bestmöglichen Bedingungen funktionierte. Da die Einflüsse des Westens sehr gering gewesen sein dürften und die Jugendhilfe sich zu großen Teilen aus einer Bevölkerung rekrutierte, welche das System ernst nahm bzw. diesem gegenüber jedenfalls nicht abgeneigt war, kann die DDR-spezifische Funktionsweise der Jugendhilfe unter diesen regionalen und sozialen Gegebenheiten besonders gut analysiert werden, ohne dass eine Polarisierung durch den Einfluss des Westens und damit eine Analyse politisch besonders „aufgeladener“ Fälle befürchtet werden muss.18 Die Interventionen der Jugendhilfe im ehemaligen Kreis Hoyerswerda können damit in ihrer verhältnismäßig „idealen“ Konzeption betrachtet werden, also anhand eines Bestandes, welcher in der DDR wohl selbst als vorbildlich betrachtet wurde; dies wird durch eine Vorauswahl der Akten noch zusätzlich sichergestellt werden.19 So hat dieser spezielle Aktenbestand eine besonders geeignete Disposition für die symbolische Analyse gerade der möglichst typischen sozialistischen Rechtspraxis und Erkenntnisse, welche sich aus diesen Akten ziehen lassen, können zwar nicht als repräsentativ für die gesamte DDR, aber als besonders aussagekräftig für die Konzeption der Jugendhilfe betrachtet werden. 2. Beschreibung des Quellenmaterials und datenschutzrechtliche Anforderungen Bei den archivalischen Quellen handelt es sich um Akten, welche durch das zuständige Referat Jugendhilfe des Kreises Hoyerswerda, Abteilung Volksbildung behördenintern angelegt worden waren. Dies geschah durch die Mitarbeiter, die im direkten Kontakt mit den Familien standen; zumeist waren dies Jugendhelfer. Die Akten beschreiben jeweils einen Vorgang bezüglich eines betreuten Minderjährigen;20 ihr Umfang kann von wenigen Blättern21 bis hin zu mehreren hundert22 va18

Das Aktenstudium vergleichbarer Jugendhilfeakten ergab, dass die Jugendhilfe hier tatsächlich mit anderen Problemen und Konflikten konfrontiert waren, welche zum einen der anderen Lebenswirklichkeit in der Großstadt, zum anderen aber auch der Nähe zum Westen geschuldet sein könnten (Aktenbestand des ehemaligen Rates des Kreises Oranienburg, Referat Jugendhilfe, Aktenbestand des ehemaligen Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte, Referat Jugendhilfe sowie Aktenbestand des ehemaligen Rates des Stadtbezirks Berlin-Prenzlauer Berg, Referat Jugendhilfe). 19 Die Untersuchung wird zusätzlich auf die „Arbeiterschicht“ eingegrenzt werden. 20 In der Regel wurde für jeden Minderjährigen eine eigene Akte angelegt. Z.T. dokumentiert die Akte aber auch das Jugendhilfeverfahren für Geschwister oder Halbgeschwister. In

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

riieren. Das Ordnungsprinzip der Akten ist nicht chronologisch, sondern richtet sich nach den Nachnamen der betreuten Minderjährigen. Die in den Akten abgehefteten Dokumente entstammen dem gesamten Zeitraum der ehemaligen DDR. Zu Beginn der Auswertung im Jahre 2012 war der Bestand noch kaum archivarisch erschlossen und die Dokumente innerhalb der Akten z.B. nicht chronologisch sortiert. Erst die Auswertung dieses Aktenbestandes führte dazu, dass sie nach und nach erschlossen wurden, sodass erst zu einem späteren Zeitpunkt der Untersuchung auf chronologisch sortierte Dokumente mit konsequenter Foliierung zurückgegriffen werden konnte. Daher wurde aus zeitökonomischen Gründen nur für wichtige Zitate aus den Akten nachträglich die Angabe der Foliierung in den Akten hinzugefügt. Die Akten erscheinen in der Regel vollständig und relativ gut erhalten zu sein. Die Blätter sind oft Durchschläge auf sehr dünnem Papier; normales Papier ist häufig beidseitig beschrieben. Handschriftliche Anmerkungen sind des Öfteren schwer entzifferbar. Viele Dokumente wurden mit Schreibmaschine geschrieben und sind gut lesbar; handelt es sich jedoch nur um Durchschläge, ist die Schrift zum Teil stark verblasst oder die Tinte verschwommen. Einige Blätter bröseln bereits an den Rändern.23 Aufgrund des sehr unterschiedlichen Umfangs der Akten ist es schwer, allgemein zu beschreiben, wie das Quellenmaterial einer Akte beschaffen ist. Manche Akten beginnen mit einem Aktenvorblatt, welches Angaben zum Minderjährigen und dessen Eltern enthält.24 Dieses wurde aber selten vollständig ausgefüllt. In den Akten ist das gesamte behördliche Vorgehen der Jugendhilfe dokumentiert. Es finden sich darin außerdem auch gerichtliche Dokumente. Die überwiegende Anzahl der Akten dokumentieren das ambulante Vorgehen der Jugendhilfe, und falls es zu weiteren stationären Maßnahmen kam, d.h. zur Betreuung der Kinder im Kinderheim, Spezialkinderheim oder im Jugendwerkhof insofern auch diese Vorgänge, als die Jugendhilfe diese Kinder weiter betreute (beispielsweise während ihres diesen Fällen wird sich auf den Minderjährigen konzentriert, welcher in der Akte im Vordergrund stand. Nur selten betrifft das Jugendhilfeverfahren in einer Akte im gleichen Maße mehrere Minderjährige; dies wird bei der Auswertung berücksichtigt. Jede Akte wird als Einzelfall behandelt und bis auf wenige Ausnahmefälle wird nicht berücksichtigt, ob zwischen den Minderjährigen verschiedener Akten Verwandtschaft besteht. Dies ist schlicht nicht möglich, entweder weil die Sachverhalte und damit die Beziehungen, Adoptionen usw. in vielen Fällen sehr komplex waren, oder weil nicht immer mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob es sich um Geschwister/Halbgeschwister bzw. Stiefgeschwister handelte. Bei drei Aktenpaaren handelt es sich jeweils um denselben Minderjährigen (vgl. KA BZ 505/193 und KA BZ 505/194; KA BZ 505/196 und KA BZ 505/197 sowie KA BZ 505/205 und KA BZ 505/206). Entsprechend der Aktenführung werden diese jedoch trotzdem jeweils als Einzelfälle behandelt. 21 Bspw. KA BZ 505/222. 22 Bspw. KA BZ 505/29. 23 Vgl. bspw. KA BZ 505/146. 24 Vgl. bspw. KA BZ 505/30, fol. 1 ff.

A. Vorgehen

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Heimaturlaubs oder in Bezug auf Unterhaltsfragen).25 Manche Akten betreffen jedoch nur die stationären Vorgänge sowie ggf. den Kontakt des Kindes mit Mutter und Vater in dieser Situation und wurden dem Referat Jugendhilfe offensichtlich erst nach Abschluss der Betreuung zur Archivierung übersandt. In den Akten befinden sich somit Dokumente nicht nur des Referates Jugendhilfe des Rates Hoyerswerda, sondern auch der Heime der Jugendhilfe, anderer staatlicher Stellen, wie z.B. der Schulen, des Standesamtes, der Polizei, aber auch von Gerichten sowie Anwälten und Dokumente von volkseigenen Betrieben und Arbeitskollektiven, von Ärzten und natürlich von den Eltern und anderen Beteiligten; aber auch Eingaben aus der Bevölkerung. Inhaltlich haben die Dokumente ein denkbar weites Spektrum: es reicht beispielsweise von ausgefüllten Formularblättern und Aktennotizen der Jugendhilfe26, Schreiben an und von den Eltern und anderer Beteiligter, Auflagen und Verpflichtungen für den Minderjährigen27 wie der Eltern28, über Anträge, Beschwerden und Erklärungen der Eltern, Erziehungsvereinbarungen29 bis hin zu Stellungnahmen aller 25

Vgl. bspw. KA BZ 505/228. Bspw.: „Vermerk: Unaufgefordert erscheint Frau XXX mit ihrem Sohn XXX. Zuvor war sie mit dem Jungen in der psychatrischen Sprechstunde bei Herrn Dr.XXX. Es gibt zu Hause laufend Streitereien zwischen ihrem Ehegatten und XXX. Herr XXX sei sehr hart zu dem Jungen und bestraft ihn ungerecht […].“ (KA BZ 505/91). 27 „[Handschriftlich] Verpflichtung X.X.85 [;] Ich will mich zu Hause verbesern und ich will nicht mehr frecht zu meiner Mutti sein und möchte auch nicht ins Heim. Im Betragen will ich mich verbessern. In der Schule Meine Lehrer möchte ich nicht mehr ärgern. XXX“ (KA BZ 505/29, fol. 25). 28 Exemplarisch: „Jugendhilfekommission, Hoyerswerda WK VII [;] Hoyerswerda, X.X.1986 [;] W e i s u n g e n an den Schüler XXX […] Erziehungsberechtigte Eltern: XXX […] Der Schüler wird verpflichtet, vorstehende Weisungen zu erfüllen. Die Kontrolle erfolgt durch die Jugendhilfekommission, in Verbindung mit der Schule. 1. XXX besucht ab sofort pünktlich und regelmäßig die Schule [;] 2. er wird verpflichtet aktiv im Unterricht mitzuarbeiten und sein Verhalten so zu verändern,daß er andere Schüler nicht vom Lernen abhält,oder Störungen im Unterricht hervorruft [;] 3. alle Erwachsenen zu achten und ihnen höflich und zuvorkommend gegenüberzutreten [;] 4. Anweisungen der Lehrer und Erzieher streng einzuhalten und auszuführen [;] 5. regelmäßig und ordentlich Hausaufgaben anzufertigen, täglich 6. seine schulischen Leistungen durch fleißiges Lernen zu verbessern und seine Freizeit sinnvoller zu gestalten [;] 7. häusliche Pflichten unaufgefordert zu erfüllen [;] 8. Anordnungen der Eltern zu befolgen und Ausgangszeiten unbedingt einzuhalten [;] 9. seinen Eltern gegenüber offen und ehrlich zu sein und um ein gutes Verhältnis zu bemühen [;] 10. jeden Dienstag im Referat Jugendhilfe Rechenschaft über die Einhaltung der Verpflichtungen abzugeben,sowie monatlich in der Jugendhilfekommission [;] Die Erziehungsberechtigten Eltern verpflichten sich: 1. auf ihren Sohn einzuwirken,daß er sein negatives Verhalten in der Schule unbedingt verändert [;] 2. eine enge Verbindung zur Schule und zu den Organen der Jugendhilfe zu halten,Anordnungen und Hinweise entgegen zu nehmen und bei ihrem Sohn anzuwenden [;] seine Freizeit streng zu kontrollieren. [;] Rechtsmittel Gegen diese Weisungen steht den Eltern das Rechtsmittel der Beschwerde zu.Diese Beschwerde kann mündlich und auch schriftlich bei der Jugendhilfekommission eingelegt werden. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. [gezeichnet] XXX Vorsitzende der JHK“ (KA BZ 505/17, fol. 13). 29 Vgl. exemplarisch KA BZ 505/161, fol. 3. 26

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

möglicher Stellen. Hinzu kommen Protokolle von Kommissionen, Ein- und Vorladungen30, behördeninterne Schreiben31, Einschätzungen der Eltern und der Kinder durch die Jugendhilfe/den Arbeitgeber32/den Kindergarten33/die Schule34, Beschlüsse35 und einstweilige Verfügungen sowie Verfügungen36. Auch Lohnnach30

Exemplarisch: „Rat des Kreises Hoyerswerda, Bezirk Cottbus, Abteilung Volksbildung – Referat Jugendhilfe – Hoyerswerda den X.X.79 […] Betr. Rücksprache [;] Wir bitten Sie, am Dienstag, den X.X.79, in den Zeiten von 9 – 11:30/12:30 – 18 Uhr in unserem Kreisreferat Hoyerswerda, Gerhard von Scharnhorst-Straße 6, Zimmer 410 vorzusprechen. Diese Vorladung ist mitzubringen. Im Auftrage: […]“ (KA BZ 505/21, fol. 5). 31 Bspw.: „Abteilung Volksbildung – Referat Jugendhilfe – […] An den Rat des Kreises Angermünde, Abt. Volksbildung, Ref.Jugendhilfe A n g e r m ü n d e Betr.: Kind XXX, geb. X.X.X z. Zt. wohnhaft Schwedt/Oder, Wohnstadt XXX. Obengenannter Kindsvater ist laut Vaterschaftsanerkennungsurkunde obengenanntem Kind mit monatlich 40,– DM unterhaltspflichtig. Wie uns die Kindsmutter mitteilte, wurden vom Kindsvater nur einmal 50,– DM im November 1961 gezahlt. Wir bitten Sie, mit dem Kindsvater eine Abtretungserklärung aufzunehmen bzw. ihn aufzufordern, sofort mit den Unterhaltszahlungen zu beginnen. Anschrift der Kindsmutter: XXX, Hoyerswerda, XXX Wir danken für ihre Bemühungen. [gezeichnet] (XXX) Kreisschulrat[;] [gezeichnet] (XXX) Päd.Sachbearbeiterin“ (KA BZ 505/116, fol. 10). In Bezug auf die behördeninterne Formulierungsweise kann dieses Schreiben als exemplarisch bezeichnet werden. 32 Anlässlich einer Scheidungsklage und der Frage, wem das Erziehungsrecht für die Kinder zugesprochen werden sollte, gab der Arbeitgeber des Vaters, „Werk Glückauf“, folgende Beurteilung ab: „X.X.1965 […] Betr.: Beurteilung des Koll. XXX, geb. am X.X.X, wohnhaft XXX, Vater von 2 Kindern [;] Koll. XXX ist Neubürger und kehrte am X.X.1946 in unserem BKW als Arbeiter an. Bis 1949 versah Koll. XXX verschiedene Arbeiten im Abraumbetrieb II. […] In den Jahren 1949 bis heute ist mir Koll. XXX nur als stiller, bescheidener und rechtschaffener Mensch bekannt und bei seinen Kollegen allseitig beliebt. Auf Grund seiner Stellung könnte er allerdings etwas forscher auftrete, was jedoch seiner allzuruhigen Natur widerspricht. Sein moralisches Verhalten ist absolut einwandfrei zu bezeichnen und es hat in den ganzen Jahren noch nie Anlaß zu Beanstandungen gegen und weiterhin raucht und trinkt er auch nicht; jederzeit ist er sparsam und hilfsbereit. Organisiert ist Koll. XXX in der Gewerkschaft und DSF und bei den Kampftruppen genießt er als Fahrer einen sehr guten Ruf. für die Richtigkeit XXX Kaderleiter; XXX Bagger-Obermeister“ (KA BZ 505/101, fol. 8). Vgl. auch KA BZ 505/228, fol. 21. 33 Vgl. bspw. KA BZ 505/31, fol. 14. 34 Z.B.: „Einschätzung XXX (Kl. 7 I) XXX Leistungen sind befriedigend. Schwächen gibt es hauptsächlich in Lesen und Rechtschreibung. Seine Lernbereitschaft ist stark vom Unterrichtsfach und dem unterrichtenden Lehrer abhängig. Seine Anstrengungsbereitschaft, besonders bei schriftlichen Arbeiten, ist gering. XXX vergißt häufig seine Hausaufgaben und hat oft sein Arbeitsmaterial nicht vollständig. Auf Kritik seiner Lehrer reagiert XXX nicht immer einsichtig, sondern distanzlos und provokatorisch. Im Unterrichtsgespräch ist er aufgeschlossen und arbeitet gut, oft sehr gut mit. Über aktuell politische Probleme ist XXX informiert und immer zu einer Meinungsäußerung bereit. […]“ (KA BZ 505/17, fol. 3 ff.). 35 Bspw.: „3. Ausfertigung, Rat des Kreises Hoyerswerda, Jugendhilfeausschuß, Hoyerswerda, den X.X.1969 […] Beschluß In der Familienrechtssache der Minderjährigen XXX, geb. am XXX, wohnhaft: Hoyerswerda, XXX; Mutter: XXX, geb. am XXX, wohnhaft: Hoyerswerda, XXX […] hat der Jugendhilfeausschuß beim Rat der Stadt Hoyerswerda in seiner Sitzung am X.X. 1069, an der teilgenommen haben: Herr XXX, Vorsitzender; Frau XXX, Erzieherin; Herr XXX, Erzieher; Herr Dr. XXX, Arzt; Herr XXX, Behördenangestellter beschlossen: Gemäß § 50 Familiengesetzbuch in Verbindung mit § 23 der Verordnung über die

A. Vorgehen

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weise37, Unterhaltsberechnungen, polizeiliche Ermittlungsprotokolle, jede Art von Urkunden (wie Zustellungsurkunden38, Geburtsurkunden39, Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse40, Scheidungs- und andere Gerichtsurteile, Schul-41, Ausbildungs- und Arbeitszeugnisse) sowie Klageschriften (bspw. wegen Anfechtung der

Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Jugendhilfe vom 3. März 1966 (BGl. Teil II Nr. 34) wird für die Minderjährigen XXX und XXX die H e i m e r z i e h u n g angeordnet. Gründe: Die Familie XXX ist dem Ref. Jugendhilfe seit Jahren bekannt. Hinsichtlich der Betreuung der Kinder mußten häufig mit den Eltern bzw. der Mutter Aussprachen geführt werden. Beide Eltern werden seit Jahren durch die Abteilung Inneres beim Rat der Stadt Hoyerswerda betreut. Hinweise über die Betreuung der Kinder, z.B. regelmäßige Ernährung der Kinder, Säuberung der Wohnung und der Wäsche der Kinder wurden nur kurze Zeit befolgt. Obwohl Frau XXX während der letzten Inhaftierung ihres Ehemannes in einem Arbeitsrechtsverhältnis stand und die Kinder in Einrichtungen der Abt.Volksbildung untergebracht waren, bummelte sie häufig die Arbeit und zog es vor, mit anderen Bürgern in ihrer Wohnung Gelage zu feiern. Da die Mutter nie über ausreichende Mittel verfügte, um für die Kinder Nahrung zu kaufen, wurde ihr von der Abt. Sozialwesen des öfteren Unterstützung gezahlt. Auch dieses Geld wurde von ihr nicht nur für Lebensmittel verwandt. Da sich in der Lebensordnung der Familie XXX hinsichtlich der Betreuung der Kinder nichts änderte und die Gesundheit der Kinder gefährdet war, wurden sie Mitte XXX 1969, obwohl die Mutter keiner Arbeit nachging, in Kindergärten eingewiesen. Dadurch war abgesichert, daß die Kinder wenigstens einmal am Tage ein warmes Essen zu sich nehmen konnten. Das Kind XXX enthielt von der Schule Freiessen. Am X.X.1969 wurde die Mutter vom Kreisgericht Hoyerswerda zu 9 Monaten Freiheitsentzug wegen Vernachlässigung der Kinder verurteilt. Während der Zeit der Haftverbüßung der Mutter müssen die Kinder in Heimen untergebracht werden, da der Ehemann, infolge des Verlustes einer Han, nicht in der Lage ist, die Kinder zu versorgen. Für die Zeit der Heimunterbringung obliegt die Erziehung, Pflege und gesundheitliche Betreuung dem Heim, Insofern können die Eltern während der Zeit der Heimerziehung ihr Erziehungsrecht nicht ausüben. Die Eltern sind entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten verpflichtet, die entsprechenden Heimkosten zu erstatten. Rechtsmittelbelehrung: Gegen den Beschluß steht den Eltern das Rechtsmittel der Beschwerde zu. Die Beschwerde kann schriftlich oder mündlich zu Protokoll beim Jugendhilfeausschuß des Rates der Stadt Hoyerswerda innerhalb von zwei Wochen, gerechnet vom Tage der Zustellung dieses Beschlusses ab, eingereicht werden. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. gez. XXX, Vorsitzender des Jugendhilfeausschußes. Die 3. Ausfertigung wird für die Akte gefertigt. Hoyerswerda, den X.X.69 [gezeichnet] XXX Referatsleiter.“ (KA BZ 505/24, fol. 23 f.). In der Form und der Art und Weise der Formulierungen kann dieser Beschluss als exemplarisch betrachtet werden. Inhaltlich sind jedoch viele verschiedene Konstellationen möglich. 36 Bspw.: „[…] V e r f ü g u n g In der Familienrechtssache des Minderjährigen XXX […] Mutter: XXX […] wird gemäß § 88 des Familiengesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik die V o r m u n d s c h a f t angeordnet. Gründe: Da die allein erziehungsberechtigte Mutter verstorben ist und XXX ein außerhalb der Ehe geborenes Kind ist, macht sich die Anordnung der Vormundschaft erforderlich. Dipl.-Päd. XXX Leiter des Referates Jugendhilfe“ (KA BZ 505/126, fol. 5). 37 Vgl. exemplarisch KA BZ 505/129, fol. 3. 38 Vgl. exemplarisch die Poststellungsurkunde KA BZ 505/26, fol. 26. 39 Vgl. exemplarisch KA BZ 505/91, fol. 2. 40 Vgl. exemplarisch KA BZ 505/238, fol. 33. 41 Vgl. bspw. KA BZ 505/26, fol. 2 f.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Ehelichkeit)42, Lohn-, Schulden- und Devisen, medizinische und psychologische Gutachten sowie Eingaben aus der Bevölkerung43. Außerdem Dokumente, welche den Heimaufenthalt des Minderjährigen betreffen, wie „Erziehungsprogramme“44 bzw. „Festlegungen“ für Heimaufenthalte45, Entwicklungsberichte, Urlaubsscheine, 42

Vgl. bspw. KA BZ 505/112, fol. 1 oder KA BZ 505/152, fol. 2. „Rat der Stadt Hoyerswerda – Abteilung Inneres –, Hoyerswerda, den X.X.1971, Eingabe […] Am heutigen Tage sprach die Bürgerin Frau XXX (Rentnerin) […] beim Rat der Stadt Hoyerswerda, Abteilung Inneres vor und gab folgendes zu Protokoll: In der XXX-Str. X wohnt Frau XXX mit ihrer X-jährigen Tochter XXX. Dieses Mädchen soll in der letzten Zeit wegen Schulbummelei an der Oberschule XI in Erscheinung getreten sein. Desweiteren hat sie schon seit ca. einem Jahr laufende Männnerbekannschaften. Die Mutter arbeitet im 3-Schichtsystem und währen ihrer Abwesenheit hält sich die Tochter häufig in verschiedenen Gaststätten auf. Insbesondere die „Libelle“, „Aktivist“ und „Melodie“. Am X.X.1971 soll sie durch die Deutsche Volkspolizei von Bernsdorf zugeführt worden sein. Sie ist mit einem jungen Mädchen, welches ebenfalls in der X-Straße wohnt eng befreundet. XXX Referatsleiter.“ (KA BZ 505/ 228, fol. 13). 44 Vgl. bspw. KA BZ 505/34, fol. 65 f. 45 Dokumente dieser Art sind nicht vom Untersuchungsgegenstand erfasst, wären jedoch für weitere Analysen sehr aufschlussreich; z.B.: „Festlegungen für den Jugendlichen XXX, geb. X.X.X in Demin für die Zeit des Aufenthaltes Jugendwerkhof Gebesee [;] Ursachen der Fehlentwicklung XXX wuchs in einer vollständigen Familie auf. Er wurde zusammen mit seinen 2 Geschwistern im elterlichen Haushalt erzogen. Da beide Eltern berufstätig sind und teilweise erziehungsuntüchtig, war die Erziehung der Kinder oft dem Selbstlauf überlassen. Die Eltern arbeiteten nicht mit der Schule und den staatlichen Organen zusammen. […] Da alle Hinweise und Aussprachen mit XXX nichts nutzten, sich sein negatives Verhalten noch verstärkte, machte es sich notwendig, ihn aus seiner damaligen Umgebung herauszunehmen. Mit Beschluß Nr. 55/75 des Jugendhilfeausschusses beim Rat des Kreises Hoyerswerda wurde die Jugendwerkhoferziehung am X.X.X angeordnet. […] Kurzbeurteilung: [;] zur Person: XXX ist seinem Alter entsprechend ein großgewachsener, schlanker Jugendlicher. Seine Gesichtsfarbe ist blaß, die Haut schwach durchblutet (Raucher). Die Sprechweise XXX ist etwas stockend und zum Teil unbeherrscht. Sein Gang sowie die gesamte Erscheinung wirken etwas schlaksig und unbeherrscht. Sein Verhalten kann er oft nicht steuern und ist leicht aufgebracht. Es ist eine Tendenz zur Hinterhältigkeit zu beobachten. Den Anforderungen des Jugendwerkhofes ist XXX voll gewachsen. Leistungs- und Sozialverhalten XXX fiel es nicht schwer sich an das Heimleben zu gewöhnen und sich in das Wohn- und Arbeitskollektiv einzuleben. Als verhältnismäßig aufgeweckter Jugendlicher, mit Tendenzen zum Mittelpunktstreben, suchte er schnell den Kontakt zu den anderen Jugendlichen. Wegen seines Auftretens wurde er jedoch zum Teil von den anderen Jugendlichen abgelehnt. […] Festlegungen für den Jugendlichen XXX [;] – XXX qualifiziert sich während des Jugendwerkhofaufenthaltes, in einem Ausbildungsverhältnis mit einer 18-monatigen Laufzeit, zum Industrietischler. […] – In der Berufshilfsschule des Heimes bemüht sich XXX um gute Mitarbeit, um Wissenslücken zu schließen. – Zur Aneignung lebensnotwendigen Wissens und sozialistischer Verhaltensnormen nimmt XXX am Kurssystem in der Wohnabteilung teil, und zwar Gesellschaftliche Verhalten [;] Ehe und Familie [;] erste Hilfe in der Familie [;] Bekleidungspflege und Kochen – XXX wird dazu angehalten, persönliches Eigentum und gesellschaftliches Eigentum zu achten und zu schützen. – XXX bemüht sich ständig den Anforderungen des Heimes nach zu kommen und die Belange der Abteilung zu erfüllen, um zu beweisen, daß er aus der Vergangenheit gelernt hat. Beständigkeit und Ausdauer sind ihm anzuerziehen. – in den Gruppen- und Informationsstunden bemüht er sich um gute Mitarbeit, um sein noch begrenztes Weltbild zu erweitern. – Mit den Eltern und dem Referat Jugendhilfe wird XXX regelmäßig Briefverkehr pflegen und über seine Entwicklung im Heim berichten. – Bei guter Führung und Erfüllung der Heimnormen 43

A. Vorgehen

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Briefe bzw. Postkarten der Kinder aus den Heimen an die Jugendhilfe bzw. an ihre Eltern aus dem Heim, Fotos der Minderjährigen und vieles mehr. Aus der Beschaffenheit der Akten ergeben sich höchste datenschutzrechtliche Anforderungen: es handelt sich um personenbezogene Daten, welche die absolute Privatsphäre der Beteiligten betreffen und für welche die Schutzfristen für personenbezogenes Archivgut46 noch nicht abgelaufen sind: Es handelt sich also um Personen, welche noch leben (können), sodass die Auswertung des Aktenbestandes nur unter den höchsten datenschutzrechtlichen Auflagen zu wissenschaftlichen Zwecken genehmigt wurde.47 Mit Ausnahme des Ortsnamens48 wurde die Nennung personenbezogener oder personenbeziehbarer Daten untersagt; dies bedeutet, dass eine Pseudonymisierung der Einzelfälle von vornherein ausschied, da der Wohnort der Beteiligten genannt wurde und die Gefahr einer Entschlüsselung daher zu groß ist. Um den Datenschutzbestimmungen gerecht zu werden mussten daher die personenbezogenen Daten anonymisiert werden. Es wurden daher konsequent auch alle sonstigen Daten anonymisiert, sich bei den Geburtsdaten lediglich auf das Geburtsjahr beschränkt und die Auswertungsmethoden dementsprechend gewählt. Eine Kontaktaufnahme mit Beteiligten des Verfahrens wurde strengstens untersagt. Das Quellenmaterial wird bei direkten Zitaten dem Wortlaut getreu zitiert, also ohne Korrekturen der Rechtschreibung, der Orthographie oder von offensichtlichen Fehlern. Im Quellenmaterial vorhandene Hervorhebungen von Überschriften und Betreffzeilen durch Formatierungen wie bspw. Sperrschrift, Unterstreichungen, Kursivdruck etc. wurden mit den Mitteln des Verlages wiedergegeben. Dadurch kommt es zu formativen Abweichungen vom Original.

wird XXX weiter wie folgt beurlaubt: […] – Die Entlassung ist nach Abschluß der Ausbildung als Industrietischler im April 1977 ins Elternhaus vorgesehen. […]“ (KA BZ 505/183, fol. 101 ff.). 46 § 10 Abs. 1 Nr. 3 Archivgesetz für den Freistaat Sachsen (SächsGVBl. 2014 Nr. 2): „eine Schutzfrist von a) 10 Jahren nach dem Tod der Person b) 100 Jahren nach der Geburt der Person, wenn das Todesjahr nur mit unverhältnismäßigem Aufwand feststellbar ist, oder c) 60 Jahre nach der Entstehung der Unterlagen, wenn weder das Todes- noch das Geburtsjahr feststellbar ist, für Archivgut, das sich seiner Zweckbestimmung oder seinem wesentlichen Inhalt nach auf eine oder mehrere natürliche Personen bezieht (personenbezogenes Archivgut). 47 Die schutzwürdigen Belange Betroffener müssen beachtet und die berechtigten Interessen Dritter gewahrt werden (vgl. Art. 1, 2 und 5 Abs. 2 GG, §§ 3 – 5 Bundesdatenschutzgesetz, §§ 2 – 6 Sächsisches Datenschutzgesetz). Die urheberschutzrechtlichen Bestimmungen müssen eingehalten werden und die Auswertung darf, soweit lebende Personen davon betroffen sind, nur in anonymisierter Form vorgenommen werden. 48 Die Nennung des Wohnortes Hoyerswerda-Neustadt erfolgt, da dieser ein wichtiges Auswahlkriterium für die Auswahl des Aktenbestandes sowie einen wichtigen Faktor für die Valenz der Ergebnisse darstellt. Ein Pseudonym für den Ort hätte keine Vorteile gebracht, da dieses bei gleichzeitiger Nennung der Auswahlkriterien leicht zu entschlüsseln gewesen wäre.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

II. Gang der Auswertung, Begrifflichkeiten und Auswertungsmethoden Das beschriebene Quellenmaterial bildet insgesamt einen einheitlichen Lebensvorgang der spezifischen Beeinflussung einzelner Familien durch die Jugendhilfe ab. Damit stellen die Akten Vorgänge dar, welche insgesamt die Beeinflussung von Familien im Sinne einer Intervention49 dokumentieren und können somit als einheitlicher Vorgang untersucht werden. Sämtliche in der Akte dokumentierten Vorgänge haben damit Relevanz für die Interventionen selbst oder für die Anlässe derselben und somit direkt oder indirekt auch für den Untersuchungsgegenstand, welcher auf diese Weise rechtstatsächlich untersucht werden konnte. Anders als im Rechtsgrundlagenteil, anhand dessen Interventionen und Anlässe für Interventionen nur sehr abstrakt und punktuell untersucht werden konnten, kann hier also der gesamte Vorgang der Betreuung und damit die reale Ausgestaltung von Interventionen als einheitlicher Vorgang der Betreuung analysiert werden. Eine Aufsplittung und Untersuchung nach einzelnen juristischen Aspekten der Beeinflussung (beispielsweise anhand einzelner „Maßnahmen“) wäre nicht nur lebensfern, sondern ist angesichts der Ausgestaltung des DDR-Familienrechts, wie schon erörtert, auch nicht zielführend. Dieser gesamte reale Vorgang der Intervention wird im Folgenden auch „Jugendhilfeverfahren“ bzw. „Betreuung“ genannt, da diese Bezeichnung in den Akten selbst häufig so gewählt wird. Der Untersuchungsgegenstand wird in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten erarbeitet: Zunächst wird die Stichprobenlänge der Akten anhand von drei Indikatoren auf die Akten eingeschränkt, welche für den Untersuchungszeitraum der 1960er, 70er und 80er Jahre sowie für die zu untersuchende Arbeiterschicht und die ambulante Tätigkeit der Jugendhilfe relevant sind. Dafür wurde eine Gesamtstichprobenlänge von n=240 ausgewertet. Wie es zu dieser Anzahl kam, wird noch näher erläutert werden.50 Wie auch schon im ersten Teil der Arbeit, in dem sich zunächst indirekt und dann direkter dem Untersuchungsgegenstand genähert wurde, werden die so ermittelten relevanten Akten (n=102) in zwei logischen Schritten analysiert: Zum einen wird untersucht, was sich indirekt über die tatsächlichen Anlässe von Interventionen der Jugendhilfe aus der allgemeinen Verfahrenspraxis ermitteln lässt und zum anderen wird daraufhin direkt nach tatsächlichen Anlässen der Interventionen gefragt. Die Auswertungsmethoden wurden während der Analyse aus der Forschungspraxis mit dem Aktenmaterial deduktiv herausgearbeitet.51 Um das reichhaltige 49 Unter „Interventionen der Jugendhilfe in die Familie“ wird eine spezifische, direkte Beeinflussung einer Familie durch den Staat in Form der Jugendhilfe verstanden, welche individuell und zielgerichtet auf diese einzelne Familie abgestimmt wurde. Zur Definition vgl. auch Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 50 Vgl. unter 2. Kapitel, C. II. 3. b) Die Stichprobenlänge als Ergebnis. 51 Es wurde also nicht theoriegeleitet vorgegangen.

A. Vorgehen

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Aktenmaterial bestmöglich auszuwerten, wurde sich bewusst für sowohl quantitative als auch qualitativen Verfahren52 entschieden: die allgemeine Rechtspraxis der Jugendhilfeverfahren wurde zunächst mittels quantitativer Verfahren explorativ und statistisch beleuchtet und dann mittels qualitativer Verfahren der Frage nach den tatsächlichen Anlässen der dokumentierten Jugendhilfeverfahren nachgegangen. Dabei muss betont werden, dass in diesem Abschnitt der Untersuchung unter „Familie“ rein tatsächlich diejenige Personenkonstellation aufgefasst wird, welche von der Jugendhilfe als solche behandelt wurden: allein dadurch, dass ein Aktenvorgang bezüglich eines Minderjährigen angelegt wurde und die verantwortlichen Erwachsenen betreut wurden, ist diese Konstellation als Familie im genannten Sinn zu betrachten. Da die Akten sehr divers sind, kann „Familie“ daher faktisch je nach Akte auch etwas anderes bedeuten,53 und wird somit rein sozial-faktisch aufgefasst.54 Welche Arten von Familien von der Jugendhilfe betreut wurden, ist Gegenstand dieser Analyse. Für die Definition der Jugendhilfe wird zunächst auf die rechtliche Organisation der Jugendhilfe aus dem Rechtsgrundlagenteil zurückgegriffen und überprüft, ob sich die verrechtlichte Organisation der Jugendhilfe mit der Rechtspraxis deckt. Außerdem wird erarbeitet, was sich über das im Rahmen der Rechtsgrundlagen unterschiedlich eingeordnete Verhältnis zwischen Bürger und Staat bzw. sozialistischer Gesellschaft aussagen lässt – über die Erkenntnisse hinaus, welche sich aus der Existenz der Akten allein entnehmen lassen.

III. Kritische Beleuchtung der Valenz der zu erzielenden Ergebnisse Die Valenz der zu erzielenden Ergebnisse muss zunächst vor dem Hintergrund der allgemeinen Einschränkungen betrachtet werden, welche jeder Quellenbestand theoretisch mit sich bringt: nämlich der Möglichkeit, dass Akten aus dem Bestand bzw. einzelne Blätter aus den Akten fehlen könnten – aus welchen Gründen auch immer. Hierauf gibt es jedoch keine Hinweise. Bezüglich der Vollständigkeit der Akten kamen nie Zweifel auf. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass wichtige Hintergründe oder Entscheidungsgründe bewusst nicht dokumentiert wurden; im Gegenteil wirkt die Aktenführung sehr vollständig und auch die Art und Weise der 52 Die frühere Dichotomisierung zwischen quantitativer versus qualitativer Forschungsmethoden besteht in der Sozialforschung nicht mehr. Quantitative sowie qualitative Kriterien sind nicht trennscharf voneinander abgrenzbar und befruchten die Analyse gemeinsam (vgl. Mayring, Philipp, Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken, 12. Auflage, Weinheim und Basel 2015, S. 17 ff.). 53 Z.B. ein alleinerziehender Elternteil mit einem Kind, Eltern mit ihren Kindern, erziehungsberechtigte Großeltern mit ihren Enkeln etc. 54 Es ist also nicht der sozialistische oder bürgerlich-rechtliche Familienbegriff gemeint.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Dokumentation durch die Mitarbeiter der Jugendhelfer scheint offen und ohne Vorbehalte zu sein. Zu beachten ist aber, dass alles, was dokumentiert wurde, nicht nur ein Ausdruck der Sozialgeschichte der DDR, sondern auch ein Zeitdokument der 1960er, 1970er und 1980er Jahre ist. Es ist also kritisch zu betrachten, inwiefern Erkenntnisse DDRtypisch sind, oder so auch in der BRD hätten vorgefunden werden können und damit vielmehr typisch für diese Zeit insgesamt waren. Diese Herausforderung trifft besonders auf Erziehungsvorstellungen zu. Mit der hier dargestellten Untersuchung können selbstverständlich nur Aussagen bezüglich der zu untersuchenden Region und sozialen Schicht im Untersuchungszeitraum getroffen werden. Durch das Studium der gleichen Art von Einzelfallakten in den Beständen des Kreisarchivs Bautzen sowie der Einzelfallakten der ehemaligen Räte der Kreise Oranienburg, Berlin-Mitte und Berlin-Prenzlauer Berg wurde aber festgestellt, dass keine Unterschiede in der Aktenführung und der grundsätzlichen Herangehensweise der Jugendhilfe feststellbar waren. Bezüglich der Lebensverhältnisse und Probleme in den Familien entstand bezüglich der betrachteten Aktenbestände im Kreisarchiv Bautzen sowie in Oranienburg ein ähnlicher Eindruck. Bei den Berliner Beständen waren andere Schwerpunkte feststellbar, welche vermutlich der Tatsache geschuldet sind, dass es sich hier um Akten aus der Großstadt handelt sowie dem Umstand, dass Ostberlin mit seiner großen Nähe zum Westen noch andere soziale Tatbestände zur Folge hatte. Mannschatz erwähnte auf die Frage hin, wie der Alltag der Jugendhilfe aussah, das Buch „Iris und ihre Tochter“55 als „besonders repräsentativ und authentisch [für damals]“.56 Es konnte festgestellt werden, dass dieses Buch im Vergleich mit dem hier untersuchten Aktenbestand in Bezug auf manche Akten als sehr ähnlich bezeichnet werden kann. Angesichts dieser Tatsache und da Mannschatz als Leiter der Abteilung Jugendhilfe im Ministerium für Volksbildung sowie als stellvertretender Leiter des Jugendwerkhofs Römhild sehr erfahren bezüglich der Tätigkeit der Jugendhilfe in der gesamten DDR sein dürfte, kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei den hier behandelten Akten zumindest nicht um völlig ungewöhnliche Fälle und Ausnahmen gehandelt hat, auch wenn durch die Vorauswahl der Akten ein spezifisches Milieu an Bürgern und Jugendhilfemitarbeitern untersucht wird.

55 Vgl. Rabe, Hannelore, Iris und ihre Tochter – Ich weiß ja nicht einmal, was das ist, eine Mutter!, Ibbenbüren 2011. 56 Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I.

B. Ermittlung der relevanten Einzelfallakten

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B. Ermittlung der relevanten Einzelfallakten: Untersuchungszeitraum, „Arbeiterschicht“ und ambulante Tätigkeit der Jugendhilfe Um die für die Untersuchung relevanten Akten zu ermitteln, wurde jede Akte der Gesamtstichprobenlänge daraufhin ausgewertet, ob sie für den Untersuchungszeitraum relevant ist und ob die Akte einen Minderjährigen und damit generell eine Familie aus der „Arbeiterschicht“ betrifft. Um dies sicherzustellen, wurden folgende zwei Indikatoren erarbeitet:

I. Geburtenjahrgänge 1955 – 1980 Um die Betreuung von Familien im Untersuchungszeitraum der 1960er, 1970er und 1980er Jahre sicherzustellen, wurde sich das Geburtsjahr der Minderjährigen angesehen.57 Es wurden daher die Geburtenjahrgänge im Untersuchungszeitraum ausgewertet und, da die Jugendhilfe erst für Minderjährige ab dem fünften Lebensjahr zuständig war, auch solche von Minderjährigen, welche 5 Jahre vor diesem Zeitraum geboren wurden. Aus zeitökonomischen Gründen konnten chronologische Entwicklungen innerhalb des Untersuchungszeitraumes nicht untersucht werden.

II. Arbeitergeber der Eltern bzw. Wohnort der Familie Um zu gewährleisten, dass die Tätigkeit der Jugendhilfe unter – nach DDRMaßstäben –“idealen“ Bedingungen untersucht wird58, wird das Milieu der „Arbeiterschicht“ untersucht.59 Die Akten werden daher daraufhin ausgewertet, ob die soziale Schicht der Familie erkennbar ist. Als Indikatoren für die soziale Schicht der Familie wurde vereinfachend der Beruf der Eltern bzw. die Arbeitgeber der Eltern betrachtet: war zumindest ein Elternteil Arbeitnehmer des Kombinats „Schwarze Pumpe“ oder eines anderen hochindustriellen volkseigenen Betriebs des Kreises60, 57 Wie schon erwähnt, betrifft jede Jugendhilfeakte einen Minderjährigen bzw. minderjährige Geschwister. 58 Nach dem Selbstverständnis der DDR handelte es sich um einen Arbeiter- und Bauernstaat: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ (Art. 1 Abs. 1 Verfassung der DDR). 59 In den Akten wurde auch des Öfteren erwähnt, dass ein Jugendlicher einer Arbeiterfamilie entstammt (bspw. KA BZ 505/25, fol. 48v oder KA BZ 505/159, fol. 23); dieser Aspekt hatte also auch in der Praxis Relevanz. 60 Der größte hochindustrielle volkseigene Betrieb der Region war das Kombinat „Schwarze Pumpe“.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

wurde die Akte als relevant für die zu untersuchende Arbeiterschicht eingestuft. Außerdem wurde das Einkommen miteinbezogen. Waren Beruf und Arbeitgeber der Eltern nicht (eindeutig) erkennbar, was relativ häufig der Fall war, wurde hilfsweise auf ein weiteres Kriterium ausgewichen: Da Hoyerswerda-Neustadt, wie schon dargestellt, erbaut worden war, um dort Arbeiter für das Kombinat „Schwarze Pumpe“ bzw. andere hochindustrielle volkseigene Betriebe anzusiedeln und die Infrastrukturen auch dahingehend angelegt waren, wurde vereinfachend unterstellt, dass es sich bei den dort lebenden Familien um Arbeiter handelte. Somit wurde mittels der Adresse und eines Stadtplans von Hoyerswerda61 festgestellt, ob die Familie zu Beginn des Verfahrens in HoyerswerdaNeustadt gewohnt hatte. War dieses örtliche Kriterium ebenfalls nicht (eindeutig) feststellbar, wurde die Akte nicht in die weitere Untersuchung aufgenommen. Auf diese Weise konnte gewährleistet werden, dass sich die Untersuchung mit „Arbeiterfamilien“ befasst.

III. Akte dokumentiert ambulante Maßnahmen Da sich der Untersuchungsgegenstand auf die ambulanten Interventionen konzentriert, wurden solche Akten, welche lediglich die Vorgänge in Heimen, in Jugendwerkhöfen oder anderen vergleichbaren stationären Einrichtungen der DDR dokumentieren und aus welchen keine ambulanten Vorgänge vor der Einweisung bzw. generell keine ambulante Tätigkeit der DDR- Jugendhilfe herauslesbar sind, aussortiert.62 Die parallele, rein unterstützende ambulante Betreuung durch die Jugendhilfe, welche sich auf die Organisation des Heimaturlaubs, die Regelung der Heimkosten mit den Eltern und Fragen der Ausbildung beschränkte, wurde damit von der Untersuchung ebenfalls ausgenommen.63

IV. Relevante Akten Von 240 gesichteten Einzelfallakten entsprechen 138 Akten nicht den aufgestellten Grundvoraussetzungen64, sodass 102 Akten für die weitere Auswertung relevant sind.

61

Kreisarchiv Bautzen, Bestand Archivbibliothek, Stadtplan von 1998/99, Signatur 4063. Vermutlich wurden diese dem Referat Jugendhilfe lediglich zu Archivierungszwecken übersandt. 63 Im Ergebnis wurde aber keine der untersuchten Akten unter diesem Aspekt ausgeschlossen, da für diese bereits eines der erstgenannten Kriterien nicht zutraf. 64 Vgl. Liste der von der Untersuchung ausgeschlossenen Akten, Anhang III. 62

C. Auswertung

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C. Auswertung: Tatsächliche Anlässe der Interventionen der Jugendhilfe Es wird zunächst ermittelt, welche tatsächlichen Anlässe65 für Interventionen der Jugendhilfe aus den Akten durch empirische Methoden eruierbar sind und welche Anlässe genauer untersucht werden müssen. Welche tatsächlichen Anlässe herausgearbeitet wurden, richtete sich auch nach den hohen Datenschutzauflagen.

I. Auswertung des Aktenbestandes nach quantitativen Verfahren: Erforschung der Rechtspraxis der Jugendhilfeverfahren Im ersten Kapitel der Arbeit, der Analyse der Rechtsgrundlagen, wurde zunächst untersucht, wie sich die Normen Familie und Erziehung sowie Staat bzw. Gesellschaft definierten und anschließend die rechtliche Normierung der Interventionen der Jugendhilfe selbst betrachtet. Die empirische Auswertung generell, gerade aber die quantitative Analyse basiert auf der Grundannahme, dass sich aus der generellen Rechtspraxis der Jugendhilfeverfahren indirekt erste Ergebnisse für die tatsächlichen Anlässe für staatliche Interventionen in die Familie entnehmen lassen. Denn aus dem Umstand, welche Minderjährigen und damit welche Familien von der Jugendhilfe betreut wurden sowie aus den Eckdaten zum Verfahren können sich wesentliche Hinweise für die Art und Weise der Interventionen sowie indirekt auch schon Anlässe für diese ergeben. Gerade auch die Erkenntnisse, welche Umstände offensichtlich für Interventionen in die Familie nicht relevant waren, sind bedeutsam für Ermittlung von Natur und Anlässen von Interventionen in die Familie. Mit den Ergebnissen wird somit mittelbar Aufschluss über die sachlichen Anlässe für Interventionen der Jugendhilfe gegeben und generell nachgezeichnet, in welche Art von Familien interveniert wurde und wie wichtige Faktoren der Betreuung aussahen. Es werden zunächst die Rechtspraxis betreffende Unterfragen gestellt, für welche wiederum verschiedene manifeste personen- und verfahrensbezogene sowie soziale Indikatoren erarbeitet werden. Dadurch wird eine statistische Auswertung ermöglicht.

65 Zur Abgrenzung zwischen der normativen, der tatsächlichen sowie der Ebene der Akten, vgl. unten Exkurs: Verhältnis des Quellenmaterials zu den geltenden Normen einerseits und dem zu ermittelnden tatsächlichen Lebenssachverhalt andererseits.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

1. Erarbeitung von auswertungsleitenden Fragen und Indikatoren bezüglich der Rechtspraxis der Verfahren Es soll somit zunächst ein explorativer Überblick über die Rechtspraxis der Jugendhilfeverfahren gegeben werden. Hierfür wurden die folgenden geschlossenen Fragen sowie manifesten verfahrens- und personenbezogene sowie soziale Indikatoren zum Zwecke der Auswertung erarbeitet: 1. Welche Familien wurden von der Jugendhilfe betreut? Welche Art von Familien von der Jugendhilfe betreut wurde, wurde mittels der folgenden Indikatoren untersucht: • Wurde das Kind innerhalb einer Ehe geboren? • Wie waren die Erziehungsverhältnisse für das Kind; d.h. lebte das Kind zu Beginn des Jugendhilfeverfahrens bei einem alleinerziehenden Elternteil, bei zwei gemeinsam für es sorgenden Erwachsenen (unabhängig von einer juristischen Verbindung oder Verwandtschaft) oder im Heim? 2. Wie sahen die Interventionen in die Familien aus? Hier wird besonderes Augenmerk auf die Intensität der Maßnahmen und die Dauer des Verfahrens gelegt: • Blieb es bei „ambulanten“ Maßnahmen oder wurden darüber hinaus Maßnahmen ergriffen? • Wie lange wurden Minderjährige durchschnittlich von der Jugendhilfe betreut? 3. Wie verhielten sich die Betroffenen zu den Maßnahmen der Jugendhilfe? Dies wird nur anhand der Einlegung von Rechtsmitteln überprüft: • Legte ein Elternteil im Laufe des Verfahrens Beschwerde gem. § 52 JHVO ein bzw. machte sonstige Rechtsmittel geltend?

2. Ergebnisse der statistischen Auswertung 1. Bezüglich der Frage, welche Familien von der Jugendhilfe betreut wurden, ergaben sich statistisch folgende Ergebnisse: • Ehelich oder unehelich geboren66 - Von 102 Minderjährigen waren 63 Minderjährige (bzw. die Geschwister) ehelich geboren und 37 unehelich.67 In einer Akte, welche zwei Geschwister 66

Vgl. Anhang IV. Dabei werden Kinder, welche in der Ehe geboren wurden, aber deren Ehelichkeit zeitnah nach der Geburt angefochten wurde, als „unehelich“ gezählt. 67

C. Auswertung

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gleichermaßen betrifft, war das eine Kind unehelich und das andere Kind ehelich geboren.68 - Bei einem Minderjährigen war dies nicht feststellbar.69 • Erziehungsverhältnisse zu Beginn des Jugendhilfeverfahrens70 - Von 102 Minderjährigen wurden bei Eröffnung der Akte 41 von einem Erwachsenen alleinerziehend71, 35 von zwei Erwachsenen (z.T.: nicht leiblicher Vater/Mutter) erzogen72 ; bei 6 Minderjährigen konnte dies nicht festgestellt werden und ein Kind lebte in einem Kinderheim in der BRD.73 - In 16 Fällen wurde die Akte anlässlich der Scheidung der Eltern eröffnet, in 2 Fällen lebte die minderjährige Mutter noch bei ihren Eltern. In einem Fall wurde das Kind direkt nach der Geburt aus dem Krankenhaus zur Adoption freigegeben.74 2. Bezüglich der Intensität der Interventionen75 konnte Folgendes festgestellt werden: - In 65 von 102 Fällen blieb es bei ambulanten Maßnahmen. - In 36 von 102 Fällen wurden darüber hinaus Maßnahmen ergriffen.76 - In einem Fall war dies nicht eindeutig feststellbar.77 3. Obwohl gegen viele Anordnungen und Beschlüsse das Rechtsmittel der Beschwerde78 durch die Erziehungsberechtigten bzw. zum Teil auch durch die jugendlichen Minderjährigen selbst möglich gewesen wäre, wurde nur in einem Fall 68

Vgl. KA BZ 505/236. Vgl. KA BZ 505/149. 70 Hierunter wird der aus der Akte chronologisch früheste erkennbare Zeitpunkt, zu welchem die Jugendhilfe bezüglich des Minderjährigen aktiv war, verstanden. Die Akte wird diesbezüglich genauer auch auf Vorereignisse hin betrachtet. Zum genaueren Vorgehen um den Zeitpunkt zu ermitteln vgl. unten unter 2. Kapitel, A. II. 2. a) Soziale Ausgangssituation in der Familie zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens sowie Anhang IV. 71 Unter „alleinerziehend“ wird verstanden, dass der Minderjährige dauerhaft nur mit einem Erwachsenen im Haushalt lebt. Dies ist wegen wechselnder Partner z.T. schwer feststellbar. 72 Dass das Kind von zwei Erwachsenen erzogen wird, wird auch angenommen, wenn die leiblichen Eltern der Adresse nach im selben Haus wohnen und sonst keine weiteren Informationen über die Erziehungsverhältnisse vorliegen. 73 Diese Akte ist für die Auswertung dennoch relevant, da in ihr ambulante Maßnahmen der DDR-Jugendhilfe dokumentiert sind. 74 Vgl. KA BZ 505/82. 75 Vgl. dazu Anhang IV. 76 Damit sind alle Maßnahmen außerhalb der Ursprungsfamilie i.S.d. obigen Festlegung gemeint, also sowohl die Erziehung im Heim oder Jugendwerkhof als auch in einer Pflegefamilie bzw. Adoption. 77 Vgl. KA BZ 505/193. 78 Vgl. dazu Anhang IV. 69

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Beschwerde durch die Eltern gegen die vorläufige Heimeinweisung selbst sowie später auch gegen die Heimkosten eingelegt;79 beide Beschwerden wurden abgelehnt.80 In einer Akte legt der jugendliche Minderjährige selbst Beschwerde gegen seine vorläufige Heimeinweisung ein.81 In einem weiteren Fall wurde Beschwerde lediglich gegen die Höhe der Heimkosten eingelegt und ihr teilweise statt gegeben, indem die Heimkosten von 55 DDR- Mark monatlich auf 40 DDR- Mark gesenkt wurden.82 Bezüglich der Verfahrenszeiträume konnte festgestellt werden, dass diese von wenigen Tagen83 bis hin zu vielen Jahren84 sehr differierten.

3. Fazit zur quantitativen Analyse Die Einordnung der betreuten Minderjährigen und ihrer Familien nach den gewählten Kriterien ergaben statistisch gesehen keine signifikanten Ergebnisse, sodass diese Indikatoren offensichtlich nicht allein entscheidend für die Jugendhilfeverfahren waren. Bei den untersuchten Fällen kam es lediglich bei einem Drittel der Fälle zu stationären Maßnahmen; damit ist die Mehrzahl der Interventionen ambulant und somit die deutliche Bereitschaft, Konflikte, falls möglich, rein ambulant zu klären, belegt. Das sehr signifikante Ergebnis zur Reaktion der Betroffenen – nur einmal wurde Beschwerde eingelegt – ist schwer zu interpretieren. Es könnte als Indikator für eine hohe Akzeptanz der Entscheidungen in der Bevölkerung betrachtet werden – je79

Der Vater legte Beschwerde gegen die vorläufige Verfügung der Heimeinweisung ein (vgl. KA BZ 505/183, fol. 26). Später legten die Eltern jeweils Beschwerde gegen die Heimkosten bzw. die Höhe der Heimkosten ein, da sie mit der Heimeinweisung nie einverstanden gewesen waren (vgl. bspw. KA BZ 505/183, fol. 74 f., fol. 82, fol. 84., fol. 89). Bei dieser Akte handelt es sich auch um den Fall mit der geringsten Mitwirkungsbereitschaft der Eltern, bzw. insbesondere des Vaters in Bezug auf die Ausbildung seines Sohnes und das gesamte Jugendhilfeverfahren (vgl. bspw. KA BZ 505/183, fol. 10, fol. 37 oder fol. 101). 80 Der Beschwerde gegen die vorläufige Heimeinweisung wurde nicht statt gebegeben (vgl. KA BZ 505/183, fol. 27 f.). Auch die Beschwerde bezüglich der Heimkosten wurde zurückgewiesen (vgl. KA BZ 505/183, fol. 105 ff.). Auch danach ist der Vater nicht mit den Heimkosten einverstanden und protestiert dagegen mit einer weiteren Eingabe (vgl. bspw. KA BZ 505/183, fol. 112); es kam sogar zu einer Strafsache gegen die Eltern (vgl. KA BZ 505/183, fol. 124). 81 KA BZ 505/25, fol. 111 f. Die Beschwerde hatte den Eltern und dem Jugendlichen zugestanden (KA BZ 505/25, fol. 105r). Es ist in der Akte keine Reaktion auf die Beschwerde des Jugendlichen dokumentiert (vgl. KA BZ 505/25, fol. 113 ff.). 82 Vgl. insbesondere KA BZ 505/75, fol. 68 ff. Siehe sonst vergleichend Anhang IV. 83 Bei KA BZ 505/190 dauerte die Betreuung nur knapp zwei Monate, vgl. KA BZ 505/190, fol. 1 und fol. 5r. 84 Das Verfahren erstrecke sich bei einer Jugendhilfeakte z.B. über knapp 12 Jahre, vgl. KA BZ 505/228, fol. 1 und 185.

C. Auswertung

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denfalls nach außen hin – oder aber, dass die Betroffenen Angst hatten, dass die Einlegung von Rechtmitteln ihre Stellung insgesamt eher verschlechtern würde sowie vielleicht dass die Betroffenen die Erfolgschancen von Rechtmitteln als sehr gering bewerteten. Dass keine Rechtsmittel eingelegt wurden, könnte aber auch mit dem speziellen Milieu und Bildungsstand der Betroffenen in Hoyerswerda-Neustadt und einer positiven Einstellung zur Tätigkeit der Jugendhilfe erklärt werden. Interessant wäre auch ein Vergleich damit, wie häufig in der DDR insgesamt überhaupt Rechtsmittel eingelegt wurden.85 Für eine richtige Interpretation dieses Ergebnisses müsste somit die Bedeutung von Rechtsmitteln im Rechtssystem der DDR näher untersucht werden. Vorliegend kann damit nur festgehalten werden, dass die Rechtsmittel fast nie genutzt wurden und somit Entscheidungen im vorliegenden Aktenkonvolut – aus welchen Gründen auch immer – kaum nochmals überprüft oder aufgerollt wurden. Das große Spektrum der Verfahrenszeiträume zeigt, wie unterschiedlich die Betreuung der Jugendhilfe war und dass den Akten anscheinend sehr unterschiedliche Lebenssachverhalte zu Grunde lagen.

II. Auswertung nach qualitativen Verfahren: Analyse der Lebenssachverhalte86 Nachdem mit dem quantitativen Teil der Analyse nur indirekt Aussagen über die Anlässe der Interventionen der Jugendhilfe getroffen werden konnten, wird mit der qualitativen Analyse möglichst u n m i t t e l b a r nach den tatsächlichen Anlässen für Interventionen der Jugendhilfe gefragt. Bei der Analyse der Anlässe von Interventionen der Jugendhilfe auf der rechtstatsächlichen Ebene sind generell viele Anlässe und damit viele Untersuchungen denkbar, wie zum Beispiel auch eine Untersuchung der Verwaltungsgeschichte; durch seine Beschaffenheit bietet das Quellenmaterial87 dafür auch konkret viele Ansatzpunkte. Da aber nicht alle im ersten Teil der Arbeit (dem Schwerpunkt der Arbeit) dargestellten Aspekte im empirischen Teil äquivalent untersucht werden können (so ist beispielsweise eine Untersuchung von Entwicklungen der Interventionen über den Untersuchungszeitraum hinweg aus praktischen Gründen nicht umsetzbar) und sich gerade angesichts des reichen Quellenmaterials auf besonders aussagekräftige Aspekte beschränkt werden muss, wurde sich bei der qualitativen

85 Es gab auch noch die Möglichkeit der Eingaben bei Partei- und Staatsorganen, welche dann direkt in rechtliche Prozesse eingriffen (Art. 103 Abs. 1 Verfassung der DDR). 86 Weshalb später anstelle von „sozialer Tatbestand“ nur noch von „Lebenssachverhalten“ gesprochen wird, wird noch erörtert werden. 87 Vgl. oben unter 2. Kapitel. A. I. 2. Beschreibung des Quellenmaterials und datenschutzrechtliche Anforderungen.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Analyse auf die in den Akten dokumentierten Lebensverhältnisse in den Familien konzentriert. Dies geschah aus verschiedenen Überlegungen heraus: Die Frage nach den Lebensverhältnissen der betreuten Familien ergibt sich direkt aus den Ergebnissen der quantitativen Analyse, welche vor allem aufzeigten welche Faktoren in den Familien offensichtlich keine Rolle für die Interventionen der Jugendhilfe spielten. Wie bereits eingangs erwähnt, hat die Analyse der Rechtsgrundlagen ergeben, dass angesichts des weiten rechtlichen Rahmens in Bezug auf die Interventionen vor allem besondere Unklarheit bzgl. der Tatbestandsmerkmale besteht. Durch die Analyse der sozialhistorischen Tatbestände, soll somit von der rechtstatsächlichen Ebene her untersucht werden, wie stark sich die fehlende Konkretheit mancher normierten Tatbestandsvoraussetzungen tatsächlich auswirkte und somit von dieser Seite her die Lücke in den normierten Tatbeständen88 so weit als möglich erforscht werden. Hierfür muss analysiert werden, welche tatsächlichen Anlässe in den Familien faktisch dazu führten bzw. welche tatsächlichen Anlässe in den Familien von der Jugendhilfe als Gründe angegeben wurden, dass es zu einer Auslösung der normierten Interventionen kam. Denn wie unter dem Punkt „Quellenmaterial“ bereits aufgezeigt wurde, enthalten die Akten nur Lebensverhältnisse, in die interveniert wurde, da es sonst die Akte nicht geben würde. Allein die Existenz der Akten belegt damit eine Kausalität zwischen dem dokumentierten sozialen Tatbestand und der Intervention als Ganzes bzw. den einzelnen staatlichen Maßnahmen. Folglich sind die Gegebenheiten und Ereignisse in diesen Lebensverhältnissen automatisch als wichtige oder gar entscheidende Anlässe für die in den Akten dokumentierten Interventionen einzustufen. Zum anderen ergibt sich die Frage nach den tatsächlichen Lebensverhältnissen schlicht aus dem Untersuchungsgegenstand: da es sich bei den Akten um konkretindividuelle Fälle handelt, kann rechtstatsächlich die Frage nach den Anlässen ganz direkt gestellt werden: was löste Interventionen faktisch aus, also aus welchen Anlässen heraus konzentrierte sich die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe gegenüber einer Vielzahl von Familien auf diese einzelne Familie? Da die Analyse der Rechtsgrundlagen den Eindruck einer stufenlosen Interventionskompetenz vermittelte, ist die Frage, welche einzelne Familien dann aus welchem Grund tatsächlich betreut wurde, besonders spannend. Es soll bei der quantitativen Analyse der Rechtswirklichkeit also darum gehen, welche sozialrechtsgeschichtlichen Tatbestände in den Familien zu Interventionen Anlass gaben, da diese als tatsächliche Anlässe betrachtet wurden bzw. inwieweit hierzu Feststellungen möglich sind89. Es wird sich daher an dieser Stelle auf die 88 Vgl. unter 1. Kapitel, D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung. 89 Zu dieser Problematik vgl. unter Exkurs: Verhältnis des Quellenmaterials zu den geltenden Normen einerseits und dem zu ermittelnden tatsächlichen Lebenssachverhalt andererseits.

C. Auswertung

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Analyse der Konstellationen der Lebensverhältnisse der Minderjährigen bzw. ihrer Familien konzentriert. 1. Deduktive Erarbeitung einer qualitativen Auswertungsmethode Es wurde nicht nach einer theoriegeleitete Auswertungsmethode90 vorgegangen, sondern die Auswertungsmethode bei der Arbeit mit dem Quellenmaterial deduktiv aus der Forschungspraxis heraus erarbeitet. Insofern stellt auch die Auswertungsmethode an sich bereits ein Ergebnis der Auswertung dar, da diese eng gekoppelt ist an das Material und in Rückkopplung an die Ergebnisse derselben auch immer wieder überarbeitet wurde. Im Rahmen der quantitativen Auswertung wurden die Akten nicht nur punktuell in Bezug auf die herausgearbeiteten Indikatoren analysiert, sondern bereits als Ganzes sehr sorgfältig betrachtet: dies war zunächst dem Umstand geschuldet, dass der Aktenbestand in den Jahren 2011 und 2012 noch nicht erschlossen war und diese oft nicht chronologisch bzw. nicht verlässlich chronologisch sortiert waren. Daher musste zwingend selbst schon bei Durchsicht jeder Akte darauf geachtet werden, ob es sich um eine nach den aufgestellten Vorauswahlkriterien relevante Akte handelt91 und besonders für die quantitative Auswertung alle Blätter der Akte sorgfältig gelesen und eine chronologische Zusammenfassung der Akten erstellt werden – beispielsweise um die Frage beantworten zu können, ob die Kinder zu Beginn des Verfahrens von Alleinerziehenden aufgezogen wurden oder nicht. Dabei konnte inzident festgestellt werden, dass für die Akten zum Teil eine phänomenologische Einordnung nach den dokumentierten Lebensverhältnissen möglich sein könnte. Ab einem gewissen Punkt scheinen sich die Akten in ihren Grundstrukturen und Mustern zu wiederholen, in Bezug auf die Tätigkeit der Jugendhilfe aber gerade auch in Bezug auf die dargestellten Schicksale und Lebensverhältnisse in den Familien. Dabei sind die wiederkehrenden Strukturen zum Teil sehr offensichtlich, zum Teil handelt es sich aber um so große und unüberschaubare Muster, dass diese erst durch das tiefe Studium einer großen Anzahl an Akten erkennbar wurden. Daher wurde sich für die deduktive Erarbeitung einer phänomenologischen Einordnung der Akten entschieden und es sich zur Aufgabe gemacht, aufzuzeigen, bis zu welchem Punkt eine solche Typisierung aussagekräftig und möglich ist. Eine 90 Nachträglich wurde jedoch festgestellt, dass die Arbeitsmethode im Ergebnis der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring am Nächsten kommt (vgl. bspw. Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse). Vgl. auch Diekmann, Andreas, Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, 5. Auflage, Reinbek 2011 und Kromrey, Helmut, Empirische Sozialforschung – Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung, 12. Auflage, Stuttgart 2009. 91 Vgl. unter 2. Kapitel, B. Ermittlung der relevanten Einzelfallakten: Untersuchungszeitraum, „Arbeiterschicht“ und ambulante Tätigkeit der Jugendhilfe.

190

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Typisierung der Akten nach dem sozialhistorischen Tatbestand der Familien ist in Bezug auf die erkenntnisleitende Fragestellung nach den tatsächlichen Anlässen der Akten besonders aufschlussreich und hat den Vorteil, große Strukturen offen zu legen und damit über die reine Darstellung von Einzelfällen hinauszugehen. Sie wird daher auch in besonderer Weise dem Aktenbestand gerecht. Darüber hinaus ist die Typisierung eine Herangehensweise, welche als Äquivalent dem juristischen Arbeiten sehr nahe kommt: es kann im Gegensatz zu einer Einzelfallstudie eine große Bandbreite an Akten abgebildet werden und somit die gestellte Aufgabe, die Lücke der fehlenden Tatbestandsvoraussetzungen von der rechtstatsächlichen Ebene zu untersuchen, am besten bewältigt werden. Zudem wird eine typisierende Methode den Datenschutzauflagen gerecht. 2. Erarbeitung von objektiven Kriterien für eine Typisierung der Akten Um zu ermitteln, aus welchen tatsächlichen Anlässen heraus sich die generelle Tätigkeit der Jugendhilfe in einer Intervention auf die einzelne Familie konkretisierte, wurde also zunächst die zugrunde liegende sozialhistorische Wirklichkeit ermittelt. Die Normanwendungsgeschichte wird damit von den realen Gegebenheiten, also von den geschichtlichen Tatbeständen her, erzählt, in welche interveniert wurde und damit die Untersuchung der Rechtswirklichkeit, wie schon eingangs erwähnt, vielmehr von einem geschichts- bzw. sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus angegangen. Damit wird genau andersherum als üblicherweise in der Rechtsgeschichte, in der man sich zumeist auf die Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale konzentriert, wie zum Beispiel im Werk von Warnecke92, vorgegangen. Eine reine Untersuchung der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen käme gar nicht in Betracht, da die Gesetze – wie im Hauptteil der Arbeit ermittelt – jedenfalls zum Teil viel zu wenig konkret (und damit generell fraglich) sind. Da es sich aber, wie bei der Beschreibung des Quellenmaterials schon gezeigt, um Akten der Jugendhilfe handelt, also um offizielle Dokumente eines behördlichen Organs, welche für jeden Minderjährigen eine Akte anlegte, handelt es sich bei vielen Dokumenten auch um juristisches und verwaltungstechnisches Material. Da die Akten von der Jugendhilfe geführt wurden, sind sie damit insgesamt als verwaltungsjuristische Zeugnisse zu betrachten. Die tatsächlichen Lebensverhältnisse in den Familien sind zu großen Teilen dokumentiert anhand von Dokumenten der staatlichen Organe und beinhalten damit zumeist bereits eine Wertung und Interpretation der Rechtswirklichkeit. Um die tatsächlichen Lebensverhältnisse in der Familie zu ermitteln, muss also genau analysiert werden, inwiefern hieraus objektiv verifizierbare Fakten über den zugrunde liegenden sozialen Tatbestand ermittelt werden können. 92

Vgl. Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. 175 ff.

C. Auswertung

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Der juristische Terminus technicus „Lebenssachverhalt“ kann mit dem Begriff „sozialer Tatbestand“ gleichgesetzt werden, bezeichnet dieser doch nichts anderes als den konkreten Tatbestand, das Faktum. Über den sozialhistorischen Tatbestand bzw. die konkreten Lebensverhältnisse hinaus drückt der Begriff „Lebenssachverhalt“ jedoch die juristische Vorstellung aus, dass der real existierende Lebenssachverhalt immer in Abgrenzung zur juristischen Auslegung anhand des normierten Tatbestandes besteht.93 Diese Implikation wird im Rahmen der qualitativen Auswertung besonders bedeutsam. Exkurs: Verhältnis des Quellenmaterials zu den geltenden Normen einerseits und dem zu ermittelnden tatsächlichen Lebenssachverhalt andererseits Um dies zu verdeutlichen soll kurz vor Augen geführt werden, wie sich das Verhältnis des Quellenmaterials einerseits zwischen den geltenden Normen und der Rechtswirklichkeit der tatsächlichen sozialhistorischen Lebensverhältnisse, also dem Lebenssachverhalt in den Familien andererseits, darstellt. Jede Rechtsgrundlage besteht aus dem gesetzlichen Tatbestand (bestehend aus seinen Tatbestandsvoraussetzungen) und der normierten Rechtsfolge. Hieraus ergibt sich ein rechtliches Handlungsgebot; im Falle des öffentlichen Jugendhilferechts an die staatlichen Organe. Das Quellenmaterial bildet den (sozialhistorischen) Lebenssachverhalt ab, jedoch anhand des verwaltungstechnischen Handelns, welches beeinflusst ist von den normierten Rechtsgrundlagen. Die Tätigkeit bzw. die Intervention als Teil der Rechtswirklichkeit ist auf der Ebene der Akten unproblematisch objektiv feststellbar, da sie sich in Form des behördlichen Handelns (also in Form der erlassenen Maßnahmen, Beschlüsse, Urteile etc.) unmittelbar äußert und damit direkt dokumentiert ist. Fraglich ist allein, ob jede Form der Beeinflussung dokumentiert wurde. Dies stellt jedoch eine Frage der Valenz dar. Allein durch die Eröffnung der Verfahrensakte wird die Intervention als behördliches Handeln in der Rechtswirklichkeit belegt und muss in Bezug auf die Subsumtion der Jugendhilfe nicht weiter hinterfragt werden. Ob die Tätigkeit bzw. Intervention aufgrund eines normierten Handlungsgebots erfolgte und mit diesem übereinstimmt, ist – wie schon ausgeführt – nicht Teil der Untersuchung, da dies einer Tatbestandsmäßigkeitsprüfung gleich käme. Es ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung den sozialhistorischen Tatbestand zu ermitteln. Setzt sich der gesetzliche Tatbestand detailliert aus konkreten und bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen zusammen, so kann aus der in der Akte dokumentierten Subsumtion94 unter diese Tatbestandsvoraussetzungen der konkrete und tatsächliche Lebenssachverhalt abgelesen werden. Der gesetzliche Tatbestand sollte die Rechtswirklichkeit auf abstrakte Weise abbilden und so umgekehrt aus der Subsumtion der korrespondierende konkrete sozialhistorische Tatbestand zu ermitteln sein. 93

Aus diesem Grund wird im Folgenden von „Lebenssachverhalten“ gesprochen. Unter Subsumtion versteht man – wie schon erwähnt – die Unterordnung des konkreten (Lebens)Sachverhaltes unter den abstrakten gesetzlichen Tatbestand (vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 16, S. 79). 94

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Da die normierten Tatbestandsmerkmale/-voraussetzungen vorliegend jedoch, wie dargestellt, meist denkbar weit und unspezifisch sind sowie auch die Normen eine ganz andere Funktion hatten95, kann aus der dokumentierten Subsumtion der Tatbestandsmerkmale in der DDR nicht einfach pauschal auf die Rechtswirklichkeit geschlossen werden. Vielmehr dokumentieren die Akten die Entscheidungsgründe der Jugendhilfe und der sozialhistorische Lebenssachverhalt lässt sich nur indirekt erschließen. Es braucht daher ergänzend andere, manifeste Kriterien außerhalb der normierten juristischen Merkmale, um den sozialhistorischen Tatbestand und damit die tatsächlichen Interventionsanlässe mit Sicherheit ermitteln und als Rechtstatsache feststellen zu können. Ermangelt es an solchen anderen Kriterien, so kann nur eine Aussage darüber getroffen werden, was die Jugendhilfe selbst als Lebenssachverhalt bezeichnete. Dies ist von ihrer Bewertung, Einordnung und Interpretation dann aber nicht mehr zu unterscheiden. Gerade dies zu gewährleisten, ist in vielen Rechtssystemen die Funktion von Gesetzen und soll nach der bürgerlich-rechtlichen Vorstellung durch das Bestimmtheitsgebot, welches an Gesetze gestellt wird, gesichert werden. Wegen der Natur der vorliegenden normierten DDR-Rechtsgrundlagen und des weiten Verständnisses der Tatbestandsvoraussetzungen muss hier bei der Analyse der Akten immer sauber zwischen der Ebene der in den Akten dokumentierten Subsumtion und Interpretation sowie der tatsächlich stattgefundenen Lebensverhältnisse in der Familie, welche als tatsächlicher Anlass ermittelt werden sollen, differenziert werden.

Bei der Analyse der Akten nach quantitativen Verfahren stellte die Rechtsnatur der Quellen als verwaltungsjuristisches Quellenmaterial kein Problem dar, da es sich bei den Daten um Rechtstatsachen wie das Geburtsjahr des Minderjährigen oder die Verfahrensdauer handelt, deren Aussagekraft über die Rechtswirklichkeit des Lebenssachverhaltes unbestritten ist. Es liegt in der Natur der manifesten Indikatoren, dass diese leicht verifizierbar und falsifizierbar sind. Betrachtet man die Akten jedoch nach qualitativen Verfahren, so wird offensichtlich, dass die Differenzierung zwischen dem tatsächlichen Lebenssachverhalt und der Normanwendungswirklichkeit denkbar schwieriger ist. Es muss damit durch die Wahl der Kriterien für die qualitative Analyse sichergestellt werden, dass zwischen dem Lebenssachverhalt, wie er sich tatsächlich zugetragen hat und der Interpretation durch die Behörde unterschieden werden kann. Hieraus ergibt sich die erste Anforderung, welche generell an die Analyse der Lebenssachverhalte und damit auch an die Kriterien zur Typisierung der Akten nach dem Lebenssachverhalt zu stellen ist: Es müssen Kriterien entwickelt werden, durch welche zwischen dem tatsächlichen Lebenssachverhalt und der Rechtswirklichkeit des Behördenhandelns/der Normanwendung bzw. der juristischen Interpretation des Lebenssachverhalts unterschieden werden kann. Durch die Wahl objektiver Kriterien wird der tatsächliche Lebenssachverhalt ermittelt und von der Argumentation und Interpretation der Jugendhilfe getrennt, was denn in der Familie vorgefallen sei –

95 Vgl. unter 1. Kapitel, D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung.

C. Auswertung

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bzw. es wird verdeutlicht, an welchen Punkten eine Differenzierung nicht möglich ist und eine weitere detailliertere Untersuchung erforderlich wäre.96 Die zweite Anforderung an Kriterien zur Typisierung beinhaltet die Herangehensweise der Typisierung an sich. Durch diese muss zum einen der Inhalt abstrahiert und damit vereinfacht werden, um eine Typenbildung möglich zu machen. Zum anderen sollte der konstruierte „Typ“ aber auch repräsentativ und aussagekräftig für den Inhalt gewählt werden. In der Wahl des Typs muss sich also der Inhalt der Akte widerspiegeln können, um diesem gerecht zu werden. Daher wurde für die phänomenologische Einordnung nach dem Lebenssachverhalt auch die Wahl der Kriterien deduktiv aus dem Aktenmaterial in Wechselwirkung mit der Forschungsfrage erarbeitet. a) Soziale Ausgangssituation in der Familie zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens Die Forschungsfrage, aus welchen Anlässen heraus sich die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe in einer Intervention konkretisierte, wurde im ersten Kapitel der Arbeit anhand der Rechtsgrundlagen generell-abstrakt untersucht. Anhand der Akten kann die Forschungsfrage nun ganz konkret untersucht werden. Das erste Kriterium für die Typisierung wurde daher auch direkt aus der Forschungsfrage heraus entwickelt. Geht es um „Anlässe“, so liegt vom Wortsinn her der zeitliche Aspekt besonders nahe, denn Anlass kann auch im Sinne von „Anstoß“ verstanden werden. Da im empirischen Teil nach den Anlässen aus dem Lebenssachverhalt geforscht wird, wird untersucht, bei welchem Lebenssachverhalt die Jugendhilfe mit der Intervention begann. Unter der Prämisse, den objektiven Lebenssachverhalt von der Bewertung und Interpretation durch die Jugendhilfe trennen zu müssen (vgl. Exkurs97), wurde folgendes Kriterium entwickelt: I. 1. Zeitpunkt: Eröffnung des Verfahrens als Beginn der Intervention Dem Beginn einer Intervention wird besondere symbolische Bedeutung beigemessen. Um diesen zu untersuchen, wird sachgerechter Weise nicht auf juristische Kriterien – wie z.B. die erste (juristische) Maßnahme – zurückgegriffen, sondern für die Untersuchung vereinfachend als Beginn der Intervention die Eröffnung des Verfahrens in Form der Anlage der Akte betrachtet98 ; also der Vorgang des Anlegens 96 Es erklärt sich somit von selbst, dass eine Typisierung nach juristischen Aspekten der Gesetze von vornherein ausscheidet; damit könnte nur abgebildet werden, mit welcher Argumentation und Interpretation die Jugendhilfe in die einzelne Familie intervenierte. 97 Vgl. Exkurs: Verhältnis des Quellenmaterials zu den geltenden Normen einerseits und dem zu ermittelnden tatsächlichen Lebenssachverhalt andererseits. 98 Interessant für weitere Untersuchungen wäre es zu untersuchen, über welche Informationswege, Personen und Institutionen die Jugendhilfe auf einzelne Familien aufmerksam wurde. Laut Mannschatz bekam die Jugendhilfe „[…] Hinweise von Lehrern, Kindergärtne-

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

einer spezifischen Akte für einen Minderjährigen (und damit auch bezüglich seiner Familie) durch die Jugendhilfe. Selbstverständlich könnte die Intervention schon viel früher begonnen haben, aber allein die Tatsache, dass eine Akte für einen Minderjährigen und seine Familie angelegt wurde, jedoch nicht für andere Familien, beweist, dass eine faktische Schwelle existierte, ab welcher die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe zu einer Intervention wurde. Es wird also immer nach den chronologisch frühesten Ereignissen in der Familie gefragt, welche der Akte entnommen werden können. Dabei wird meist nach dem Datum vorgegangen, manchmal ist aus den Dokumenten aber sogar erkennbar, wie die Jugendhilfe erstmalig auf die Familie aufmerksam wurde. Es wird also versucht, den chronologischen Ablauf auch um Vorereignisse usw. zu erweitern und sich nicht nur auf die Daten der einzelnen Dokumente konzentriert.99 I. 2. Zu diesem Zeitpunkt bestehende soziale Ausgangssituation Als tatsächlicher Anlass aus dem Lebenssachverhalt für den Beginn einer Intervention wird konsequenterweise die soziale Ausgangssituation in der Familie, welche zu Beginn einer Intervention vorlag, betrachtet. Dieser wird besondere symbolische Bedeutung zugeschrieben und damit generell und vereinfachend als kausaler Anstoß für die gesamte Intervention gesehen. Aufgrund seiner symbolischen Stellung eignet sich das Kriterium für die Typisierung. Unter der sozialen Ausgangssituation in der Familie wird die Realität des Lebenssachverhaltes verstanden, also die Ausgangslage in der Familie, auf welche die Jugendhilfe erstmalig bzw. hilfsweise zum beschriebenen Zeitpunkt traf: die Summe der Ereignisse in der Familie bzw. ein herausstechendes allererstes größeres Ereignis oder auch eine Problemkonstellation, wie z.B. ein Konflikt oder eine Situation, welche Konfliktpotential beinhaltet. Dabei muss beachtet werden, dass dieser reale Lebenssachverhalt auf der Ebene der Akten zum Teil als subsumierter Tatbestand durch die Jugendhilfe dokumentiert ist. Es gilt also herauszufinden, was sich hinter diesen subsumierten Tatbestandsmerkmalen an sozialer Lebenswirklichkeit tatsächlich abgespielt hat. Um die soziale Ausgangssituation in der Familie zu Beginn der Intervention ermitteln zu können, müssen weitere Faktoren hinzukommen, welche die Konstellation verifizieren. Anhand der Daten und eines sorgfältigen Aktenstudiums kann der chronologische Ablauf ermittelt werden, sodass die soziale Ausgangssituation relativ leicht objek-

rinnen, Mitarbeitern des Gesundheitswesens; von Arbeitskollegen der Eltern; auch von Nachbarn, wobei diese von den Jugendhelfern in den Gemeinden sorgfältig geprüft wurden. Mit dem Gesundheitswesen gab es eine diesbezügliche Vereinbarung auf der zentralen Ebene“ (Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). Das Aktenmaterial scheint diese Aussage zu bestätigen und bietet viele Ansatzpunkte, um die o.g. Forschungsfrage näher zu analysieren. 99 Die Akten werden wie schon erwähnt als sehr vollständig betrachtet.

C. Auswertung

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tivierbar ist.100 Die äußeren Umstände, unter welchen die Jugendhilfe auf einen Minderjährigen aufmerksam wurde bzw. wie die Jugendhilfe von dem Problem erfuhr und welche dazu führten, dass sich die Jugendhilfe erstmalig einschaltete (z.B. eine Mitteilung der Schule, durch Nachbarn o.ä.) spielen insofern eine Rolle, als sie belegen, dass das ermittelte Ereignis auch tatsächlich das chronologisch erste war. Durch intensive Aktenlektüre wurde auch versucht festzustellen, ob noch andere, weniger offensichtliche, aber in der Akte indirekt belegte Ereignisse/Probleme usw. in der Familie vorlagen, auf welche die Jugendhilfe reagierte. Solange dies aber nur Vermutungen oder absolute Einzelfälle blieben, konnte dies nicht in die Auswertung mit aufgenommen werden. Hinzukommen muss zudem immer noch ein weiterer objektiver Umstand, welcher belegt, dass die soziale Ausgangssituation tatsächlich so bestanden hat wie es sich in der Akte darstellt und nicht nur ein Teil der Interpretation der Jugendhilfe war.101 Die Ereignisse und Probleme der sozialen Ausgangssituation sowie die Frage der Objektivierbarkeit nach diesen Leitlinien zu ermitteln, ist Aufgabe der qualitativen Untersuchung. Bei der Auswertung nach diesem aus der Forschungsfrage abgeleiteten Kriterium fiel in der Auswertungspraxis auf, dass die Symbolik dieses Kriteriums neben seinen Vorteilen gleichzeitig auch die Gefahr der Zufälligkeit in sich birgt und somit zwar ein starker Indikator ist, jedoch alleine nicht immer für eine Typisierung ausreichen kann. Daher drängte sich aus dem Aktenstudium heraus ein zweites Kriterium für die Typisierung auf: b) Gegenstand des Schwerpunktes der Interventionen der Jugendhilfe Bei einigen Akten war besonders deutlich, dass das erste Kriterium nicht für eine aussagekräftige Typisierung der Akten ausreicht. Auch für das zweite Kriterium steht der soziale Lebenssachverhalt im Mittelpunkt der Untersuchung, jedoch wurde dieses Kriterium weniger aus der Forschungsfrage, als vielmehr aus der Forschungspraxis heraus entwickelt sowie aus der Beobachtung, dass die Intervention der Jugendhilfe sich in den Akten verdichtet: II. 1. Interventionsschwerpunkt Es wird zunächst die Rechtswirklichkeit der Intervention betrachtet und analysiert, wo inhaltliche Schwerpunkte im dokumentierten behördlichen Handeln durch die Jugendhilfe feststellbar sind. Dies kann in der Regel zum einen aus der Häufung 100

Dies geschieht, wie schon erwähnt, aufgrund der angenommenen Vollständigkeit des Quellenmaterials im Rahmen der Valenz der zu erzielenden Ergebnisse. 101 Vgl. Exkurs: Verhältnis des Quellenmaterials zu den geltenden Normen einerseits und dem zu ermittelnden tatsächlichen Lebenssachverhalt andererseits.

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

juristischer Maßnahmen, zum anderen aber auch aus der generellen Tätigkeit der Jugendhilfe, als Indiz für den Tätigkeitsschwerpunkt abgeleitet werden. Zwischen der Ebene der Akten und der tatsächlichen Dimension des Schwerpunktes der Intervention sollte Einheitlichkeit herrschen. Der Schwerpunkt ergibt sich hierbei aus dem Gesamteindruck, welcher aus den Akten nach sorgfältigem Studium gewonnen werden konnte. II. 2. Inhaltlich-sachlicher G e g e n s t a n d des Interventionsschwerpunktes Ziel der Analyse ist es aber, den sozialen Lebenssachverhalt, also den inhaltlichsachlichen Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention zu ermitteln. Es soll also ermittelt werden, welcher Aspekt des Lebenssachverhaltes diese Konzentration der Maßnahmen zum Gegenstand hatte. Hierbei ist streng zu unterscheiden, … a) was die Jungendhilfe selbst als (häufigste) Begründung und Argumentation angab. Da es sich häufig um Maßnahmen handelt, ist die Begründung meist juristischer Natur und stellt somit eine Subsumtion dar; es werden zumeist Probleme angeführt; und … b) worin der tatsächliche, sozialhistorische Lebenssachverhalt – also der inhaltliche Anlass aus dem Lebenssachverhalt heraus der zu einer Verdichtung der Intervention führte – besteht. Dieser ist durch objektive Kriterien zu verifizieren und besteht ebenso wie im Rahmen des ersten Kriteriums in einem Ereignis bzw. Vorkommnis in der Familie. Es ist also zu analysieren, was die Jugendhilfe als inhaltlichen, faktischen Gegenstand des Schwerpunktes der Maßnahmen angab und zu ermitteln, inwiefern dies als realer sozialer Tatbestand zu verifizieren ist. 3. Ergebnisse der qualitativen Analyse Bei der Auswertung der Akten nach den erarbeiteten Kriterien sowie der Überprüfung, inwieweit die Akten mittels dieser Indikatoren typisierbar sind, konnten folgende Ergebnisse erzielt werden: a) „Typisierbare“ und „komplexe“ Akten Es konnte festgestellt werden, dass sich bei manchen Akten die beiden Kriterien „Soziale Ausgangssituation in der Familie bei Eröffnung des Verfahrens“ und „Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention“ decken. Diese Akten – im Folgenden „typisierbare“ Akten genannt – haben bei Eröffnung des Verfahrens eine klare soziale Ausgangssituation, welche von einem eindeutig benennbaren Ereignis bzw. einer klaren Problematik in der Familie geprägt ist. Die

C. Auswertung

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Maßnahmen der Jugendhilfe verlaufen in durchbürokratisierten, schematischen und sich in Mustern wiederholenden Bahnen; ihr Gegenstand deckt sich mit der sozialen Ausgangssituation zu Beginn der Intervention. Wurde beispielsweise eine Betreuung der Mutter durch die Jugendhilfe allein deshalb eingeleitet, weil die Mutter bei Geburt des Kindes selbst noch minderjährig war und mit Volljährigkeit der Mutter auch wieder aufgehoben, so ist der chronologisch erste Anlass aus der Familie für die Verfahrenseröffnung und der inhaltliche, schwerpunktmäßige Gegenstand der Intervention jeweils die Minderjährigkeit der Mutter. Den Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung unter den festgelegten Bedingungen festzustellen, ist generell unproblematisch. Das Ereignis in der sozialen Ausgangssituation, die Häufung der juristischen Maßnahmen und deren Gegenstand sind nicht nur deckungsgleich, sondern bei diesen Akten auch leicht zu ermitteln und zu objektivieren, da sich oft durch die äußeren Umstände erkennen lässt, wie die Jugendhilfe davon erfuhr. Außerdem sind jeweils objektive Umstände erkennbar, die dieses Ereignis und damit den sozialhistorischen Tatbestand von der reinen Subsumtionsebene der Jugendhilfe in den Akten abgrenzbar machen. Dabei handelt es sich entweder um naturwissenschaftlich messbare Ereignisse oder um Konflikte bzw. Konfliktpotentiale zwischen den Eltern der Minderjährigen, welche unstreitig bestanden (hierzu mehr bei der Darstellung des Typenmodells). Daraus ergibt sich insgesamt der Eindruck, dass bei dieser Art von Akten jeweils ein entscheidendes, objektiv belegbares, sozialhistorisch-faktisches Ereignis den Anlass für eine Intervention in die Familie hinein gab. Nach diesem einen Ereignis ist diese Art von Akten jeweils einordbar, da ihm auch eine generelle, symbolische Aussagekraft für die gesamte Akte zugeschrieben werden kann. 53, 92 % der Akten sind auf diese Weise typisierbar. Bei den restlichen 46,08 % der Akten – im Folgenden „komplexe“ Akten genannt – gestaltete sich die Auswertung anders. Sie haben einen sehr komplexen Lebenssachverhalt und sind stark heterogen. Somit sind auch die Maßnahmen der Jugendhilfe äußerst vielfältig. Wiederkehrende Muster über die verschiedenen Akten hinweg lassen sich viel schwerer und nur in deutlich größerer und abstrakterer Form erkennen. Es bestehen Überschneidungen mit den einfachen Akten, aber jeweils nur in kleinen Anteilen. Schon der Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung ist nicht immer klar benennbar, beispielsweise wenn es sich um Heimakten handelt, aus welchen heraus der Beginn der Intervention und der ambulanten Betreuung konstruiert werden muss – aber auch in anderen Fällen ergeben sich dabei Schwierigkeiten. Die soziale Ausgangssituation zu diesem Zeitpunkt ist daher oft nicht mehr feststellbar oder es bleibt der Eindruck bestehen, dass die ermittelte soziale Ausgangssituation keine grundsätzliche Bedeutung für den Lebenssachverhalt dieser Akte hat, da sich dieser sehr komplex gestaltete. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass eine Einordnung nach diesem Kriterium willkürlich wäre. Außerdem handelt es sich hier, ebenso wie bei den Gegenständen der Maßnahmen, oft um Ereignisse, welche nicht klar objekti-

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2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

vierbar sind, da es sich um pädagogische Einschätzungen etc. handelt. Es müssten somit viele weitere stichhaltige Prüfkriterien für eine sehr genaue Analyse entwickelt werden, um sicherzustellen, dass nicht nur der Argumentation, Deutung und Einschätzung der Jugendhilfe für die Eröffnung des Verfahrens gefolgt wird. Bezüglich der Konzentration an Maßnahmen der Jugendhilfe ist feststellbar, dass es bei diesen Akten mehrere Schwerpunkte der Interventionen gibt und damit auch verschiedene Gegenständen derselben. Es kann bezüglich der komplexeren Akten also nur insgesamt dargestellt werden, welche verschiedenen Anlässe die Jugendhilfe selbst als Gegenstände ihrer Schwerpunkte der Betreuung nannte und inwieweit diese als gesicherte sozialhistorische Tatbestände verstanden werden können. An dieser Stelle wird erneut klar, welche Auswirkungen es hatte, dass durch die Rechtsgrundlagen keine klaren Tatbestandsmerkmale102 bzw. feste Verfahren für die Einbringung von Stellungnahmen pädagogischer Experten festgelegt wurden und wie intransparent dadurch die Interventionen der Jugendhilfe wurden. Da die „komplexen“ Akten oft mehrere Maßnahmenschwerpunkte haben und je nach den sozialen Ausgangssituationen bzw. Gegenständen der Schwerpunkte es unterschiedlich schwer bzw. leicht verifizierbar ist, inwiefern die verschiedenen Gegenstände der Schwerpunkte tatsächlich bestehen oder nur eine Wertungsfrage der Jugendhilfe war, ist eine Einteilung der komplexen Akten auch nach diesem einen Aspekt nicht möglich. Wiederkehrende Muster und Schemata, sowohl in den Lebenssachverhalten, als auch in der Vorgehensweise der Jugendhilfe, sind angesichts der Problematik der objektiven Maßstäbe daher nicht durch ein einfaches Konzept abbildbar. Eine Typenbildung scheint also nur für die einfachen, schematischen Akten, bei denen die Kriterien objektiv bestimmbar sind und sich decken, sinnvoll, denn nur hier hat der gebildete Typ auch eine Aussagekraft für die betreffenden Akten. Insgesamt ist also festzuhalten, dass es zwei verschiedene Arten von Akten gibt: sehr komplexe, undurchsichtige Akten und Akten, welche sehr alltäglich sind und eine einfache Struktur des Lebenssachverhaltes beinhalten. b) Die Stichprobenlänge als Ergebnis Da angesichts des erheblichen Umfangs des Aktenkonvoluts von 49 Laufmetern eine Auswertung sämtlicher relevanten Akten ausschied, stellte der Prozess der qualitativen Auswertung zugleich das inhaltliche Kriterium für die Stichprobenlänge dar: die Auswertung der Akten nach den erarbeiteten Indikatoren wurde so lange fortgeführt, bis sich nach einer gewissen Anzahl an Akten die Typen nur noch wiederholten und auch innerhalb der nicht nach diesen Kriterien abbildbaren Akten keine weiteren Gegenstände für die Interventionsschwerpunkte feststellbar waren (weder nach der Argumentation der Jugendhilfe, noch anderweitig) sowie auch keine 102 Vgl. 1. Kapitel, D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung.

C. Auswertung

199

grundsätzlich neuen Muster und Konstellationen in den Lebenssachverhalten der Familien mehr bemerkbar waren. Die Auswertung wurde daher erst beendet, nachdem davon ausgegangen werden konnte, dass nun die allermeisten Akten des Bestandes (natürlich abgesehen von Ausnahmen, welche immer auftreten können) in einen der erstellten Typen einordbar sind bzw. bis innerhalb der „komplexen“ Akten keine weiteren Interventionsschwerpunkte feststellbar waren. Hieraus ergibt sich die Stichprobenlänge von 102 Akten. c) Typenmodell der durch die Kriterien abbildbaren Akten103 Die Akten, welche sich anhand von Typen darstellen lassen, sind Akten, für welche sich das für die soziale Ausgangssituation prägende Ereignis bei Verfahrenseröffnung mit dem Gegenstand des Maßnahmenschwerpunktes ermitteln und verifizieren ließen und miteinander übereinstimmend dasselbe Ergebnis haben. Diese Akten sind gekennzeichnet durch einen einfach strukturierten Lebenssachverhalt sowie einen besonders schematischen Ablauf des Jugendhilfeverfahrens. Das Vorgehen der Jugendhilfe ist formalisiert und richtet sich nach objektiven Notwendigkeiten. Diese 55 Akten konnten daher phänomenologisch nach dem Lebenssachverhalt typisiert und folgende Realtypen gebildet werden: 1. Kind außerhalb der Ehe geboren und ggf. sich hieraus ergebendes Konfliktpotential: 23 Akten 2. Eltern lassen sich scheiden: 13 Akten 3. Konflikte zwischen den getrennt lebenden Eltern des Kindes: 8 Akten 4. Ein Elternteil oder Familienmitglied ist krank oder verstorben bzw. das Kind ist behindert: 5 Akten 5. Minderjährigkeit der Kindsmutter bei der Geburt: 2 Akten 6. Ein Ehepaar möchte ein Kind adoptieren: 4 Akten Dass es sich dabei jeweils um den sozialhistorischen Tatbestand handelt, ist entweder aus dem naturwissenschaftlich belegten Ereignis (Tod, Krankheit, Minderjährigkeit der Mutter etc.) erkennbar, es bestehen zwischen den Eltern des Minderjährigen unstreitig Konflikte bzw. Konfliktpotential, oder aber es wird an die Jugendhilfe ein klarer Wunsch gerichtet, wie im Falle der Adoption, sodass auch hier das Ereignis/die Konstellation ohne Probleme ermittelt werden kann.

103

Vgl. Anhang V.

200

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

1. Kind außerhalb der Ehe geboren („Vaterschaftsanerkennung“) mit ggf. sich hieraus ergebendem Konfliktpotential („Vaterschaftsproblematik“)104 a) Familiäre Ausgangssituation bei Eröffnung des Verfahrens Die familiäre Ausgangssituation besteht immer darin, dass die (volljährige) Kindsmutter ein Kind außerhalb der Ehe geboren hat bzw. ein Kind geboren hat, bei dem die Ehelichkeit streitig ist; z.T. ergeben sich aus dieser Konstellation unmittelbar Konflikte. Dabei scheint es zum Teil so zu sein, dass die Eltern offenbar zusammenleben und lediglich nicht verheiratet sind, also alles friedlich abläuft105, zum Teil stehen die Eltern nicht einmal in Kontakt miteinander und der Vater ist zunächst nicht auffindbar bzw. reagiert nicht.106 Bei 12 Akten dieses Typs gibt es über diese Konstellation hinaus keine weiteren Merkmale, die Vaterschaftsanerkennung sowie als Folge der Unterhaltsanspruch werden nicht zum Problem. Bei weiteren 7 Akten107 bestehen von Anfang an Probleme wegen des für das neugeborene Kind zu zahlenden Unterhalts. In weiteren 4 Akten108 ist neben dem Unterhalt auch die Vaterschaft an sich streitig, da das Kind in einer bestehenden Ehe geboren ist, dieses aber nicht (sicher) vom Ehemann stammt. Alle Probleme ergeben sich aber zeitnah und direkt aus der Ausgangsproblematik, dass ein uneheliches oder nicht sicher eheliches Kind geboren wurde und die Vaterschaft daher nicht gesichert ist. Die Ereignisse stehen also im Zusammenhang mit der Geburt des Kindes. Dies ist auch inhaltlich und nicht nur chronologisch als erster Anlass für die Eröffnung des Verfahrens zu bewerten. Die Jugendhilfe wird durch das Standesamt per Mitteilung über eine Geburt informiert und fordert die Mutter109 bzw. die Eltern auf, wegen der Angelegenheit ins Referat Jugendhilfe zu kommen oder aber die Mutter kommt selbst zur Jungendhilfe und veranlasst die Vaterschaftsanerkennung110. Es wird mit der Mutter bzw. den Eltern ein Mündelfragebogen ausgefüllt.111 Das Ereignis steht zu Beginn der Akte. b) Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention Die Jugendhilfe kümmert sich um die juristisch notwendigen Schritte der Anerkennung der leiblichen Vaterschaft und um die Unterhaltsvereinbarung auf Basis

104

Vgl. Anhang V. Vgl. z.B. KA BZ 505/36. 106 Vgl. bspw. KA BZ 505/46. 107 Vgl. KA BZ 505/100, KA BZ 505/116, KA BZ 505/144, KA BZ 505/177, KA BZ 505/ 234, KA BZ 505/236 und KA BZ 505/238. 108 Vgl. KA BZ 505/112, KA BZ 505/152, KA BZ 505/182 und KA BZ 505/200. 109 KA BZ 505/129, fol. 1 f. 110 Vgl. z.B. KA BZ 505/135. 111 KA BZ 505/129, fol. 4 f. und vgl. KA BZ 505/234. 105

C. Auswertung

201

der Einkünfte der Eltern sowie um die Vaterschaftsurkunde.112 Die Höhe der Unterhaltsforderung wird ggf. ausgehandelt.113 Ist der Vater nicht auffindbar, bemüht sich die Jugendhilfe diesen zu finden, z.B. durch eine Suche über das VolkspolizeiKreisamt.114 Für die Suche nach dem Vater kann eine Beistandschaft geschlossen werden.115 Kommt es dabei zu Problemen, nimmt sie Kontakt zu dem leiblichen Vater auf bzw. macht ihn zunächst ausfindig116, sie ermittelt die Einkünfte des Vaters bei dessen Arbeitgeber.117 Der Unterhaltspflichtige muss eine Zahlungsverpflichtungsurkunde unterschreiben.118 Gibt es Probleme mit der Zahlung des Unterhalts, droht die Jugendhilfe gegebenenfalls mit einer Unterhaltsklage119 bzw. führt dann die Beistandschaft für die Mutter und hilft dieser dabei, den Unterhalt einzuklagen120 bzw. den Lohn des Vaters pfänden zu lassen121. Ist die Ehelichkeit streitig, berät die Jugendhilfe den Vater oder die Mutter bzgl. des Anfechtungsverfahrens bzw. es wird durch die Jugendhilfe ein Prozesspfleger für das minderjährige verklagte Kind bestellt122. Es wird zur Ermittlung des Vaters beigetragen indem sie die Eltern sowie Zeugen anhört und beispielsweise die Mutter dazu anhält, eine Reifegradzeugnis von der Hebamme zu besorgen123. Die Jugendhilfe kümmert sich um die Anerkennung des Kindes nach der Ehelichkeitsanfechtung.124 Da es sich um eine Problematik zwischen den Eltern handelt, welche laut der Akte auch unstreitig als solche dokumentiert ist, besteht kein Auslegungsspielraum bezüglich des Gegenstandes der Intervention, sodass dieser als objektiv angenommen werden kann.

112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124

Vgl. KA BZ 505/129. Z.B. KA BZ 505/177, fol. 10 ff. oder KA BZ 505/112, fol. 22. KA BZ 505/46, fol. 3 f. KA BZ 505/116, fol. 3. Vgl. KA BZ 505/46, KA BZ 505/71, KA BZ 505/115 und KA BZ 505/135. KA BZ 505/144, fol. 4 f. Z.B. KA BZ 505/116, fol. 5 und KA BZ 505/238, fol. 11. KA BZ 505/144, fol. 6. Vgl. bspw. KA BZ 505/100. KA BZ 505/116, fol. 19 und KA BZ 505/238, fol. 16 – 40. KA BZ 505/112, fol. 2 ff. und vgl. KA BZ 505/200. Vgl. KA BZ 505/182. KA BZ 505/152, fol. 1 und fol. 11 – 17.

202

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

2. Eltern lassen sich scheiden („Sorgerecht anlässlich der Scheidung“)125 a) Familiäre Ausgangssituation bei Eröffnung des Verfahrens Die Eltern lassen sich scheiden, sodass die Notwendigkeit besteht, über das Kind/ die Kinder zu entscheiden.126 Die Dokumente über das Scheidungsverfahren belegen, dass die Scheidung auch inhaltlich als erster Anlass für die Eröffnung des Verfahrens zu bewerten ist. Die Akten beginnen mit einer Abschrift der Scheidungsklage127 und einem Formular des Gerichts, dass die Jugendhilfe die notwendigen Ermittlungen anstellen soll, damit im Falle der Scheidung auch über die elterliche Sorge mit entschieden werden könne128. b) Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention Die Jugendhilfe veranlasst Beurteilungen von den Eltern durch den Arbeitgeber und spricht mit den Eltern.129 Befragt wird dafür aber z.B. auch der Kindergarten.130 Schließlich erstellt die Jugendhilfe eine ausführliche Stellungnahme darüber, wem das Sorgerecht zugeteilt werden soll.131 Dass es um eine Entscheidung über das Sorgerecht anlässlich der Scheidung geht, steht damit außer Frage. 3. Konflikte zwischen den getrennt lebenden Eltern wegen des Kindes („Konflikt“)132 a) Familiäre Ausgangssituation bei Eröffnung des Verfahrens Zwischen den getrennt lebendenden leiblichen Eltern gibt es Konflikte bzw. Handlungsbedarf (wenn beispielsweise der Unterhalt nur angepasst werden muss), welche sich um den Unterhalt133, das Umgangsrecht134 oder das Erziehungsrecht135 drehen. Die Vaterschaft ist nicht mehr die Ausgangsproblematik wie in Kategorie 1, die Probleme beginnen bereits im Rahmen der nicht streitigen Elternschaft. Es erscheint nicht zufällig, dass dieses Ereignis zu Beginn der Akte steht.

125

Vgl. Anhang V. In einer Akte bedeutete dies auch, dass darüber entschieden werden musste, ob der neue Mann der Mutter das Kind als sein eigenes annehmen durfte (vgl. KA BZ 505/76, fol. 22 f.). 127 Bspw. KA BZ 505/101, fol. 1 f. und KA BZ 505/156, fol. 1 f. 128 KA BZ 505/101, fol. 3. 129 Vgl. beispielhaft KA BZ 505/101 und KA BZ 505/156. 130 Vgl. z.B. KA BZ 505/12, fol. 9. 131 Vgl. beispielhaft KA BZ 505/101 und KA BZ 505/156. 132 Vgl. Anhang V. 133 Vgl. KA BZ 505/33, KA BZ 505/114, KA BZ 505/164, KA BZ 505/172, KA BZ 505/206 und KA BZ 505/219. 134 Vgl. KA BZ 505/21. 135 Vgl. KA BZ 505/145. 126

C. Auswertung

203

Die Jugendhilfe erfährt meist von dem Konflikt durch einen Elternteil, welcher unaufgefordert mit seinem Anliegen zur Jugendhilfe kommt.136 b) Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention Besteht die Problematik darin, dass die Mutter den Unterhalt nicht, unregelmäßig oder nicht in der vollen Höhe bekommt, ermittelt die Jugendhilfe z.T. nochmals den Unterhalt auf Grundlage der Einkommen der Eltern137. Es kommt zu Aussprachen mit dem Unterhaltspflichtigen, dieser wird gemahnt. Ist der Vater oder die Mutter nicht auffindbar, wird nach ihm gesucht.138 Gegebenenfalls wird ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erwirkt.139 Ist der unterhaltspflichtige Elternteil in der BRD, wird Kontakt aufgenommen140 und ggf. Amtshilfe ersucht.141 Zum Teil ist Gegenstand der Betreuung aber auch nur, dass der Unterhalt wegen der Veränderungen bei den Kindern und ähnlichen Umständen immer wieder angepasst werden muss und hierfür Bescheinigungen der Arbeitgeber der Eltern bzw. der Schule/des Ausbildungsbetriebes des Kindes erforderlich sind.142 In zwei Fällen stellen sich während des Konflikts um den Unterhalt noch weitere Probleme heraus; einmal ist der Vater gar nicht der leibliche Vater143, ein anderes Mal werden während der noch bestehenden Ehe neben den leiblichen Kindern zusätzlich weitere Kinder geboren, deren Ehelichkeit erst noch angefochten werden muss144. Geht es um andere Probleme zwischen den Eltern, wie beispielsweise das Umgangsrecht,145 nimmt die Jugendhilfe mit dem anderen Elternteil Kontakt auf und vermittelt.146 In einem Fall beantragte ein Vater, dass seiner geschiedenen Frau das Erziehungsrecht aberkannt und ihm übertragen werden solle.147 Die Jugendhilfe forderte eine Stellungnahme der Mutter, welche auf ihrem Erziehungsrecht bestand, die Jugendhilfe erkundigte sich außerdem bei Schule und Nachbarn und änderte im Ergebnis dann nichts am Erziehungsrecht.148 Der genannte Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention erscheint wegen des unbestrittenen Konflikts zwischen den Eltern objektiv vorzuliegen. 136

Vgl. KA BZ 505/21, fol. 2. Vgl. KA BZ 505/33. 138 Vgl. KA BZ 505/114. 139 Vgl. KA BZ 505/33. 140 Vgl. KA BZ 505/206. 141 Vgl. z.B. KA BZ 505/33 und KA BZ 505/219. In einer Akte wendet sich dagegen ein Landratsamt aus der BRD an die Jugendhilfe und bittet um Amtshilfe (vgl. KA BZ 505/172). 142 KA BZ 505/21, fol. 8 ff. 143 Vgl. KA BZ 505/164. 144 Vgl. KA BZ 505/206. 145 Vgl. KA BZ 505/21. 146 KA BZ 505/21, fol. 4 ff. 147 KA BZ 505/145, fol. 5 f. 148 Vgl. KA BZ 505/145. 137

204

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

4. Ein Elternteil oder Familienmitglied ist krank oder verstorben bzw. das Kind ist behindert („Krankheit/Tod“)149 a) Familiäre Ausgangssituation bei Eröffnung des Verfahrens Die familiäre Ausgangssituation bei Eröffnung des Verfahrens besteht hierbei darin, dass beide Eltern bzw. der Elternteil, welcher sich mit der Pflege des Kindes befasst, wegen einer Krankheit für längere Zeit im Krankenhaus befindet bzw. die alleinerziehende Mutter oder der Vater verstorben ist. Die Situation kann hierbei nicht über Verwandte oder einen anderen Rahmen (ganz) aufgefangen werden. Dieser Aktentyp konnte häufig bei den Akten festgestellt werden, welche nach den gewählten Kriterien nicht für die Untersuchung relevant sind. Die Akten beginnen gleich mit der Mitteilung an die Jugendhilfe: beispielsweise durch das Krankenhaus bzw. Sanatorium, dass die Eltern eine Betreuung durch die Jugendhilfe wünschen150, durch einen Brief der Gemeinde151 oder eine Mitteilung über einen Sterbefall durch das Standesamt152. b) Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention Die Jugendhilfe eröffnet die Betreuung und leitet daraufhin die Schritte zur Unterbringung und Versorgung des Kindes ein. Sie kümmert sich z.B. um einen Heimplatz in einem Kinderheim (oder auch „Normalheim“153- bzw. Schulheim), bis die Eltern/der Elternteil wieder genesen sind/ist154 bzw. um einen dauerhaften Heimplatz, Pflegeeltern oder aber auch nur um einen Vormund155. Während der gesamten Betreuung geht es um die Organisation der richtigen Unterbringung des Kindes, des Unterhaltes des Kindes, seiner Impfungen etc.156, aber auch um die Überprüfung, ob das Kind wieder in den elterlichen Haushalt entlassen werden kann157. Der Gegenstand der Betreuung ist identisch mit der sozialen Situation. Als Grund wird beispielsweise angegeben: „Da die allein erziehungsberechtigte Mutter verstorben ist, und XX ein außerhalb der Ehe geborenes Kind ist, macht sich die Anordnung der Vormundschaft erforderlich.“158 Aufgrund des medizinischen Anlasses ergeben sich keine Zweifel in Bezug auf den angegebenen Interventionsgegenstand. 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158

Vgl. Anhang V. Bspw. KA BZ 505/161, fol. 1 ff. Exemplarisch KA BZ 505/190, fol. 2. Exemplarisch KA BZ 505/126, fol. 2. Vgl. KA BZ/161, fol. 2. Exemplarisch KA BZ 505/161, fol. 19 ff. Exemplarisch KA BZ 505/126, fol. 4 ff. KA BZ 505/161. KA BZ 505/161, fol. 19 ff. KA BZ 505/126, fol. 4.

C. Auswertung

205

Eine sehr ähnliche Situation ergibt sich bei einem gehörlosen Kind, das mit Erreichen des schulpflichtigen Alters eine Gehörlosenschule besucht. Die Jugendhilfe koordiniert auch hier die Unterbringung und die Abrechnung der Unterhalts- bzw. der Heimkosten etc.159 Die Akte wird zu diesem Typ hinzugezählt, da auch hier die soziale Ausgangssituation allein durch Krankheit geprägt ist, wenn auch nicht aufgrund der Eltern, sondern aufgrund der Behinderung des Kindes. In einem weiteren Fall ist nicht ein Elternteil oder der Minderjährige erkrankt, sondern die Eltern der Kindsmutter sind pflegebedürftig, sodass die alleinerziehende Mutter wegen eines zusätzlichen Arbeitswechsels das Kind nicht betreuen kann. Auch dieser Fall passt in die beschriebene Struktur und wurde daher hinzu gezählt.160 5. Minderjährigkeit der Kindsmutter bei der Geburt („Minderjährige KM“)161 a) Familiäre Ausgangssituation bei Eröffnung des Verfahrens Die soziale Ausgangssituation besteht hier allein darin, dass die Mutter bei der Geburt des Kindes noch minderjährig ist bzw. noch minderjährig sein wird.162 Die Jugendhilfe erhält eine Geburtsurkunde163 und einen „Fragespiegel“ des Krankenhauses, in welchem die Minderjährigkeit der Mutter vermerkt ist.164 b) Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention Die Jugendhilfe macht einen Hausbesuch bei der Kindsmutter und ordnet eine Vormundschaft für das Kind an (durch die Eltern der minderjährigen Kindsmutter).165 Über den Vormund bzw. die Vormünder werden zunächst von der Jugendhilfe Beurteilungen des Arbeitgebers sowie ihre polizeilichen Führungszeugnisse eingeholt.166 Die Jugendhilfe hilft bei der Suche bzw. Anerkennung durch den Kindsvater und der Berechnung des Unterhaltes etc.167 Sobald die Kindsmutter volljährig ist, wird die Vormundschaft beendet.168 Das Alter der Mutter als Gegenstand der Intervention ist objektiv überprüfbar.

159

Vgl. KA BZ 505/229. Vgl. KA BZ 505/7. 161 Vgl. Anhang V. 162 Vgl. KA BZ 505/151 und KA BZ 505/195. 163 KA BZ 505/151, fol. 1 sowie KA BZ 505/195, fol. 6. 164 KA BZ 505/151, fol. 2. 165 Vgl. KA BZ 505/151 und KA BZ 505/195. 166 KA BZ 505/195, fol. 3 ff. 167 Vgl. KA BZ 505/151 und KA BZ 505/195; jedoch in letzterem Fall mit der Besonderheit, dass das Kind (angeblich) aus einer Vergewaltigung stammen soll (vgl. KA BZ 505/195). 168 KA BZ 505/151, fol. 10. 160

206

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

6. Ein Ehepaar will ein Kind adoptieren („Adoption“)169 a) Familiäre Ausgangssituation bei Eröffnung des Verfahrens Die soziale Ausgangssituation besteht bei diesem Aktentyp darin, dass ein Ehepaar mit unerfülltem Kinderwunsch gerne ein Kind adoptieren bzw. zunächst in Pflegschaft nehmen möchte170 oder aber darin, dass der neue Partner der Mutter das Kind als seines annehmen möchte171. Diese Akten sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Situation der Adoption sowie den soziokulturellen Hintergrund der Wunscheltern/des neuen Vaters dokumentieren und sich sonst keine weiteren Angaben über die Herkunft des Kindes bzw. die sonstige Vorgeschichte entnehmen lassen. Das Ehepaar kommt zur Jugendhilfe und stellt einen Antrag auf Pflegschaft mit der Aussicht auf Adoption172 bzw. der neue Partner der Mutter beantragt das Kind zu adoptieren173. In einem Fall bekommt die Jugendhilfe mit einer Geburtsurkunde die Mitteilung, dass das Kind zur Adoption freigegeben worden ist.174 b) Gegenstand des Schwerpunktes der Intervention Die Jugendhilfe sucht ggf. nach einem passenden Minderjährigen. Es werden Stellungnahmen zur Tauglichkeit der Eltern von ihren Arbeitgebern eingeholt und ein Hausbesuch bei der Familie gemacht. Geht es darum, dass der neue Partner der Mutter das Kind annehmen will, wird ebenso eine Stellungnahme des Arbeitgebers verlangt sowie ein polizeiliches Führungszeugnis; die Verzichtserklärung des leiblichen Vaters wird eingeholt.175 Es gibt diverse Aussprachen mit den anzunehmenden neuen Eltern bzw. dem neuen Vater; der Jugendhilfeausschuss berät in Anwesenheit der Kindsmutter und des neuen Vaters über die Adoption.176 Bei der Betreuung geht es also ganz um die Überprüfung der Familie bzw. des neuen Vaters, die Eingewöhnung des Kindes in der neuen Familie und schließlich um die bürokratischen Einzelheiten der Adoption selbst. Das Bedürfnis des Ehepaares, ein Kind zu adoptieren, ist objektiv und unstrittig aus den Akten erkennbar. (Die Kriterien, nach welchen die Tauglichkeit der Annehmenden bestimmt wird, beinhalten dagegen einen großen Auslegungsspielraum).

169 170 171 172 173 174 175 176

Vgl. Anhang V. Vgl. bspw. KA BZ 505/149 oder KA BZ 505/82. Vgl. bspw. KA BZ 505/80 und KA BZ 505/109. Bspw. KA BZ 505/149, fol. 6. KA BZ 505/80, fol. 3 ff. und bspw. KA BZ 505/109, fol. 8. Vgl. KA BZ 505/82, fol. 1 f. Vgl. KA BZ 505/109, fol. 7. Vgl. z.B. KA BZ 505/80.

C. Auswertung

207

d) Akten mit „komplexerem“ Lebenssachverhalt bzw. nicht typisierbare Akten177 Bei den anderen 47 Akten, welche sich durch einen komplexeren Lebenssachverhalt auszeichnen, ist eine typologische Darstellung nach den erarbeiteten Kriterien – wie schon ausgeführt178 – aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Der tatsächliche sozialhistorische Lebenssachverhalt kann daher mittels der erarbeiteten Kriterien nicht zweifelsfrei für jede einzelne Akte abgebildet werden, auch wenn keine Anhaltspunkte für eine falsche Darstellung gefunden werden konnten. Um die Argumentation der Jugendhilfe zu überprüfen und die dargestellten Lebenssachverhalte zu objektivieren, wäre je nach Sachverhalt und Akte die Erarbeitung detaillierter neuer Kriterien erforderlich, welche sich auch anderer Disziplinen wie beispielsweise der Pädagogik und Medizin bedienen müssten. Einzelnen Akten könnte jedoch darüber hinaus nur eine Einzelfallanalyse gerecht werden, da es sich um sehr spezifische und individuelle Konstellationen handelt.179 Es kann aber dargestellt werden, was die Jugendhilfe insgesamt für diese Akten selbst als Gegenstände ihrer Maßnahmen- bzw. Interventionsschwerpunkte bezeichnete. Dies beinhaltet natürlich gleichzeitig immer die Wertung der Jugendhilfe. Die folgende Aufstellung hat daher lediglich das Ziel, möglichst vollständig darzustellen, welches Spektrum an möglichen Anlässen in den Familien die Jugendhilfe nach ihrer eigenen Einschätzung als Gegenstände ihrer Arbeit bezeichnete. Dies ist insofern auch für den Untersuchungsgegenstand interessant, da somit ermittelt werden kann, nach welchen Kriterien die Jugendhilfe selbst besonderen Handlungsbedarf sah. Was die Jugendhilfe selbst als Anlässe ihrer Interventionen bezeichnete, gibt ebenfalls (indirekt) Aufschluss über den Untersuchungsgegenstand. Was sich dabei bezüglich jedes einzelnen Gegenstandes der Maßnahmen der Jugendhilfe als objektiv belegbar feststellen lässt, wird jeweils bei der Beschreibung des Anlasses innerhalb der Familie ausgeführt. Jede der dargestellten Problematiken muss sicher auch tatsächlich einmal oder mehrfach vorgelegen haben. Jedoch lässt sich dies nicht für jede einzelne Akte feststellen und ist daher nicht wissenschaftlich belegbar. Die folgenden Zitate beziehen sich auf Akten, in welchen die Argumentation der Jugendhilfe besonders deutlich den von der Jugendhilfe zum Gegenstand der Betreuung gemachten Sachverhalt erkennen lässt und damit jeweils besonders deutlich dokumentiert ist, was als Anlass eines Maßnahmenschwerpunktes bezeichnet wurde. Dies bedeutet aber im Gegensatz zur Typologie nicht, dass für diese Akte objektiv 177

Vgl. Anhang V. Vgl. 2. Kapitel, C. II. 3. a) „Typisierbare“ und „komplexe“ Akten. 179 Eine Einzelfallanalyse ist aber außerdem wegen der datenschutzrechtlichen Auflagen kaum durchführbar. 178

208

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

gesagt werden kann, dass sich der Lebenssachverhalt tatsächlich so darstellte, wie von der Jugendhilfe beschrieben. Zudem ist in die Analyse immer auch mit einzubeziehen, dass in einer Akte oft mehrere solcher Anlässe für Interventionsschwerpunkte vorlagen. Laut der Argumentation der Jugendhilfe hatten die Interventionsschwerpunkte folgende Anlässe aus dem Lebenssachverhalt zum Gegenstand: 1. „Vernachlässigung des Kindes“ 2. „Erziehungsprobleme bzw. Überforderung der Eltern“ 3. „Gewalttätigkeit der Eltern/Misshandlung der Eltern gegenüber dem Kind“ 4. „Strafrelevantes Verhalten der Minderjährigen“ 5. „Suchterkrankung eines oder beider Elternteile“ 6. „Strafrelevantes Verhalten der Eltern“ 7. „Bereits andere Geschwister in der Betreuung der Jugendhilfe“ Im Folgenden werden diese genannten Gegenstände der Interventionsschwerpunkte genauer betrachtet. 1. „Vernachlässigung des Kindes“ Die soziale Situation wird folgendermaßen dargestellt: Die Eltern würden die Grundbedürfnisse ihrer Kinder vernachlässigen, welche häufig noch im Kleinkindalter sind. Dabei wird oft durch medizinische Gutachten oder detaillierte Beschreibungen durch die Jugendhelfer klar, dass wohl schwerlich eine andere Einordnung als die der Vernachlässigung möglich ist: die Kinder hungern, Kleinkinder laufen unbeaufsichtigt auf der Straße herum, sind nicht den Wetterverhältnissen entsprechend gekleidet, leben in verwahrlostem und dreckigem Zustand.180 Objektivierbarkeit/Belege: Dabei sind die Grenzen zu Beschreibungen der Jugendhilfe in Bezug auf Zustände, welche offensichtlich auslegungsbedürftig sind und auch Fragen der Pädagogik betreffen, jedoch fließend und z.B. auch eine Frage des Maßstabes in Bezug auf die Qualität der Nahrung, der Sauberkeit der Wohnung,

180

Vgl. bspw. KA BZ 505/146. In dieser Akte konstatiert ein Arzt bezüglich eines 9-jährigen Jungen: „[…] ein sehr ungepflegte[r], schmutzige[r] Patient […]. Diagnostisch handelt es sich um eine körperliche und geistige Retardierung bei vermutlich abgelaufener frühkindlicher Hirnschädigung und ganz erheblicher Milieuschädigung.“ (KA BZ 505/146, fol. 190); eine Kindergärtnerin sagt laut der Jugendhilfe aus: „Die Koll.XXX beobachtete die Kinder dabei, wie sie halb verfaulte Tomaten beim Gemüseladen verzehrten, um nicht zu sagen verschlangen.“ (KA BZ 505/146, fol. 48). Die Jugendhilfe hält in ihrem „Bericht über die Erziehungsverhältnisse“ fest: „Bei Hausbesuchen mußte festgestellt werden, daß die Kinder ohne Bezüge schliefen, die Betten total vernäßt.“ (KA BZ 505/146, fol. 73).

C. Auswertung

209

der Körperhygiene und der Kleidung etc.181 Dennoch scheint es häufig so zu sein, dass es den Kindern tatsächlich an der Befriedigung ihrer existenziellen Bedürfnisse ermangelte. Da die Jugendhilfe z.T. aber darüber hinaus auch bestimmte Standards als unabdingbar betrachtete, müssten genauere Kriterien entwickelt werden, was objektiv als Vernachlässigung bezeichnet werden kann. Überschneidungen zu anderen Schwerpunkten: Häufig wird in diesen Akten auch gleichzeitig von einer Überforderung der Eltern gesprochen und die Grenzen dazu verschwimmen stark, sodass die Problematik schwer verifizierbar ist.

181

Nach einem Hausbesuch der Jugendhilfe, anlässlich der Geburt eines weiteren Kindes, heißt es z.B. „[…] Die Kinder wurden am X.X.82 ungepflegt und schmutzig vorgestellt. XXX sollte am X.X.82 in der Kinderpolyklinik Hoy. vorgestellt werden und mußte gleich stationär eingewiesen werden aus sozialer Indikation. Kontrollhausbesuche sind vorgesehen.“ (KA BZ 505/16, fol. 7). In einem späteren „Beschluß zur Sicherung der Erziehung und Entwicklung des/ der Minderjährigen“ der Jugendhilfe werden folgende Feststellungen getroffen: „1. Kurze Schilderung des Anlaßes der Beratung und der gegenwärtigen Lebens- und Erziehungsverhältnisse: Durch die Kolleginnen der Mütterberatung wurden wir verständigt, daß sich der Haushalt der Familie XXX in einem sehr liederlichen und unordentlichen Zustand befindet. Für das Kind XX, daß sich z.Z. im Krankenhaus befandt, war kein Bett vorhanden. XXX wurde auch für einige Zeit im Krankenhaus untergebracht. Frau XXX erhielt die Verpflichtung sofort Ordnung in ihrem Haushalt zu schaffen. Bei Kontrollbesuchen fanden wir fast ähnliche Zustände vor. Nach Aussagen von Hausbewohnern kommen die kleinen Kinder tagsüber nicht ins Freie. 2. Pädagogische Zielstellung für die gesellschaftliche und staatliche Einwirkung auf den/ die Erziehungsberechtigten und den/die Minderjährigen: Wir müssen erreichen, daß die Eheleute XXX eine bessere Einstellung zum Familienleben finden. sie sollten ihre bisherige Lebensweise gründlich überprüfen und eine Veränderung schaffen. Herr XXX sollte mehr Verantwortung der Familie gegenüber zeigen und seine Frau in allen Fragen der Erziehung und Betreuung unterstützen. 3. Festlegungen und Maßnahmen, die den/die Erziehungsberechtigten und den/die Minderjährigen betreffen: – nach ärztlicher Untersuchung besuchen XXX und XXX wieder regelmäßig den Kindergarten – für die drei Kleinen wird ab X.X.1983 ein Wochenkrippenplatz zur Verfügung gestellt, die Kinder werden pünktlich gebracht und auch wieder abgeholt – täglich erfolgt die Reinigung der Wohnung, Herr XXX gibt seiner Frau bestmögliche Unterstützung – bis zur Aufnahme in einer Wochenkrippe,werden den Kindern täglich der Aufenthalt im Freien ermöglicht – Frau XXX bemüht sich um eine Arbeitsstelle und teilt uns bis zum X.X.1982 mit,in welchem Betrieb sie eine Arbeit aufnehmen wird – beide Eltern sollten ihre bisherige Lebensweise gründlich überprüfen und die richtige Einstellung dazu finden – die Lebensordnung sollte so verändert werden, m den Kindern ein schönes und rugiges Zuhause zugeben. – Streitigkeiten sollten nicht im Beisein der Kinder erfolgen, beide Eltern bemühen sich um einen ruhigen und lieben Ton zu ihren Kindern – beide Eltern bemühen sich um einen guten Kontakt in der Hausgemeinschaft, die Hausordnung wird ordnungsgemäß erledigt – den Mitgliedern der Jugendhilfekommission,den Mitgliedern der Mütterberatung und des Referates Jugendhilfe sowie der Gemeindeschwester ist zu jeder Zeit Zutritt in ihre Wohnung zu gestatten, Hinweise sollten in jedem Falle beachtet werden. 4. Aufgaben, Festlegungen und Empfehlungen für weitere an der Durchsetzung des Erziehungsprogramms Beteiligte: – sollten diese Festlegungen von den Eltern nicht beachtet werden, oder ergeben sich neue Vorkommnisse, werden die kinder in einem Heimder Jugendhilfe eingewiesen […]“ (KA BZ 505/16, fol. 24 f.).

210

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

2. „Erziehungsprobleme bzw. Überforderung der Eltern“ Dieser häufig genannte Gegenstand von Interventionsschwerpunkten ist mit am schwierigsten zu beurteilen. Soziale Situation: Es wird dokumentiert, dass die Eltern nicht mit dem Kind zurecht kämen. Bei dieser Kategorie ist besonders schwer zu objektivieren, inwiefern die Eltern auch nach ihrer Selbsteinschätzung Probleme mit der Erziehung sahen bzw. sich selbst als überfordert betrachteten bzw. was das Ergebnis einer objektivierten Einschätzung gewesen wäre.182 Objektivierbarkeit/Belege: In einigen Akten kommen die Eltern selbst zur Jugendhilfe, um um Hilfe bei der Erziehung zu bitten. In Bezug auf den Maßnahmenschwerpunkt ist die Art und Weise, wie die Jugendhilfe von der Problematik erfährt, als starkes Indiz dafür zu werten, dass die Argumentation der Jugendhilfe bezüglich des Gegenstandes des Schwerpunktes der Maßnahmen auch mit der Selbsteinschätzung der Eltern sowie der gegebenen Situation übereinstimmt. Inwiefern die Eltern für diese Selbsteinschätzung zum Teil aber bereits schon im Vorfeld von (anderen) staatlichen Stellen beeinflusst wurden, lässt sich nicht ermitteln. In einem Fall wurde die Mutter mit ihren Erziehungsproblemen offensichtlich nicht rechtzeitig ernst genommen.183 In anderen Fällen hat die Jugendhilfe bestimmte unerfüllte Erwartungen an die Eltern; die Eltern sahen dann entweder auch selbst Mängel in der Erziehung oder aber sie bewerteten die Situation offenbar anders184. Die Bandbreite an verschiedenen Konstellationen ist hier sehr groß: von der Problematik, dass die Eltern die Kinder nicht dazu bewegen können, in die Schule zu gehen („Schulbummelei“)185 bzw. die Jugendlichen gar nicht mehr nach Hause kommen186, bis hin zu der dargestellten Situation, dass die alleinerziehende Mutter/ die Eltern die Kinder schlicht nicht mehr in die Schule bringen (wollen?)187. In einem Fall wurde als Teil der Erziehungsprobleme, neben „Schulbummelei“, negativer Lernhaltung, Versetzungsgefahr sowie Unehrlichkeit gegenüber Eltern, Lehrern, 182

Vgl. bspw. KA BZ 505/26. So exemplarisch: „[…] Frau XXX hat sich schon zu einem früheren Zeitpunkt an das Referat Jugendhilfe gewandt und gebeten bei der Erziehung ihrer Tochter mitzuwirken, da sie bereits zu diesem Zeitpunkt merkte, das sie allein der Erziehungspflicht nicht genügen kann. Ihre Bitte wurde offensichtlich nicht zu sehr ernst genommen. […]“ (KA BZ 505/228, fol. 29). 184 „Die Persönlichkeitsentwicklung des o.g. Schülers ist stark gefährdet. Alle Erziehungsmaßnahmen, die in den vergangenen Jahren durch die Schule eingeleitet wurden, zeigen keine Erfolge. Das Elternhaus nimmt nicht den gewünschten Einfluß auf die Erziehung ihres Sohnes und läßt es an Konsequenz fehlen. Wir bitten deshalb um Unterstützung druch das Referat Jugendhilfe. Anlage: ausführliche Einschätzung des Klassenleiters […]“ (KA BZ 505/ 17, fol. 2). Das Referat Jugendhilfe übernahm diese Einschätzung der Schule und erteilte u.a. Weisungen an den Minderjährigen sowie seine Eltern (vgl. KA BZ 505/15, fol. 13 ff.). 185 Vgl. KA BZ 505/228. 186 Vgl. bspw. KA BZ 505/159, fol. 14. 187 Vgl. bspw. KA BZ 505/29. 183

C. Auswertung

211

Mitschülern auch „staatsfeindliche Schmiererei“ angegeben.188 Dabei handelte es sich um einen Zettel, auf welchem stand „Tötet Honecker – Nieder mit allen Genossen – Wahlplakat – Spendet Solidarität mit Hitler – Er hat Demostriert, das schossen die Russen, die deutschen Soldaten waren unbewaffnet.“189, welchen der Jugendliche in der Schule in seiner Klasse herumgereicht hatte.190 Dies war jedoch der einzige Fall dieser Art. In diesem Fall wurden aber auch noch andere Interventionsgegenstände genannt.191 Unter dem Begriff „Erziehungsprobleme“ werden also unterschiedliche Konstellationen zusammengefasst, welche bedeuten können, dass die Eltern tatsächlich ein Problem mit ihrem Kind hatten oder überfordert waren, aber genauso indizieren können, dass lediglich die Jugendhilfe ein Problem bei den Eltern sieht; möglich ist auch, dass innerhalb eines Sachverhaltes beides der Fall ist.192 Dies herauszuarbeiten, würde ebenfalls eine tiefe Analyse anhand von präzisen Kriterien anderer Fachdisziplinen erfordern. Überschneidungen zu anderen Schwerpunkten: Die Überschneidungen besonders zur Vernachlässigung, aber auch zur Gewalttätigkeit durch die Eltern sind hier sehr groß. 3. „Gewalttätigkeit der Eltern/Misshandlung durch die Eltern gegenüber dem Kind“ Soziale Situation: In der Familie gäbe es ein Gewaltproblem, zumeist würde der Vater nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter schlagen; es wird aber auch angeführt, dass die Mutter das Kind misshandeln würde. Häufig wird beschrieben, dass Alkohol im Spiel sei.193 188

Vgl. bspw. KA BZ 505/159. Die Mutter kam unaufgefordert zur Jugendhilfe, um über das Verhalten ihres Sohnes zu berichten und machte sich laut Aktennotiz der Jugendhilfe Sorgen wegen ihres Sohnes (vgl. KA BZ 505/159, fol. 2). Später stellte die Mutter Antrag auf Einweisung in ein geschlossenes Heim, da sie auf seine Erziehung keinen Einfluss mehr hätten (vgl. KA BZ 505/159, fol. 15 ff.). 189 KA BZ 505/159, fol. 10. 190 Da dieser Fall zu einem Strafrechtsurteil führte vgl. hierzu mehr unter 4. „Strafrelevantes Verhalten des Minderjährigen.“ 191 Die Mutter beantragt selbst die Heimeinweisung für ihren Sohn (vgl. KA BZ 505/159, fol. 15 f.). Die angedrohte Freiheitsstrafe wegen „öffentlicher Herabwürdigung“ wird vollzogen, da der Jugendliche gegen seine Bewährungsauflagen verstößt (vgl. KA BZ 505/159, fol. 18). 192 In KA BZ 505/183 wurde ein Minderjähriger ins Heim eingewiesen u.a. mit der Begründung: „In Gesprächen mit den Eltern teilte man ihnen mit, daß ihr Sohn Erziehungsschwierigkeiten bereitet. Er verläßt unberechtigt seinen Arbeitsplatz, zerschlägt mutwillig Glas, bedroht Kollegen mit heißem Glas […]“ (KA BZ 505/183, fol. 24). Die Eltern bzw. v.a. der Vater war aber gegen die Heimeinweisung und legte sogar Beschwerde gegen diesen Beschluss ein, da er die angeführten Gründe als nicht erwiesen sah (vgl. KA BZ 505/183, fol. 26). Es wurde aber selten Beschwerde eingelegt, vgl. Anhang IV. Somit bestand in Bezug auf die „Erziehungsprobleme“ offensichtlich Uneinigkeit zwischen der Jugendhilfe und den Eltern. 193 Vgl. KA BZ 505/91.

212

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Objektivierbarkeit/Belege: Ab wann von Gewalt gegen das Kind gesprochen werden kann, ist eine Frage des Maßstabes (und würde nach heutigen Kriterien zum Teil vielleicht auch schon viel früher als gegeben betrachtet werden als damals). Außerdem bleibt diese Problematik in den Akten meist streitig zwischen den Eltern. Die Jugendhilfe stützt sich bei der Ermittlung daher auch auf Eindrücke ihrer eigenen Mitarbeiter, z.B. bei Hausbesuchen, aber auch auf Zeugenaussagen von Nachbarn, der Schule oder dem Arbeitgeber. Diese Quellen müssten ebenfalls nach weiteren Kriterien in Bezug auf ihre Verlässlichkeit untersucht werden. Überschneidungen zu anderen Schwerpunkten: Zudem sind die Grenzen zur Suchterkrankung eines Elternteils, zur Vernachlässigung, zur Überforderung bzw. den Erziehungsproblemen fließend, sodass die genauen Umstände nicht leicht eruierbar sind. 4. „Strafrelevantes Verhalten der Minderjährigen“ Soziale Situation: Als weiterer Anlass für Schwerpunkte von Interventionen wurde strafrelevantes Verhalten der Minderjährigen genannt.194 Objektivierbarkeit/Belege: Dass dies nicht zu den objektivierbaren Anlässen gezählt wird, überrascht vielleicht, jedoch liegt es angesichts der im ersten Kapitel gemachten Erkenntnisse nahe, auch die strafrechtliche Einordnung genauer betrachten zu wollen: das Strafrecht der DDR war sehr ideologisch ausgestaltet und beinhaltet je nach Tatbestand anscheinend ebenfalls große Auslegungsspielräume. Dies wird offensichtlich bei sehr ideologisch und erzieherisch geprägten Tatbeständen wie dem „Rowdytum“ (§ 215 StGB der DDR)195, welche DDR-spezifisch waren und hält sich vermutlich im Rahmen des Tatbestandes des Diebstahls noch in Grenzen. Jedoch wurde der Diebstahl an „sozialistische[m] Eigentum“ anders bewertet als derjenige an privatem oder persönlichem Eigentum196, sodass die Kriterien des DDR-Strafrechtes generell ebenfalls erst deduktiv untersucht werden müssten, um ihren objektiven Aussagegehalt herausstellen zu können. Dies zeigt sich gut an dem schon unter dem Punkt „Erziehungsprobleme“ genannten Fall eines Jugendlichen, welcher „staatsfeindliche Schmierereien“ in seiner Klasse herumgereicht hatte. Dieser Zettel sowie die Einstellung des Jugendlichen, welcher mit vielem in der DDR nicht einverstanden war, wurde als strafrelevant angesehen und führte zu einer Verurteilung von 1 Jahr und 6 Monaten auf Bewährung gem. §§ 220 StGB der DDR (Zum Zeitpunkt der Verurteilung 1980: Vergehen der „Öffentlichen Herab-

194

Vgl. KA BZ 505/194. § 215 StGB der DDR in seiner Fassung von 1968 wurde im Untersuchungszeitraum in den Jahren 1977 und 1979 geändert. 196 KA BZ 505/194. Im 5. Kapitel, 1. Abschnitt „Straftaten gegen das sozialistische Eigentum“ des StGB der DDR wurde dies in allen Fassungen des StGB der DDR über den Untersuchungszeitraum hinweg festgeschrieben. 195

C. Auswertung

213

würdigung“197).198 Dies war jedoch der einzige Fall dieser Art im ausgewerteten Aktenkonvolut. Überschneidungen zu anderen Schwerpunkten: Außerdem sind die Grenzen zur Vernachlässigung und den Erziehungsproblemen/der Überforderung aber auch zur Gewalttätigkeit und Suchterkrankung der Eltern faktisch extrem fließend. 5. „Suchterkrankung eines oder beider Elternteile“ Soziale Situation: Es wird angeführt, dass einer der beiden Elternteile unter Alkoholismus leiden würde, wobei zwar häufiger der Vater, aber auch die Mutter genannt wird.199 Objektivierbarkeit/Belege: Hier ergeben sich die gleichen Probleme wie bei der Gewalttätigkeit gegen das Kind; denn auch Alkoholismus ist eine Frage des Maßstabs und in den Akten oft zwischen den Eltern streitig. Überschneidungen zu anderen Schwerpunkten: Die Übergänge zu den anderen sozialen Ausgangssituationen wie Vernachlässigung, Erziehungsprobleme, etc. sind fließend. Diese Argumentation wird faktisch nie alleine genannt.200 6. „Strafrelevantes Verhalten der Eltern“ Soziale Situation: Das strafrelevante Verhalten der Eltern, welches hier als Gegenstand der Maßnahmen bezeichnet wird, besteht häufig gleichzeitig in einer laut der Jugendhilfe vorliegenden Vernachlässigung des Kindes bzw. in einem Verstoß gegen die Erziehungspflichten der Eltern. Es werden jedoch auch Delikte angeführt, welche das Kind nicht direkt betreffen, wie Diebstahl und Raub, aber auch die unterschiedlichen Tatbestandsvarianten des § 249 des StGB der DDR („Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“) wie Prostitution oder die umgangssprachlich sogenannte „Arbeitsbummelei“ (§ 249 Abs. 1 StGB der DDR201: „[…] sich aus Arbeitsscheu der Arbeit (hartnäckig) zu entziehen […]“).202 „Asoziales Verhalten“ wurde aber auch wieder in Bezug auf die Erziehungsfähigkeit als 197

In der Fassung des StGB der DDR von 1979. KA BZ 505/159, fol. 9 ff. Um dem Jugendlichen das Verwerfliche seiner Handlung aufzuzeigen und ihn für die Zukunft zur Einhaltung der gesellschaftlichen Normen zu erziehen, wurde er außerdem dazu verurteilt in seiner Freizeit unbezahlte, gemeinnützige Arbeit zu leisten und in vierteljährlichem Abstand seinem Kollektiv Bericht über die Erfüllung der Bewährungspflichten zu erstatten (vgl. KA BZ 505/159, fol. 9v). Wegen neuer Delikte in der Bewährungszeit kam es zum Strafvollzug bzw. zum stellvertretenden Aufenthalt im Jugendhaus (vgl. KA BZ 505/159, fol. 19 ff.). 199 Vgl. KA BZ 505/16. 200 „Aussprache mit Herrn XXX: – hatte Alkoholgeruch, streitet es allerdings ab […] – Alkohol spielt angeblich keine Rolle […]“ (KA BZ 505/16, fol. 17v). In der gleichen Akte wurde Vernachlässigung thematisiert. 201 Die Formulierung des § 249 StGB der DDR in der Fasung von 1968 wurde im Untersuchungszeitraum in den Jahren 1977 und 1979 geändert. 202 Vgl. KA BZ 505/162. 198

214

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

relevant betrachtet, da ein solches Verhalten die Vorbildfunktion der Eltern in Frage stellen würde.203 Kam es zum Strafvollzug, veränderte dies weiter die soziale Situation der Familie. Objektivierbarkeit/Belege: Wie schon bzgl. des strafrelevanten Verhaltens des Kindes ausgeführt, ist auch das strafrelevante Verhalten der Eltern eine Frage der Maßstäbe und der Auslegung. Gerade in den Fällen, in denen es um Vernachlässigung geht, kommen aber auch noch die Probleme der Verifizierbarkeit, welche bezüglich der Vernachlässigung schon dargestellt wurden, hinzu. Soweit mit der Vorbildfunktion der Eltern argumentiert wurde, geht es auch hier wieder um Fragen der Erziehung, sodass sich die gleichen Probleme wie bei den schon genannten Erziehungsschwierigkeiten stellen. Überschneidungen zu anderen Schwerpunkten: Die Überschneidungen zu den anderen Schwerpunkten wie Vernachlässigung, Gewalt gegen das Kind aber auch zu den Erziehungsproblemen liegen auf der Hand. 7. „Bereits andere Geschwister in der Betreuung der Jugendhilfe“ Soziale Situation: Die Situation in der Familie gestaltet sich so, dass bereits die Geschwister eines Neugeborenen in der Obhut der Jugendhilfe sind und den Eltern das Erziehungsrecht wegen schwerer Vernachlässigung o. ä. aberkannt wurde.204 Objektivierbarkeit/Belege: Genau genommen bestehen bezüglich der genannten Situation selbst keine Zweifel. Jedoch wird dafür auf eine vorherige Einschätzung der sozialen Situation in der Familie durch die Jugendhilfe angeknüpft, bei der sich in Bezug auf ihre Objektivierbarkeit die gleichen Probleme wie bei der Vernachlässigung beispielsweise stellen, da die Erziehungsfähigkeit der Eltern bzw. der alleinerziehenden Mutter angezweifelt wird. Überschneidungen zu anderen Schwerpunkten: Die Überschneidungen zur Vernachlässigung etc. sind deutlich. Weiterer Gegenstand eines Betreuungsschwerpunktes ist das Kind, welches sich ab einem gewissen Punkt der Betreuung im Heim befindet sowie alle sich hieraus ergebenden ambulanten Aufgaben für die Jugendhilfe. Jedoch soll dies hier nicht gesondert dargestellt werden, da es sich dabei nicht mehr um Anlässe für die am-

203 Vgl. dazu zum Beispiel KA BZ 505/29, KA BZ 505/30 und KA BZ 505/31. Bei diesen Akten, welche Geschwister betreffen, wurde zu bestimmten Zeitpunkten des Lebenssachverhaltes allein die „Arbeitsbummelei“ der Mutter als Risiko für die Kinder betrachtet: „[…] Einweisungsgründe [in das Kinderheim]: Frau XXX geht schon über Jahre keiner geregelten Arbeit nach. Durch die schlechte Vorbildwirkung der Mutter wachsen die Kinder in einem sehr ungünstigen Milieu auf. Durch den unregelmäßigen Schulbesuch von XXX wurden ihre Wissenslücken immer größer. Die Kinder werden durch die Kindesmutter in ihrer geistigen und sittlichen Entwicklung stark beeinträchtigt. […]“ (KA BZ 505/30, fol. 20r). Vgl. dazu auch oben bei 2. „Erziehungsprobleme bzw. Überforderung durch die Eltern“. 204 Vgl. KA BZ 505/24, KA BZ 505/25 und KA BZ 505/165.

C. Auswertung

215

bulante Tätigkeit handelt, sondern nur um die Folge stationärer Interventionen der Jugendhilfe. Innerhalb dieser Akten ergeben sich Muster und Wiederholungen, welche erst bei tieferem Aktenstudium zutage treten und sehr großflächig und komplexer Natur sind, sodass sie nicht einfach abbildbar sind. Da diese Lebenssachverhalte in der Regel sehr komplex sind und die Akten diesbezüglich sehr reich an unterschiedlichen Aspekten, wäre eine Einzelfallanalyse der Akten erforderlich, um die größeren Muster abbilden zu können. Dass jeweils viele unterschiedliche und auch sehr weit auseinander liegende soziale Situationen unter der gleichen Argumentation zusammengefasst und als Gegenstand des Interventionsschwerpunktes genannt wurden, lässt den Rückschluss zu, dass die Dokumentation in den Akten sehr transparent und offen war. Insbesondere bezüglich der Valenz der Ergebnisse bedeutet dies einen relativ sicheren Beleg dafür, dass aus der Aktenführung nicht generell wesentliche Aspekte des Verfahrens ausgenommen wurden. 4. Fazit zur qualitativen Analyse Die Konstellationen der Lebensverhältnisse der Minderjährigen bzw. ihrer Familien als tatsächliche Anlässe für Interventionen wurden nach den beiden Kriterien „Soziale Ausgangssituation in der Familie zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens“ sowie „Gegenstand des Schwerpunktes der Interventionen der Jugendhilfe“ analysiert. Da die Auswertungsmethode deduktiv aus dem Quellenmaterial heraus erarbeitet wurde, geben diese Kriterien bereits Auskunft darüber, dass sie als tatsächliche Anlässe der Interventionen betrachtet werden können. Bei der Analyse ergab sich, dass alle Akten in zwei verschiedene Artentypen unterteilbar sind: a) „Typisierbare“ Akten 53,92 % der Akten können mittels des erarbeiteten Typenmodells dargestellt werden. Die Typen symbolisieren aussagekräftig und verifizierbar den sozialhistorischen Anlass der jeweiligen Akte und bilden damit die sozialrechtsgeschichtliche Wirklichkeit in der Familie ab. Dass sich der Lebenssachverhalt in den Akten objektiv bestimmen lässt, liegt daran, dass die soziale Ausgangssituation bzw. der Gegenstand der Intervention in einem Ereignis oder in einem Konflikt oder Wunsch besteht, welcher sich unabhängig von einer Interpretation der Jugendhilfe objektiv konstituiert. Diese Art von Akten ist gekennzeichnet durch einen einfachen Lebenssachverhalt sowie formalisierte Interventionen der Jugendhilfe. Dabei ergaben sich sehr alltägliche Konflikte und Lebenssituationen, welche ideologieunabhängig in jedem Rechtssystem auftreten könnten. Die Erkenntnis, dass es auch in der DDR solch einfach strukturierte Fälle gab, welche in äußerst formalisiertem Wege abgearbeitet wurden und in welchen die

216

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Interpretation der Jugendhilfe für den Anlass der Intervention keine Bedeutung hatte, zeigt eine sehr alltägliche Seite des DDR-Rechtssystems. Die Anlässe von Interventionen konnten also auch politisch-ideologisch neutral sein und ergaben sich aus alltäglichen familiären Konflikten und objektiven Notwendigkeiten.205 Insbesondere vor dem Hintergrund einer von Skandalen geprägten Rezeption der DDR206 ist dieses Ergebnis bedeutsam. Es lässt sich jedoch erkennen, dass sich auch in diesen Fällen die Rechtsnatur bzw. die Ziele des sozialistischen Familienrechts stark auf die Art und Weise der Interventionen auswirkten und die Interventionen daher in einem ideologischen Kontext standen, auch wenn der Anlass diesbezüglich neutral war: Dies liegt jedoch in der normierten Ausgestaltung der sozialistischen Verfahrensvorschriften begründet207, welche offenbar – auch wenn dies nicht direkt untersucht wurde – in der Rechtspraxis eingehalten wurde. So wurden beispielsweise bei einem Scheidungswunsch der Eltern durch die Jugendhilfe Stellungnahmen des Arbeitskollektivs eingeholt, welcher der Ehepartner besser für das Kind sorgen könne208 und vorab versucht, die Eheprobleme der Eltern durch eine Aussprache zu lösen209, z.T. unter Anwesenheit von Arbeitskollegen. b) „Komplexe“ Akten Bei 46,08 % der Akten sind die zugrunde liegenden Lebenssachverhalte und damit auch die Interventionen der Jugendhilfe sehr komplex. Die Untersuchung dieser Akten nach den beiden verschiedenen Kriterien ergab keine übereinstimmenden Ergebnisse bzw. die Kriterien – insbesondere die soziale Ausgangssituation zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens – waren nicht immer eindeutig. Insbesondere ergab sich hier aber die Schwierigkeit, dass die in den Akten genannten sozialen Tatbestände nicht durch weitere Kriterien objektivierbar waren und damit der tatsächliche sozialhistorische Lebenssachverhalt nicht eindeutig bestimmbar war. Ein Typenmodell ist für diese Akten nicht möglich, sondern es kann nur das Spektrum dessen dargestellt werden, was die Jugendhilfe in den Akten selbst als Gegenstände ihrer Interventionsschwerpunkte bezeichnete. Jedoch stellen diese Gegenstände nur Überbegriffe dar, was im Einzelfall sehr unterschiedlich gelagerte Sachverhalte unter dem gleichen Überbegriff bedeuten kann. So konnte beispielsweise die Vernachlässigung des Kindes in einer offensichtlich schweren Vernachlässigung existenzieller Bedürfnisse bestehen oder sich aber auf die Qualität von Kleidung und Ernährung des Kindes beziehen.

205 206 207 208 209

Vgl. unter 2. Kapitel, C. II. 3. c) Typenmodell der durch die Kriterien abbildbaren Akten. Vgl. unter Einführung, II. Forschungsstand. Vgl. 1. Kapitel, B. II. 5. Verfahrens- und Formvorschriften der JHVO. Vgl. KA BZ 505/156. Vgl. KA BZ 505/101, fol. 7 und fol. 12r.

D. Ergebnis

217

Aus diesen Ergebnissen kann somit nur darauf geschlossen werden, wann die Jugendhilfe selbst Anlass zur Intervention sah, sodass sich auf diese Weise den tatsächlichen Anlässen der Interventionen genähert wurde. Dabei standen die Vernachlässigung des Kindes sowie Erziehungsprobleme im Vordergrund. Das intensive Aktenstudium lässt außerdem den Schluss zu, dass – allerdings unter der Prämisse der fraglichen Objektivität – die genannten Gegenstände der Maßnahmen anscheinend nicht völlig willkürlich waren, sondern immer einen inhaltlichen Bezug zum Vorgang der Erziehung der Kinder hatten sowie dass auch diese Verfahren offenbar – soweit dies ohne eine explizite Untersuchung erkennbar ist – eng an den einschlägigen Verfahrensvorschriften orientiert abliefen. Die Auswertung der Akten nach den erarbeiteten Kriterien wurde beendet, als sich die feststellbaren Typen sowie die genannten Gegenstände für Interventionsschwerpunkte erkennbar nur noch wiederholten, sodass die dargestellten Ergebnisse zur sozialrechtsgeschichtlichen Wirklichkeit in den Familien auch für den restlichen Aktenbestand Aussagekraft haben.

D. Ergebnis: Tatsächliche Anlässe der dokumentierten Interventionen Die quantitative Analyse ergibt, dass Indikatoren wie die Ehelichkeit des Kindes oder die Frage, ob es von einem oder zwei Elternteilen erzogen wurde, nicht signifikant sind und damit für sich alleine offensichtlich keine Anlässe für Interventionen der Jugendhilfe darstellten. Über die generelle Rechtspraxis der Interventionen konnte so aber herausgefunden werden, dass diese von sehr unterschiedlicher Dauer waren und ihre Intensität zu zwei Dritteln auf ambulante Maßnahmen beschränkt blieb. Die qualitative Analyse der Akten ergab, dass sich diese in zwei verschiedene Gruppen einteilen lassen. Für die erste Gruppe ließen sich die Anlässe für Interventionen aus dem sozialhistorischen Tatbestand der Familien mittels des folgenden Typenmodells objektiv ermitteln und abbilden: 1. Kind außerhalb der Ehe geboren und ggf. sich hieraus ergebendes Konfliktpotential 2. Eltern lassen sich scheiden 3. Konflikte zwischen den getrennt lebenden Eltern des Kindes 4. Ein Elternteil ist krank oder verstorben bzw. das Kind ist behindert 5. Minderjährigkeit der Kindsmutter bei der Geburt 6. Ein Ehepaar möchte ein Kind adoptieren

218

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Für 53,92 % der Akten sind somit die tatsächlichen Anlässe im Sinne des sozialen Tatbestands darstellbar. Die zweite Gruppe der restlichen Akten mit „komplexerem“ Sachverhalt ist nicht mit einem einfachen Typenmodell abbildbar. Für diese Akten konnten tatsächliche Anlässe nur näherungsweise bzw. indirekt erarbeitet werden: Es sind lediglich die in den Akten von der Jugendhilfe selbst genannten sozialen Gegenstände der Interventionsschwerpunkte feststellbar. Inwiefern diese auch tatsächlich als sozialhistorischer Tatbestand objektiv vorlagen, würde sich nur durch eine Palette neu erarbeiteter objektiver Kriterien unter Hinzunahme anderer Disziplinen, wie vor allem der Pädagogik und Medizin, ermitteln lassen. Jedoch wäre selbst dann bei bestimmten Lebenssachverhalten eine detaillierte Einzelfallanalyse erforderlich, um ihnen gerecht zu werden. Es konnten daher nur die Gegenstände der Interventionsschwerpunkte dargestellt werden, wie sie nach der Argumentation und Interpretation der Jugendhilfe selbst dokumentiert wurden. Jedem Gegenstand ist dabei eine unterschiedlich große Aussagekraft bezüglich der objektiven Anlässe für Interventionen zuzuschreiben. Da allerdings nach der Argumentation der Jugendhilfe die unterschiedlichsten sozialen Situationen faktisch unter diese Überbegriffe fallen können, konnte nur allgemein abgebildet werden, für welche Konflikte sich die Jugendhilfe interessierte.210 Das Ergebnis der empirischen Analyse ist damit zum einen, dass die Interventionen der Jugendhilfe zu einem großen Teil relativ unspektakuläre und politischideologisch neutrale tatsächliche Anlässe hatten, welche sich aus alltäglichen Notwendigkeiten und typischen familiären Konflikten ergaben. Die erarbeiteten Typen spiegeln diesen Befund. Zum anderen werden aber die Auswirkungen des durch die Rechtsgrundlagen normierten großen Spielraums für die Jugendhilfe erkennbar: in Ermangelung objektiver juristischer Kriterien sind bei 46,08 % der Akten die Lebenssachverhalte nicht verifizierbar, woran sich die Undurchsichtigkeit der Interventionen der Jugendhilfe hinsichtlich ihrer Anlässe zeigt. Die Bandbreite an verschiedenen sozialen Konstellationen, welche unter dem gleichen Überbegriff argumentiert wurden, ist hier denkbar groß. Unter dem Vorbehalt der Überprüfbarkeit der „komplexen“ Akten und der generellen Einschränkungen der Valenz der erzielten Ergebnisse entsteht insgesamt der Eindruck, dass bei den Anlässen für Interventionen immer das Bemühen um sachliche Erwägungen erkennbar war und sich damit kein Fall bloßer Willkür feststellen ließ. Inwiefern jedoch darüber hinaus für materielle Gerechtigkeit gesorgt wurde, war nicht Gegenstand der Untersuchung. Ebenso soll nicht bewertet werden, ob es um „politische“ oder „ideologische“ Aspekte ging bzw. darum, „deviantes“ Verhalten zu reglementieren: Der Fall des Schülers, welcher während des Unterrichts

210 Vgl. unter 2. Kapitel, C. II. 3. d) Akten mit „komplexerem“ Lebenssachverhalt bzw. nicht typisierbare Akten.

D. Ergebnis

219

einen Zettel mit den Worten „Tötet Honecker – nieder mit allen Genossen […]“211 in der Klasse herumgab, lässt auf eine hohe Wachsamkeit der Jugendhilfe für kritische Äußerungen gegenüber der politischen Klasse schließen. In diesem Fall kamen jedoch noch weitere Anlässe212 für eine Intervention der Jugendhilfe hinzu, sodass man diesem Fall nur in Form einer vertieften Einzelfallanalyse gerecht werden könnte. Dieser Fall war der einzige seiner Art unter den ausgewerteten Akten. Durch das politisch und ideologisch überformte Rechtssystem wird jedoch an vielen anderen Akten deutlich, dass es generell schwer fällt, eine Trennlinie zwischen „politischen“ und „nicht politischen“ Fällen zu ziehen. Die Ergebnisse der empirischen Analyse müssen immer im Hinblick auf die Tatsache betrachtet werden, dass es sich um einen sehr spezifischen Aktenbestand213 handelte und die Jugendhilfe quasi unter „idealen“ Bedingungen arbeitete. Es handelt sich vorliegend um die Anlässe für Interventionen der Jugendhilfe in ihrer „idealen“ Konzeption und somit um Erkenntnisse bezüglich einer besonders symbolischen, DDR-spezifischen Rechtspraxis. Das Aktenstudium im Rahmen der empirischen Untersuchung hinterlässt insgesamt weiter den Eindruck – ohne dies allerdings zum Gegenstand der Analyse gemacht zu haben – dass im Rahmen des Jungendhilfeverfahrens in HoyerswerdaNeustadt offenbar Vorschriften in Bezug auf die interne Organisation der Jugendhilfe sowie die Verfahrens- und Formvorschriften sehr genau eingehalten wurden. Die Ausformung des Jugendhilfeverfahrens insgesamt – also unabhängig von der oben dargestellten Art der Akten – und auch der gesamte Umgang der Jugendhilfe mit den Familien war durch das Verfahrensrecht214 und durch die Art und Weise der Ausführung stark sozialistisch geprägt. Dies zeigt sich, wie schon erwähnt, beispielsweise an der Ausgestaltung des Scheidungsverfahrens215, an der Art und Weise, wie die Jugendhilfe „Einschätzungen“ der Eltern bzw. Kinder vornahm216, bzw. Einschätzungen der Arbeitskollektive217 mit einbezog, sowie an der Zusammensetzung von Gremien etc. Bezüglich der Einhaltung der Verfahrensvorschriften sowie der sozialistischen Ausgestaltung des Jugendhilfeverfahrens entstand der gleiche Eindruck bei der Einsicht von Akten in Oranienburg sowie in Berlin-Mitte und auch in

211 KA BZ 505/159, fol. 10; vgl. auch unter 2. Kapitel, C. III. 3. d) Akten mit „komplexerem“ Lebenssachverhalt bzw. nicht typisierbare Akten. 212 Der Junge ist „abgängig“ (d.h. er kommt nicht nach Hause) (vgl. z.B. KA BZ 505/159, fol. 7 und fol. 12v, fol. 13), später begeht er Diebstähle (vgl. KA BZ 505/159, fol. 18). 213 Vgl. unter 2. Kapitel, A. I. 1. Aktenlage und Auswahl des Aktenbestandes. 214 Vgl. unter 1. Kapitel, B. II. 5. Verfahrens- und Formvorschriften der JHVO. 215 Vgl. unter 2. Kapitel, C. II. 3. c) Typenmodell der durch die Kriterien abbildbaren Akten, 2. Eltern lassen sich scheiden („Sorgerecht anlässlich der Scheidung“). 216 Vgl. exemplarisch die Einschätzung der „Erziehungs- und Lebensverhältnisse“ eines Minderjährigen durch die Jugendhilfe, KA BZ 505/17, fol. 27 f. 217 Vgl. bspw. KA BZ 505/101, fol. 8 oder KA BZ 505/228, fol. 21.

220

2. Kap.: Empirische Analyse von Einzelfallakten

Berlin-Prenzlauer Berg zum Vergleich218. Diese Erkenntnisse müssten aber in einer eigenen Studie bestätigt werden. Aus dem Studium der Akten ergab sich außerdem der Gesamteindruck, dass sich an Vorgehen und Verfahren der Jugendhilfe über die Jahre hinweg kaum etwas veränderte und das Verfahren auch noch kurz vor der Wende in gleicher Weise durchgeführt wurde.219 Da die Akten jedoch nicht unter diesem Aspekt analysiert wurden und zudem nicht chronologisch sortiert waren, kann dies nur ein Eindruck bleiben.

218

Kreis- und Verwaltungsarchiv des Landkreises Oberhavel, Aktenbestand des ehemaligen Rates des Kreises Oranienburg, Referat Jugendhilfe; Bezirksamt Mitte von Berlin, Aktenbestand des ehemaligen Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte, Referat Jugendhilfe sowie Bezirksamt Pankow von Berlin, Aktenbestand des ehemaligen Rates des Stadtbezirks BerlinPrenzlauer Berg, Referat Jugendhilfe. 219 Vgl. bspw. KA BZ 505/15 oder KA BZ 505/17.

Schlussbetrachtung: Rechtsbegriff des „öffentlichen“ DDR-Familienrechts Unter der schon vielfach erläuterten Prämisse, dass in der vorliegenden Arbeit lediglich eine grundlegende Tendenz und Zielrichtung in der Auslegung der Rechtsgrundlagen über den Untersuchungszeitraum hinweg dargestellt werden kann1 sowie aufgrund des während des intensiven Aktenstudiums gewonnenen Eindrucks – ohne dies allerdings explizit untersucht zu haben – dass die Durchführung des Jugendhilfeverfahrens in dieser Zeitspanne anscheinend relativ kontinuierlich blieb2, können zusammenfassend folgende Ergebnisse festgehalten werden: Das „öffentliche“ Familienrecht der DDR stellt ein eigenes Rechtssystem dar, welches auf eigenen Axiomen und Vorzeichen beruht und daher nicht nur in einzelnen Elementen vom Rechtssystem der BRD abweicht, sondern ein grundsätzlich anderes Rechtsverständnis beinhaltet, sodass es nicht mit bürgerlich-rechtlichen Systemen verglichen werden kann. Die rechtlichen Grundlagen3 der Jugendhilfe normieren einen sehr umfassenden Aufgaben- und Kompetenzbereich der Jugendhilfe, welcher die allgemeine Tätigkeit4 der Jugendhilfe in den Dienst des verrechtlichten sozialistischen Erziehungsideals5 stellt und daher sehr weit gefasst wurde. Die Verfahrens- und Formvorschriften sowie die Organisation der Jugendhilfe sind dagegen sehr präzise normiert.6 Nach genauer Analyse der genannten Rechtsquellen7 über den Untersuchungszeitraum hinweg konnten jedoch kaum klare und verbindliche Voraussetzungen, Bedingungen und Regeln in den Rechtsgrundlagen, also keine klaren Anlässe dafür festgestellt werden, dass sich die allgemeine Tätigkeit der Jugendhilfe in Form einer 1 Vgl. bspw. 1. Kapitel, A. III. 1. Entwicklung der zentralen Begrifflichkeiten im Untersuchungszeitraum. 2 Vgl. unter D. Ergebnis: Tatsächliche Anlässe der dokumentierten Interventionen. 3 Im Sinne der in dieser Arbeit verwendeten Begrifflichkeiten werden unter Rechtsgrundlagen lediglich formale sowie materielle Rechtsanweisungen verstanden, welche nicht als „Recht zur Intervention“ o. ä. verstanden werden dürfen, vgl. auch Begrifflichkeiten, unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 4 Vgl. Definition des Begriffes „Tätigkeit“ unter Einführung, III. Untersuchungsgegenstand und Begriffsklärung. 5 Vgl. § 42 Abs. 2 FGB. 6 Vgl. dazu 1. Kapitel, B. II. 5. Verfahrens- und Formvorschriften der JHVO. 7 Vgl. Quellen unter Einführung, V. Gang der Untersuchung: Quellen, Methoden und Vorgehensweise.

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Schlussbetrachtung

I n t e r v e n t i o n 8 auf eine einzelne Familie konzentriert. Vielmehr scheint es so, als wäre die Beschreibung der Rechtsgrundlagen für die Tätigkeit der Jugendhilfe aufgrund ihrer Aufgaben im Ergebnis gleichbedeutend mit den Anlässen für Interventionen: durch die Auslegung zentraler Normen für Interventionen gemäß des FGB-Kommentars – häufig weit über den Gesetzeswortlaut hinaus9 – gibt es kaum konkrete Grenzen zwischen der allgemeinen Tätigkeit der Jugendhilfe und Interventionen der Jugendhilfe.10 Die sehr weitführenden normierten Aufgaben hatten damit nicht nur propagandistische Zwecke, sondern gestalteten konkret die allgemeine Tätigkeit und sogar die Interventionen der Jugendhilfe. Damit haben die umfangreichen Ergebnisse zum normierten sozialistischen Familien- und Erziehungsverständnis11 große Bedeutung für den Untersuchungsgegenstand. Diese Erkenntnis hat umso mehr Bedeutung, als der Jugendhilfe auch durch ihre normierte Konzeption faktisch kaum Schranken gesetzt wurden12. Es fehlte insbesondere an geschützten subjektiven Elternrechten, umfassenden Rechtsmitteln und der Einbeziehung externer Experten.13 Die Normenexegese hat somit ergeben, dass die Jugendhilfe aufgrund der Rechtsgrundlagen im Rahmen ihrer sehr weit gefassten allgemeinen Aufgaben scheinbar weitestgehend selbst entscheiden konnte, wann sie tätig wurde, da die Rechtsvorschriften weit formuliert waren und es somit abstrakt nicht nachvollziehbar ist, aus welchen Anlässen heraus die Jugendhilfe intervenierte. Aus den Rechtsgrundlagen ergibt sich somit keine klare Schwelle zwischen der allgemeinen Tätigkeit der Jugendhilfe und den Interventionen der Jugendhilfe. Daher wurde der Untersuchungsgegenstand anhand einer empirischen Analyse der tatsächlichen Anlässe untersucht. Dafür wurde sich auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Familien in den Akten konzentriert, da allein die Tatsache, dass nur zu einzelnen Minderjährigen bzw. ihren Familien Einzelfallakten der Jugendhilfe angelegt wurden, belegt, dass in der Rechtspraxis sehr wohl zwischen der allge8 Die spezifische, direkte und unmittelbare Einwirkung der Jugendhilfe auf eine einzelne Familie; vgl. Begriffsbestimmung unter Einführung, sowie in der Einleitung zu den Rechtsgrundlagen unter 1. Kapitel, C. 9 Es ist nicht Gegenstand der Arbeit, dies zu bewerten. Aus den genannten Gründen wird der Kommentar zum FGB ebenfalls als Primärquelle betrachtet, vgl. unter Einführung, V. Gang der Untersuchung: Quellen, Methoden und Vorgehensweise. 10 Vgl. unter 1. Kapitel, D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung. 11 Vgl. unter 1. Kapitel, A. III. Zwischenergebnis: Normiertes sozialistisches Familienverständnis und Erziehungsideal sowie Gesellschafts- bzw. Staatsbegriff. 12 Vgl. 1. Kapitel, C. I. 2. Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe. 13 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Aussage von Mannschatz, welcher das FGB im Rückblick als durchwegs positiv bewertet und keine rechtlichen Hindernisse für die Arbeit der Jugendhilfe sieht. Dies spricht für die sehr große Gestaltungsfreiheit, welche der Jugendhilfe gelassen wurde (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I).

Schlussbetrachtung

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meinen Tätigkeit der Jugendhilfe und der Intervention in eine einzelne Familie unterschieden wurde und somit die sozialen Tatbestände der Akten als Anlässe für Interventionen gesehen werden können.14 Die empirische Analyse ergab für 53,92 % der Akten viele alltägliche, von objektiven Notwendigkeiten bestimmte Anlässe, welche aus aufgrund von Scheidung bedingten Konfliktsituationen oder aus dem Tod bzw. der Krankheit der Eltern resultierten; bei diesen Akten war zudem ein sehr schematisches und standardisiertes Vorgehen der Jugendhilfe feststellbar.15 Bei 46,08 % der Akten bleibt große Unklarheit, was tatsächlich im Einzelnen die Anlässe für die Interventionen der Jugendhilfe waren. Der durch die Rechtsgrundlagen bestehende Spielraum für die Jugendhilfe spiegelt sich somit auch in den Akten in der Weise wider, dass die Anlässe der Interventionen intransparent bleiben bzw. nicht objektivierbar sind.16 Insgesamt ergab sich jedoch aus der sorgfältigen Aktenanalyse der Eindruck, dass auch in diesen Fällen offenbar bloße Willkür ausgeschlossen werden kann.17 Es erscheint damit so, als wäre die Arbeit der Jugendhilfe insgesamt vielmehr durch Sachzwänge und tatsächlichen Handlungsbedarf, pragmatische Erwägungen sowie das Bemühen um ein faires Verfahren bestimmt gewesen, als durch Normen geleitet. Dies kann allerdings insbesondere für die „komplexen“ Akten nicht mit Sicherheit gesagt werden, da die von der Jugendhilfe genannten Sachgründe eine große Bandbreite an Möglichkeiten bot, was im Einzelnen hierunter verstanden wurde, und es aufgrund der Natur der Rechtsgrundlagen an systematischen Kriterien fehlt, um dies näher nachvollziehen zu können. Diesen Akten würde nur eine dezidierte Einzelfallanalyse gerecht werden, wobei hier das Erschwernis des Datenschutzes besonders zu beachten ist. Auch die damit eng verbundene Frage nach der materiellen Gerechtigkeit der Tätigkeit der Jugendhilfe könnte wegen des großen Spielraums für die Jugendhilfe durch die Rechtsgrundlagen nur anhand von Einzelfallanalysen18 beantwortet werden, welche den individuellen Sachverhalten gerecht werden, sowie durch die Ausarbeitung neuer objektiver Kriterien. Gleichzeitig ergibt die Art und Weise, wie das Verfahren durchgeführt wurde, in der Gesamtschau – ebenfalls ohne dies explizit zum Gegenstand der Untersuchung gemacht zu haben – den Eindruck, dass in Bezug auf die Verfahrens- und Form14 Vgl. unter anderem Einleitung in den empirischen Teil unter 2. Kapitel: Empirische Analyse von Einzelfallakten der Jugendhilfe des ehemaligen Kreises Hoyerswerda. 15 Vgl. 2. Kapitel, C. II. 3. c) Typenmodell der durch die Kriterien abbildbaren Akten. 16 Vgl. 2. Kapitel, C. II. 3. d) Akten mit „komplexerem“ Lebenssachverhalt bzw. nicht typisierbare Akten. 17 Auch dies müsste allerdings in weiteren Untersuchungen bestätigt werden. 18 Darüber hinaus wären einige Akten auch für eine tiefere Einzelfallanalyse an sich spannend. Außerdem warten noch weitere Aktenbestände auf eine erstmalige, sehr erkenntnisreiche, Auswertung, so zum Beispiel die Akten des Bezirkes Prenzlauer Berg in Berlin, in welchem es nach der Wende viele Rehabilitationsfälle von damals angeblich „devianten Jugendlichen“ gab.

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vorschriften dagegen äußerst genau die Normen eingehalten wurden. Durch diese wurde das gesamte Verfahren politisch-ideologisch überformt, selbst in seinen alltäglichsten Teilen, wie beispielsweise die Beteiligung von Nachbarn oder Arbeitskollegen an wichtigen Entscheidungen zum Erziehungsrecht19 usw. zeigt. Dieses in der Rechtspraxis offenbar bestehende Ungleichgewicht zwischen Inhalten und Verfahren bzw. die Diskrepanz zwischen inhaltlicher Vagheit der Gesetze und dem formalen Perfektionismus in der Anwendung könnte in weiteren Arbeiten als eigener Untersuchungsgegenstand dienen. Das festgestellte Ungleichgewicht kann jedoch als ein weiteres Indiz für den bereits anhand der Rechtsgrundlagen erarbeiteten spezifischen Rechtsbegriff des „öffentlichen“ DDR-Familienrechts20 gesehen werden: Auf der Basis der aus der Normenexegese und der empirischen Analyse gezogenen Erkenntnisse und im Rahmen ihrer Aussagekraft kann die These aufgestellt werden, dass es sich um einen DDR-spezifischen Rechtsbegriff des „öffentlichen“ DDR-Familien- und Jugendhilferechts mit spezifischen Funktionen handelte. Inhaltlich bzw. materiellrechtlich legte das öffentliche Familienrecht offenbar die Aufgaben und Zielstellungen der staatlichen und gesellschaftlichen Organe und somit auch der Jugendhilfe fest und schuf rechtliche Grundlagen, um den bestehenden, alltäglichen Herausforderungen für Familien unter realsozialistischen Aspekten gerecht werden zu können. Die Rechtsgrundlagen bieten hierzu eine umfangreiche Palette an Maßnahmen an, insbesondere aufgrund der Regelung der JHVO.21 Hieraus ergab sich jedoch in Ermangelung klarer Schranken, Hürden und bindender Voraussetzungen ein sehr großer Gestaltungsspielraum für die Jugendhilfe, ihre sehr umfassenden Aufgaben umzusetzen, entsprechend einer Art „Generalermächtigung“. Die Tätigkeit wurde dabei lediglich in gewissen, sehr weiten, Bahnen gehalten, was insbesondere den geringen Rechtsmittelmöglichkeiten geschuldet war.22 Da einschließlich der Aufgaben und Ziele die Gesetze jedoch denkbar weit formuliert waren und durch die Auslegung des FGB-Kommentars noch offener wurden, war der Gehalt des materiellen Rechts im Ergebnis sehr gering; weil das Recht lediglich einen weiten Rahmen für die Tätigkeit der Jugendhilfe eröffnete, kann nicht gesagt werden, ob aufgrund von oder nur „bei Gelegenheit“ der Normen gehandelt wurde.23

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Vgl. § 36 Abs. 2 und 3 JHVO. Vgl. unter 1. Kapitel, D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung. 21 Vgl. dazu 1. Kapitel, B. Rechtliche Normierung der Tätigkeit und Organisation der Jugendhilfe. 22 Vgl. dazu 1. Kapitel, C. II. Zwischenergebnis: Rechtliche Normierung von Interventionen und Bedeutung vor dem Hintergrund der generellen Konzeption der Jugendhilfe. 23 Vgl. 1. Kapitel, D. Ergebnisse der Exegese und Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung. 20

Schlussbetrachtung

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Dagegen scheint die organisatorische Funktion der Normen erheblich gewesen zu sein: Durch ausdifferenzierte Verfahrens- und Formvorschriften sowie die hierarchische Struktur der Jugendhilfe24 wurde – soweit feststellbar – ein reibungsloses Verfahren garantiert und die Zuständigkeiten unter den staatlichen Organen und auch innerhalb der Organisation der Jugendhilfe gewährleistet. Auch die ausdifferenzierten Tatbestände des FGB scheinen vor allem die Funktion gehabt zu haben, dadurch die Zuständigkeiten zwischen den gesellschaftlichen und staatlichen Organen sowie innerhalb der Jugendhilfe nach ihren Kompetenzen zuzuweisen. Im Ergebnis ergibt sich somit faktisch auch bei tieferer Beschäftigung mit der Materie, vor allem wegen der laut dem Gesetzeswortlaut klar definierten Tatbestände für Interventionen, welche zunächst als eine Ausprägung eines Grundsatzes der Erforderlichkeit erscheinen und erst bei genauerer Analyse verschwimmen, durch die Verwendung des Begriffs des Eingriffs25 sowie durch die Verfahrens- und Formvorschriften und deren scheinbar genauer Umsetzung in der Rechtspraxis in der Außenwirkung große Rechtsförmigkeit. Der Spielraum für die Organe der Jugendhilfe zur Umsetzung ihrer Aufgaben wurde jedoch nicht tatsächlich beschränkt. Es erscheint so, als würden die Normen feste Tatbestandsvoraussetzungen festlegen, im Ergebnis waren jedoch nur die Rechtsfolgen der Tatbestände sowie das Verfahren und die Organisation der Jugendhilfe wirklich konkret normiert.26 Ob diese Wirkung bewusst erzielt werden sollte, beispielsweise um den sozialen Frieden zu wahren oder gegenüber dem Westen keine Angriffsfläche zu bieten, oder ob dies lediglich ein Mangel in der Ausgestaltung der Normen war, bleibt bloße Spekulation, auch wenn die Veränderungen in der Auslegung durch den FGB-Kommentar sehr kalkuliert erscheinen27. In jedem Falle besteht hier eine Diskrepanz zu den sonst so offen propagierten sozialistischen Zielen der Normen.28 Die Untersuchung hat somit die These für einen eigenen, DDR-spezifischen Rechtsbegriff für das „öffentliche“ DDR-Familienrecht ergeben: es handelt sich offenbar um ein Kompetenzzuweisungs- und Organisationsrecht. Die Normen eröffnen für die Tätigkeit der Jugendhilfe einen weiten Aufgabenrahmen im Dienste 24 Vgl. unter 1. Kapitel, B. II. Organisation und Rechtsgrundlagen der Tätigkeit der DDRJugendhilfe. 25 Vgl. Exkurs: Erkenntnisse zum sozialistischen „Eingriffs“-Begriff und zur gesellschaftlichen Hilfe. 26 Zu dieser Einschätzung passt auch, dass Mannschatz die Bedeutung der JHVO in den Mittelpunkt stellt und nicht das FGB: die JHVO normiert vor allem die Aufgaben, Zuständigkeiten sowie das Maßnahmenspektrum zur Umsetzung der Rechtsfolgen. Die formalen und verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen der Durchführung des Verfahrens stehen also im Mittelpunkt im Gegensatz zu den inhaltlichen Tatbestandsvoraussetzungen der Interventionen (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). 27 Vgl. bspw. 1. Kapitel, A. III.1. Entwicklung der zentralen Begrifflichkeiten im Untersuchungszeitraum. 28 Vgl. 1. Kapitel, A. III. Zwischenergebnis: Normiertes sozialistisches Familienverständnis und Erziehungsideal sowie Gesellschafts- bzw. Staatsbegriff.

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der notwendigen Bewältigung von Konflikten und zur Erreichung höherer ideologischer Ziele und bieten dafür detaillierte Organisations- und Verfahrensvorschriften. Dabei ist alles so weit formuliert und so voller unbestimmter Rechtsbegriffe, dass es nur schwer möglich scheint, faktische Tätigkeit der Jugendhilfe ohne Rechtsgrundlage bzw. gar rechtswidrige Tätigkeit feststellen zu können.29 Angesichts der im ersten Kapitel herausgestellten Erkenntnis, dass es keine originären Elternrechte, sondern lediglich an diese zugestandene Aufgaben und Kompetenzen zur Erziehung der Kinder gab, erscheint der festgestellte Rechtsbegriff konsequent und es kann von einer Binnenlogik des „öffentlichen“ Familienrechts der DDR gesprochen werden. Dass keine klare Schwelle zwischen allgemeiner Tätigkeit und Interventionen existiert, passt zu der sozialistischen Vorstellung der Erziehung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sowie der Schaffung des sozialistischen Menschen auf lange Sicht, auch durch die Erziehung der Eltern zu Vorbildern für die Kinder.30 Insofern kann im weitesten Sinne von einer Kohärenz gesprochen werden. Da es in der vorliegenden Arbeit darum ging, das DDR-Typische von innen heraus Schritt für Schritt zu verstehen und zu erarbeiten31, soll dieses eigenständige Rechtssystem darüber hinaus an keinen weiteren Maßstäben gemessen werden. Könnte diese These zum Rechtsbegriff des DDR-Familienrechts durch weitere, breit angelegte Analysen erhärtet werden, so wäre sicherlich auch dessen Reflexion auf einer höheren Ebene interessant.32 Da der hier dargestellte Rechtsbegriff offenbar Grundsätzen wie der Bestimmtheit sowie der Gewaltenteilung nicht gerecht werden würde, wäre auch eine Prüfung anhand von Rechtsstaatlichkeitstheorien erkenntnisreich. Weiterhin drängt sich die Frage auf, ob die anhand des „öffentlichen“33 DDR-Familienrechts auf der Basis der ausgewählten Primärquellen getroffene Erkenntnis, dass es sich in erster Linie um ein Kompetenzzuweisungs- und Organisationsrecht handelte, auch auf andere Teile des „öffentlichen“ DDR-Rechts übertragbar sein könnte. Es wäre spannend zu untersuchen, ob dies generell als Merkmal des „öffentlichen“ DDR-Rechts erhärtbar ist. Solche Fragen sind jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit, sondern zeigen vielmehr den weiterhin dringend bestehenden Forschungsbedarf auf. Es sind zu29

Aufgrund dieser Erkenntnis ist die Aussage von Mannschatz, dass er die rechtlichen Rahmenbedingungen „als durchweg positiv“ bewertete, verständlicher (vgl. Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I). Ansonsten erstaunt eine solch positive Einschätzung der rechtlichen Rahmenbedingungen durch einen Praktiker. 30 Vgl. hier zu 1. Kapitel, A. III. Zwischenergebnis: Normiertes sozialistisches Familienverständnis und Erziehungsideal sowie Gesellschafts- bzw. Staatsbegriff. 31 Vgl. hierzu Einführung. 32 Bspw. wäre es auch interessant zu untersuchen, wie sich die erarbeiteten Erkenntnisse mit dem Gebot der Rechtssicherheit des Art. 17 Verfassung der DDR in Einklang bringen lassen bzw. was dieses Gebot nach dem Rechtsbegriff der DDR überhaupt bedeutete. 33 In der DDR existierte keine klare Dichotomie zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht.

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nächst groß angelegte weitere Untersuchungen einschließlich empirischer Forschung, bestenfalls mit den hier entwickelten Methoden, erforderlich, um die Grundlagen für eine weitere notwendige unvoreingenommene Betrachtung, Analyse und Bewertung zu schaffen34, welche dem spezifischen Recht der DDR gerecht wird.

34 Im Forschungsstand wurde aufgezeigt, dass die dafür notwendigen Grundlagen derzeit noch nicht vorhanden sind, vgl. dazu Einführung, II. Forschungsstand.

Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz am 21. 03. 2012 in Berlin Iris Riege: Prof. Mannschatz, Sie haben 2002 das Buch veröffentlicht „In eigener Sache. Autobiographische Skizzen aus meinem Berufsleben in der Jugendhilfe.“ Sie sind jetzt 84 Jahre alt und publizieren immer noch regelmäßig, man merkt Ihnen an, dass Sie mit Herzblut bei der Sache sind. Gab es ein Schlüsselereignis in Ihrer Kindheit und Jugend, welches Sie zur Pädagogik und zur Jugendhilfearbeit gebracht hat? Was würden Sie als die wichtigsten Stationen in Ihrem Leben bezeichnen? Prof. Dr. Mannschatz: Der Titel des autobiographischen Buches war tatsächlich ursprünglich „In eigener Sache“; aber da sich meine Ausführungen hauptsächlich auf mein Berufsleben bezogen, änderte der Verlag die Überschrift in „Jugendhilfe in der DDR“. Wenn Sie nach wichtigen Stationen in meinem Leben fragen, wären für meinen Jahrgang 1927 vielfältige Umstände aufzuführen. Ich besuchte in Dresden das Gymnasium, unsere Schulklasse wurde vor Abiturabschluß als Flakhelfer eingezogen und kaserniert. Es folgten wenige Wochen beim “Arbeitsdienst“, dann (im Januar 1945) Einberufung als Soldat. Dem Fronteinsatz bin ich nur durch glückliche Umstände entgangen. Als ich trampend Dresden wieder erreichte, war ich 17 Jahre alt. An der wiedereröffneten Schule legte ich Ostern 1947 das Abitur ab. Ich engagierte mich im örtlichen antifaschistischen Jugendausschuß, der dann in die FDJ aufgenommen wurde. Von dort aus wurde ich in der Stadtverwaltung als Jugendreferent eingesetzt und wenig später als Jugendamtsleiter. Das war insofern auch eine Begegnung mit Heimerziehung, da zum Verantwortungsbereich mehrere große Heime gehörten. Nach Besuch der Verwaltungsakademie in Forst Zinna fand ich mich wieder im Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut in Berlin als Referent für Heimerziehung, und wenig später (1951) als Abteilungsleiter für Jugendhilfe und Heimerziehung im Ministerium für Volksbildung. Diese Funktion habe ich über einen Zeitraum von 25 Jahren ausgeübt; mit Unterbrechungen durch eine Praxistätigkeit in einem Jugendwerkhof, und der wis-

Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz

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senschaftlichen Aspirantur mit Abschluß Promotion (1957). Neben der Tätigkeit im Ministerium habe ich mich habilitiert (1966) und von diesem Zeitpunkt an als nebenamtlicher Hochschullehrer wöchentlich Vorlesungen an der Humboldt-Universität gehalten. 1977 bin ich aus dem Ministerium ausgeschieden und war Ordentlicher Professor an der Universität; bis zu meiner Emeritierung 1991; sieben Jahre davon als Direktor der Sektion Pädagogik. Das ist im Überblick mein beruflicher Lebenslauf, der sich immer im Dunstkreis von Jugendhilfe und Heimerziehung bewegt hat; auch in Übereinstimmung mit meiner familiären Herkunft. Mein Vater war Lehrer. Iris Riege: Können Sie kurz erklären, warum die Jugendhilfe dem Ministerium für Volksbildung unterstellt war? Prof. Dr. Mannschatz: Bis zu ihrer Auflösung (etwa 1950) umfaßten die Jugendämter die Bereiche Jugendförderung, Jugendschutz und Jugendbetreuung. Für Jugendförderung waren dann die „Ämter für Jugendfragen“ zuständig, die auf allen Ebenen den jeweiligen Räten (Ministerrat, Bezirksräte, Kreisräte) als Stabsorgane zugeordnet waren. Der Grund dafür bestand darin, Jugendförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe durchzusetzen, alle staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche einzubinden; und nicht einem Ressort zu überlassen. Der verbliebene Dienstbereich Jugendbetreuung, der sich mit Einzelfällen zu befassen hatte (vergleichbar dem heutigen Allgemeinen Sozialen Dienst) wurde der Volksbildung unter der Bezeichnung Jugendhilfe und Heimerziehung zugeordnet, unter der Auffassung, daß es sich dabei um erzieherische Probleme (Erziehungshilfe; oder Hilfen zur Erziehung) handelt. Das war richtig, hauptsächlich wegen des möglichen engen Kontaktes zum Schulbereich (auf der örtlichen Ebene und auch im Ministerium); sowie der Einführung pädagogischer Ausbildung der Jugendfürsorger und Heimerzieher, den Lehrern vergleichbar. Eine gewisse Sonderstellung der Abteilung innerhalb des Ministeriums ergab sich daraus aber allemal; mit der Folge, daß uns die Konzeptionalität für Jugendhilfe und Heimerziehung weitgehend in eigener Regie überlassen wurde. Das ist auch der Grund dafür, daß ich als Person nach der Wende so stark in den Blickpunkt geraten bin. Iris Riege: Sind Sie noch politisch aktiv, zum Beispiel in der Linken, wie es in dem WikipediaArtikel zu Ihrer Person unter dem Abschnitt „Nach 1990“ heißt?

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Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz

Prof. Dr. Mannschatz: Ich bin 1946 in die SED eingetreten und bin in ihren Nachfolgeorganisationen nach der Wende Mitglied geblieben; jetzt also in der LINKEN. Dem Trend, in schwierigen Zeiten die Partei zu verlassen, bin ich nicht gefolgt. Die Behauptung allerdings, daß ich die PDS bildungspolitisch „beraten“ hätte, stimmt nicht. Ich habe nach der Wende meine ersten Schriften in einer BroschürenReihe der PDS veröffentlicht, weil mir eine andere Möglichkeit damals nicht zur Verfügung stand. Dafür bin ich dankbar. Weder habe ich eine Funktion in der Partei inne, noch bin ich Mitglied eines Beratungsgremiums. Sie müssen nicht alles glauben, was in WIKEPEDIA steht. Iris Riege: Sie haben ca. 250 Bücher veröffentlicht; allein 31 nach Ihrer Emeritierung. Welche Bücher würden Sie selbst aus dem reichen Schatz Ihrer Publikationen als die essentiellen herausstellen? Prof. Dr. Mannschatz: Nun, das waren nicht alles Bücher, sondern auch Broschüren, vervielfältigte Manuskripte und Artikel; und verteilt über einen Zeitraum von 40 Jahren. Von den Büchern nach der Wende sind mir besonders wichtig „Jugendhilfe als DDR-Nachlaß“ (1994), „Erziehung zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ (1997 – das war mein Nachdenken über erziehungspolitische und erziehungswissenschaftliche Fragen), „Autobiographische Skizzen“ (2002), „Gemeinsame Aufgabenbewältigung als Medium sozialpädagogischer Tätigkeit“ (2003), „Heimerziehung – Zum Problemhintergrund einer umstrittenen Betreuungsform“ (2007). Außerdem Beiträge in Sammelbänden, welche zu dieser Zeit alle nach Aufforderung von Westkollegen entstanden sind. Meine Veröffentlichungsliste nach der Wende weist etwa 40 Positionen auf (ohne unveröffentlichte Manuskripte). Iris Riege: Wie sah der Alltag eines Referats der Jugendhilfe aus? Was waren die häufigsten Tätigkeiten und Probleme; wie lief ein normaler Arbeitstag ab? Prof. Dr. Mannschatz: Ich empfehle Ihnen das Buch „Iris und ihre Tochter“ von Hannelore Rabe. Hannelore Rabe war bei mir Studentin und hat in der Jugendhilfe gearbeitet. Das Buch ist sehr repräsentativ und authentisch.

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Es ging um die Bearbeitung von Einzelfällen, wie schon gesagt. Allerdings mit der Besonderheit, daß in verordnungsgemäß festgelegten Fällen der persönliche Kontakt mit den Familien und Jugendlichen von den Jugendhelfern in den Gemeinden aufgenommen und bestimmte Entscheidungen von den Jugendhilfe-Kommissionen dortselbst getroffen wurden. Für bestimmte Entscheidungen war die Kreisebene zuständig (Jugendhilfeausschuß). Die Tätigkeit der hauptamtlichen Jugendfürsorger im Kreisreferat bestand also in Beratung, Unterstützung, auch Schulung und Weiterbildung der Jugendhelfer sowie Direktbearbeitung von Einzelfällen vor Ort, in Vorbereitung von Entscheidungen im Jugendhilfeausschuß. In der DDR existierte ein umfassend-breites Netz Ehrenamtlicher Tätigkeit. Bis zur Wende umfaßte es 25.000 bis 30.000 Jugendhelfer. Diese hatten sich freiwillig und unbezahlt zur Verfügung gestellt und waren in der Regel über Jahrzehnte tätig. Es waren Arbeiter, Genossenschaftsbauern, Lehrer, Kindergärtnerinnen, medizinisches Personal. Für diese Art ehrenamtlicher Mitarbeit haben sich nach der Wende westdeutsche Kollegen sehr stark interessiert. Allerdings wurde es von der letzten DDR-Regierung aufgelöst; unter der irrsinnigen Begründung, daß es von der Stasi zur Bespitzelung von Familien benutzt worden wäre. An dieser Stelle will ich eine Bemerkung einfügen darüber, wie sich „Bearbeitung von Einzelfällen“ für uns darstellte. Wir mußten uns nicht auf „ressortmäßige“ Betreuung einschränken. Vielmehr waren unsere Mitarbeiter in der glücklichen Lage, sich auf die in der DDR gültige Orientierung auf gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Kindeswohl zu berufen und diesbezügliche Aktivitäten dem „Regelsystem“ abzuverlangen, sie in Anspruch zu nehmen, sich auf sie stützen zu können. Daraus eröffnete sich eine breite Palette von „Hilfen zur Erziehung“. Als Arbeitsprinzip der Jugendhilfe galt die „Organisierung des gesellschaftlichen Einflusses“. Iris Riege: Wie wurde das Referat Jugendhilfe in den häufigsten Fällen auf Probleme in den Familien aufmerksam? Prof. Dr. Mannschatz: Es gab Hinweise von Lehrern, Kindergärtnerinnen, Mitarbeitern des Gesundheitswesens; von Arbeitskollegen der Eltern; auch von Nachbarn, wobei diese von den Jugendhelfern in den Gemeinden sorgfältig geprüft wurden. Mit dem Gesundheitswesen gab es eine diesbezügliche Vereinbarung auf der zentralen Ebene.

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Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz

Ein „System der Überwachung“ von Familien gab es selbstverständlich nicht, wie nachträglich zuweilen unterstellt wurde. Iris Riege: Wie viele Familien hatte ein Jugendfürsorger bzw. Jugendhelfer durchschnittlich zu betreuen? Prof. Dr. Mannschatz: Das ist nicht genau zu ermitteln. Es gab 1.200 – 1.500 hauptamtliche Jugendfürsorger; „verteilt“ auf etwa 250 Kreise unterschiedlicher Größe; aber – wie gesagt – in „Doppelfunktion“. Einzelfallbearbeitung erfolgte hauptsächlich durch die Jugendhelfer; nach der letzten Statistik 30.000. Iris Riege: Die Inkraftsetzung des Familiengesetzbuches von 1965 bzw. der Jugendhilfeverordnung von 1966 fallen in Ihre Zeit am Ministerium für Volksbildung der DDR. Wie haben Sie selbst am FGB oder an der JHVO mitgewirkt bzw. an den späteren Änderungen? Prof. Dr. Mannschatz: Ich war als Vertreter der Volksbildung Mitglied der Zentralen Kommission zur Ausarbeitung des FGB und habe auch publizistisch und als Diskussionspartner an der umfassenden öffentlichen Aussprache teilgenommen, welche dem Inkrafttreten des FGB vorausgegangen ist. Für die Jugendhilfeverordnung war das Ministerium für Volksbildung federführend; in enger Zusammenarbeit mit den Rechtspflegeorganen sowie mit Juristen an der Humboldt-Universität. Iris Riege: Sie schreiben in „Jugendhilfe als DDR-Nachlass“, dass mit dem FGB und der JHVO von 1965/66 erstmals die Aufgaben der Jugendhilfe festgelegt waren. 1970/71 sei die Funktionsbestimmung der Jugendhilfe wieder auf die Tagesordnung gekommen, vor allem zur „Verhinderung und Überwindung des Zurückbleibens von Kindern“. Die Legitimierung der Jugendhilfe in ihrer Existenz und Substanz sei dann erreicht worden, allerdings zum Preis einer zunehmend schulpolitischen Überformung … Prof. Dr. Mannschatz: Für den ersten Teil Ihrer Frage trifft die Aussage zu. Diese Rechtsvorschiften haben das Profil der Jugendhilfe bis zur Wende unverändert bestimmt.

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Was die Bemerkung zu 1970/71 anbelangt, kommt die Erziehungspolitik der Volksbildung ins Spiel. Diese hat naturgemäß im Laufe der Jahre Akzente erfahren, den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und Aufgabenstellungen gemäß. Die Jugendhilfe als Bestandteil der Volksbildung mußte (und wollte) sich darauf einstellen. In dem von Ihnen genannten Buch habe ich das am Beispiel der Orientierung auf „Verhinderung und Überwindung des Zurückbleibens von Kindern“ dargestellt. Wir „klinkten“ uns als Jugendhilfe in diese richtige und begrüßenswerte Orientierung ein; in der „kühnen“ Variante, daß nicht wir den Schulen bei der Verwirklichung helfen, sondern diese uns unterstützen; über die Verhinderung des Zurückbleibens im Unterricht hinaus; unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung für das Wohl der Kinder. Diese Orientierung lag auf der Linie der Organisierung des gesellschaftlichen Einflusses, die ich weiter oben beschrieben habe. Auf dieser Linie stellten sich Erfolge ein; in Gestalt einer engen Zusammenarbeit mit den Schulen. Aber es gab nach wie vor Abschiebetendenzen auf die Jugendhilfe; sogar zunehmend im Zusammenhang mit der Erstarrung gesellschaftlicher Aktivität in der DDR in der Endphase. Insofern ging die Rede von einer „schulpolitischen Überformung“ der Jugendhilfe. Iris Riege: Wie würden Sie die rechtlichen Rahmenbedingungen rückblickend bewerten: haben sich diese als zweckdienlich erwiesen oder gab es auch rechtliche Hindernisse, die Ihrer Einschätzung nach die Arbeit der Jugendhilfe eher behindert haben? Prof. Dr. Mannschatz: Ich bewerte sie im Rückblick als durchweg positiv. Das FGB ist in der DDR auch aus der Bevölkerung heraus nie kritisiert worden; und auch international hat es nach meiner Kenntnis Anerkennung gefunden. Für die Jugendhilfe war es ein guter Rahmen, in dem sie ihre angestammten Aufgaben verwirklichen konnte. Iris Riege: Verglichen mit heute hatte die Jugendhilfe eine große Zuständigkeit und Verantwortung, Heimeinweisungen waren ohne Gerichtsbeschluss möglich. Hatte es etwas mit der sozialistischen Arbeitsweise zu tun, dass man oft lieber auf ein Gremium vertraute? Prof. Dr. Mannschatz: Was die „Zuständigkeit“ anbelangt, kann man nicht sagen, daß sie überdehnt war. Unser Bereich war die sozialpädagogische Familienhilfe, wenn man so will (vgl.

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Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz

„sozialpädagogische Aufgabenstellung“). Nach dem KJHG umfaßt die Zuständigkeit der Jugendämter weitere Bereiche. Was die „Verantwortung“ betrifft, stimmt die Aussage in Ihrer Frage. Mit der Jugendhilfeverordnung waren wir bemüht, Analyse, Entscheidung über Maßnahmen und deren Verwirklichung durch begleitende Erziehungshilfe in einer Hand zu vereinigen; und zwar in einer Verwaltungsbehörde, die der Volksbildung zugeordnet ist; und außerdem der Jugendhilfe die Möglichkeit und Kompetenz einzuräumen, im gegebenen Falle in das „Vorfeld“ der Aktivitäten der Regelsysteme abfordernd und korrigierend einzuwirken. zu.

Aus diesem Spektrum wuchs der Jugendhilfe große Vollmacht und Verantwortung

Von der rechtlichen Absicherung her waren dafür klare und eindeutige Festlegungen erforderlich. Diese sind in der Jugendhilfeverordnung enthalten; als rechtsförmige Bestimmungen für Entscheidungsbefugnisse und Verfahrensweisen; auch für den Rechtsmittelzug und die Auswahl und Bestätigung der Mitglieder der Gremien. Die Entscheidungen wurden in Kollegialorganen getroffen. Mit einer ominösen „sozialistischen Arbeitsweise“ hatte das nichts zu tun. Vielmehr sollte gesichert werden, daß es nicht zu „einsamen“ Festlegungen kommt, sondern mehrere Personen, und zwar auch solche, die mit dem Einzelfall praktisch befaßt waren, in die Abwägung und Entscheidungen einbezogen wurden. Iris Riege: Nach den Fällen schlimmer Vernachlässigung von Kindern in den letzten Jahren bis hin zu deren Tod unter den Augen des Jugendamtes: Würden Sie sagen, das Jugendamt hat in diesen Fällen versagt? Wären Sie für mehr Kontrollen, zum Beispiel – wie oft gefordert und in mehreren Bundesländern schon eingeführt – für verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen und sehen Sie die Aufgaben der Jugendhilfe nicht mehr nur in der Erziehungshilfe, sondern auch in der Prävention, eventuell sogar im Rahmen einer „großen Lösung“, die auch Menschen mit Behinderung einschließt? Prof. Dr. Mannschatz: Das ist ein Bündel von Fragen; zudem in die Jetzt-Zeit reichend, über die ich nur begrenzt Einblick habe und in der ich keine Verantwortung trage. Ich beantworte sie nicht aus einem Vergleich DDR und Gegenwart heraus, schon gar nicht mit der hintergründigen Absicht, Wertungen zu treffen. Das liegt mir fern. Ich achte als Insider der Jugendhilfe die engagierte Arbeit der Kollegen in beiden Zeitepochen sehr hoch; und dieser Einsatz verdient es nicht, für politische Gegenüberstellungen mißbraucht zu werden.

Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz

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Die Zunahme von Fällen schlimmer Vernachlässigung von Kindern in Familien ist erschreckend; noch mehr, daß sie zum Teil „unter den Augen“ der Jugendämter stattfinden. Von einem Versagen würde ich nicht sprechen. Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, daß die Jugendämter auf Grund personeller Unterbesetzung ihre Aufgaben arbeitsmäßig nur schwer bewältigen können. Zudem sind sie dadurch verunsichert, daß an ihnen bei Vorkommnissen von Politik und Medien postwendend massive Kritik geübt wird; und zwar wahlweise in der Richtung, daß sie zu früh oder zu spät eingegriffen hätten. Unter diesem Druck kann es zu bedauerlichen Fehlleistungen kommen. Sie sind nicht entschuldbar, sollten aber nicht in jedem Falle als subjektives Versagen gewertet werden. Eher ist nötig, über personelle und finanzielle Ausstattung der Jugendämter nachzudenken. Nachzudenken wäre auch über die Aufgabenstellung für die Jugendhilfe. Auch wir in der DDR hatten uns zur Wehr zu setzen gegen die verfehlte Auffassung, daß Jugendhilfe zuständig wäre quasi für alles, was im Kinder- und Jugendbereich an Schwierigkeiten auftrat; trotz der propagierten und festgelegten gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Gegenwärtig beobachte ich die Tendenz, die Jugendhilfe quasi zu einer „Superbehörde“ aufzublasen. Neben Erziehungshilfe soll sie für Kinderschutz und Prävention zuständig sein, im Rahmen der „großen Lösung“ den Behindertenbereich übernehmen. Ich halte das nicht für richtig, wenn Sie mich fragen. Eine andere Lösung sollte angedacht werden. Iris Riege: In Westdeutschland waren die Einführung der Antibabypille und die Legalisierung der Abtreibung – meist aus christlichen und moralischen Erwägungen heraus – heftig umstritten. Gab es in der DDR eine vergleichbar emotionale Debatte? Wie wurden Antibabypille und Abtreibung familienpolitisch bewertet? Prof. Dr. Mannschatz: Wenn ich mich als Bürger der DDR richtig erinnere, hat diese Frage in der Debatte zum Familiengesetzbuch eine Rolle gespielt, nicht aber so emotional aufgeladen wie in Westdeutschland. Familienpolitisch gingen wir davon aus, daß diesbezüglich jede Frau das unveräußerliche Recht hat, über sich selbst zu bestimmen. Diese Auffassung wurde von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung geteilt. Iris Riege: Wie war die Einstellung der Jugendhilfe bezüglich offensichtlich überforderten Müttern mit vielen Kindern? Wurde solchen Frauen die Verhütung empfohlen, um nicht noch mehr Kinder zu bekommen?

236

Anhang I: Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz

Prof. Dr. Mannschatz: Hinsichtlich der Einstellung der Jugendhilfe gab es in dieser Richtung selbstverständlich keine Empfehlung. Wir waren weit davon entfernt, mit staatlichen Vorgaben bis in das Schlafzimmer der Bürger vorzudringen. Ob im vertrauten Gespräch von Mitarbeitern der Jugendhilfe mit den betreffenden Frauen diese Frage eine Rolle gespielt hat, und welche Empfehlungen dabei ausgesprochen wurden, läßt sich selbstverständlich nicht ermitteln. MMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMM (Nachträglich autorisiert durch Prof. Dr. Eberhard Mannschatz)

Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG Auszüge aus der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 (GBl. I S. 199) Präambel der Verfassung der DDR „In Fortsetzung der revolutionären Tradition der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus hat das Volk der Deutschen Demokratischen Republik in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche sein Recht auf sozial-ökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Erfüllt von dem Willen, seine Geschicke frei zu bestimmen, unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens, der Demokratie und der Völkerfreundschaft zu gehen, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diese sozialistische Verfassung gegeben.“ Art. 1 Verfassung der DDR „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Art. 38 Verfassung der DDR Abs. 1 „Ehe, Familie und Mutterschaft stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Ehe und Familie.“ Abs. 2 „Dieses Recht wird durch die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe und Familie, durch die gesellschaftliche und staatliche Unterstützung der Bürger bei der Festigung und Entwicklung ihrer Ehe und Familie gewährleistet. Kinderreichen Familien, alleinstehenden Müttern und Vätern gilt die Fürsorge und Unterstützung des sozialistischen Staates durch besondere Maßnahmen.“

238

Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG

Abs. 3 „Mutter und Kind genießen den besonderen Schutz des sozialistischen Staates. Schwangerschaftsurlaub, spezielle medizinische Betreuung, materielle und finanzielle Unterstützung bei Geburten und Kindergeld werden gewährt.“ Abs. 4 „Es ist das Recht und die vornehmste Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und gebildeten Menschen, zu staatsbewußten Bürgern zu erziehen. Die Eltern haben Anspruch auf ein enges und vertrauensvolles Zusammenwirken mit den gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen.“

Auszüge aus dem Familiengesetzbuch der DDR in der Fassung vom 20. Dezember 1965 (GBl. I Nr. 8 S. 199) Präambel des FGB Abs. 1 „Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft. Sie beruht auf der für das Leben geschlossenen Ehe und auf den besonders engen Bindungen, die sich aus den Gefühlsbeziehungen zwischen Mann und Frau und den Beziehungen gegenseitiger Liebe, Achtung und gegenseitigen Vertrauens zwischen allen Familienmitgliedern ergeben.“ Abs. 2 „Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik sind die feste Grundlage für die sozial gesicherte Existenz der Familie. Mit dem Aufbau des Sozialismus entstanden gesellschaftliche Bedingungen, die dazu führen, die Familienbeziehungen von den Entstellungen und Verzerrungen zu befreien, die durch die Ausbeutung des Menschen, die gesellschaftliche und rechtliche Herabsetzung der Frau, durch materielle Unsicherheit und andere Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft bedingt waren.“ Abs. 3 „Mit der sozialistischen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik entstehen Familienbeziehungen neuer Art. […] Harmonische Beziehungen in Ehe und Familie haben einen großen Einfluß auf die Charakterbildung der heranwachsenden Generation und das persönliche Glück und die Lebens- und Arbeitsfreude des Menschen.“ Abs. 4 „In der Deutschen Demokratischen Republik hat die Familie große gesellschaftliche Bedeutung. Sie entwickelt sich zu einer Gemeinschaft, in der die Fähigkeiten und Eigenschaften Unterstützung und Förderung finden, die das Verhalten des Menschen als Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft bestimmen.“ Abs. 5 „Es ist die Aufgabe des Familiengesetzbuches, die Entwicklung der Familienbeziehungen in der sozialistischen Gesellschaft zu fördern. Das Familiengesetzbuch soll allen Bürgern, besonders auch den jungen Menschen, helfen, ihr Familienleben bewußt zu gestalten. Es

Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG

239

dient dem Schutz der Ehe und Familie und dem Rechte jedes einzelnen Mitgliedes der Familiengemeinschaft. Es soll Familienkonflikten vorbeugen und auftretende Konflikte überwinden helfen. Es regelt in diesem Zusammenhang Pflichten und Aufgaben der staatlichen Organe und Institutionen.“ Abs. 6 „Das Familiengesetzbuch lenkt die Aufmerksamkeit der Bürger, der sozialistischen Kollektive und der gesellschaftlichen Organisationen auf die große persönliche und gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie und auf die Aufgaben jedes einzelnen und der gesamten Gesellschaft, zum Schutz und zur Entwicklung jeder Familie beizutragen.“ § 1 FGB Abs. 1 „Der sozialistische Staat schützt und fördert Ehe und Familie. Staat und Gesellschaft nehmen durch vielfältige Maßnahmen darauf Einfluß, daß die mit der Geburt, Erziehung und Betreuung der Kinder in der Familie verbundenen Leistungen anerkannt und gewürdigt werden. Staat und Gesellschaft tragen zur Festigung der Beziehungen zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern sowie zur Entwicklung der Familie bei. Die Bürger haben ein Recht auf staatlichen Schutz ihrer Ehe und Familie, auf Achtung der ehelichen und familiären Bindungen.“ Abs. 2 „Die sozialistische Gesellschaft erwartet von allen Bürgern ein verantwortungsvolles Verhalten zur Ehe und Familie.“ § 2 FGB „Die Gleichberechtigung von Mann und Frau bestimmt entscheidend den Charakter der Familie in der sozialistischen Gesellschaft. Sie verpflichtet die Ehegatten, ihre Beziehungen zueinander so zu gestalten, daß beide das Recht auf Entfaltung ihrer Fähigkeiten zum eigenen und gesellschaftlichen Nutzen voll wahrnehmen können. Sie erfordert zugleich, die Persönlichkeit des anderen zu respektieren und ihn bei der Entwicklung seiner Fähigkeiten zu unterstützen.“ § 3 FGB Abs. 1 „Die Bürger gestalten ihre familiären Bindungen so, daß sie die Entwicklung aller Familienmitglieder fördern. Es ist die vornehmste Aufgabe der Eltern, ihre Kinder in vertrauensvollem Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und allseitig gebildeten Menschen, zu aktiven Erbauern des Sozialismus zu erziehen.“ Abs. 2 „Die Erziehung der Kinder ist zugleich Aufgabe und Anliegen der gesamten Gesellschaft. Deshalb gewährleistet der sozialistische Staat durch seine Einrichtungen und Maßnahmen, daß die Eltern ihre Rechte und Pflichten bei der Erziehung ihrer Kinder ausüben können.

240

Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG

Besondere Aufmerksamkeit gilt der Hilfe für kinderreiche Familien und für alleinstehende Mütter und Väter.“ § 4 FGB Abs. 1 „Die staatlichen Organe, insbesondere die Organe der Volksbildung, der Jugendhilfe [und des Gesundheits- und Sozialwesens, und die Organe der Rechtspflege] sind verpflichtet, in geeigneter Weise die Ehegatten bei der Entwicklung ihrer Familienbeziehungen zu unterstützen und den Eltern bei der Erziehung der Kinder zu helfen. Dabei sollen die gesellschaftlichen Organisationen, Arbeitskollektive und Elternbeiräte entsprechend ihren Möglichkeiten mitwirken.“ Abs. 2 „Durch die staatlichen Organe sind in Zusammenarbeit mit den gesellschaftlichen Organisationen Ehe- und Familienberatungsstellen einzurichten, in denen lebenserfahrene, sachkundige Bürger denen Rat und Hilfe gewähren, die vor einer Eheschließung stehen oder sich sonst in Familienangelegenheiten an sie wenden. Die Mitarbeiter der Ehe- und Familienberatungsstellen sind zur vertraulichen Behandlung der ihnen vorgetragenen Anliegen verpflichtet.“ § 42 FGB Abs. 1 „Die Erziehung der Kinder ist eine bedeutende staatsbürgerliche Aufgabe der Eltern, die dafür staatliche und gesellschaftliche Anerkennung und Würdigung finden.“ Abs. 2 „Das Ziel der Erziehung der Kinder ist, sie zu geistig und moralisch hochstehenden und körperlich gesunden Persönlichkeiten heranzubilden, die die gesellschaftliche Entwicklung bewußt mitgestalten. Durch verantwortungsbewußte Erfüllung ihrer Erziehungspflichten, durch eigenes Vorbild und durch übereinstimmende Haltung gegenüber den Kindern erziehen die Eltern ihre Kinder zur sozialistischen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus.“ Abs. 3 „Die Erziehung der Kinder ist untrennbar mit der Herausbildung solcher Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und der Achtung vor dem Alter verbunden. Die Erziehung der Kinder umfaßt auch ihre Vorbereitung zu einem späteren verantwortungsbewußten Verhalten zur Ehe und Familie.“ Abs. 4 „Die Eltern sollen bei der Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben und zur Gewährleistung einer einheitlichen Erziehung eng und vertrauensvoll mit der Schule, anderen Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen, mit der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ und der Freien Deutschen Jugend zusammenarbeiten und diese unterstützen.“

Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG

241

§ 43 FGB „Zu den Rechten und Pflichten der Eltern gehören auch die Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes, seine Betreuung, seine Beaufsichtigung, seine rechtliche Vertretung, das Recht, seinen Aufenthalt zu bestimmen, die Pflicht, für seinen Unterhalt zu sorgen und erforderlichenfalls Vermögensangelegenheiten des Kindes in seinem Interesse zu regeln. Die Eltern können Rechte des Kindes im eigenen Namen geltend machen.“ § 44 FGB „Die staatlichen Organe, insbesondere die Organe der Volksbildung, des Gesundheits- und Sozialwesens, sowie die gesellschaftlichen Organisationen, die Arbeitskollektive, die Elternbeiräte und Hausgemeinschaften haben die Aufgabe, die Eltern bei der Erziehung der Kinder zu unterstützen.“ § 49 FGB Abs. 1 „Die Verantwortung der Eltern für die moralische, geistige und physische Entwicklung ihres Kindes stellt an sie hohe Anforderungen. Sie sollen danach streben, ihre für die Erziehung und Pflege der Kinder erforderlichen Kenntnisse zu erweitern und die dafür vorgesehenen staatlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen.“ Abs. 2 „Bei Schwierigkeiten in der Erziehung ihrer Kinder können sich die Eltern vertrauensvoll an die Einrichtungen der Vorschulerziehung und des Gesundheits- und Sozialwesens, die Schule, den Elternbeirat, die Organe der Jugendhilfe, die gesellschaftlichen Organisationen und Kollektive oder die Ehe- und Familienberatungsstellen wenden und deren Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen.“ § 50 FGB „Sind die Erziehung und Entwicklung oder die Gesundheit des Kindes gefährdet und auch bei gesellschaftlicher Unterstützung der Eltern nicht gesichert, hat das Organ der Jugendhilfe nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen Maßnahmen zu treffen. Das gilt auch dann, wenn wirtschaftliche Interessen des Kindes gefährdet sind. Das Organ der Jugendhilfe kann den Eltern oder dem Kind Pflichten auferlegen oder Maßnahmen zu seiner Erziehung treffen, die zeitweilig auch außerhalb des Elternhauses durchgeführt werden können. Das Organ der Jugendhilfe kann das Kind in einzelnen Angelegenheiten selbst vertreten oder zur Wahrnehmung dieser Angelegenheiten einen Pfleger bestellen.“

242

Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG Auszüge aus der Jugendhilfeverordnung in der Fassung vom 3. März 1966 (BGl. II Nr. 62 S. 363)

§ 1 JHVO Abs. 1 „Jugendhilfe umfasst die rechtzeitige korrigierende Einflußnahme bei Anzeichen der sozialen Fehlentwicklung und die Verhütung und Beseitigung der Vernachlässigung und Aufsichtslosigkeit von Kindern und Jugendlichen, die vorbeugende Bekämpfung der Jugendkriminalität, die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Minderjährigen sowie die Sorge für elternlose und familiengelöste Kinder und Jugendliche.“ Abs. 4 „Die Organe der Jugendhilfe werden tätig, wenn die Erziehung und Entwicklung oder die Gesundheit Minderjähriger gefährdet und auch bei gesellschaftlicher und staatlicher Unterstützung der Erziehungsberechtigten nicht gesichert sind, wenn für Minderjährige niemand das elterliche Erziehungsrecht hat oder wenn sie in gesetzlich besonders bestimmten Fällen die Interessen der Minderjährigen vertreten müssen. Die Organe der Jugendhilfe unterstützen andere staatliche Organe, insbesondere die Rechtspflegeorgane, wenn über Angelegenheiten Minderjähriger beraten und entschieden wird.“ § 13 JHVO Abs. 1 „Sind die Erziehung und Entwicklung oder die Gesundheit Minderjähriger gefährdet und auch bei gesellschaftlicher und staatlicher Unterstützung der Erziehungsberechtigten nicht gesichert, kann die Jugendhilfekommission in Wahrnehmung ihrer Aufgaben insbesondere a) die Verpflichtung der Erziehungsberechtigten, den Minderjährigen ordentlich zu erziehen und zu beaufsichtigen und mit den für die Bildung und Erziehung Verantwortlichen eng zusammenzuarbeiten, bestätigen, b) den Erziehungsberechtigten eine Mißbilligung aussprechen, c) die Verpflichtung der Erziehungsberechtigten zum Ersatz eines durch den Minderjährigen verursachten materiellen Schadens bestätigen, d) dem Minderjährigen einen Verweis erteilen, e) dem Minderjährigen die Verpflichtung auferlegen, sich in geeigneter Form zu entschuldigen, f) die Verpflichtung des Minderjährigen, einen angerichteten materiellen Schaden durch eigene Arbeit oder aus eigenem Einkommen wieder gut zu machen, bestätigen.“ Abs. 2 „Die Jugendhilfekommission kann bei den Organen der Jugendhilfe des Rates des Kreises (Stadtkreises, Stadtbezirkes) anregen, im Rahmen ihrer Vollmacht Maßnahmen gegen die Erziehungsberechtigten oder zur Erziehung des Minderjährigen zu ergreifen.“

Anhang II: Auszüge aus den Gesetzestexten der DDR sowie Art. 6 GG

243

Art. 6 Grundgesetz Abs. 1 „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Abs. 2 „1Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. 2Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Abs. 3 „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“ Abs. 4 „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Abs. 5 „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“

Anhang III: Liste der von der Untersuchung ausgeschlossenen Akten Legende Z kein AN

= falscher Zeitraum = nicht zumindest eines der Elternteile AN bei einem hochindustriellen volkseigenen Betrieb nicht Hoy-Neu = Wohnort ist nicht Hoy-Neustadt (AN nicht erkennbar) AN + Ort n. f. = weder AN noch Ort (eindeutig) feststellbar Laufnummer der Akte

Grund für den Ausschluss der Akte von der Untersuchung

2

AN + Ort n. f.

5

Z

6

Z

10

AN + Ort n. f.

13

Z

14

Z

20

AN + Ort n. f.

28

keine AN

31

Z

32

Z

35

AN + Ort n. f.

41

Z

42

Z

43

Z

47

Z

48

Z

49

Z

50

Z

51

Z

52

Z

53

Z

54

Z

55

Z

56

Z

Anhang III: Liste der von der Untersuchung ausgeschlossenen Akten

245

Laufnummer der Akte

Grund für den Ausschluss der Akte von der Untersuchung

57

Z

58

Z

59

Z

60

Z

61

Z

62

Z

63

Z

64

Z

65

Z

66

Z

67

Z

68

Z

69

Z

70

Z

72

Z

73

Z

74

keine AN

81

Z

83

Z

84

Z

85

Z

87

Z

88

keine AN

89

Z

90

Z

92

Z

93

keine AN

94

Z

95

Z

97

nicht Hoy-Neu

98

Z

99

Z

103

Z

104

Z

105

Z

106

Z

107

Z

246

Anhang III: Liste der von der Untersuchung ausgeschlossenen Akten

Laufnummer der Akte

Grund für den Ausschluss der Akte von der Untersuchung

108

Z

111

Z

117

keine AN

118

nicht Hoy-Neu

120

Z

121

Z

122

Z

125

Z

127

Z

128

Z

130

Z

131

Z

132

Z

133

keine AN

136

Z

137

Z

138

Z

139

Z

140

Z

141

Z

142

Z

143

Z

147

Z

148

keine AN

150

Z

153

Z

154

Z

155

nicht Hoy-Neu

157

Z

160

Z

163

Z

165

Z

166

Z

167

keine AN

169

Z

170

Z

171

Z

Anhang III: Liste der von der Untersuchung ausgeschlossenen Akten

247

Laufnummer der Akte

Grund für den Ausschluss der Akte von der Untersuchung

173

keine AN

174

Z

175

Z

176

Z

178

Z

179

Z

180

Z

181

Z

184

Z

186

Z

187

Z

189

Z

191

Z

192

Z

198

Z

199

Z

201

Z

202

Z

203

Z

207

Z

209

Z

210

Z

211

Z

212

keine AN

213

Z

214

nicht Hoy-Neu

215

Z

216

Z

217

Z

218

Z

220

Z

224

Z

225

Z

230

Z

231

Z

232

Z

233

Z

248

Anhang III: Liste der von der Untersuchung ausgeschlossenen Akten

Laufnummer der Akte

Grund für den Ausschluss der Akte von der Untersuchung

235

Z

237

Z

239

keine AN

Anhang IV: Ergebnisse der statistischen Auswertung LaufEhelich oder Erziehungsverhältnisse nummer unehelich zu Beginn der Aktender Akte geboren? führung

Blieb es bei Rechtsmittel ambulanten Maß- eingelegt? nahmen der JH?

1

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

3

ehelich

alleinerziehend

ja

nein

4

ehelich

alleinerziehend

ja

nein

7

unehelich

alleinerziehend

nein

nein

8

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

9

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

11

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

12

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

15

unehelich

alleinerziehend

nein

nein

16

ehelich zwei Erwachsene bzgl. der Geschwister, um die es geht

nein

nein

17

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

18

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

19

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

21

ehelich

alleinerziehend

ja

nein

22

ehelich

alleinerziehend

ja

nein

23

ehelich

alleinerziehend

ja

nein

24

ehelich alleinerziehend bzgl. der Geschwister, um die es geht

nein

nein

25

ehelich

zwei Erwachsene

nein

ja (allerdings durch Minderjährige selbst)

26

ehelich

zwei Erwachsene

nein (auch Jugendhaft)

nein

250

Anhang IV: Ergebnisse der statistischen Auswertung

Ehelich oder Erziehungsverhältnisse Laufzu Beginn der Aktennummer unehelich führung der Akte geboren?

Blieb es bei Rechtsmittel ambulanten Maß- eingelegt? nahmen der JH?

27

ehelich

alleinerziehend

ja

nein

29

ehelich

alleinerziehend

nein

nein

30

ehelich

alleinerziehend

nein

nein

33

ehelich

alleinerziehend

ja

nein

34

ehelich

alleinerziehend

nein

nein

36

unehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

37

unehelich

n. f. (Akte umfasst nur wenige Blatt)

ja

nein

38

unehelich

n. f. (Akte umfasst nur wenige Blatt)

ja

nein

39

unehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

40

unehelich

n. f. (Akte umfasst nur wenige Blatt)

ja

nein

44

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

45

unehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

46

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

71

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

75

ehelich

zwei Erwachsene

nein

ja

76

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

77

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

78

ehelich

alleinerziehend

nein

nein

79

ehelich

alleinerziehend

nein

nein

80

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

82

unehelich

Kind wird direkt aus dem nein Krankenhaus zur Adoption freigegeben

nein

86

unehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

91

unehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

96

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

100

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

101

unehelich + es geht gerade um die ehelich Scheidung (Geschwister)

ja

nein

102

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

109

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

Anhang IV: Ergebnisse der statistischen Auswertung

251

Ehelich oder Erziehungsverhältnisse Laufzu Beginn der Aktennummer unehelich führung der Akte geboren?

Blieb es bei Rechtsmittel ambulanten Maß- eingelegt? nahmen der JH?

110

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

112

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

113

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

114

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

115

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

116

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

119

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

123

unehelich

alleinerziehend

nein

nein

124

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

126

unehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

129

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

134

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

135

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

144

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

145

ehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

146

ehelich

n. f.

nein

nein

149

n. f.

alleinerziehend

ja

nein

151

unehelich

Kindsmutter lebt noch bei ihren Eltern

ja

nein

152

unehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

156

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

158

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

159

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

161

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

162

ehelich

alleinerziehend

nein

nein

164

unehelich

n. f.

ja

nein

168

ehelich

alleinerziehend

nein

nein

172

unehelich

Kind lebt in der BRD im Heim (Relevant, da die Akte ambulante Tätigkeit der Jugendhilfe dokumentiert)

ja

nein

177

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

182

unehelich

zwei Erwachsene

ja

nein

252

Anhang IV: Ergebnisse der statistischen Auswertung

Ehelich oder Erziehungsverhältnisse Laufzu Beginn der Aktennummer unehelich führung der Akte geboren?

Blieb es bei Rechtsmittel ambulanten Maß- eingelegt? nahmen der JH?

183

ehelich

zwei Erwachsene

nein

ja

185

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

nein

nein

188

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

190

ehelich

alleinerziehend

nein

nein

193

ehelich

n. f.

n. f.

nein

194

ehelich

alleinerziehend

nein (Jugendhaft)

nein

195

unehelich

Kindsmutter lebt noch bei ihren Eltern

ja

nein

196

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

197

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

200

unehelich + alleinerziehend unehelich (Geschwister)

ja

nein

204

ehelich

nein

nein

205

ehelich + es geht gerade um die ehelich Scheidung (Geschwister)

ja

nein

206

ehelich + alleinerziehend ehelich (Geschwister)

ja

nein

208

ehelich + es geht gerade um die ehelich Scheidung (Geschwister)

ja

nein

219

ehelich

alleinerziehend

ja

nein

221

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

222

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

223

ehelich

es geht gerade um die Scheidung

ja

nein

226

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

227

ehelich

zwei Erwachsene

nein

nein

228

unehelich

alleinerziehend

nein

nein

229

ehelich

zwei Erwachsene

nein nein (Gehörlosenschule)

es geht gerade um die Scheidung

Anhang IV: Ergebnisse der statistischen Auswertung

253

Ehelich oder Erziehungsverhältnisse Laufzu Beginn der Aktennummer unehelich führung der Akte geboren?

Blieb es bei Rechtsmittel ambulanten Maß- eingelegt? nahmen der JH?

234

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

236

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

238

unehelich

alleinerziehend

ja

nein

240

ehelich (Zwillinge)

zwei Erwachsene

ja

nein

Anhang V: Ergebnisse der qualitativen Auswertung Legende K = Komplexe Akte T = Typisierbare Akte Laufnummer der Akte

Art der Akte

1

K

Aktentyp nach dem Typenmodell

3

K

4

K

7

T

8

K

9

K

11

K

12

T

15

K

16

K

17

K

18

K

19

K

21

T

22

K

23

K

24

K

25

K

26

K

27

K

29

K

30

K

33

T

34

K

36

T

Vaterschaftsanerkennung

37

T

Vaterschaftsanerkennung

38

T

Vaterschaftsanerkennung

39

T

Vaterschaftsanerkennung

Krankheit/Tod

Sorgerecht (anl. Scheidung)

Konflikt

Konflikt

Anhang V: Ergebnisse der qualitativen Auswertung Laufnummer der Akte

Art der Akte

Aktentyp nach dem Typenmodell

40

T

Vaterschaftsanerkennung

44

T

Vaterschaftsanerkennung

45

T

Vaterschaftsanerkennung

46

T

Vaterschaftsanerkennung

71

T

Vaterschaftsanerkennung

75

K

76

T

77

K

78

K

79

K

80

T

Adoption

82

T

Adoption

86

K

91

K

96

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

Sorgerecht (anl. Scheidung)

100

T

„Vaterschaftsproblematik“

101

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

102

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

109

T

Adoption

110

K

112

T

113

K

114

T

Konflikt

115

T

Vaterschaftsanerkennung

116

T

„Vaterschaftsproblematik“

119

K

123

K

124

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

126

T

Krankheit/Tod

129

T

Vaterschaftsanerkennung

134

K

135

T

Vaterschaftsanerkennung

„Vaterschaftsproblematik“

144

T

„Vaterschaftsproblematik“

145

T

Konflikt

146

K

149

T

Adoption

151

T

Minderjährige KM

255

256

Anhang V: Ergebnisse der qualitativen Auswertung

Laufnummer der Akte

Art der Akte

Aktentyp nach dem Typenmodell

152

T

„Vaterschaftsproblematik“

156

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

158

K

159

K

161

T

162

K

Krankheit/Tod

164

T

168

K

172

T

Konflikt

Konflikt

177

T

„Vaterschaftsproblematik“

182

T

„Vaterschaftsproblematik“

183

K

185

K

188

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

190

T

Krankheit/Tod

193

K

194

K

195

T

196

K

197

K

200

T

204

K

205

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

206

T

Konflikt

208

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

219

T

Konflikt

221

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

222

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

223

T

Sorgerecht (anl. Scheidung)

226

K

227

K

228

K

Minderjährige KM

„Vaterschaftsproblematik“

229

T

Krankheit/Tod

234

T

„Vaterschaftsproblematik“

236

T

„Vaterschaftsproblematik“

238

T

„Vaterschaftsproblematik“

240

K

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Quellen 1. Ungedruckte Quellen Interview Mannschatz, Eberhard, Persönliches Interview mit der Verfasserin, Nachträglich autorisiert von Prof. Mannschatz, Berlin, 21. 03. 2012. (Zitiert als: „Mannschatz, Persönliches Interview am 21. 03. 2012, Anhang I“.) Bezirksamt Mitte von Berlin, Abteilung Jugend und Facility Management, Jugendamt, Regionaler Sozialpädagogischer Dienst, Bürogebäude Karl-Marx-Allee Aktenbestand des ehemaligen Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte, Referat Jugendhilfe Kreisarchiv Bautzen Aktenbestand 505 Rat des Kreises Hoyerswerda Signaturen 505/1 – 240. (Zitiert als: „KA BZ 505/#“) Archivbibliothek Stadtplan von 1998/99, Signatur 4063 Kreis- und Verwaltungsarchiv des Landkreises Oberhavel Aktenbestand des ehemaligen Rates des Kreises Oranienburg, Referat Jugendhilfe Bezirksamt Pankow von Berlin, Abteilung Jugend und Facility Management, Jugendamt, Regionaler Sozialpädagogischer Dienst/Jugendberatung, Region Prenzlauer Berg Aktenbestand des ehemaligen Rates des Stadtbezirks Berlin-Prenzlauer Berg, Referat Jugendhilfe 2. Gesetzestexte und Kommentare Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 (GBl. I S. 199). (Zitiert als: „Verfassung der DDR“.) Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 (GBl. I Nr. 8 S. 199). (Zitiert als: „FGB“.) Jugendhilfeverordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 3. März 1966 (BGl. II Nr. 62 S. 363). (Zitiert als: „JHVO“.)

258

Quellen- und Literaturverzeichnis

Autorenkollektiv: Arlt, Reiner u.a., Sorgenicht, Klaus (Hrsg.) u.a., Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik: Dokumente/Kommentar, Band 1, Staatsverlag der DDR, Berlin 1969. (Zitiert als: „Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 1, 1969, Art. #, S. #“.) – Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik: Dokumente/Kommentar, Band 2, Staatsverlag der DDR, Berlin 1969. (Zitiert als: „Kommentar zur Verfassung der DDR, Band 2, 1969, Art. #, S. #“.) Autorenkollektiv: Beyer, Karl-Heinz u.a., Ministerium der Justiz (Hrsg.), Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Lehrkommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, Staatsverlag der DDR, 1. Auflage, Berlin 1966. (Zitiert als: „Kommentar zum FGB, 1. Aufl. 1966, § #, S. #“.) – Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Lehrkommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, Staatsverlag der DDR, 2. Auflage, Berlin 1967. (Zitiert als: „Kommentar zum FGB, 2. Aufl. 1967, § #, S. #“) – Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Kommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, Staatsverlag der DDR, 3., überarbeitete Auflage, Berlin 1970. (Zitiert als: „Kommentar zum FGB, 3. Aufl. 1970, § #, S. #“.) – Das Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Kommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, Staatsverlag der DDR, 4., überarbeitete Auflage, Berlin 1973. (Zitiert als: „Kommentar zum FGB, 4. Aufl. 1973, § #, S. #“.) – Kommentar zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965 und zum Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965: (beide in der Fassung des Einführungsgesetzes zum Zivilgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 19. Juni 1975), Staatsverlag der DDR, 5., überarbeitete Auflage, Berlin 1982. (Zitiert als: „Kommentar zum FGB, 5. Aufl. 1982, § #, S. #“.) Redaktionskollektiv: Poppe, Eberhard (Leiter) u.a., Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, Staatsverlag der DDR, Berlin 1980. (Zitiert als: „Autor/en, in: Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, S. #“.)

II. Literatur Arnold, Hans-Hennig, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der Deutschen Demokratischen Republik: zugleich ein Beitrag zur Reform des Rechts der elterlichen Sorge und der Adoption in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1975. (Zitiert als: „Arnold, Art und Umfang der elterlichen Rechte in der DDR, S. #“.)

Quellen- und Literaturverzeichnis

259

Bauer, Rudolf/Bösenberg, Cord, Heimerziehung in der DDR, Frankfurt/New York 1979. Creifelds, Carl, Rechtswörterbuch, 21. Auflage, München 2014. Diekmann, Andreas, Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, 5. Auflage, Reinbek 2011. Fraenkel, Ernst, Der Doppelstaat: Recht und Justiz im „Dritten Reich“. The dual State , Frankfurt a.M. 1984. Großekathöfer, David, Es ist ja jetzt Gleichberechtigung – Die Stellung der Frau im nachehelichen Unterhaltsrecht der DDR, Wien u.a. 2003. Gysi, Jutta, Familienformen in der DDR. In: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1988, Berlin 1988. – (Hrsg.), Familienleben in der DDR. Zum Alltag von Familien mit Kindern, Berlin 1989. Gysi, Jutta/Speigner, Wulfram, Changes in the Life Patterns of Families in the German Democratic Republic, Berlin 1983. Helwig, Gisela, Jugend und Familie in der DDR. Leitbild und Alltag im Widerspruch, Köln 1984. Jörns, Gerhard, Der Jugendwerkhof im Jugendhilfesystem der DDR, Göttingen 1994. Krause, Hans-Ullrich, Fazit einer Utopie: Heimerziehung in der DDR; eine Rekonstruktion, Freiburg im Breisgau 2004. Kromrey, Helmut, Empirische Sozialforschung – Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung, 12. Auflage, Stuttgart 2009. Markovits, Inga, Gerechtigkeit in Lüritz – Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte, München 2006. Mayring, Philipp, Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken, 12. Auflage, Weinheim und Basel 2015. (Zitiert als: „Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, S. #“.) Michael, Lothar/Morlok, Martin, Grundrechte, 4. Auflage, Baden-Baden 2014. (Zitiert als: „Michael/Morlok, Grundrechte, § #, S. #“.) Obertreis, Gesine, Familienpolitik in der DDR 1945 – 1980, Opladen 1985. Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard/Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf, Grundrechte: Staatsrecht II, 31. Auflage, Heidelberg 2015. Rabe, Hannelore, Iris und ihre Tochter – Ich weiß ja nicht einmal, was das ist, eine Mutter!, Ibbenbüren 2011. Raiser, Thomas, Grundlagen der Rechtssoziologie, 6. Auflage, Tübingen 2013. (Zitiert als: „Raiser, Rechtssoziologie, S. #“.) Reimer, Franz, Juristische Methodenlehre, Baden-Baden 2016. Schlüter, Wilfried, BGB-Familienrecht, 14. Auflage, Heidelberg 2012. (Zitiert als: „Schlüter, BGB-Familienrecht, § #, S. #“.) Schwab, Dieter, Familienrecht, 23. Auflage, München 2012. (Zitiert als: „Schwab, Familienrecht, § #, S. #“.) Sodan, Helge/Ziekow, Jan, Grundkurs Öffentliches Recht: Staats- und Verwaltungsrecht, 6. Auflage, München 2014.

260

Quellen- und Literaturverzeichnis

Stolleis, Michael, Sozialistische Gesetzlichkeit: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München 2009. (Zitiert als: „Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit, S. #“.) – Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 4. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost: 1945 – 1990, München 2012. Vogel, Rahel Marie, Auf dem Weg zum neuen Menschen: Umerziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ in den Jugendwerkhöfen Hummelshain und Wolfersdorf (1961 – 1989), Frankfurt am Main 2010. Warnecke, Marie-Luise, Zwangsadoptionen in der DDR, Berlin 2009. (Zitiert als: „Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, S. #“.) Zimmermann, Verena, Den neuen Menschen schaffen – Die Umerziehung von schwer erziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945 – 1990), Köln 2004. Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, München 2012. (Zitiert als: „Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. #“.)

Stichwortverzeichnis Asozial

44 f., 213

Einzelfallakten 29 f., 166 ff., 181 ff. Empirische Untersuchung/Analyse 162 ff., 183 ff., 223 Erziehungsbegriff, sozialistischer 87, 122 Erziehungsideal, sozialistisches 49, 88, 120, 153 ff. Erziehungsrecht, sozialistisches 75 ff., 93 Erziehungsverständnis, sozialistisches 66, 91 Erziehungsziel, sozialistisches 66, 70 ff., 91 ff. Exegese 31, 35 ff. Familienbegriff, sozialistischer 51 f., 90 Familienbild, sozialistisches 65 Familienförderung 63 f. Familienverständnis, sozialistisches 56, 88 ff. Förderung 63 f. Formvorschriften 119 Gefährdung 126 ff., 139, 144 ff., 154 f. Gesellschaftliche Organisationen 100 f., 105 f. Hoyerswerda–Neustadt

168 ff.

Interventionen – Begriffsbestimmung 22 ff. – Forschungsstand 20 ff. – Rechtliche Normierung 95 f., 122 ff. – Schwerpunkt der Intervention 195 ff. – Tatsächliche Anlässe von Interventionen 166 ff., 183 ff., 215 ff., 217 ff. Jugendhilfe – Aufgaben der Jugendhilfe 50 – Organisation 113 ff., 225 – Referat Jugendhilfe 113 f.

Jugendhilfeausschuss 114 Jugendhilfekommission 115 Jugendhilfeverfahren 160, 183 Kommentare 28 f., 37 ff. Kompetenzen 94 f., 158 ff., 225 Lebenssachverhalt

167, 191 ff., 207

Normierung, rechtliche 162 ff.

22, 35, 96 ff.,

Organe – auf Bezirksebene 117 – auf Ministerialebene 117 – der Jugendhilfe 113 ff. Qualitative Verfahren/Auswertung/Analyse 187 ff., 215 ff. Quantitative Verfahren/Auswertung/Analyse 183 ff., 217 f. Rechtsbegriff 31 ff., 224 ff. Rechtsgrundlagen 19, 26 ff., 121 ff., 221 ff. Rechtspflichten 62 Rechtspraxis 21 f., 32, 164 f., 217 ff. Rechtssystem 19 ff., 221 ff. Schutz 63 ff., 97 ff. Soziale Ausgangssituation 193 ff., 215 f. Sozialistische Grundpflichten 42 ff. Sozialistische Grundrechte 42 ff. Sozialistische Idealgesellschaft 55 Sozialistischer Gesellschaftsbegriff 41 f., 93 ff. Sozialistischer Staatsbegriff 49, 88, 112 Stichprobenlänge 178, 198 f. Subjektive Rechte 47 f., 94 Tätigkeit – ambulante

181 ff.

262 – gesellschaftliche 97 ff., 120 ff. – staatliche 23 ff., 95 ff., 120 ff. Tatsächliche Anlässe 166 f., 183 Typenmodell 199, 217 ff. Typisierung 189 f., 192 f.

Stichwortverzeichnis Valenz 179, 215, 218 Verfahrensrecht/Verfahrensvorschriften 119 Verschulden 154 f. Vormundschaftsrat 116